Scham, Schuld und Anerkennung: Zur Fragwürdigkeit moralischer Gefühle 9783110297959, 9783110297867

This work undertakes an innovative analysis of the feelings of shame and guilt. These feelings do not merely involve sel

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German Pages 132 Year 2013

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Table of contents :
Danksagung
Einleitung
1 Was ist ein Kompliment?
1.1 Komplimente machen
1.2 Sich für Komplimente bedanken
1.3 Der Wert von Wertschätzung
1.4 Die Gegenseitigkeit von Wertschätzung
2 Anerkennung
2.1 Spielarten der Anerkennung
2.2 Anerkennung und ihr Gegenstand
3 Streben nach Anerkennung
3.1 Anerkennung als Nebenprodukt?
3.2 Anerkennen als Handeln für andere
3.3 Kritik und Anerkennung
4 Selbstachtung
4.1 Wie schätze ich mich selbst?
4.2 Formen der Selbstachtung
4.3 Selbstachtung und Selbstverständnis
4.4 Der hypothetische Andere
4.5 Äußere Bedingungen der Selbstachtung
4.6 Demütigung und Selbstachtung
5 Scham
5.1 Eine erste Charakterisierung
5.2 Scham angesichts eines Makels oder eines Versagens
5.3 Scham als Augenblicksgefühl
5.4 Die Fragwürdigkeit von Schamgefühlen
6 Schuld
6.1 Scham und Schuld: Einige Unterschiede
6.2 Schuldgefühle und abstrakte Moral
7 Scham versus Schuld
7.1 Einige Rehabilitationsversuche von Schamgefühlen
7.2 Das Unbehagen am Schuldgefühl
7.3 Scham- und Schuldgefühle
8 Schluss
Bibliographie
Namenregister
Sachregister
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Scham, Schuld und Anerkennung: Zur Fragwürdigkeit moralischer Gefühle
 9783110297959, 9783110297867

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René Majer Scham, Schuld und Anerkennung

Ideen & Argumente

Herausgegeben von Wilfried Hinsch und Lutz Wingert

René Majer

Scham, Schuld und Anerkennung

Zur Fragwürdigkeit moralischer Gefühle

DE GRUYTER

Gedruckt mit Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Mainz.

ISBN: 978-3-11-029786-7 e-ISBN: 978-3-11-029795-9 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2013 by Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Danksagung Einen Text zu lesen ist das größte Kompliment, das man ihm machen kann. Dieser wäre nicht entstanden, hätte ich nicht von Beginn an auf eine Riege von aufmerksamen, kompetenten und hilfsbereiten Lesern zählen können. Zu nennen wäre an erster Stelle mein Doktorvater an der Freien Universität Berlin, Peter Bieri, der mir empfohlen hat, diese Arbeit zu schreiben, und ihr Werden über die Jahre aufmerksam begleitet hat. Er hat jedes Kapitel in jeder seiner zahlreichen Überarbeitungen gelesen und ausführlich kommentiert. Hätte am Ende nicht mein Bewusstsein, diesem Mann schon zu viel von seiner Zeit genommen zu haben, mich aus meiner Tüftelei gerissen, wäre diese Arbeit vielleicht nie fertig geworden. Ich danke ihm von Herzen für seine durchdachten Kommentare, seinen Langmut und seine Freundlichkeit. Hilge Landweer, die mit der Materie besonders gut vertraut ist, hat sich spontan bereit erklärt, die Dissertation als Zweitgutachterin zu betreuen. Ihre Texte sind selber Gegenstand dieses Buches, und so konnte ich gleich doppelt von ihr lernen. Über die Jahre habe ich verschiedene Versionen einzelner Kapitel in den Kolloquien von Peter Bieri und Thomas Schmidt vorgestellt und habe sehr von den Fragen profitiert, mit denen ich dort konfrontiert wurde. Mit Ralph Amman, Jürgen Müller, Achim Spelten und Eva Weber-Guskar (in alphabetischer Reihenfolge) konnte ich in den letzten sechs Monaten vor der Abgabe noch einmal jedes einzelne Kapitel dieser Arbeit durchsprechen. Ihr unnachgiebiges und dabei immer freundschaftliches Fragen hat sich in jedem Kapitel ausgewirkt und mir an manchen Stellen erst auf die Sprünge geholfen. Dass sie in dieser Zeit meine Texte unserer gemeinsamen Lektüre von Montaignes Essais vorgezogen haben, ist fast schon beschämend, auch wenn Montaigne, der den Ruhm so gering und die Freundschaft so hoch schätzte, sicher Verständnis gehabt hätte. Man kann über eine Arbeit noch so lange nachdenken, am Ende taucht doch eine Frage von gänzlich unerwarteter Seite auf. So war es auch bei der in jeder Hinsicht unterhaltsamen Verteidigung. Neben meinen Gutachtern waren es Thomas Schmidt, Stefan Gosepath und Thorsten Streubel, die durch ihre sorgfältige Vorbereitung keine Langeweile aufkommen ließen. Wirklich fertig ist eine Dissertation erst mit der Drucklegung. Davor hatte ich noch die Gelegenheit, einige Unklarheiten zu korrigieren, wobei mir auch das vom Verlag zur Verfügung gestellte Gutachten geholfen hat, das sich vor allem auf die methodologischen Überlegungen im Schlusswort ausgewirkt hat. Die Arbeit hätte ich nie schreiben können, wäre sie nicht großzügig gefördert worden. Bei der Studienstiftung des Deutschen Volkes, die diese Promotion in den ersten drei Jahren finanziert hat, wartet man bereits auf ein Belegexemplar. Ich

VI

Danksagung

möchte auch meinen Eltern danken, die mich die ganze Zeit über ohne Wenn und Aber und immer liebevoll unterstützt haben. Am wichtigsten war für mich die Unterstützung von Nadine Fleischhut, die es über den gesamten Zeitraum nicht nur mit dem Text, sondern auch mit seinem Autor zu tun hatte. Meine Faszination für Scham- und Schuldgefühle ist schon etwas älter. In der Arbeit geht es aber außerdem um Anerkennung, und dieser Teil verdankt ihr mehr, als das bei einem wissenschaftlichen Text gewöhnlich der Fall ist. Zu den Lesern, die die Entstehung begleiten, gesellen sich jene, bei denen diese in überschaubarer Auflage verbreitete Flaschenpost ankommt. Ich bin gespannt auf die Reaktionen. Wer Fragen oder Anmerkungen hat, kann diese gerne an die E-Mail-Adresse [email protected] schicken. Vielen Dank im Voraus.

Inhalt Danksagung Einleitung

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 . . . .

15 Was ist ein Kompliment? Komplimente machen 16 Sich für Komplimente bedanken 22 Der Wert von Wertschätzung 24 Die Gegenseitigkeit von Wertschätzung

 . .

29 Anerkennung Spielarten der Anerkennung 33 Anerkennung und ihr Gegenstand

 . . .

44 Streben nach Anerkennung Anerkennung als Nebenprodukt? 44 Anerkennen als Handeln für andere 48 Kritik und Anerkennung 50

 . . . . . .

52 Selbstachtung 52 Wie schätze ich mich selbst? Formen der Selbstachtung 53 Selbstachtung und Selbstverständnis 55 Der hypothetische Andere 56 Äußere Bedingungen der Selbstachtung 57 Demütigung und Selbstachtung 61

 . . . .

66 Scham Eine erste Charakterisierung 66 Scham angesichts eines Makels oder eines Versagens Scham als Augenblicksgefühl 77 Die Fragwürdigkeit von Schamgefühlen 87

 . .

91 Schuld Scham und Schuld: Einige Unterschiede 92 Schuldgefühle und abstrakte Moral 98

27

36

68

VIII

Inhalt

 . . .

Scham versus Schuld 105 Einige Rehabilitationsversuche von Schamgefühlen Das Unbehagen am Schuldgefühl 111 115 Scham- und Schuldgefühle



Schluss

Bibliographie Namenregister Sachregister

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Einleitung Was macht Scham- und Schuldgefühle aus? Worauf würden wir, worauf müssten wir verzichten, wenn uns die Disposition zu diesen Gefühlen abhanden käme – oder wenn wir uns entschließen würden, sie als irrationale Impulse zu behandeln, die es zu überwinden oder einzuhegen, aber keineswegs zu kultivieren gilt? Das Leben wäre zunächst einfacher. Man wäre zwei Gefühle los, die durch einen bisweilen selbstquälerischen und merkwürdig unproduktiven Charakter auffallen. Das könnte man sich ersparen und müsste dazu auf vieles andere gar nicht verzichten. Denn die moralische Praxis setzt in weiten Bereichen keines dieser Gefühle voraus. Verantwortlich handeln, Rechenschaft über sein eigenes Verhalten ablegen und ein Verständnis von Rechten und Pflichten haben – das alles geht notfalls auch ohne diese beiden Gefühle. Man könnte sogar einen bedeutenden Teil unseres Repertoires zwischenmenschlicher Gefühle behalten, insbesondere den angenehmen: Der Fähigkeit zur Anteilnahme, zu Wohlwollen, zur Fürsorge würde man sich nicht automatisch mit entledigen. Unsere zwischenmenschliche Praxis ist ohne Scham- und Schuldgefühle in weiten Strecken zumindest denkbar. Das hängt auch damit zusammen, dass an diese Gefühle immer seltener appelliert wird. Es ist unpopulär geworden, anderen absichtlich ein schlechtes Gewissen zu machen oder sie zu beschämen. Und doch sind beide Gefühle nach wie vor tief in unsere zwischenmenschliche Praxis eingegraben. Eine Welt, in der es diese Gefühle nicht gäbe,würden wir nicht wiedererkennen. Wir könnten sie nicht als die unsere begreifen. Das liegt nicht nur an der motivierenden Kraft dieser Gefühle, die hinter vielen Versuchen der Besserung und Wiedergutmachung steht. Mit ihnen ist vor allem ein besonderes Merkmal unserer zwischenmenschlichen Praxis so eng verknüpft, dass man beide Gefühle nicht aufgeben könnte, ohne auch dieses Merkmal zu verabschieden: Menschen wollen von anderen Menschen geschätzt werden. Sie möchten geschätzt werden für das, was sie sind, für das, was sie leisten, und für das, was sie tun. Und wenn sie schon danach streben, etwas gut oder richtig zu machen, wenn sie nach Perfektion streben, Verantwortung übernehmen und Rechenschaft ablegen, sollte das besser auch gewürdigt werden, insbesondere von bestimmten Personen. Wonach sie dabei streben, ist Anerkennung. Und Anerkennung oder, um genau zu sein, Anerkennungskonflikte sind das Thema von Scham- und Schuldgefühlen. Nun ist Wertschätzung ein dehnbarer Begriff und der Begriff der Anerkennung darüber hinaus historisch aufgeladen. In Scham- und Schuldgefühlen geht es aber um eine ganz bestimmte Form der Wertschätzung, die sich durch unseren gesamten Alltag zieht. Die Bezeichnung Anerkennung ist, wie sich noch zeigen wird, dabei nicht willkürlich gewählt. Dennoch beginnt die Argumentation nicht mit

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Einleitung

einem Rückgriff auf einen bereits ausgearbeiteten Anerkennungsbegriff. Sie beginnt mit der Analyse einzelner Gesten der Wertschätzung: dem Kompliment, das eine Person einer anderen macht, und dem einfachen Ausdruck der Dankbarkeit desjenigen, der diese Geste erwidert. Ausgehend von der Frage, was sich in einem Kompliment und der korrespondierenden Erwiderung ausdrückt, lässt sich ein Anerkennungsbegriff rekonstruieren, der fest in unserer moralischen Praxis verwurzelt ist. Das Streben nach dieser bestimmten Form der Anerkennung ist für uns in jeder Hinsicht zentral. Es motiviert einen großen Teil unseres Handelns. Und es ist eben auch grundlegend für unser praktisches Selbstverständnis: Wenn wir keinen Wert auf die Anerkennung anderer legen würden, hätten wir auch keine Disposition zu Scham- oder Schuldgefühlen. Anerkennung Die wichtigsten Merkmale dieses Anerkennungsbegriffs seien hier kurz zusammengefasst. Jemanden für seine Zuverlässigkeit oder seine Fähigkeiten anerkennen heißt nicht nur, seine Meinung auszudrücken, dass er richtig handelt oder etwas gut macht, sondern dies auch zu würdigen. Man muss bereit sein, das Verhalten oder die Qualitäten der Person zu honorieren, anstatt es auszunützen. Anerkennung setzt also die Bereitschaft voraus, dem Anderen zu gewähren, was ihm aufgrund seiner Handlungen, Leistungen oder Fähigkeiten zusteht. Sie bedeutet ferner – und darüber hinausgehend – dass man die Person für ihre Handlungen und ihre Leistungen schätzt. Das charakterisierende Merkmal dieser Wertschätzung ist Wohlwollen. Man gewährt dem Anderen nicht nur, was ihm zusteht, sondern tut dies gerne. Anerkennung ist unvereinbar mit Widerwille, Neid oder Missgunst. Diese wohlwollende Würdigung von Handlungen, Leistungen oder Qualitäten des Anderen ist dabei niemals eine einseitige Deklaration. Wer Anerkennung ausdrückt, geht davon aus, dass sie willkommen ist und deswegen erwidert wird. Bei dem Beispiel, von dem die Analyse ausgeht, dem Kompliment, zeigt sich das besonders deutlich. Wer ein Kompliment macht und das aufrichtig meint, unterstellt, dass es dem Anderen zumindest nicht unwillkommen ist. Er geht davon aus, dass sein Gegenüber dieses Kompliment würdigt und ihn für dieses Kompliment schätzt. Und genau das drückt am Ende ein schlichtes Wort der Dankbarkeit aus. Es ist nichts anderes als eine anerkennende Reaktion auf die Geste des Kompliments. Es ist bezeichnend, dass die Erwiderung eines Kompliments sich oft auf die anerkennende Geste als solche bezieht. Die unterstellte Gegenseitigkeit besteht hier nicht darin, dass beide einander für genau dasselbe anerkennen. Es geht eher darum, dass beiden in gleichem Maße an der Anerkennung des Anderen liegt. Und

Einleitung

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das ist auch das zentrale Merkmal jeder Form von Gegenseitigkeit in Anerkennungsbeziehungen. Man muss nicht die gleiche Person sein, um einander auf Augenhöhe zu begegnen. Man muss sich nicht einmal ähneln. Beiden liegt im gleichen Maße an der Wertschätzung des Anderen, und das ist, was Anerkennungsbeziehungen betrifft, vollkommen ausreichend. Die Unterstellung von Gegenseitigkeit hat noch eine weitere Konsequenz. Mit ihr bringt der Anerkennende immer auch sich selber ins Spiel, er präsentiert sich, und zwar als eine Person mit ganz bestimmten Eigenschaften. Das wird unausweichlich, wenn man unterstellt, dass die eigene Wertschätzung erwidert wird – und dass die Erwiderung der Wertschätzung ganz bestimmten Eigenschaften gilt. Wer etwa anderen ein Kompliment macht, präsentiert sich selber als jemand, der es gut mit dem Anderen meint und über ein Mindestmaß an Urteilsvermögen verfügt. Nimmt man dem Urheber des Kompliments seinen guten Willen nicht ab, wirkt das Kompliment deplatziert,weil eine seiner zentralen Unterstellungen nicht zutrifft. Es müssen dabei nicht immer genau die Eigenschaften Wohlwollen und Urteilsvermögen sein, mit denen man sich in einer anerkennenden Geste präsentiert. An der Selbstpräsentation als solcher aber kommt man nicht vorbei. Und so gilt für jede Geste und jeden Akt der Anerkennung, dass sie nicht nur scheitern kann, indem sie zurückgewiesen wird oder weil sie etwas Falsches behauptet, sondern auch, weil die in ihr enthaltene Selbstpräsentation unglaubwürdig oder nur unangemessen ist. Durch die Selbstpräsentation begibt sich der Anerkennende in eine exponierte Lage. Wenn man von hier aus leicht in verfängliche Situationen gerät, dann liegt das auch an dem zutiefst persönlichen Charakter der Wertschätzung in Anerkennungsbeziehungen. Anerkennende Gesten anzunehmen und nicht an sich abtropfen zu lassen heißt, sie auf besondere Weise zu schätzen. Es genügt hier nicht, lediglich die Meinung auszudrücken, dass es gut und richtig ist, dass da irgendeiner irgendjemandem ein Kompliment macht, der es möglicherweise verdient. Wer eine anerkennende Geste annimmt, drückt seine Freude darüber aus, dass er selber es ist, dem diese Anerkennung gilt. Man muss sich dazu nur vergegenwärtigen, was man anstelle eines einfachen „Danke“ auf ein Kompliment antworten könnte, was aber einigermaßen deplatziert wirken würde. „Das ist nett, dass Sie das sagen“ ist noch eine halbwegs verschämte Art, das Kompliment anzunehmen. „Das ist lobenswert, dass Sie das sagen“ ist schon ziemlich daneben und „Da haben Sie vollkommen Recht“ ist eine Unverschämtheit. Mit all diesen Reaktionen lässt man den Anderen mehr oder weniger auflaufen, weil sich in keiner dieser Äußerungen wirklich Dankbarkeit ausdrückt. Denn Dankbarkeit impliziert die Freude, dass man selber, und nicht irgendjemand, Empfänger dieses Kompliments ist – und dass es von dieser Person kommt und von keiner anderen.

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Einleitung

Damit sind wir im Bereich indexikalisch strukturierter Werturteile, also solcher Werturteile, in denen Wörter wie ich oder du vorkommen. Diese Werturteile tauchen nicht nur dort auf, wo man persönlich Adressat einer Geste oder einer Gefälligkeit ist. Für unser Selbstverständnis ist es zentral, dass wir uns darüber freuen können, dass wir selber es sind, und kein anderer, dem etwas gelungen ist oder der etwas erreicht hat. Wer aber die Genugtuung über die eigene Person zu sehr vor sich herträgt, geht seinen Mitmenschen oft auf die Nerven. In anerkennenden Gesten wie einem Kompliment aber wird der Andere in einem Akt erstaunlicher Großzügigkeit zu genau dieser Einstellung ermutigt.Wie Beifall fordert es den Empfänger gewissermaßen auf, sich auf seiner improvisierten Bühne für sich selber zu freuen. Zugleich überlässt es den Anderen in seiner Selbstbezogenheit nicht sich selber, sondern stellt Einverständnis gerade darin her, dass die selbstbezogene Freude an dieser Stelle vollkommen angemessen ist. Anerkennungsbeziehungen sind mit den geteilten Werten und der gegenseitigen Wertschätzung, die sie unterstellen, durchaus eine Form der Vergemeinschaftung. Als solche lassen sie aber auch einen relativ großen Spielraum für Einstellungen, die man gerade nicht mit anderen teilen kann, sie lassen Raum für Eigensinn und Selbstbezogenheit. Indem sie Einverständnis darüber herstellen, dass auch diese Einstellungen vollkommen angemessen sein können, wird die Selbstbezogenheit in Anerkennungsbeziehungen sozialisiert. Zustimmung und Wohlwollen, Gegenseitigkeit und sozialisierte Selbstbezogenheit sind die wichtigsten Merkmale von Anerkennungsbeziehungen. Sie klingen ein bisschen zu schön, um real zu sein. Man darf sich fragen, ob hier mehr als nur ein seltenes Ideal beschrieben wird. Es stellt sich auch die Frage nach der Relevanz von Anerkennungsbeziehungen: Es gibt alle möglichen Beziehungen, darunter auch unpersönliche oder solche, in denen Selbstbezogenheit eine deutlich kleinere Rolle spielt. Wie wichtig sind angesichts der Vielfalt von Verhältnissen die hier skizzierten Anerkennungsbeziehungen? Welche Rolle spielt Anerkennung in unserer zwischenmenschlichen Praxis und für unser Selbstverständnis? Und welche Rolle spielt sie für unser Selbstverständnis als Wesen, die anderen Rechenschaft über ihr Verhalten geben können, kurz, als moralische Wesen? Diese Arbeit vertritt dazu drei Thesen. Erstens drücken wir in vielen zwischenmenschlichen Gesten Anerkennung aus und keine andere Form der Zustimmung. Zweitens ist unser Streben nach Anerkennung – also unsere Wertschätzung für die Anerkennung anderer – ein wichtiges Handlungsmotiv. Vieles, was wir tun, käme gar nicht zustande, wenn es uns nicht um Anerkennung ginge. Und drittens sind Scham- und Schuldgefühle immer auch Ausdruck von Anerkennungskonflikten. Keines der beiden Gefühle ist denkbar ohne die Wertschätzung von Anerkennung, und zwar der Anerkennung bestimmter Personen. Das

Einleitung

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macht Anerkennung zu dem Dreh- und Angelpunkt unseres gesamten praktischen Selbstverständnisses, zumindest solange wir noch Wesen mit einer Disposition zu diesen Gefühlen sind. Was die erste These betrifft: Der Anerkennungsbegriff wird, wie gesagt, am Beispiel des Kompliments und der typischen Antwort darauf – einer Geste der Dankbarkeit – entwickelt. Damit hat man zunächst nur den Gehalt, der sich in diesen einzelnen Gesten ausdrückt. Aber dieser erlaubt doch gewisse Rückschlüsse, nicht zuletzt, weil ein Kompliment nur eine Sonderform einer sehr weit verbreiteten Geste ist, nämlich der Gefälligkeit: Zwei wildfremde Menschen begegnen einander an der Straßenecke einer Millionenstadt. Der eine fragt den Anderen nach dem Weg und bedankt sich für die hilfreiche Antwort. So beiläufig dieses Zusammentreffen erscheinen mag, enthält es doch alle Unterstellungen einer Anerkennungsbeziehung. Anerkennungsbeziehungen mögen einen persönlichen Charakter haben, aber sie setzen keine besondere Verbundenheit oder gar Intimität voraus. Selbst die beiläufigsten Gesten von Menschen, die sich fremd sind, kommen selten ohne Anerkennung aus. Dagegen gibt es nur sehr wenige Situationen, denen ihr formaler oder sogar ritueller Charakter jede persönliche Note geraubt hat. Gerichtsprozesse sind das augenfälligste Beispiel dafür, und sie machen deutlich, dass Anerkennungsbeziehungen eher die Regel als die Ausnahme sind. Denn unser alltägliches Leben ist alles, nur kein Gerichtsprozess. Anerkennung – zumindest die Unterstellung von Anerkennung – ist allgegenwärtig. Und die Wertschätzung der Anerkennung anderer (d. h. der Wunsch, von anderen anerkannt zu werden) ist ein wichtiges Handlungsmotiv. Diese zweite These richtet sich gegen die verbreitete Tendenz, die motivationale Bedeutung von Anerkennung zu trivialisieren oder sogar abzuwerten. Das Streben nach Anerkennung wird häufig behandelt, als sei es ein Verhalten dessen, dem es nur darum geht, gemocht zu werden – also ein Verhalten, das die zweckfreie Orientierung am Guten und Richtigen eigentlich korrumpiert. Schließlich sollen wir das Gute und Richtige um seiner selbst und nicht um des Beifalls willen erstreben. Anerkennung, so schön sie ist, wenn sie sich zufällig einstellt, dürfte demnach nicht unmittelbar Ziel unseres Handelns sein. Ausdrücklich behauptet wird das selten. Meistens äußert sich diese Auffassung in der Selbstverständlichkeit, mit der das Thema Anerkennung etwa bei der Diskussion moralischer Motivation übergangen wird. Nur wenige Autoren setzen sich ausdrücklich mit dem Thema auseinander. Zu ihnen gehört Jon Elster, von dem die These stammt, Anerkennung sei notwendig ein Nebenprodukt unseres Handelns. Jon Elster setzt nicht den hier beschriebenen Anerkennungsbegriff voraus, aber er untersucht die Phänomene, deren Analyse auch die Grundlage dieser Untersuchung bilden, darunter vor allem Bewunderung und Respekt. Diese, so

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Einleitung

Elster, könne man nicht unmittelbar erstreben, jedenfalls nicht auf offene, unverstellte Weise. Denn wir könnten nur jene Handlungen anerkennen, die eben nicht mit der Absicht ausgeführt würden, diese Anerkennung zu erlangen. Seine Devise lautet: Nichts ist so wenig beeindruckend wie der Wunsch zu beeindrucken. An dieser Beobachtung ist etwas dran. Falsch ist nur der implizierte Gegensatz – als würde man entweder nur das Richtige und Gute um seiner selbst wollen oder um jeden Preis nach der Zustimmung anderer streben. Falsch ist auch die Folgerung, dass Anerkennung keine Rolle für unsere Handlungsmotivation spielt oder spielen darf. Die Art und Weise, wie unser Wunsch, anerkannt zu werden, unser Handeln motiviert, ist um einiges komplexer. Denn dieser Wunsch drückt sich vor allem und in erster Linie in der Anerkennung des Anderen aus. Man kann niemanden anerkennen, wenn man nicht meint, dass die Anerkennung erwidert wird, und wenn man keinen Wert darauf legt, dass die Anerkennung erwidert wird. Die Annahme, dass die eigene Anerkennung erwidert wird, ist eine Voraussetzung aller Handlungen, in denen sich Anerkennung ausdrückt. Dort, wo sich diese Unterstellung als falsch erweist, fehlt der anerkennenden Handlung ihre Voraussetzung und sie unterbleibt. In diesen Fällen sind das Bewusstsein und der Wunsch, für etwas anerkannt zu werden, durchaus eine notwendige Bedingung für unser Handeln. Und deswegen ist der Wunsch, von anderen anerkannt zu werden, nicht nur ein mögliches, sondern auch ein vollkommen legitimes Handlungsmotiv. Die beiden ersten Thesen beschreiben Anerkennung als ein wichtiges Element unserer zwischenmenschlichen Praxis. Erst mit der dritten wird deutlich, dass sie nicht nur ein wichtiges Element unter anderen ist, sondern auch grundlegend für unser praktisches Selbstverständnis. Denn ohne die Wertschätzung für zwischenmenschliche Anerkennung hätten wir auch nicht die Disposition zu Schamund Schuldgefühlen, wie wir sie kennen. Anerkennung ist das Thema beider Gefühle. Beide sind Ausdruck von Anerkennungskonflikten. Scham- und Schuldgefühle: Ein Kurzporträt Scham- und Schuldgefühle thematisieren Anerkennung auf unterschiedliche Weise. In beiden Fällen steht jeweils ein anderer Aspekt von zwischenmenschlicher Anerkennung im Vordergrund. Wer Scham empfindet, fühlt sich den Blicken anderer ausgeliefert, wie eine Kuriosität, die zwanglos beäugt werden kann. Im Vordergrund steht hier zum einen die Sorge, angesichts eines Versagens nicht mehr für bestimmte Fähigkeiten oder Leistungen geschätzt zu werden. Daneben und vielleicht sogar in erster Linie geht es in der Erfahrung von Schamgefühlen darum, dass die eigene Wertschätzung in den Augen anderer nichts mehr zählen könnte. Es ist die Bedeutungs-

Einleitung

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losigkeit des eigenen Blicks, die wir spüren, wenn die Blicke anderer beginnen, unangenehm zu werden. Weil der eigene Blick irrelevant geworden ist, weil man gewissermaßen mit dem Verlust seiner Autorität in den Augen der Anderen bedroht ist, muss der Andere den Blickkontakt eben nicht mehr aufrechterhalten. Er kann, wenn er will, sein Gegenüber ungeniert mustern. Anders funktionieren Schuldgefühle.Während jemand, der Scham empfindet, sich oft in einer Situation wiederfindet, in der er beim besten Willen nicht anerkannt werden kann – das hieße nämlich, ihm Qualitäten zuzusprechen, die er nicht hat – sorgt sich eine Person mit Schuldgefühlen eher, dass der gute Wille in Aversion umschlagen könnte. Schuldgefühle sind geprägt durch das Bewusstsein, dass der Andere einem mit guten Gründen grollen kann. Groll ist dabei nicht primär durch Erwartungen für die Zukunft begründet, sondern durch das, was die Person bereits getan hat, und das ist im Fall von Groll vornehmlich Unrecht. Um Groll zu besänftigen, genügt es nicht, wenn der Täter sich bessert, denn Besserung als solche bringt das Verhältnis mit dem Geschädigten nicht wieder ins Lot. Man muss stattdessen den Ausgleich suchen und sich um Wiedergutmachung bemühen. Man muss den Anderen zurückgewinnen. In beiden Fällen, bei Scham- und bei Schuldgefühlen, geht es oft um die Anerkennung konkreter Personen. In beiden Fällen aber geht es auch darum, wie ein Anderer reagieren würde: Wer einen dummen Fehler macht, den niemand bemerkt, muss nicht unbedingt an eine konkrete Person denken, wenn ihm dieser Fehler schlagartig bewusst wird. Es geht immer auch um die abstrakte Möglichkeit von Anerkennung. Aber auch in diesen Fällen ist dieser Andere keine beliebige Person. Es muss eine Person sein, an deren Anerkennung einem liegt und die zu Anerkennung bereit ist. Und damit fallen mindestens jene heraus, die schon von sich aus keinen Bedarf an Anerkennung haben oder dazu schlicht nicht fähig sind. Der Andere, an dessen Anerkennung einem liegt, ist niemals ein generalisierter Anderer. Scham, Schuld und Anerkennung Warum geht es bei beiden Gefühlen aber um Anerkennung, wie sie hier beschrieben wurde, und nicht um irgendeine andere Form zwischenmenschlicher Wertschätzung? Es gibt viele Formen von Wertschätzung, die nicht derart voraussetzungsreich sind. Die Bereitschaft, jemanden als Person mit Rechten und Pflichten zu behandeln, aber auch viele Formen von Respekt setzen keineswegs voraus, dass diese Wertschätzung de facto auch erwidert wird. Man kann etwa einen fähigen, aber leider größenwahnsinnigen Menschen für seine Fähigkeiten respektieren, obwohl man weiß, dass man sich mit ihm nie wird verständigen können. Warum sollte eine einseitige Wertschätzung wie diese, die keinerlei

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Einleitung

Einverständnis und schon gar keine Gegenseitigkeit voraussetzt, für Scham- und Schuldgefühle nicht genauso wichtig sein? Betrachten wir zunächst Schamgefühle. Schamgefühle sind eine häufige Reaktion auf persönliches Versagen. Zugleich haben wir gesehen, dass bei der Erfahrung von Schamgefühlen die Sorge um den Verlust der eigenen Autorität mitschwingt: Die Person fürchtet, wenn sie sich beäugt fühlt, dass ihre eigene Wertschätzung für andere irrelevant wird. Es gibt hier also einen Zusammenhang zwischen eigenem Versagen und der Erfahrung des Verlusts der eigenen Autorität, und dieser Zusammenhang muss erklärt werden. Wie kann die eigene Wertschätzung, die man anderen entgegenbringt, in deren Augen an Bedeutung verlieren, nur weil man in irgendeiner Form versagt hat? Die Antwort darauf liegt auf der Hand: Der Wert, den die eigene Wertschätzung für andere hat, wird durch eigenes Versagen nur dort untergraben werden, wo man mit den eigenen Gesten der Wertschätzung immer auch die eigene Person ins Spiel bringt und bestimmte Fähigkeiten beansprucht. Und genau das ist in Anerkennungsbeziehungen der Fall. Das entscheidende Merkmal, das unsere Wertschätzung für Anerkennungsbeziehungen mit Schamgefühlen verknüpft, ist also die Gegenseitigkeit, die man mit jeder Geste der Anerkennung unterstellt. Man unterstellt mit jeder Geste der Anerkennung, dass diese Anerkennung irgendwie erwidert wird, dass man von seinem Gegenüber in irgendeiner Weise mit irgendwelchen Eigenschaften anerkannt wird. Und gerade diese Unterstellung ist es, die durch eigenes Versagen untergraben wird. Man kennt das aus vielen alltäglichen Situationen. Wer sich geringschätzig über jemanden in einer Angelegenheit äußert, in der er selber versagt hat, macht sich lächerlich. Seine Geringschätzung verfehlt ihre Wirkung, sie wird, zumindest für einen Moment, irrelevant. Aber was genau wird hier irrelevant? Wird es einem plötzlich egal, ob man von diesem Menschen fair behandelt wird? Oder wird es einem egal, ob er einem noch das gewährt, was einem aufgrund der eigenen Leistungen und Fähigkeiten zusteht? Das ist nicht besonders wahrscheinlich, denn man gibt einer Person gegenüber, die sich gerade vollständig lächerlich gemacht hat, noch nicht seine Ansprüche auf. Das Einzige, was hier vorübergehend an Wert verlieren kann, ist eine bestimmte Form der Wertschätzung. Es ist die Anerkennung dieser Person. Während im Fall von Schamgefühlen der Zusammenhang mit gegenseitiger Anerkennung noch naheliegend ist, liegt die Sache bei Schuldgefühlen anders. Schuldgefühle, könnte man zumindest meinen, kommen aus einem gänzlich anderen Kontext. Hier geht es um Moral und darum, Rechenschaft abzulegen. Der Kreis der Personen, denen gegenüber man Rechenschaft ablegen muss, ist um einiges weiter als der Kreis potentieller Anerkennungspartner. Und so scheinen Schuldgefühle in erster Linie durch das Bewusstsein charakterisiert, etwas getan

Einleitung

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zu haben, das sich nicht verantworten lässt. Anerkennung spielt hier auf den ersten Blick gar keine Rolle. Aber auch Schuldgefühle setzen Anerkennungsbeziehungen voraus. Man wird Schuld nur in Kontexten empfinden, in denen der Person in der einen oder anderen Weise an der Anerkennung anderer liegt – und sei es nur an der Anerkennung von Menschen, die sich stellvertretend empören. Das Argument für diese These besteht aus zwei Schritten: Erstens kann das Bewusstsein, etwas Falsches getan zu haben, Schuldgefühle niemals vollständig charakterisieren. Und zweitens ist der beste Kandidat für das, was einem solchen Bewusstsein fehlt, das Bewusstsein einer zerstörten Anerkennungsbeziehung, an der dem Betroffenen liegt. Beginnen wir mit dem Problem der Wiedergutmachung. Ein wichtiges Element von Schuldgefühlen ist die mit ihnen verbundene Bereitschaft zur Wiedergutmachung. Damit fügen sie sich zunächst noch sehr gut in einen alltäglichen Kontext gegenseitiger Rechtfertigung ein. Es liegt jedenfalls nahe, dass ein Schaden die Person, die ihn zu verantworten hat, zur Wiedergutmachung verpflichtet. Nur lässt sich nicht alles wiedergutmachen. Manche Formen von Unrecht sind zu groß und mancher Schaden ist, einmal angerichtet, nicht mehr zu beheben, auch nicht mit phantasievollen Konstrukten wie dem sogenannten Schmerzensgeld. Und hier entsteht eine merkwürdige Situation. Dort, wo dieser Schaden nicht wiedergutzumachen ist, endet selbstverständlich auch die Pflicht zur Wiedergutmachung. Denn Sollen setzt Können voraus. Niemand kann dazu verpflichtet werden, etwas Unmögliches zu tun. Wo aber Wiedergutmachung unmöglich ist, erübrigt sich auch die Pflicht dazu. Es mag ungewohnt klingen, aber wer etwas anrichtet, das nur schlimm genug ist, hat eine Sorge weniger. Es sei denn, natürlich, er hat deswegen Schuldgefühle. In diesem Fall kommt er nicht ganz so einfach davon. Und das ist der entscheidende Punkt. Schuldgefühle bleiben, sie müssen bleiben, gerade dort, wo Wiedergutmachung unmöglich ist. Sie überschreiten den Kontext, in dem Personen nur das voneinander fordern dürfen, was ihr Gegenüber vernünftigerweise zu leisten imstande ist. Mit ihnen, und mit seiner Schuld, muss der Betroffene erst einmal leben. Der Gehalt von Schuldgefühlen wird durch das Bewusstsein des eigenen Vergehens und der daraus resultierenden Pflichten nicht ausreichend beschrieben. Denn in Schuldgefühlen drückt sich die Auffassung aus, dass Unrecht etwas beschädigen und zerstören kann. Wiedergutmachung kann das wieder einrenken, aber eben nur in eingeschränktem Umfang. Wenn man also den Gehalt von Schuldgefühlen analysieren möchte, muss man sagen können, was das ist, dieses Etwas, das durch Wiedergutmachung unter Umständen wiederhergestellt werden kann, das aber beschädigt bleibt, wo Wiedergutmachung unmöglich ist.

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Einleitung

Es spricht einiges dafür, dass es sich dabei um eine Anerkennungsbeziehung handelt. Es handelt sich jedenfalls um eine Beziehung, in der einem am Wohlwollen seines Gegenübers liegt und in der man sich vor seinem Groll scheut. Es handelt sich außerdem um eine Beziehung, in der Gesten wie eine Entschuldigung noch eine Wirkung erzielen, solange das Unrecht ein gewisses Ausmaß nicht überschreitet. Eine Entschuldigung aber ist nichts anderes als der Versuch, den Anderen durch den Ausweis des Bedauerns und damit des eigenen guten Willens wieder zu versöhnen. Wer das macht, setzt selbstverständlich voraus, dass die Frage, ob man es selber gut mit dem Anderen meint, für diesen eine Rolle spielt. Er setzt ferner voraus, dass der eigene gute Wille für den Anderen trotz allem noch eine Bedeutung hat. Und er setzt voraus, dass er sich in einer Beziehung befindet, in der sich beide an ihrer bleibenden Wertschätzung für den guten Willen des jeweils Anderen abarbeiten. Was sollte das sein, wenn nicht eine Anerkennungsbeziehung? Zur Fragwürdigkeit moralischer Gefühle Scham- und Schuldgefühle haben etwas Selbstquälerisches, und feinfühligere Zeitgenossen verzichten aus guten Gründen darauf, anderen absichtlich ein schlechtes Gewissen zu machen oder sie gar zu beschämen.Wer sich diese Gefühle schon antun möchte, macht es am besten selber. Aber ist das wirklich eine gute Idee? Gibt es nicht zivilisiertere Formen der Selbstkritik? Kann man sich nicht um Besserung und Wiedergutmachung bemühen, ohne sich selber derart im Weg zu stehen? Muss man sich denn selber kasteien, um Verantwortung für das eigene Handeln zu übernehmen und zur eigenen Person zu stehen? Es geht hier nicht um die Frage, ob man überhaupt emotional reagieren sollte, denn es gibt andere Gefühle, die sich als möglicher Ersatz anbieten. Man könnte sich über sich und sein Handeln ärgern oder nur frustriert sein. Nicht die emotionale Qualität der Selbstkritik als solche steht hier zur Debatte. Es geht vielmehr um den Gehalt bestimmter Gefühle und was davon zu halten ist. Wie wir gesehen haben, drückt sich in diesen Gefühlen vor allem die Wertschätzung für zwischenmenschliche Anerkennung aus. Das spricht für sie, denn Anerkennung ist ein hohes Gut. Auf der anderen Seite werden sie dadurch erneut in Frage gestellt, denn in den Anerkennungskonflikten, die Anlass zu Scham- und Schuldgefühlen geben, tauchen eine Reihe von korrespondierenden Einstellungen auf, die nicht unbedingt sympathisch sind: Verachtung, Geringschätzung, Groll, Empörung, Verurteilung und auch Vergeltungswille. Wer zum Gegenstand dieser Gefühle wird, erfährt keine besonders freundliche Behandlung. So nachvollziehbar das im Einzelfall ist, darf man sich fragen, ob Scham- und Schuldgefühle nicht gerade deswegen einen selbstquälerischen Eindruck machen, weil sich in

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ihnen ein Einverständnis mit dieser Behandlung ausdrückt oder sogar eine vorauseilende Bereitschaft, diese Behandlung an sich selber zu vollziehen. Scham kommt bei der Betrachtung dieser Frage eindeutig besser weg. Denn Scham mag eine Reaktion auf eine Situation sein, auf die man als Außenstehender selber mit Verachtung reagieren würde – aber sie impliziert keinerlei Einverständnis mit dieser Verachtung und schon gar keine Verachtung der eigenen Person. Denn Scham ist bestimmt durch das Bewusstsein, dass andere das Verhalten oder die Person beim besten Willen nicht anerkennen können. Um sich zu schämen genügt es schon, andere nur zu enttäuschen. Vor allem Übrigen nimmt man sich in Acht. Max Scheler nannte Scham das Gefühl des Selbstschutzes, und das trifft die Sache immer noch am besten.¹ Schuldgefühle sind hier wieder einmal etwas komplizierter. Sie sind durch das Bewusstsein bestimmt, dass sich der gute Wille des Anderen in Aversion wandeln könnte, und zwar mit guten Gründen: Man selber würde in so einer Situation nicht anders reagieren. Wie viel Selbstverleugnung steckt in dem Verständnis, das man der Aversion gegen die eigene Person entgegenbringt? Es gibt, wenn man sich einzelne Ausprägungen von Schuldgefühlen anschaut, sicher viel Unschönes zu beobachten. Dennoch gilt: Verständnis für die Aversion gegen die eigene Person, selbst das Bewusstsein, dass man in der Situation wie die andere Person reagieren würde, heißt noch nicht, dass man diese Einstellung übernimmt. Das wird besonders dort deutlich, wo sich jemand, gerade weil er sich seiner Schuld bewusst ist, um Wiedergutmachung bemüht. Wiedergutmachung ist darauf angelegt, den Groll des Anderen zu besänftigen, und zwar in nachvollziehbarer Weise. Man handelt auch hier in einer Form, die einen selber unter ähnlichen Umständen versöhnen würde. Damit versucht man aber, den Groll des Anderen abzuwenden. Und das ist das Gegenteil der Bereitschaft, diesen Groll oder gar Strafe vorauseilend an sich selber zu vollziehen. Schwierig wird es nur, wenn eine Handlung zur Debatte steht, die sich nicht wiedergutmachen lässt. Es gibt dann nichts Naheliegendes, nichts Selbstverständliches zu tun. Dass Schuldgefühle hier in Straflust abrutschen, ist möglich, vielleicht sogar naheliegend. Das macht es aber noch nicht unvermeidlich. Straflust wirkt eher wie ein Versagen angesichts der vielleicht nicht alltäglichen, aber doch einfachen Tatsache, dass manche Konflikte ungelöst bleiben müssen. Zum Begriff des Gefühls Der Angelpunkt dieser Arbeit ist die Analyse von Scham- und Schuldgefühlen. Als Emotionen werden sie aber nur in eng begrenzter Weise thematisiert. Hier wird

1 Scheler, „Über Scham und Schamgefühl“, S.81.

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nicht alles beschrieben, was diese Gefühle ausmacht. Beschrieben werden hier ausschließlich Urteile und Werturteile, und zwar jene, die sich eine Person mit Scham- und Schuldgefühlen zu eigen macht, wenn sie sich mit diesen Gefühlen identifiziert. Das ist vor allem eine methodische Entscheidung. Mit ihr lege ich mich nicht auf die These fest, Gefühle seien nichts anderes als Urteile, und die Entscheidung setzt auch nicht voraus, dass der Gehalt von allen Gefühlen ein propositionaler Gehalt ist. Über den Zusammenhang von Gefühlen und Überzeugungen mache ich nur eine sehr schwache Annahme: Die Urteile, die eine Person fällt, wenn sie ein bestimmtes Gefühl hat und sich mit diesem identifiziert, charakterisieren dieses Gefühl in aussagekräftiger Weise. Eine aussagekräftige Charakterisierung bedeutet hier zunächst: Die entsprechenden Überzeugungen erlauben es, das Gefühl von anderen Gefühlen zu unterscheiden. Natürlich hat diese methodische Entscheidung auch Nachteile. Denn Gefühle umfassen viel mehr als nur bestimmte Überzeugungen. Gerade das, könnte man sagen, macht ihren Charakter als Gefühle aus. Dennoch lohnt es sich, diesen Ansatz zu verfolgen. Denn von vielen Werturteilen wüssten wir gar nicht, dass wir sie uns überhaupt zu eigen machen, und wir würden es vielleicht auch nicht glauben wollen, wenn man es nicht anhand dieser Gefühle nachweisen könnte. Oft genug lehren unsere Gefühle uns, woran uns eigentlich liegt. Deswegen sind wir diesen Gefühlen und den mit ihnen verbundenen Werturteilen nicht ausgeliefert. Es gibt kaum ein Gefühl, von dem man sich nicht distanzieren könnte. Dann hat man dieses Gefühl, aber man kultiviert es nicht mehr und übergeht es wie eine unpassende Bemerkung im Gespräch. Wenn man das aber tut, sollte man besser wissen, wovon man sich distanziert. Gerade für die Bewertung von Scham- und Schuldgefühlen sind die mit ihnen verbundenen Urteile von zentraler Bedeutung. Denn diese Gefühle stehen im Verdacht, uns die falschen Maßstäbe zur Selbstkritik an die Hand zu geben und der Zustimmung anderer einen höheren Stellenwert einzuräumen, als sie es verdient. Man kann diesem Verdacht nicht nachgehen, ohne ebenjene Werturteile näher zu betrachten, die eine Person fällt, wenn sie von Scham- oder Schuldgefühlen erfasst wird. Aber lassen sich Gefühle wirklich anhand der Überzeugungen unterscheiden, die jemand hat, wenn er sich mit diesem Gefühl identifiziert? Auch das kann man bestreiten. Denn immerhin sprechen wir Gefühle auch Tieren, Kleinkindern und anderen wenig artikulierten Lebewesen zu. Gefühle, könnte man argumentieren, sind überhaupt nicht durch die jeweiligen Überzeugungen bestimmbar. Hinzu

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kommt die komplizierte Frage, ob wir Gefühle beim Hören von Musik empfinden, und wenn ja, mit welchen Überzeugungen diese verbunden sein sollen.² Die genaue Analyse der Gefühle von Kindern oder von musikalischen Erfahrungen mag strittig sein. Keinen Spielraum gibt es dagegen bei der Analyse von Scham und Schuld. Beide Gefühle verbinden uns mit den moralischen und ethischen Sprachspielen und den damit verbundenen Urteilen. Bei Scham- und Schuldgefühlen ist es unausweichlich, dass sie dort, wo man sich mit ihnen identifiziert, auch mit Überzeugungen verbunden sind. Und das gilt hier weit mehr, als es für andere Gefühle gilt, die nur sprachlich artikulierbar sind. Denn auch ein Gefühl wie Angst kann man zwar mit bestimmten Überzeugungen charakterisieren, nämlich mit jenen, die eine Person hat, wenn sie von dem Gefühl ergriffen wird. Nur lässt sich daraus allein nicht die Behauptung ableiten, nichtsprachliche Lebewesen könnten keine Angst oder keine Angst im vollen Sinn empfinden. Bei einem Gefühl wie Angst ist die Annahme viel plausibler, es komme an der sprachlichen Oberfläche nur zum Vorschein, setze aber Sprache nicht notwendig voraus. Scham- und Schuldgefühle dagegen haben eine sprachliche Natur. Säuglinge und Tiere kennen vielleicht eine Vorstufe von Scham- und Schuldgefühlen, im vollen Sinn, in dem sie uns zur Verfügung stehen, kennen sie diese Gefühle nicht.³ Ihre sprachliche Natur zeigt sich insbesondere an den sprachlichen Praktiken wie dem Geständnis, der Entschuldigung, der Vergebung oder dem Ausdruck von Hochachtung und Geringschätzung. Scham- und Schuldgefühle setzen diese Praktiken voraus, denn die Person bezieht sich in ihren Gefühlen auf diese Praktiken und verhält sich zugleich dazu. Aber all diese Praktiken sind sprachlicher Natur. Das rechtfertigt die Strategie, Scham- und Schuldgefühle über die mit ihnen verbundenen Überzeugungen zu charakterisieren.⁴

2 Zu Gefühlen von Tieren vgl. Kap. 2 in Nussbaum, Upheavals of Thought. Zu musikalischen Gefühlen vgl. besonders Roberts, Emotions: An Essay in Aid of Moral Psychology, S.122. 3 Das schließt nicht aus, dass alle Gefühle gewisse kognitive Einstellungen wie das Sehen-Als teilen (Vgl. dazu vor allem Roberts, Emotions: An Essay in Aid of Moral Psychology). Aber selbst wenn es diese Gemeinsamkeit gibt, ändert das nichts an wichtigen Unterschieden zwischen einzelnen Gefühlen: Manche sind wesentlich sprachlich, von anderen kann man das nicht mit derselben Plausibilität behaupten. 4 Griffiths behauptet, Gefühle seien keine natürliche Art, und unterscheidet ebenfalls zwischen höheren kognitiven Gefühlen wie Schuld und basalen Gefühlen wie Angst. Allerdings ist diese These bei Griffiths mit einer Polemik gegen die sprachanalytische Methode verbunden. Nur die Wissenschaften sagen uns demnach, was Gefühle eigentlich sind (Vgl. Griffiths, What Emotions Really Are. The Problem of Psychological Categories). Mir erscheint Griffiths’ Skepsis in Bezug auf die innere Kohärenz unseres emotionalen Wortschatzes plausibel, aber ich teile nicht seine Vorbehalte gegen die klassische Sprachanalyse. Es ist gerade unsere Reflexion auf den alltäg-

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Ihre sprachliche Natur macht Scham- und Schuldgefühle allerdings nicht zu sogenannten höheren kognitiven Emotionen, die mit niederen Wallungen wie Angst, Ekel oder Frust nichts gemeinsam haben. Denn Scham und Schuld sind immer auch Bauchgefühle. Wir erfahren beide als leibliche Phänomene,⁵ beide sind mit spezifischen Empfindungen verknüpft.Weil beide im Kern Ausdruck eines Beziehungskonfliktes sind, haben sie auch einfache, nichtsprachliche Bestandteile wie die Scheu vor bestimmten Blicken oder ein charakteristisches Verhalten angesichts der Aggression anderer. Es wäre ohne Zweifel wünschenswert, diese körperlichen und nichtsprachlichen Komponenten ebenfalls zu berücksichtigen – und zwar gerade, insofern sich darin eine besondere Form der Wertschätzung ausdrückt. Wir verfügen über eine ganze Reihe von Redewendungen, die diese körperlichen Reaktionen als eine bestimmte Weise deuten, etwas wichtig zu nehmen: Wir sprechen davon, dass jemand von etwas bewegt oder berührt wird, dass er sich etwas zu Herzen nimmt, oder dass er an etwas leidet. Und wir sprechen nicht nur so, wir nehmen es auch als Zeichen der Wertschätzung, wenn andere auf uns körperlich reagieren. Wie sich diese körperliche Involviertheit zu unseren Werturteilen verhält, wäre zweifellos eine eingehende Untersuchung wert. Dies ist nicht diese Untersuchung. Diese Arbeit beschränkt sich auf die mit Gefühlen verknüpften Überzeugungen und auf die Frage, ob es wirklich ratsam ist, Gefühle zu kultivieren, in denen diese Überzeugungen zum Ausdruck kommen.⁶

lichen Wortgebrauch, der nahelegt, dass Gefühle nicht unbedingt ein einheitliches Phänomen darstellen. 5 Vgl. dazu insbesondere die Einleitung und das Kapitel Scham in Demmerling/ Landweer, Philosophie der Gefühle. Von Achtung bis Zorn. 6 Noch ein Wort zu Werturteilen. Dies ist keine metaethische Arbeit. Ich setze voraus, dass wir Werturteile fällen und dass wir diese Werturteile für mehr oder weniger angemessen halten und uns darüber streiten. Entsprechend geht es bei Scham- und Schuldgefühlen nicht nur oft um Anerkennung, die uns tatsächlich entzogen wird, sondern auch um jene Anerkennung, die wir unserer Meinung nach nicht mehr verdienen. Die Existenz solcher normativer Aussagen ist ein alltäglicher Bestandteil unserer Praxis, und deswegen scheint es auch angemessen, diese zur Analyse von Gefühlen heranzuziehen. Wie diese normativen Aussagen selber zu analysieren sind, ob sie wahr oder falsch sein können und was sie wahr macht, wird hier nicht untersucht. Ob diese Arbeit deswegen metaethisch neutral ist, ist eine andere Frage. Das hängt vor allem davon ab, ob man an einen engen Zusammenhang von Metaethik und Sozialpsychologie glaubt. Ich sehe keinen, aber auch diese These werde ich hier nicht begründen.

1 Was ist ein Kompliment? Wir streben nach der Anerkennung anderer Personen. Wir wollen von anderen geschätzt werden für das, was wir sind, für das, was wir können, und für das, was wir tun. Und wir schätzen es, wenn andere diese Anerkennung ausdrücken. Ein Lob, ein Kompliment, einen Ausdruck von Bewunderung kann man als bestätigend erfahren, besonders, wenn sie von jemandem ausgesprochen werden, dem man selber Wertschätzung entgegenbringt. Das alles ist allgemein bekannt und wenig umstritten. Unklar bleibt dabei nur, ob und wie sich aus diesen Allgemeinplätzen Sinn machen lässt. Unklar ist etwa, wie Anerkennung für selbständige Menschen überhaupt einen Wert haben kann. Denn eine selbständige Person richtet sich in erster Linie nach den eigenen Wertvorstellungen. Wer das eigene Handeln von der Zustimmung anderer abhängig macht, anstatt sich von seinen eigenen Wertvorstellungen leiten zu lassen, handelt unselbständig. Die Anerkennung, an der einem liegt, sollte also die sein, die man selber angemessen findet und die man auch anderen gewähren würde. Wenn es einem aber nur um Anerkennung geht, der man selber zustimmt, wozu braucht man sie dann überhaupt? Und davon abgesehen: Warum ist die Anerkennung mancher Personen wichtiger? Die Unklarheiten werden an einer Formel besonders deutlich, mit der Bernard Williams die Rolle auf den Punkt bringt, die Anerkennung in unserem Leben spielt.Wir versuchen, schreibt Williams, unser Leben in einer Weise zu führen, die von jenen, die wir selber respektieren, umgekehrt auch respektiert wird.¹ Diese Formel ist intuitiv plausibel, einerseits. Andererseits kann man leicht den Eindruck gewinnen, dass sie nicht nur redundant, sondern auch irreführend ist. Redundant wirkt sie, weil es scheint, dass man hier durch den Anderen einfach kürzen kann. Warum genügt es hier nicht, zu sagen, dass wir unser Leben in einer Weise führen möchten, die wir selber respektieren? Was fügt man überhaupt hinzu, wenn man die Zusatzklausel mit der Anerkennung anderer einführt, und was schätzen wir an der Anerkennung anderer? Irreführend wirkt die Formel, weil man einwenden möchte, dass es doch bestenfalls das Urteilsvermögen des Anderen ist, das man schätzen muss, wenn einem an Anerkennung liegen soll, und nicht die Person des Anderen. Bei aller intuitiven Plausibilität der Formel bleibt unklar, was für eine Art von Wertschätzung Anerkennung überhaupt ist, was es heißt, eine Person und nicht nur eine Handlung oder eine Eigenschaft der Person zu schätzen, und in welcher Weise wir die Anerkennung anderer schätzen.

1 Vgl. Williams, Shame and Necessity, S. 85.

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1 Was ist ein Kompliment?

Um diese Fragen zu beantworten, muss man sich zunächst verdeutlichen, was mit den Beziehungen gegenseitigen Respekts oder gegenseitiger Anerkennung, von denen Williams spricht, gemeint sein könnte. Im Folgenden soll der Begriff der Anerkennungsbeziehung dazu auf eine ganz bestimmte Form von Beziehung eingeschränkt werden, nämlich auf jene, in denen eine Person der anderen ein Kompliment machen kann, ohne ihr damit zu nahe zu treten. Diese Definition erlaubt es, die Anerkennungsproblematik gewissermaßen in ihrem Brennpunkt zu untersuchen. Es geht also zunächst um die Frage, was ein Kompliment ist, und welche Art von Einstellung sich in einem Kompliment ausdrückt. In einem zweiten Schritt geht es dann um den Wert, den wir einem Kompliment zubilligen. Ich beschränke mich dabei auf einen ganz besonderen Wert, nämlich jenen, den wir einem Kompliment genau dann zuschreiben, wenn wir uns für das Kompliment bedanken. Die zwei Fragen, die zunächst geklärt werden, lauten also: Was ist ein Kompliment, und welche Art von Wertschätzung manifestiert sich darin, wenn dieses Kompliment aufrichtig gemeint ist? Und: Was heißt es, sich für ein Kompliment zu bedanken, und was schätzt jemand an einem Kompliment, wenn er sich aufrichtig dafür bedankt? Diesen beiden Fragen ist jeweils ein Abschnitt gewidmet. Im dritten Abschnitt geht es um den Wert von Komplimenten. Das ist zum einen die Frage, unter welchen Umständen Komplimente überhaupt einen Wert haben, das heißt, wann wir einen Grund haben, uns für das Kompliment zu bedanken. Es ist zugleich die Frage nach dem Stellenwert dieser Form gegenseitiger Wertschätzung: Was unterscheidet den glücklichen Empfänger eines Kompliments vom selbstzufriedenen Eremiten? Die Frage, ob Bernard Williams’ Behauptung redundant oder irreführend oder sogar beides ist, wird im vierten Abschnitt wieder aufgenommen.

1.1 Komplimente machen Was macht Anerkennung aus? Wenn wir vom Beispiel des Kompliments ausgehen, lässt sich zunächst einmal festhalten, dass die Einstellung ein zustimmendes Werturteil über die jeweilige Handlung, die Eigenschaft oder die Leistung enthält, der das Kompliment gilt. Wer jemandem ein Kompliment macht, äußert Zustimmung, denn er sieht seine Wertvorstellungen durch den Anderen verwirklicht. Reduzieren kann man die Wertschätzung auf dieses Werturteil allerdings nicht. Denn bei Komplimenten geht es immer um die Wertschätzung der Person und nicht nur die Wertschätzung bestimmter Eigenschaften der Person. Wer jemandem ein Kompliment macht, schätzt nicht nur irgendetwas am Anderen, sondern er schätzt den Anderen für etwas. So wie ein Dieb nur das Eigentum einer

1.1 Komplimente machen

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Person schätzt, ohne die Person selber zu schätzen,wird jemand, der nur etwas am Anderen schätzt, dessen Eigenschaften nur benutzen oder vielleicht sogar ausnutzen. Den Anderen schätzt man für das, was er kann, erst dort, wo man seine besondere Eigenschaft, Handlung oder Leistung auch respektiert: Aufgrund seiner Handlung, Leistung oder besonderen Eigenschaft steht ihm etwas zu, und man ist bereit, ihm das zu gewähren. Wohlwollen Aber die Zustimmung in Komplimenten geht über bloßen Respekt noch hinaus. Man kann den Erfolg eines Konkurrenten respektieren und ihm diesen Erfolg dennoch missgönnen. In diesem Fall kann man ihm kein aufrichtiges Kompliment machen. Denn in einem Kompliment drückt sich nicht nur Respekt, sondern immer auch Wohlwollen aus. Was genau macht eine wohlwollende Einstellung aus? Wohlwollen bedeutet zunächst, dem Anderen Gutes zu wünschen. Man schätzt es, wenn etwas passiert, das in seinem Interesse ist oder sein Leben bereichert.Wohlwollen heißt, etwas zu schätzen, insofern es gut für den Anderen ist. So verstandenes Wohlwollen scheint sich in der Tat in Komplimenten auszudrücken. Das wird besonders dort deutlich, wo sich ein Kompliment von selber verbieten würde. Wenn man glaubt, dass der Andere sich mit einer Leistung selber schädigt – wenn man es zum Beispiel mit einem Sportler zu tun hat, der eine Leistung nur erbringen konnte, weil er seinen Körper durch Doping ruiniert – kann man dem Anderen guten Gewissens kein Kompliment mehr machen. Man hat es vielleicht mit einer aufregenden Leistung zu tun, aber es ist nicht gut für den Anderen, dass er diese Leistung in dieser Form erbringt. Aber das beschreibt die wohlwollende Einstellung, die in Komplimenten steckt, noch nicht vollständig. Denn mit Komplimenten verhalten wir uns nicht nur zu dem, was dem Anderen widerfährt, sondern auch zu den Einstellungen, die er selber einnimmt. Ein Kompliment zu machen heißt immer auch, dem Anderen nicht nur die jeweilige Leistung oder Qualität, sondern eben auch die Freude darüber zu gönnen. Und man gönnt sie ihm nicht nur, man bestärkt ihn immer auch in dieser Freude. Wer ein Kompliment macht, gibt dem Anderen ausdrücklich Gelegenheit, sich zu freuen, und bestärkt ihn darin, indem er ihm den Grund für die Freude noch einmal ins Gewissen ruft und ihm seine Handlung, seine Leistung oder seine besonderen Eigenschaften noch einmal vergegenwärtigt. Und die Freude, kann man hinzufügen, wird nicht nur befürwortet, ein Kompliment drückt selber Freude aus. Denn das Wohlwollen erschöpft sich selten darin, dass man nur glaubt, der Erfolg des Anderen sei eine gute Sache. Das

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1 Was ist ein Kompliment?

Wohlwollen nimmt selber eine emotionale Gestalt an, das heißt, die Person freut sich für den Anderen. Aber auch damit haben wir das Wohlwollen, das sich in Komplimenten ausdrückt, noch nicht vollständig beschrieben. Es fehlt noch ein besonders markantes Merkmal. Man könnte es als Altruismus bezeichnen. Altruismus und Indexikalität Wohlwollen, wurde gesagt, bedeutet, etwas zu schätzen, insofern es gut für den Anderen ist, das heißt, insofern es sein Leben bereichert. Man würdigt die Vorzüge des Gegenübers nicht, weil man sie gut gebrauchen kann, man würdigt sie, insofern es das Leben des Anderen bereichert, über diese Vorzüge zu verfügen. Was das impliziert, muss man sich noch etwas genauer anschauen. Angenommen, jemand freut sich nach einem Wettkampf, dass der Beste gewonnen hat. Und er gönnt es ihm auch, weil er grundsätzlich jedem gönnt, was dieser verdient. Haben wir es hier schon mit dem Wohlwollen zu tun, wie es sich in Komplimenten ausdrückt? Zweierlei spricht dagegen. Erstens geht es hier nicht in erster Linie um eine Person und darum, was gut für diese Person ist. Es geht um die Verwirklichung eines Ideals, nämlich des Ideals der Gerechtigkeit. Die Personen werden zu bloßen Platzhaltern, die nur als Verkörperung bestimmter Rollenklischees („Der Beste“) auftauchen. Die Einstellung hat deswegen etwas Unpersönliches. Zweitens ist die Einstellung auch gänzlich unparteiisch – so unparteiisch, dass die Person sich damit sogar selber meinen könnte, denn sie selber könnte derjenige sein, der hier gewonnen hat. Beides passt nicht gut zu Komplimenten. In Komplimenten freuen wir uns für eine bestimmte Person. Diese Person ist immer mehr als nur eine Verkörperung einer allgemeinen Eigenschaft, wie etwa jener, der Beste zu sein. Und diese Person ist man nie selber. Es ist wesentlich ein Anderer. Das Wohlwollen ist hier eine altruistische Einstellung im ursprünglichen Sinn des Wortes. Aber wie hat man sich eine altruistische Einstellung genau vorzustellen? Worüber freut man sich, wenn man sich nicht darüber freut, dass der Beste gewonnen hat? Nimmt man den Gedanken ernst, dass der Andere kein bloßer Repräsentant allgemeiner Eigenschaften, sondern eine ganz bestimmte Person ist, dürfte man ihn gar nicht mit allgemeinen Begriffen beschreiben. Es gibt mehrere Möglichkeiten, auf allgemeine Beschreibungen zu verzichten, doch nicht alle passen hier gleichermaßen. Eine ist der Bezug über Eigennamen. Dann freut man sich, dass Paul oder Luise gewonnen hat. Eine Lösung hat man mit der Verwendung von Eigennamen allerdings noch nicht, weil sie streng genommen noch nicht ausschließt, dass man damit sich selber meint. Das geschieht erst, wenn man bestimmte Pronomen verwendet, nämlich er, sie oder du. Nur die Verwendung

1.1 Komplimente machen

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dieser indexikalischen Ausdrücke schließt mit Sicherheit aus, dass man sich selber meint: Das Wohlwollen, das sich in Komplimenten ausdrückt, hat eine wesentlich indexikalische Struktur.² Indexikalisch strukturierte Einstellungen werfen einige Schwierigkeiten für die Bedeutungstheorie auf, aber um die soll es hier nicht gehen. Hier kommt es auf etwas anderes an: Nicht nur deskriptive Überzeugungen, sondern auch Werturteile haben bisweilen einen wesentlich indexikalischen Charakter. Einige dieser Werturteile drücken wir mit Komplimenten aus. Das Urteil „Ich schätze diese Handlung, Leistung oder Eigenschaft insofern sie dein Leben bereichert“, ist eines von ihnen. Nur mit solchen Urteilen kann man sich für eine bestimmte Person freuen, die wesentlich eine andere Person ist als man selber. Der indexikalische Charakter des Urteils holt uns vom hohen Ross moralischer Prinzipien herunter und wendet uns wieder der Person zu, ohne dass die Wertschätzung dadurch notwendigerweise zu willkürlicher Zuneigung regrediert. Man kann sein Kompliment davon abhängig machen, dass eine Person dieses Kompliment auch verdient, und sich dennoch darüber freuen, dass sie es ist, deren Leben durch einen Erfolg, eine Handlung oder eine Leistung bereichert wird. Ein Kompliment kann, wie alles, was man tut, mehr oder weniger fair sein. Es hat die Fairness nur nicht zum Gegenstand. Es verwandelt sie nicht in einen Fetisch. Bei dem Wohlwollen, das sich in Komplimenten ausdrückt, handelt es sich um Altruismus im eigentlichen Wortsinn, weil es sich auf einen Anderen richtet, anstatt immer auch den Urheber des Kompliments selber mit zu meinen, wie man das an der unparteiischen Einstellung beobachten kann. Dass wir zu dieser Form von Altruismus überhaupt in der Lage sind, ist einigermaßen bemerkenswert. Vor allem, wenn man bedenkt, dass es bisweilen nur ein kleiner Schritt vom Altruismus zur Selbstverleugnung ist. Man sieht das, wenn man beide Einstellungen einander gegenüberstellt. Hier ist ein Beispiel für Altruismus: Ich schätze etwas, insofern es gut für jemanden ist, der nicht ich bin.

Und dies ist ein Beispiel für Selbstverleugnung:

2 Vgl. dazu insbesondere Perry, „The Problem of the Essential Indexical“. Perry argumentiert, dass man indexikalische Ausdrücke auf nichtindexikalische Ausdrücke nicht reduzieren kann. Diese These muss ich hier nicht voraussetzen. Wichtig ist nur, dass es einen Unterschied macht, ob jemand meint, der Beste habe gewonnen, oder ob er meint, er oder sie sei der Beste und habe gewonnen. Wir verwenden indexikalische Ausdrücke, um diesen Unterschied auszudrücken. Für einen Überblick über die Debatte vgl. Castaneda, „Self-Consciousness, Demonstrative Reference, and the Self-Ascription View of Believing“.

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1 Was ist ein Kompliment?

Ich schätze etwas, insofern nicht ich es bin, für den es gut ist.

Im ersten Fall wendet man sich anderen zu, ohne dadurch auszuschließen, dass eigene Erfolge ebenso wünschenswert sind. Im zweiten Fall schließt man dagegen aus, dass auch eigene Erfolge wünschenswert sind. Es ist also doppeldeutig, wenn man sagt, jemand schätze etwas, insofern es gut für einen Anderen sei.Wenn diese Formel hier verwendet wird, ist immer Altruismus gemeint, nicht Selbstverleugnung. Nicht nur Altruismus ist mit wesentlich indexikalisch strukturierten Werturteilen verknüpft. Etwas häufiger stößt man auf selbstbezogene Formen der Wertschätzung wie etwa Besitzerstolz: Jemand schätzt es, etwas zu besitzen, und er schätzt, dass er selber es ist, der dies besitzt. Und natürlich kann man sich in dieser selbstbezogenen Form auch über die eigene Leistung, eigene Fähigkeiten oder eine Handlung freuen. Dann schätzt man, dass man selber eine bestimmte Leistung erbracht hat. Diese selbstbezogene Indexikalität ist nicht nur häufiger als Altruismus, sondern auch delikater. Das gilt vor allem, wenn andere diese selbstbezogene Wertschätzung vor sich hertragen. Sie gehen einem schnell auf die Nerven, die Menschen, die nur Genugtuung über die eigene Person verbreiten. Aber daraus darf man nicht die Konsequenz ziehen, jede Form von Selbstbezogenheit abzulehnen. Wir sind selbstbezogene Wesen, und wie wir sehen werden, ist Selbstbezogenheit ein wesentlicher Bestandteil von Selbstachtung. Also was tun? An dieser Stelle hilft das Kompliment weiter. Denn das Kompliment drückt nicht nur altruistische Wertschätzung aus. Es richtet gewissermaßen den Scheinwerfer auf den Anderen und ermutigt ihn, die korrespondierende Einstellung einzunehmen, und bestärkt ihn so in seiner Selbstbezogenheit. Darin liegt die eigentliche Großzügigkeit des Kompliments. Damit haben wir aber die Frage, welche Einstellung sich in Komplimenten ausdrückt, schon hinter uns gelassen. Denn Ermutigen ist etwas, das man mit Komplimenten macht. Zu dem Thema gibt es noch mehr zu sagen. Es verdient einen eigenen Abschnitt, und zu dem kommen wir jetzt. Komplimente als Vergegenwärtigung Betrachten wir das Kompliment als Geste.³ Zuletzt wurde bemerkt, dass wir mit Komplimenten andere in einer bestimmten Einstellung bestärken. Das ist nicht 3 Die Verwendungsweise des Ausdrucks „Geste“ unterscheidet sich hier von der üblichen. Normalerweise wird damit nichtsprachliches, aber kommunikatives Verhalten bezeichnet. In diesem Sinne behauptet Plessner, dass der Geste die Worte fehlen: „Der Körper redet allein.“ (Plessner, „Lachen und Weinen. Eine Untersuchung der Grenzen menschlichen Verhaltens“,

1.1 Komplimente machen

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ganz falsch, aber die Redeweise hat einen instrumentellen Beigeschmack, der hier in die Irre führen könnte. Denn jemand, der sich über ein Kompliment freut, freut sich immer auch über die Geste selber. Die Geste ist nicht nur Mittel zum Zweck, sondern sie hat ihren eigenen Wert – und das gilt gerade, insofern sie eine Form der Wertschätzung ist und insofern man mit einem Kompliment den Anderen wichtig nimmt. ⁴ Von einem Kompliment kann man sagen, dass es die Leistung, die Handlung oder die Eigenschaft des Anderen vergegenwärtigt. Etwas vergegenwärtigen ist eine komplexe Handlung, die sowohl kognitive als auch nichtkognitive Aspekte hat. Beide zusammen machen das Kompliment zu einer besonderen Form der Wertschätzung. Vergegenwärtigen bedeutet zum einen, sich selber und dem Anderen etwas noch einmal vor Augen zu führen. Wer etwas vergegenwärtigt, klärt, worauf es ankommt. Vergegenwärtigt wird dabei nicht nur die Leistung, die Handlung oder die Eigenschaft, vergegenwärtigt wird hier auch das Wohlwollen, mit dem der Anerkennende diese Eigenschaft würdigt. Zugleich aber verändert der Akt der Vergegenwärtigung die Zeiterfahrung und wird gewissermaßen zu einer Form des Zeitmanagements. Wer etwas vergegenwärtigt, hält den besonderen Moment fest. Er weigert sich, einfach darüber hinwegzugehen und beschwört diesen Moment für eine kurze Ewigkeit. Wo er nicht festgehalten werden kann, weil sich das Kompliment auf Abgeschlossenes bezieht, wird er noch einmal neu durchlebt. Und weil es darum geht, etwas neu zu

S. 255). Das klassische Beispiel für so eine Geste ist das Zeigen auf einen Gegenstand. Nach dem hier vorausgesetzten Verständnis können Gesten aber durchaus sprachliche Äußerungen im engeren Sinn enthalten. Auch ein Kompliment ist eine Geste. Gesten in diesem Sinn drücken einerseits etwas aus, und andererseits stellen sie eine bestimmte Beziehung erst her. Eine Geste hat immer sowohl einen konstitutiven als auch einen kommunikativen Charakter: Sie stellt eine bestimmte Art von Beziehung her und macht diese zugleich zum Thema. Gesten sind demonstratives Verhalten. Man könnte es naheliegend finden, hier von Performativität im Sinne Austins zu sprechen, aber der Begriff der Performativität ist hier entweder zu eng – wenn damit gemeint ist, dass eine Person durch ein Performativ (wie eine Eheschließung) einen bestimmten sozialen Status zugewiesen bekommt – oder er ist zu weit, wenn man davon ausgeht, dass jede Äußerung einen performativen Charakter hat. 4 Honneth bezieht sich in Unsichtbarkeit auf Plessner und übernimmt von dort die Formel, die Geste sei das Gleichnis einer Handlung (Vgl. Honneth, Unsichtbarkeit: Stationen einer Theorie der Intersubjektivität, S. 18). Aber diese Charakterisierung ist nicht ausreichend. Gesten drücken sicher eine allgemeine Verhaltensbereitschaft aus, aber sie sind immer mehr als nur ein Gleichnis. Die Geste ist selber ein Geschenk an Zeit und Aufmerksamkeit für den Anderen. (Plessner selber gibt mit dieser Formel eine These von Ludwig Klages wieder, nicht ohne eigene Vorbehalte. Vgl. Plessner, „Lachen und Weinen. Eine Untersuchung der Grenzen menschlichen Verhaltens“, S. 272).

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1 Was ist ein Kompliment?

durchleben und auch die entsprechenden emotionalen Reaktionen zu kultivieren,⁵ lebt ein Kompliment nie ausschließlich davon, was gesagt wird. Es lebt davon, wie es gesagt wird. Das Kompliment lebt davon, wie es seinen Gegenstand inszeniert. Aber ein Kompliment verändert nicht nur die Zeiterfahrung. Es dauert selber seine Zeit. Es ist immer auch die Zeit und die Aufmerksamkeit, die man dem Anderen schenkt.⁶ Wenn es nicht eine Spur zu hoch gegriffen wäre, könnte man sagen, dass Komplimente etwas zelebrieren oder feiern. Zu hoch gegriffen ist es, weil Komplimente in der Regel in einem informellen Kontext gemacht werden, und weil sie in der Regel spontan sind. Ihnen fehlt meistens der Ritualcharakter. Aber allzu weit hergeholt ist sie nicht, die Metapher, und es spricht sogar einiges dafür, darin mehr als nur eine Metapher zu sehen. Etwas zu feiern heißt immer auch, etwas neu zu durchleben und zu inszenieren. Auch Feste kann man als eine Form der Vergegenwärtigung begreifen. Und tatsächlich entstammt der Ausdruck der Vergegenwärtigung, wie er hier verwendet wird, der Literatur über dieses Thema.⁷

1.2 Sich für Komplimente bedanken Wir haben jetzt eine etwas bessere Vorstellung davon, was Komplimente machen, und welche Einstellung jemand ausdrückt, wenn er ein aufrichtiges Kompliment macht.Wir wollen aber wissen, was wir an Komplimenten schätzen und wie wir sie schätzen. Dazu bietet es sich an, die Gesten zu untersuchen, mit denen wir unsere Wertschätzung für Komplimente ausdrücken. Die klassische Reaktion auf ein Kompliment aber besteht darin, sich dafür zu bedanken.

5 Es bietet sich vielleicht an, von Gefühlen der Vergegenwärtigung zu sprechen. Das wären Gefühle, die, anders als unmittelbar motivierende Gefühle wie Angst, in Situationen der Vergegenwärtigung eine Rolle spielen und selber eine Form von Vergegenwärtigung sind. Freude, Trauer und Schuld wären drei Kandidaten dafür. 6 Ricœur hat in Wege der Anerkennung die Gabe als eine eigene Form von Anerkennung ins Spiel gebracht – neben Honneths Trias von Liebe, Moral und Solidarität. (Vgl. Kap. 3 in Ricœur, Wege der Anerkennung. Erkennen, Wiedererkennen, Anerkanntsein). Doch Gaben sind keine Wertschätzung neben Liebe, Moral und Solidarität. Sie sind Bestandteil von Liebesbeziehungen, Beziehungen gegenseitiger Achtung und solidarischer Beziehungen. 7 Zu der Idee, dass Feste darin bestehen, Ereignisse in bestimmter Weise zu vergegenwärtigen, vgl. Bubner, „Ästhetisierung der Lebenswelt“. Den Ausdruck der Vergegenwärtigung habe ich Bubners Aufsatz entnommen. Ähnlich funktioniert auch Thomas Manns Analogie zwischen dem Fest und der Erzählung. Vgl. Mann, Joseph und seine Brüder. Die Geschichten Jaakobs, S. 54 f.

1.2 Sich für Komplimente bedanken

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Was heißt es, sich für ein Kompliment zu bedanken? Wer sich bedankt, erwidert die Wertschätzung des Anderen mit Wertschätzung. Er drückt nicht nur die Freude über das Kompliment aus, sondern er schätzt den Anderen für seine wohlwollende Geste. Im Fall von Dankbarkeit nimmt diese Wertschätzung die besondere Form der Verbundenheit an. Mit ihrer Verbundenheit für ein Kompliment drückt eine Person immer mehr aus als nur ihre Wertschätzung für dieses Kompliment. Sie rechnet es dem Anderen an, dass er dieses Kompliment gemacht hat, und erklärt ihre Bereitschaft, das Kompliment und das damit verbundene Wohlwollen bei Gelegenheit zu erwidern. Sie begegnet seinem Wohlwollen mit Wohlwollen. Der Dank ist dabei nicht nur ein Ausdruck der Wertschätzung für den Anderen. Er erzählt auch und vielleicht zuallererst davon, was das Kompliment der Person bedeutet. Sich bedanken heißt, das Kompliment persönlich zu nehmen. Was das heißt, studiert man am besten an Fällen, in denen jemand genau das vermeidet. So ein Fall wird in dem Film 32 Variationen über Glenn Gould geschildert. „Meine Frau besitzt alle ihre Aufnahmen“, bemerkt dort ein Anhänger im Vorbeigehen. „Ihre Frau besitzt einen ausgezeichneten Geschmack“, lautet Goulds Replik dazu. Die Replik ist kein Ausdruck von Dankbarkeit – und das, obwohl sie ein Ausdruck von Wertschätzung, ja sogar der Wertschätzung der Person (bzw. dessen Ehefrau) ist. Vor allem fehlt der Bemerkung jeder Ausdruck von Verbundenheit – und das, obwohl Gould hier durchaus etwas Nettes über die Frau sagt. Er erwidert also das Kompliment, aber er nimmt es nicht an. Was muss man tun, sagen oder ausdrücken, um ein Kompliment anzunehmen? Man muss, zum einen, auf das Kompliment selber Bezug nehmen. Man muss das Kompliment schätzen. Aber man muss es auf ganz bestimmte Weise schätzen: Man muss schätzen, dass man selber es ist, dem dieses Kompliment gilt. Und das ist das Unverbindliche an Goulds Antwort. Nichts legt nahe, dass er es schätzt, dass es seine Platten sind, die die Frau besitzt, und dass er selber es ist, der anerkannt wird. Was er sagt, ist im Prinzip nichts anderes, als dass er sich freut, dass der Richtige anerkannt wird. Das müsste nicht notwendig er selber sein, es könnte sich auch um einen Kollegen handeln. Und gerade weil er betont, dass er sich nicht unbedingt selber gemeint fühlt, lässt er das Gespräch auf einem unpersönlichen Niveau. Im Abschnitt über Komplimente haben wir gesehen, dass die darin ausgedrückte Wertschätzung nicht ohne den indexikalischen Bezug auf andere zu verstehen ist. Das gilt in zweierlei Hinsicht. Zum einen ist das Kompliment immer eine Wertschätzung für eine bestimmte Person, und zwar eine andere Person als man selber. Zum anderen ermutigt man den Anderen zu selbstbezogener Wertschätzung, man ermutigt ihn, sich zu freuen, insofern er selber es ist, der etwas

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1 Was ist ein Kompliment?

geleistet hat. Wer ein Kompliment annimmt, macht genau dies, aber er macht darüber hinaus auch noch etwas anderes: Er drückt seine Wertschätzung für das Kompliment selber aus, und auch hier gibt es ein Moment der Selbstbezogenheit. Man schätzt, dass man selber es ist, der das Kompliment bekommt, und zwar von einer bestimmten Person. Und man schätzt zusätzlich, dass es gerade diese Person ist, die einem das Kompliment macht. Grundsätzlich erklärt der indexikalische Charakter von Werturteilen, wie etwas für eine Person einen bestimmten Wert haben kann, der einem Außenstehenden prinzipiell verschlossen bleibt. Denn schätzen kann man Komplimente natürlich auch als Außenstehender. Man kann sich auch für andere freuen, wenn sie ein Kompliment bekommen, und dann schätzt man dieses Kompliment ebenfalls. In gewissem Sinn ist man sich dann als Außenstehender mit dem Adressaten des Kompliments einig. Beide finden, dass das Kompliment eine gute Sache ist. Beide urteilen auch, dass das Kompliment angemessen ist. Aber der Anerkannte schätzt es eben auf eine ganz andere Weise als der Außenstehende. Der Anerkannte schätzt, dass er selber es ist, der anerkannt wird, und diese Einstellung kann der Außenstehende mit Bezug auf dieses Kompliment unmöglich einnehmen. Denn ihm gilt es nicht.

1.3 Der Wert von Wertschätzung Was ist ein Kompliment wert? Die Frage zerfällt in zwei andere. Denn zum einen muss geklärt werden, unter welchen Bedingungen Komplimente einen Wert haben – es muss geklärt werden, unter welchen Bedingungen es angemessen ist, auf ein Kompliment mit Dankbarkeit zu reagieren. Zum anderen haben Komplimente einen bestimmten Reiz, den man am besten versteht, wenn man sie mit anderen, aber verwandten Phänomenen vergleicht. Aber um welche Art von Wert handelt es sich hier überhaupt? Die Antwort auf diese Frage ist verhältnismäßig banal. Ein Kompliment bereichert das Leben der anerkannten Person. Das heißt, es handelt sich um einen eudaimonistischen Wert. Diesen Wert hat es allerdings für beide. Denn ein Kompliment macht man, wenn es aufrichtig ist, immer gerne. Aber natürlich ist nicht jedes Kompliment in gleichem Maße willkommen. Einen Wert hat es nur unter bestimmten Bedingungen. Allerdings sind diese Bedingungen nicht leicht zu nennen. Auch verunglückte Komplimente kann man schätzen, sie sind immerhin nett gemeint. Was also folgt, ist eine Aufzählung der Bedingungen, die ein Kompliment jeweils in höherem Maße wertvoll machen. Die wichtigste Bedingung besteht in der Angemessenheit des Kompliments. Angemessen kann das Kompliment in mehrfacher Hinsicht sein. Es muss erstens

1.3 Der Wert von Wertschätzung

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der Handlung, Leistung oder Eigenschaft angemessen sein, die den Anlass für das Kompliment hergibt – und der Betreffende muss es auch diesbezüglich für angemessen halten. Diese Angemessenheit bedeutet hier vor allem und in erster Linie, dass der Gegenstand des Kompliments überhaupt lobenswert ist. Und der Empfänger des Kompliments muss den Gegenstand selber für eine gute Sache halten. Wer sich zu einer grausamen Handlung hinreißen lässt, obwohl er Grausamkeit verabscheut, kann sich nicht darüber freuen, wenn diese Grausamkeit ihren Applaus findet. Angemessen muss das Kompliment aber noch in anderer Hinsicht sein: Es muss zur Beziehung passen, das heißt, man darf dem Anderen nicht zu nahe treten. Aber warum kann man Menschen mit einem Kompliment überhaupt zu nahe treten? Etwa weil es ein Ausdruck von Wohlwollen ist, das dem Anderen unangenehm wird, wenn es stärker ausfällt als erwünscht? Aber ein Übermaß an Wohlwollen kann einem auch vollkommen egal sein. Wenn man aber jemandem zu nahe tritt, macht man etwas, das ihm unangenehm ist. In welcher besonderen Weise können Komplimente unangenehm werden? Es scheint, dass bei Komplimenten noch etwas anderes hinzukommt: Von einem aufrichtigen Kompliment nimmt sein Urheber selbstverständlich an, dass es dem Anderen willkommen ist. Ein Kompliment ist nicht wie ein beliebiges Angebot, das im Raum steht, bis es angenommen oder abgelehnt wird. Ein Kompliment geht von der Gegenseitigkeit der Wertschätzung bereits aus. Deswegen kann man mit Komplimenten Menschen vereinnahmen. Unterstellte Gegenseitigkeit ist, wenn sie unerwünscht ist, deutlich unerfreulicher als ein unerwünschtes Angebot. Wer ein Angebot macht, stellt den Anderen nur vor eine Wahl, ohne seine Reaktion vorwegzunehmen. Aber bei Gesten wie dem Kompliment wird immer schon unterstellt, dass man dem Anderen etwas Gutes tut. Es wird unterstellt, dass es ihm willkommen ist. Und man unterstellt, dass der Andere die Wertschätzung durch Dankbarkeit erwidert. Deswegen wird die Zurückweisung eines Kompliments, anders als das Ausschlagen eines Angebots, zum Affront. Ist das Kompliment aber tatsächlich unwillkommen, bringt man den Adressaten, der kein Empfänger sein will, in eine Zwickmühle. Er steht vor der Wahl, Wertschätzung zu heucheln oder sein Gegenüber vor den Kopf stoßen. Die Unterstellung, dass die Wertschätzung auf Gegenseitigkeit beruht, hat eine weitere interessante Folge. Denn man unterstellt dem Anderen nicht nur, dass er einen in irgendeiner beliebigen Weise schätzt. Man unterstellt ihm, dass er einen für das Kompliment schätzt und dass er einem zutraut, ein halbwegs geglücktes Kompliment auch hinzubekommen – alle Eigenschaften, die man für ein geglücktes Kompliment benötigt, darunter vor allem Wohlwollen und Urteilsvermögen, beansprucht man damit in selbstverständlicher Weise für sich. Ein

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1 Was ist ein Kompliment?

Kompliment zu machen heißt damit immer auch, sich selber ins Spiel zu bringen und sich als eine bestimmte Person zu präsentieren. Diese Selbstpräsentation sollte besser glaubwürdig sein, sonst verliert das Kompliment auch an dieser Stelle seinen Wert für den Anderen. Scheitern kann ein Kompliment dann nicht nur, weil man etwas Deplaziertes über den Anderen sagt. Es kann auch scheitern, weil die die eigene Selbstpräsentation unlaubwürdig oder schlicht unangemessen ist. Zur Beziehung also muss das Kompliment genauso wie zu seinem Gegenstand und nicht zuletzt seinem Urheber passen, wenn es einen Wert haben soll. Es muss in jeder Hinsicht angemessen sein. Aber nicht über jedes Kompliment freuen wir uns in demselben Ausmaß. Wie sehr man das Kompliment schätzt, hängt immer auch davon ab, wie wichtig einem die Person und die Beziehung ist – und, natürlich, wie wichtig einem das ist, wofür man anerkannt wird. Mit den Bestandteilen, die Komplimente zu etwas Wertvollem machen, hat man aber noch nichts zum Stellenwert von Komplimenten und zu den Beziehungen gesagt, die mit Komplimenten entstehen. Der besondere Reiz, also das, was diese Beziehungen von anderen unterscheidet, erschließt sich noch am besten, wenn man die durch Komplimente entstandenen Beziehungen mit zwei anderen vergleicht, die ihnen aus unterschiedlichen Gründen ähneln. Die eine Beziehung ist ein gewöhnliches Verhältnis der Übereinstimmung. Gewöhnliche Übereinstimmung entsteht, wenn man mit seinem Gegenüber eine bestimmte Einstellung teilt und sich dessen gewahr wird. Man hat dieselben Präferenzen, Wertvorstellungen oder auch dieselbe Meinung über eine beliebige Angelegenheit. Jemand freut sich, dass Barack Obama zum Präsidenten gewählt wurde, geht zum Bäcker, und, siehe da, der freut sich auch darüber, und so freut man sich gemeinsam. Dieses Teilen von Einstellungen ist selber etwas Wünschenswertes, aber es ist nicht dasselbe wie die Beziehung, die durch ein Kompliment entsteht. Denn für die Beziehung, die durch Komplimente hergestellt wird, ist es zwar wesentlich, dass beide in ihren Werturteilen übereinstimmen, aber sie geht darüber hinaus. Die ganze Pointe der Beziehung besteht darin, dass man einander gegenübersteht: Beide nehmen Einstellungen ein, die sich zwar komplementär verhalten, die der andere jedoch nicht teilt, weil er sie nicht teilen kann. Nur der, dem etwas gelungen ist, kann sich darüber freuen, dass er selber es ist, dem es gelungen ist. Die Personen verschwinden hier nicht in der geteilten Einstellung, sondern sie werden auf sich zurückgeworfen. Und sind sich genau darin einig, dass die selbstbezogenen Einstellungen angemessen sind. Und so wird im Kompliment die Selbstbezogenheit der Beteiligten gesellschaftsfähig. Selbstbezogenheit ist das entscheidende Merkmal, aber es ist eine Selbstbezogenheit, die andere nicht ausblendet. Das unterscheidet sie von anderen Situationen wie dem Auftritt vor einem Publikum: Jemand hat ein größeres Ten-

1.4 Die Gegenseitigkeit von Wertschätzung

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nisturnier gewonnen, und jetzt freut er sich wie ein Flummi. Er macht das nicht alleine, sondern vor einem Publikum, das ihm applaudiert. Insofern hat man eine ähnliche Situation wie bei Komplimenten: Jemand nimmt eine selbstbezogene Einstellung ein und wird darin bestärkt. Aber im Fall des Tennisspielers verschwindet das Publikum hinter der Kulisse des Applauses, die es als Zeichen seiner Zustimmung schafft. Und mehr als eine Kulisse für die Freude des Tennisspielers ist der Applaus tatsächlich nicht. Wir haben es hier mit einer selbstbezogenen Freude zu tun, in der andere nicht wirklich vorkommen, zumindest nicht in nennenswerter Weise. Bei Komplimenten aber führt die Einnahme einer selbstbezogenen Einstellung nicht dazu, dass der Andere ausgeblendet wird, im Gegenteil: Man freut sich, dass man selber es ist, der geschätzt wird, und zwar insofern es eine ganz bestimmte Person ist, die einen schätzt. Und so ist die Verbindung von Wohlwollen und Selbstbezogenheit das eigentlich charakterisierende Merkmal dieser Beziehung.

1.4 Die Gegenseitigkeit von Wertschätzung In seiner eingangs zitierten Formulierung hebt Bernard Williams die Bedeutung gegenseitiger Wertschätzung hervor. Wir versuchen, ein Leben zu führen, so Williams, das jene, die wir respektieren, auch selber respektieren können. Das erschien irreführend und redundant zugleich. Es erschien redundant, weil nicht klar war, wozu man die Anderen hier braucht: Reicht es nicht, ein Leben zu führen, das man selber respektieren kann? Und es erschien irreführend, weil nicht klar war, warum uns unbedingt an der Person des Anderen liegen muss und nicht etwa an seinem Urteilsvermögen. So erschien es, aber so ist es nicht. Williams’ Formulierung ist weder redundant noch irreführend. Redundant wäre sie vielleicht, wenn Wertschätzung nur ein zustimmendes Urteil implizierte. Aber am Beispiel des Kompliments haben wir gesehen, dass sie oft viel mehr enthält. Wenn es sich um Wertschätzung von Personen handelt, umfasst sie immer auch Wohlwollen oder mindestens Rücksichtnahme. Dieses Wohlwollen ist bei Komplimenten ein qualifiziertes Wohlwollen – es hängt davon ab, dass man bestimmte Standards erfüllt. Aber Wohlwollen ist es nichtsdestoweniger. Vor allem tritt dieses Wohlwollen auf eine besondere Weise auf: Es wendet sich wesentlich an einen Anderen. Man kann diese Einstellung nicht sich selber gegenüber einnehmen. Warum aber ist sie nicht irreführend? Warum muss man, um ein Kompliment zu schätzen, die Person schätzen, die einem das Kompliment macht?

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1 Was ist ein Kompliment?

Zunächst muss man gar nichts. Man muss nicht einmal das Urteilsvermögen schätzen, denn auch missratene Komplimente können sehr angenehm sein. Sie sind immerhin nett gemeint. Grundsätzlich kann man auch Komplimente schätzen, ohne dass einem an der Person des Anderen liegt. Man kann sich darüber freuen, dass Wahrheit und guter Geschmack sich endlich durchsetzen. Oder man kann es geistreich und unterhaltsam formuliert finden. Es gibt unzählige Weisen, ein Kompliment zu schätzen. Auf die Frage, welche Bedingungen erfüllt sein müssen, damit jemand ein Kompliment schätzt, gibt es keine interessante Antwort. Und dennoch spielt die Gegenseitigkeit von Wertschätzung in unserem Leben eine interessante Rolle. An Komplimenten kann man das beobachten, weil sie diese Gegenseitigkeit immer unterstellen. Nicht nur das Kompliment zu schätzen, sondern auch die Person für das Kompliment zu schätzen ist die einzige Möglichkeit, die Wertschätzung zu beantworten, ohne den Anderen vor den Kopf zu stoßen. Man könnte auch sagen: Es ist die einzig angemessene Reaktion, wenn das Kompliment selber nicht deplatziert ist. Dabei schätzt man das Kompliment auf eine ganz bestimmte Weise. Man schätzt, dass man selber es ist, dem es gilt, und dass es gerade diese Person ist, von der es kommt. Komplimente sind in dieser Arbeit der Ausgangspunkt für den Anerkennungsbegriff. Mit Anerkennung ist jede Form von Wertschätzung gemeint, die so ist wie Komplimente, mit zwei Unterschieden: Erstens muss nicht jede Art der Anerkennung eine Geste sein, das heißt, nicht jede Art von Anerkennung muss die Wertschätzung, die sie ist, zugleich zum Thema machen. Zweitens ist nicht jede Art von Anerkennung so vollkommen gleichberechtigt, wie Komplimente es sind. Auch der Applaus, hinter dem die Menge verschwindet, zählt grundsätzlich als Anerkennung. Die gleichberechtigten Spielarten der Anerkennung sind für uns und unser Selbstverständnis nur die wichtigsten. Damit hat Anerkennung, wie sie hier verstanden wird, zwei zentrale Eigenschaften: Es handelt sich um personale Wertschätzung, also um Wertschätzung, die immer mit Wohlwollen oder zumindest Rücksichtnahme verbunden ist. Und es handelt sich um Wertschätzung, die immer unterstellt, dass sie erwidert wird, und diese Gegenseitigkeit ist selber Gegenstand der geteilten Wertschätzung. Aber auch selbstbezogene Einstellungen wie die Freude, dass man selber es ist, der etwas erreicht hat, spielen, wie wir sehen werden, in vielen Anerkennungsbeziehungen eine Rolle, und wir werden sie noch brauchen, um spezielle moralische Gefühle zu erklären.

2 Anerkennung „Anerkennung“ ist als alltagssprachlicher Ausdruck nicht klar von anderen Ausdrücken wie „Respekt“ oder „Achtung“ unterschieden. Oft ist ihre Verwendung austauschbar, und die Bedeutung variiert je nach Kontext. Alle drei Ausdrücke bezeichnen im weitesten Sinn die Wertschätzung von Personen. Auch in der Philosophie ist die Verwendung des Ausdrucks weder einheitlich, noch wird sie scharf von anderen Ausdrücken für Wertschätzung abgegrenzt. Verbreitet ist immerhin die Praxis, von Anerkennung immer dann zu sprechen, wenn die Wertschätzung durch andere Personen selber als wichtiges Gut betrachtet wird. Anerkennung ist dann jene personale Wertschätzung, die selber zum Gegenstand von Wertschätzung wird. In diesem Sinn unterscheidet Honneth drei Formen von Anerkennung: Liebe, Recht (oder moralische Achtung) und Solidarität. Um ein wichtiges Gut handelt es sich dabei, weil sie, in seinen Worten, Voraussetzung einer gelungenen Ich-Entwicklung sind.¹ Auch Charles Taylor spricht in ähnlichem Sinn von Anerkennung, wenn er sagt, der Entzug von Wertschätzung könne einer Person „tatsächlich Schaden zufügen“.² In dieser Arbeit ist mit Anerkennung ebenfalls jene Wertschätzung gemeint, die selber einen Wert hat – und zwar hat sie diesen sowohl für den Adressaten als auch für den Urheber. Allerdings hat die Bedeutung des Ausdrucks hier einen deutlich geringeren Umfang als bei Axel Honneth oder Charles Taylor. Das liegt am Argumentationsziel der Arbeit: Es geht darum, jene Wertschätzung zu beschreiben, deren Entzug jemand fürchtet, deren Entzug er für berechtigt hält, oder die für ihn ihren Wert verliert, wenn er sich schämt oder schuldig fühlt. An dieser Stelle werde ich aber zunächst eine allgemeine Definition von Anerkennung vorschlagen, und erst ab Kapitel vier werde ich zeigen, dass wir diese Definition verwenden können und verwenden müssen, um Scham- und Schuldgefühle zu analysieren. Was ist also Anerkennung? Anerkennung ist zunächst die Wertschätzung von Personen, und das heißt, sie ist eine Form von Rücksichtnahme oder sogar von Wohlwollen: Man begegnet dem Anderen als einem Wesen mit bestimmten Rechten, Interessen und Wünschen, auf die man Rücksicht nimmt oder die man sogar befürwortet. Berücksichtigt werden dabei auch (aber nicht nur) die Rechte,

1 Vgl. Honneth, Kampf um Anerkennung, S. 112. 2 Vgl. Taylor/Gutmann/Habermas/Kaiser, Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung, S. 26. Zum Anerkennungsbegriff in der zeitgenössischen Moralphilosophie vgl. Siep, „Anerkennung in der Phänomenologie des Geistes und der heutigen praktischen Philosophie“. Vgl. auch den Eintrag „Anerkennung“ in Gosepath/Hinsch/Rössler (Hg.), Handbuch der politischen Philosophie und Sozialphilosophie.

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die sich aus den Handlungen, Leistungen und Qualitäten der Person ergeben. Diese Rücksichtnahme steigert sich zu Wohlwollen, wenn der Anerkennende es seinem Gegenüber auch gönnt, wenn dieser erhält, was ihm zusteht, und wenn er erreicht, was er erstrebt. Von anderen Formen personaler Wertschätzung unterscheidet sich Anerkennung durch die unterstellte Gegenseitigkeit: Die anerkennende Person geht davon aus, dass ihre Wertschätzung beantwortet wird. Sie geht davon aus, dass diese Wertschätzung tatsächlich beantwortet wird und nicht nur beantwortet werden sollte – und sie unterstellt ein gemeinsames Einverständnis in Bezug auf diese Gegenseitigkeit. Ankerkennung, könnte man sagen, ist alles, womit man einer Person zu nahe treten kann, denn diese Möglichkeit entsteht erst, wenn jemand seinem Gegenüber dieses gemeinsame Einverständnis unterstellt. Wenn die Person davon ausgeht, dass ihre Wertschätzung beantwortet wird, geht sie zugleich davon aus, dass diese Antwort ihr als einer ganz bestimmten Person gilt. Sie geht, zum Beispiel, davon aus, für ganz bestimmte Eigenschaften geschätzt zu werden. Insofern präsentiert man sich mit jeder Geste und jedem Akt der Anerkennung seinem Gegenüber in einer bestimmten Rolle. Eine unangemessene oder unaufrichtige Selbstdarstellung wird jede Geste und jeden Akt der Anerkennung unangemessen erscheinen lassen. In Anerkennungsbeziehungen ist der Andere viel mehr als nur jemand, den man für dieses oder jenes schätzt. Er ist außerdem und in erster Linie jemand, der selber Wertschätzung zu vergeben hat und dessen Wertschätzung einem etwas bedeutet. Er hat nicht nur und nicht in erster Linie diese oder jene Fähigkeiten oder Qualitäten, er verfügt über Autorität.³ Um sich auf Augenhöhe zu begegnen, genügt es hier, wenn beiden gleichermaßen an der Wertschätzung des Anderen liegt. Sie müssen sich dafür nicht dieselben Fähigkeiten oder Leistungen zusprechen. Auch wenn wir im Alltag schon aus Gründen der Höflichkeit meistens von dieser Art der Ebenbürtigkeit ausgehen, ist diese Ebenbürtigkeit aber kein notwendiges Merkmal von Anerkennungsbeziehungen. Es muss nicht beiden Beteiligten in genau demselben Maße an der Wertschätzung des jeweils Anderen liegen, und sie müssen sich das auch nicht unterstellen. Es mag durchaus sein, dass dem

3 Hilge Landweer hat eingewandt, dass diese Verwendung des Autoritätsbegriffs – Autorität hat man dann, wenn anderen an der eigenen Anerkennung liegt – künstlich sei, weil der Begriff der Autorität normalerweise asymmetrischen Beziehungen vorbehalten sei. Die Verwendung hat aber durchaus eine alltagssprachliche Grundlage. Es besteht zwar kein Zusammenhang mit der abwertenden Verwendung des Ausdrucks (autoritär im Sinne von dominant und herrschsüchtig), aber es beschreibt das, was man im Allgemeinen unter natürlicher Autorität versteht: Die Meinung und die Wertschätzung einer Person haben Gewicht, wenn sie über diese natürliche Autorität verfügt.

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einen mehr an der Anerkennung des Anderen liegt als umgekehrt. Die einzige mit Anerkennungsbeziehungen unvereinbare Form der Ungleichheit ist vollständige Unterwerfung – wenn der eine jede Art von Selbständigkeit aufgibt, kann von gegenseitiger Wertschätzung keine Rede mehr sein. Wenn es so etwas wie einen Gegenbegriff zu Anerkennung gibt, dann ist es nicht das Fehlen von Ebenbürtigkeit, sondern der Begriff der einseitigen Wertschätzung. Einseitige Wertschätzung liegt etwa vor, wenn ein Richter einen Angeklagten freispricht. Er mag ein zustimmendes Werturteil über die Person fällen, aber dieses Urteil bleibt gänzlich einseitig. Es unterstellt dem Angeklagten keine besondere Meinung über den Richter. Es ist einfach nur ein Urteil (bzw. ein Freispruch) vom Richter über den Angeklagten, nicht mehr und nicht weniger. Urteile können falsch, ungerecht oder unwirksam sein, aber sie können nicht anmaßend sein, wie ein Lob manchmal anmaßend ist. Man kann jemandem mit einem Urteil nicht zu nahe treten, wie man jemandem mit einem Kompliment zu nahe treten kann. Deswegen handelt es sich bei juristischen Urteilen nicht um Anerkennung. Andere Fälle von Wertschätzung, oder, besser gesagt, Werturteilen, die aufgrund ihres einseitigen Charakters keine Form von Anerkennung darstellen, sind die Urteile von Jurymitgliedern in sportlichen oder künstlerischen Wettbewerben. Aber auch außerhalb von solchen formalisierten Kontexten, in denen sich die Beteiligten an explizit formulierten Regeln orientieren, gibt es noch weitere Formen der Wertschätzung, die nicht unter den Begriff der Anerkennung fallen. Wir können – und müssen – Menschen achten, auch wenn wir wissen, dass diese Achtung nicht beantwortet wird. Wir können – und müssen – Menschen den Respekt entgegenbringen, den sie verdienen, auch wenn dieser Respekt nicht beantwortet wird. Zumindest kann man jemandem schlecht eine im Wettkampf errungene Medaille aberkennen, nur weil er umgekehrt die Legitimität der Auszeichnungen seiner Zeitgenossen ignoriert. Schließlich und drittens kann man auch unglücklich verliebt sein. All das sind Formen der Wertschätzung, deren Einseitigkeit allen Beteiligten bewusst ist. Sie unterstellen keine Gegenseitigkeit, und deswegen sind diese Fälle von Achtung, Respekt und Liebe, eben weil sich die Person der Einseitigkeit ihrer Wertschätzung bewusst ist, keine Formen der Anerkennung in dem Sinn, in dem der Begriff hier verwendet wird. Einige Fälle von moralischer Achtung, von Respekt und Liebe – und es sind nicht die unwichtigsten – fallen allerdings durchaus unter den hier vorgestellten Anerkennungsbegriff. Man kann keine moralische Diskussion führen, ohne darauf zu vertrauen, dass der Andere sich ebenfalls aufrichtig auf diese Diskussion einlässt. Moralische Rechtfertigung im Alltag ist deswegen nichts anderes als eine Anerkennungsbeziehung. Auch Respekt lernen wir nur innerhalb von kooperativen Beziehungen gegenseitiger Wertschätzung, in denen beide von der Gegen-

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seitigkeit dieser Wertschätzung ausgehen. Und Liebesbeziehungen entstehen erst aus Gesten der Zärtlichkeit, die in der Gewissheit gegenseitiger Zuneigung ausgetauscht werden. In diesem Sinn umfasst Anerkennung, wie sie hier verstanden wird, durchaus einige Formen der Achtung, des Respekts und der Liebe. Sie umfasst eine Teilmenge dieser Einstellungen. Sie umfasst, wie wir sehen werden, genau jene Teilmenge dieser Einstellungen, die Thema unserer Scham- und Schuldgefühle sind und die deswegen für unser praktisches Selbstverständnis zentral sind. Gegenseitigkeit und der Kontrast zu einseitigen Formen der Wertschätzung sind das wichtigste und das wesentliche Kriterium für den hier vorgeschlagenen Anerkennungsbegriff. Wir haben aber bei der Analyse von Komplimenten gesehen, dass sie noch weitere Merkmale aufweisen, deren Zusammenhang mit dem Merkmal der Gegenseitigkeit keineswegs auf der Hand liegt. Gemeint ist die Selbstbezogenheit der Wertschätzung. Die Person freut sich über die Wertschätzung, insofern sie selber damit gemeint ist, und Komplimente lassen grundsätzlich Raum dafür, dass die Person selbstbezogene Einstellungen in Bezug auf ihre Fähigkeiten und Leistungen einnimmt. Ich werde davon ausgehen, dass dies ebenfalls ein Merkmal von Anerkennung ist. Das ist, zunächst, eine definitorische Festlegung. Gibt es aber einen inneren Zusammenhang zwischen diesem zutiefst persönlichen, selbstbezogenen Moment zwischenmenschlicher Wertschätzung und jenen Formen der Wertschätzung, die davon ausgehen, dass sie auf Gegenseitigkeit beruhen? Es fällt zumindest auf, dass in vielen Kontexten, in denen die Wertschätzung einseitig ist, auch die selbstbezogene Dimension wegfällt. Formalisierte Kontexte wie Gerichtsprozesse oder die Beurteilung von Wettbewerbern durch eine Jury sind auch Kontexte, in denen dem Urteil jede persönliche Dimension fehlt. Dasselbe könnte man mit einiger Plausibilität auch für distanzierte moralische Achtung oder distanzierten Respekt sagen, bei denen sich die Person längst damit abgefunden hat, dass sie unbeantwortet bleiben. Einseitige, unglückliche Liebe trifft einen allerdings immer persönlich. Aber damit, dass Liebe einseitig bleibt, kann man sich auch nicht ohne weiteres abfinden. Und das scheint der Punkt zu sein: Wir finden den Entzug von Wertschätzung manchmal, aber nicht immer, verletzend. Sobald man sich aber damit abfinden kann, dass die eigene Wertschätzung einseitig bleiben wird – und das ist gerade bei moralischer Achtung und bei Respekt in der Regel möglich – verliert auch die Beziehung ihren persönlichen Charakter. Wenn jemandem aber nicht nur an der Gegenseitigkeit der Wertschätzung, sondern auch am Einverständnis mit dem Anderen liegt, wird er die Wertschätzung (und ihren Entzug) in der Regel auch persönlich nehmen. In diesem Sinn ist der indexikalische Charakter der Wertschätzung eng mit dem Merkmal der Gegenseitigkeit verknüpft.

2.1 Spielarten der Anerkennung

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Die Verbreitung, ja die Allgegenwart indexikalisch strukturierter Wertschätzung im Alltag ist kaum zu überschätzen. Fast jeder zwischenmenschliche Kontakt hat diese persönliche, selbstbezogene Dimension zumindest in einer oberflächlichen Form. Man fragt in einer Großstadt einen beliebigen Passanten nach dem Weg und bedankt sich für die hilfreiche Antwort. Hier sind alle Merkmale von Anerkennung präsent, einschließlich des selbstbezogenen Moments der Wertschätzung, das sich im Alltagswort „Danke“ ausdrückt. Suspendiert wird die Selbstbezogenheit der Wertschätzung nur dort, wo das Verhalten der Personen sehr stark formalisiert oder sogar ritualisiert ist oder wo man sie sich bewusst abgewöhnt hat. Und natürlich macht es auch in moralischen Kontexten einen Unterschied, ob man sich stellvertretend gegen das Unrecht wendet, das anderen geschieht, oder ob man selber betroffen ist.Wir haben für diese unterschiedlichen Einstellungen sogar unterschiedliche Ausdrücke. Die eine nennen wir Empörung, die andere Groll. ⁴ Und so selbstverständlich die Annahme ist, dass es immer Personen geben wird, welche die moralische Achtung, die man ihnen zugesteht, nicht beantworten werden – und damit sollte man sich abfinden können, wenn man nicht anfangen möchte zu hassen – so wenig könnte man sich mit einer Welt abfinden, in der das für alle oder nur die meisten gälte.

2.1 Spielarten der Anerkennung Nicht jede Anerkennung hat den demonstrativen Charakter einer Geste. Nicht jede Anerkennung macht die Wertschätzung, die sich in ihr manifestiert, zum Thema. Vor allem aber muss nicht jede Anerkennung wie das Kompliment eine bestimmte Eigenschaft, Handlung oder Leistung würdigen. Es gibt zwar durchaus einige weitere Spielarten von Anerkennung, die das tun. Ein Lob, eine Geste der Dankbarkeit oder eine Belohnung würdigen etwas Bestimmtes an der Person. Die Person erhält in diesen Fällen die Anerkennung dafür, dass sie etwas getan oder geleistet hat oder eine bestimmte Eigenschaft oder Fähigkeit hat. Man könnte sagen, es sind Spielarten der Anerkennung für etwas. Anerkennung gibt es aber auch, ohne dass der Adressat in dieser Weise getätschelt wird. Oft wird die Person anerkannt, und zwar als eine bestimmte Person, ohne dass ausdrücklich etwas gewürdigt wird: Die Anerkennung setzt zwar bestimmte Eigenschaften voraus, aber sie benennt sie nicht ausdrücklich. Das lässt sich an kooperativem Verhalten illustrieren. Kooperatives Verhalten ist personale Wertschätzung. Es setzt die Zuversicht in die Fähigkeiten und die

4 Strawson weist in „Freedom and Resentment“, S. 62, auf diese Unterscheidung hin.

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Zuverlässigkeit des Anderen voraus. Es macht aber die Wertschätzung, die sich in ihm manifestiert, nicht zum Thema, und deswegen ist es keine Geste. Um Anerkennung kann es sich dabei handeln, wenn die Personen sich jeweils Gegenseitigkeit unterstellen: Wer kooperiert, reagiert auf das kooperative Verhalten und erwidert es, indem er sich selber kooperativ verhält.⁵ Weil Kooperation ein bestimmtes Verhalten des Anderen voraussetzt, wird der Andere als eine Person mit bestimmten Eigenschaften anerkannt, aber deswegen würdigt man durch die eigene Kooperation nicht das Verhalten des Anderen. Die entsprechenden Vorzüge werden nur vorausgesetzt, und insofern sie vorausgesetzt und dabei geschätzt werden, wird die Person als Kooperationspartner anerkannt. Eine verbreitete Form kooperativen Verhaltens findet sich in unserer moralischen Praxis, oder zumindest in einem großen Teil davon. Wer von einer Person Rechenschaft fordert, geht in den allermeisten, wenn auch nicht in allen Fällen davon aus, dass der Andere tatsächlich bereit ist, sich zu rechtfertigen – sich an bestimmten Maßstäben messen zu lassen – und das eigene Verhalten zu überdenken. Er orientiert sein eigenes Verhalten und auch seine Argumente daran, wie groß er diese Bereitschaft einschätzt. Auch hier kann es sich um Anerkennung handeln, und diese gilt dem Anderen als einer Person mit bestimmten Werten und der Bereitschaft, das eigene Verhalten zu überdenken. In all diesen Fällen unterstellt man der Person, der man mit Anerkennung begegnet, bestimmte Vorzüge: Man unterstellt ihr Vertrauenswürdigkeit, bestimmte Fähigkeiten oder auch nur die Bereitschaft, sich an bestimmten Werten messen zu lassen. Aber Anerkennung bedeutet nicht immer, andere in dieser Weise zu bewerten, und nicht alles, was man der Person unterstellt, ist eine Qualität. Man kann zum Beispiel jemanden als eine Person mit einer bestimmten Geschichte anerkennen: Jemand erzählt von sich und der Andere hört zu. Auch das ist ein Akt gegenseitiger Wertschätzung. Beide schenken sich gegenseitig Zeit und Aufmerksamkeit. Aber dort, wo dies geschieht, hat das in der Regel nichts mit besonderen Qualitäten oder Leistungen zu tun. Man hört nicht zu, weil der Andere so gut zu unterhalten versteht. Man hört zu, weil es seine Geschichte ist. Aner-

5 Nicht jedes kooperative Verhalten setzt diese Unterstellungen voraus. Die verbreitete Tit-forTat-Strategie geht von ganz anderen Annahmen aus. Sie reagiert auf das Verhalten des Anderen in der Vergangenheit und belohnt oder bestraft es. Diese Strategie ist, wie Axelrod zeigt, sehr erfolgreich. (Vgl. dazu Kap. 2 in Axelrod, The Evolution of Cooperation). Und sie ist nicht nur erfolgreich, es ist auch eine faire Strategie. Dennoch ist es keine Anerkennung.

2.1 Spielarten der Anerkennung

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kennung läuft nicht immer darauf hinaus, eine Person zu benoten. Sie kann, aber sie muss keine Qualitätsprüfung sein.⁶ In vielen Gesten allerdings scheint es, als würde man dem Anderen gar nichts zusprechen. Wenn man jemandem etwas schenkt, wenn man ihm zärtlich das Haar zaust oder mit ihm einen gemeinsamen Abend verbringt, werden zwar Gegenseitigkeit und Einverständnis unterstellt, nur liegt es nicht auf der Hand, als was die Person anerkannt wird. Dennoch machen auch diese Handlungen bestimmte Voraussetzungen. Man zaust nicht jedem das Haar. Die Person muss einem nicht nur in bestimmter Weise und aus möglicherweise ganz idiosynkratischen Gründen sympathisch sein, die Geste hat immer auch eine Vorgeschichte. Nur sind diese Voraussetzungen hier in der Regel nicht aus der Handlung ableitbar, wie das bei kooperativem Verhalten der Fall ist. Dort kann man Voraussetzungen angeben, die jede rationale Person machen muss, wenn sie kooperiert. Bei kooperativem Verhalten bestimmen diese Voraussetzungen zugleich, als was man die Person anerkennt. Bei einer Geste wie dem Haarezausen verhält es sich anders. Hier sind die Voraussetzungen entweder eine rein persönliche Angelegenheit, oder sie sind konventionell bestimmt und legen damit ein bestimmtes Verhältnis fest: Bekanntschaft, Freundschaft, Liebe oder anderes. Ob Haarezausen nun bedeutet, den Anderen als Freund oder als Geliebten anzuerkennen, hängt dann von der jeweiligen Person ab oder der Kultur, in der sich beide aufhalten. Diese Formen der Anerkennung sind durch ihre Verbindung mit konventionellen Rollen oft sehr undurchsichtig.Viele dieser Rollen sind längst dabei, sich zu verflüssigen, ohne deswegen schon verdampft zu sein: Was für eine Art der Anerkennung liegt vor, wenn ein Mann einer Frau in den Mantel hilft oder ihr die Tür aufhält? Und in welchem Teufelspakt verfängt sie sich, wenn sie es sich gefallen lässt? Anerkennung hat, um das zusammenzufassen, immer einen Adressaten. Sie hat auch einen Gegenstand, und das ist das, was man dem Anderen mit der Anerkennung zuspricht und was man mit der Anerkennung zugleich akzeptiert oder sogar befürwortet. Der Gegenstand von Anerkennung legt fest, wofür und als was man den Anderen schätzt. Was aber zählt überhaupt als möglicher Gegenstand von Anerkennung? Im Kapitel über Komplimente war davon die Rede, dass wir Personen für Eigenschaften, Handlungen und Leistungen anerkennen können. Als erste Eingrenzung

6 Die Geschichte einer Person gehört für Charles Taylor zu den Dingen, welche die sogenannte Identität einer Person ausmachen. Diese bestimmt, „wer wir sind, „woher wir kommen“.“ (Taylor/Gutmann/Habermas/Kaiser, Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung, S. 23).

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ist diese Aufzählung nützlich, und sie beschreibt auch viele der hier genannten Gegenstände von Anerkennung. Dennoch hat die Aufzählung etwas Beliebiges. Warum ausgerechnet die drei und warum nichts anderes? Jemanden für etwas anerkennen, das heißt zweifellos, ihm das in irgendeiner Weise zuzusprechen. Kann man also Menschen nur für etwas anerkennen, das sie selber zu verantworten haben?

2.2 Anerkennung und ihr Gegenstand Verschiedene Thesen über den Zusammenhang von Gegenstand und Adressat von Anerkennung sind denkbar. Denkbar ist erstens, dass bei Anerkennung die Verantwortung der Person im Zentrum steht. Anerkennen könnte man den Anderen demnach nur, wofür er verantwortlich ist, und als jemanden, der für sein Wirken zur Verantwortung gezogen werden kann. Diese Auffassung ist allerdings viel zu restriktiv. Eine zweite These fasst den Zusammenhang etwas weiter: Demnach könnte man Personen für alle Eigenschaften, Handlungen und Leistungen anerkennen, die von ihr abhängen, also für alles, was es nicht gäbe, wenn sie selber nicht existierte. Drittens könnte man den Zusammenhang zwischen Anerkennung und Gegenstand noch weiter fassen. Anerkennen könnte man eine Person für alles, was ihr im weitesten Sinn des Wortes zugehörig ist. Am Ende wird sich nur die dritte These verteidigen lassen. Bleiben wir aber zunächst bei der Frage nach der Rolle von Verantwortung in Anerkennungsbeziehungen. Anerkennung, Verdienst und Verantwortung Ist es irritierend, wenn bei Anerkennung persönliches Verdienst und Verantwortung eine so geringe Rolle spielen? Manchmal sind sie ausdrücklich Gegenstand von Anerkennung, so zum Beispiel dort, wo man jemanden lobt oder wo man eine Person für etwas belohnt. In vielen anderen Fällen aber spielen sie keine Rolle und werden nicht vorausgesetzt. Schon Komplimente zeigen sich Fragen der Verantwortung und des Verdienstes gegenüber oft gleichgültig. Anerkannt werden wollen wir nicht nur für das, was wir bewirken, sondern auch für die Eigenschaften, die wir haben, egal woher, und als die Person, die wir sind. Soll man sich davon irritieren lassen? Irritierend kann man es finden, weil sich in vielen Texten über zwischenmenschliche Wertschätzung alles um die Verantwortung der Person dreht. Darwall etwa unterscheidet zwei Arten von Respekt:⁷ Den Respekt für den Anderen als

7 Vgl. Darwall, „Two Kinds of Respect“.

2.2 Anerkennung und ihr Gegenstand

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eine autonome Person mit Rechten und Pflichten, die für ihr Verhalten zur Rechenschaft gezogen werden kann, und den Respekt für den Anderen als jemanden mit bestimmten Leistungen und Fähigkeiten. Letzteren schränkt er auf jene Leistungen und Fähigkeiten ein, welche die Person selber zu verantworten hat.⁸ Beinahe alles daran dreht sich um persönliche Verantwortung: Man schätzt den Anderen für das, wofür er verantwortlich ist, oder als jemanden, der zur Verantwortung gezogen werden kann. Der Mensch als Wesen, das sich verantworten kann, steht im Zentrum dieser Auffassung personaler Wertschätzung.⁹ Entsprechend könnte man auch bei Anerkennung die Verantwortlichkeit der Person in den Vordergrund stellen. Jede Anerkennung wäre demnach die Anerkennung des Anderen als jemanden, den man zur Verantwortung ziehen kann. Gewürdigt würden ausschließlich seine Verdienste. Aber das kann nicht wahr sein. Zumindest kann niemand behaupten, dass wir allen Menschen, denen wir mit Wertschätzung begegnen, auch eine Verantwortung für das zusprechen, was wir an ihnen schätzen. Selbst dort, wo Personen tatsächlich für bestimmte Qualitäten verantwortlich sind, wird diese Verantwortung oft absichtlich übergangen. Und dieses Absehen von der Verantwortung, kann man argumentieren, ist weder unangemessen noch unfair. Ein Beispiel sind Komplimente für das Aussehen einer Person. Das Aussehen einer Person mag auf den ersten Blick wie ein Paradebeispiel für eine unverfügbare Eigenschaft wirken (also eine Eigenschaft, für welche die Person nicht verantwortlich ist). In Wahrheit aber tun die Meisten sehr viel für ihr Aussehen, manche tun dafür sogar mehr als für alles andere. Für einen großen Teil unseres Aussehens sind wir tatsächlich verantwortlich. Wenn das Äußere von Personen sich dennoch zunächst als Beispiel für eine unverfügbare Eigenschaft anbietet, hat das einen aufschlussreichen Grund: Wir tun zwar einiges für unser Äußeres, aber wir wollen es nicht hören. Wir wollen es nicht hören, wenn jemand einem Kompliment für das bezaubernde Äußere hinzufügt, er finde es bewundernswert, wie hart man am eigenen Aussehen gearbeitet habe. Eine solche Bemerkung wäre kein Kompliment, sondern eine Beleidigung. Wer bezaubernd aussehen möchte, will in erster Linie bezaubern. Er möchte nicht für seine Fähigkeit respektiert werden, ein bezauberndes Erscheinungsbild zu schaffen. Wie viel Mühe es gekostet hat, ist hier nicht das Thema – und wenn,

8 Das heißt, er schließt Respekt für angeborene Eigenschaften aus. Vgl. Darwall, „Two Kinds of Respect“, S. 42. 9 Darwall schließt nicht aus, dass man Menschen auch für etwas schätzen kann, für das sie nicht verantwortlich sind, aber er geht über diese Formen der Wertschätzung hinweg. Im Zentrum stehen für ihn Verantwortung und Verdienst.

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2 Anerkennung

dann nur, weil es gilt, die Mühelosigkeit hervorzuheben, mit der die Erscheinung aufrechterhalten wird. Diese Gleichgültigkeit gegenüber Fragen der Verantwortung gibt es nicht nur bei belanglosen Eigenschaften wie der äußeren Erscheinung. Tatsächlich kann man mit ihr fast allem begegnen, was überhaupt Anerkennung verdient. Darauf wollte Castiglione hinaus, als er dem Hofmann des 16. Jahrhunderts empfahl, eine gewisse Nachlässigkeit – una certa sprezzatura ¹⁰ – zur Schau zu tragen, und zwar eine, welche die „angewandte Mühe verbirgt und alles, was man tut und spricht, als ohne die geringste Kunst und gleichsam absichtslos hervorgebracht erscheinen läßt (sic).“¹¹ Beispiele wie diese machen deutlich, wie nebensächlich die Verantwortung einer Person sein kann, wenn sie Anerkennung erhofft und wenn wir ihr Anerkennung gewähren. Dennoch kann man fragen, ob es nicht unfair ist, jemanden für etwas anzuerkennen, das sich seiner Kontrolle entzieht. Wird zum Beispiel ein Kompliment dadurch unangemessen? Was könnte dafür sprechen, Menschen nur für das anzuerkennen, was in ihrer Macht steht? Unhaltbar wäre die Annahme, dass wir anderen mit unserer Anerkennung das Verdienst an der Qualität zusprechen. Denn das ist, wie gerade deutlich wurde, nicht der Fall. Welche anderen Argumente wären denkbar? Man mag harter Arbeit und persönlichem Verdienst einen hohen Stellenwert einräumen. Doch selbst wenn man darin eine Kardinaltugend sehen möchte, schließt das allein noch nicht aus, auch Qualitäten, die jenseits von Blut, Schweiß und Tränen liegen, zumindest zu berücksichtigen. Möglicherweise liegt der Skepsis über unverdiente Anerkennung auch eine unzulässige Verallgemeinerung des moralischen Sprachspiels zugrunde. Denn es ist sicher plausibel, davon auszugehen, dass wir anderen Personen Vorwürfe nur für das machen können, was in ihrer Macht steht. Wenn wir Menschen Vorwürfe machen, ziehen wir sie für ihr Handeln zur Verantwortung. Wir stellen sie zur Rede, wir fragen nach den Gründen für ihr Verhalten, und wir fragen, wie sie es in Zukunft damit halten möchten. Das alles macht nur Sinn, wenn der Gegenstand der Vorwürfe von der zur Rede gestellten Person auch kontrolliert wird. Ein Vorwurf ist dagegen absurd, wo es um eine unverfügbare Eigenschaft geht. Doch obwohl jemanden zur Verantwortung zu ziehen manchmal eine Form der Anerkennung ist, besteht nicht jedes Anerkennen darin, andere zur Verantwortung zu ziehen. Selbst wenn Anerkennung oft unverdient ist: Unberechtigt wird sie deswegen nicht.

10 Barberis, (Hg.), Il libro del Cortegiano, S. 59. 11 Castiglione, Der Hofmann: Lebensart in der Renaissance, S. 35.

2.2 Anerkennung und ihr Gegenstand

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Aber inwiefern sind die Eigenschaften, für die eine Person nicht verantwortlich ist, überhaupt ihre Eigenschaften? Zumindest was das Aussehen einer Person betrifft, könnte man sich hier auf die existentielle Abhängigkeit der Eigenschaft von der Person zurückziehen. Ohne die Person, könnte man argumentieren, gäbe es auch nicht das Aussehen der Person. Aber auch diese Antwort greift zu kurz. Denn oft gilt die Anerkennung einem Gegenstand, der in seiner Existenz durchaus unabhängig von der betreffenden Person ist. Anerkennung und Zugehörigkeit Verantwortlichkeit bestimmt den Zusammenhang zwischen der Person und dem Gegenstand der Anerkennung nur in Ausnahmefällen. Häufiger scheint das Verhältnis eine Art existentieller Abhängigkeit zu sein. Aber auch das gilt nicht für alle Gegenstände von Anerkennung. Eine Person kann stolz auf ihr neues Auto sein und sich von anderen für ihren Besitz bestaunen lassen. In diesen Fällen verfügt das Auto durchaus über eine selbständige Existenz. Es bleibt auch dann unter uns, wenn sich sein Besitzer in Luft auflöst. Wirklich umfassend ist nur eine Relation zwischen dem Gegenstand und dem Adressaten der Anerkennung: Es ist die Relation der Zugehörigkeit. Gegenstand von Anerkennung kann sein, was auch immer die Person als ihres betrachten kann. Das kann, aber es muss nicht Zugehörigkeit im Sinn von Privatbesitz beschreiben. Die möglichen Gegenstände von Anerkennung reichen so weit wie der Gebrauch des Possessivpronomens. Sie umfassen die Leistung der Person genauso wie ihren Besitz, ihr Aussehen wie ihren Partner, ihre Geschichte, ihren Geburtstag und ihre Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe. Und das ist der Nachteil dieser Analyse: Das Ergebnis ist in dieser Form nicht besonders aussagekräftig. Dass der Gegenstand von Anerkennung der Person in irgendeiner Form zugehörig sein muss, sagt fast nichts über ihn aus. Und etwas mehr lässt sich über diese Art der Zugehörigkeit glücklicherweise doch sagen: Sie muss exklusiv sein. Am prägnantesten zeigt sich das im Gefühl des Stolzes, das deswegen einen kleinen Exkurs verdient hat. Mein Haus, meine Frau, mein Kind: Exklusive Zugehörigkeit und das Gefühl des Stolzes Stolz ist im Kern ein ästhetisches Selbstverhältnis. In den einfachsten Fällen glaubt eine stolze Person, anziehend, begehrenswert und gefragt zu sein, in seinen verfeinerten Varianten findet die Person Gefallen an sich selber, ohne deswegen

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2 Anerkennung

zugleich von einer erhöhten Anziehungskraft ihrer eigenen Person auszugehen oder auf diese nur Wert zu legen.¹² Dem Stolz korrespondieren verschiedene Anerkennungsbeziehungen, in denen wir den Anderen in seinem Selbstgefühl bestärken, darunter vor allem jene Formen der Anerkennung, in denen man vom Anderen buchstäblich angezogen wird und den Umgang mit ihm sucht. Aber man muss vom Anderen nicht gleich angezogen sein. Es genügt oft auch schon, sein ästhetisches Wohlgefallen am Anderen auszudrücken. Bei Stolz steht die eigene Person im Zentrum, aber niemals die eigene Person allein. Stolz ist man immer auf irgendetwas. Das können eigene Leistungen und Qualitäten sein, Stolz bezieht sich aber auch auf Gegenstände mit unabhängiger Existenz. Stolz kann man auf ein Auto, auf die eigene gesellschaftliche Position, die Kinder und den eigenen Partner sein. Stolz kann man sogar auf die eigene Nation sein. Stolz kann man auf alles sein, was von Wert und einem zugehörig ist, und zwar in exklusiver Weise. Alles, was eine Person mit irgendeinem Recht als ihres bezeichnen kann, ist ein möglicher Gegenstand von Stolz. Welche besonderen Implikationen der Gebrauch des Possessivpronomens in dem jeweiligen Kontext hat, ist im Prinzip egal. Wichtig ist der Gegensatz zwischen mein und dein und der Gegensatz zwischen unser und euer. Damit man stolz auf etwas sein kann, darf es nicht allen Menschen zugehörig sein.¹³ Vor allem aber wird diese Exklusivität im Gefühl des Stolzes zum Gegenstand der Wertschätzung. Die Person schätzt etwas, insofern es ihr ausschließlich zugehörig ist. Damit nimmt sie eine Einstellung ein, die sie mit dem Anderen nicht teilen kann. Denn ihm gehört es ja nicht. Bei Besitzerstolz ist die Exklusivität am deutlichsten, denn zumindest Privateigentum ist fast immer exklusiv: Der Besitzer, und niemand anders, verfügt über seinen eigenen Besitz. Exklusivität von Besitz bedeutet dabei nicht unbedingt, dass niemand sonst über dieselbe Art von Auto verfügt. Sie setzt lediglich voraus, dass niemand anders über dieses Auto verfügen darf. Dasselbe gilt für soziale Rollen, Titel und anderes. In all diesen Fällen gibt es Leute mit derselben Art von Rolle.Worauf es aber ankommt, ist auch hier nicht die Einzigartigkeit einer bestimmten Art von Rolle. Es ist der Anspruch auf ein ganz

12 Die hier vorgeschlagene Analyse ist nicht allzu weit entfernt von der David Humes, auch wenn dieser nur von einem Befriedigtsein (satisfaction) mit sich selber spricht: „By pride I understand that agreeable impression, which arises in the mind, when the view either of our virtue, beauty, riches or power makes us satisfy’d with ourselves.“ (Hume, A Treatise of Human Nature, S. 194). Hier wird allerdings nicht, wie bei Hume, zwischen Gegenstand und Ursache des Gefühls unterschieden. 13 Auch das sieht Hume ebenso. Vgl. Hume, A Treatise of Human Nature, S. 189.

2.2 Anerkennung und ihr Gegenstand

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bestimmtes Bündel von Aufgaben und Pflichten, einen ganz bestimmten Platz in der Gemeinschaft, den andere Personen einem nicht ohne Weiteres streitig machen können. Diese Exklusivität ist nicht in allen Fällen vollkommen. Die Gütergemeinschaft in der Ehe beendet die Exklusivität von Besitz. Die Person ist nun nicht mehr die einzige, die über ihren Besitz verfügen kann. Das muss aber nichts an dem Stolz der Person auf ihren Besitz ändern. Einige dieser Fälle lassen sich vielleicht mithilfe des Begriffs kollektiver Intentionalität analysieren: Es geht dann um ein unser im Gegensatz zum euer. Aber oft kommt dieser Stolz auch ohne Schulterschluss mit dem Ehepartner aus.Was er voraussetzt, ist nicht der Kontrast zu allen, sondern der Konstrast zu einer bestimmten Person. In diesem Sinn ist Stolz also kontextabhängig. Anerkennen kann man den Anderen in seinem Stolz nur als Außenstehender, also als jemand, dem der Gegenstand des Stolzes nicht zugehörig ist. Sonst kollabiert er in ein Wir-Gefühl.¹⁴ In allen erwähnten Formen von Stolz, ja im Gefühl des Stolzes überhaupt dominiert die Selbstbezogenheit. Denn die Person gefällt sich gerade in dem, was sie von anderen unterscheidet, und insofern es sie von anderen unterscheidet. Aber auch hier ist die Abgrenzung nicht absolut, im Gegenteil, denn Selbstgefälligkeit ist ja nichts als das Bewusstsein, dass man für andere anziehender wird oder ästhetisch begründetes Wohlgefallen weckt. Der Andere, von dem man sich absetzt, wird nicht abgewertet. Seine Anerkennung bleibt wertvoll. Stolz ist in diesem Sinn immer mehr als bloßes Distinktionsverhalten. Vollendete Anerkennung Stolz ist eine gute Voraussetzung für Anerkennungsbeziehungen. Komplimente schmeicheln dem Stolz einer Person. Dennoch setzt nicht jede Anerkennungsbeziehung Stolz voraus. Und doch kann ich jemanden nur für etwas anerkennen, das ihm in irgendeiner Weise exklusiv zugehörig ist. Dem Anderen wird zugestanden, was ihm, und nicht dem Anerkennenden, zugehörig ist, und ihm wird zugestanden, dies zu schätzen, gerade insofern es seins ist. Er wird für seine Leistungen, seine Handlungen, seine Qualitäten anerkannt ebenso wie für alles andere, insofern es sein Leben bereichert. So erfahren wir durch die Anerkennung anderer, was zu uns gehört, was uns von anderen trennt und wer wir sind.

14 Ein besonderer Fall ist der Stolz auf andere Personen, darunter in erster Linie der Stolz auf die eigenen Kinder oder den Partner. Denn er setzt eine bestimmte Beziehung voraus und verändert sie zugleich. Stolz kann unter Umständen selber eine Form von Anerkennung werden. Auf jemanden stolz zu sein wird dann zu einer besonderen Art der Wertschätzung. Aber das geschieht nur, wenn die Freiheit des Anderen gewahrt bleibt. Der Zugehörigkeit muss eine freiwillige Entscheidung des Anderen zugrunde liegen, sich ebenfalls zugehörig zu fühlen.

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2 Anerkennung

Wie wichtig es für uns ist, dass uns manches exklusiv zugehörig ist, zeigt sich gerade in Fällen, in denen man das nicht erwartet hätte, zum Beispiel im Verständnis der eigenen Rechte. Man mag dieselben Rechte wie andere haben, aber das ändert nichts daran, dass die Rechte, die man hat, einen Verhaltensspielraum eröffnen und eine Verfügungsgewalt über Dinge schaffen, in dem andere nichts zu suchen haben. Mein Recht auf Redefreiheit eröffnet mir einen Freiraum, den der Andere zu respektieren hat. Am deutlichsten wird dieses possessive Verständnis von Rechten dort, wo sich jemand über ihre Verletzung beschwert. Wer in einem wichtigen Recht eingeschränkt wird,wird sich fast nie in einem gänzlich unpersönlichen Tonfall darüber beschweren, dass Unrecht geschehen ist. Er wird sich darüber beklagen, dass sein Recht verletzt wurde. Und wenn man sich auch in anderen Situationen dagegen wenden mag, dass anderen Unrecht geschieht, wird man, sobald es einen selber trifft, die Perspektive der ersten Person nicht leicht verleugnen können. Es sieht allerdings so aus, als würden wir für dieses hohe Maß an Selbstbezogenheit auch einen Preis zahlen. Im Kapitel über Komplimente war davon schon die Rede. Wer sich darüber freut, dass ihm selber etwas gelungen ist, kann diese Einstellung nicht mit anderen teilen. Andere können ihm diese Freude gönnen, aber sie können sie nicht übernehmen. Und damit verzichtet man auf das Gemeinschaftsgefühl, das entsteht, wenn man seine Interessen zusammen mit anderen verfolgt und seine Gefühle zusammen mit anderen kultiviert. Man verzichtet auf das Gemeinschaftsgefühl, das entsteht, wenn man sich im Anderen unmittelbar wiederfindet. Übrig bleiben von diesem Gemeinschaftsgefühl in Anerkennungsbeziehungen zunächst nur geteilte Werte und die geteilte Meinung, dass bestimmte selbstbezogene Einstellungen angemessen sind. Mit diesem Kompromiss endete das letzte Kapitel. Es ist, das kann man jetzt aber hinzufügen, noch nicht das Ende vom Lied. Manche Anerkennungsbeziehungen räumen diesem Gemeinschaftsgefühl bei aller Abgrenzung einen größeren Raum ein. Zwei Menschen können sich gegenseitig dafür schätzen, dass sie eine bestimmte soziale Rolle ausfüllen, in der sie bestimmte Fähigkeiten unter Beweis stellen und bestimmte Rechte geltend machen. Sie können sich jeweils für den Anderen freuen, insofern dieser besondere Platz, den sie ausfüllen, sein Platz ist, den ihm niemand anders streitig machen darf. Wenn sie aber selber in einer vergleichbaren Position sind, kann daraus ein neues Gemeinschaftsgefühl entstehen, ein Gemeinschaftsgefühl, das die gegenseitige Abgrenzung nicht leugnet, sondern voraussetzt. Man gönnt dem Anderen, was ihm zusteht, insofern es ihm zusteht. Man gönnt ihm seine Erfolge, insofern es seine Erfolge sind. Und zugleich findet man sich in ihm wieder, weil man weiß, dass einem selber dasselbe zusteht und dass man in seinen Erfolgen dem Anderen nicht nachsteht. Man findet sich

2.2 Anerkennung und ihr Gegenstand

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also wieder im Anderen, und zwar gerade in jenen Bereichen, in denen man sich von ihm abgrenzt. Bei diesen Beziehungen vollendeter Anerkennung entsteht ein Gemeinschaftsgefühl, das durch die gegenseitige Abgrenzung erst ermöglicht wird. Was wir hier haben, ist eine besondere Anerkennungsbeziehung, vielleicht sogar die idealtypische Anerkennungsbeziehung schlechthin. Sie unterscheidet sich von der Anerkennungsbeziehung, die sich in der Geste des Kompliments ausdrückt. Dort war die Gegenseitigkeit der Anerkennung – und die daraus resultierende Ebenbürtigkeit – darauf beschränkt, dass beiden gleichermaßen an der Anerkennung des Anderen liegt. Genau dieselben Rechte und Fähigkeiten zu haben, genau dieselben Leistungen vorweisen zu müssen ist dafür nicht notwendig. Aber die jetzt vorgestellte Anerkennungsbeziehung geht um einiges weiter, weil sich beide Beteiligten hier außerdem in ihren Fähigkeiten, Leistungen und Rechten im Anderen wiederfinden. Es ist wohl diese Anerkennungsbeziehung, die Bernard Williams im Auge hat, wenn er von gegenseitigem Respekt spricht. Ist diese Art von Anerkennung für uns die eigentlich wichtige, ist es jene, in der wir, und sei es nur in imaginärer Form, die Frage verhandeln, wie wir zu leben haben? Vielleicht. Selbstverständlich ist es jedenfalls nicht, dass wir alle uns am liebsten in solchen vollendeten Anerkennungsbeziehungen bewegen würden.Vor allem gibt es keinen Grund, anzunehmen, dass die unscheinbare Form von Anerkennung, für die man keineswegs genau dieselben Rechte, Fähigkeiten, Interessen und Wünsche teilen muss, in irgendeiner Weise instabil wäre. Wir bleiben also besser bei dem weiteren Anerkennungsbegriff, wie er hier eingeführt wurde. An dieser Stelle sollte nur darauf hingewiesen werden, dass es diese vollendeten Anerkennungsbeziehungen auch gibt: Dass sie denkbar sind.

3 Streben nach Anerkennung Anerkennung ist ein Gut wie andere auch, aber sie ist kein Gut wie jedes andere. Güter motivieren normalerweise unser Handeln, indem wir uns vornehmen, diese Güter zu verwirklichen, aber kann und darf die Aussicht auf Anerkennung in gleicher Weise das Handeln einer autonomen Person bestimmen? Der Wert von Anerkennung war schon Gegenstand des ersten Kapitels. Wie sehr man ein Kompliment schätzt, haben wir dort gesehen, hängt von verschiedenen Bedingungen ab. Es sollte angemessen sein, sowohl seinem Gegenstand als auch der Beziehung. Je mehr einem an der Person des Anderen liegt und je wichtiger man die Eigenschaft nimmt, der das Kompliment gilt, um so mehr wird man auch das Kompliment schätzen. Es spricht grundsätzlich nichts dagegen, diese Überlegungen auf Anerkennung in ihrer Gänze zu übertragen. Nur ist damit noch nicht gesagt, ob und wie man Anerkennung erstreben kann. Tatsächlich hat Jon Elster in mehreren Veröffentlichungen argumentiert, Anerkennung stelle in dieser Hinsicht einen Sonderfall dar. Es handle sich zwar um ein Gut, aber um eines, das man gar nicht direkt erstreben könne. Stattdessen sei Anerkennung notwendig ein Nebenprodukt unseres Handelns. Seine Überlegungen diskutiere ich im ersten Teil des Kapitels. Jon Elsters Beobachtungen über die besonderen Komplikationen, die sich beim Streben nach Anerkennung ergeben, sind sehr aufschlussreich, aber die Folgerungen, die er zieht, gehen zu weit. Die Aussicht auf Anerkennung kann auch autonome Personen grundsätzlich motivieren, nämlich genau dann, wenn das Handeln, mit dem wir Anerkennung erstreben, selber schon ein Anerkennen des Anderen ist. Anerkennendes Handeln ist eine ganz besonderer Typ von Handlung. Im zweiten Teil des Kapitels wird sie etwas genauer untersucht. Im dritten schließlich geht es um die Rolle von Anerkennung bei der Selbstkritik von Personen.

3.1 Anerkennung als Nebenprodukt? Elster hat sich in mehreren Arbeiten mit Gütern beschäftigt, die, wie er es nennt, notwendigerweise Nebenprodukte sind.¹ Darunter versteht er Güter, die man nicht erreichen kann, indem man sie unmittelbar erstrebt. Oder, wie er es in Anlehnung an die mythologische Figur des Tantalus ausdrückt: Diese Güter entziehen sich,

1 Vgl. Elster, Sour Grapes: Studies in the Subversion of Rationality, Kap. II. Elster, Political Psychology, Kap. 2.

3.1 Anerkennung als Nebenprodukt?

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sobald man danach greift.² Man erringt diese Güter nur indirekt, indem man sich die Verwirklichung anderer Güter zum Ziel setzt. Zu den Gütern, die notwendig Nebenprodukte sind, zählt Elster Respekt, Bewunderung, Dankbarkeit, Liebe, Selbstachtung und Würde. Zur Begründung seiner These appelliert er an unsere unmittelbare Erfahrung mit diesen Phänomenen: Nichts sei so wenig beeindruckend, schreibt er, wie der Wunsch, andere zu beeindrucken.³ Diese Beobachtung hat eine gewisse Plausibilität, und doch gibt es offenkundige Gegenbeispiele. Angenommen, jemand läuft einen neuen Weltrekord über 100 Meter und lässt seine Umgebung beeindruckt zurück. Und weiter angenommen, das einzige leistungssteigernde Mittel, das ihn antreibt, ist seine Gier nach Bewunderung. Zerstört das Wissen darum wirklich den Eindruck, den er hinterlassen hat? Seine Goldmedaille wird er jedenfalls nicht verlieren, und niemand wird seinen Weltrekord anfechten. Das hat seinen guten Grund, denn sein Motiv mindert nicht seine Leistung. Der Entzug von Respekt wäre hier nicht nur missgünstig. Eine Person würde ihre eigenen Wertvorstellungen verleugnen, wenn sie ihm den Respekt aus diesen Gründen vorenthielte. Für Respekt – und Respekt ist eines der Beispiele, die Elster nennt – gilt seine Beobachtung also nicht. Dennoch sind Elsters Bemerkungen nicht vollkommen aus der Luft gegriffen. Denn wenn eine Person ausschließlich um der Bewunderung anderer willen handelt, kann man diese Person zwar respektieren und für manches auch bewundern, aber man kann diese Person nicht anerkennen, wenn man Anerkennung so versteht, wie sie hier definiert wurde. Denn wer jemanden anerkennt geht nicht nur davon aus, dass seine Wertschätzung beantwortet wird, es muss einem auch an der Wertschätzung des Anderen liegen. Aber wenn einem die Wertschätzung des Anderen etwas bedeuten soll, muss dieser über ein eigenständiges und unabhängiges Urteil verfügen. Er muss über eigene Maßstäbe verfügen, nach denen er sein Gegenüber anerkennen kann. Er muss, mit einem Wort, ein Minimum an Unbestechlichkeit vorweisen können, sonst verliert seine Anerkennung ihre Pointe. Wenn eine Person selber vollkommen unselbständig ist und für Anerkennung alles tun würde, kann man sie zwar für die Leistungen respektieren, aber anerkennen kann man sie nicht. Elsters Bemerkungen haben also eine gewisse Plausibilität, wenn man sie auf die Form der Wertschätzung einschränkt, die hier als Anerkennung eingeführt wurde. Macht man diese Einschränkung mit, ist das Streben nach Anerkennung sogar noch auf eine zweite Weise problematisch.

2 Vgl. Elster, Political Psychology, S. 52. 3 Vgl. Elster, Sour Grapes: Studies in the Subversion of Rationality, S. 66.

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3 Streben nach Anerkennung

Das gilt zumindest für Gesten der Anerkennung. Denn diese – ein Kompliment, ein Lob oder Applaus – werden selten eingefordert. Entweder sie sind in feste Koventionen eingebunden (wie Applaus bei einem Konzert), oder sie kommen ungefragt. Wenn sie dennoch mutwillig provoziert werden, erweckt das den Eindruck, die Person sei von der Anerkennung ihres Gegenübers abhängig, und das heißt: Sie ist mehr auf die Anerkennung ihres Gegenübers angewiesen als umgekehrt. Damit leugnet sie den Wert der eigenen Anerkennung und die eigene Autorität. So eine Person anzuerkennen fällt immer schwer. Denn Anerkennung bedeutet ja nicht nur, dem Anderen Autorität zuzusprechen, Anerkennung ist auch Einverständnis. Dieses Einverständnis betrifft unter anderem den Wert der Anerkennung des Anderen.Wo der Andere diesen Wert selber herunterspielt, wird man mit ihm kein Einverständnis herstellen können, und das heißt, man kann ihn nicht anerkennen. Es ist nicht ganz klar, ob Elster bei seinen Bemerkungen mehr im Sinn hatte als Unselbständigkeit und die Jagd nach dem Schulterklopfen. Manchmal scheint es, als wolle er eine weitergehende These aufstellen: Als müsste man immer etwas anderes als Anerkennung beabsichtigen, um anerkannt zu werden. Als müsste uns die Anerkennung immer ungewollt in den Schoß fallen wie das Essen im Schlaraffenland. Diese These jedenfalls lässt sich nicht verteidigen, auch und gerade dann nicht, wenn man den Begriff der Anerkennung in der hier vorgeschlagenen Weise einschränkt. Es gibt einen einfachen Sinn, in dem es möglich, notwendig und alltäglich ist, um der Anerkennung anderer willen zu handeln: Vieles würden wir nicht tun, wenn wir nicht dafür anerkannt würden. Und es hat nur einen Wert, insofern wir dafür anerkannt zu werden. In diesem Sinn ist Anerkennung alles andere als ein Nebenprodukt. Dieses Handeln ist vollkommen unproblematisch, weil es nichts von der Jagd nach dem Schulterklopfen hat. Es ist etwas vollkommen anderes als die Strategien, Anerkennung zu erheischen. Es ist Handeln, das selber schon Anerkennung für den Anderen ist. Jemand spielt ein Musikstück, und eine andere Person hört ihm zu. In diesen Fällen handelt die Person nicht einfach in Gegenwart des Anderen. Sie spielt für den Anderen. Sie spielt ihm etwas vor, und sie würde in diesem Moment lieber ein Buch lesen, wenn es da nicht jemanden gäbe, der ihm zuhört. Nicht erst der wohlwollende Kommentar, sondern schon die Zeit, die Aufmerksamkeit und die Konzentration, die ihm ihr Zuhörer schenkt, sind Formen der Anerkennung. Aber ein Anerkennen ist auch das Spielen für den Anderen. Es ist ebenfalls Zeit und Aufmerksamkeit, die sie ihrem Gegenüber widmet. Man sieht, wie sich dieses Handeln von den Strategien, vom Anderen ein Kompliment zu erheischen, unterscheidet. Denn dort, wo die Person ihr Handeln

3.1 Anerkennung als Nebenprodukt?

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selber als eine Form der Anerkennung begreift, hat sie auch ein Bewusstsein ihrer eigenen Autorität. Sie unterstellt, dass dem Anderen genauso an ihrer Anerkennung liegt, wie es umgekehrt der Fall ist. Es ist in diesem Sinn eine ebenbürtige Beziehung. Dort, wo jemand nur durch Leistungen versucht, Wertschätzung zu provozieren, fehlt dieses Bewusstsein, und gerade deswegen degradiert er sich damit selber. Anerkennung ist also kein Nebenprodukt (und schon gar nicht notwendigerweise), wenn das heißen soll, dass sie uns immer überraschen muss. An manchen Stellen erweckt Elster den Eindruck, als würde er aber genau das fordern. Tatsächlich scheint er zu meinen, dass nicht mangelnde Selbständigkeit Anerkennung erschwert, sondern mangelnde Glaubwürdigkeit. Man dürfe seine Wirkung auf andere überhaupt nicht berechnen. Denn berechnendes Verhalten untergrabe die Glaubwürdigkeit der eigenen Selbstdarstellung. Elster zitiert dazu aus Brot und Spiele, Paul Veynes Studie über das Römische Reich: „Only the expression that does not seek to produce an impression succeeds in making one.“⁴

Als eine allgemeine These über die Bedingungen von Glaubwürdigkeit ist dieser Satz unhaltbar. Glaubwürdigkeit ist nicht Unkalkuliertheit. Auch die Wertschätzung für andere Menschen wird nicht weniger authentisch, wenn sie überlegt ist. Wenn jemand einer Person ein Geschenk macht, wird er sich sehr genau überlegen, wie dieses Geschenk ankommt. Warum auch sollten gerade gedankenlose Geschenke die besten sein? Berechnung und Nachdenken ist schon deswegen mit glaubwürdiger Selbstdarstellung und einem ehrlichen Ausdruck von Gefühlen vereinbar, weil es selber Ausdruck eines Gefühls sein kann. Sich Gedanken machen heißt sich Mühe machen, und Mühe macht man sich nur für Menschen, an denen einem liegt. Elsters Diagnose, wir müssten immer von dem Eindruck, den wir auf andere machen, absehen, geht zu weit. Eine andere Frage ist, ob der hier abgesteckte Bereich nicht sogar zu eng ist. Kann man nicht noch auf ganz andere Weisen nach Anerkennung streben, ohne seine Selbständigkeit oder seine Autorität zu verleugnen? Immerhin streben wir manchmal tatsächlich nach Anerkennung, obwohl wir noch gar nicht anerkannt werden, und manchmal tun wir dies mit Erfolg. Es kommt vor, dass Menschen um Anerkennung kämpfen. Jemand kommt in einen Sportverein, fühlt sich als Sportler nicht so recht ernst genommen, sucht den Wettkampf, und setzt sich durch. So ändert er den ersten Eindruck, den der Andere sich von ihm gemacht

4 Veyne, Bread and Circuses, S. 679. Das Zitat findet sich in Elster, Sour Grapes: Studies in the Subversion of Rationality, S. 67.

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3 Streben nach Anerkennung

hatte. Ist das nicht eine erfolgreiche Strategie zur Bewerkstelligung von Anerkennung? Und würdigt sich die Person hier etwa herab? Es ist, vor allem, selber eine Form von Anerkennung. Wer um Anerkennung kämpft, nimmt den Anderen als Konkurrenten ernst, und er sorgt dafür, dass dieser das – notgedrungen – auch macht. In der Auseinandersetzung kommt der Andere nicht umhin, seinen Konkurrenten ernst zu nehmen, und so ist der Wettkampf eine Weise, Anerkennung zu erstreben, mit der die Person ihre eigene Autorität nicht verleugnet. Solange der Wettkampf mit der prinzipiellen Bereitschaft verbunden ist, Fähigkeiten bei anderen zu respektieren, ist auch Konkurrenz dabei eine Form der Anerkennung – eine, in der beide sich anerkennen, gerade indem sie um Anerkennung ringen.⁵

3.2 Anerkennen als Handeln für andere Unklar bleibt dabei, was es genau heißt, in Anerkennungsbeziehungen für jemanden zu handeln. Was für eine Art von Handlung liegt vor, wenn jemand einer anderen Person zum Beispiel ein Musikstück vorspielt? Die Redeweise vom Handeln für eine Person ist tatsächlich mehrdeutig.Wenn jemand etwas für eine andere Person macht, meint das oft nicht mehr als Handeln im Interesse des Anderen. Das ist kein egoistisches, aber doch instrumentelles Handeln: Die Person hat ein Ziel, nämlich das Interesse einer Person zu befriedigen, und wählt die geeigneten Mittel. Dieses Modell beschreibt nicht das Handeln für eine Person, das hier gemeint ist. Wenn man andere anerkennt, macht man das, was man für andere macht, immer gerne. Das haben wir schon bei der Analyse des Kompliments gesehen. Ein aufrichtiges Kompliment hat einen intrinsischen Wert – und zwar auch für den, der es macht, und er macht es umso lieber, je wichtiger ihm die andere Person ist. Für jemanden handeln heißt hier: Was man macht, hat einen intrinsischen, keinen instrumentellen Wert, und der intrinsische Wert dieser Handlung ist umso größer, je mehr man den Anderen schätzt. Man könnte das für ein erstaunliches Phänomen halten: Dass etwas, gerade insofern es einen intrinsischen Wert für eine Person hat, Ausdruck der Wert-

5 Dass der Kampf um Anerkennung selber eine Form der Anerkennung ist, behauptet bekanntlich schon Hegel in seinem Selbstbewusstseinskapitel in der Phänomenologie des Geistes. Dort allerdings fehlt der minimale Respekt der Beteiligten voreinander. Außerdem wollen die Beteiligten nicht nur für bestimmte Fähigkeiten, sondern in ihrem Streben nach vollkommener Dominanz über den Anderen anerkannt werden. Das kann aus naheliegenden Gründen nicht funktionieren.

3.2 Anerkennen als Handeln für andere

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schätzung für etwas anderes sein kann. Etwas ist wertvoll, und gerade insofern es wertvoll ist, soll es zugleich Ausdruck der Wertschätzung für etwas anderes sein. Es ist, als würde das Verhältnis von Wert und Wertschätzung hier auf den Kopf gestellt! Und doch meinen wir nichts anderes, wenn wir sagen, jemand macht ein Kompliment umso lieber, je sympathischer ihm der Empfänger dieses Kompliments ist. Wie kommt hier die Wertschätzung in den Wert? Zunächst ist der Wert ein eudämonistischer Wert. Etwas ist wertvoll, insofern es das Leben einer Person bereichert: Der Wert ist immer relativ zu einer Person. Es ist wertvoll für sie.Vieles aber, was das Leben von Menschen bereichert, setzt zustimmende Werturteile für etwas anderes voraus: Komplimente und Kooperation etwa erfordern zustimmende Werturteile über den Adressaten. Interessant ist hier, dass der Wert der Anerkennung tatsächlich davon abhängt, dass man die Person zu Recht schätzt. Wenn jemand jahrelang einem Geschäftspartner vertraut, der ihn ausnutzt, wird ebendieses Vertrauen rückblickend entwertet. Man wird sich nicht damit trösten können, wenigstens einer schönen Illusion aufgesessen zu sein. Wenn das auf den ersten Blick verwirrend wirkt, dann deshalb, weil es die Tendenz gibt, Handlungen mit intrinsischem Wert als selbstgenügsame Handlungen misszuverstehen. „Ich mache etwas nur um seiner selbst willen.“ So ein Satz bedeutet oft, dass man mit seiner Handlung gar nicht scheitern kann, weil man kein Ziel erstrebt, das verfehlt werden könnte. Man hat gewissermaßen schon gewonnen. Doch anerkennendes Handeln ist, obwohl es einen intrinsischen Wert hat, nicht selbstgenügsam in diesem Sinn. Es bereichert das Leben der Person, aber auf eine Weise, die sogar rückblickend entwertet werden kann. Manches ist, gerade insofern es intrinsischen Wert für eine Person hat, Ausdruck der Wertschätzung für etwas anderes: Dieses Phänomen findet sich sogar bei instrumentellem Handeln. Es sind einige Überlegungen von Harry Frankfurt, die das verdeutlichen. Von Frankfurt stammt die These, jedes instrumentelle Handeln sei, gerade insofern es instrumentelles Handeln ist, von intrinsischem Wert.⁶ Denn instrumentelles Handeln, so Frankfurt, verfolgt ein Ziel, und Ziele zu haben und zu verfolgen macht selber den Reiz unseres Lebens aus. Es ist selber intrinsisch wertvoll. Es lohnt sich, Frankfurts Gedankengang hier weiterzuführen. Denn zwar haben instrumentelle Handlungen einen intrinsischen Wert, aber auch der hängt vom Wert des Ziels ab. Je wichtiger und bedeutender einem das Ziel erscheint, desto erfüllender ist es auch, sich dafür einzusetzen. Dagegen ist es nicht lohnenswert, ein Ziel zu verfolgen, wenn man dazu gezwungen wird oder sich auch

6 Vgl. Frankfurt, Harry, „Rationalism in Ethics“, S. 270.

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3 Streben nach Anerkennung

nur im weitesten Sinn gezwungen fühlt, es zu tun. Und wer sich jahrelang in gutem Glauben für eine Partei einsetzt, die sich schließlich als verbrecherisch herausstellt, wird sich nicht damit trösten können, wenigstens ein Ziel im Leben gehabt zu haben. Dieses Ziel verfolgt zu haben ist kein Trost. Wenn man sonst nicht viel gemacht hat, kann der Einsatz für eine verbrecherische Partei im Nachhinein ein ganzes Leben in Frage stellen. Wir können also, mit Frankfurt, sagen, dass instrumentelles Handeln manchmal einen intrinsischen Wert hat, wir müssen aber hinzufügen, dass dieser Wert, auch rückblickend, vom Wert des Ziels abhängt. Und damit gehört auch instrumentelles Handeln in die Klasse der Handlungen, in deren intrinsischem Wert sich die Wertschätzung für etwas anderes ausdrückt. Nur geht es hier um das Ziel der Handlung selber. Damit haben wir ein etwas besseres Verständnis davon, was es heißt, jemanden wichtig zu nehmen, indem man ihn anerkennt. Man verleiht ihm eine Bedeutung, die er noch nicht hatte, indem man ihm im eigenen Leben einen Platz einräumt und das eigene Wohlergehen mit der Wertschätzung des Anderen verknüpft.

3.3 Kritik und Anerkennung Unser gesamtes normatives Vokabular ist mit Anerkennungsterminologie durchtränkt. Wir formulieren Zustimmung mithilfe von Ausdrücken wie beeindruckend oder bewundernswert. Kritik äußern wir häufig, indem wir etwas als verletzend, empörend, widerwärtig oder abscheulich bezeichnen. Unsere Vorstellung davon, etwas richtig oder gut zu machen, ist aufs Engste damit verbunden, etwas zu tun, was Anerkennung verdient und welche Art von Anerkennung es verdient. Sicher kann man sich an abstrakten Begriffen des Guten und Richtigen orientieren, die von der Anerkennung anderer vollständig abstrahieren. Wir tun es nur fast nie. Meistens bleiben wir darauf bezogen, wie ein Anderer, an dessen Anerkennung uns liegt, sich dazu verhalten müsste. Manche Formen dieser Kritik sind nicht nur ein Entzug, sondern zugleich eine eigene, andere Spielart der Anerkennung. Wer jemanden empört zur Rede stellt, begibt sich immerhin in ein Gespräch. Er zeigt, dass ihm am guten Willen des Anderen durchaus gelegen ist, und geht wie selbstverständlich davon aus, dass seine Empörung den Anderen nicht gleichgültig lässt. Beides ist nur innerhalb von Anerkennungsbeziehungen sinnvoll. Trotzdem ist Empörung nicht angenehm, und das gilt in noch stärkerem Maße für andere Einstellungen wie etwa Geringschätzung. Einstellungen wie diese funktionieren sowohl als Kritik wie auch als Sanktion. Das wirft ein neues Licht

3.3 Kritik und Anerkennung

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auf die Rolle von Sanktionen für die Selbstkritik von Personen. Oft wird wie selbstverständlich davon ausgegangen, dass die Aussicht auf Sanktionen oder der Umstand, dass man sich Sanktionen eingehandelt hat, für unsere Selbstkritik keine Rolle spielen darf. Sanktionen wären demnach nur etwas für Personen, denen es an intrinsischer Motivation mangelt. Wer das Gute nicht tut, weil es gut ist, und das Richtige nicht, weil es richtig ist, braucht, so wird gerne angenommen, eine Krücke: das Zuckerbrot oder die Peitsche. Aber das ist bei Weitem nicht alles, was dazu zu sagen ist. Wenn jemand die Aversion einer anderen Person und die Sanktion, in der sie sich manifestiert, gerade deswegen fürchtet, weil diese Person ihm in vielem vorbildlich erscheint, hat er nicht nur Angst davor, irgendeinen beliebigen Schaden davonzutragen. Denn obwohl Einstellungen wie Empörung und Geringschätzung ein Gewicht haben, das die Einsicht in einen Fehler noch nicht entfalten kann, hängt dieses Gewicht doch stark davon ab, ob die Person die Kritik als angemessen empfindet. Die sanktionierende Kraft dieser Reaktionen ist von der Bewertung der eigenen Person und der eigenen Taten nie vollständig unabhängig. Nie vollständig unabhängig – das ist eine bewusst vorsichtige Formulierung. Denn diese Kritik hat auch etwas Problematisches: Jede Art von Feindseligkeit ist unangenehm.Wenn man sie als angemessen erfährt, ist sie auf vollständig andere Art und Weise unangenehm. Aber nur weil man sie als unangemessen erfährt,wird sie nicht gleichgültig. Zumindest sollte es so sein. Wer jede Art von Kritik, die ihm falsch vorkommt, sofort an sich abgleiten lässt, kommt sich vielleicht souverän vor, ist aber zugleich hoffnungslos selbstgerecht. Es wird schwer werden, so jemanden von irgendetwas zu überzeugen, was er nicht schon immer dachte. Auf der anderen Seite können Empörung und Geringschätzung, auch dort, wo die Person eine angemessene Kritik äußert, ihr Gewicht in den Augen des Anderen verlieren. Das gilt immer dann, wenn die Person verlogen reagiert. Denn wer sich empört, setzt seine Autorität ein, unterstellt, er würde sich anders verhalten. Wo das nicht der Fall ist, verliert seine Intervention ihre Schlagkraft, und die Person wirkt lächerlich. Obwohl wir Einstellungen wie Empörung und Geringschätzung immer danach beurteilen, ob sich in ihnen angemessene Kritik äußert, führen sie durchaus so etwas wie ein normatives Eigenleben: Sie können uns auch treffen, wenn die Kritik unangemessen ist, und sie können ihre Wirkung verfehlen, obwohl der Kritiker in vielem Recht hat. Deswegen ist ein Plädoyer für den Wert von Anerkennungsbeziehungen kein Plädoyer für einen vollkommen zwanglosen Ausdruck der eigenen Gefühlswelt. Wo es ernste Meinungsverschiedenheiten gibt und die Sachlage nur geringfügig unübersichtlich bleibt, gibt es zu sachlichem und feinfühligem Verhalten eigentlich keine Alternative. Das gilt zumindest, solange man sein Gegenüber im Gespräch halten will.

4 Selbstachtung Bisher lag die Betonung auf jener Wertschätzung, die man anderen Menschen entgegenbringt. Gegenstand dieses Kapitels ist die Selbstachtung einer Person. Selbstachtung ist, wie Anerkennung, ein Kunstbegriff. Gemeint ist damit jede denkbare Art von Wertschätzung, die eine Person sich selber entgegenbringen kann. Was ist Selbstachtung, und wie hängt sie mit der Wertschätzung durch andere, insbesondere mit Anerkennung zusammen? In den ersten Abschnitten wird zunächst ein Begriff von Selbstachtung skizziert. Selbstachtung lässt sich nicht ohne den Begriff der Anerkennung explizieren, denn es ist vor allem und in erster Linie das Bewusstsein, eine bestimmte Art von Anerkennung zu verdienen (Abschnitt 1). Man kann verschiedene Formen der Selbstachtung unterscheiden (Abschnitt 2). Immer aber steht bei Selbstachtung im Vordergrund, ob man als ganze Person einem bestimmten Selbstverständnis entspricht: Es geht nie nur um isolierte Vorzüge oder Nachteile (Abschnitt 3). Grundsätzlich ist Selbstachtung ein hypothetisches Selbstverhältnis: Man führt sein Leben in einer Weise, dass man die Anerkennung eines Anderen verdient. Der Andere, dessen Anerkennung man verdient, ist dabei niemals ein beliebiger Anderer (Abschnitt 4). Manchmal wird ein Mensch in seiner Selbstachtung aber auch durch äußere Umstände verletzt, und das wirft die Frage der Abhängigkeit unserer Selbstachtung von ebendiesen Umständen auf (Abschnitte 5 und 6).

4.1 Wie schätze ich mich selbst? Die Anerkennung anderer und die Wertschätzung der eigenen Person sind eng verwandte Einstellungen. Nahegelegt wird das von einer ganzen Reihe von Ausdrücken, die mit dem Präfix Selbst- beginnen: Selbstzufriedenheit, Selbstgefälligkeit, natürlich Selbstachtung, Selbstmitleid, Selbstekel und Selbsthass. Würde man diese Ausdrücke beim Wort nehmen, dann bestünde die Wertschätzung der eigenen Person in nichts anderem als der Einnahme einer anerkennenden oder ablehnenden Haltung sich selber gegenüber. Das stimmt zwar nicht im wörtlichen Sinn, aber zumindest sind die Anerkennung anderer und die Wertschätzung der eigenen Person eng verwandt. Denn zum einen verhalten wir uns, wenn wir uns zu anderen verhalten, immer auch zu uns selber. Zum anderen hat Selbstachtung auch dort, wo wir uns nicht unmittelbar zu anderen verhalten, eine Struktur, die sich zur Anerkennung für andere analog verhält. Selbstachtung wirft genau dieselben Fragen auf wie Anerkennung. Man kann, wie schon bei der Diskussion von Komplimenten erwähnt, etwas Wünschens-

4.2 Formen der Selbstachtung

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wertes an einer Person entdecken, ohne wirklich die Person dafür zu schätzen oder zumindest zu respektieren. Wer sich einer besonderen Fähigkeit einer Person nur bedient und diese ausbeutet, schätzt nur etwas am Anderen, aber nicht den Anderen. Dasselbe gilt für die Wertschätzung der eigenen Person. Denn ausbeuten kann man auch sich selber. Wer sich für andere buchstäblich aufopfert, sich darüber selber vernachlässigt oder sich dabei sogar Schaden zufügt, mag eine hohe Meinung von seinen Fähigkeiten und Leistungen haben, doch über Selbstachtung verfügt er nicht. Dazu muss er erst eine Vorstellung davon haben, was gut für ihn selber ist. Er muss eine Vorstellung davon haben, was sein eigenes Leben bereichert. Und auch seine Fähigkeiten, Leistungen und besonderen Eigenschaften muss er dann schätzen, insofern sie sein eigenes Leben bereichern. Dieses selbstbezogene Wohlwollen ist ein wesentlicher Bestandteil von Selbstachtung, ohne dafür schon hinreichend zu sein. Für sich alleine genommen ist dieses Wohlwollen eher Selbstsorge als Selbstachtung. Bei Selbstsorge spielt der Andere keine besondere Rolle, er ist bestenfalls eine Kontrastfolie: Man schätzt etwas, insofern es das eigene Leben bereichert und nicht das des Anderen. Dieser Kontrast zwischen sich und anderen ist damit vereinbar, dass man weitgehend von ihnen absieht. Von Selbstachtung kann man erst sprechen, wenn die Person sich eine Meinung darüber bildet,welches Verhalten anderer ihr gegenüber angemessen wäre und welche Behandlung sie verdient. Aber welches Verhalten soll das sein? Oft wird Selbstachtung mit Bezug auf moralische Achtung und Respekt expliziert.¹ Aber dass man Achtung und Respekt verdient, ist für Selbstachtung ebenfalls nicht hinreichend. Selbstachtung bedeutet darüber hinaus, zu wissen, dass die eigene Wertschätzung etwas wert ist – und zwar auch dort, wo andere so tun, als sei das nicht der Fall. Selbstachtung bedeutet, sich seiner Autorität bewusst zu sein. Weil wir unsere Autorität aber vor allem und in erster Linie im Rahmen von Anerkennungsbeziehungen erfahren, beziehen wir unsere Selbstachtung aus der Möglichkeit bestimmter Formen von Anerkennung und insbesondere daraus, dass wir, wären wir ein Anderer, uns selber mit Anerkennung begegnen würden.

4.2 Formen der Selbstachtung Viele Autoren unterscheiden mehrere Formen der Selbstachtung. Manchmal wird unterschieden zwischen der Selbstachtung als moralische Person und der Selbstachtung eines Wesens mit bestimmten Fähigkeiten und Leistungen, das

1 Am einflussreichsten ist auch hier Darwall, „Two Kinds of Respect“.

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4 Selbstachtung

Respekt verdient,² manchmal auch zwischen motivationalen und kognitiven Bestandteilen von Selbstachtung.³ Es wird auch darauf hingewiesen, dass Selbstachtung nicht nur die eigenen Fähigkeiten, sondern auch einen bestimmten Status umfassen kann, wie das bei Besitzerstolz der Fall ist.⁴ Schließlich wird unterschieden zwischen Selbstachtung als der Bereitschaft, an sich – und an andere – bestimmte Ansprüche zu stellen, und Selbstachtung (oder Selbstwertgefühl) als dem Bewusstsein, dass man diese auch wirklich erfüllt.⁵ Diese Unterteilungen haben für sich genommen eine gewisse Plausibilität. Sie beschreiben Facetten der Selbstachtung. Sie beschreiben auch unterschiedliche Arten, in denen Selbstachtung untergraben werden kann. Letztlich aber ist Selbstachtung ein übergreifendes Konzept, das alle genannten Facetten beinhaltet. Sie ist immer unvollständig, solange einer der genannten Typen von Selbstachtung beeinträchtigt ist. Man denke dazu nur an die sogenannte moralische Selbstachtung: Angenommen, jemand hat eine Vorstellung davon, ein Wesen mit Rechten und Pflichten zu sein, ist aber vollkommen unfähig, auch nur irgendeiner seiner Pflichten nachzukommen, und resigniert überall dort, wo es darum geht, eigene Rechte einzufordern. Er bleibt hinter seinen Erwartungen zurück. Es scheint klar, dass er in diesem Sinn einige minimale Voraussetzung für Selbstachtung erfüllt, dass aber von Selbstachtung im vollen Sinne noch nicht die Rede sein kann.⁶ Wichtige Bestandteile von Selbstachtung, die bei aller Lust an der Unterscheidung oft übersehen werden, sind außerdem: ‒ Das Bewusstsein der eigenen Autorität. Personen mit Selbstachtung wissen, was ihre Anerkennung Wert ist. Und sie lassen sich vom Wert ihrer Anerkennung auch dann nicht abbringen, wenn andere ihre Anerkennung als wertlos behandeln. ‒ Die Bereitschaft, sich zu akzeptieren und zu schätzen, wie man ist. Selbstachtung ist – wie Anerkennung – nicht nur das Produkt der Bewertung des eigenen Selbst. Wie wir schon im Kapitel über Anerkennung gesehen haben, besteht nicht jede Art von Wertschätzung darin, Noten zu erteilen: Manchmal

2 Vgl. Thomas, „Self-Respect: Theory and Practice“. Ähnlich auch Honneths Unterscheidung zwischen Selbstachtung und Selbstwertgefühl, in Honneth, Kampf um Anerkennung, Kap. 5. 3 Vgl. Darwall, „Two Kinds of Respect“, S. 22. 4 Vgl. Deigh, „Shame and Self-Esteem: A Critique“. 5 Vgl. Darwall, „Two Kinds of Respect“, S. 47 f.; Taylor, Pride, Shame, and Guilt: Emotions of SelfAssessment, S. 79. 6 Davon, dass Selbstachtung im Kern eine einzige Einstellung ist, gehen auch Rawls und Wollheim aus. Vgl. Rawls, A Theory of Justice, S. 440. Wollheim, Emotionen: Eine Philosophie der Gefühle, S. 184.

4.3 Selbstachtung und Selbstverständnis



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hört man sich die Geschichte einer Person an, weil es ihre Geschichte ist, und nicht, weil sie so unterhaltsam erzählen kann. In diesen Fällen schätzt man den Anderen als den, der er ist. Dieselbe Wertschätzung kann man auch für die eigene Person empfinden. Selbstachtung hat außerdem eine ästhetische Komponente. Denn eine Möglichkeit, sich selber zu schätzen, besteht darin, sich selber zu gefallen. Dieselben Merkmale können dabei in unterschiedlicher Hinsicht geschätzt werden. Eine Person kann sich zu ihren Leistungen verhalten, indem sie das, was ihr angesichts ihrer Leistungen zusteht, auch einfordert. Aber sie kann sich ihrer Leistungen auch erfreuen,weil sie glaubt, damit eine besonders gute Figur zu machen und besonders attraktiv zu sein.

Die Redeweise von unterschiedlichen Formen der Selbstachtung hat hier noch die größte Plausibilität: Wer sich sowohl in moralischer als auch in ästhetischer Hinsicht schätzt, hat zu ein und derselben Eigenschaft unterschiedliche Einstellungen. Sie unterscheiden sich nicht nur dadurch, dass man die eigene Person jeweils für etwas anderes schätzt. Es sind unterschiedliche Weisen, ein und dasselbe zu schätzen. Es sind unterschiedliche Weisen, sich selber mit Wertschätzung zu begegnen, und damit unterschiedliche Formen der Selbstachtung. Vor allem aber ist Selbstachtung kein Verhältnis zu isolierten Eigenschaften, Handlungen oder Sonstigem, was der Person zugehörig ist. Der Gegenstand der Selbstachtung wird immer im Kontext des eigenen Selbstverständnisses betrachtet. Nicht jedes Versagen ist für jeden gleichermaßen dramatisch und nicht jeder Erfolg gleichermaßen wichtig. Ob etwas unsere Selbstachtung berührt, hängt immer davon ab, welche Rolle es in unserem Selbstverständnis spielt.

4.3 Selbstachtung und Selbstverständnis Wofür und als was schätzt sich eine Person, die Selbstachtung besitzt? Die kürzeste Antwort lautet: Sie begegnet sich mit Selbstachtung, insofern sie ihrem Selbstverständnis gerecht wird. Für ein Selbstverständnis genügt es nicht, allgemeine Wertvorstellungen darüber zu haben, was zu tun richtig oder lohnenswert ist. Man muss auch über eine Vorstellung davon verfügen, wie und in welchem Ausmaß bestimmte Güter in das eigene Leben passen. Und man muss sich entschieden haben, wer man sein will. Jemand mag zwei Beschäftigungen gleichermaßen faszinierend finden, wenn er aber die eine zu seinem Beruf macht, während er für die andere nur noch wenig Zeit findet, dann wird die erste Beschäftigung auch wichtiger für sein Selbstverständnis sein als die andere. Anerkennung wird ihm mehr bedeuten, wenn sie die

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4 Selbstachtung

erste Beschäftigung zum Gegenstand hat, und eklatantes Versagen wird ihn stärker verunsichern, wenn es in dem Bereich auftritt, der in seinem Leben zentral ist. Aber es sind nicht nur diese persönlichen Schwerpunktsetzungen, die das Selbstverständnis einer Person über ihre allgemeinen Wertvorstellungen hinaus charakterisieren. Zu einem Selbstverständnis gehört auch so etwas wie eine eigene Fehlertoleranz: Man büßt nicht automatisch mit jedem Fehler an Selbstachtung ein. Es ist nicht einmal so, dass man an Selbstachtung einbüßt, wenn man einen besonders dummen Fehler macht. Man kann sogar immer regelmäßig auf dieselbe Weise scheitern, wie der ewige Raucher, der nicht von den Zigaretten loskommt, ohne sich deswegen immerzu selber zu kasteien. Inwiefern hier die Selbstachtung einer Person berührt ist, hängt zum einen davon ab, ob sie ihren Fehler für verzeihlich hält, aber auch von persönlichen Vorstellungen darüber, wie verzeihlich es überhaupt ist, Fehler zu machen. Außerdem umfasst das Selbstverständnis einer Person nicht nur das, was sie tut, welche Eigenschaften sie realisiert und welche Leistungen sie erbringen soll oder will, sondern auch das, was sie ist und was sie ausmacht. Zuletzt hat das Selbstverständnis immer eine zeitliche Dimension. Es enthält die langfristigen Projekte, also das, was Rawls den Lebensplan einer Person genannt hat.⁷Es enthält zugleich die Geschichte der Person: Wo man herkommt und wie man wurde, wer man ist.

4.4 Der hypothetische Andere Im Zentrum unserer Selbstachtung steht ein hypothetisches Selbstverhältnis. Dieses hypothetische Selbstverhältnis ist nichts anderes als die Fähigkeit, sich zu fragen, ob man sein Leben in einer Weise führt, die die Anerkennung eines Anderen wirklich verdient – und zwar unabhängig davon, ob man wirklich anerkannt wird. Man kann, und darum wird es im nächsten Abschnitt gehen, die Frage stellen, ob so ein hypothetisches Selbstverhältnis für Selbstachtung wirklich ausreichend ist oder ob Selbstachtung nicht auch an äußere Bedingungen gebunden ist. Unabhängig davon ist aber diese Fähigkeit, sich von der faktischen

7 Rawls greift seine für seine eigene Explikation von Selbstachtung auf den Begriff des Lebensplans zurück. Besonders aufschlussreich an seiner Diskussion ist der Hinweis auf die doppelte Rolle des Lebensplans einer Person: Man misst sich zum einen daran, inwiefern man seinen eigenen Lebensplan verwirklichen kann. Andererseits muss man den Lebensplan selber für etwas halten, das es verdient, verwirklicht zu werden. Vgl. Rawls, A Theory of Justice, S. 440 f.

4.5 Äußere Bedingungen der Selbstachtung

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Anerkennung anderer zu distanzieren, ein notwendiger Bestandteil jeder Art von Selbstachtung. Und das wirft die Frage auf: Was ist das eigentlich für eine Person, dieser Andere, der uns in unserem Selbstverhältnis zur Seite steht? Ist es ein beliebiger Anderer, vielleicht im Sinne Meads ein generalisierter Anderer?⁸ Oder nimmt er die umgekehrte Richtung und tritt als idealisierter Anderer auf? Beides schließt sich nicht aus. Es gibt unterschiedliche Formen der Anerkennung, und sie alle sind grundsätzlich auch für unser Selbstverhältnis relevant. Vieles dürfte auch von Person zu Person variieren, und es ist schwer, hier allgemeine Aussagen zu treffen. Eine Einschränkung gilt allerdings für alle Fälle. Der mögliche Anerkennungspartner kann nie ein vollkommen beliebiger Anderer sein. Er muss selber zur Anerkennung bereit sein, und dazu muss er eine gehörige Portion an gutem Willen aufbringen. Das allein schränkt den Kreis möglicher Anerkennungspartner ein. Anerkennung funktioniert hier nicht wie Rechtfertigung. Eine Rechtfertigung können per definitionem alle rationalen Menschen nachvollziehen, aber man muss, man kann nicht alle Menschen anerkennen. Der Abbruch einer Anerkennungsbeziehung kann selber gerechtfertigt sein, auch und gerade gegenüber der Person, die man nicht mehr anerkennt. Dass Rechtfertigung im Alltag oft selber eine Form von Anerkennung ist – man argumentiert im Vertrauen auf die gegenseitige Gesprächsbereitschaft – ändert nichts an dieser Asymmetrie. Denn wir haben längst Institutionen geschaffen, in denen die Grenzen der Rechtfertigung ausgedehnt wurden – dazu gehört namentlich der Gerichtsprozess – aber es ist nicht möglich, den Kreis möglicher Anerkennungspartner in vergleichbarer Weise zu vergrößern. Denn die wichtigste Leistung dieser Institutionalisierung ist es eben, Rechtfertigung auch dort zu ermöglichen, wo man sich auf Anerkennung nicht verlassen kann. Der Kreis der Personen, die Anerkennung verdienen, bleibt dabei beschränkt.

4.5 Äußere Bedingungen der Selbstachtung Wer sich selber achtet, weiß, welche Anerkennung er verdient, und er schätzt sich, insofern er seinem eigenen Selbstverständnis gerecht wird.Wie sehr hängt es aber wirklich von der Person selber ab, ob sie ihrem Selbstverständnis gerecht wird? Sind wir alle frei, uns selber zu achten, egal, was uns zustößt oder zugefügt wird? Bedeutet, dem eigenen Selbstverständnis gerecht zu werden, auch, den Beruf, den

8 Zum Ausdruck des generalisierten Anderen vgl. Mead, Mind, Self and Society, S. 152 f.

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4 Selbstachtung

man gewählt hat, faktisch auszuüben? Was passiert mit jemandem, den man daran hindert? Wird er seinem Selbstverständnis nicht mehr gerecht? Achtet er sich dann weniger? Er hat sich zumindest nichts vorzuwerfen. Damit ist ein wichtiger Kernbestand von Selbstachtung gesichert. Aber sich zu achten bedeutet immer mehr, als sich Vorwürfe zu ersparen. Es bedeutet immer auch, sich für Erfolge und für das, was man erreicht hat, zu schätzen. Sie manifestiert sich auch in den kleinen alltäglichen Erfolgserlebnissen, die man hat, wenn man tut, was einem am wichtigsten ist. Das folgt unmittelbar, wenn man Selbstachtung über Anerkennung expliziert. Wenn jemand bestimmte Fähigkeiten nicht entwickeln kann – und sei es aufgrund von Umständen, die sich seiner Kontrolle entziehen – wird man ihm dafür weder einen Vorwurf machen noch ihm mit Geringschätzung begegnen können. Aber man wird ihn auch nicht in einer Weise anerkennen können, die diese Fähigkeiten voraussetzt. Kooperieren kann man nur mit Menschen, die nicht gehindert sind, bestimmte Fähigkeiten auszuüben, und auch Komplimente gibt es nicht für Leistungen, die nie erbracht wurden. Für die Wertschätzung, die man sich selber entgegenbringt, gilt im Prinzip dasselbe. Man kann sich nicht für Erfolge schätzen, die man nicht erbracht hat. Das gilt auch dann, wenn andere einen daran hindern. Die Frage ist nur, wie wichtig diese Erfolgserlebnisse als Bestandteil von Selbstachtung sind. Wie wichtig sind sie im Vergleich mit den Fähigkeiten, deren man sich bewusst ist, und dem Wissen, was man unter glücklicheren Umständen tun könnte? Autoren wie Williams würden hier für einen Kernbegriff von Selbstachtung plädieren. Worauf es ankommt, ist nicht, ob man dieses oder jenes machen kann, sondern die Art und Weise, wie eine Person ihr Leben führt, möglicherweise unter widrigen Umständen.⁹ Im Zentrum von Selbstachtung ständen demnach nicht die Erfolgserlebnisse, die man am liebsten hätte, sondern die, welche man hat, wenn man die Welt nimmt, wie sie ist. In diesem Konzept von Selbstachtung ist auch Protest und Auflehnung gegen Unrecht – und allgemein alles, was man als Selbstbehauptung beschreiben würde – eine mögliche Grundlage für Selbstachtung. An einem bestimmten Punkt aber stößt dieses Konzept von Selbstachtung an seine Grenzen. Denn Umstände sind nicht nur bisweilen widrig, manchmal schränken sie die Handlungsmöglichkeiten ein. Es gibt keine Möglichkeit zum Protest und es gibt

9 Diese These ergibt sich bei Williams aus der im ersten Kapitel zitierten Formulierung: Wir versuchen unser Leben auf eine Weise zu führen, die jene, die wir selber respektieren, umgekehrt respektieren können. Vgl. Williams, Shame and Necessity, S. 85.

4.5 Äußere Bedingungen der Selbstachtung

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keinen Spielraum für Improvisation, wenn jemand, sagen wir, für ein halbes Jahr an einen Stuhl gefesselt wird. Auch diese erzwungene Immobilität ist vielleicht kein Grund, jemanden als Person weniger anzuerkennen – solange man weiß, wer die Person ist, und solange man weiß, wie sie ihr Leben führen würde, wenn sie es könnte. Aber weiß man das? Weiß sie es selber? Wer jemand ist, was jemand kann, und sogar wer jemand sein will, steht nie ganz fest. Wie viel jemand erreichen kann, wird tagtäglich neu ausprobiert. Selbst wer nicht darauf aus ist, Neues zu probieren und sich zu verbessern, erfährt immerhin, dass er sich nicht verschlechtert und dass er noch genau das macht, was er immer tun wollte. Ob das, was man macht, auch das ist, was man machen will, entscheidet keine Person ein für alle Mal. Die alltäglichen kleinen Erfolgserlebnisse sind in diesem Sinn wichtiger, als es zunächst den Anschein hatte: Sie sind nicht nur das Schulterklopfen, das man sich selbst gewährt. Sie dienen immer auch der permanenten Selbstvergewisserung. Um sich selber als eine bestimmte Person zu achten, muss man sich auch als diese Person erfahren. Sonst weiß man nicht, ob man die Person überhaupt noch ist. Selbstachtung ist also durchaus an Erfolgserlebnisse gebunden. Nicht in dem Sinn, dass jeder genau das sein muss, was er sich immer gewünscht hat, um sich selber zu achten. Selbstachtung ist auch möglich, nachdem sich das heißersehnte Berufsziel zerschlagen hat. Die Reaktion auf widrige Umstände kann auch Grundlage von Selbstachtung sein. Sie ist nicht, zumindest nicht notwendigerweise daran geknüpft, dass man eine bestimmte Lieblingsrolle verwirklicht. Aber im vollen Sinn setzt Selbstachtung Handlungsspielraum voraus. Man muss handeln können, um jemand sein zu können, und man muss jemand sein, um sich achten zu können. Mit diesen Hinweisen zum Handlungsspielraum ist aber noch nichts dazu gesagt, ob und wie sehr Selbstachtung die faktische Anerkennung durch andere voraussetzt. John Rawls, Ernst Tugendhat und Axel Honneth haben behauptet, dass die Anerkennung anderer durchaus eine Bedingung für Selbstachtung ist. In allen drei Fällen ist das zunächst kausal gemeint: Man wird nie so etwas wie Selbstachtung entwickeln, wenn man nicht schon einmal Anerkennung erfahren hat.¹⁰ Gemeint ist auch, dass es schwerfällt, seine Selbstachtung aufrechtzuerhalten, wenn man nur mit Geringschätzung behandelt wird.¹¹ Spielt aber vielleicht

10 Das betonen vor allem Honneth und Tugendhat. Vgl. Honneth, Kampf um Anerkennung, S. 110. Tugendhat, Selbstbewusstsein und Selbstbestimmung: Sprachanalytische Interpretationen, S. 272. 11 Diese Idee steht bei Rawls im Vordergrund. Für Rawls gehört die Anerkennung anderer zu den „Umständen“, die den Sinn für den eigenen Wert „stützen“. Vgl. Rawls, A Theory of Justice, S. 440 f.

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4 Selbstachtung

Anerkennung darüber hinaus eine noch wichtigere Rolle für die Selbstachtung einer Person? Könnte es vielleicht sein, dass zumindest manchmal Anerkennung, die eine Person tatsächlich erfährt, eine Bedingung von Selbstachtung ist? Auch hier gibt es keine prinzipiellen, das heißt begrifflichen Gründe auszuschließen, dass jemand, der nicht anerkannt wird, sich selber achtet. Es gibt keinen Grund, anzunehmen, dass Personen grundsätzlich auf Anerkennung angewiesen sind, um sich selber zu achten. Beeinflusst wird die Selbstachtung durch die Anerkennung, die man bekommt, und auf die man sich einlässt. Der Zusammenhang zwischen Selbstachtung und Anerkennung entsteht dort, wo man das, was man macht, für andere und mit anderen macht. Unter diesen Umständen wird die Anerkennung anderer mehr als nur eine Erfolgsbedingung für das eigene Handeln (etwa weil man seine Ziele nur gemeinsam mit anderen erreichen kann). Sie ist auch mehr als nur ein wichtiges Gut unter anderen Gütern (weil man die Anerkennung anderer schätzt). Anerkennung, das haben wir in dieser Arbeit schon in Kapitel 2 gesehen, ist mit Selbstachtung viel enger verknüpft: Weil man andere immer schätzt, insofern sie diese Wertschätzung erwidern, schätzt man sich selber, indem man andere anerkennt. Wenn diese Anerkennung ausgenutzt wird, schlägt das unmittelbar zurück und äußert sich in Gefühlen wie Verletztheit. Und Verletztheit ist genau jene Beeinträchtigung der Selbstachtung, die man nicht selber zu verantworten hat.¹² Das Problem ist also nicht oder nicht in erster Linie das Vorenthalten von Anerkennung. Es ist die Instrumentalisierung von Anerkennung. Endet man damit aber nicht bei der Tautologie, dass die Selbstachtung von jener Anerkennung abhängig ist, von der man sie abhängig macht? Und gehört die Anerkennung anderer dann tatsächlich zu den notwendigen Bedingungen von Selbstachtung? Jedenfalls wird die Existenz glücklicher Eremiten mit der These nicht ausgeschlossen, und tatsächlich beobachtet man sie manchmal, wenn auch nicht besonders häufig, in freier Wildbahn. Sogar kooperatives Verhalten kann man in innerer Emigration hinter sich bringen, ohne es um seiner selbst willen und damit als Anerkennung zu schätzen. Wenn man sich dann im Anderen irrt, hat man sich nur verrechnet, aber man wird nicht enttäuscht. Die eigentlich interessante Frage ist hier nicht, welche Beziehungen notwendig für Selbstachtung sind. Es ist die normative Frage, welche Spielarten von Selbstachtung wünschenswert sind und welche man als Bestandteil eines erfüllten Lebens betrachten möchte.

12 Für eine Analyse des Zusammenspiels von Anerkennungsentzug und bestimmten emotionalen Reaktionen vgl. Honneth, Kampf um Anerkennung, S. 220 ff..

4.6 Demütigung und Selbstachtung

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4.6 Demütigung und Selbstachtung In seinem Buch Politik der Würde definiert Margalit Demütigungen über Selbstachtung. Eine Demütigung, so Margalit, gibt einer Person das Recht, sich in ihrer Selbstachtung verletzt zu sehen.¹³ Die Definition klingt zunächst absurd. Demütigungen, insbesondere gewaltsame Demütigungen, verstoßen gegen die grundlegenden Rechte von Personen. Warum sollte jemand die Achtung ausgerechnet vor der eigenen Person verlieren oder in seiner Wertschätzung der eigenen Person beeinträchtigt werden, wenn es der Andere ist, der sich danebenbenimmt?¹⁴ In diesem Kontext ist die These interessant, weil Demütigungen, insbesondere gewaltsame Demütigungen, und das korrespondierende Gefühl, gedemütigt zu sein, nicht voraussetzen, dass der Person an der Anerkennung ihres Gegenübers liegt. Wenn sich das Gefühl, gedemütigt zu sein, tatsächlich als eine Beeinträchtigung der Selbstachtung herausstellen sollte, gäbe es zusätzliche äußere Bedingungen für die Selbstachtung einer Person. Demütigungen: Vier Beispiele und ein Gefühl Schmutz und Gewalt spielen eine erstaunlich große Rolle bei Demütigungen. In dem Roman Verbrechen und Strafe von Dostojewski demütigt eine Frau ihren betrunkenen Ehemann, indem sie ihn bei den Haaren packt und auf dem Boden hin und her schleift.¹⁵ Manchmal genügt aber auch die Gewaltandrohung, wie sie vorliegt, wenn jemand eine andere Person zwingt, mit Zahnbürsten die Straße zu putzen.¹⁶ Grundsätzlich geht es aber auch ganz ohne körperliche Gewalt, denn demütigend ist es auch, jemanden bei einer Castingshow im Fernsehen vorzuführen, wenn er bestimmte Fähigkeiten und Leistungen für sich reklamiert.¹⁷ Schließlich kann eine Person auch sich selber demütigen. In der Josephstetralogie wirft sich Jaakob vor Eliphas auf die Füße, küsst sie, und bewirft sich selber mit Staub. Er demütigt sich, um „den bündigen Beweis“ zu erbringen, dass „es der Mühe nicht wert“ ist, „in ein solches Bündel Elend das Schwert zu stoßen“, und hat damit Erfolg.¹⁸ Demütigungen sind also manchmal Unrecht, das man erfährt, manchmal etwas, wofür man zumindest zum Teil selber verantwortlich ist, und schließlich kann man sich auch freiwillig demütigen. Das verleiht dem Phänomen eine

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Vgl. Margalit, Avishai, The Decent Society, S. 9. Margalit wirft das Problem selber in Kap. 7 seines Buches auf. Vgl. Dostojewski, Verbrechen und Strafe, S. 37. Vgl. Stoecker, „Menschenwürde und das Paradox der Entwürdigung“, S. 134 f. Vgl. Stoecker, „Selbstachtung und Menschenwürde“, S. 112. Vgl. Mann, Joseph und seine Brüder. Die Geschichten Jaakobs, S. 137.

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4 Selbstachtung

Sonderstellung, die auch das Gefühl, gedemütigt zu sein, charakterisiert.Wer sich gedemütigt fühlt, macht sich nicht unbedingt Vorwürfe. Es mag zwar vorkommen, dass es sich jemand nicht verzeihen kann, in eine demütigende Situation geraten zu sein. Doch selbst dann ist der Vorwurf als solcher kein Bestandteil des Gefühls, gedemütigt zu werden. Er ist nur eine Konsequenz, welche die Person aus der Demütigung zieht. Aber der Gedemütigte kann nicht nur auf Vorwürfe der eigenen Person gegenüber verzichten, auch der Andere bleibt verschont. Das Gefühl der Demütigung enthält als solches keine Aversion gegen den Anderen, in ihm manifestiert sich nicht einmal eine enttäuschte Erwartung. Seine vollkommene Selbstbezogenheit unterscheidet es von den Gefühlen, empört, beleidigt, verletzt oder gekränkt zu sein.Wer sich gedemütigt fühlt, braucht keine Vorstellung davon, wer für das, was geschehen ist, verantwortlich ist. Ihm muss auch, anders als der Person, die sich verletzt fühlt, nicht besonders an der Wertschätzung seines Peinigers liegen. Streng genommen, muss ihm überhaupt nicht an dessen Wertschätzung liegen, um sich gedemütigt zu fühlen. Eine vorläufige Umschreibung Demütigungen sind immer Demonstrationen. Gegeben wird die Hilflosigkeit der Person. In den ersten beiden Fällen ist die Person Opfer von Gewalt, und die Inszenierung der Unterlegenheit gehört zum demütigenden Charakter der Situation. In der Castingshow wird die Hilflosigkeit der Person vorgeführt, der zu sein, der sie gerne wäre. Jaakob schließlich liefert sich selber aus, indem er sich demonstrativ unterwirft. Hilflos ist das Opfer vor allem, weil es unfähig ist, eine bestimmte Rolle auszufüllen, oder, um genau zu sein, seinen Teil der Rolle auszufüllen. Das unterscheidet die Demütigung von einer beliebigen Missachtung, die der Person Anerkennung und Respekt verweigert. Eine Missachtung liegt schon vor, wenn man die Erwartungen, welche der Andere an einen stellt, nicht erfüllt. Damit hindert man ihn noch nicht, seine Rolle auszufüllen. Die wenigsten Formen der Missachtung stören auch nur den Tagesablauf ihres Opfers.Wer den Anderen aber demütigt, stört ihn durchaus. Die Rolle, welche die Person nicht ausfüllen kann, kann eine beliebige soziale Rolle sein, welche die Person nur vorübergehend ausprobiert, wie im Fall der Castingshow. Bei gewaltsamen Demütigungen steht dagegen mehr auf dem Spiel. Wenn man jemanden an den Haaren herumzieht oder ihn zwingt, auf Zuruf zu handeln, nimmt man ihm die Rolle, über sein Verhalten selber zu entscheiden.

4.6 Demütigung und Selbstachtung

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Sich gedemütigt fühlen Die eigentlich entscheidende Frage aber betrifft das Verhältnis der gedemütigten Person zu der Rolle, die sie nicht ausfüllen kann oder die sie selber aufgibt. Damit sie sich in der Situation auch gedemütigt fühlt, muss diese Rolle für sie eine bestimmte Bedeutung haben. Sie muss dazu – ja, was eigentlich? Glauben, dass es ihr zusteht, diese Rolle auszufüllen? Dass sie verpflichtet ist, dies zu tun? Oder muss sie die Rolle nur ausfüllen wollen? Keine dieser drei Möglichkeiten wird allen erwähnten Beispielen für demütigende Situationen gerecht. Zunächst zur moralischen Analyse: Die Person muss, um sich gedemütigt zu fühlen, weder an ein Recht glauben, in dieser Rolle akzeptiert zu werden, noch muss sie von einer Pflicht ausgehen, diese Rolle auszufüllen. Dass eine gedemütigte Person kein Recht geltend machen muss, zeigt das Beispiel mit der Castingshow.Wer sich in einer Castingshow bewirbt, macht in der Regel kein Recht geltend, als Sänger gut gefunden zu werden. Es scheint hier eher umgekehrt zu sein. Von jemandem, der auftritt und die Aufmerksamkeit seiner Mitmenschen strapaziert, kann man auch ein Minimum an Fähigkeiten erwarten. Von einer Pflicht allerdings wird man hier nicht sprechen, denn in vielen Situationen kann von einer Verpflichtung der Person, ihre Rolle auszufüllen, keine Rede sein. Gewaltsame Demütigungen etwa machen es der Person unmöglich, sich entsprechend zu verhalten.Wer aber mit Gewalt gehindert wird, etwas zu tun, kann nicht verpflichtet sein, es zu tun. Vielleicht also muss man annehmen, dass die Person die Rolle lediglich ausfüllen will. Aber wer etwas will, muss es auch versuchen, es sei denn, er ist willensschwach. Das wiederum ist mit dem Beispiel von Thomas Mann unvereinbar, in dem Jaakob sich vor Eliphas demütigt. Jaakob versucht, nicht seine Rolle aufrechtzuerhalten, er gibt sie freiwillig auf. Er macht das absichtlich, und er handelt nicht aus Willensschwäche. Jaakob ist allerdings gezwungen, so zu handeln. Es geht um sein Leben. Er handelt in diesem Sinn nicht freiwillig. Aber die Situation wäre nicht weniger demütigend, wenn er freiwillig handelte. Wenn Demütigungen also manchmal darin bestehen, dass jemand eine Rolle freiwillig aufgibt, kann man nicht davon sprechen, dass die gedemütigte Person diese Rolle immer ausfüllen will. Wenn die gedemütigte Person die Rolle also nicht unbedingt ausfüllen will, wenn sie auch nicht berechtigt oder verpflichtet ist, die Rolle auszufüllen, bleibt am Ende nur noch zu sagen, dass diese Rolle auszufüllen für die Person ein hohes Gut ist, auch wenn sie dieses unter bestimmten Umständen aufgibt. Die Frage ist nur: Um was für ein Gut handelt es sich?

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4 Selbstachtung

Gedemütigter Stolz? Man könnte hier auf den Stolz der Person rekurrieren. Immerhin spricht man manchmal davon, dass jemand sich in seinem Stolz gedemütigt fühlt. Stolz kann man auch darauf sein, dass man eine bestimmte Rolle und den damit verbundenen Status hat. In diesen Fällen gefällt sich die Person in ihrer Rolle. Wird sie gedemütigt, ist sie vorübergehend unfähig, ihre Rolle auszufüllen. Demütigt sie sich selber, gibt sie diese Rolle auf. Sie tritt nicht mehr als eine Person in einer bestimmten Rolle auf. Aber auch dieser Vorschlag führt nicht wirklich weiter. Wäre das alles, wären Demütigungen nichts weiter als eine Art Degradierung. Verglichen mit echten Degradierungen oder einer Amtsenthebung wären Demütigungen weniger schwerwiegend, weil viele von ihnen nur vorübergehend sind. Demütigungen beeinträchtigen Personen aber in viel schwerer wiegender Weise. Hier kommt es auf etwas anderes an. Demütigungen nehmen dem Anderen nicht nur eine bestimmte Rolle. Sie nehmen ihm die Möglichkeit, sich selber zu behaupten.Wenn Menschen eine bestimmte Rolle genommen wird, nehmen sie in der Regel dazu Stellung: Sie akzeptieren den Verlust oder sie wehren sich dagegen. Sie verurteilen die Degradierung, wehren sich, oder sie fügen sich ihr. Dabei setzen sie ihre persönliche Autorität und alle anderen Möglichkeiten ein, die ihnen gegeben sind. Wer eine Person demütigt, nimmt ihr diese Möglichkeiten. Wer gedemütigt wird, ist nicht in der Lage und auch nicht in der Verfassung, sich zu wehren oder sich zu empören. Vergleichbares gilt für die Fälle, in denen eine Person sich selber demütigt. In dem genannten Beispiel liefert Joseph sich aus und verzichtet auf jede Mitsprache, wie mit ihm zu verfahren ist. Demütigungen beeinträchtigen die Selbstachtung einer Person nicht, indem sie ihren Stolz kränken oder ihr vorübergehend eine soziale Position vorenthalten. Sie greifen die Selbstachtung an einem anderen Punkt an, nämlich am Bewusstsein der eigenen Autorität und an der Fähigkeit, sich zur Wehr zu setzen. Wirklich beeinträchtigt wird die Selbstachtung der Person allerdings erst dort, wo sie nicht nur gedemütigt wird, sondern sich auch gedemütigt fühlt. Es genügt nicht, ihr die Autorität abzusprechen oder sie in einen wehrlosen Zustand zu versetzen. Solange sie eine innere Distanz wahrt, wird sie nur wütend auf die Behandlung reagieren. Wer aber nicht nur gedemütigt wird, sondern sich auch gedemütigt fühlt, erfährt durch seine Lage eine Demoralisierung. Für einen Moment gibt die Person ihre eigene Autorität und ihre eigene Wehrhaftigkeit selber auf. Und es gehört zu den allgemein bekannten, aber nichtsdestoweniger depri-

4.6 Demütigung und Selbstachtung

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mierenden Tatsachen, dass Gewalt und Aggressivität allein diese demoralisierende Wirkung manchmal entfalten.¹⁹

19 In ähnlicher, aber nicht genau derselben Weise sieht Stoecker die Beeinträchtigung der Selbstachtung in der Resignation der Person, die durch eine Demütigung eintreten kann: Die Person verliert die Zuversicht, ihre Rolle überhaupt ausfüllen zu können. (Vgl. Stoecker, „Selbstachtung und Menschenwürde“, S. 113). Diese Resignation ist sicher auch eine Beeinträchtigung der Selbstachtung, und sie kann auch eine Folge von Demütigungen sein, aber sie ist nicht die einzige. Auch das vorübergehende Gefühl, gedemütigt zu sein, ist eine (vorübergehende) Beeinträchtigung der Selbstachtung.

5 Scham Schämen kann man sich für alles Mögliche und in ganz unterschiedlichen Situationen. Ob diese überhaupt etwas gemeinsam haben, ob es Überzeugungen gibt, die immer präsent sind, wenn sich eine Person schämt, ist die erste leitende Frage dieses Kapitels. Zweitens geht es um die Frage, was von Scham zu halten ist. Untergräbt Scham die Autonomie oder die Selbstachtung der Person in einer Weise, die es unpassend macht, dieses Gefühl zu kultivieren? Sollten wir besser daran arbeiten, unsere Disposition zu Schamgefühlen ganz zu überwinden?

5.1 Eine erste Charakterisierung Manche – bei Weitem nicht alle – Schamgefühle haben einen Makel oder ein Versagen zum Anlass. Die Person kann ihre gewohnte Rolle nicht mehr ausfüllen. Dieser gelegentliche Anlass, der für so viele Analysen von Schamgefühlen im Zentrum steht, sagt aber noch nichts über die Situation aus, auf die sich eine Person zurückgeworfen fühlt, wenn sie sich schämt. Sie fühlt sich anderen – und, soweit sie anwesend sind, vor allem ihren Blicken – ausgeliefert. Sie fühlt sich machtlos und möchte am liebsten nicht mehr da sein. Was für eine Art von Machtlosigkeit ist das? Und warum ist sie so schwer zu ertragen? Nicht allmächtig zu sein, andere nicht kontrollieren zu können, das sind schließlich alltägliche Erfahrungen. Die mit Schamgefühlen verbundene Machtlosigkeit ist aber alles andere als alltäglich. Sie hat damit zu tun, dass man plötzlich beäugt werden kann wie eine Kuriosität. Man ist den zwanglosen Blicken anderer ausgeliefert, man ist, in Sartres Worten, Objekt und nicht mehr Subjekt: Der eigene Blick, mit dem man Anderen begegnet, hat die Wirkung eingebüßt, die er normalerweise auf das Gegenüber ausübt. Und es geht hier nicht nur um den eigenen Blick. Die Person hat buchstäblich nichts mehr zu sagen. Sie verliert ihre Stimme. Das, was jemand verliert, wenn sein Blick und seine Stimme die Wirkung auf andere ausüben, ist seine eigene Autorität. Scham ist die Erfahrung des eigenen Autoritätsverlusts oder die Sorge um den Verlust der eigenen Autorität. Wer sich schämt, muss befürchten, dass die eigene Anerkennung für andere Personen an Wert verliert – und dass diese damit auch jede Scheu vor der eigenen Person ablegen. Die Person muss deswegen keine Angst haben, dass andere jede Rücksichtnahme oder Wertschätzung ihr gegenüber aufgeben. Scham ist nicht unbedingt mit der Angst verknüpft, rechtlos ausgestoßen zu werden. Im Zentrum steht zunächst nur die Sorge, nicht mehr für voll genommen zu werden. Und es geht nicht nur um die Angst, dass das tatsächlich geschehen könnte. Die Person sorgt sich auch, dass sie nicht mehr ernst genommen zu werden verdient.

5.1 Eine erste Charakterisierung

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Scham ist nicht notwendig ein Gefühl von Minderwertigkeit. Häufig genug ist Scham, in den Worten Max Schelers, ein Selbstschutzgefühl.¹ Wer sich schämt, fühlt sich in seinem Wert bedroht – in sehr grundlegender Weise bedroht – aber er fühlt sich in seinem Wert nicht schon notwendig beschädigt. Zum Gefühl der Minderwertigkeit, oder besser, zu einem Gefühl, unwürdig zu sein, wird Scham erst unter bestimmten Bedingungen. Die These, dass jemand, der sich schämt, seine eigene Autorität bedroht oder zumindest berührt sieht, unterscheidet diesen Ansatz von anderen. Die meisten analysieren, wie bereits erwähnt, Scham vor allem als das Bewusstsein eines Versagens oder eines Makels.² Das ist zugegebenermaßen oft der Fall, aber nicht immer. Es gibt beschämende Situationen, die auf den ersten Blick erstaunlich harmlos wirken und weder einen Makel noch ein Versagen voraussetzen. Diese zweite Art von Scham empfindet man tatsächlich nur in einer bestimmten Situation, und sie vergeht, sobald die Situation vorbei ist. Oft hat sie vollkommen banale Anlässe.³ Die Frage ist, wie man beide Fälle, nämlich jene Scham, die einen bleibenden Makel zum Gegenstand hat, und die andere, die ephemere, vorübergehende und situationsbezogene, unter einen Hut bringen kann.⁴ Die Stärke dieses Ansatzes zeigt sich gerade darin, dass sie für beide eine überzeugende Lesart vorschlägt. Dabei ist es vor allem der Begriff der Anerkennung, der unserer Rede über Schamgefühle ihre Kohärenz verleiht, ohne deswegen die vielfältigen Unterschiede zu verwischen. Es geht bei Scham immer um die eigene Autorität, also um den Wert der eigenen Anerkennung. Nur geht es bei verschiedenen Schamgefühlen

1 Scheler, „Über Scham und Schamgefühl“, S. 81. Gabriele Taylor übernimmt diese Formulierung. Vgl. Taylor, Pride, Shame, and Guilt: Emotions of Self-Assessment, S. 81. 2 Vgl. unter anderen Wurmser, Die Maske der Scham: Die Psychoanalyse von Schamaffekten und Schamkonflikten; Taylor, Pride, Shame, and Guilt: Emotions of Self-Assessment., Deigh, „Shame and Self-Esteem: A Critique“; Rawls, A Theory of Justice. Piers/Singer, Shame and Guilt: A Psychoanalytic and a Cultural Study; Landweer, Scham und Macht; Stocker,/Hegeman, Valuing Emotions; Wollheim, Emotionen: Eine Philosophie der Gefühle; Schüttauf/Specht/Wachenhausen, Das Drama der Scham. Ursprung und Entfaltung eines Gefühls; Scheler, „Über Scham und Schamgefühl“. 3 Manche Autoren gehen allein von diesen Situationen aus und leugnen, dass Scham überhaupt etwas mit einem Makel zu tun hat, oder spielen diese Fälle herunter; Vgl. Velleman, „The Genesis of Shame“; Seidler, Der Blick des Anderen. Eine Analyse der Scham; Seidler, „From ObjectRelations Theory to the Theory of Alterity: Shame as an Intermediary between the Interpersonal World and the Inner World of Psychic Structure“. 4 Hilge Landweer hat mich darauf hingewiesen, dass jede Scham situationsbezogen ist, weil Scham als Gefühl einen episodischen Charakter hat. Mir geht es hier im Kern um den Unterschied zwischen Scham, die einen bleibenden Makel oder ein Versagen zum Gegenstand hat, und jener Scham, bei der das nicht der Fall ist.

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5 Scham

um jeweils unterschiedliche Arten von Anerkennung und damit auch um unterschiedliche Formen von Autorität.

5.2 Scham angesichts eines Makels oder eines Versagens „Wie jeder Mann“, heißt es in Thomas Manns Novelle Der Tod in Venedig, „dem natürliche Verdienste ein aristokratisches Interesse für seine Abstammung einflößen, war er gewohnt, bei den Leistungen und Erfolgen seines Lebens der Vorfahren zu gedenken, sich ihrer Zustimmung, ihrer Genugtuung, ihrer notgedrungenen Achtung im Geist zu versichern. (…) Was würden sie sagen?“⁵ In seiner Novelle schildert Thomas Mann mit Gustav von Aschenbach eine Person, die genau zu wissen meint, worauf es im Leben ankommt, was sie von sich selber zu erwarten hat, und dennoch oder vielleicht aufgrund einer in den eigenen Idealen implizit vorhandenen Ambivalenz beginnt, sich gehen zu lassen. Der über Fünfzigjährige stellt einem Jugendlichen nach, in den er sich verguckt hat. In dem Moment, in dem er sich der oben zitierten Selbstbefragung unterzieht, hat er gerade spätabends an der Tür des Geliebten, wie er ihn inzwischen für sich nennt, haltgemacht und die Stirn an die Angel der Tür gelehnt, „auf die Gefahr, in so einer wahnsinnigen Lage ertappt und betroffen zu werden“⁶. Für einen Moment ist Aschenbach eingenommen von dem Gedanken an andere und ihre mögliche Reaktion. Dabei sind es ganz unterschiedliche andere, die in diesen Gedanken vorkommen. Da sind zum einen die Hotelgäste – etwa die Gouvernanten des Jungen, die ihn ertappen könnten. Zum anderen sind da seine Vorfahren. Und auf letztere kommt es in dieser Situation an. Was die Hotelgäste angeht, so würde er sicher eine schlechte Figur abgeben, wenn er ertappt würde. Aber wichtiger sind ihm seine Vorfahren, die von ihm ein würdiges Auftreten erwarten, und ihre „notgedrungene Achtung“, an der ihm liegt. Ihnen trotzt er in einem inneren Monolog noch eine letzte Rechtfertigung ab, wenn er sich einredet, dass man auch von ihm nicht immer ein würdiges Auftreten und Verhalten erwarten muss. Haben, so fragt er sich, nicht die stolzesten Charaktere ohne zu zögern Erniedrigungen auf sich genommen, sobald sie sich einmal verliebt hatten? Ertappt und bei etwas Intimem beobachtet zu werden mag als solches unwürdig sein, aber es ist etwas, das er unter besonderen Umständen in Kauf zu nehmen bereit ist. Worauf es wirklich ankommt und was er nicht ohne weiteres in

5 Mann, „Der Tod in Venedig“, S. 74. 6 Mann, „Der Tod in Venedig“, S. 74.

5.2 Scham angesichts eines Makels oder eines Versagens

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Kauf nehmen könnte, wäre hier, die Wertschätzung jener zu verlieren, auf die es ihm wirklich ankommt. Aschenbach gelingt es ein letztes Mal, sein Verhalten vor sich zu rechtfertigen. Und so ist nicht die Rede davon, dass er sich schämt. Aber dennoch ist das Gefühl allgegenwärtig. Es wird beschworen, als von der Möglichkeit gesprochen wird, ertappt und gesehen zu werden – ein geradezu klassisches Schamszenario – und es bildet den Hintergrund für das sich daran anschließende Selbstgespräch. Wie soll man leben? Und ist das Leben, das man führt, derart, dass es die Anerkennung jener verdient, denen man selber mit Anerkennung begegnet? Das ist die zentrale Frage, die Aschenbach umtreibt, und die, wenn sie negativ beantwortet wird, zu Schamgefühlen führen kann. Um diese Art von Scham zu empfinden, braucht man keinen anwesenden Betrachter. Konzentrieren wir uns zunächst auf den Gehalt dieser Einstellung, nämlich das Urteil, dass man sein Leben nicht in respektabler Weise führt. Es ist nicht überraschend, dass es diese Art von Scham ist, die in der praktischen Philosophie besondere Aufmerksamkeit erfährt. Bernard Williams untersucht in Shame and Necessity diese Art von Schamgefühl, und auch für Rawls, Wollheim und Gabriele Taylor steht es im Vordergrund. Nur ist eine selbstkritische Einstellung nicht schon ein Schamgefühl. Bei Schamgefühlen spielen andere Personen noch eine ganz bestimmte Rolle, die einem zunächst rätselhaft erscheinen mag. Rätselhaft ist die Rolle anderer in zweierlei Hinsicht: Zum einen muss man nicht wirklich von einer Person beobachtet werden, um sich zu schämen. Man kann sich, in den Worten Max Schelers, auch vor sich selber schämen.⁷ Wenn das aber so ist, stellt sich die Frage, ob überhaupt, und wenn ja, in welcher Form andere bei Schamgefühlen eine Rolle spielen. Zum anderen wirft die Frage nach der Rolle anderer das Autonomieproblem auf: Wenn Scham bedeutet, an der Wahrnehmung durch andere zu leiden – inwiefern macht sich dann jemand, der sich schämt, von anderen abhängig? In diesem Abschnitt geht es zunächst um die Rolle der Anderen und die Frage, welche Rolle diese bei Schamgefühlen spielen. Sie wird in Auseinandersetzung mit den diametralen Positionen von Gabriele Taylor und Cheshire Calhoun diskutiert. Dabei soll nicht nur plausibel gemacht werden, dass der Bezug auf andere, den Scham beinhaltet, nichts anderes als eine Wertschätzung der Anerkennung anderer ist, sondern auch, dass Anerkennung in Schamgefühlen auf eine ganz besondere Weise thematisiert wird: Bei Schamgefühlen steht der Wert der eigenen Anerkennung – also die eigene Autorität – im Vordergrund.

7 Vgl. Scheler, „Über Scham und Schamgefühl“, S. 28.

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5 Scham

Die Positionen von Gabriele Taylor und Cheshire Calhoun Die Positionen von Gabriele Taylor und Cheshire Calhoun eignen sich für die Diskussion, weil sie einander vollständig entgegengesetzt sind. Taylor behauptet, dass die Rede von anderen und ihren Blicken zumindest dort, wo sich in den Schamgefühlen die eigenen Wertvorstellungen äußern, nur metaphorisch zu verstehen ist. Im Kern sind es ihrer Meinung nach nur die eigenen Werturteile, die sich in Schamgefühlen äußern, und weiter nichts. Cheshire Calhoun dagegen gibt der Bezugnahme auf andere in ihrer Analyse einen größeren Stellenwert. Es geht bei Scham um andere, so Calhoun, insofern die Werturteile, die sich in diesen Gefühlen äußern, gar nicht die eigenen sind, sondern die anderer Personen; und zwar solcher Personen, deren Einstellungen sich nicht mit den eigenen decken. Beide Positionen missverstehen, wie wir sehen werden, die Natur zwischenmenschlicher Wertschätzung. Betrachten wir dazu zunächst den Ansatz von Gabriele Taylor. Die These, die Rede von anderen sei metaphorisch zu verstehen, ist bei ihr mehr als nur eine wegwerfende Geste. Denn Taylor hält die Metapher in besonderer Weise für erhellend und bemüht sich daher, ihre Pointe herauszuarbeiten.⁸ Das Besondere am Blick anderer sei, so Taylor, dass er oft dazu führe, dass dem Beobachteten etwas an sich selber auffalle, was er sich so noch nicht verdeutlicht habe: Man ist vertieft in eine Tätigkeit und wird von einem Außenstehenden überrascht. Seine Gegenwart alleine rückt den Gegenstand seines Blicks zum ersten Mal ins Zentrum der eigenen Aufmerksamkeit. Nur deswegen wirkt es nach Taylor so erhellend, wenn wir im Zusammenhang mit Scham von dem Gefühl sprechen, beobachtet zu werden. Denn die Erfahrung von Scham beinhalte immer eine abrupte Meinungsänderung, die durch einen ebenso abrupten Perspektivenwechsel hervorgerufen werde. Verbunden damit ist eine Selbstdistanzierung, eine gewisse Ernüchterung über die eigene Person.⁹ Taylors Interpretation leidet vor allem unter einer Schwierigkeit: Sie erklärt nicht, was der Unterschied zwischen Scham und anderen selbstkritischen Einstellungen wie Zerknirschtheit oder Verärgerung über die eigene Person ist.¹⁰ 8 Vgl. Taylor, Pride, Shame, and Guilt: Emotions of Self-Assessment, S. 66. 9 „There is, then, this point to the metaphors of an audience and of being seen: they reflect the structural features of the agent’s becoming aware of the discrepancy between her own assumption about her state or action and a possible detached observer-description of this state or action, and of her further being aware that she ought not to be in a position where she could be so seen, where such a description at least appears to fit.“ (Taylor, Pride, Shame, and Guilt: Emotions of Self-Assessment, S. 66). 10 Der Kontrast zwischen Schamgefühlen und Selbstzerknirschung – und die Notwendigkeit, beide Einstellungen voneinander abzugrenzen, wird vor allem von Schüttauf/ Specht/ und Wachenhausen in Das Drama der Scham, insbesondere auf S. 100ff, betont.

5.2 Scham angesichts eines Makels oder eines Versagens

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Denn ein abrupter Umschwung in der Selbstbewertung ist keineswegs auf Schamgefühle beschränkt und findet sich auch in anderen selbstkritischen Einstellungen. Der Unterschied zwischen Scham und anderen selbstkritischen Einstellungen scheint aber genau darin zu bestehen, dass Scham einen Bezug auf andere Personen enthält, der sich bei anderen Gefühlen so nicht findet. Man kann den Bezug auf andere daher nicht so schwach interpretieren, dass er sich am Ende in allen selbstkritischen Einstellungen nachweisen lässt. Taylor freilich behauptet selber nicht, dass Scham sich durch den Bezug auf andere von Einstellungen wie Verärgerung über die eigene Person unterscheidet – aber sie bietet auch sonst keine Erklärung dafür, was den Unterschied zwischen Scham und anderen selbstkritischen Einstellungen ausmachen könnte. Sie grenzt Schamgefühle nur von Schuldgefühlen, nicht von anderen Formen der Selbstkritik ab. Und es gibt auch, wenn man sich die Einstellungen einmal vergegenwärtigt, nicht viele Möglichkeiten, Scham von Selbstzerknirschung abzugrenzen. Man könnte vielleicht vermuten, der Unterschied zwischen Scham und anderen selbstkritischen Einstellungen läge in den physiologischen oder stimmungsmäßigen Bestandteilen des Gefühls. Scham, könnte man argumentieren, fühlt sich einfach anders an als Zerknirschtheit und Verärgerung über die eigene Person. Vielleicht ist sie auch mit einer anderen Körpererfahrung verknüpft. Doch obwohl beide Einstellungen oft von einer ganz charakteristischen Körpererfahrung begleitet werden, erschöpft sich der Unterschied zwischen beiden Einstellungen nicht darin: Verärgerung über die eigene Person und Scham sind grundsätzlich verschiedene Einstellungen zu sich selber und vor allem zu der eigenen Umgebung. Diese Unterschiede muss man nicht auf Unterschiede in den Werturteilen reduzieren, aber sie müssen sich auch in den damit verknüpften Werturteilen niederschlagen. Die beste Möglichkeit, zwischen Scham und anderen selbstkritischen Einstellungen zu unterscheiden, bleibt also der Umstand, dass Scham einen nichtmetaphorischen Bezug auf andere Personen beinhaltet, den man in anderen Einstellungen nicht findet. Man muss dieser Idee nur eine aufschlussreiche, nichtmetaphorische Lesart geben. Daran scheitert der Ansatz von Gabriele Taylor. Taylors Idee, der Bezug auf andere Personen in Schamgefühlen sei lediglich metaphorisch zu verstehen, scheint ihren Grund in einem Missverständnis über zwischenmenschliche Wertschätzung zu haben. Was soll es denn heißen, wenn jemand eine abwertende Meinung fürchtet? Bedeutet es, dass jemand einer anderen Personen bestimmte Meinungen über sich unterstellt und ihr Recht gibt? Was aber unterscheidet das wiederum von dem simplen Umstand, dass jemand etwas glaubt? Wenn man über keinen Begriff von zwischenmenschlicher Wertschätzung verfügt, der über das Fällen abstrakter Werturteile hinausgeht, droht

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5 Scham

sich der Andere in Luft aufzulösen. Und das ist genau das Problem von Taylors Ansatz. Sie hat keinen aussagekräftigen Begriff von Anerkennung. Dasselbe Problem beschäftigt auch Cheshire Calhoun, deren Thesen denen Taylors entgegengesetzt sind, die aber ebenfalls keinen zufriedenstellenden Begriff zwischenmenschlicher Wertschätzung verwendet. Calhoun behauptet, anders als Taylor, dass es Schamgefühle, in denen sich in erster Linie die eigenen Wertvorstellungen äußern, gar nicht geben kann. Denn zum einen, meint sie, enthält Scham wesentlich einen Bezug auf andere, und zwar in einem nichtmetaphorischen Sinn. Das unterscheidet ihren Ansatz von dem Gabriele Taylors. Andererseits glaubt sie, und diese Prämisse teilt sie mit Taylor, dass dort, wo eine Person sich in erster Linie an ihren eigenen Wertvorstellungen misst, der Andere aufhört, eine nennenswerte Rolle zu spielen. Er hört gewissermaßen auf, ein wirklicher Anderer zu sein.¹¹ Wer glaube, so Calhoun, in Scham könnten sich auch die eigenen reflektierten Wertvorstellungen äußern, würde dem sozialen Charakter von Scham nicht gerecht werden.¹² Welche Einstellung äußert sich dann in Schamgefühlen? Es ist nach Calhoun die Ansicht, die in der Gruppe dominiert, deren Mitglied man sein will. Die Macht, Schamgefühle hervorzurufen, haben ihrer Meinung nach Personen dann, wenn sie diese Ansichten repräsentieren oder einen besonderen Einfluss auf die herrschenden Ansichten der Gruppe haben. Mit dieser Position kann man leicht erklären, was der Unterschied zwischen Selbstzerknirschung oder Verärgerung über sich selber auf der einen und Scham auf der anderen Seite ist: In Scham äußern sich, wenn Calhoun Recht hat, gar nicht die eigenen Wertvorstellungen. Und das, könnte man argumentieren, unterscheidet diese Einstellung von der bloßen Verärgerung über die eigene Person. Dafür handelt man sich ein anderes Problem ein. Man kann nicht mehr erklären, was Scham von der bloßen Enttäuschung über verweigerte Anerkennung unterscheidet. Denn es kann durchaus vorkommen, dass jemand irgendwo dazugehören möchte und dann, zurückgewiesen, mit Enttäuschung, Wut oder sogar Verbitterung reagiert. Dabei handelt es sich aber um eine andere Reaktion als Scham.

11 “ (…) in order for the mature agent’s shame to remain firmly tied to her own autonomously chosen moral standards, the others before whom she can imagine feeling shame cannot be thought of as persons with their own minds that they might make up differently. They cannot be imagined as full others. Instead, they must be imagined to be people who reach the same moral conclusions she does because their minds mirror her own. They are simply stand-ins for her own reactions to herself.“ (Calhoun, „An Apology for Moral Shame“, S. 132). 12 Vgl. Calhoun, „An Apology for Moral Shame“, S. 135.

5.2 Scham angesichts eines Makels oder eines Versagens

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Normalerweise würde man diese Einstellungen mit dem Verweis auf die unterschiedliche Haltung der Person zur Kritik, die sie erfährt, erläutern. Jemand, der sich schämt, sollte man annehmen, macht sich die Kritik anderer zu eigen. Er identifiziert sich mit ihr, und damit werden die darin enthaltenen Wertvorstellungen zu seinen Wertvorstellungen. Wer dagegen enttäuscht oder wütend reagiert, legt zwar hohen Wert auf die Anerkennung anderer und bedauert ihr Ausbleiben, aber er glaubt deswegen nicht, dass der Entzug von Anerkennung gerechtfertigt ist.Wer aber, wie Calhoun, behauptet, dass sich in Scham immer die Meinungen anderer ausdrücken – und zwar gerade jene Meinungen, die man nicht teilt – kann den Unterschied zwischen Scham und Enttäuschung nicht in dieser Weise erklären. Aber worin besteht er dann? Calhoun sagt dazu nichts weiter. Man kann davon ausgehen, dass sie diesen Unterschied ignoriert. Das wird zumindest durch ihre unorthodoxe normative These nahegelegt: Obwohl sich in Scham niemals die eigenen Wertvorstellungen äußerten, sei dieses Gefühl keineswegs ein Zeichen von Unreife, es sei vielmehr charakteristisch für eine moralisch reife Person. Denn in ihm äußere sich die Wertschätzung für die Teilnahme an der sozialen Praxis, und diese sei ein hohes Gut.¹³ Sie hat sicher Recht,wenn sie den Wunsch nach der Teilnahme an der sozialen Praxis als ein Merkmal von reifen Persönlichkeiten beschreibt. Zumindest ist diese Wertschätzung kein Grund, jemandem seine sittliche Reife abzusprechen. Aber daraus folgt, natürlich, nicht, dass man sich angesichts von Kritik schämt. Daraus folgt nur, dass man es bedauert, wenn man nicht die Anerkennung erhält, die man erhofft: Man reagiert enttäuscht, frustriert oder verzweifelt. In Calhouns Ansatz findet sich nichts, was einem erlauben würde, zwischen unserer Reaktion auf einen berechtigten und einen unberechtigten Entzug von Anerkennung zu unterscheiden. Das Problem liegt, wie es scheint, in Calhouns Prämisse: dass der Andere aufhört, ein Anderer zu sein, sobald er dieselben Einstellungen und dieselben Überzeugungen teilt. Was jemanden jedoch zum Anderen macht, ist eben nicht der Umstand, dass er eine andere Meinung hat und ganz anders reagiert als man selber. Er muss kein Fremder sein, um ein Anderer zu sein. Davon abgesehen ist es schlicht unplausibel, zu behaupten, dass sich in Scham immer Auffassungen ausdrücken, denen die Person selber nicht zustimmt. Warum sollte es unmöglich sein, dass sich in Schamgefühlen die eigenen Wertvorstellungen äußern? Warum sollte Gustav von Aschenbach in der oben zitierten Stelle, in der er sich eindeutig an seinen eigenen Wertvorstellungen misst, keine Scham empfinden können?

13 Vgl. Calhoun, „An Apology for Moral Shame“, S. 128.

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5 Scham

In gewissem Sinn bilden die Ansätze von Taylor und Calhoun zwei Seiten derselben Medaille. Gabriele Taylor opfert die Idee, dass in Schamgefühlen ein Bezug auf andere steckt, um erklären zu können, dass sich in Scham die eigenen Wertvorstellungen ausdrücken. Diese These wiederum opfert Calhoun, um dem in Schamgefühlen enthaltenen Bezug auf andere einen aussagekräftigen Gehalt zu geben. Scham ist nach dieser Interpretation keine autonome Reaktion, wenn es sich dabei auch, wie Calhoun meint, dennoch um eine Reaktion moralisch reifer Personen handelt. Beide Ansätze machen es schwierig oder sogar unmöglich, den Unterschied zwischen Scham und anderen verwandten Einstellungen zu erläutern. Bei Taylors Ansatz bleibt unklar, was Scham von anderen selbstkritischen Einstellungen unterscheidet, während Calhoun nicht erläutern kann, was den Unterschied zwischen Scham und Enttäuschung über ausgebliebene Anerkennung ausmacht. Dass sie diese Abgrenzungsschwierigkeiten haben, ist nicht überraschend. Denn das, was Scham auszeichnet, ist der besondere Bezug auf die Wertschätzung anderer, und beide Ansätze erläutern nicht, was zwischenmenschliche Wertschätzung kennzeichnet. Zwischenmenschliche Wertschätzung ist selbst dann wichtig, wenn man sich seiner Leistungen sicher ist: Das ist der Schlüssel zum Verständnis von Schamgefühlen. Im Kapitel über Anerkennung habe ich versucht zu erklären, inwiefern sich in Komplimenten und anderen Handlungen eine bestimmte Wertschätzung ausdrückt. Charakterisiert ist sie durch Wohlwollen – das unterscheidet sie von einer bloßen Meinungsäußerung – und durch den Bezug auf eine wesentlich andere Person – das unterscheidet sie von einem abstrakten Werturteil, mit dem man sich selber genauso wie andere meinen kann.¹⁴ Anerkennung lässt sich durch ein zustimmendes Urteil über sich selber nicht ersetzen. Der Bezug auf andere Personen ist vor allem der Bezug auf die Anerkennung anderer und die Sorge um ihren Verlust. Diese Sorge unterscheidet Scham von Selbstzerknirschung. Dass der Verlust von Anerkennung angemessen erscheint, unterscheidet das Gefühl von bloßem Bedauern oder von bloßer Enttäuschung über Anerkennungsverlust.Weder Scham noch das Bedauern über den Entzug von Anerkennung kompromittieren dabei die Autonomie einer Person. Kompromittiert wird diese Autonomie nur in Einzelfällen, zum Beispiel, wenn die Person sich vorübergehend Wertvorstellungen zu eigen macht, die sie normalerweise ablehnt.

14 Zur Erinnerung: Wenn jemand sich freut, dass der Beste gewonnen hat, dann freut er sich für eine Person, die grundsätzlich auch mit ihm selber identisch sein könnte, weil ja nicht ausgeschlossen ist, dass er selber der Beste ist. Erst wenn jemand sich freut, dass er oder sie es ist, die gewonnen hat – wenn seine Einstellung also indexikalisch strukturiert ist – hat man es mit einem Wohlwollen zu tun, das sich wesentlich auf einen Anderen richtet.

5.2 Scham angesichts eines Makels oder eines Versagens

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Scham als Autoritätsverlust Die Analyse von Schamgefühlen ist damit noch nicht abgeschlossen. Die Bezugnahme auf den Anderen im Schamgefühl ist komplexer als eine Sorge um den berechtigten Verlust von Anerkennung. Denn eine Person, die sich schämt, sorgt sich in erster Linie um sich selber. Sie sorgt sich im Angesicht des Anderen, aber dennoch ist Scham unverkennbar und in erster Linie die Sorge um die eigene Person. Das ist eine der Pointen von Schelers Bezeichnung von Scham als Selbstschutzgefühl, und es ist auch der Grund für Wurmsers Feststellung, es handle sich bei Scham um eine narzisstische Emotion.¹⁵ Selbstbezogen sind Schamgefühle, weil es bei ihnen um den drohenden Verlust der eigenen Autorität geht. Die Person fürchtet, dass andere aufhören, ihre Anerkennung zu schätzen. Das scheint auch die beste Möglichkeit, aus den eingangs erwähnten Erfahrungen Sinn zu machen: dass die Person sich unsichtbar fühlt und zugleich als Kuriosität beäugt. Sie ist, in beiden Fällen, den Urteilen anderer preisgegeben, während das eigene seiner Wirkung weitgehend beraubt ist. Aber wie kann das Versagen einer Person oder ein bestimmter Makel zu einem Autoritätsverlust führen? Die Behauptung setzt einen bestimmten Zusammenhang voraus. Sie setzt voraus, dass mit der Anerkennung anderer zugleich die eigene Autorität bedroht ist. Aber ist das wirklich so? Wird die eigene Anerkennung anderer für diese Menschen wertlos, wenn sie selber die Anerkennung von anderen nicht mehr verdient? Hier kommt jene charakteristische Eigenschaft von Anerkennung zum Tragen, von der in Kapitel 2 die Rede war. Jemanden anerkennen, haben wir gesehen, bedeutet immer, davon auszugehen, dass dieser die Wertschätzung erwidert – man geht davon aus, dass der Andere einen ebenfalls anerkennt, und zwar für ganz bestimmte Eigenschaften. Jemanden anerkennen heißt immer auch, als eine ganz bestimmte Person aufzutreten. Nimmt die Anerkennung etwa die Form des Kompliments an, präsentiert man sich als jemand, der es gut mit dem Anderen meint. Besteht die Anerkennung in anderen Fällen darin, dem Anderen mit Kooperationsbereitschaft zu begegnen, präsentiert man sich als jemand, der selber zur Kooperation bereit und fähig ist. Wem es hier nicht mehr gelingt, seine eigene Rolle aufrechtzuerhalten, wer also der Anerkennung anderer nicht mehr würdig ist, der kann auch andere nicht mehr anerkennen. Er kann, wenn etwa sein Wille oder seine Fähigkeit zur Ko-

15 Vgl. Scheler, „Über Scham und Schamgefühl“, S. 81; Wurmser, Die Maske der Scham: Die Psychoanalyse von Schamaffekten und Schamkonflikten, S. 28. Wurmser rechtfertigt seine Behauptung ausdrücklich mit Verweis auf den selbstbezogenen Charakter von Scham.

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5 Scham

operation in Frage stehen, andere nicht mehr mit seiner Kooperationsbereitschaft anerkennen. Was sollten sie davon haben, dass einer Kooperationsbereitschaft signalisiert, dem sie erfolgreiche Kooperation nicht zutrauen? Diese Kooperationsbereitschaft bringt ihnen nichts mehr, weil sie gar keinen Grund mehr haben, mit ihm zu kooperieren. Seine Autorität wird durch seine eigenen Mängel untergraben.¹⁶ Er kann sie dann auch nicht mehr ohne Weiteres kritisieren. Er kann zwar immer noch gut begründete Kritik üben. Aber er kann bei dieser Kritik nicht mehr seine Autorität einsetzen. Wer sich empört, hält etwas nicht nur für falsch, er legt sich auch darauf fest, dass er sich anstelle des Anderen anders verhalten hätte.Wer anderen mit Geringschätzung begegnet, grenzt sich zugleich ab. Er unterstellt, dass er die Mängel des Anderen nicht teilt. Das wissen wir, weil sowohl Empörung als auch Geringschätzung lächerlich werden, wenn ihr Urheber das, was er verurteilt, selber praktiziert, und das, was er am Anderen vermisst, nicht selber glaubwürdig verkörpert.¹⁷ Wenn eine Person nun selber ihren eigenen Ansprüchen nicht mehr gerecht wird, wenn ihr Selbstverständnis in grundlegenden Fragen berührt ist, kann sie dieses auch nicht mehr in ihrem Verhalten zu anderen in die Waagschale werfen. Der Zusammenhang zwischen der eigenen Autorität und dem eigenen Versagen existiert grundsätzlich – und er existiert, wie es scheint, nur in Anerkennungsbeziehungen, denn diese sind über das Merkmal der Gegenseitigkeit definiert. Scham aber setzt genau diesen Zusammenhang voraus. Deswegen handeln Schamgefühle nicht von irgendeiner Form zwischenmenschlicher Wertschätzung. Sie handeln von Anerkennung. Diese Analyse von Schamgefühlen mit dem Begriff der Anerkennung schließt nicht aus, dass die Beziehung zur Autoritätsperson – also zu der Person, auf deren Wertschätzung es ankommt – oft eine Beziehung zwischen Ungleichen ist. Oft fühlt sich die beschämte Person auf die Anerkennung ihres Gegenübers angewiesen, ohne sich selber eine vergleichbare Autorität zuzuschreiben. Aber wie schon im Kapitel über Anerkennung festgestellt wurde, müssen Anerkennungsbeziehungen nicht immer Beziehungen zwischen Ebenbürtigen sein. Nur weil die Wertschätzung auf Gegenseitigkeit beruht, muss nicht beiden in gleichem Maße an der Anerkennung des Anderen liegen. Nur vollständige Unterwerfung unter

16 Hilge Landweer hat eingewendet, der hier verwendete Anerkennungsbegriff sei für die Analyse von Scham- und Schuldgefühlen zu eng. Aber dieser Einwand, scheint mir, übersieht den alltäglichen Charakter persönlicher Anerkennung. Die meisten alltäglichen Beziehungen sind Anerkennungsbeziehungen. Andere, formellere Beziehungen können für die Analyse der Gefühle nicht relevant sein, weil sie keine Gegenseitigkeit unterstellen. 17 Vgl. zu diesem Zusammenhang auch Majer, René, „Sachzwänge als Entschuldigung“.

5.3 Scham als Augenblicksgefühl

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den Anderen (oder vollständige Unterwerfung durch den Anderen) wird durch den Anerkennungsbegriff ausgeschlossen. In so einem Fall wäre die Rede von gegenseitiger Wertschätzung nicht mehr angebracht. Das ist kein Nachteil dieser Analyse.Vollständige Unterwerfung ist tatsächlich eine ganz eigene Form von Beziehung. Mit ihr gibt die Person auch ihr eigenständiges Urteil darüber auf, was gut oder schlecht ist. Mit ihr verschwindet der Kontrast zwischen ungerechtfertigtem und nachvollziehbarem Entzug von Anerkennung. Auch die Idee des Autoritätsverlusts wird sinnlos, weil die Person hier zu keinem Zeitpunkt über Autorität verfügte. Selbstkritik als Unterwerfung unter einen übermächtigen Willen, den man erzürnt hat, ist eine Einstellung, die mit Scham nicht mehr viel zu tun hat. Selbsthass wäre hier vielleicht der treffendere Ausdruck.

5.3 Scham als Augenblicksgefühl Ein Makel oder ein Versagen sind ein häufiger Anlass für Schamgefühle, aber sie sind nicht der einzige. Manchmal ist Scham nur ein Augenblicksgefühl. Man hat es in einer bestimmten Situation, und es verlässt einen, sobald man sich aus der Situation befreit hat. Scham als Augenblicksgefühl kann auftreten, wenn man in der falschen Situation von den falschen Leuten nackt gesehen wird. Sie kann auftreten, wenn man die Kontrolle über seine Gefühle oder seine Körperfunktionen verliert, wenn man sich dumm anstellt oder vorübergehend den Überblick verliert. Sie kann auch auftreten, wenn die Grenzen der Intimität von anderen unabsichtlich oder mutwillig verletzt werden. Wenn man in solchen Situationen Scham empfindet, ist das etwas anderes als Verlegenheit oder Peinlichkeit. Verlegenheit ist harmloser, sie tritt immer auf, wenn man in Anwesenheit anderer nicht weiß, was man tun oder sagen soll. Auch Peinlichkeit genügt nicht, um alle Reaktionen in den beschriebenen Situationen zu charakterisieren. Mit Peinlichkeit hat man es eher zu tun, wenn man in einer Situation einen notgedrungen falschen Eindruck auf andere macht. Man hat den Schlüssel zum Fahrradschloss verloren und wird von einem Fremden zur Rede gestellt, als man sich daran macht, das Schloss bei Tag aufzubrechen: Was man denn da tue und wozu. Man weiß sich im Recht, aber man weiß genauso gut, dass man an Stelle des Anderen denselben falschen Eindruck gewonnen hätte. Man weiß, man macht notgedrungen eine schlechte Figur, und das kann peinlich sein. Aber Peinlichkeit ist nicht dasselbe wie Scham, auch wenn manche Situationen Anlass zu beiden Reaktionen geben können. Wer bei Tisch unwillkürlich rülpst,

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mag das bloß peinlich finden. Hat er aber, zumindest für den Augenblick, das Gefühl, im Boden versinken zu wollen, empfindet er Scham. Und das ist das gewissermaßen Paradoxe an diesen Schamgefühlen. Sie können genauso umfassend sein wie jene Schamgefühle, die ein schwerwiegendes Versagen oder einen bleibenden Makel zum Gegenstand haben, und doch vollkommen auf die Situation beschränkt bleiben. Die Situation ist beschämend, aber es ist nicht beschämend, in der Situation gewesen zu sein oder in die Situation geraten zu sein. Es gibt keine bleibende Eigenschaft, die bei der Entstehung des Gefühls irgendeine Rolle spielt. Beschämend ist es in diesen Fällen jeweils, jetzt und hier in einer bestimmten Situation zu sein. In diesen Fällen allerdings muss ein Anderer immer anwesend sein, oder seine Anwesenheit muss zumindest angenommen oder vorgestellt werden. Situationsbezogene Scham Wie können Schamgefühle zu einem derart flüchtigen Gefühl werden? Handelt es sich um eine bloße Überreaktion, von der man sich erholt? Dann wird es die Person, wenn sie sich einmal erholt, sicher nicht stören, dass die Situation sich wiederholt. Diese Folgerung wird aber selten gezogen. Die heitere Distanz, die man nach einer beschämenden Situation aufbaut, ist nur sehr selten Ausdruck einer Unempfindlichkeit gegenüber beschämenden Situationen überhaupt. Manche Formen situationsbezogener Scham mag man als vorübergehende Überreaktion verstehen, aber sicher nicht alle. Man könnte diese beschämenden Situationen auch als Angst vor einem langfristigen Makel verstehen. Vielleicht befürchtet die Person, langfristig einen als Makel empfundenen Statusverlust zu erleiden. Beschämende Situationen wären dann nicht Scham im eigentlichen Sinn, sondern nur Schamangst.¹⁸ Diese Schamangst gibt es zweifellos, aber es ginge zu weit, wenn man behauptete, dass Scham unter allen Umständen, die hier in Frage kommen, nicht mehr ist als ein Warnsignal. Denn wäre es so, würde das Gefühl der Beschämung überall dort überflüssig, wo die Person weiß, dass ihr kein langfristiger Makel droht. Aber das kann nicht wahr sein. Niemand wird gerne vorgeführt, auch dann nicht, wenn er nicht mit langfristigen Konsequenzen rechnen muss. Manche Situationen sind als solche beschämend und nicht aufgrund ihrer befürchteten langfristigen Folgen. Schließlich könnte man Scham hier als Reaktion auf den Bruch einer Norm verstehen.¹⁹ Aber auch diese Auffassung kann den situationsgebundenen Cha18 Wurmser etwa führt Schamangst als eine von mehreren Einstellungen auf, die wir im Alltag Scham nennen. Vgl. Wurmser, Die Maske der Scham: Die Psychoanalyse von Schamaffekten und Schamkonflikten, S. 78. 19 Vgl. die Definition von Scham in Landweer, Scham und Macht, S. 71.

5.3 Scham als Augenblicksgefühl

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rakter nicht wirklich erklären. Sie kann nicht erklären, warum Situationen beschämend sein können, ohne dass es beschämend ist, in die Situation hineingeraten oder in der Situation gewesen zu sein. Und die Erklärung wirft noch ein zweites Problem auf. Sie setzt voraus, dass die Person selber Verantwortung dafür trägt, in die Situation geraten zu sein. Man hätte nur dann Grund, sich zu schämen, wenn man selber die Norm gebrochen hätte. Aber gerade dort, wo Scham die Intimsphäre der Person schützt, setzt sie diese eindeutige Verantwortung nicht voraus. Das Eindringen in die Intimsphäre des Anderen kann auch auf einem Missverständnis beruhen: Man kommt nach Hause und weiß gar nicht, dass der Mitbewohner anwesend und sexuell in Anspruch genommen ist. Scham ist in diesen Fällen überhaupt keine Form der Selbstkritik, sondern bloßer Selbstschutz. Wir schämen uns nicht, weil bestimmte Normen uns vorschreiben, einen bestimmten Bereich unseres Lebens zu verbergen. Es ist genau umgekehrt. Diese Normen existieren nur, weil wir uns in bestimmten Situationen schämen. Wie sind beschämende Situationen dann zu verstehen? Handelte es sich um nichts weiter als Schamangst oder eine Überreaktion, ließen sie sich leicht mit den Ergebnissen des letzten Abschnitts in Einklang bringen. Es könnte dieselbe Art von Autoritätsverlust sein, welche die Person befürchtet oder sich vorübergehend einredet. Dieser Autoritätsverlust war jedoch an relativ kontextunabhängige Überzeugungen über die Leistungen und Vorzüge der Person geknüpft. Er war vor allem schwerwiegend. Beschämende Situationen dagegen sind in ihrem Anlass oft himmelschreiend banal:²⁰ Zu Weihnachten fragt der Bruder die Schwester ironisch-herablassend, was sie da für einen komischen Lappen um den Hals trage. Der Lappen ist ein Schal, und er ist ein Geschenk der Tante, die daneben sitzt.²¹ Dennoch lässt sich die allgemeine Charakterisierung von Scham als Sorge um den Verlust der eigenen Autorität hier aufrechterhalten. Auch hier macht sich die Person für einen Moment unmöglich. Sie wird zur Kuriosität, die von allen beäugt werden kann, weil sie auch hier für einen Moment den Status desjenigen verliert, um dessen Anerkennung man sich schert. Nur ist es hier eine andere Form der Anerkennung. Anerkennung, haben wir gesehen, kann jede Form von personaler Wertschätzung sein, die Gegenseitigkeit unterstellt. Anerkennen kann man jemanden auch mit bestimmten Gesten, die aus der Situation heraus entstehen und die keine weitreichenden Implikationen für die Vorzüge des Anderen als Person haben – die uns aber dennoch im alltäglichen Umgang unerlässlich erscheinen. Eine von

20 Das betont John Deigh, vgl. sein Beispiel in Deigh, „Shame and Self-Esteem: A Critique“, S. 239. 21 Mein Dank für dieses Beispiel gilt Maximilian Dorner.

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ihnen ist der Blick in die Augen eines Anderen, der diesen Blick erwidert. Dieser Blick ist immer eine Form der Wertschätzung, weil er Interesse am Anderen signalisiert. Er signalisiert ein Interesse dafür, wie der Andere zurückblickt. Es handelt sich um Wertschätzung in dem eigentlichen, grundlegenden Sinn, die darin besteht, dass man dem Anderen Autorität zuspricht. In diesem Fall äußert sich die Autorität des Anderen darin, dass wir uns und unser Auftreten im Anderen spiegeln und uns in dem Spiegelbild, das wir produzieren, auch gefallen. Diese Wertschätzung unterstellt Gegenseitigkeit, solange wir selber diesem Blick standhalten, solange wir also selber mit dem Anspruch auftreten, dass auch unser Blick für den Anderen zählt. Weil es aber Wertschätzung ist, die Gegenseitigkeit unterstellt, handelt es sich um Anerkennung. Interessant ist hier die Rolle von Werturteilen. Denn Autorität hat man immer in Bezug auf bestimmte Werturteile. Die Werturteile, auf die es hier ankommt, wären dann Urteile darüber, wie man sich in der jeweiligen Situation verhält und ob es einem gelingt, Haltung zu bewahren. Aber die Schamgefühle werden eben nicht von dem Bewusstsein hervorgerufen, dass diese abwertenden Urteile einen schwerwiegenden Makel beschreiben. Der Zusammenhang ist ein anderer. Das, was diese abwertenden, aber trivialen Urteile begründet, ist außerdem und unabhängig davon die Ursache dafür, dass die Person ihre Souveränität in der Situation verliert und deswegen ihre eigene Autorität nicht mehr ausüben kann. Es ist die Ursache, nicht der Grund für den Autoritätsverlust. Genau deswegen sind diese Schamgefühle Augenblicksgefühle. Sie halten nur so lange an wie die Umstände, die die eigene Souveränität und damit die eigene Fähigkeit, Autorität auszuüben, einschränken. Dass diese Umstände banal und belanglos sein können, muss ihrer Effektivität, die eigene Autorität zu untergraben, keinen Abbruch tun. Untergraben werden kann die eigene Autorität dabei aus verschiedenen Gründen. Eine Person kann sich als vollkommen fremd entpuppen. Dann zerreißt der Schleier der Übereinstimmung, und man kann ihre Reaktionen nicht mehr für bare Münze nehmen. Sie kann zweitens lächerlich wirken, so dass man sie in der Situation, auch wenn man es besser weiß, gar nicht ernst nehmen kann. Sie kann drittens den Überblick über die Situation verlieren. Auch das entwertet automatisch ihre Reaktionen und damit ihren Blick. Und sie kann viertens die Kontrolle über das eigene Auftreten verlieren. Das entwertet nicht so sehr ihren Blick, es macht sie aber unfähig, dem Blick anderer zu begegnen, weil sie zu sehr mit sich selber beschäftigt ist. Sie muss erst einmal die Kontrolle über sich selber zurückgewinnen, bevor sie wieder ihre Aufmerksamkeit anderen widmen kann. Sie ist gewissermaßen zu sehr mit sich selber beschäftigt, um anderen erhobenen Kopfes begegnen zu können.

5.3 Scham als Augenblicksgefühl

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Das Beispiel vom Weihnachtsabend gehört in die zweite Kategorie. Der Kommentar ist in seiner ironischen Geringschätzung überheblich, aber tatsächlich tappt der Sprecher im Dunkeln. Er wollte seine Überlegenheit ausspielen, ist jedoch als Einziger nicht im Bilde. So stolpert er derart entschlossen über seine eigene Begrenztheit, dass selbst ein wohlmeinender Zeuge ihn nicht mehr auffangen könnte. Er ist, in Sartres Worten, nicht mehr Herr der Situation.²² Über die eigene Begrenztheit stolpert auch die Person in einem Beispiel von Seidler, das allerdings etwas schwächer ist. Jemand geht freundlich lächelnd auf eine andere Person zu, aber das Lächeln wird nicht erwidert. Die Person ist jemand anders, als er dachte, nämlich ein gänzlich Unbekannter: „Man bleibt im Regen stehen.“²³ Viele würden so eine Situation gänzlich unbeschämt überstehen. Immerhin aber kann man zugeben, dass es nicht gänzlich unverständlich ist, wenn sich jemand in so einer Situation (ein bisschen) schämt. Aber wenn man sich hier schämt, dann liegt es auch hier daran, dass jemand den Überblick über die Situation und die eigene Rolle verloren hat. In beiden genannten Beispielen dominiert der situationsbezogene Charakter der Situation. In beiden Fällen hat die Erfahrung der Situation eine Qualität, die verschwindet, sobald die Situation vorübergeht. Beide Situationen können auch Folgen für die langfristige Selbstbewertung haben. Aber in beiden Fällen gewinnt die Situation nicht ihren beschämenden Charakter aus diesen (möglichen) langfristigen Konsequenzen. Sie ist als solche beschämend. Und das ist sie, weil die Person vorübergehend ihre Autorität in der Situation verliert. Ein Sonderfall situationsbezogener Schamgefühle ist die Scham angesichts des Fehlverhaltens anderer. Manchmal ist das bloße Zuschauen unangenehm genug. Das geschieht in der Regel nur, wenn man es gut mit dem Anderen meint. Wer dem Anderen nicht mit einem Minimum an Wohlwollen begegnet, kann dessen Fehlverhalten oder Versagen auch gleichgültig, schadenfroh oder belustigt zur Kenntnis nehmen. Nur wer es gut meint, gerät auch als Zuschauer in die Bredouille: Man möchte irgendetwas Nettes sagen oder zustimmend und aufmunternd reagieren, aber das Verhalten lässt in seiner bodenlosen Eindeutigkeit keinen Spielraum dafür. Weil man aber nicht den Scharfrichter geben will und nicht den begeisterten Zuschauer geben kann, fällt man plötzlich selber aus der Rolle und weiß buchstäblich nicht, wie man sich verhalten soll. Wer aber nicht weiß, wie er sich selber verhalten soll, weiß auch nicht, wie er sich dem Anderen gegenüber präsentieren kann. Auch hier geht die eigene Autorität verloren. Und so beginnt man sich zu schämen.

22 Vgl. Sartre, Das Sein und das Nichts, S. 478. 23 Seidler, Der Blick des Anderen. Eine Analyse der Scham, S. 38.

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Der hier vorgestellte Ansatz verdankt die wichtigsten Anregungen den Überlegungen Sartres zum objektivierenden Blick. Sartre gibt mehrere Beispiele für den objektivierenden Blick. Einmal ist es das Mustern der Augen eines Anderen im Gegensatz zum Blick in die Augen des Anderen. Hier konzentriert sich der Betrachter nur auf die physikalischen Eigenschaften und es fehlt, in Sartres Worten, das Bewusstsein, angeblickt zu werden,²⁴ oder es steht jedenfalls nicht im Vordergrund. In anderen Fällen geht es nicht um den Blick als solchen, sondern um die wertende Stellungnahme der Person, die, wenn sie sich schämt, plötzlich als wirkungslos erfahren wird: „Insofern ich Objekt von Werten bin, die mich qualifizieren, ohne dass ich auf diese Qualifikationen einwirken oder sie auch nur erkennen kann, bin ich in Knechtschaft.“²⁵

Wie und ob man diese ganz verschiedenen Beispiele so verstehen kann, dass sich daraus eine kohärente Interpretation Sartres ergibt, sei hier dahingestellt. Ein Problem ist sicherlich, dass Sartre zwar über eine Theorie des Selbstbewusstseins, nicht aber über eine Theorie der Anerkennung verfügt. Dennoch hat er auf den wesentlichen Punkt hingewiesen: Jemand, der sich schämt, erfährt, vor allem, wenn es sich um situationsbezogene Schamgefühle handelt, die Wirkungslosigkeit seines eigenen Blicks. Das wiederum versteht man, wenn man der hier vorgeschlagenen Analyse folgt, am besten als Verlust von Autorität. Situationsbezogene Scham als Schutz von Intimität Egal, wie zwanglos man sich gibt, jede Person verfügt über eine Intimsphäre, die sie den Blicken und der Anwesenheit anderer entzogen wissen möchte. Nicht der gesamte, aber ein großer Teil dieser Intimsphäre ist eng mit Schamgefühlen verknüpft. In ihnen erfahren wir einige der Grenzen, die wir ziehen müssen, in ihnen erfahren wir auch, dass diese Grenzen nicht vollständig unserer Willkür unterworfen sind. Wir schämen uns, wenn diese Grenzen überschritten werden. Dazu gehört ein großer Teil unseres sexuellen Verhaltens. Dazu gehören ebenfalls manche besonders persönliche und besonders starke Gefühle: Viele Formen extremer Trauer, Angst, starke Wut und manche Spielarten von Reue können, wenn man sich von ihnen öffentlich überwältigen lässt, ebenfalls Scham auslösen.²⁶ Aber was genau wird hier den Blicken anderer entzogen? Warum haben manche Bereiche unseres Lebens in der Öffentlichkeit nichts zu suchen? Gefühle,

24 Vgl. Sartre, Das Sein und das Nichts, S. 466. 25 Sartre, Das Sein und das Nichts, S. 482. 26 Vgl. Nagel, „Concealment and Exposure“, S. 18.

5.3 Scham als Augenblicksgefühl

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könnte man meinen, wird man um so eher verbergen, je mehr sie drohen, die Person zu überwältigen. Aber nicht jeder Verlust der eigenen Haltung ist als solcher beschämend. Man kann vor Lachen vom Stuhl fallen, ohne sich auch nur für einen Moment unwohl zu fühlen.²⁷ Die Faustregel lautet hier: Aus der Rolle fällt man am besten gemeinsam. Problematisch wird es erst, wenn man alleine dasteht, wenn man von Gefühlen überwältigt wird, die man mit seinem Gegenüber nicht teilt oder nicht teilen kann. In Kapitel 2 dieser Arbeit war von diesen Gefühlen schon die Rede. Wenn sich jemand seines Besitzes freut, kann er diese Freude mit anderen nicht ohne Weiteres teilen. Seine Freude handelt wesentlich davon, dass es sein Besitz ist. Andere mögen ihm diese Freude gönnen, wie sie ihm auch den Besitz gönnen, teilhaben können sie daran nicht, denn der Besitz ist nun einmal nicht ihrer. Einstellungen wie diese werden in Anerkennungsbeziehungen sozialisiert. Sie werden dann zwar nicht geteilt, aber sie sind dort eingebettet in der geteilten Überzeugung, dass der Person ihre selbstbezogene Genugtuung zusteht. Diese Haltung zu seinen selbstbezogenen Gefühlen aber enthält schon eine gewisse Distanz, oder sie setzt zumindest eine gewisse Kontrolle voraus.Wären die Gefühle nicht angemessen, so die gegenseitige Unterstellung, würde man sich ihnen auch nicht überlassen. In Anerkennungsbeziehungen lässt die Person das Gefühl zu und sie lässt es gelten, insofern sie es für angemessen hält. Die dafür nötige Selbstkontrolle steht aber nicht allen jederzeit und in jedem Fall zur Verfügung. Sie fehlt, wo eine Person von ihrer Trauer ganz eingenommen wird und weder das Gefühl als solches kontrollieren kann, noch überhaupt viele Gedanken an die Reaktion anderer verschwendet. Diese Trauer trennt sie von all jenen, denen die verlorene Person nicht dasselbe bedeutet. Zweierlei muss also zusammenkommen: die Überwältigung durch ein bestimmtes Gefühl und die Unmöglichkeit, die Erfahrung des Distanzverlusts mit anderen zu teilen. Denn nur dort, wo andere die Erfahrung nicht teilen, kommt man in die Verlegenheit, sich ihrer Anwesenheit erwehren zu müssen. Extreme Gefühle wie Trauer untergraben die Autorität einer Person, weil sie die Fähigkeit untergraben, anderen überhaupt mit Anerkennung zu begegnen. Denn, das haben wir gesehen: Anerkennen bedeutet immer auch, sich selber als eine bestimmte Person zu präsentieren, und das setzt eben diese Selbstdistanz voraus, welche der Person in dem Moment fehlt. In ähnlicher, wenn auch nicht genau derselben Weise erklärt sich der beschämende Charakter von sexuellen Impulsen. Auch hier geht es manchmal um

27 Das übersieht Velleman, wenn er argumentiert, es gehe bei Scham grundsätzlich darum, den Status als Selbstpräsentierer zu schützen. Vgl. Velleman, „The Genesis of Shame“, S. 35.

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das Versagen von Selbstkontrolle – David Vellemans Beispiel ist die ungewollte, öffentliche Erektion.²⁸ Hinzu kommt aber die Frage, wie sehr und ob wir unsere sexuellen Impulse überhaupt kontrollieren möchten. Sex könnte so gesellschaftsfähig wie Essen sein: ein körperlicher, von Konversation und geteilten Ritualen eingehegter Vorgang. Nur wer will das? Selbst wenn sich Sexualität vollständig sozialisieren ließe, wäre das noch kein Grund, sie in einen öffentlichen Akt zu verwandeln. Die Intimsphäre hier zu schützen heißt nichts anderes, als sich einen Freiraum zu bewahren, in dem man sich nicht den Blicken anderer stellen muss – und umgekehrt Partnerschaft dadurch definieren kann, dass man diese Intimsphäre mit jemandem teilt. Wie erklärt sich also Scham als Schutz von Intimität? Starke Gefühle und starke sexuelle Reaktionen können in Anwesenheit anderer Schamgefühle hervorrufen, und das gilt vor allem, wenn es sich dabei um Personen handelt, die nicht involviert sind. Der betroffenen Person fehlt die Fähigkeit oder die Bereitschaft zur Selbstdistanz, und so ist sie nicht in der Lage, ihre Autorität auszuüben. Wenn sie sich aufgrund ihrer sozialen Verfasstheit dennoch nicht über die Anwesenheit anderer hinwegsetzen kann, erfährt sie diesen Autoritätsverlust in Schamgefühlen und zieht sich zurück. Nacktheit und Scham Sich in Gegenwart anderer nackt zu fühlen ist die Metapher für Scham schlechthin, einerseits. Andererseits ist durchaus rätselhaft,wann und inwiefern Nacktheit beschämend sein sollte. Der Zustand der Nacktheit hat so gar nichts gemein mit all den anderen Situationen, Eigenschaften und Handlungen, die man als beschämend empfinden kann. Sie impliziert keinen Verlust an Selbstkontrolle. Man muss auch mit seinem Körper nicht unzufrieden sein, um Nacktheit in manchen Situationen problematisch zu finden. Und selbst regelmäßige Saunabesucher, für die sich Nacktheit und öffentliches Auftreten nicht ausschließen, werden in anderen Umständen durchaus von einem deutlichen Unwohlsein befallen, das sie mit Recht als Scham identifizieren können. Gehen wir zunächst von einem berühmten Beispiel von Max Scheler aus, das meist in der abgewandelten Fassung Gabriele Taylors diskutiert wird. Scheler schildert ein Aktmodell, das seine Unbefangenheit in dem Moment verliert, in dem es bemerkt, dass der Maler sie sexuell begehrt und mit einem voyeuristischen Blick betrachtet. Die Frau reagiert mit Scham.²⁹ 28 Vgl. Velleman, „The Genesis of Shame“, S. 39. 29 Vgl. Taylor, Pride, Shame, and Guilt: Emotions of Self-Assessment, S. 61. Ähnlich auch Scruton, Sexual Desire: A Philosophical Investigation, S. 144. Zu Schelers Version vgl. Scheler, „Über Scham und Schamgefühl“, S. 79. Dort lösen nicht die sexuellen Konnotationen die Scham aus,

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Dieses Beispiel legt nahe, dass es einen Zusammenhang von Scham und sexuellem Begehren gibt. Aber die Existenz dieses Zusammenhangs wird nicht von allen in derselben Weise akzeptiert. Wurmser bestreitet ihn. Seiner Meinung nach ist es gerade nicht das Begehren, sondern die Angst vor Desinteresse und Zurückweisung, die uns auf Nacktheit mit Scham reagieren lässt. Wir würden, so Wurmser, unsere sexuellen Organe nicht bloßstellen, wenn wir nicht „ziemlich sicher“ seien, im Zustand der Selbstidealisierung akzeptiert zu werden. Solange die „faszinierende Macht“ des sexuellen Organs sichergestellt sei, gebe es keine Scham. Diese tauche nur auf, sobald man Angst bekomme, zurückgewiesen und verspottet zu werden.³⁰ Aber zu Wurmsers Thesen gibt es zu viele Gegenbeispiele. Menschen besuchen FKK-Strände und öffentliche Saunen. Sie können dabei ziemlich sicher sein, dass ihre sexuellen Organe keineswegs eine faszinierende Macht auf ihre Umgebung entfalten werden. Und wenn sie dort keine Scham verspüren, liegt das nicht an ihrer Schamlosigkeit – also an ihrer Unfähigkeit, überhaupt Scham zu empfinden – sondern schlicht an der Harmlosigkeit des Kontextes. Unproblematisch sind diese Situationen nicht obwohl, sondern gerade weil ihre Geschlechtsteile keine sexuelle Wirkung ausüben.³¹ Ein weiteres Problem für Wurmsers These ist der von ihm ignorierte Umstand, dass man durchaus mit Scham auf das Begehren anderer reagieren kann, wenn es sich, wie in Schelers Beispiel, um die falsche Person oder die falsche Situation handelt. Man muss nicht die Sorge haben,

sondern das Abirren der Gedanken von etwas „Allgemeinem“ auf etwas „Individuelles“. Als Individuum gegeben fühlt man sich zum Beispiel, wenn man geliebt wird, vermutlich für seine unverwechselbaren Eigenschaften. Scheler glaubt, dass das Modell sich schämt, weil es sich zunächst nicht als Individuum gegeben fühlt, und dass das „Abirren“ auf etwas Individuelles wie persönliche, unverwechselbare Eigenschaften ihm in dieser Situation unangenehm sein müsse. Die sexuelle Dimension, die Taylor und Scruton dem Beispiel hinzufügen, hat es bei Scheler noch gar nicht. Mir scheint das Beispiel in der Version Taylors aufschlussreicher, und ihre Version wird auch meistens diskutiert. Vor allem Schelers Unterscheidung zwischen dem Gegebensein als etwas Allgemeinem und als etwas Individuellem ist konstruiert: Auch wenn man jemanden für eine allgemeine Eigenschaft schätzt, kann man immer noch diese ganz bestimmte Person schätzen. Und dann ist sie nicht nur „als Allgemeines gegeben“. 30 Vgl. Wurmser, Die Maske der Scham: Die Psychoanalyse von Schamaffekten und Schamkonflikten, S. 60. 31 Ein Umstand, der die sexuelle Harmlosigkeit dort garantiert, sind übrigens Konventionen, die ein Verhalten wie das des Malers aus dem Beispiel verbieten und insbesondere die Art der zulässigen Blicke regeln. Duerr zitiert in seiner Arbeit über Nacktheit und Scham einen Beobachter amerikanischer Nudistencamps, der diese Konventionen analysiert hat und zu dem Schluss kommt, dass man sich als Nudist vielleicht ungezwungen geben mag, aber deswegen seinen Blick noch nicht zwanglos schweifen läßt: „Nudists′ bodies are free, but their souls are in corsets.“ Duerr, Nacktheit und Scham, S. 151.

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verspottet zu werden, um sich in seiner Haut unwohl zu fühlen, vor allem, wenn es nichts als die eigene Haut ist, die man präsentiert. Warum ist es dann nachvollziehbar, wenn das Aktmodell in Schelers Beispiel mit Scham reagiert? Wie verändert der Blick des Malers die Situation? Zunächst handelt es sich bei dem Blick um eine Form der Missachtung. Der Maler missachtet die Frau, weil er die Grenzen überschreitet, die durch ihre Rolle als Modell vorgegeben sind. Diese Überschreitung bekommt durch den sexuellen Charakter eine besondere Note. Denn Begehren ist als solches überhaupt keine personale Wertschätzung. Es ist weder mit besonderer Rücksichtnahme oder gar Wohlwollen verknüpft. Es ist eher eine Art Habenwollen. Der Blick leugnet damit auch die Autorität der Person, und in diesem Sinn ist er objektivierend. Das unterscheidet ihn von dem normalen Umgang zwischen Aktmodell und Künstler, aber auch von den Beziehungen zwischen Besuchern einer Sauna. Nur wird Scham damit noch nicht verständlich. Denn warum, muss man hier fragen, reagiert die Person, wenn sie sich missachtet fühlt, nicht mit Verärgerung, Empörung oder auch nur Belustigung? Schließlich ist hier die Verantwortung klar verteilt: Der Maler oder Betrachter benimmt sich daneben, sein Gegenüber tut es nicht. Tatsächlich ist Verärgerung eine mögliche Reaktion. Es gibt keinen Grund, davon auszugehen, dass die Situation ausschließlich beschämend ist. Sie erlaubt mehrere Möglichkeiten. Scham ist nur eine von ihnen. Wenn Scham hier auch nachvollziehbar ist, dann nur, insofern die Person den Eindruck hat, dass sie sich ihrem Gegenüber präsentiert. Das mag zunächst kontraintuitiv erscheinen. Der Unterschied zwischen sich präsentieren und einfach nur dastehen und gesehen werden, könnte man einwenden, liegt gerade in dem Wunsch der Person, auf eine bestimmte Weise gesehen zu werden. Gerade dieser Wunsch fehlt hier, und nur wenn er fehlt, reagiert die Person mit Scham. Aber diese Auffassung davon, was es heißt, sich zu präsentieren, greift zu kurz. Jeder präsentiert sich, sobald er überhaupt unter Menschen geht. Dabei kann man grundsätzlich auch abschätzige oder anzügliche Blicke an sich abperlen lassen, indem man sie mit Gleichgültigkeit beantwortet. Nur Schelers Aktmodell kann das nicht ohne Weiteres. Denn sie präsentiert sich nicht einer Öffentlichkeit, sie präsentiert sich dem Blick des Malers. Sie hat sich buchstäblich für ihn ausgezogen. Schämen wird sie sich, sobald sie den Eindruck bekommt, dadurch zu der Situation beizutragen. Das heißt nicht, dass sie mit Scham reagieren muss. Scham und Verärgerung sind hier zwei mögliche Reaktionen auf einen objektivierenden Blick – so, wie Angriff und Flucht zwei mögliche Reaktionen auf eine Bedrohung sind. Was heißt das für unser Verhältnis zu unserer eigenen Nacktheit allgemein? Nacktheit kann Blicke und Reaktionen hervorrufen, die für die Person herabset-

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zend sind. Scham empfindet sie dann, wenn sie den Eindruck hat, durch ihr Auftreten oder ihr Verhalten die Situation selber mit zu verantworten. Und das erklärt, warum Nacktheit, die in so vielen Situationen selbstverständlich ist, in anderen unglaublich beschämend wird. Sie wird es, wenn die Person den Eindruck bekommt, durch ihre Nacktheit und dadurch, dass sie sich nicht bedeckt, ihre eigene Autorität zu leugnen.

5.4 Die Fragwürdigkeit von Schamgefühlen Fassen wir zunächst zusammen: Ausgangspunkt des Kapitels war die Unterscheidung zwischen zwei Schamgefühlen, nämlich jenen, die von einem bleibenden Makel oder Versagen handeln, und situationsbezogenen Schamgefühlen. Diesen beiden Arten von Scham entsprechen zwei Arten von Autoritätsverlust. Der eine ist situationsbedingt. Die Person verliert ihren Status als Gegenüber, an deren Reaktionen der Andere sich bei seinem eigenen Auftreten orientiert und in dessen Reaktionen er sich gerne spiegelt. Die Umstände, die diese Schamgefühle erklären, verursachen den Autoritätsverlust, und deswegen halten diese Schamgefühle nur so lange an wie der jeweilige Kontext. Die zweite Art von Autoritätsverlust ist unabhängig von einem bestimmten Kontext. Die Anerkennung der Person in grundsätzlichen Fragen, wie man leben soll und wer man zu sein hat, verliert in diesen Fällen ihren Wert. Schamgefühle lassen sich unterscheiden, je nachdem, welche Art von Autorität jeweils bedroht ist – und zwar in einer Weise, die für die betroffene Person selber nachvollziehbar ist. Sie selber würde sich in der Position des Anderen auch keine Autorität zusprechen. Beide Schamgefühle sind nicht immer leicht zu trennen. Wer sich für sein Versagen schämt, hat zusätzlich oft die Furcht, in eine beschämende Situation zu geraten. Und eine scheinbar kontextunabhängige Einstellung, wie etwa die Scham für ein als verunstaltet empfundenes Aussehen, ist manchmal nicht viel mehr als die ständige Angst, in beschämende Situationen zu geraten. Ob etwas die Selbstachtung einer Person grundlegend untergräbt oder bedroht oder ob es nur ihr Auftreten beeinträchtigt, ist nicht immer leicht zu sagen. Situationsbedingte Schamgefühle lassen sich nicht auf kontextunabhängige reduzieren. Das wurde in diesem Kapitel betont. Aber könnte es sich vielleicht umgekehrt verhalten? Ist am Ende jedes Schamgefühl die Angst, in einer konkreten Situation beschämt zu werden? Dagegen spricht, dass man seine kontextunabhängige Autorität genauso verlieren kann wie die situationsbezogene. Wie sollte man das Gefühl nennen, wenn man es nicht als Scham bezeichnen möchte? In der hier vorgestellten Analyse von Schamgefühlen werden weder si-

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tuationsbedingte Schamgefühle auf kontextunabhängige reduziert, noch wird der umgekehrte Weg gesucht. Das ist eine Stärke dieses Ansatzes, es unterscheidet ihn von praktisch allen anderen, welche die eine oder die andere Erfahrung in den Vordergrund stellen. Bei Scheler, Taylor, Landweer, Calhoun und den psychoanalytischen Ansätzen von Piers,Wurmser und Wollheim dominiert die Erfahrung relativ kontextunabhängiger Selbstkritik, bei Sartre und Velleman die Erfahrung, sich in einer bestimmten Situation nicht behaupten zu können. Aber was ist von Schamgefühlen nun zu halten? Wäre es ideal, Scham zu überwinden, oder lohnt es sich sogar, sie zu kultivieren? Die radikalste These vertreten wohl Schüttauf, Specht und Wachenhausen. Für sie ist Scham kein Zustand reifer Erwachsener, weil sich ihrer Meinung nach in Scham immer die Urteile anderer ausdrücken: „Der reife Mensch misst sich am eigenen Maßstab und macht sich nicht von der Zustimmung anderer abhängig. (…) Über Scham ist er hinaus.“³²

Wir haben aber gesehen, dass Schamgefühle im Gegenteil immer die Meinungen der Person selber ausdrücken. Selbst wenn sie sich diese erst in der Situation zu eigen macht, weil sie keinen besonders gefestigten Charakter hat, identifiziert sie sich mit diesen Werten zumindest vorübergehend. Sonst könnte man Scham nicht von Enttäuschung, Empörung oder auch nur Verzweiflung über das Ausbleiben von Anerkennung unterscheiden. Die These der prinzipiellen Heteronomie von Schamgefühlen ist nicht haltbar. Ist Scham also eine vollkommen unproblematische Form der Selbstkritik? Das ist die Position Gabriele Taylors. Sie schreibt, Scham sei nur dann problematisch, wenn eine Person sich für das Falsche schäme.³³ Scham angesichts der eigenen sozialen Herkunft wäre dann also problematisch, ganz einfach weil eine soziale Herkunft als solche eine Person überhaupt nicht diskreditieren kann. Das Problem in diesen Fällen ist nicht die Scham als solche, es sind die Wertvorstellungen, die sich in den Schamgefühlen äußern. Einige Autoren finden diese Auffassung von Scham wiederum zu einfach. Wollheim etwa wendet ein, dass man sich sehr wohl für das Richtige auf die falsche Weise schämen kann.³⁴ Leider ist Wollheim nicht sehr explizit in seinen Ausführungen über unangemessene Schamgefühle. Zwei Explikationen sind denkbar.

32 Schüttauf/Specht/Wachenhausen, Das Drama der Scham. Ursprung und Entfaltung eines Gefühls, S. 123. 33 Vgl. Taylor, Pride, Shame, and Guilt: Emotions of Self-Assessment, S. 82. 34 Wollheim, Emotionen:Eine Philosophie der Gefühle, S. 187.

5.4 Die Fragwürdigkeit von Schamgefühlen

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Da sind zum einen die Reaktionen anderer, welche eine Person für angemessen hält, wenn sie sich schämt. Auf jeden Makel und auf jedes Versagen kann man unterschiedlich reagieren. Nicht alle Reaktionen sind angemessen, und nicht alle muss die Person sich zu eigen machen. Wenn sie glaubt, sie verdiene es, ausgestoßen oder gedemütigt zu werden, bekommt ihre Einstellung etwas Unterwürfiges. Und das kann man für durchaus übertrieben halten. Zum anderen aber drückt sich in Schamgefühlen immer auch das Verhältnis zu anderen Personen, an deren Anerkennung einem liegt, aus. Nicht immer sind diese Anerkennungsbeziehungen gleichberechtigt. Die Person kann sich von der Anerkennung anderer abhängig fühlen: Sie braucht die Anerkennung anderer mehr als umgekehrt, und das heißt im Endeffekt, sie geht davon aus, dass ihre Anerkennung weniger Wert ist als die Anerkennung ihres Gegenübers. Unter diesen Umständen wird Scham zu einem ständigen Gefühl, unwürdig zu sein. Und dieses prinzipielle Gefühl, unwürdig zu sein, wird man nicht schon dadurch los, dass man an seinen Mängeln arbeitet oder seine abstrakten Wertvorstellungen überdenkt. Überdenken und verändern muss man sein Verhältnis zu anderen. Wenn es also Platz für eine differenziertere Bewertung von Schamgefühlen gibt, findet er sich wohl eher in Verzerrungen des Verhältnisses der Person zu anderen, die sich auch in den selbstkritischen Reaktionen der Person ausdrücken. Das ist zwar durchaus vereinbar mit der These von Gabriele Taylor. Sie hatte behauptet, Schamgefühle seien dann problematisch, wenn die darin enthaltenen Wertvorstellungen unangemessen sind. Und das Verhältnis einer Person zu ihren Anerkennungspartnern drückt sich immer auch in Werturteilen aus, nämlich dort, wo wir unsere Wertschätzung für die Anerkennung anderer Menschen formulieren. Nur hatte Taylor das nicht im Auge, weil sie, wie so viele Autoren, gerade die persönlichen Werturteile, mit denen wir uns direkt zu unseren Mitmenschen verhalten, übergeht. Als seien sie nicht da, und als seien sie nicht der Dreh- und Angelpunkt unserer Selbstverständigung. Mit der Diskussion bestimmter Episoden von Scham haben wir allerdings die prinzipielle Frage, also die Frage, ob man Schamgefühle überhaupt kultivieren sollte, bereits hinter uns gelassen. Und das war vielleicht etwas voreilig. Denn selbst wenn man zugibt, dass Schamgefühle nicht grundsätzlich ein Ausdruck von Fremdbestimmung sind, muss man auch zur Kenntnis nehmen, dass ihnen in diesem Abschnitt ein Konkurrent erwachsen ist: Es ist die bloße Selbstzerknirschung oder die Verärgerung über die eigene Person. Wer sich nur über sich selber ärgert, muss deswegen nicht den Wert von Anerkennung leugnen. Sie steht für ihn nur nicht im Vordergrund. Und so könnte man sich fragen, ob jemand, der sich schämt, Anerkennung nicht ein bisschen wichtiger nimmt, als sie ist. Wem diese Frage zu vage formuliert ist, der sollte sich zumindest über die folgende klarwerden: Gibt es überhaupt Situationen, in denen Scham nicht nur nachvollziehbar

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und verständlich, sondern sogar gefordert ist? Gibt es irgendeine Situation, in der man sich schämen sollte? Mir scheint, die gibt es. Auch wenn es nicht immer leicht zu sagen ist, wo Scham und wo bloß Selbstzerknirschung angebracht ist, lassen sich ein paar Umstände angeben, wo andere in unserem Handeln so präsent sind, dass sie sich unweigerlich in das selbstkritische Gespräch der Person einmischen. Das gilt vor allem dort, wo man für andere handelt. Im Kapitel über Anerkennung haben wir gesehen, dass der Gedanke an die Möglichkeit von Anerkennung alle Handlungen begleiten kann. Können heißt nicht müssen. Oft aber setzten wir uns mit bestimmten Personen direkt auseinander: Jemand spielt nicht nur ein Stück auf dem Klavier, er spielt jemandem etwas vor. Hier ist der Andere nicht nur Zuschauer, der Stellung nehmen kann zu dem, was man ohnehin tun würde. In diesem Fall ist er Adressat der Handlung. Ohne ihn würde die Person sich gar nicht ans Klavier setzen. Und wir handeln nicht nur für andere. Wie wir im Abschnitt über Nacktheit gesehen haben, können andere allein schon durch ihre Anwesenheit unser Selbstverhältnis ändern. Die Gegenwart anderer verwandelt jedes Zufällig-da-Sein in ein Auftreten, sie macht es zu einem Akt der Selbstpräsentation, zu einem Sein für andere. In all diesen Fällen, wo wir also für andere da sind und wo wir für andere handeln, ist die Disposition zu Schamgefühlen unausweichlich. Wer hier bei seiner Selbstkritik auf einen vollkommen unpersönlichen Standpunkt zurückfällt, verleugnet die Bindungen, die er selber eingegangen ist. Dass jemand sich schämen soll, sagen wir dann, wenn er die Gegenwart anderer ignoriert oder sie falsch behandelt. Er hätte, meinen wir in diesen Fällen, die Gegenwart seines Gegenübers durchaus würdigen oder auf andere Weise würdigen müssen, als er es getan hat. Er hätte ihn anerkennen sollen.

6 Schuld Wenn Menschen zu Selbstdistanz und Selbstkritik fähig sind, ist das erstaunlich genug. Dass ihnen dafür mehr als ein Gefühl zur Verfügung steht, dass sie sowohl Scham als auch Schuld empfinden, ist, wenn man es recht bedenkt, eine Kuriosität. Würde nicht schon eines von beiden Gefühlen ausreichen? Und worin unterscheiden sie sich überhaupt? Im Folgenden geht es um die Frage, was Schuldgefühle ausmacht, was sie mit Schamgefühlen gemeinsam haben und was beide Gefühle voneinander unterscheidet. Ihre wesentliche Gemeinsamkeit ist die Wertschätzung der Anerkennung anderer, die sich in beiden Gefühlen ausdrückt. Das unterscheidet Scham und Schuld von bloßer Selbstzerknirschung oder Frustration über etwas, das man getan hat oder was man ist. Unterscheiden kann man Scham- und Schuldgefühle daran, dass es bei beiden um jeweils unterschiedliche Aspekte von Anerkennung geht. Scham bezieht sich auf die prinzipielle Möglichkeit, an Anerkennungsbeziehungen teilzunehmen: Wer sich schämt, sorgt sich um den Verlust von Wertschätzung (oder meint,Wertschätzung nicht mehr zu verdienen). Im Zentrum steht (zumindest in den meisten Fällen) die Befürchtung, etwas getan zu haben oder etwas zu sein, das andere bei bestem Willen nicht anerkennen können. Wer sich dagegen schuldig fühlt, fürchtet den Umschlag guten Willens in Aversion (oder meint, dass so ein Umschlag verdient wäre). Er fürchtet den Groll oder zumindest die Enttäuschung anderer, und er fürchtet ein bleibendes Zerwürfnis. Diese Aversion kann anhalten, unabhängig davon, ob das Vergehen einmalig war. Sie kann, zumindest prinzipiell, auch dann fortbestehen, wenn der Schuldige sich bessert. Bei Versöhnung geht es daher nicht nur um Besserung, es geht darum, sich in bestimmter Weise um den Anderen zu kümmern, etwa sich um Wiedergutmachung zu bemühen, um den Groll zu besänftigen.¹ Im Folgenden werde ich jene Merkmale vorstellen und diskutieren, die am häufigsten zur Unterscheidung von Scham und Schuld herangezogen werden. Die meisten Abgrenzungsversuche sind nicht überzeugend. Sie lassen viele alltägliche Episoden von Scham und Schuld rätselhaft erscheinen. Gerecht wird man diesen erst, wenn man sich auf die Rolle von Anerkennung für unsere Selbstverständigung besinnt. Weil Anerkennung auch im Zentrum von Schuldgefühlen steht, ist eine einflussreiche Analyse dieser Gefühle unhaltbar oder zumindest unvollständig. Diese Analyse versucht Schuldgefühle alleine mit Rückgriff auf einen abstrakten Begriff

1 Jay Wallace betont die rückwärts gewandten Aspekte von Einstellungen wie Empörung. Vgl. Wallace, Responsibility and the Moral Sentiments, S. 56.

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6 Schuld

moralischer Rechtfertigung zu definieren.Wer aber nur einen Begriff von Personen als Wesen mit Rechten und Pflichten hat, die sich gegenseitig voreinander rechtfertigen und zur Verantwortung ziehen, kann vielleicht sagen, was es heißt, sich unmoralisch zu verhalten. Und er kann auch sagen, wann Strafe gerechtfertigt ist. Aber er hat noch keine Analyse von Schuldgefühlen. Und er hat genaugenommen nicht einmal einen Begriff von Schuld. Die Kritik der Analyse, die nur auf einen abstrakten Begriff moralischer Rechtfertigung zurückgreift, ist Gegenstand des zweiten Abschnitts dieses Kapitels.

6.1 Scham und Schuld: Einige Unterschiede Schuldig kann man sich für alles Mögliche fühlen. Meistens haben Schuldgefühle damit zu tun, dass man meint, für ein Unrecht verantwortlich zu sein, aber das ist bei Weitem nicht alles. Schuldig fühlen kann man sich schon, wenn man jemanden vor den Kopf gestoßen hat. Schuldig fühlen kann sich auch ein puritanisch Erzogener, weil er ins Theater geht,² schuldig fühlen kann man sich, weil man schwul ist oder weil man im Gegensatz zu anderen unwahrscheinliches Glück hatte. Was macht dann Schuldgefühle aus? Schuldgefühle sind, keine Frage, eine selbstkritische Einstellung. Aber was unterscheidet sie von anderen selbstkritischen Gefühlen, was unterscheidet sie insbesondere von Scham? Ein häufig vorgebrachtes Kriterium zur Unterscheidung von Scham und Schuld geht vom Unterschied zwischen einer Regel und einem Ideal aus. Schuldig fühlt man sich demnach, wenn man eine Regel oder ein Gesetz gebrochen hat, während es bei Scham darum geht, dass man ein Ideal nicht erreichen konnte.Wer sich schuldig fühlt, meint demnach, bestimmten Mindestanforderungen nicht genügt zu haben – Morris spricht hier von einer threshold morality – während jemand, der sich schämt, ein Maximum nicht verwirklichen konnte.³ Eng verknüpft mit dem Gegensatz von Regel und Ideal ist auch der von Handlung und Person. ⁴ Scham bezieht sich demnach auf die Art von Mensch, die man geworden ist, während es in Schuldgefühlen nur darum geht, was man getan hat.⁵

2 Das Beispiel ist von Rawls. Vgl. Rawls, A Theory of Justice, S. 482. 3 Vgl.Morris, Guilt and Shame, S. 61. Vom Gegensatz von Regel und Ideal geht auch Wollheim aus, vgl.Wollheim, Emotionen: Eine Philosophie der Gefühle, S. 189. Piers spricht in diesem Zusammenhang von dem Unterschied zwischen Über-Ich und Ich-Ideal, vgl.Piers/Singer, Shame and Guilt: A Psychoanalytic and a Cultural Study, S. 23. 4 Vgl. Morris, Guilt and Shame, S. 61. 5 Vgl. Wollheim, Emotionen: Eine Philosophie der Gefühle, S. 189.

6.1 Scham und Schuld: Einige Unterschiede

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Bei Scham, so wird im selben Sinne dann ausgeführt, gehe es um die eigene Identität, während es bei Schuld um die Beziehung zu anderen gehe.⁶Bei Schuld stehe entsprechend die Wiedergutmachung im Vordergrund.⁷ Keiner dieser Abgrenzungsversuche ist ganz zufriedenstellend. Unhaltbar ist die Behauptung, dass Schuldgefühle einen engeren Zusammenhang zu Handlungen aufweisen als Schamgefühle. Es ist weder der Fall, dass nur Schuldgefühle (und nicht Schamgefühle) Handlungen zum Gegenstand haben, noch kann man behaupten, dass Schuldgefühle nur Handlungen (und nichts anderes) zum Gegenstand haben. Dass nur Schuldgefühle Handlungen zum Gegenstand haben, ist nicht wahr, weil, wie etwa Hilge Landweer betont, Handlungen durchaus auch Gegenstand von Scham sein können.⁸ Eine Person kann sich zum Beispiel für eine grausame Handlung schämen. In diesen Fällen schämt sie sich nicht nur für die Grausamkeit, die sich in der Handlung geäußert hat – denn dann müsste sie sich genauso schämen, wenn die Handlung aufgrund äußerer Umstände unterblieben wäre. Sie muss auch nicht glauben, grundsätzlich eine grausame Person zu sein. Vielleicht wurde sie provoziert und stand unter großem Druck. Vielleicht hat sie sich nur hinreißen lassen; sie hat es aber getan, und zwar auf grausame Weise, und dafür kann man sich durchaus schämen.⁹ Wie man nicht behaupten kann, dass nur Schuldgefühle eine Handlung zum Gegenstand haben können, kann man auch nicht behaupten, dass Schuldgefühle – anders als Scham – nichts anderes als Handlungen zum Gegenstand haben. Man denke nur an das oben genannte Beispiel, in dem jemand sich schuldig fühlt, weil er schwul ist. Man wird hier einwenden, dass diese Schuldgefühle auf jeden Fall unangebracht sind – das stimmt zweifellos, nur ist es deswegen nicht unmöglich, so zu empfinden. Schuld- und Schamgefühle können also beide neben Handlungen auch jene Eigenschaften zum Gegenstand haben, die sich der eigenen Kontrolle entziehen.

6 Vgl.Morris, Guilt and Shame, S. 61. Piers/Singer, Shame and Guilt: A Psychoanalytic and a Cultural Study, S. 26. 7 Vgl. Wollheim, Emotionen: Eine Philosophie der Gefühle, S. 189. Den Zusammenhang von Schuld und Wiedergutmachung verteidigen auch Landweer und Demmerling in ihrem Kapitel über Scham in Demmerling/Landweer, Philosophie der Gefühle. Von Achtung bis Zorn. 8 Das betonen Landweer und Demmerling in ihrer Definition von Scham. Vgl. Demmerling/ Landweer, Philosophie der Gefühle. Von Achtung bis Zorn, S. 220. 9 Entsprechend unplausibel ist die These, dass Scham es immer mit Defiziten zu tun habe, wie Piers unterstellt (Vgl. Piers/Singer, Shame and Guilt: A Psychoanalytic and a Cultural Study, S. 24). Das wäre nur dann plausibel, wenn man glaubt, dass Scham immer impliziert, dass die Person glaubt, sie sei als Person in gewisser Weise minderwertig. Aber das gilt keineswegs für alle Schamgefühle, sondern nur für manche.

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6 Schuld

Auch der Kontrast von Ideal und Mindestanforderung und die Behauptung, bei Schuldgefühlen werde eine threshold morality vorausgesetzt, machen keinen Sinn, wenn man beide Gefühle voneinander unterscheiden möchte. Denn um Mindestanforderungen geht es in beiden Fällen, auch bei Scham. Es macht keinen Sinn, eines der beiden Gefühle damit in Zusammenhang zu bringen, dass ein sogenanntes Ideal nicht erreicht wurde. Denn das Verfehlen von Idealen ist niemals hinreichend für eine selbstkritische Einstellung. Unerreichte Ideale hat jede Person zu jeder Zeit, ohne sich deswegen gleich zu schämen. Schließlich kann man alles, was man macht, auch noch besser machen. Diese Einsicht ist alltäglich, sie ist banal, und sie ruft als solche weder Scham- noch Schuldgefühle hervor. Als weiteres Abgrenzungskriterium wurde die Identität der Person vorgeschlagen. Bei Scham soll es, anders als bei Schuld, um die Identität gehen. Aber das schließt ebenfalls aus, dass man sich für so etwas wie die eigene Homosexualität schuldig fühlen kann. Vollkommen unplausibel ist aber die Behauptung, es gäbe einen Gegensatz zwischen der Sorge um die eigene Identität und der Sorge um die Beziehung zu anderen. Denn wie wir gesehen haben, ist die Sorge um die eigene Identität gerade bei Schamgefühlen eng verknüpft mit der Sorge um die Wertschätzung durch andere und damit um die Beziehung zu anderen. Scham und Schuld haben, wie man sieht, viel mehr Gemeinsamkeiten, als man auf den ersten Blick vermuten könnte. Beide Gefühle können eine Reaktion darauf sein, dass man eine Regel gebrochen hat. Bei beiden kann eine einzelne Handlung im Vordergrund stehen, aber beide können auch die gesamte Person und ihre sogenannte Identität zum Gegenstand haben. Beide Gefühle haben damit zu tun, dass die Beziehung zu anderen Menschen beeinträchtigt ist. Trotzdem ist die Intuition, die vielen dieser Vorschläge für ein Unterscheidungskriterium zugrunde liegt, nicht ganz falsch. Scham ist ein stärker selbstbezogenes Gefühl, während bei Schuld andere in charakteristischer Weise im Vordergrund stehen. Die Frage ist, ob sich diese Intuition noch in einer anderen, stärker belastbaren Weise ausarbeiten lässt. Dazu lohnt es sich, zunächst von einem Ansatz auszugehen, der auf den ersten Blick ebenfalls Schwierigkeiten aufwirft. Dieser Ansatz wird von Landweer und Demmerling vertreten.¹⁰ Demnach steht bei Schuldgefühlen, anders als bei Scham, die Idee im Zentrum, dass man jemanden geschädigt hat und dass eventuell Wiedergutmachung ansteht. Auch hier liegen Gegenbeispiele auf der Hand. Es sind genau die, die schon genannt wurden: Wen schädigt man etwa dadurch, dass man schwul ist, und wen

10 Vgl. Demmerling/Landweer, Philosophie der Gefühle. Von Achtung bis Zorn, S. 238 f. Auch Williams betont ganz ähnliche Aspekte von Schuld, Vgl. Williams, Shame and Necessity, S. 93.

6.1 Scham und Schuld: Einige Unterschiede

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schädigt der Puritaner, wenn er ins Theater geht? Landweer und Demmerling schlagen angesichts dieser Gegenbeispiele einen erweiterten Begriff von Schaden und Wiedergutmachung vor.¹¹ Erweitern könne man den Begriff von Schaden und Wiedergutmachung, insofern man von einer göttlichen Ordnung ausgehe oder einen überhöhten Begriff von Natur unterstelle, an der man sich gewissermaßen versündigen könne. Sinn kann man dann aus den Schuldgefühlen des Puritaners machen, wenn man ihm unterstellt, dass er fürchtet, eine göttliche Ordnung zu stören. Damit glaubt er, Schaden anzurichten, der wiedergutzumachen wäre. Die Vorstellung von einer göttlichen Ordnung, die man durch einen Theaterbesuch stört, ist natürlich einigermaßen abstrus, aber das ist kein Nachteil des Ansatzes, im Gegenteil. Denn abstrus ist es auch, sich überhaupt dafür schuldig zu fühlen, dass man ins Theater geht, und so bekommt man mit der Explikation des Gefühls zugleich eine Erklärung, warum die entsprechenden Schuldgefühle unangebracht sind. Vollständig kann dieser Ansatz dennoch nicht überzeugen. Das Problem ist: Fast niemand glaubt an das, was dieser erweiterte Schadensbegriff impliziert. Und das heißt, dass diese Unterstellungen sich nur in Ausnahmefällen rechtfertigen lassen. Vielleicht kann man sie bei einem Puritaner aus dem siebzehnten Jahrhundert machen. Aber was ist mit einer – im übertragenen Sinne – nur puritanisch erzogenen Person des einundzwanzigsten Jahrhunderts? Und was ist mit dem Beispiel der Person, die Schuldgefühle wegen ihrer Homosexualität hat? Will man diesen Personen wirklich die erwähnte Vorstellung einer natürlichen Ordnung unterstellen? Sicher könnte man hier argumentieren, dass sich die jeweiligen Personen ihre Überzeugungen nur nicht bewusst gemacht haben und dass gerade ihre Schuldgefühle ein Indiz dafür sind, dass sie das zumindest implizit glauben. Aber wenn es wirklich nur die Schuldgefühle sind, in denen sich diese impliziten Überzeugungen angeblich äußern, und wenn es sonst gar nichts im Verhalten der Person gibt, was einen zu dieser Unterstellung berechtigt, wird diese zu einer nicht sehr gut begründeten ad-hoc-Hypothese. Die jeweiligen Überzeugungen stehen dann, weit entfernt davon, aus dem Verhalten und Empfinden der Person Sinn zu machen, isoliert und zusammenhanglos in einem ansonsten zeitgemäßen Weltbild. Die Unterstellung bekommt etwas Gezwungenes. Es gibt aber eine Möglichkeit, den Schadensbegriff ganz im Sinn von Landweer und Demmerling zu erweitern, der einen keineswegs zur Unterstellung absurder Annahmen zwingt. Diese Erweiterung muss nämlich nicht und sollte nicht einmal über eine Metaphysik der moralischen Ordnung laufen, welche die Person

11 Vgl. Demmerling/Landweer, Philosophie der Gefühle. Von Achtung bis Zorn, S. 238 f.

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mit ihrer Handlung verletzt oder gestört zu haben wähnt. Stattdessen kann sie einfach von zwischenmenschlichen Beziehungen und gegenseitiger Anerkennung handeln. Denn mit Anerkennungsbeziehungen entsteht, eben weil sie nicht nur Beziehungen gegenseitiger Wertschätzung, sondern selber etwas Wertvolles sind, auch eine ganz neue Art von Schaden. Es ist der Schaden, der entsteht, wenn diese Beziehungen beeinträchtigt werden. Das kann in ganz unterschiedlicher Weise geschehen. Jemand, der sich schuldig fühlt, weil er schwul ist, könnte in diesem Sinn fürchten, eine andere Person – vielleicht sind es seine Eltern – enttäuscht zu haben. Und er kann es als seine Aufgabe betrachten, seine Eltern glücklich zu machen. Auch diese Meinung ist irrational, aber es ist eine Form der Irrationalität, die nicht, wie irgendwelche mythischen Annahmen, vollkommen isoliert aus dem Weltbild der meisten Personen herausragen würde. Es ist nur eine Übersteigerung von Dankbarkeit und Wohlwollen für den Anderen. Als solche ist sie vermutlich nicht allzu selten. Erweitert man den Schadensbegriff auf diese Weise, werden auch die ungewöhnlichen Spielarten von Schuldgefühlen nachvollziehbar. Denn alles, was man jetzt braucht, um sich schuldig zu fühlen, ist eine als rechtmäßig betrachtete Erwartung eines Gegenübers. In diesem Sinn können auch grundlegende Fragen der Identität, also Fragen, wer man ist und wie man sein Leben führen will, zum Gegenstand von Schuldgefühlen werden. Die Person muss sich nur mit anderen Personen verbunden wissen, die diesbezüglich besonders starke Hoffnungen und Erwartungen hegen. Diese Art von Erwartungen haben, wenn sie die Identität der Person betreffen, immer etwas Bevormundendes und Besitzergreifendes. Aber das ändert nichts an ihrer Verbreitung und an ihrem Beitrag zur Entstehung von Schuldgefühlen. Was kann man dann über Schuld- und Schamgefühle und über den Unterschied zwischen beiden festhalten? Es geht in beiden Fällen um Anerkennung, aber diese steht auf jeweils unterschiedliche Weise im Vordergrund. Schamgefühle sind selbstbezogen: Es sind der eigene Makel, das eigene Versagen und der damit verbundene Autoritätsverlust, die im Vordergrund stehen. Schuldgefühle dagegen wenden uns dem Anderen zu. Sie handeln davon, dass man Leid verursacht hat – und sei es nur, dass man Hoffnungen einer Person enttäuscht hat. Manchmal lässt sich dieser Unterschied zwischen Scham- und Schuldgefühlen an der Art der Erwartungen ablesen, mit denen sich die Person identifiziert: Die Eltern wollen, dass das Kind Arzt wird, es wird aber Astronaut. Im Schamszenario identifiziert sich das Kind mit der Idee, der Arztberuf sei erstrebenswert, scheitert aber im Physikum. Es hätte gerne die Anerkennung als Arzt und muss mit einem in seinen Augen minderwertigen Beruf vorliebnehmen. Im Schuldszenario hält das Kind gar nichts vom Arztberuf. Es will auch nicht als Arzt anerkannt

6.1 Scham und Schuld: Einige Unterschiede

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werden, deswegen schämt es sich nicht für sein Versagen, das dem Studienwechsel vorausging. Aber es wird das Gefühl nicht los, seinen Eltern eine bestimmte Berufswahl zu schulden, und empfindet deswegen Schuld. Prinzipiell aber grenzt man beide Gefühle am besten über die Art des befürchteten Anerkennungsentzugs voneinander ab. Wer sich schämt, macht sich bewusst, dass der entsprechende Makel, der Fehler oder das Versagen beim besten Willen keine Anerkennung verdient.¹² Wer sich schuldig fühlt, weiß, dass er sich nicht beschweren darf, wenn der gute Wille in Groll umschlägt oder wenn der Andere sich zumindest zurückzieht. Bei Schuld ist die Reaktion des Anderen immer rückwärts gewandt, was besonders bei Handlungen relevant wird: Man hat etwas getan, womit man einer anderen Person Leid zugefügt hat. Sich schuldig zu fühlen heißt hier, sich dessen bewusst zu sein, dass es nicht unbedingt ausreicht, wenn man sich selber bessert. Der Andere könnte dennoch auf Abstand bleiben. Die ganze Idee von Wiedergutmachung nimmt hier ihren Anfang, nämlich in dem Wunsch, jemanden zurückzugewinnen, dem man das Bedürfnis nach einer Beziehung gegenseitiger Wertschätzung schon abgewöhnt hatte. Mit diesem Bezug auf Vergangenes wird die Erwartung von Vergeltung beziehungsweise die Annahme, dass Vergeltung angemessen ist, zum integralen Bestandteil von Schuldgefühlen. Diese Vergeltung muss nicht in aggressivem Verhalten bestehen, sie kann auch darin bestehen, dass man sich zurückzieht. Mit Vergeltung hat man es in beiden Fällen zu tun, insofern die Person das eigene Wohlwollen davon abhängig macht, was geschehen ist, anstatt sich ausschließlich an ihren Erwartungen für die Zukunft beziehungsweise die Gegenwart zu orientieren. Versöhnungsversuche sind darauf aus, diese Art von Groll zu besänftigen und diese Art von Distanz zu überbrücken; insofern ist es für Schuldgefühle tatsächlich charakteristisch, dass bei ihnen Schädigung und Wiedergutmachung im Zentrum stehen: Bloße durch Empathie hervorgerufene Reue ist noch kein Schuldgefühl. Schuld beginnt erst dort, wo eine Anerkennungsbeziehung beeinträchtigt ist. Die Person wird, wenn sie sich schuldig fühlt, die Vergeltung immer angemessen finden. Es reicht nicht, dass diese Vergeltung nur wahrscheinlich ist. Jemand, der mit Vergeltung rechnet, die ihm fragwürdig oder unangemessen erscheint, wird immer ratlos, verängstigt oder sogar empört reagieren, aber nicht mit

12 Das gilt natürlich nur für jene Schamgefühle, die einen Makel oder ein Versagen zum Gegenstand haben. Bei Situationsbezogenen Schamgefühlen ist die Sache mit dem guten Willen etwas komplizierter.

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Schuldgefühlen. Um Schuldgefühle zu empfinden, muss diese Reaktion ihm angemessen erscheinen. Er selber würde in dieser Situation ähnlich reagieren. Schuld handelt dabei nicht immer von einer Zweierbeziehung, und es ist auch nicht die Beziehung zum Opfer, die im Vordergrund stehen muss. Denn Aversion – und auch Belohnung – als Reaktion auf ein bestimmtes Verhalten beschränkt sich nie auf jenes Verhalten, das andere einem selber gegenüber an den Tag legen. Wir reagieren auch darauf, wie andere sich Dritten gegenüber verhalten, mit Lob und Sanktionen. Mit Aversionen kann man auch stellvertretend reagieren.¹³ In diesem Sinn kann die mögliche Reaktion eines beliebigen Anderen oder einer Gruppe von Leuten im Zentrum von Schuldgefühlen stehen. Wenn Schuldgefühle davon handeln,wie man selber reagieren würde, bedeutet das nicht unbedingt, dass man sich selber gegenüber die Rolle des Opfers einnimmt. Es kann auch heißen, dass man sich selber aus der Perspektive eines Außenstehenden verurteilt. Man kann an dieser Stelle einwenden, dass die Rolle von Anerkennungsbeziehungen für unsere Schuldgefühle grundlos überbewertet wird. Denn ausgegangen wurde zunächst nur von einigen ungewöhnlichen Beispielen – wie etwa Schuldgefühlen angesichts eines Theaterbesuchs – bei denen sich der Rekurs auf die persönliche Enttäuschung von Autoritätspersonen allerdings aufdrängt. Aber muss man deswegen gleich alle Schuldgefühle als Anerkennungskonflikt interpretieren? Weil Anerkennungsbeziehungen ein Gut sind, könnte man argumentieren, ermöglichen sie auch eine bestimmte Form von Schädigung. Deswegen können sie eine Voraussetzung für manche Schuldgefühle sein. Es fehlt aber noch ein Argument für die Annahme, dass die Wertschätzung von Anerkennung eine Voraussetzung dafür ist, überhaupt Schuld empfinden zu können. An dieser Stelle kommen jene Ansätze ins Spiel, die Schuld nur über Beziehungen moralischer Rechtfertigung definieren. Ist das, was alle Schuldgefühle gemeinsam haben, nicht einfach der Umstand, dass die Person glaubt, jemandem widerrechtlich Leid zugefügt zu haben – unabhängig davon, ob so etwas wie eine Anerkennungsbeziehung gewünscht wird?

6.2 Schuldgefühle und abstrakte Moral Eingangs war bereits die Rede von jenen Ansätzen, die Schuld alleine über moralische Rechtfertigung definieren. Diese Ansätze sind in gewisser Weise naheliegend. Schließlich, könnte man meinen, handeln Schuldgefühle in erster Linie davon, dass man sich schuldig gemacht hat, und das, so könnte man vermuten, ist

13 Zu stellvertretenden Reaktionen vgl. Strawson, „Freedom and Resentment“, S. 70.

6.2 Schuldgefühle und abstrakte Moral

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der Fall, wo die Person sich unmoralisch verhalten hat und ihr Verhalten nicht rechtfertigen kann. Auf einen Begriff von Anerkennung, wie er hier verwendet wird, müsste man dann gar nicht zurückgreifen. Man bräuchte ihn bestenfalls, um besonders kuriose Episoden von Schuldgefühlen zu erklären. Aber das greift zu kurz. Schuldgefühle lassen sich nur verstehen, wenn man davon ausgeht, dass der Person außerdem an der Anerkennung ihrer Mitmenschen liegt. Das gilt nicht nur für einzelne Schuldgefühle, es gilt für Schuldgefühle überhaupt. Um das zu zeigen, werde ich zunächst einige bemerkenswerte Eigenschaften von Schuldgefühlen herausarbeiten. Diese lassen sich relativ leicht erklären, wenn man davon ausgeht, dass sich in Schuldgefühlen immer die Wertschätzung von Anerkennung ausdrückt. Lässt man diese Annahme fallen, kommt man in Schwierigkeiten: Entweder man kann die Eigenschaften gar nicht erklären, oder man muss allen Personen mit Schuldgefühlen Meinungen unterstellen, die um einiges voraussetzungsreicher sind und die sie vermutlich gar nicht haben. Ein Beispiel für eine Analyse von Schuldgefühlen, die versucht, alleine mit Begriffen moralischer Rechtfertigung auszukommen, findet sich in Thomas Scanlons Buch What We Owe To Each Other. ¹⁴ Wer sich schuldig fühlt, so Scanlon, macht sich selber Vorwürfe. Diese Vorwürfe haben für Scanlon eine ganz bestimmte Grundlage. Sie besteht in Prinzipien, die sich daraus ergeben, dass der Andere jemand ist, vor dem man sich rechtfertigen muss.¹⁵ Und darin, dass wir Wesen sind, vor denen man sich rechtfertigen muss, besteht für Scanlon unser Selbstverständnis als Wesen mit Rechten und Pflichten. Wer sich schuldig fühlt, macht sich bewusst, dass er eine Handlung nicht rechtfertigen kann. Was sollte an dem Ansatz falsch sein? Er erklärt vor allem nicht die Dynamik von Schuldgefühlen. Für eine Person mit Schuldgefühlen hat das, was sie getan hat, eine bestimmte persönliche Bedeutung, aber diese Bedeutung steht nicht ein für alle Mal fest. Sie verändert sich im Verlauf der Zeit, und mit ihr verändert sich die Person selber. Worin besteht nun diese persönliche Bedeutung? Ein sehr allgemeine, noch vage Formulierung lautet: Für jemanden, der Schuld empfindet, ist die Welt aus den Fugen geraten. Irgendetwas stimmt nicht mehr. Aber diese Desintegration der

14 Ich vermute, dass auch Axel Honneth dieser These zuneigen würde, auch wenn er sie sich in seinem Buch Kampf um Anerkennung nicht ausdrücklich zu eigen macht. Vgl. dazu seine Ausführungen über Schuld in Honneth, Kampf um Anerkennung, S. 222. Auch Habermas spricht in einem älteren Text von einem „Auseinandertreten“ von „Gewissensinstanz und Ich-Ideal“ und ist damit nah bei Scanlon. Vgl. Habermas, „Individuierung durch Vergesellschaftung. Zu G. H. Meads Theorie der Intersubjektivität“, S. 223. 15 Vgl. Scanlon, What We Owe to Each Other, S. 271.

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eigenen Welt ist nicht unwiderruflich. Im Gegenteil, man kann die Sache wieder geraderücken, und Gesten der Wiedergutmachung können genau das leisten. Jede Beschreibung von Schuldgefühlen muss diese Intuition explizieren. Sie muss erklären, was geschieht, wenn für den Schuldbeladenen eine Welt aus den Fugen gerät, und sie muss erklären, was geschieht, wenn sich diese Welt wieder einrenkt. Wenn man zunächst einmal Anerkennungsbeziehungen betrachtet, liegt auf der Hand, wie die Wertschätzung von Anerkennung die besagten emotionalen Erfahrungen erklären kann: Wenn man unterstellt, dass einer Person auch an der Anerkennung ihres Gegenübers liegt, dann wird durch das Unrecht zweierlei berührt: Die Person hat nicht nur etwas Unrechtes getan, sie hat auch die Anerkennung einer anderen Person enttäuscht. Dieser Bruch der Anerkennungsbeziehung gibt ihrem Verhalten eine zusätzliche Bedeutung. Und obwohl die Person das Unrecht nicht ungeschehen machen kann, können die Folgen, die das Unrecht für die Anerkennungsbeziehung hat, durchaus eine Entwicklung durchmachen: Zunächst gibt es einen Konflikt. Das aber ist natürlich nicht das letzte Wort. Denn das Verhältnis zum Anderen verändert sich, und zwar abhängig davon, wie die Person sich selber verhält. Sie kann Verantwortung übernehmen, sie kann sich um Wiedergutmachung bemühen. Und sie kann um Vergebung bitten. Sie kann also die Sache in die Hand nehmen, und obwohl sie das Unrecht nicht ungeschehen machen kann, kann sie die Beziehung, die gestört wurde, wiederherstellen. Das Unrecht ist dasselbe geblieben, mit einem feinen Unterschied: Es isoliert den Täter nicht mehr. Im Gegensatz dazu kann der Ansatz von Scanlon gerade die Veränderungen der Bedeutung, die einmal begangenes Unrecht für die Person durchmachen kann, nicht einfangen. Es lohnt sich dazu, seinen Gedankengang ausführlicher darzustellen. Er gibt zunächst zu, dass moralische Selbstkritik ein besonderes Gewicht hat, und damit meint er, dass sich die moralische Selbstkritik von dem Bewusstsein, sich verrechnet zu haben, oder ähnlichen harmlosen Formen der Selbstkritik unterscheidet. Ein Unrecht ist also auch für Scanlon mehr als ein bloßer Irrtum, und es wiegt auch schwerer als ein nur strategischer Fehler. Aber was ist das Besondere an dem Bewusstsein, etwas Unmoralisches getan zu haben? Das ist für Scanlon lediglich der Umstand, etwas getan zu haben, was man vor dem Anderen nicht rechtfertigen kann. Er gibt zu, dass es auch noch andere Aspekte gibt – der Andere ist jetzt zu Sanktionen berechtigt – aber die sind für Scanlon nebensächlich. Das eigentliche Problem von Unrecht ist nicht die Sanktion, die man auslöst, sondern das Unrecht selber:

6.2 Schuldgefühle und abstrakte Moral

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„If I have injured someone by failing to take their interests into account in the way one should, then my relation with them is already altered by that fact, whatever they do. They may retaliate in some way, or they may forgive me. But forgiveness is merely a willingness to forgo reacting to a wrong in ways one would be justified in doing, such as by being angry or severing friendly relations. It does not alter the wrong that has been done. (Meine Hervorhebung, R.M.)“¹⁶

Das Problem mit diesen Bemerkungen liegt auf der Hand: Unrecht lässt sich nicht mehr ändern.Wenn wir mit Schuldgefühlen nur darauf reagieren würden, dass wir Unrecht getan haben, dann wäre dieses Gefühl im Wesentlichen eine Reaktion auf eine unabänderliche Tatsache.Wir müssten uns für alles,was wir je falsch gemacht haben, ewig schuldig fühlen, oder wir hätten zumindest Grund dazu. Aber das ist nicht der Fall. Wer eine Analyse von Schuldgefühlen liefert, muss plausibel machen, dass es eine Ordnung gibt, die durch Unrecht gestört wird, aber prinzipiell (wenn auch vielleicht nicht immer) wieder repariert werden kann. Scanlon gibt uns das Bild einer Ordnung und er präzisiert die Natur der Störung. Aber die Störung, die Scanlon diagnostiziert, ist das Unrecht selber, und die einzige Ordnung, die berührt wird, ist die moralische Ordnung. Und die Störung der moralischen Ordnung – also die Tatsache, dass man Unrecht getan hat – ist eben irreparabel. Nichts außer einer Zeitreise könnte hier Abhilfe schaffen. Scanlon bleibt eine Erklärung dafür schuldig, was passiert, wenn eine Person ihre Schuldgefühle überwindet, und was wieder hergestellt wird, wenn jemand zum Beispiel Wiedergutmachung übt. Es ist aber, wie gesagt, naheliegend, diese Bedeutung über Anerkennungsbeziehungen zu verstehen. Die besondere Bedeutung von Unrecht bestünde dann darin, dass es Anerkennungsbeziehungen beeinträchtigt, insbesondere Beziehungen gegenseitigen Vertrauens in die Fairness und die Aufrichtigkeit des Anderen, aber auch Beziehungen gegenseitiger Wertschätzung mit Personen, an deren Anerkennung einem besonders liegt. Sind dazu Alternativen denkbar? Kann man Schuldbewusstsein auch ohne Rückgriff auf die Wertschätzung in Anerkennungsbeziehungen verstehen? Man könnte auf Scanlons Ansatz beharren und hier folgendermaßen argumentieren: Schuldgefühle sind nicht nur das Bewusstsein, etwas falsch gemacht zu haben. Sie sind das Bewusstsein, etwas falsch gemacht, ohne bereits der Pflicht zur Wiedergutmachung Genüge getan zu haben. Diese Meinung wäre jedenfalls keine Würdigung einer unabänderlichen Tatsache. Sie verändert sich, sobald die Person tatsächlich Verantwortung übernimmt. Schuldgefühle könnten dann verschwinden, sobald die Person diesbezüglich Maßnamen ergreift. Die beson-

16 Scanlon, What We Owe to Each Other, S. 272.

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dere Dynamik von Schuldgefühlen wäre ohne Rückgriff auf Anerkennungsbeziehungen erklärt. Aber auch das ist nicht überzeugend, denn die These erklärt nicht, warum der Umstand, etwas getan zu haben, was man noch nicht wiedergutgemacht hat, einen Krisencharakter besitzt. Und dieser Krisencharakter verlangt in der Tat eine besondere Erklärung. Sonst wird die Pflicht zur Wiedergutmachung nichts anderes als eine Pflicht, die man sich aufgebürdet hat und derer man sich nun entledigen muss. Es wäre dann wie bei jemandem, der Spielschulden gemacht hat: Man tut etwas (verschuldet sich), und daraus ergeben sich Pflichten. Aber dieser Umstand allein beeinträchtigt nicht die Person und insbesondere nicht ihre Selbstachtung. Schuld auf sich laden ist eben etwas anderes als Schulden machen. Und es gibt noch ein weiteres Problem mit dieser Analyse. Denn die Pflicht zur Wiedergutmachung setzt voraus, dass diese auch möglich ist.Wäre sie unmöglich, gäbe es auch keine Pflicht, Wiedergutmachung zu leisten: Sollen impliziert Können. Nur ist Wiedergutmachung tatsächlich nicht überall möglich. Manchmal ist das Unrecht zu groß und der Schaden ist nicht mehr zu beheben. In diesen Fällen fällt die Pflicht zur Wiedergutmachung notgedrungen weg. So ungewohnt es klingen mag: Eine Person, die etwas getan hat, das nur schlimm genug ist, hat ein Problem weniger. Es sei denn, natürlich, sie empfindet Schuldgefühle. Denn die bleiben auch und gerade dort bestehen, wo der Schaden nicht wiedergutzumachen ist. Allein deswegen können Schuldgefühle nicht mit dem Bewusstsein, dass Wiedergutmachung angebracht ist, gleichgesetzt werden. Dasselbe Problem hätte eine Analyse, die Schuldgefühle als das Bewusstsein eines tiefgreifenden praktischen Widerspruchs interpretiert: Die Person hat den Anderen unfair behandelt und jetzt wird ihr bewusst, dass sie selber aber moralische Achtung fordert. Genau dieser Widerspruch, könnte man argumentieren, unterscheidet moralische Schuld von bloßen Spielschulden, die (in den meisten Fällen) nichts Widersprüchliches an sich haben. Das spielt sicher eine wichtige Rolle. Aber dieser Widerspruch kann nicht alles sein. Denn wie ließen sich jene Schuldgefühle erklären, die sich eben nicht überwinden lassen, weil die Schuld nämlich schlichtweg nicht wiedergutzumachen ist? Am Widerspruch kann es nicht liegen, denn den löst man mit einer einfachen Verhaltenskorrektur. Man sieht ein, dass man etwas falsch gemacht hat, und bessert sich. Schamgefühle bekommt man so tatsächlich in den Griff, und es wäre schön, wenn wir uns auch unserer Schuld mit derselben Leichtigkeit entledigen könnten. Leider ist das nicht möglich. Ein abstrakter Begriff moralischer Rechtfertigung kann nicht erklären, was wir empfinden, wenn wir Schuldgefühle haben. Die Beziehungen, an denen einer

6.2 Schuldgefühle und abstrakte Moral

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Person mit Schuldgefühlen liegt, müssen viel voraussetzungsreicher sein. Muss es sich aber wirklich um Anerkennung handeln? Aus den Argumenten gegen die Reduktion von Schuldgefühlen auf ein abstraktes Bewusstsein, etwas falsch gemacht zu haben, folgt das noch nicht automatisch. Man könnte zumindest fragen, ob es nicht auch andere Beziehungen gibt, die nicht schon Anerkennungsbeziehungen sind. Dafür, dass es uns in unseren Schuldgefühlen ausgerechnet um Anerkennung geht, gibt es eine Reihe von Indizien. Grundsätzlich ist Anerkennung jede Form von personaler Wertschätzung, die Gegenseitigkeit unterstellt und diese Gegenseitigkeit zugleich zum Gegenstand von Wertschätzung macht. Es ist also Wertschätzung, die dem Anderen Autorität zuspricht. Die eigene Autorität aber steht auch im Zentrum von Schuldgefühlen. Anders als bei Schamgefühlen wird sie hier nicht als bedroht angesehen, sie wird im Gegenteil bewusst eingesetzt. Wer sich entschuldigt, sagt, dass ihm Leid tut, was er getan hat, und dass er keine Genugtuung darüber empfindet. All diese Gesten aber werden den Anderen nur erreichen, wenn diesem umgekehrt an der Wertschätzung dessen liegt, der sich schuldig fühlt, oder wenn er zumindest bereit ist, der Wertschätzung unter bestimmten Bedingungen wieder Wert beizumessen. Man könnte hier fragen, wie es möglich sein soll, die eigene Autorität einzusetzen. War nicht eine der wichtigsten Thesen des letzten Kapitels, dass in Anerkennungsbeziehungen mit dem Fehler oder Versagen einer Person automatisch ihre eigene Autorität bedroht wird? Beides schließt sich nicht aus. Es kommt immer darauf an, was für eine Autorität man beansprucht. Wer selber stiehlt, kann sich nicht lauthals über Diebstahl empören, ohne sich lächerlich zu machen. Bedroht wird hier die Autorität des Selbstgerechten, und jemand, der sich schämt, macht sich unter anderem das klar: Jahrelang hat man den Saubermann gegeben, und plötzlich handelt man in einer Weise, die man immer verabscheut hat. Wie peinlich. Die Art von Autorität, die jemand einsetzt, wenn er sich schuldig fühlt, ist dagegen ganz anderer Art. Es ist die Autorität des Reumütigen. Die Autorität des Reumütigen ist die einzige, die man nach einem schweren Fehler noch hat, und sie ist zugleich der erste Schritt, die alte Autorität wiederzuerlangen. Dass Schuldbewusstsein uns unsere Autorität in dieser Weise einsetzen lässt, ist der beste Grund zur Annahme, dass der Person auch hier an Anerkennungsbeziehungen liegt. Sie nimmt mit ihrer Reue den Faden an der Stelle wieder auf, an der sie ihn zuletzt fallen ließ. Die Wertschätzung für Anerkennungsbeziehungen gibt vielen unserer mit Schuld verbundenen Praktiken erst wieder Sinn. Mit abstrakten Begriffen der Rechtfertigung kommt man, wenn man die emotionale Seite unserer moralischen Selbstverständigung verstehen möchte, nicht sehr weit. Das betont auch Bernard Williams in seinen Arbeiten, in denen er vor allem einen Kontrast zwischen den

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6 Schuld

modernen und antiken Moralvorstellungen herausarbeitet, der für moderne Moralvorstellungen unvorteilhaft ausfällt. Die Griechen, so Williams, hatten zwar keinen Ausdruck, der unserem Schuldbegriff entspricht, aber sie kannten dennoch die Praxis, die man mit Schuldgefühlen in Verbindung bringt: Sie kannten Empörung, auch Wiedergutmachung und, selbstverständlich, Vergebung.¹⁷ Sie hatten für diese Praxis nur keinen eigenen Namen reserviert. Sie haben, so Williams, aus Schuld nicht „das spezielle Ding“ gemacht, das es in späteren Jahrhunderten geworden ist.¹⁸ Ein spezielles Ding ist das Schuldgefühl in der Tat geworden. Wir haben in unserem Denken das Moralische von allen anderen Werten säuberlich getrennt, und das haben wir mit der erklärten Absicht getan, moralischen Pflichten eine besondere Verbindlichkeit und eine besondere Dignität zuzusichern. Deswegen galt auch das Schuldgefühl lange im Gegensatz zu Scham als das eigentlich moralische Gefühl. Doch diese Erhöhung hat eine merkwürdige Wendung genommen. Denn mit der vollständigen Isolierung unseres moralischen Selbstverständnisses wurde schließlich das Schuldgefühl selber entbehrlich. Seinen letzten Karriereschritt bezahlte es mit seiner Selbstauflösung in Beziehungen gegenseitiger Rechtfertigung. Was auch immer diese leisten, man wird ihnen kein Verständnis von Schuldgefühlen entnehmen können. Wenn man es genau nimmt, versteht man mit dem Begriff moralischer Rechtfertigung allein nicht einmal, was Schuld ist. Beides erschließt sich erst, sobald man sich über den Wert zwischenmenschlicher Anerkennung Rechenschaft ablegt.

17 Vgl. Williams, Shame and Necessity, S. 91. 18 Vgl. Williams, Shame and Necessity, S. 91.

7 Scham versus Schuld Alles, wofür man sich schämt, kann auch Gegenstand von Schuldgefühlen werden, und umgekehrt. Die Versuchung, beide Gefühle gegeneinander auszuspielen, ist in den Gefühlen selber angelegt, und bisweilen wird ihr nachgegeben. Besonders umkämpft sind dabei das moralische Terrain und die Frage, welche Rolle beide Gefühle spielen können und sollen, wenn es darum geht, auf andere Menschen Rücksicht zu nehmen. Dieser Frage ist das folgende Kapitel gewidmet. Nicht jeder, der eine Meinung in dieser Frage hat, begründet sie auch. Manchmal erschöpft sich die Stellungnahme darin, eines der beiden Gefühle bei der Analyse unseres moralischen Selbstverständnisses zu ignorieren. Ein Beispiel dafür ist Scanlon. Die Theorie moralischen Verhaltens in seinem Buch What We Owe to Each Other ist umfassend, umfassend genug jedenfalls, um eine Theorie der Schuldgefühle zu skizzieren. Schamgefühle dagegen haben es nicht einmal ins Stichwortverzeichnis geschafft. Wo Schuld- und Schamgefühle aber ausdrücklich miteinander verglichen werden, sind die Vorlieben oft umgekehrt. Gegenstand der Skepsis sind dann meistens Schuldgefühle, und meistens wird diese Skepsis mit Verweis auf die Idee der Vergeltung begründet, die bei Schuldgefühlen eine so große Rolle spielt. Schamgefühle erfahren in diesen Ansätzen meistens eine Rehabilitation. Sie werden als die zivilisiertere Form moralischer Selbstverständigung gepriesen. Diese Versuche, die Rolle von Schamgefühlen für unsere moralische Selbstverständigung zu rehabilitieren, werde ich im ersten Abschnitt dieses Kapitels diskutieren. Im zweiten geht es dann um das verbreitete Unbehagen an Schuldgefühlen und an jenen Bestandteilen unserer moralischen Praxis, ohne die Schuldgefühle nicht denkbar wären.

7.1 Einige Rehabilitationsversuche von Schamgefühlen Schamgefühle erfreuen sich zunehmender Beliebtheit. Sie sind, so heißt es, gesünder als Schuldgefühle. Und ihnen wird eine besondere moralphilosophische Bedeutung zugeschrieben, weil unser moralisches Sprachspiel die Disposition zu Schamgefühlen angeblich voraussetzt. Die Überlegungen zum Zusammenhang von Schamgefühlen und unserer Gesundheit, auf die ich mich hier beziehe, stammen von dem Psychoanalytiker Gerhart Piers, ihre moralphilosophische Rolle betont Bernard Williams. Beide Ansätze seien hier diskutiert. Piers geht zunächst von einer Handvoll Beobachtungen aus. Er unterscheidet dabei zwischen schuld- und schamgetriebenen Charakteren, je nachdem, welches

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7 Scham versus Schuld

Gefühl für die Person jeweils im Vordergrund steht. Schamgetriebene Charaktere, so seine These, sind gesünder, weil sie optimistischer sind. Schuldgetriebene Charaktere, so wie er sie sieht, stehen sich selber im Weg: Sie sind besessen von der Angst, etwas falsch zu machen. Aktiv werden sie nur und bestenfalls, wenn es etwas wiedergutzumachen gibt. Aber jemand, der sich darauf beschränkt, keine Fehler zu machen und vorwurfsfrei durchs Leben zu kommen, wird auch nie über sich hinauswachsen. Ganz anders dagegen die Schamgetriebenen. Sie werden von Idealen angezogen, die sie verwirklichen möchten. Sie haben bessere Chancen zu reifen, ihre Fähigkeiten auszuschöpfen und auszubauen. Der Schamgetriebene wird im schlimmsten Fall daran scheitern, dass er die Selbstvervollkommnung zu weit treibt und sich selber überarbeitet, während der Schuldgetriebene von einem Potential, das er ausschöpfen könnte, nicht einmal weiß.¹ Diese Kontraste von schuld- und schamgetriebenen Charakteren sind, um das Mindeste zu sagen, irreführend. Sie beruhen zum einen auf einer naiven, verharmlosenden Auffassung von Scham und zum anderen auf einer Karikatur von Schuldgefühlen. Dass der Begriff des Schamgefühls, der Piers Beobachtung zugrunde liegt, verharmlosend und auch nicht haltbar ist, wurde schon im letzten Kapitel deutlich. Scham ist nicht einfach die Identifikation mit Idealen oder idealisierten Vorbildern, denn ideal und vollkommen ist das, was man erreicht, höchst selten, und dieser Umstand allein ist noch nicht beschämend. Scham ist wie Schuld mit Mindeststandards verbunden, die man erreichen muss (und nicht nur kann), und sie ist natürlich ebenfalls mit Sanktionen verknüpft. Für Menschen, bei denen Versagensangst dominiert, kann die Sorge, beschämt zu werden, eine ebenso große Rolle spielen wie die Angst, bestraft zu werden. Scham kann wie das Schuldgefühl ebenfalls ein zerstörerisches und unproduktives Gefühl werden.Vor allem die Idee, der sogenannte Schamgetriebene habe nur Überarbeitung und Überlastung zu fürchten, ist absurd, wenn man an den Zusammenhang von Scham und Minderwertigkeitsgefühlen denkt.² Hinzu kommen die Nachteile von Schamgefühlen gegenüber Schuldgefühlen, die Piers ignoriert. Scham kann Wiedergutmachung behindern. Sie kann dazu führen, dass die Person nicht die Verantwortung für ihr Verhalten übernimmt, weil sie es weder sich selber noch Anderen eingestehen möchte. Und schließlich kann

1 Vgl. Piers/Singer, Shame and Guilt: A Psychoanalytic and a Cultural Study, S. 44. Ähnlich argumentiert Wollheim in Wollheim, The Thread of Life, S. 197 ff. 2 Vgl. dazu vor allem Wurmser, Die Maske der Scham: Die Psychoanalyse von Schamaffekten und Schamkonflikten, S. 271 ff.

7.1 Einige Rehabilitationsversuche von Schamgefühlen

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die Fixiertheit auf das eigene Ansehen blind für die Bedürfnisse und Leiden des Anderen machen. Scham kann Empathie mit anderen erschweren. Dort, wo Menschen von übertrieben selbstkritischen Gefühlen geplagt werden, kann man sich die Frage schenken, unter welchem man lieber leiden würde. Zerstörerisch können sie beide sein. Insoweit Piers einen tatsächlich existierenden Unterschied beschreibt, ist es wohl eher der zwischen Personen, bei denen die Angst vor Fehlern und Versagen dominiert, und solchen, bei denen die Aussicht auf Erfolg im Vordergrund steht. Für eine Person aber, die eher von Aussicht auf Erfolg getrieben wird, spielt bei ihrem Handeln weder die Sorge, beschämt zu werden, noch die Sorge, sich schuldig zu machen, eine große Rolle. Sie denkt überhaupt nicht viel darüber nach, was passieren würde, wenn sie versagt. Sie ist weder scham- noch schuldgetrieben. Man setzt an der falschen Stelle an, wenn man fragt, welches der beiden Gefühle uns am besten motivieren sollte. Denn in den meisten Fällen gilt: Weder die Angst, sich schuldig zu machen, noch die Angst, beschämt zu werden, sollte bei der Motivation einer Person eine dominierende Rolle spielen. Motivation ist nicht der richtige Ort, um die Vor- und Nachteile von Scham- oder Schuldgefühlen zu diskutieren. Der Kurzschluss, dass es immer Scham- oder Schuldgefühle sind, die uns motivieren müssen, ist allerdings symptomatisch. Denn dahinter steht letztlich die Intuition, dass das, was sich in Scham- und Schuldgefühlen ausdrückt, eine wichtige Rolle bei unserer Motivation spielt. Und das stimmt ja auch. Denn in ihnen drückt sich unsere Wertschätzung für die Anerkennung anderer Menschen aus, und diese ist, wie wir in Kapitel 3 gesehen haben, mit unseren anderen Wertvorstellungen und mit unserer Motivation eng verwoben. Scham- und Schuldgefühle sind nur die deutlichste Manifestation unserer Wertschätzung für Anerkennung. Wenn man über keine Theorie der Anerkennung verfügt, aber die Bedeutung von Anerkennung für unser Verhalten dennoch hervorheben möchte, greift man zur offensichtlichsten Manifestation unserer Wertschätzung für Anerkennung. Der Fehlschluss liegt dann nahe, dass es Scham- und Schuldgefühle sind, die uns motivieren. Aber diese Konklusion ist falsch, denn sie impliziert, dass bei allen Handlungen die Angst vor Versagen dominiert. Manchmal aber verlockt uns auch die Aussicht auf Erfolg, auch und gerade dort, wo uns an der Anerkennung anderer liegt. Wenn man Scham- und Schuldgefühle miteinander vergleichen will, sollte man sich nicht fragen, welches von beiden besser geeignet ist, uns zu motivieren, denn keines von beiden ist wirklich geeignet, jemanden zu motivieren. Das Szenario, in dem man Scham- und Schuldgefühle miteinander vergleichen kann und soll, ist viel einfacher: Jemand hat einen Fehler gemacht, er hat sich, zum Beispiel, grausam verhalten. Er könnte jetzt sowohl mit Scham- als auch mit Schuldge-

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7 Scham versus Schuld

fühlen reagieren.Welches von beiden sollte man ihm wünschen? Welche Reaktion sollte er kultivieren? An dieser Stelle setzen die Überlegungen von Bernard Williams an. Für Williams verhelfen Schamgefühle einer Person zu einem Standpunkt, der gerade für moralische Selbstkritik unerlässlich ist. Schuldgefühle sind seiner Meinung nach als Grundlage moralischer Selbstkritik niemals ausreichend. Denn zum einen, so Williams, wird eine Person, die nur Schuld und keine Scham empfindet, niemals aus ihren Fehlern lernen. Denn um aus seinen eigenen Fehlern zu lernen, muss man sich fragen, warum man etwas getan hat, was diese Handlung über einen selber aussagt und wie man sich in Zukunft zu seinen eigenen Fehlern und Mängeln verhalten kann. Diese Fragen sind alle vollständig selbstbezogen, wer sie stellt, ist vollkommen bei sich, und das heißt, er schämt sich. Schuld dagegen bringt uns diesbezüglich überhaupt nicht weiter. Sie lässt uns bestenfalls etwas wiedergutmachen, und dadurch allein wird niemand zum besseren Menschen. Aber Williams vertritt noch eine weitergehende These über Schamgefühle. Moralische Kritik, wie wir sie kennen und praktizieren, setzt eine Disposition zu Schamgefühlen voraus: Unser moralisches Sprachspiel beruht in wesentlichen Teilen auf der Fähigkeit der Teilnehmer, Scham zu empfinden und nachzuvollziehen. Betrachten wir zunächst die erste These, also die These, dass Scham, anders als Schuld, der Ausgangspunkt für Selbstverbesserung ist.Williams geht dazu von einer Art Aufgabenverteilung zwischen Scham- und Schuldgefühlen aus. Die Frage „Was habe ich getan?“, so Williams, weist in zwei Richtungen: Man kann sie lesen als „Was habe ich angerichtet?“ und auch als „Wer bin ich, der ich so etwas getan habe?“ Die zweite Frage, so Williams, stellt man dann, wenn man sich schämt. Man könnte hier einwenden, dass es grundsätzlich auch möglich ist, sich schuldig für das zu fühlen, was man ist. Man kann sich schuldig für seine Homosexualität fühlen, weil man, wie wir gesehen haben, fürchten kann, seine Eltern zu enttäuschen. Williams geht stillschweigend davon aus, dass solche Schuldgefühle, wenn sie auch manchmal vorkommen, dennoch niemals angemessen sind und auch nicht kultiviert werden sollten: Niemand schuldet irgendeiner anderen Person, etwas zu sein. Und diese Annahme hat etwas für sich. Denn natürlich kann man enttäuscht über Entwicklung und den Lebensweg einer Person sein. Wenn das aber zu Schuldgefühlen führt, geht etwas schief. Denn welcher Art sind die Erwartungen, die jemand anerkennt, wenn er Schuld darüber empfindet, wer er ist? Es ist nicht nur Wohlwollen und Zuneigung, weil sich daraus keine Ansprüche ergeben, oder zumindest nicht diese Ansprüche. Die Person muss sich dem Anderen zugehörig

7.1 Einige Rehabilitationsversuche von Schamgefühlen

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fühlen, sie muss wünschen, auf ihn stolz sein zu können. Nur nimmt die Zugehörigkeit hier einen besonderen Charakter an. Indem sie zum Anlass von Forderungen wird, wer der Andere sein soll, wird sie besitzergreifend und leugnet die Eigenständigkeit und die Unabhängigkeit des Anderen. Er wird zum bloßen Statussymbol. Wenn mit Schuldgefühlen ebendiese Forderungen akzeptiert werden, sind sie unangemessen. Andere haben jedes Recht, enttäuscht über die Entwicklung und den Lebensweg einer Person zu sein, der sie sich zugehörig fühlen, aber sie haben deswegen kein Recht, nicht enttäuscht zu werden. Es ist also auf jeden Fall plausibel, wenn Williams Scham zum Ursprung der Selbstverbesserung erklärt. Denn Scham ist zwar nicht die einzige Einstellung, mit der wir unsere eigene Persönlichkeit kritisch überdenken, aber sie ist im Gegensatz zu Schuldgefühlen eine passende Weise, dies zu tun. Diese erste These von Williams dürfte wenig umstritten sein. Interessanter ist seine zweite These. Demnach beruht unser moralisches Sprachspiel auf der Fähigkeit der Teilnehmer, Schamgefühle zu empfinden und nachzuvollziehen. Was meint er damit?³ Williams setzt bei der Rolle an, die die Absichten einer Handlung für die moralische Kritik ebendieser Handlung spielen. Welche Absicht jemanden bei seinem Handeln leitete, ist in unseren Sprachspielen die vielleicht wichtigste Frage zur moralischen Bewertung der Handlung. Dieselbe Handlung ist in höherem Maße kritikwürdig, wenn sie aus niederen Motiven, zum Beispiel aus Grausamkeit, begangen wurde. Eine grausame Handlung wird in höherem Maße verabscheut. Aber mit der Frage, inwiefern etwas verabscheuungswürdig ist, sind wir, so Williams, im „Territorium der Scham“.⁴ Der Grundgedanke scheint hier zu sein: Wir bewerten Handlungen nach den Absichten, weil wir letztlich immer den Charakter bewerten. Aber den Charakter zu bewerten bedeutet, sich zu fragen, ob und inwiefern etwas beschämend ist. Insofern ist die Disposition zu Schamgefühlen grundlegend für unser moralisches Sprachspiel. „In fact, if we want to understand why it might be important for us to distinguish the harms we do voluntarily from those that we do involuntarily, we shall hope to succeed only if we ask what kinds of failing or inadequacy are the source of the harms, and what those failings mean in the context of our own and other people‘s lives. This is the territory of shame;“⁵

Es sind verschiedene Einwände gegen diese These von Williams denkbar. Ich möchte mich an dieser Stelle auf einen konzentrieren: Williams liegt falsch, wenn

3 Was folgt, ist nur ein Versuch, Williams Gedankengang aus seinen kurz angebundenen und teilweise aphoristischen Bemerkungen zu rekonstruieren. 4 Vgl. Williams, Shame and Necessity, S. 94. 5 Williams, Shame and Necessity, S. 94.

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7 Scham versus Schuld

er behauptet, die Absichten hinter einer Handlung seien nur aus einem einzigen Grund von moralischer Bedeutung, nämlich nur, insofern sie etwas über die Person und ihren Charakter aussagen. Gerade die Mutwilligkeit und die Grausamkeit einer Handlung kann einen auch dann stören, wenn man sich für den Charakter des Täters überhaupt nicht interessiert. Denn Böswilligkeit und Grausamkeit stellen etwas mit dem Anderen an. Sie können, anders als eine unabsichtliche Handlung, herabsetzend oder demütigend sein. Wenn man jemandem unabsichtlich auf die Füße tritt, verletzt man zwar sein Recht, nicht getreten zu werden, aber man setzt ihn nicht herab.Wüsste man, was man tut, ließe man es bleiben, und das heißt, man respektiert die Person, obwohl man ihr gerade in die Quere kommt.Wenn aber eine Person absichtlich oder sogar demonstrativ handelt, bekommt das Unrecht genau diese herabsetzende Eigenschaft. Denn erst wenn man mit böser Absicht handelt, entzieht man ihm mit dem eigenen Verhalten die Achtung, die er verdient. Diese herabsetzende und demütigende Eigenschaft hat die Handlung ganz unabhängig davon, was sie über die Person oder über den Charakter der Person aussagt. Wenn ein friedfertiger Mensch sich, vielleicht bis aufs Blut gereizt, zu einer boshaften Handlung hinreißen lässt, bleibt sein Verhalten immer noch herabsetzend. Wer sich über diese Herabsetzung erbost, wehrt sich dagegen, herabgesetzt zu werden. Er muss sich dazu nicht fragen, was für ein Mensch das eigentlich ist. Er muss nur wissen, was die Absicht des Anderen in dieser Situation ist. Was folgt daraus? Auf Böswilligkeit kann man, unabhängig davon, was für ein Charakter sich in ihr manifestiert, mit Aversion reagieren. Ebendieses Bewusstsein, etwas getan zu haben, worauf der Andere berechtigter Weise mit Aversion reagieren kann, charakterisiert aber Schuldgefühle. Deswegen können auch Schuldgefühle die Bosheit oder Grausamkeit einer Handlung zum Gegenstand haben. Williams’ Ehrenrettung des Schamgefühls gelingt also nur teilweise. Seine erste These ist überzeugend: Die Einstellung, die jemand einnimmt, wenn er sich schämt, ist tatsächlich ein wesentlicher Bestandteil unserer Selbstkritik, auch unserer moralischen Selbstkritik. Denn diese impliziert immer auch die Frage, was für eine Person man eigentlich ist und wer man sein möchte, und das ist nichts, was man irgendjemandem in irgendeinem nachvollziehbaren Sinn schuldet. Am Grund unserer moralischen Selbstverständigung liegt die wechselseitige Wertschätzung für die Person des Anderen und nicht bestimmte Ansprüche auf den Anderen. Aber die Absicht einer Handlung kann ganz unabhängig davon Aversion auf Seiten des Anderen heraufbeschwören, denn durch die Absicht kann eine Handlung herabsetzend oder sogar demütigend werden. Absichten können Gegenstand sowohl von Scham- als auch von Schuldgefühlen werden.

7.2 Das Unbehagen am Schuldgefühl

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7.2 Das Unbehagen am Schuldgefühl Williams’ Versuch, Schamgefühle als einen Standpunkt moralischer Selbstkritik zu rehabilitieren, gründet auch in seinem Misstrauen gegenüber Schuldgefühlen. Akzeptabel sind nach Williams nur einige Bestandteile von Schuldgefühlen. Akzeptabel sind sie, so Williams, insofern sie uns dem Opfer zuwenden, insofern sie unser Mitgefühl steigern und uns Verantwortung übernehmen lassen. Aber Williams sieht auch, dass Schuldgefühle oft noch ganz andere Formen annehmen. An einer Stelle spricht er spöttisch und mit wegwerfender Geste von Schuldgefühlen als einem Verlangen nach Strafe.⁶ Tatsächlich enthalten die meisten Schuldgefühle viel mehr als Empathie mit dem Opfer. Sie enthalten das Bewusstsein, dass Vergeltung oder zumindest Groll angemessen sind. Das hervorstechende Merkmal von Groll und Vergeltung hier ist die Reaktivität: Es ist der Umschlag guten Willens in Aversion. Der Andere verliert die Bereitschaft zu einem Verhältnis gegenseitiger Anerkennung. Er muss also nicht so sehr überzeugt werden, dass der Täter sich bessern und in Zukunft wieder zuverlässig sein wird. Er muss zuallererst versöhnt werden. Man muss ihm wieder die Lust auf Anerkennung machen, die ihm vorläufig vergangen ist. All das drückt sich in Schuldgefühlen aus, und deswegen gehen sie weit über bloße Empathie hinaus. Es liegt auf der Hand, warum gerade diese Bestandteile von Schuldgefühlen Unbehagen hervorrufen. Die Auffassung, dass Aversion gegen die eigene Person angemessen ist, wirkt schnell selbstquälerisch oder sogar selbstzerstörerisch. Man kann diese Bestandteile von Schuldgefühlen aber nicht verabschieden, ohne die damit verbundene moralische Praxis abzulehnen. Es stellt sich die Frage, ob das wirklich ratsam ist. Es seien deshalb hier einige Überlegungen angeführt, die vielleicht geeignet sind, das Misstrauen gegenüber jeder Reaktivität zu relativieren. Erstens ist es falsch, dass jede Art von Reaktivität unsere Schuldgefühle in ein Verlangen nach Strafe verwandelt. Es ist eine Sache, sich bewusst zu machen, dass man etwas getan hat, worauf man selber mit Vergeltung reagieren würde. Das heißt aber nicht, dass man sich diese Strafe wünscht. Es ist damit vereinbar, dass man versucht, den Anderen zu besänftigen und die Vergeltung abzuwenden. Einen Wunsch nach Strafe würde man dagegen eher mit Einstellungen wie Selbsthass in Verbindung bringen, und Schuldgefühle sind nicht dasselbe wie Selbsthass. Zweitens sollte man noch einmal betonen, dass Reaktivität nicht dasselbe ist wie Aggressivität. Sich verletzt und enttäuscht zurückzuziehen ist ebenfalls eine

6 Vgl. Williams, Shame and Necessity, S. 93.

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7 Scham versus Schuld

Form von Reaktivität, es ist eine mögliche Reaktion von Leuten, denen die Lust an einem Verhältnis gegenseitiger Anerkennung vergangen ist. Hier aber scheinen gerade die aggressiven Varianten den Vorteil zu haben, das Verhältnis wieder schneller zu bereinigen: Wenn eine Person sofort offensiv reagiert, ist die Sache für sie auch schneller erledigt. Dem Verletzten bleibt als Maß seiner Enttäuschung nur die Zeit. Nachtragend wird man vor allem dann, wenn man sich jede Art von Vergeltung versagt hat. Drittens sollte man pragmatischerweise in Betracht ziehen, wo der Verzicht auf Reaktivität aller Wahrscheinlichkeit nach endet. Niemand garantiert, dass man durch ihn alleine sanftmütiger wird. Genauso oft – oder öfter – kann man beobachten, wie Reaktivität mit Abscheu maskiert wird und sich zu einer Form hysterischer Geringschätzung steigert, die gar nicht gerechtfertigt ist: Liebend gern, heißt es dann, würden sie die Sache einfach übergehen und verzeihen. Aber der Andere sei nun einmal jeden weiteren Vertrauens unwürdig, und er habe sich ein für alle Mal als verroht erwiesen, er sei, wenn man es genau betrachte, gänzlich verkommen. Man ersetzt Vergeltung also nicht durch Vergebung, sondern durch Abscheu, und zwar auch da, wo der Charakter als ganzer keineswegs abscheulich ist. Ist das wirklich so viel besser? Am wichtigsten ist aber der vierte Punkt: Wir sind grundsätzlich frei, Anerkennungsbeziehungen einzugehen, mit wem wir wollen. Niemand ist zur Anerkennung verpflichtet. Unbestreitbar aber ist, dass Rücksichtslosigkeit oder sogar Bosheit die Lust auf Anerkennung erheblich dämpfen. In Schuldgefühlen drückt sich am Ende nichts anderes aus als das Bewusstsein dieser selbstverständlichen Tatsache. Gerade das macht sie nicht nur zu einer angemessenen Reaktion, sondern geradezu unvermeidlich. Am Ende ist über die Skepsis gegenüber Schuldgefühlen genau dasselbe zu sagen wie über die Skepsis gegenüber Schamgefühlen: Sie ist nur für manche Episoden dieser Gefühle gerechtfertigt, aber nicht für die Gefühle als solche. Manche, aber nicht alle Episoden von Schuldgefühlen sind selbstzerstörerisch. Selbstzerstörerisch ist es zum Beispiel, wenn die Person nicht nur glaubt, dass Strafe angemessen ist, sondern diese Strafe wünscht. Das mag vorkommen, aber es ist kein notwendiger Bestandteil von Schuldgefühlen. Wer Schuldgefühle für grundsätzlich angemessen hält, muss Einstellungen wie Groll und Empörung deswegen noch nicht verharmlosen. Die Tendenz, das zu tun, geht auf Peter Strawsons Aufsatz „Freedom and Resentment“ zurück. Strawson versucht seinem Leser die Idee nahezubringen, dass es geradezu ein Privileg sei, Gegenstand von Wut und Empörung zu werden. Mit Wut und Empörung zu reagieren, so Strawson, bedeute, den Anderen auf eine bestimmte Weise ernst zu nehmen. Denn unsere Nachsicht – und die Bereitschaft, diese Reaktionen zu suspendieren – gilt vor allem Kindern und Zurückgebliebenen, also

7.2 Das Unbehagen am Schuldgefühl

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Menschen, die wir nicht als vollkommen gleichrangig akzeptieren. Nur wer Gegenstand von Wut und Empörung werden kann, ist ein vollwertiges „Mitglied der moralischen Gemeinschaft“: „The partial withdrawal of goodwill which these attitudes (i. e. the attitudes of disapprobation, R.M.) entail, the modification they entail of the general demand that another should, if possible, be spared suffering, is, rather, the consequence of continuing to view him as a member of the moral community“.⁷

Insofern wären beide Reaktionen eine Art Auszeichnung. Es gibt mehrere mögliche Interpretationen dessen, was ein „Mitglied der moralischen Gemeinschaft“ ist. Aber keine von ihnen rechtfertigt Strawsons Behauptung. Nach einer möglichen Lesart wird man zum Mitglied der moralischen Gemeinschaft dann, wenn andere einen als autonomes Wesen, also als Wesen, das für seine Handlungen selber verantwortlich ist, behandeln. Dann lautete Strawsons These, dass Unrecht und Bosheit nur dann Wut und Empörung hervorrufen, wenn die empörte Person glaubt, es mit einem autonomen Wesen zu tun zu haben. Für die These spricht der Augenschein: Viele Menschen halten ihre Aversion im Zaum, wenn sie wissen, dass der Andere in seiner Selbstkontrolle stark beeinträchtigt ist. Und diese Reaktion scheint auch angemessen zu sein. Aber diesen zivilisatorischen Fortschritt verdanken wir unserer Fähigkeit, uns von diesen Gefühlen zu distanzieren. In den Gefühlen selber ist er keineswegs angelegt. Denn Wut und Empörung sind in erster Linie eine Reaktion auf Mutwilligkeit, Bosheit und Grausamkeit. Sie setzen Intentionalität auf Seiten des Anderen voraus, nicht Autonomie. ⁸ Intentionalität, also absichtliches Handeln, setzen sie voraus, weil diese Reaktionen tatsächlich nur handelnden Wesen gelten. Man reagiert nicht wütend auf den Tsunami, und wenn man es doch tut, ist es nur eine vorübergehende Anwandlung. In diesem Sinn hat es eine gewisse Plausibilität, wenn man behauptet, wir unterschieden in unseren Reaktionen zwischen handelnden Wesen und bloßen Naturereignissen. Doch nicht alle handelnden Wesen sind autonome Wesen. Dafür, dass Wut und Aversion grundsätzlich nur autonomen Wesen gilt, spricht nicht viel. Sie gelten zuerst und vor allem dem Mutwillen und der Grausamkeit des Anderen. Um grausam zu sein, muss man aber nur ein handelndes Wesen sein. Man muss sich und vor allem seine Grausamkeit aber nicht unter Kontrolle haben, das heißt, man muss kein autonomes Wesen sein.

7 Strawson, „Freedom and Resentment“, S. 77. 8 Butler ist näher an der Wahrheit, wenn er schreibt, Wut sei eine Reaktion auf „wickedness in general“ (Butler, „Upon Resentment“, S. 91).

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7 Scham versus Schuld

So ist es nicht überraschend, dass manchen die Autonomie des Täters nicht besonders wichtig ist.Wie sonst wollte man erklären, dass es auch Menschen gibt, die der Hinrichtung geistig Zurückgebliebener durchaus mit Befriedigung beiwohnen? Es ist eine Sache, in diesem Verhalten Verrohung zu erkennen. Eine andere ist es, dem Verrohten zu unterstellen, er wisse nicht, dass Personen, die nicht autonom sind, nicht autonom sind. Es gibt aber noch eine zweite Lesart von Strawsons Behauptung, man behandle Personen, wenn man sie zum Gegenstand der eigenen Wut und Empörung mache, als Mitglied der moralischen Gemeinschaft. Nach dieser zweiten Lesart sind Wut und Empörung immer enttäuschtes Wohlwollen, und vor allem ein enttäuschtes Verlangen nach Wohlwollen. Mit Wut und Empörung reagiert man nur, wenn man Rücksichtnahme vom Anderen erwartet und wenn er einem in diesem Sinn etwas bedeutet. Strawson selber interpretiert die Disposition zu solchen Gefühlen in dieser Weise und stellt ihr eine klinische, distanzierte Einstellung gegenüber, die wir einnehmen, wenn wir mit jemandem nichts weiter zu tun haben wollen.⁹ Insofern ist die Disposition zu diesen Gefühlen ein besonderer Ausdruck der Wertschätzung. Soviel kann man Strawson auf jeden Fall zugestehen: Je mehr einem an der Rücksichtnahme und dem Wohlwollen des Anderen liegt, desto leichter wird man verletzt und desto eher wird man mit Wut und Empörung reagieren.¹⁰ Aber daraus folgt noch nicht, dass sich in gesteigerter Wut und Empörung Wertschätzung ausdrückt, und es folgt auch nicht, dass der Adressat dieser Gefühle immer als Mitglied der moralischen Gemeinschaft betrachtet wird. Denn der Zusammenhang besagt lediglich, dass man manche Formen von Abneigung nur dort empfindet,wo man früher einmal eine bestimmte Wertschätzung empfand. Dass aber bestimmte Aversionen nur aus Wertschätzung entstehen, heißt noch nicht, dass diese Aversionen Wertschätzung sind. Eine Einstellung ist nie identisch mit ihrer Vorgeschichte. Spätestens da, wo die Wut in Vernichtungswillen umschlägt, ist es absurd, sie als eine Form der Wertschätzung zu interpretieren. Vernichtungswille behandelt seinen Gegenstand nicht als „Mitglied der moralischen Gemeinschaft“, sondern er stößt ihn aus. Strawson behauptet nicht, dass Vernichtungswille als Auszeichnung zu verstehen ist. Er drückt sich vorsichtig aus, wenn er in der zitierten Stelle von der Verminderung, nicht der vollständigen Aufgabe unseres guten Willens im Umgang

9 Vgl. Strawson, „Freedom and Resentment“, S. 68. Strawson, „Freedom and Resentment“, S. 63. 10 Das ist nicht dasselbe wie die These, dass wir nur auf jene Menschen mit Wut und Empörung reagieren, an deren Wohlwollen uns liegt. Mir erscheint diese These zweifelhaft, aber darauf kommt es hier nicht an.

7.3 Scham- und Schuldgefühle

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mit Straftätern spricht. Aber diese Einschränkung seinerseits ändert nichts an dem wesentlichen Punkt: Jemanden als Mitglied der moralischen Gemeinschaft zu behandeln äußert sich immer in der Bereitschaft, die eigene Aversion zu mäßigen. Es äußert sich nicht in der Aversion als solcher. Aversion ist nur dann eine Form von Wertschätzung, wenn sie Wohlwollen nicht nur kausal voraussetzt, sondern nach wie vor mit ihm verbunden ist. Vor allem, solange man bereit ist, Gesten der Wiedergutmachung zu akzeptieren, drückt sich in der Haltung nach wie vor eine Erwartung von Wohlwollen und, letzten Endes, eine Bereitschaft zu gegenseitiger Anerkennung aus. Aber das tut sie nur,weil man trotz der Aversion, die man hegt, noch Rücksicht walten lässt. Die Wertschätzung steckt nicht in der Aversion.

7.3 Scham- und Schuldgefühle Scham- und Schuldgefühle sind moralische Gefühle. Die Disposition zu diesen Gefühlen ist eine wesentliche Voraussetzung zur Teilnahme am moralischen Sprachspiel. Beide können dieselben Gegenstände haben. Und gerade deswegen können beide Gefühle sich in die Quere kommen. Sie sind kein eingespieltes Team. Schuld ist nicht ausschließlich auf das Opfer bezogen. Es ist durchaus eine selbstbezogene Einstellung: „Ich darf mich nicht beklagen, wenn andere wütend, erbost und einfach nur verletzt sind.“ Schuld konfrontiert den Täter mit dem Groll, den seine Handlung und seine Motive verdienen. Aber Schuld sieht dabei tatsächlich vom Charakter ab. Bei Schuld geht es nicht um die Frage, was etwa Grausamkeit über die eigene Person aussagt, sondern worauf man sich angesichts der eigenen Grausamkeit gefasst machen sollte. Schuld ist selbstbezogen, ohne charakterbezogen zu sein. Gerade deswegen kann Schuld den Blick einer Person auf sich selber verstellen und die Selbstverbesserung blockieren. Manchmal ist es ein Fortschritt, wenn jemand, der etwas falsch gemacht hat, beginnt, sich zu schämen. Die Kritiker des Schuldgefühls wie Williams haben Recht, wenn sie argumentieren, dass sich auf Schuldgefühlen alleine kein moralisches Selbstverständnis aufbauen lässt. Auf der anderen Seite hat es keinen Sinn, Schuldgefühle zu verteufeln. Dazu müsste man auf einen großen Teil unserer moralischen Praxis verzichten. Es ist nicht klar, ob das ein Fortschritt wäre.

8 Schluss Eine philosophische Analyse von Gefühlen ist eine komplexe und einigermaßen verschlungene Angelegenheit. Anstelle allgemeiner methodologischer Aussagen sei deswegen zum Abschluss der Gedankengang aus dem Kapitel über Schamgefühle rekapituliert, um den Stellenwert der hier verteidigten Thesen noch einmal zu verdeutlichen. Am Anfang stehen ein paar lose begriffliche Wahrheiten, die auf ziemlich sicheren Füßen stehen, aber auch nicht sehr aussagekräftig sind.Wenn es so etwas wie notwendig wahre Sätze geben sollte, sind diese gute Kandidaten dafür. Zu diesen sehr gut abgesicherten Thesen gehört etwa die Aussage, dass es unmöglich ist, sich dafür zu schämen, dass Kraft gleich Masse mal Beschleunigung ist.Wenn jemand behaupten würde, bei ihm wäre es so, könnten wir ihm keinen Glauben schenken oder wir müssten annehmen, dass er kein kompetenter Sprecher ist. Denn so verwenden wir den Ausdruck „Scham“ nicht. Wer es dennoch tut, redet Nonsens. Schämen kann man sich aus begrifflichen Gründen nur für etwas, das mit einem selber zu tun hat. Selbst jemand, der glaubt, er sei Gott und das zweite Newtonsche Gesetz sei ihm auf besonders peinliche Weise missraten, müsste sich dafür schämen, dass er es geschaffen hat, und nicht dafür, dass es existiert. Diese begrifflichen Wahrheiten führen aber nicht sehr weit. Die meisten davon habe ich stillschweigend vorausgesetzt. Die eigentliche Arbeit beginnt erst danach. Das Material, mit dem man dann arbeiten kann, ist zweierlei Art. Zum einen gibt es eine Vielzahl von Schlüsselszenarien, in denen Scham eine selbstverständliche Reaktion ist. Zum anderen gibt es verwandte, aber von Schamgefühlen deutlich unterschiedene Einstellungen wie Schuldgefühle, Selbstzerknirschung, Frustration oder die Enttäuschung über unrechtmäßig entzogene Wertschätzung. Die Herausforderung besteht hier darin, eine Analyse von Schamgefühlen zu finden, die eine kohärente Interpretation aller Szenarien erlaubt und die zugleich den Unterschied zu den anderen, verwandten Einstellungen markiert. Diese Anforderungen erlauben eine produktive Auseinandersetzung mit anderen Analysen. Viele scheitern bei dem Versuch, eine plausible Analyse für alle Szenarien zu liefern, andere versuchen gar nicht, Schamgefühle von verwandten Einstellungen abzugrenzen. So ergeben sich Schritt für Schritt die Thesen zum Gehalt von Schamgefühlen. Der Tenor der Argumentation lautet dabei immer: These XY zum Gehalt von Schamgefühlen ist besser mit den hier formulierten Anforderungen vereinbar als die Ansätze anderer Autoren. Er lautet dabei wohlgemerkt nicht: These XY ist die einzig denkbare These, die mit den vorgegebenen Anforderungen vereinbar ist. In ihrem Status sind die hier vertretenen Thesen weit entfernt von der Gewissheit, mit der wir behaupten können, es sei unmöglich, sich für das zweite Newtonsche Gesetz zu schämen. Wäre es anders, müssten alle

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konkurrierenden Analysen genauso absurd erscheinen wie die Vorstellung von jemandem, der bei dem Gedanken an ein physikalisches Gesetz rot wird. Das ist – bei aller Kritik an den Positionen anderer Autoren – nicht der Fall. In Auseinandersetzung mit anderen Analysen wird hier die These vertreten, dass Schamgefühle mit der Erfahrung des Verlusts der eigenen Autorität zusammenhängen oder zumindest mit der Sorge um den Verlust der eigenen Autorität. Man kann diese Vorstellung von Autoritätsverlust zunächst sehr weit fassen, nämlich als die Sorge, dass die eigene, noch nicht enger bestimmte Wertschätzung für andere an Wert verliert. Erst im letzten Schritt wird dann argumentiert, dass es sich bei dieser Wertschätzung um Anerkennung handeln muss. Sieht man einmal davon ab, dass man die vorgetragenen Argumente mehr oder weniger schlüssig finden kann, gibt es mindestens zwei Stellen in diesem Gedankengang, die auch bei größerer Stringenz immer Raum für Meinungsverschiedenheiten lassen werden. Da ist zum einen das Plädoyer für die beste verfügbare (und eben nicht für die einzig denkbare) Analyse, die immer Raum für einen Gegenvorschlag lässt. Zum anderen wird man immer über die Auswahl der Schlüsselszenarien streiten können, also jener Szenarien, in denen man verständlicherweise mit Schamgefühlen reagieren würde. Diese Szenarien sind weder historisch noch kulturell neutral. Sie sind so gewählt, dass Mitglieder der westlichen Kulturgemeinschaft im 21. Jahrhundert sie nachvollziehen können. Davon, dass Schamhaftigkeit mal eine Tugend war oder dass es Institutionen wie den Pranger gab, ist nicht die Rede. Und es geht zwar um Scham, aber nicht um Schande. Damit ist die Begrenztheit der Analyse zwar noch nicht erwiesen – es gibt prima facie keinen Grund, anzunehmen, dass der Ansatz, so, wie er dasteht, sich nicht auch auf andere Kulturen übertragen oder zumindest für diese erweitern ließe. Nur müsste das erst gezeigt werden, und hier wird es nicht gezeigt. Die Analyse schließt Scham- und Schuldgefühle, wie sie in anderen Kulturen vorkommen, nicht von vornherein aus. Sie interessiert sich nur nicht dafür. Tatsächlich ist gerade diese Kultur, was Scham- und Schuldgefühle betrifft, eminent interessant. Diese Gefühle haben hier ein besonderes Ausmaß an Differenziertheit und innerer Komplexität erreicht, das sie besonders rätselhaft erscheinen lässt. Obwohl wir in vielen Bereichen weniger Hemmungen zeigen als noch vor einigen Jahrzehnten, leben wir sicher nicht in seiner schamlosen Kultur. Wir haben gelernt, uns ohne zu zögern vor einem Arzt zu entkleiden, aber sobald man sich mit diesem Arzt zum Abendessen verabredet, wird man seine Blöße durchaus bedecken. Wir analysieren in kulturwissenschaftlichen Seminaren Pornofilme, ohne rot zu werden, und tragen dabei mausgraue Kostüme und Rollkragenpullover. Wir besuchen ohne zu zögern einen FKK-Strand und wissen, dass ein bestimmter Blick, nur weil er möglich ist, dadurch nicht akzeptabel wird.

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Wir sprechen frei über unsere Schwächen, aber wir machen das bevorzugt aus einer Position der Stärke heraus, und sei es nur die Stärke, die man dadurch beansprucht, dass man frei über seine Schwächen redet. Es sind diese fast aberwitzigen emotionalen Volten, die dieses Gefühl zu einem interessanten Gegenstand der Untersuchung machen, und zwar unabhängig davon, welche Ausprägungen es in anderen Kulturen erfährt. Der andere notgedrungen umstrittene Punkt ist die Analyse von Schamgefühlen als das Bewusstsein verlorener oder bedrohter Autorität. Es ist ein Vorschlag, das so oft beschworene Gefühl von Machtlosigkeit zu artikulieren, das mit Schamgefühlen einhergeht. Seine Überzeugungskraft lebt nicht nur davon, dass er den angegebenen Schlüsselszenarien gerecht wird und außerdem eine sinnvolle Abgrenzung von anderen Einstellungen wie Selbstzerknirschung oder Schuldgefühlen ermöglicht. Es ist auch ein Artikulationsangebot, das man mehr oder weniger plausibel finden kann. Wer dieses Angebot plausibel findet, kann sich darin wiederfinden. Dazu muss man nicht die Elemente des Vorschlages in identischer Form im eigenen Gefühlshaushalt wiederfinden. Es ist zum Teil eine Explikation – es werden also Voraussetzungen von Überzeugungen aufgezeigt, die man bereits hatte. Es ist aber auch ein Vorschlag für eine Konkretisierung vager Vorstellungen, also das, was Bernard Williams das Finden von konstitutiven Lösungen genannt hat.¹ Jemand möchte einen unterhaltsamen Abend verbringen, so sein Beispiel, kann sich aber darunter noch nichts vorstellen. Also entschließt er sich zu einer Art Brainstorming und spielt unterschiedliche Szenarien durch. Wenn er sich dann schließlich für ein konkretes Projekt entscheidet, ist die Beziehung zwischen dem ursprünglichen, vagen Wunsch und der Umsetzung keine Kette logischer Schlüsse, sondern eher eine Verdichtung einer unbestimmten Vorstellung, die durchaus auch einen anderen Weg hätte nehmen können. Sie ist deswegen nicht willkürlich – es bleibt Raum für Selbstmissverständnisse, die spätestens dann zu Tage treten, wenn die Person sich gegen ihre Erwartung doch nicht amüsieren wird. Sie bleibt außerdem immer offen für andere, bessere Vorschläge. Diese Analyse von Scham- und Schuldgefühlen ist in weiten Teilen genauso ein Finden von konstitutiven Lösungen. Die Grundlage bilden ein geteiltes emotionales Vokabular und geteilte emotionale Erfahrungen. Die Gemeinsamkeiten sind hier größer als bei dem, was sich jeder unter einem unterhaltsamen Abend vorstellen kann (obwohl auch diese Vorstellungen sich natürlich an allgemein verbreiteten Beispielen orientieren). Es sind weder begriffliche Wahrheiten im engeren Sinne, noch sind es psychologische Einzelaussagen. Sie haben einen

1 Vgl. Williams, „Internal and External Reasons“, S. 104.

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Anspruch auf Allgemeinheit, wie ein Angebot, das sich an alle richtet, einen Anspruch auf Allgemeinheit hat. Sie erheben denselben Anspruch auf Nachvollziehbarkeit wie die beispielhafte Darstellung eines Gefühls in einem Roman, der für alle unverständlich bliebe, wenn er nicht das Reservoir geteilter Erfahrungen anzapfen würde. Man kann, im Wesentlichen, auf drei Weisen auf dieses Angebot reagieren. Man kann es annehmen. Man kann es ablehnen. Und man kann ein neues, besseres Angebot ins Spiel bringen.

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Namenregister Axelrod, Robert 34 Bubner, Rüdiger 22 Butler, Joseph 113 Calhoun, Cheshire 69 f., 72 – 74, 88 Castaneda, Hector-Neri 19 Castiglione, Baldassare 10 Darwall, Stephen 36, 37, 53 f. Deigh, John 54, 67, 79 Demmerling, Christoph 14, 93 – 95 Dorner, Maximilian 79 Dostojewski, Fjodor 61 Duerr, Hans Peter 85 Elster, Jon 5 f., 44 – 47 Frankfurt, Harry 49 f.

Perry, John 19 Piers, Gerhart 67, 88, 92 f., 105 – 107 Plessner, Helmuth 20 f. Rawls, John 54, 56, 59, 67, 69, 92 Ricœur, Paul 22 Roberts, Robert C. 13 Sartre, Jean Paul 66, 81 f., 88 Scanlon, Thomas 99 – 101, 105 Scheler, Max 11, 67, 69, 75, 84 – 86, 88 Schüttauf, Konrad 67, 70, 88 Scruton, Roger 84 f. Seidler, Günter H. 67, 81 Siep, Ludwig 29 Singer, Milton 67, 92 f., 106 Specht, Ernst Konrad 67, 70, 88 Stocker, Michael 67 Stoecker, Ralf 61, 65 Strawson, Peter 33, 98, 112 – 114

Griffiths, Paul E. 13 Habermas, Jürgen 29, 35, 99 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 48 Hegeman, Elizabeth 67 Honneth, Axel 21 f., 29, 54, 59 f., 99 Hume, David 40 Landweer, Hilge 14, 30, 67, 76, 78, 88, 93 – 95 Mann, Thomas 22, 61, 63, 68 Mead, George Herbert 57, 99 Morris, Herbert 92 f. Nagel, Thomas 82 Nussbaum, Martha 13

Taylor, Charles 29, 35 Taylor, Gabriele 54, 67, 70 – 72, 74, 84 f., 88 f. Thomas, Laurence 54 Tugendhat, Ernst 59 Velleman, J.David 67, 83 f., 88 Veyne, Paul 47 Wachenhausen, Gabriela 67, 70, 88 Wallace, R. Jay 91 Williams, Bernard 15 f., 27, 43, 58, 69, 94, 103 – 105, 108 – 111, 115, 118 Wurmser, Leon 67, 75, 78, 85, 88, 106

Sachregister Altruismus 18 – 20 – Altruismus und Indexikalität 18 Anerkennung 28 – 43, 44 – 51, 75 – 77, 103 – 104 – Adressat von Anerkennung 35 – Anerkennung als Nebenprodukt 44 – Gegenstand von Anerkennung 35, 36 f. – Streben nach Anerkennung 44 f. – Vollendete Anerkennung 41 f. Autonomie 44, 66, 69, 74, 113, 114, siehe auch Selbständigkeit Autorität 30, 46, 51, 53, 66 ff., 103 Aversion 91, 98, 110 f., 113 – 115 Dankbarkeit 23 – 25, 45, 96 Demütigung 61 – 65 Empörung 50 f., 91, 104, 112 – 114 Fest 22 Flummi 27 Gabe 22 Geste 20 – 22 Groll 33, 91, 111 f., 115 Ideal 92, 94, 99, 106 Identität 93 f., 96 Kompliment 15 – 28, 44, 46 – Angemessenheit des Kompliments 24 – Komplimente machen 16, 22 – Wert von Komplimenten 16 Minderwertigkeitsgefühle 106 Moralische Ordnung 95, 101 Nacktheit 84 – 87, 90 Peinlichkeit 77

Reaktivität 111 f. Regel 92, 94 Schädigung 97 f. Schamgefühl 66 – 90, 92 f., 105 f., 115 f., 116 – 118 – Scham als Schutz von Intimität 84 – Scham angesichts eines Makels 68 – Schamangst 78 f. – Situationsbezogene Scham 78, 82 Schuldgefühl 91 – 112, 115 – 116 – Dynamik von Schuldgefühlen 99, 102 Selbstachtung 52 – 61, 64 – 66, 87, 102 – Formen der Selbstachtung 52 f., 55 Selbständigkeit 15, 45 – 47, siehe auch Autonomie Selbstbezogenheit 20 – 25, 26 f., 32 f., 41 – sozialisierte Selbstbezogenheit 26 Stolz 39 – 41, 64 Threshold morality 92, 94 Vergebung 100, 104, 112 Vergegenwärtigung 20 – 22 Vergeltung 97, 105, 111 f. Verlegenheit 77, 83 Vertrauen 49, 57, 101, 112 Wertschätzung 15 f., 19 – 25, 27 f., 29 – 33, 49 f., 52 – 55, 58, 60 – 62 – Handeln für andere 48 Werturteile 12, 14, 16, 19, 24, 26, 49 – indexikalisch strukturierte Werturteile 19, 20 Wiedergutmachung 93 – 95, 97, 100 – 102, 104 Wohlwollen 17 – 19, 21, 23, 25, 27 f., 53