Verständnis von Täterschaft im Kontext von Krieg und Flucht: Zwischen gesellschaftlicher Verantwortung und individueller Schuld [1 ed.] 9783666406300, 9783525406304


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Verständnis von Täterschaft im Kontext von Krieg und Flucht: Zwischen gesellschaftlicher Verantwortung und individueller Schuld [1 ed.]
 9783666406300, 9783525406304

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Sladjana Kosijer-Kappenberg

Verständnis von Täterschaft im Kontext von Krieg und Flucht Zwischen gesellschaftlicher Verantwortung und individueller Schuld

Geflüchtete Menschen psychosozial unterstützen und begleiten Herausgegeben von Maximiliane Brandmaier Barbara Bräutigam Silke Birgitta Gahleitner Dorothea Zimmermann

Sladjana Kosijer-Kappenberg

Verständnis von Täterschaft im Kontext von Krieg und Flucht Zwischen gesellschaftlicher Verantwortung und individueller Schuld

Mit einer Abbildung

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar. © 2018, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Nadine Scherer Redaktion: Ilona Oestreich Satz und Layout: SchwabScantechnik, Göttingen Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2625-6436 ISBN 978-3-666-40630-0

Inhalt

Geleitwort der Reihenherausgeberinnen . . . . . . . . . 7 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 1 Gewalt und Täterforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 1.1 Die Illusion des »puren Bösen« . . . . . . . . . . 17 1.2 Täterforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 1.3 In diesem Band . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 2 Schleichende Eskalation und Gehorsamkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 3 Die Wege der Gewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 3.1 Ausbeutung, Raublust und Ehrgeiz – die Wiege des Neides und Lust auf mehr . . 37 3.2 Rache – die Suche nach der verlorenen ­Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 3.3 Dominanz – der Weg zu Macht und Kontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 3.4 Ideologie – die Suche nach dem idealen Wir und die absolute Macht . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 3.5 Sadismus – die Quelle des Bösen . . . . . . . . . 61 3.6 Die fremden Gründe – erzwungene Taten und Missbrauch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 4 Die Wege und Umwege der Schuld . . . . . . . . . . . 73 4.1 Moralisierungslücke und kognitive Dissonanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 4.2 Rationalisierung der Schuld . . . . . . . . . . . . . 79

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Inhalt

4.3 Euphemismus und Bagatellisierung . . . . . . 81 4.4 Herabwürdigung, Dehumanisierung und Dämonisierung der Opfer . . . . . . . . . . . 83 4.5 Verdrängung, Delegation und Diffusion der Verantwortung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 4.6 Das Leben mit der Schuld . . . . . . . . . . . . . . . 87 5 Symptomatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 5.1 Fremdgefährdung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 5.2 Suizidalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 5.3 PTBS aus Täter-Opfer-Perspektive . . . . . . . 98 6 Begegnung mit den Kriegstätern im professionellen Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 7 Zwischen gesellschaftlicher Verantwortung und individueller Schuld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113

Geleitwort der Reihenherausgeberinnen

Als Hannah Arendt 1963 ihre Überlegungen zu »Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht von der Banalität des Bösen« publizierte, löste sie damit Entsetzen und Empörung aus. Ihre Beobachtung, dass der vielfache Massenmörder als psychisch normal anzusehen ist, jedoch sein Gewissen an Vorgesetzte abgegeben hatte und es sich bei ihm keineswegs um ein erkennbares Ungeheuer handelt, bis hin zu Überlegungen abgestufter Verantwortlichkeiten in verschiedenen Opfer- und Täterkonstellationen, sprengte eindeutig den Rahmen des damaligen kollektiven Bewusstseins. Die Aufforderung Hannah Arendts, dass auch unter der totalitären Herrschaft die Machtverhältnisse genau zu analysieren sind, wurde als gefühlskalt, anmaßend und ­arrogant angegriffen. Sladjana Kosijer-Kappenberg nimmt diesen Faden in ihrem Buch auf. »Das Interesse an den bösen Seiten menschlichen Daseins und daran, wie vor allem aus ganz normalen Menschen unter spezifischen gesellschaftlichen Umständen leicht Täter werden können« (S. 20) führt sie zu einer komplexen Betrachtung »über die psycho­ logischen Kosten des Tötens« (S. 24). Die Betrachtungen helfen uns zu verstehen, welche Wege es in die Gewalttaten gibt und dass die Ursachen der Gewalt sowohl individuell als auch strukturell geprägt sind. Vor allem aber eröffnet Sladjana Kosijer-Kappenberg einen Weg in das Verstehen: Z. B. wie es sich anfühlen kann, »an der vordersten Linie zu kämpfen, über die Minen­felder zu gehen, die Überlebenden zu töten und verschiedene andere Grausamkeiten durchzuführen« (S. 24).

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Geleitwort der Reihenherausgeberinnen

Die Beteiligung an Gewalttaten führt zu einer, wie sie sagt, geschichteten inneren Topografie von Schuld und daraus resultierender Scham (S. 74). Die Fähigkeit und Bereitschaft psychosozialer Fachkräfte, sich mit diesen Themen zu befassen, für sie offen zu sein, sie aufzunehmen und zu vertiefen prägt die Möglichkeiten und Chancen für Zurückgekehrte, wieder zurück ins Leben und ein kon­ struktives Dasein zu finden, das sich jenseits der vergangenen Erfahrungen befindet. Dadurch können sie selbst, die Gesellschaft und die folgende Generationen Entlastung finden. Silke Birgitta Gahleitner Dorothea Zimmermann Barbara Bräutigam Maximiliane Brandmaier

Einleitung »[T]he root of our failure to deal with violence lies in our refusal to face up to it. We deny our fascination with the ›dark beauty of violence‹, and we condemn ­aggression and repress it rather than look at it squarely and try to u ­ nderstand and control it.« (Bruno Bettelheim zit. nach Grossman, 2009, S. xxxiii)

Der Krieg ist ein bitteres Macht- und Tötungsgeschäft, dessen Hinterlassenschaft in einem langen und aufreibenden Ringen gegen die Tabuisierung der Täterschaft und gegen die Ohnmacht der Opfer besteht. Die Suche nach den psychologischen und gesellschaftlichen Ursachen von Täterschaft gestaltete sich weltweit mühsam, wie bei jedem anderen Kampf, der ein Tabu zum Gegner hat. Da aber kein anderer Weg abzusehen ist, um die Zahl der Opfer je zu mindern, als durch die furchtlose Begegnung mit der bösen Seite des Menschen, bleibt nur die fortwährende Suche nach einer Erklärung dafür, wie das Erwachen des kriegerischen Leviathan in einer Gesellschaft und in einer Person erkannt und verhindert werden kann. Die meisten Menschen möchten keinesfalls in einen gewalttätigen Konflikt hineingezogen werden, in dem sie töten müssen, ohne dies moralisch sich selbst und der Umgebung gegenüber vertreten zu können. Anfangs werden sie, ohne zu ahnen, was auf sie zukommt, durch Kämpfen und Töten unwiderruflich und grundlegend verändert. Ihr Zerrbild des Selbst wird kontinuierlich umgeformt und der eigenen Motivation zum Töten angepasst. Diese wird zunehmend davon abhängen, auf welcher Seite des Konfliktes sich die Kriegsbeteiligten und Täter selbst sehen. Und so verzerrt sich – schon vom ersten Aufscheinen des gewaltsamen Konfliktes am jeweiligen historischen Horizont an – schleichend die Realität bei allen Beteiligten. Allmäh-

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Einleitung

lich entsteht daraus die eigene Binnenwelt, mit eigenen Regeln und eigenem Wertesystem. Bei dem Versuch, die psychologischen Hintergründe des Geschehens zu verstehen, rückt unausweichlich die Tatsache in den Vordergrund, dass die meisten Menschen nie ohne extremen und konstruierten sozialen und politischen Kontext Kriegs­täter geworden wären und nie außerhalb dieses Rahmens je Täter sein würden. Dennoch ist die individuelle Verschuldung immer das, wofür sie sich verantworten müssten und verantworten sollten. Die Kämpfer und Täter treffen in den eigenen oder in anderen Ländern auf Professionelle in Beratung und Therapie und auf all jene Anderen, die die Kriegsbeteiligungsgeschichten hören, bezeugen oder verfolgen und die sie auch – zunächst stark – nach eigener moralischer Einschätzung des Konfliktes wahrnehmen und beurteilen. Zeitweilig benebelt von dem, was das jeweilige Gegenüber emotional und moralisch individuell ertragen kann, können sich beide Seiten dieser Begegnungen gegenseitig blenden und die Wahrheit, positiv wie negativ, verfälschen. Unabhängig davon, ob der Kriegsbeteiligte ein Held oder Abenteurer, Dieb, Krimineller, Warlord, Soldat, eine martialische Tötungsmaschine, ein Vergewaltiger oder nur der Verteidiger seines Ortes, seines Volkes, seines Landes oder seiner politischen Überzeugung, ein Mitläufer oder ein ideologisch geprägter Fanatiker war oder einer, der fremde Kriege geführt hat, stehen unzählige intime Geschichten dahinter. Geschichten, die sie sich selbst und den Anderen meist kaum eingestehen wollen oder überhaupt können. Hinter der Fassade massiver Rationalisierungen der Verantwortung für die eigenen Taten finden wir nicht selten ein breites Geflecht von Scham, Schuld, Schmerz, Hass oder Selbsthass und -vorwürfen, die so abgründig tief die Grundlage der eigenen Menschlichkeit infrage stellen, dass sich viele nicht trauen, es anzusehen.

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Und falls doch, dann nur in kleinen Schritten, wenn sie sich bereit genug dafür fühlen, den eigenen inneren emotionalen Druck auszuhalten. Und die Umgebung ihnen den Raum dafür ermöglicht. Es gibt keine einfachen Antworten auf die Frage, wie ganz normale Menschen in äußerst prekären sozialen, gewaltförmigen und widersprüchlichen gesellschaftlichen Kontexten selbst zum Täter oder zur Täterin werden. Beschäftigt man sich mit diesem Thema, so entstehen eher viel mehr neue Fragen, als auf Basis des derzeitigen Wissensstandes Antworten gefunden werden. Und so ist dieser Band ein Kompositum sowohl von wissenschaftlichen Bemühungen, dieses Phänomen zu enträtseln, als auch von eigenen Überlegungen darüber, von Eindrücken und Beobachtungen der Patienten, die ich früher behandelt habe oder die mir von Supervisandinnen bzw. Supervisanden und Kolleginnen bzw. Kollegen vorgestellt wurden, oder jener, die ich in Fachbüchern beschrieben fand. Von 1994 bis 2006 war ich überwiegend als Psychotherapeutin und Gutachterin von Geflüchteten aus dem ehemaligen Jugoslawien tätig, später auch als Therapeutin von Soldaten, die in anderen Ländern gedient haben, sowie als Supervisorin verschiedener psychosozialer Zentren, die mit nach Deutschland Geflüchteten aus allen Teilen der Welt arbeiten. Muttersprachlich bedingt, wechselten sich damals in meiner Praxis und während der Beratungsstunden alle damals verfeindeten Nationalitäten und Minderheiten aus dem ehemaligen Jugoslawien ab, die sich etwas mehr als tausend Kilometer entfernt im Süden bekämpft und gegenseitig traumatisiert hatten. Die Frauen aller Nationalitäten berichteten über ihre erlebten Vergewaltigungen. Muslime erzählten von ihrer Gefangenschaft und erlittenen Folterungen in serbischen oder kroatischen Lagern. Kroaten, die von Muslimen und Serben schwerst traumatisiert waren, sprachen von ihren Erleb-

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Einleitung

nissen, ebenso Serben, Albaner und Roma, die ebenfalls durch die Anderen enormes Leid erfahren mussten. Alle hatten in den verschiedenen Phasen des Krieges irgendwann Angst voreinander gehabt, alle verfluchten und bekämpften die je Anderen, und am Ende flüchteten alle, die konnten, voreinander. Zunächst auf die Opfer des Krieges fokussiert und überwältigt von den Grausamkeiten, die ich regelmäßig zu hören bekam, war ich ebenso wie die anderen Kolleginnen bzw. Kollegen, mit denen ich damals eng zusammenarbeitete, weit entfernt von einer Aufmerksamkeit für die Täter – bis die ersten Soldaten und anderen Kämpfer ihre Scham, darüber zu sprechen, überwunden hatten und sich allmählich trauten, nicht nur ihre Opfererfahrungen, sondern auch ihre Teilnahme am Krieg aus der anderen Perspektive zu betrachten. Da ich buchstäblich von allen Nationalitäten, mit denen ich im Kontakt war, die jeweilige individuelle Täterseite zu hören bekam, werden alle in diesem Buch wiedergegebenen persön­lichen Geschichten konsequent anonymisiert, sowohl namentlich als auch bezüglich ihrer Nationalität oder der Orte und Länder, in denen sie gekämpft haben, abgesehen von den Fällen, bei denen das Nennen von deren Volkszugehörigkeit eine bessere Einsicht in die Dynamik des Konfliktes bietet und es eine Identifizierung der Person dennoch nicht ermöglicht. Die Perspektiven von Tätern und Opfern auf die Geschehnisse sind oft in ihren Parallelwelten gefangen. Aus der Perspektive der Kriegsopfer stellten die Täter meist das »reine Böse« dar, das absolut unbegreiflich und monströs bleibt und keinesfalls zum Menschlichen gehört. Der Blick der Kriegsbeteiligten und der Täter auf sich selbst enthielt andererseits viele eigene abgespaltene und oft paradoxe Anteile. In nicht wenigen Fällen aber war auch ein deutlich differenziertes Bild über sich selbst zu finden, das unter der Oberfläche lauerte und den eigenen Raum suchte. Wenn

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wir die beiden Perspektiven nebeneinander betrachten und uns dabei von dem Druck der schreienden Ungerechtigkeit weder lähmen noch aktionistisch verwirren lassen, würde die Akzeptanz und Einsicht geboren, dass wir als Gesellschaft nicht nur für die Entstehung und Heilung beider Seiten verantwortlich sind, sondern diese in verschiedenen Ausprägungen alle bereits in uns selbst tragen. Einige Ideen in diesem Band hätten ohne die Inspiration der Werke Anderer weder entstehen noch weitergedacht werden können, wofür ich zutiefst dankbar bin. Ohne den Mut vieler Patienten, die eigene Scham zu überwinden und sich ihren eigenen schmerzlichen Abgründen zu stellen, in genau dem Moment, als sie dazu bereit waren, hätte ich nie die Möglichkeit gehabt, etwas Maßgebliches über die menschliche Psyche zu lernen. Meinen Super­ visandinnen bzw. Super­visanden und Kolleginnen bzw. Kollegen danke ich für die Beispiele, die ich in diesem Band benutzen darf, Dorothea Zimmermann für ihre Begleitung, ihr aufmerksames Lesen, ihre sprach­lichen Korrek­turen und weiterbringenden Kommentare und Ilona Oestreich, die die Herausforderung, einen nicht­muttersprachlich geschriebenen Text zu lektorieren, ohne dabei den Schreibstil zu ändern, hervorragend gemeistert hat. Ein besonderer Dank gilt Christian Schünemann für seinen liebevollen Beistand, Branka Andjelković für ihre unerschütterliche Zuversicht, meinem Vater für seine jahre­langen Bemühungen, mich zu motivieren, ein Fachbuch zu schreiben, und allen, die ich zu meiner engeren Familie zähle, für Zuspruch und Rückhalt. Ohne sie alle hätte dieser Band nie entstehen können. Eine Anmerkung zur geschlechtersensiblen Sprache sei der weiteren Lektüre vorangestellt: Im Buch sind grundsätzlich immer Männer und Frauen gemeint, unabhängig davon, wie stark die beiden Geschlechter in der jeweiligen besprochenen Gruppierung vertreten sind. Der Ver-

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Einleitung

zicht auf eine Benennung beider Geschlechter in verschiedenen Zusammenhängen hat lediglich zwei Intentionen: das quantitative Verhältnis in der jeweiligen Gruppe zu verdeutlichen oder aber den Lesefluss nicht über die Maßen zu stören.

Abbildung 1: Hieronymus Bosch »Der Garten der Lüste« (ca. 1500), Madrid, Museo del Prado (akg-images)

1  Gewalt und Täterforschung

1.1  Die Illusion des »puren Bösen« Es war das Triptychon »Der Garten der Lüste« des holländischen Renaissance-Malers Hieronymus Bosch (Abbildung 1), vor dem ich tief berührt stand, überwältigt vom 1

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sehnsüchtigen Wunsch des Malers, das Gute und das Böse in der Welt klar getrennt voneinander darzustellen und erfahrbar zu machen. Es war wie ein Schrei, der sich aus dem Bild emporhob und betete: Liebe Welt, sei bitte so! Und sei so, dass ich innerlich ein Abbild von dir werde, alles klar sehe und mich von dem Bösen abgrenzen kann. Auf dem Bild sehen wir drei scharf getrennte Teile. Das linke zeigt uns die paradiesischen Zustände, das Vereintsein mit Natur, Tieren und allen anderen menschlichen Wesen. Die Nacktheit und mit ihr der Wunsch, nichts verbergen zu wollen oder gar zu müssen, lässt uns die Gleichberechtigung aller Lebewesen ahnen und ihre Unschuld noch immer genießen. Im mittleren, größten Teil des Gemäldes sehen wir ein lebendiges Karussell der Lüste, ein utopisches Liebesparadies. Es ist ein freudiges Beisammensein der Menschen, die nackt und frei ihr Verlangen ausleben und sich gegenseitig (vor)urteilsfrei und gleichgestellt annehmen. Der dritte Teil des Triptychons offenbart etwas ganz anderes. Plötzlich herrscht das Böse, Menschen und Kreaturen verstecken sich hinter Kleidern, Masken und hypnagogen Bildern sowie hinter ihren vernichtenden Absichten. Wir sehen, wie sich Menschen gegenseitig Schmerz zufügen, Andere abschlachten. Dörfer brennen. Menschen und die durch das Böse entmenschlichten Kreaturen foltern und verletzen – wie es scheint – geradezu mit Genuss. Überall spürt man die zynische Verachtung und die Entwertung des Anderen. Einige entblößte Menschen tragen die Gewalt buchstäblich in den eigenen Händen und auf ihrem Rücken. Und wie die Gewalt die Menschen ungleich gemacht hat, so hat auch der Wunsch, die Anderen ungleich zu sehen, das Böse geboren. Wenn wir uns aber von der christlich-kausalen Interpretation dieses Gemäldes zugunsten einer psychologischen befreien, erkennen wir den Versuch, die menschlichen Erfahrungen voneinander abgespalten zu sehen und

Die Illusion des »puren Bösen«19

diese Abspaltung darzustellen. Es gibt nichts in den ersten beiden Teilen des Gemäldes, was den dritten, gewaltvollen Teil erklären würde, und vice versa ist im Bösen kaum etwas Gutes zu erkennen. Eine klare Separierung zwischen den Welten ist gewünscht. Diese scheinbare Ordnung, weil Trennung von Gut und Böse, soll uns in der – illusorischen – Sicherheit wiegen, das Böse sei irgendwo anders zu finden. Die Leugnung unserer Fähigkeit, etwas Böses zu tun, könnte sogar eine der Grundlagen unseres Daseins sein, meinte der amerikanische Psychologe Steven Pinker (2013, S. 721). So müssen wir uns mit unserer eigenen Zerstörungswut nicht täglich auseinandersetzen und können uns dem Guten einfach hingeben. Wo aber sind diese Menschen aus dem rechten Teil des Gemäldes zu finden? Was passiert mit ihnen? Mehrere Hunderttausend Menschen haben sich aus unterschiedlichen Motiven bereit erklärt, mehrere Millionen Menschen zu töten. Jede Gesellschaft kennt in ihrer eigenen Geschichte Kriege und Genozide, in denen das Töten eine wichtige Funktion zu erfüllen hatte. Evolutionsgemäß ist die Gewalt allgegenwärtig, und wir sollten uns – so der Psychologe Richard Tremblay (2000) – nicht die Frage stellen, wie Kinder lernen, aggressiv zu sein, sondern vielmehr, wie sie lernen, nicht aggressiv zu sein (vgl. Pinker, 2013, S. 714). Denn das schaffen sie gut. Aber wie lernen dann diese Hunderttausende, die bis dahin ein friedliches und mitfühlendes Leben mit ihren Mitmenschen führten, mit einem Mal einem anderen Menschen das Leben zu nehmen? Wie lernen sie, den angeborenen starken emotionalen und körperlichen Widerwillen beim Töten der eigenen Spezies zu überlisten, ihre bisherigen moralischen Normen außer Kraft zu setzen oder diese so umzudeuten, dass sie es sogar als angemessen empfinden? Dieses Geheimnis der passenden Umdeutung wird tabuisiert in jeder Gesellschaft, die das Töten für ihre eigenen Ziele

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nutzt, aber vor allem wird dort das (Weiter-)Leben derjenigen tabuisiert, denen man die Unschuld des Nicht-Tötens genommen hat. Falls diese Menschen von der Gesellschaft nicht nach einem Krieg, je nach dessen Ausgang, als Heroen stilisiert und inszeniert werden, bleiben ihre Geschichten und vor allem ihr Innenleben höchst tabuisiert, verpönt und aus der Öffentlichkeit schamerfüllt verbannt. Das große Schweigen über Täterschaft hat vor allem einen Zweck zu erfüllen: die Frage nach der Richtigkeit des Krieges und allem, was währenddessen passierte, zu vermeiden. Der Schmerz, die Scham und die Schuld der Täterschaft, die Verwüstungen in der Seele, die sie sich selbst und Anderen zugefügt haben, lässt diese Menschen sprachlos werden. Erst wenn keinerlei Rationalisierung des Tötens mehr aufrechtzuerhalten ist, wird das Verborgene sichtbar. Und dann weckt das große Böse die große Furcht, vor allem davor, es überall – auch in uns selbst – zu finden und ihr eines Tages als Täterinnen bzw. Täter oder auch als Opfer ausgeliefert zu sein.

1.2 Täterforschung Das Interesse an den bösen Seiten menschlichen Daseins und daran, wie vor allem aus ganz normalen Menschen unter spezifischen gesellschaftlichen Umständen leicht Täter werden können, rückte erst nach dem Zweiten Weltkrieg in den Fokus der wissenschaftlichen Forschung. Der wachsende Widerwille gegen Gewalt fand seinen Ausdruck in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte 1948. Damit begann eine wichtige Ära, in der sich zunehmend der Wunsch verankerte, Gewalt im politischen Kontext nicht mehr zu tolerieren. Zunächst aus vorsichtiger Distanz beobachtend, versuchten verschiedene Wissenschaften Antworten darauf zu finden, ob es das »pure Böse« gibt und wie es überhaupt zu erkennen

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wäre. Zutiefst erschüttert vom Ausmaß der Gräueltaten und der kaltblütig geplanten und durchgeführten Genozide entstanden allmählich – besonders auf amerikanischem Boden – Forschungsversuche, die auf ein besseres Verstehen dieser Phänomene abzielten. Im Fokus des steigenden Interesses, das in den folgenden Jahrzehnten nur phasenweise die breitere Öffentlichkeit erreichte, lag, wie heute auch, nicht der Wunsch zu vergeben, zu rechtfertigen oder die Taten und die Täter zu erdulden, sondern vor allem der Wunsch, die individuellen wie auch die kulturellen und gesellschaftlichen Konstruktionen zu erkennen, die zum Ausbruch der extremen Gewalt führen können. Die Forschungen erstreckten sich von einsichtigen und wachrüttelnden Erkenntnissen und guten Erklärungen bis zu Beiträgen, die beim Versuch, die tückische Gratwanderung zwischen Verstehen und Verpönen zu bewältigen, eher von dem Bedürfnis nach einer ultimativen Antwort geleitet waren. Die Suche nach der Enträtselung der Gewalt mit dem Ziel präventiver Wirkung schreitet aber weiterhin nur langsam voran, stets konfrontiert mit einem jahrhundertealten Tabu, das ein freimütiges, offenes Besprechen verhindert – in kleinen, privaten Kreisen wie auch der größeren Öffentlichkeit. In Deutschland, nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges befreit vom eigenen Zwang, die Gewaltmaschinerie zu »perfektionieren«, breitete sich für Jahrzehnte ein Schweigen über die Täter aus. Die erschöpfte Starre nach dem Aufwachen aus der beinahe »›hypnotische[n]‹ Bewegung« (Marks, 2003), der Verlust der bisherigen (un)moralischen Orientierung und die daraus entstandene verborgene Selbstunsicherheit in Bezug auf das Verständnis von Gut und Böse, aber auch der endgültige Zusammenbruch der Projektion des Bösen auf Kommunisten, Juden und Andere führten zu dem Wunsch, sich zu befreien und sich wieder, mit einem klaren Schnitt, den stärker lebensbeja-

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henden Aspekten des Lebens zu widmen. Zu lange im Kerker des Kollektiven und Gehorsamen gefesselt, wagte das Individuelle langsam, auch generationenübergreifend, sich zu befreien. Da die Verantwortung einzelne Täter, abgesehen von den bekannten Massenmörderprozessen, überwiegend privatisiert und tabuisiert wurde, reduzierte sich unglücklicherweise die Möglichkeit, in Langzeitstudien mehr über die Täter herauszufinden. Täterschaft wurde auf einzelne Personen projiziert und damit erneut nicht als Teil des eigenen allgemeinen Potenzials erkannt, das wir alle in uns tragen, kollektiv wie individuell. Trotz stabiler Einsichten in die kollektive Schuld blieben die Forschungen in Deutschland für die folgenden Jahre in derartigen Berührungsängsten gefangen (Moser, 1996/2001). Die Suche nach Antworten fokussierte sich zunächst auf die Kriegstäterinnen und -täter, deren Täterschaft nicht infrage gestellt werden konnte: auf die Massenmörderinnen und -mörder im Zweiten Weltkrieg und ihre individuelle Verantwortung. Um die psychische Verfassung der Menschen zu begreifen, die für millionenfache Morde verantwortlich waren, führte der Gerichtspsychologe Douglas Kelley im Jahr 1946 eine Reihe von Interviews, Beobachtungen und psychologischen Tests bei den Gefangenen im Nürnberger Prozess durch, um das pathologisch Verborgene in jedem von ihnen herauszufinden. Die ersten Versuche, das Unerklärliche zu erfassen, scheiterten sehr schnell. Kelley (1947) fasste den Mut, das Überraschende zu offenbaren und betonte, dass »solche Personen weder krank noch einzigartig sind, sondern auch, dass wir sie heute in jedem anderen Land der Erde antreffen würden« (zit. nach Welzer, 2005/2016, S. 9). Die erneute Interpretation der damals vorgegebenen Rorschach-Tests dreißig Jahre später sowie eine Reanalyse im Jahr 1978 ergaben, dass die wichtigste Auffälligkeit bei den Angeklagten damals in ihrer geringen Empathiefähigkeit bestand (Har-

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rower, 1974). George Kren und Leon Rappaport (1980) kamen nach den psychologischen Untersuchungen des SS-Personals zu dem Schluss, dass nach klinischen Kriterien höchstens 10 % der SS-Männer als pathologisch einzustufen gewesen wären (S. 64, 70). Die Philosophin Hannah Arendt (1963/2006) veröffentlichte ihre Gedanken über den Eichmann-Prozess und die »Banalität des Bösen« und löste damit eine neue Debatte darüber aus, wo das Böse zu suchen sei, wenn die Täter so normal erscheinen (vgl. auch Arendt, 1965/2007). Um diese Zeit begann die Sozialpsychologie gerade zu erforschen, wie Autorität und andere intersubjektive Faktoren die Menschen so beeinflussen können, dass sie nicht nur aggressives, sondern auch eindeutig sadistisches Verhalten zeigen. Der bekannteste Versuch waren die 19 Variationen des Milgram-Experiments seit 1961, dem Jahr, in dem auch der Eichmann-Prozess stattfand. Milgram (1974/1995) wollte, vermittelt durch autoritäre Anweisungen, die Bereitschaft von ganz normalen und emotional stabilen Menschen untersuchen, gegen ihr eigenes Gewissen zu handeln. Dieses Experiment löste unzählige neue Debatten, Forschungen und Experimente aus, die jeweils versuchten, einen weiteren Puzzlestein zum komplexen Verständnis dessen hinzuzufügen, was den Ausbruch von Gewalt und Täterschaft begünstigt. Das dichotome Verständnis von Kriegstäter – krank versus normal, Täter versus Opfer, Täter versus Verteidiger – begann spätestens mit dem Vietnamkrieg zu bröckeln. Die bekannte Feldforschung von General Samuel L. A. Marshall (1978), der direkt nach den Kämpfen im Zweiten Weltkrieg Hunderte amerikanische Soldaten befragte, wie viele von ihnen denn direkt auf andere Menschen geschossen hätten, zeigte überraschende 15 bis 20 %, die angaben, ihre Waffen tatsächlich gezielt auf Feinde abgefeuert zu haben. Dies änderte sich im Koreakrieg, als die

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Beteiligung auf 60 % stieg, im Vietnamkrieg sogar auf 90 % (Grossman, 1995/2009). Die Eskalation des Krieges sowie gravierende psychologische und gesellschaftliche Folgen für die Soldaten, die in Vietnam kämpften, brachen das Schweigen über die Täterschaft in den eigenen Reihen und verlegten die theoretisch-experimentellen Erkenntnisse wieder in das Feld der Erfahrung. Erst mehr als zwanzig Jahre später, im Jahr 1995, erschien das erste aufschlussreiche Buch über die psychologischen Kosten des Tötens im Krieg von Dave Grossman, Professor für Psychologie an der militärischen West Point Academy. Das Interesse, die Dynamik der Gewalt zu enträtseln, zeigte zu diesem Zeitpunkt einen steten Aufschwung, da die historischen Geschehnisse mit dem Krieg im ehemaligen Jugoslawien, dem Genozid in Ruanda, 9/11 und allen weiteren Kriegen, die daraus resultierten, das Bedürfnis nach Erklärungen verstärkt haben. Für ein eher langsames und schwieriges Herantasten an das Thema in Deutschland spricht auch die Tatsache, dass eine der ersten psychologischen Täterforschungen erst Ende der 1980er Jahre von Daniel Bar-On, einem israelischen Psychologen, Therapeuten, Holocaust- und Friedensforscher, durchgeführt wurden. Von 1985 bis 1987 interviewte er in Deutschland Nazi-Täterinnen bzw. -Täter und deren Kinder. So fragte er unter anderem 25 Pfarrerinnen und Pfarrer sowie 29 Professionelle aus Psychotherapie und Medizin, wie oft sie in ihren Praxen in den vorausgegangenen Jahrzehnten jemanden über die eigene Täterschaft im Zweiten Weltkrieg sprechen gehört hätten. Die Ergebnisse waren niederschmetternd: Nur ein Pfarrer konnte von einem einzigen Täter berichten, der vor seinem Tod eine Beichte darüber ablegte. Von den Professionellen aus Psychologie und Medizin gab es nur zwei indirekte Erwähnungen, auch in diesen Fällen hatten Personen kurz vor dem eigenen Tod davon gesprochen

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(Bar-On, 1989, 1990a). In demselben Jahr, in dem Bar-On seine Forschungen abschloss, wurden in Deutschland die ersten Bücher über die Täterinnen und Täter veröffentlicht (Mennecke, 1987; Sichrovsky, 1987). Erst seit den 1990er Jahren und angesichts fast einer halben Million Geflüchteter aus dem ehemaligen Jugoslawien erwachte und verbreitete sich auch in Deutschland ein ernsthaftes Interesse, sowohl über das Trauma als auch – sehr zaghaft – über die Täterinnen und Täter selbst zu sprechen. Gleichzeitig wurden die Kriegsbeteiligten und Täterinnen bzw. Täter, die ebenfalls als Geflüchtete nach Deutschland kamen, tabuisiert – oder besser gesagt: schlichtweg ignoriert und verleugnet. Viele wurden ausschließlich als Opfer gesehen, sofern sie nicht vom Internationalen Gerichtshof gesucht waren oder sich auf deutschem Boden einer Straftat schuldig gemacht hatten. 2001 veröffentliche Bar-On einen Artikel in der Zeitschrift der »Internationalen Gesellschaft für Politische Psychologie« über das Schweigen der – diesmal israelischen – Psychologinnen und Psychologen zur Täterschaft. Seiner Meinung nach hätten sie keine kritische Haltung zum Post-Zionismus und dazugehörigen schwarz-weiß-politisierten Denkmustern bezüglich des israelisch-palästinensischen Konflikts entwickelt. Er stellte die Hypothese auf, dass ein großer Teil von ihnen dem Mainstream bezüglich israelisch-militärischer Aktionen angehöre und die kontroversen Geschehnisse deshalb nicht erkenne, sondern sich gesellschaftskonform verhalte. Ein kleinerer Teil von ihnen, so Bar-On (2001), zeige sich trotz Einsicht durch die über-politisierte Atmosphäre eher erschrocken. Aus der Angst heraus, die Interventionen könnten sowohl psychologische als auch politische Implikationen haben, hätten sie daher eine Art apolitische Attitüde entwickelt, die als objektiv-distanziert galt. Sie vermieden die Probleme eher, als auf sie einzugehen. Er fragte die israelischen Psy-

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chologinnen und Psychologen damals, ob die zukünftige Gesellschaft ihnen wie auch den Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten im Nachhinein wohl vorwerfen werde, warum sie die prekären Umstände nicht schon viel früher antizipiert hätten und auf sie eingegangen seien. An Aktualität hat diese Frage bis heute wenig verloren. Weltweit forschten und debattieren weiterhin die Professionellen in Psychologie, Psychotherapie, Soziologie, Biologie und Medizin über die aggressiven Impulse in jedem von uns und über die Konditionierung zum Töten. Sie formten klare Diagnosen über den Anteil von 2 bis 5 % (oder 5 bis 10 %, abhängig von der Anwesenheit sozialer Kontrolle) unter jenen Menschen, denen das Töten tatsächlich leicht fällt, wie bei der malignen Psychopathie. Mit den aktuellen neurobiologischen Erkenntnissen löste sich allmählich die hydraulische Theorie der Gewalt auf, wonach Menschen einen inneren Aggressionsdrang spüren, der sich in einem Tötungsinstinkt oder »Blutdurst« äußere, sich aufstaue und sich von Zeit zu Zeit entladen müsse. Inzwischen weisen die interdisziplinären wissenschaftlichen Kenntnisse eindeutig darauf hin, dass Aggression kein einzelnes Motiv und kein einzelner Impuls ist, der sich aufbaut, wie Steven Pinker (2013) betont, sondern dass sie »vielmehr das Produkt mehrerer psychischer Prozesse [ist], die sich in ihren äußeren Auslösern, ihrer inneren Logik, ihren neurobiologischen Grundlagen und ihrer gesellschaftlichen Verteilung unterscheiden« (S. 17; Erg. v. Verf.).

1.3  In diesem Band Tückisch bei der Suche nach den Antworten auf die Frage, wer denn die Täterinnen bzw. Täter sind, ist bereits die Unklarheit, wann genau eine Täterschaft in einem Krieg anfängt. Die Schnittstellen zwischen Krieg und Verbre-

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chen – was dem Militär erlaubt ist und was nicht, ob es sich daran hält oder nicht – sind aufgrund der unzähligen Rationalisierungen des Tötens nicht immer leicht zu erkennen. Noch schwieriger ist das Erkennen des Übergangs zu Täterschaft in Bürgerkriegen und anderen bewaffneten Konflikten zwischen zusammengewürfelten Kampfgruppen, Milizen, Rebellen, Widerstandskämpfern, Terroristen, religiösen Gruppen oder zur Verteidigung des Dorfes mobilisierten Zivilisten, denn in diesem Kontext herrschen eigene Maßstäbe des Kriegsführens. Liegt ein Verbrechen nur dann vor, wenn Zivilisten die unschuldige wehrlose feindliche Gruppe töten oder vergewaltigen, oder auch dann, wenn mit einem Knopfdruck aus Tausend Kilometer Entfernung ein ganzes Dorf von Rebellen und Zivilisten vernichtet wird? Oder nur, wenn ein Kämpfer mit den Köpfen des Feindes Fußball spielt? Wo fängt die Barbarei an? Sie beginnt bereits mit der Gruppe muslimischer Frauen in Bosnien, die einer Frau, nachdem sie die Massenvergewaltigung durch serbische Soldaten gerade knapp überlebt hatte, und deren Kind wochenlang nicht mehr zu essen geben wollten, da sie eine »Schande« sei, »beschmutzt« und eine, die »sicherlich alles selber so wollte«. Die Täterseite hat im Krieg unzählige Gesichter. Hier werde ich mich aber überwiegend auf den generellen Akt des Tötens und andere Gräueltaten beschränken, unabhängig davon, in welchem Kriegskontext dies stattgefunden hat. Um zu verstehen, wie es dazu kommen konnte, sich für das Töten bereit zu erklären, werde ich die generellen Einflüsse und inneren Motivationen beschreiben, die die Täter dazu bewegt oder äußerlich gezwungen haben. Sie sind der Schlüssel dafür, wie Außenstehende die Täter sehen und beurteilen, aber auch dafür, wie sie sich selbst dabei wahrnehmen und bewerten. Diese Beweggründe erklären jedoch vor allem, in welchen Binnenrealitäten eine moralische Umdeutung stattfindet, durch die sie legitim

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töten und die Gräueltaten begehen können, ohne sich dabei schuldig fühlen zu müssen. Die Verwandlung starker Gefühle wie Furcht und Bedrohung in ein personalisiertes Motiv zum Töten findet immer innerhalb dieser Binnenrealitäten statt, von denen ich sechs beschreiben werde. Wie die vielschichtige Topografie der verdrängten oder gefühlten Schuld führt uns dies zu einem weiteren Geflecht der psychischen Abwehr, das das gesamte Konstrukt von Kampf und Töten innerlich aufrechterhalten kann. Dabei werden auch das Umdeuten des Gewissens und die Mechanismen eruiert, die bei der Schließung der Moralisierungslücken helfen, das Töten zu ermöglichen. Der letzte Teil des Bandes widmet sich dem Leben danach, mit dem Schuldgefühl, den psychologischen und gesellschaftlichen Folgen der Täterschaft, der daraus resultierenden krankheitswertigen Symptomatik sowie den Möglichkeiten und Gefahren bei der Begegnung mit den Kriegstätern im professionellen Kontext. Einige der Täter haben eine eindeutige Prädisposition zur Gewalt, die sich vor, während und nach dem Krieg maligne verbreitet. Doch die meisten Geflüchteten, die gekämpft haben, stürzten aus verschiedenen sozialen und politischen Gründen und Zwängen in einen Sog der Gewalt, dem sie nicht entrinnen konnten, und gingen unterschiedlich stark geschädigt daraus hervor. Welche psychologischen und gesellschaftlichen Folgen dadurch entstanden, wie sie zu therapieren sind oder wie die Gesellschaft mit diesen Menschen umgehen sollte, ist meiner Meinung nach noch stärker tabuisiert als die Tatsache, dass sie sich überhaupt hier unter uns befinden. Insgesamt gibt es kaum breitere empirische Forschungen über ihr Leben danach, mit Ausnahme der Untersuchung von Vietnam-Veteranen in der USA (wie z. B. Stellman, Stellman u. Sommer, 1988). Adäquate Behandlungsangebote sind kaum vorhanden. Einige der Rückkehrer aus dem Krieg sind zum Teil

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nicht mehr in der Lage, die Gewalt abzulegen und über die Brücke zum normalen Leben zurückzugehen. Sie können die eigene Familie und ihre Umgebung mit den brutalsten Gewaltausbrüchen regelrecht terrorisieren und eine generationenübergreifende seelische Verwüstung hinterlassen. Wie zum Beispiel im Falle einer jungen Frau, deren Vater – ein Kämpfer und Täter, der nach dem Krieg völlig paranoid und gewalttätig blieb – die gesamten 15 Jahre nach Kriegsende seine Familie brutal misshandelte und verfolgte, bis er seine Ehefrau – die Mutter der Patientin – eines Tages brutal ermordete. Am anderen Ende der Skala befindet sich der größte Teil der Kriegstäter. Sie passen sich mehr oder weniger gut der Umgebung an und sind vor allem froh, nie wieder im Leben kämpfen zu müssen. Sie scheuen das Blut, die Gewalt und die alten Erinnerungen zutiefst. Einige flüchten in ein anderes Land, erschöpft durch den sinnlosen Kampf und das Töten, zermürbt von der ständigen Lebensgefahr, desillusioniert, moralisch zerstört oder in der Rationalisierung verkrustet oder eben nur auf der Flucht vor der Vergeltung im Heimatort.

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Wie sollen wir erklären, dass Menschen, die in friedlichen Zeiten ein ruhiges und gewaltfreies Leben führen und sich nicht im Entferntesten vorstellen können, jemals einen anderen Menschen zu vergewaltigen, zu foltern oder zu töten, sich unerwartet als extrem gewalttätig entpuppen? Wie ändern sich die moralischen Normen einer Gesellschaft, sodass so etwas nicht nur möglich, sondern auch erwünscht ist? Und wie erkennen wir diese trügerischen kleinen Schritte, die zu solchen veränderten Referenzrahmen und Realitäten führen, wie eine Gewalteskalation sie mit sich bringt? Dem Gradualismus (Baumeister, 1996/2001; Glover, 1985) ist zu verdanken, dass wir die dichotome Welt von Gut und Böse allmählich umdeuten und – auch von uns selbst unbemerkt – unsere bisherige moralische Welt verlassen können. Immer wieder ist dabei ein weiterer kleiner Schritt weg von unseren bisherigen Werten erforderlich, der schließlich dazu führt, eines Tages die Gewalt ganz selbstverständlich anzuwenden. So wird der erlaubte moralische Rahmen langsam schrittweise verändert und umgedeutet. In der Nazizeit folgte den Rufen nach der Euthanasie körperlich und geistig Behinderter die Entrechtung und Schikanierung der Juden. Deren anfängliche »soziale Ermordung« bereitete die körperliche Ermordung vor: ihre Ghettoisierung, Deportation und schließlich Vernichtung in den Lagern. So führte die Angst vor Kommunismus und vor der vermeintlichen Verschwörung der Juden am Ende in einen unverblümten Anspruch auf Weltherrschaft (Pinker, 2013, S. 840).

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Hiroshima und Nagasaki wären am Anfang des Zweiten Weltkrieges kaum vorstellbar gewesen, selbst wenn man eine Atombombe zu diesem Zeitpunkt bereits hätte bauen können. Die unzähligen weiteren Beispiele der Entwicklung des fortschreitenden hin zum galoppierenden Irrsinn lassen sich in vielen anderen Konflikten und besonders in lang bestehenden Diktaturen leicht erkennen. Allen ist gemeinsam, dass keiner der maximal eskalierten Gewaltexzesse am Anfang des Konfliktes ausgetragen worden wäre. Stattdessen hätte man sie zu einem früheren Zeitpunkt alle ausnahmslos als schwerste Verletzung der moralischen Selbstansprüche wahrgenommen und es deshalb unbedingt vermieden, sie vor einer breiteren Öffentlichkeit auszutragen. Am Ende des Umwandlungsprozesses jedoch galt diese moralische Beurteilung nicht mehr. Einen möglichen Erklärungsansatz hierfür liefert uns die Auswertung von Stanley Milgrams Gehorsamkeits­ experiment aus dem Jahr 1961 (Milgram, 1965, 1974/1995), das uns mit dem uns allen innewohnenden Gewaltpotenzial schonungslos konfrontiert. Es hat eindeutig gezeigt, dass auch ganz gewöhnliche Menschen eine sehr hohe Bereitschaft zeigen, ihnen unbekannten anderen Menschen aus abstrakten Gründen schmerzhafte und sogar beinah tödliche Stromstöße zu verabreichen, nur weil es jemand von ihnen verlangt. In Milgrams Experiment wurde einer Versuchsperson die Lehrerrolle zugewiesen, um den Einfluss der Strafe auf den Lernprozess zu überprüfen. Die »Lehrerin« bzw. der »Lehrer« sollte die Schülerin bzw. den Schüler (in einem zweiten Raum sitzend) nach Anweisung durch die Versuchsleitung für jede falsche Antwort mit einem von Mal zu Mal höheren Stromstoß bestrafen. Schülerin bzw. Schüler und Versuchsleitung waren jedoch in das Experiment eingeweiht und spielten lediglich ihre Rolle. Die Stromstöße waren fingiert, ohne dass die Versuchsperson – die »Lehrerin« bzw. der »Lehrer« –

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es wusste oder ahnen konnte. Das Gerät zeigte Stromstöße bis zu 450 Volt an, mit den Warnhinweisen »schmerzhaft« und »schwerer Schock«. Um die Glaubhaftigkeit zu unterstützen, wurde die Versuchsperson selbst vor Beginn des Experiments zur Probe mit einem leichten Schlag geschockt. Die Überraschung am Ende des Experiments war groß: Zwei Drittel der Versuchspersonen verabreichten trotz starken Unbehagens dabei auch die höchste Stromstärke als Strafe, obwohl die Schülerinnen bzw. Schüler währenddessen schrien, flehten und (vermeintlich) bewusstlos wurden. Diejenigen, die das Experiment abbrechen wollten, wurden in autoritärer Weise belehrt, nicht aufzuhören, und daran erinnert, dass die gesamte Verantwortung bei der Leitung des Experiments läge (Milgram, 1974/1995; vgl. auch Zimbardo, Maslach u. Haney, 2000). Bei nachfolgenden Variationen des Experiments stellte sich heraus, dass verschiedene Faktoren eine bedeutende Rolle spielten. Die Gehorsamkeitsbereitschaft sank, wenn die Versuchspersonen die Schülerinnen bzw. Schüler schon kannten oder während des Experiments mit ihnen im selben Raum saßen. Die soziale Bindung und der direkte Face-to-Face-Kontakt wirkten offensichtlich prävalent in Bezug auf destruktives Verhalten, in einer realen Situation scheint dies allerdings nur begrenzt bindend zu sein. Bei der Modifizierung der Anweisungen zeigte sich die höchste Gehorsamkeitsrate bei einer stoischen, konstanten, rigiden und ordnungsgemäßen Durchführung des Experimentes. Bei einer telefonischen Übermittlung der Befehle fiel die Gehorsamkeitsrate von 65 auf 25 %: Die Versuchspersonen »schummelten«, indem sie behaupteten, höhere Stromschläge gegeben zu haben als tatsächlich verabreicht. Bei inkonsistenten Versuchsleitungen sank die Gehorsamkeitsbereitschaft sogar gegen Null. Die Fügsamkeit wurde jedoch deutlich verstärkt durch die Möglichkeit, die Strafe zu delegieren, also eine andere Person die Be-

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strafung ausführen zu lassen. Wie wir sehen, ist Gehorsam immer situativ, aber auch grundsätzlich eine Entscheidung, die jede Person selbst trifft. Oft in verschiedenen Ländern und mit einer repräsentativen Zusammensetzung von Geschlechtern und sozialen Schichten wiederholt, zeigt dieses Experiment noch immer die erschreckende Realität, dass zwischen 55 und sogar 90 % der Versuchspersonen bereit sind, extremsten Schmerz durch einen Stromschlag zuzufügen, nur weil eine Autorität dies von ihnen verlangt. Das Staunen hierüber bestand vor allem auf zwei Ebenen: Zum einen zeigte sich das Verhalten bei ganz durchschnittlichen Menschen überall, quer durch Schichten und Geschlechter, und zum anderen veränderte sich das Verhalten zur Gewaltbereitschaft zwar stufenweise, aber schnell. Das gesamte Experiment dauerte nur eine Stunde. Es ist zu hoffen, dass dieses Experiment in aufgeklärten und weniger konservativen Gesellschaften zu einem anderen Ergebnis käme, doch die erreichten 90 % Gehorsamkeitsrate in Polen bei der Wiederholung des Experimentes 2015 war eine erschreckende und ernüchternde Überraschung (Doliński et al., 2017). Daher ist es vielleicht nicht so abwegig zu postulieren, dass in Gesellschaften mit rigiden autoritären Strukturen eine höhere Bereitschaft zum Tätersein zu erwarten wäre. Die Ergebnisse bestätigten auch, dass Gewalt nicht nur vereinzelte psychologische Ursachen hat und nicht ausschließlich in der Kindheit einer Täterin bzw. eines Täters zu finden ist – obwohl dies individuell viel zur Erklärung beitragen kann –, sondern ein Produkt von komplexen, dicht miteinander verflochtenen Einflüssen ist.

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Neurobiologische Forschungen versuchten zu enträtseln, wie die Gehirnsysteme unser Gewaltempfinden und die Bereitschaft, selbst gewalttätig zu werden, beeinflussen und steuern. Die Psychologie suchte nach Erklärungen, wie Aggressivität in der menschlichen Psyche verankert ist, welche Funktionen sie hat, wie sie ausgelöst, gerichtet, abgewehrt oder rationalisiert wird. Dabei wird uns aufgezeigt, welche Folgen Aggressivität für das gesamte psychische Gleichgewicht haben kann und dabei unsere Psyche in »Erklärungsnot« bringen und sogar generationenübergreifend Spuren hinterlassen kann. Untersuchungen von Sozialpsychologie, Geschichtswissenschaft und Soziologie berücksichtigen die gesellschaftlichen Einflüsse, die dazu führen. Die Moralforschung gibt uns wichtige Erkenntnisse dazu, wie sich der Referenzrahmen, das daraus resultierende Moralempfinden und die Wertenormen den situativen Änderungen anpassen. Die höchste und reifste Ebene moralischen Urteilens wird laut einigen Autorinnen und Autoren (vgl. Kohlberg, 2014) nur von etwa 10 % der Menschen erreicht, die das Leben und den Respekt Anderen gegenüber als heilig bewerten und danach handeln. Unabhängig von der jeweiligen Situation (re)agieren sie gleichbleibend moralisch, um die Selbstverurteilung zu vermeiden (Kohlberg, 2014). Obwohl bestimmte Taten wie Mord, Vergewaltigung und Diebstahl in allen Kulturen und Zeiten als moralisch untragbar und sündhaft galten, sehen wir jedoch bei den anderen 90 % der Menschen, dass diese Normen gebrochen werden, wenn mehrdeutige, prekäre

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und widersprüchliche soziale Einflüsse vorherrschen. In solchen Konstellationen bewertet ein Individuum eine moralisch zu beurteilende Lage weniger nach abstrakten moralischen Werten, so der Moralforscher Lawrence Kohlberg (2014), sondern vielmehr entsprechend den konkret wahrgenommenen Rechten und Pflichten (S. 488; vgl. auch Levi, 1947/2016). Die Psychologen Roy Baumeister und Steven Pinker benennen insgesamt fünf »Wurzeln des Bösen« (Baumeister, 1996/2001) bzw. »innere Dämonen« (Pinker, 2013), die zur Gewalt führen können. Eine sechste, die zur Täterschaft führen kann, möchte ich noch hinzufügen. Allen begegnen wir bei Geflüchteten, die getötet haben. Sie helfen uns zu verstehen, welche Umstände und Einflüsse dazu geführt haben, und erklären, wieso einige der Täter in gewissen Situationen dabei erstaunlich wenig Schuldgefühle entwickeln. Vieles spricht dafür, dass die Gründe der Gewalt sowohl individueller als auch struktureller Natur sind. Die wechselnde Dynamik der Gewalt, die wir in den Geschichten der Täter wie auch beim Analysieren der Konflikte finden, weist eindeutig darauf hin, dass oftmals mehrere dieser Beweggründe gleichzeitig wirken. Manchmal bedienen sich die pure persönliche Gier und das Machtstreben eines ideologischen Vorwands, um breiter akzeptiert zu werden. Hinter einigen politischen Dominanzansprüchen wiederum verbirgt sich als eigentliche Motivation oftmals die Bereicherung. Viele gescheiterte Friedensversuche hingen damit zusammen, dass diese verschiedenen Motive des Konfliktes nicht erkannt, berücksichtigt oder gebändigt werden konnten. Dasselbe sollte in der Therapie der Täter beachtet werden.

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  Übersicht: Nährböden der Täterschaft   –– Die erste Wurzel der Gewalt hat eine instrumentalisierte, pragmatische Natur, die vom Streben nach direktem Nutzen geleitet wird. Sie kann vor allem als ausbeuterisch und räuberisch betrachtet werden. Sie wird angewandt, um ein klares, praktisches Ziel zu erreichen, einen materiellen Gewinn oder einen anderen Zweck, der zu Prestige führt (Pinker, 2013). Die dazugehörigen Gefühle sind Habgier, Wollust, Neid und Ehrgeiz. Diese Motive finden wir bei Personen, die im Krieg mit Waffen, Drogen und Menschen handeln, bei Geflüchtetenschmugglern, Menschenhändlern, Warlords und anderen Kriegsprofiteuren. –– Der nächste Dämon ist die Rache. Wie der pulsierende Antrieb für die Suche nach Gerechtigkeit, Vergeltung und Strafe kann sie in eine endlose Schleife ausufern. Was sie bewegt, sind vor allem Wut, Schmerz, Kränkung und das Streben nach Wiedergutmachung. –– Egoismus, Dominanz- und Machtbestreben sind der dritte Keim der Gewalt. Ihr Kern liegt im Anspruch Einzelner oder einer Gruppe, über Andere zu herrschen und zu bestimmen. In der Regel werden die Beherrschten als weniger wert angesehen. Hier pocht der drängende Wunsch nach Selbstaufwertung, Macht, Bestimmung und Konkurrenz, aber auch das stete Gefühl von Bedrohung durch die Anderen und von Ohnmacht, die überwunden werden möchte. Kämpfe um Macht und Dominanz zwischen Gruppen finden wir in unzähligen ethnischen, religiösen oder nationalen Kriegen und Konflikten. –– Die vierte Wurzel ist die Ideologie. Dabei handelt es sich um ein entwickeltes System des Glaubens an eine utopische Welt, die durch ihre Ansammlung von ausschließenden Werten und Motiven die extreme Destruktivität rechtfertigt. –– Die pervertierte Lust, Anderen Schmerzen und Leid zuzufügen, und die pure Ergötzung daran, eingebettet in ein

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unermessliches Machtgefühl, zeichnet den Sadismus aus. In diesen Bereich gehören Folterer und Massenmörder. Erstaunlicherweise können auch ganz normale Menschen in bestimmten Situationen dieses Verhalten phasenweise zeigen. –– Die sechste Ursache von Täterschaft ist an Aufzwingen, Erpressen oder Missbrauch gekoppelt. Damit möchte ich einige Täter beschreiben, deren Taten eher aus Überlebensdrang oder durch Missbrauch entstanden sind. Hierbei handelt es sich um Erwachsene oder Kindersoldaten, die regelrecht gezwungen waren, zu töten oder die Gräueltaten zu begehen.

 Bei all diesen Motiven spielt das limbische System des Gehirns, das für die Gefühle zuständig ist, eine ausschlaggebende Rolle (Pinker, 2013). Außer bei Sadisten können keine Ideen, Glauben oder Wünsche ausreichend Kraft haben, um den Akt des Tötens einzuleiten, ohne begleitende Gefühle von Angst, Furcht, Bedrohung, Hass oder Groll. Paradoxerweise müssen die Gefühle aber so umgeleitet werden, dass Empathie, Verbundenheit, Schuld und Gewissen ausgeschaltet oder umgedeutet werden, um das Töten überhaupt zu ermöglichen. Der präfrontale Cortex, der für das Denken zuständig ist, hilft bei der erneuten Umdeutung der moralischen Normen, was – unter den neuen Umständen – erlaubt ist und was nicht mehr.

3.1 Ausbeutung, Raublust und Ehrgeiz – die Wiege des Neides und Lust auf mehr Wer kennt nicht die Raublust der Wikinger oder Mongolen aus der Geschichte? Zufrieden mit ihren Eroberungen und Bereicherungen konnten sie den Verlierer-Völkern Gnade gönnen. Wer einmal erobert wurde, musste

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die eigene Religion nicht ablegen und keine Angst haben, getötet zu werden. Etwas anderes haben wir während der Nazizeit gesehen. Bei einigen versteckte sich der Wunsch nach Raub von Schmuck, Häusern, Gemälden, goldenen Zähnen, Geschäften und Fabriken hinter der Scheinheiligkeit einer Ideologie. Das Töten, um die eigene Habgier, Wollust, den eigenen Neid und Ehrgeiz zu stillen, finden wir quer durch die Geschichte der Konflikte. Im Krieg stehlen und rauben Einzelne schuldlos, streunende Gruppen abtrünniger Soldaten und Kämpfer plündern Dörfer, töten und vergewaltigen, ohne jegliche Bedenken. Gut vernetzte kriminelle Organisationen lösen weiterhin enorme Wellen der Vertreibung aus, zum Beispiel in Zentral- und Ostafrika oder Kolumbien, wo über vier Millionen Menschen aus ihrem Land vertrieben wurden, weil paramilitärische und kriminelle Verbände auf dem okkupierten Land Palmen, Holz und Drogen anbauen wollten. Solche Gruppierungen können auch eine bittere Hinterlassenschaft eines Krieges sein, die jegliche staatlichen Bemühungen erschweren. Viele solcher Länder versinken nach dem Krieg in Korruption. In politischen Konflikten und Zermürbungskriegen über Gebiete und Grenzen sehen wir Ähnliches. Was auch immer der Kontext der Ausbeutung war: Am Ende steht ein wahrhaft obszönes Missverhältnis zwischen den enormen Leiden der Opfer und dem Gewinn, den die Täter erleben (Pinker, 2013, S. 754). Was erzählen solche Täter? Dass die subjektive Vereinnahmung schon beim Gedanken an das Objekt der Begierde beginnt. Und sogar der kleinste Widerstand der Opfer wird nicht nur als ungerecht empfunden, sondern auch als ein Angriff gegen das fantasierte zukünftige Eigentum des Räubers, das in seinen Augen legitim und mit allen verfügbaren Mitteln »verteidigt« werden darf. Mit dieser Umdeutung schließt sich die Moralisierungslücke, und die

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Gewalt wird erlaubt. Damit werden Ausbeutung und Raub wie ein nur für den Moment gestillter Hunger erlebt, der immer wieder erwachen kann. Er ist wie eine Sehnsucht, die durch kein Haben zu bändigen ist. Der Raub selbst setzt schnell eine Menge Dopamin frei, ein sogenanntes Glückshormon, das wie bei Kokainund Amphetamingebrauch zu einem Rauschgefühl führt. Die Dynamik des Raubes ist neurobiologisch der Suchtmittelabhängigkeit ähnlich: ein Karussell der ewigen Suche nach der Wiederholung des ersten Rausches. Wir, die Betrachtenden, können uns dabei kaum vom Bild einer Ratte in der Skinner-Box befreien, die bis zum Umfallen aus körperlicher Erschöpfung in ihrem Käfig frenetisch einen Hebel betätigt, der eine kleine Elektrode in ihrem Gehirn stimuliert. Jüngste neurobiologische Forschungen haben gezeigt, dass bei Raublust vor allem die Gehirnsysteme für das Wollen und die Sehnsucht zuständig sind – und nicht die für die Lust selbst, wie die Psychologen James Olds und Peter Milner (1954) bei dem genannten Experiment mit der Ratte zuerst vermuteten. Das dabei aktive System des Gehirns schafft vor allem die Motivation für das Jagen (vgl. Pinker, 2013, S. 753). In psychoanalytischer Sprache ausgedrückt ist der Raub eine vergebliche Suche nach ultimativer Verschmelzung mit dem aufgewerteten Objekt der Begierde, was immer scheitert und letztendlich scheitern muss, weil es eine Ersatzhandlung für die nicht erhaltene Liebe und Bejahung in der frühesten Kindheit ist. So wird als Abwehr des daraus resultierenden Schmerzes das Angst-Wut-Schaltsystem im Gehirn aktiviert, das vom periaquäduktalen Grau über den Hypothalamus zur Amygdala verläuft und die Aggression »anschaltet« (Raine, 2015). Und so wird die Eskalation angebahnt.

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Fallbeispiel Ein ehemaliger Kämpfer suchte Hilfe, um Ruhe zu finden mit sich selbst und mit dem, was er getan hatte, und vor allem, um zu lernen, die Anderen und sich selbst vor seinen aggressiven Anfällen zu schützen. Er wollte dem Schmerz, der ihn zerriss, einen Sinn geben und die Menschen warnen vor dem, was ein Krieg mit sich bringt. Im Krieg war er extrem aggressiv und schwer kriminell gewesen. Er hatte Waffen gehandelt und geschmuggelt, gefährlichste Raubzüge unternommen und geplündert. Die bedrohlichsten und abenteuerlichsten Situationen hatte er extrem genossen, er beschrieb sie als ständig wiederholtes Rasen mit einem Rennwagen den Berg hinab, ohne zu wissen, ob die Bremsen überhaupt funktionieren. Er hatte sich gefühlt wie ununterbrochen an der Grenze des Wahnsinns stehend – was er genoss. Am Anfang des Krieges hatte er geglaubt, auf der moralisch richtigen Seite zu kämpfen. Danach waren all diese Illusionen verschwunden, er hatte sich geschämt und gehasst für die eigene Feigheit, nichts dagegen unternommen zu haben, wenn er beobachteten musste, wie seine Feinde abgeschlachtet wurden. Und er hatte sich entschieden, einen Krieg nur für sich selbst zu führen, das Geld »kam und ging«, bis er das Land verlassen konnte. In seinem Bewusstsein hatten sich die Anderen mehr bereichert als er. Einige Jahre nach der Flucht sah er sich ausschließlich als Opfer der Umstände. Schuld waren seine schwere und tragische Kindheit und alle Anderen, die am Krieg beteiligt waren und ihn gezwungen und missbraucht hatten, bei allem mitzumachen. Erst später begann er allmählich, die eigene Verantwortung zu begreifen: »Ich war am Abzug des Gewehrs, nicht die Anderen.« Der kriminelle Wunsch nach Raub und Abenteuer, der diesen Täter vor allem antrieb, fand die Legitimierung seiner Motivation durch die Wahl der »richtigen« Seite in einem dominanzgesteuerten Krieg. Mit der zunehmenden Konfron-

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tation mit anders motivierten Gewalttaten – sadistischen Handlungen und Folter der verfeindeten Zivilisten und Kämpfer – wuchsen jedoch seine, allerdings nur genau darauf beschränkten, Schuldgefühle. Er legte den Vorwand des »gerechtes Krieges« ab und begrenzte sich auf Ausbeutung und Kriegshandeln, was für ihn moralisch in dieser Situation noch immer vertretbar war.

Einige dieser Täter verlieren ihre materielle Beute schnell. Das innere Gefühl von Wertlosigkeit und Schuld überwiegt, sodass der Kreislauf der ewigen Suche immer weiterlaufen muss. Andere aber sammelten gewissenlos üppige Reichtümer an und versuchten, sich dadurch aufzuwerten. Einige wurden nach Ende der Konflikte als Kriegs- oder politische Profiteure toleriert und erreichten sogar steile kriminelle oder politische Karrieren. So wurde zum Beispiel ein in Europa öffentlich bekannter großer Zigarettenschmuggler der Präsident eines kleinen Landes. Und auf anderen Flecken der Erde protzen verschiedenste Präsidenten trotzig mit großen Palästen und sonstigen Prestigegütern. Nicht alle Räubereien in den Kriegen sind in einem solchen »Suchtkarussell« gefangen. Beim Genozid in Ruanda waren am Massaker im Jahr 1994 neben Armee, Präsidentengarden, Milizen, Intellektuellen und anderen wohl­ habenden Menschen auch Hunderttausende Hutu-Bauern aus der untersten sozialen Schicht und junge arbeitslose Städter beteiligt. Sie mordeten die Tutsi-Bevölkerung und raubten den Opfern ausnahmslos alles, auch der kleinste Besitz wurde ihnen entrissen – und am Ende kulminierte alles in einem unermesslichen Blutbad (Waller, 2007). Die Motivation hierfür war aber nicht die narzisstische Befriedigung und Selbstermächtigung durch die spektakuläre Gewalt, sondern eher eine Folge von lang andauernder Armut, von Hoffnungslosigkeit, Neid und aus der Ohn-

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macht entstandenem Hass und Zerstörungswut. Obgleich solche Gefühle sehr wohl bei Narzissmus auch vorhanden sind, handelt es sich hier um eine andere Qualität des Grauens.

3.2 Rache – die Suche nach der verlorenen Ordnung

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Rache, so sagte Steven Pinker (2013), ist ganz buchstäblich ein Bedürfnis und weltweit das Motiv für 10–20 % aller Morde (S. 784 f.). Wenn sie sich nicht nur gegen einzelne Personen richtet, sondern gegen Gruppen, Ethnien und Nationen, wird sie zum Hauptmotiv für Unruhe, Konflikte, Terroranschläge und Kriege. Auf der ganzen Welt finden sich verwundete Gemeinschaften, die von Rache träumen und einen Groll hegen. Rache ist oft mit glühender Wut verbunden, kann aber auch »kalt« genossen und lange im Voraus geplant werden. Da sie in unserem Gehirn sehr leicht auslösbar ist, können Rachegelüste schnell unermessliche Ausmaße erreichen. Zumindest in den Gedanken, wie Experimente zeigen (McCullough, 2008). Was sagt die neurobiologische Affektforschung dazu? Dass auch die Rache beinahe Suchtaspekte enthält und zudem antreibend und sehr belohnend wirken kann. Neurobiologischer Ausgangspunkt der Rache ist der Wut-Schaltkreis in dem Signalweg zwischen Mittelhirn, Hypothalamus und Amygdala. Sind Tiere frustriert oder verletzt, so führt dieses System bei Aktivierung zu einer Gegenattacke. Die Inselrinde wird aktiviert, wo Gefühle von Schmerz, Abscheu und Verärgerung zu finden sind. Bei Menschen schalten sich die Zentren der Schläfen- und Scheitellappen hinzu, die die Absicht beurteilen. Erst dann kommt es zu einer Entscheidung, ob die Rache ausgelebt wird, und falls ja, ob sie gleich zur Aktion führt oder sich in eine kühle, genussvolle Revanche in die Zukunft ver-

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schieben lässt. Dabei wird ein Teil des Striatums im Gehirn aktiviert, die gleiche Region, die aktiv wird, wenn der Mensch sich nach Schokolade, Nikotin oder Drogen sehnt (Pinker, 2013, S. 785 f.). Bei Männern ist bei der Planung von Rache das Mitgefühl vollständig ausgeschaltet – im Gegensatz zu Frauen, wie Tania Singer und Mitarbeiter durch neurobiologische Experimente nachwiesen (vgl. Singer u. Bolz, 2013). Der für das Mitgefühl zuständige Teil der Inselrinde war bei den auf Rache fixierten Männern komplett inaktiv, bei Frauen hingegen blieb er eher aktiviert (Pinker, 2013, S. 786). Auch Carol Gilligan (1984) zeigte auf, dass Rache das Mitgefühl außer Kraft setzen kann und Männer angesichts physischer Gewalt signifikant eher zu vergeltender »Gerechtigkeit« neigen, Frauen dagegen mehr zu Gnade. Die Waage, mit der wir den jeweiligen Sinn der Rache messen können, trägt zwar in einer Schale die Rache als Auslöser für einen Gewaltausbruch, aber als Gegengewicht in der anderen Schale auch stets die Rache als mächtige emotionale Barriere gegen die Gewalt. In dem Sinne diene sie der Abschreckung, betonte Pinker (2013). Menschen schrecken unter anderem deshalb vor dem Verletzen Anderer zurück, weil sie deren Rache fürchten. In blutigen Vergeltungsschlägen wird über Abschreckung versucht, den Feind so sehr lahm zu legen, dass er aus purer Angst vor der möglichen Rache auf den Gegenangriff verzichtet. In ihrem sehr aufschlussreichen Experiment über Kooperation machen die Sozialpsychologen Martin Daly und Margo Wilson (1988) deutlich, dass die Angst vor Rache als Abschreckungsmaßnahme für uns mehr als notwendig ist, da der individuelle Egoismus auf viele Menschen eine starke Verführungskraft ausübt. Nur vom beidseitigen Verzicht auf Rache können beide Parteien profitieren, während der beidseitige Egoismus alle Konfliktparteien unausweichlich zu einem gemeinsamen Abgrund führt (Pinker,

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2013, S. 788 f.). Leider sind die vielen uns bekannten Zermürbungskriege ein klarer Beweis dafür. Was aber geschieht, wenn der Kreislauf der Rache bereits begonnen hat sich zu drehen und das Rad der Zerstörung nicht mehr durch eine Vollbremsung gestoppt werden kann? Das Rachegefühl entsteht aus der subjektiv erlebten Verletzung. Wenn sie nur von einer Person oder einer kleinen Gruppe verursacht wurde und keine Voraussetzungen für eine Verallgemeinerung gegeben sind, kann das Gerechtigkeitsgefühl durch Strafe wiederhergestellt werden, insbesondere dann, wenn die Zielperson genau weiß, warum und von wem sie bestraft wurde, klein beigibt und Reue zeigt. Mit der Erreichung dieses Zieles, dass die andere Person bestraft ist und eine Lehre daraus gezogen hat, entsteht ein Zufriedenheitsgefühl, das aggressive Impulse zunächst beruhigt. In diesem Sinne sind Reue und Verzeihen die Voraussetzungen, um sich aus der Spirale der Gewalt befreien zu können. Diffuser wird der Begriff der Vergeltung in Bezug auf eine größere Gruppe oder eine Ethnie. Je länger ein Konflikt dauert, desto größer wird die Zahl gegenseitiger Verletzungen. Wenn die Vernunft nicht irgendwann die Oberhand gewinnt, führt der vorprogrammierte Rachezwang unaufhaltsam zu einer ständig wachsenden Brutalität. Ein sehr einfaches, aber aufschlussreiches Experiment von Sukhwinder S. Shergill, Paul M. Bays, Chris D. Frith und Daniel M. Wolpert (2003) belegte, dass die Menschen die Strafe, die sie selbst anwenden oder vollstrecken, deutlich unterschätzen und signifikant die Kraft überschätzen, die auf sie selbst ausgeübt wird: Zwei Personen mussten gegenseitig und nacheinander drei Sekunden lang den Finger des Anderen einquetschen, mit der gleichen Kraft, die sie selbst fühlten. Nach acht Durchgängen war der gemessene Druck achtzehnfach höher als am Anfang (vgl. Pinker, 2013, S. 798). In unserer eigenen – verzerrten – Selbst-

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wahrnehmung erscheint uns das, was Andere uns antun, immer schlimmer als das, was wir selbst Anderen antun, was letztlich der Selbstidealisierung dient. Die Begegnung mit rachegesteuerten Kriegstätern sieht meist so aus: Sie berichten, ohne es im Geringsten zu bemerken, dass sie durch ausgeübte Rache die Grenze zur Täterschaft längst überschritten hatten. Ein Serbe zum Beispiel wurde fast jede Nacht von Albträumen verfolgt, in denen er in einem verwüsteten serbischen Dorf ein nacktes Kind gekreuzigt auffand, auf dessen Körper ein muslimisches Mondzeichen eingeritzt war. Was er aber unternahm, um die Tat zu rächen, bearbeitete er im Bewusstsein, frei von jeder erkennbaren Schuld und mehr mit dem Gefühl der gerechten Vergeltung eines Nemesis-Helden. Ein muslimischer Soldat wiederum erzählte nebenbei und mit einem Schulterzucken vom Niederbrennen serbischer Dörfer und davon, Frauen und Kinder getötet zu haben, nachdem seine Truppe einen Kampf verloren hatte und »Rache üben musste«. Ein afghanischer Geflüchteter berichtete, einen Mann aus dem Nachbardorf ermordet zu haben, weil dieser den Bruder des Geflüchteten physisch angegriffen und öffentlich schwer beleidigt hatte. Aus Furcht vor Blutrache floh der Täter nach Deutschland, berichtete aber stolz und sehr schnell davon, seinen Bruder gerächt zu haben. Auf dem Kampffeld haben Soldaten oft den Wunsch, die gefallenen Kameraden zu rächen, um der Ohnmacht und den Schuldgefühlen, selbst überlebt zu haben, zu entgehen. Der empfundene Heroismus und die Selbstzufriedenheit wirken bei den Vergeltern mitunter wie Sand, der ihre Augen trübt, sie blind macht für die eigenen Taten, was selbst für Beobachtende »ansteckend« sein kann. Psychodynamisch betrachtet ist die Rache wegen ihrer sehr gegensätzlichen Aufgaben – den Frieden zu ermöglichen und die Verletzungen zu vergelten – äußerst tückisch.

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Falls vor einer möglichen weiteren Vergeltung nicht alle Ängste ruhiggestellt werden können, begegnen wir einem anderen Prozess, der sich tief im Unbewussten abspielt. Mit der Zunahme von Tötungen vervielfältigt sich nicht nur die Zahl der Getöteten, sondern auch die Zahl derer, die all diese Opfer möglicherweise eines Tages rächen wollen. Diese Ahnung verursacht unbewusst eine entsetzliche Angst. Um weiterkämpfen zu können, muss diese Furcht überwunden, abgespalten und schnell verlernt werden. Gelingt dies nicht, nimmt das Paranoide zu, und das Gefühl von Verfolgung und Bedrohung wächst ins Unermessliche. Den nachfolgenden Fehlschluss kennen wir schon: Es wird noch mehr getötet, um den Feind so abzuschrecken, dass er nicht mehr wagt zurückzuschlagen. So ufert dieser wirbelnde Strudel des Rachedurstes zunehmend aus, bis hin zu Massenmorden. Am Ende scheint nur noch ein Kampf gegen Geister geführt zu werden, von denen man sich verfolgt und bedroht fühlt – ein Geisterkampf, schmerzlich ausgetragen an realen Menschen. Die Massaker in My Lai, Halabja und Srebrenica erinnern uns daran.

3.3 Dominanz – der Weg zu Macht und Kontrolle Dominanzbestrebungen gehören zu den tödlichsten und verheerendsten Ursachen aller Konflikte der Menschheitsgeschichte. Im Vordergrund steht immer der Kampf um Macht, Kontrolle und Dominanz, um mehr Rechte für sich selbst und vor allem um mehr Rechte über Andere. Die manchmal ungeheuren materiellen und psychologischen Nachteile für die eigene Gruppe werden dabei in der Regel in Kauf genommen. In jüngerer Zeit sind die Kriege in Syrien, im ehemaligen Jugoslawien und in Ruanda schmerzliche Beispiele dafür.

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Die Natur hat uns auch hier eine Waage der Macht an die Hand gegeben. Es reicht schon, sich selbst morgens im Spiegel zu sehen, damit den erfolgreichen Kampf unseren Vorfahren zu bezeugen und zu wissen, die Natur hat sich sicherlich etwas dabei gedacht. Dominanzkampf gleicht einem zum Überleben der Spezies genetisch verankerten Können, für das wir den »Ausschaltknopf« noch nicht gefunden haben – aus purer Angst, den Kampf möglicherweise zu vergessen und das Überleben der ganzen Spezies eines Tages damit zu gefährden. Was sagt die Neurowissenschaft dazu? Sie weist darauf hin, dass dies auch etwas mit den männlichen Hormonen zu tun hat. Ein Schaltkreis-Zentrum des Gehirns im vorderen, präoptischen Teil des Hypothalamus, bei Männern doppelt so groß wie bei Frauen und mit Testosteronrezeptoren dicht übersät, wird dabei besonders aktiv. Bekanntlich ist Testosteron fünf bis zehn Mal mehr im Körper des Mannes als dem der Frau zu finden und sorgt dafür, dass Streitlust und Wettbewerb massiv bei dessen Ausschüttung steigt (Raine, 2015). So sorgte dieser Mechanismus einerseits für das Überleben unserer Spezies, andererseits trägt er aber auch bei zu Vergewaltigungen, Ermordung von Millionen und verschiedenen Formen der Tyrannei. Bei den Geflüchteten, die zu Tätern wurden, habe ich drei verschiedene Erscheinungsformen dieser Machtkämpfe gesehen: die individuelle Suche, die gemeinsame Suche und das Mitläufertum. Individuelle Suche nach Macht und Kontrolle. Die erste Form bezieht sich auf den Einzeltäter, dessen Motivation im Moment der Täterschaft ausschließlich darin lag, nach Übernahme der Kontrolle die eigenen persönlichen Machtansprüche und Wünsche durchzusetzen. Ausschlaggebend ist hier überwiegend die persönliche Vorgeschichte des Täters. Es kann sich dabei um narzisstische oder an-

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dere Persönlichkeitsstörungen handeln (vgl. Kernberg, 1992/1997, 2004/2006), aber es kann auch ein Mensch sein, der unter besonderen Umständen ein bestimmtes Signal so interpretiert, dass er sich gezwungen fühlt, eine Gewalttat zu begehen. Hier begegnen wir einem breiten Spektrum der Täter: von jenen, die einen Anderen aus dem Rettungsboot warfen, um Platz für sich selbst zu erkämpfen – denn auch der subjektiv erlebte Überlebenswunsch kann in manchen Situationen in einen Kampf um Dominanz ausarten – bis zu den Tätern, die in jeder Situation dominieren wollen, wie einer, der sogar ein Mitglied der eigenen Gruppe verwundete, weil dieses »ein Feigling und Verräter« war. Oder denen, die im Krieg Frauen misshandeln und vergewaltigen, um das Gefühl der eigenen Dominanz zu bestätigen. Aber auch solchen, die ihre Taten aus Wut, Ohnmacht und Verletzung begehen, wie im Fallbeispiel. Fallbeispiel Ein achtjähriger Junge aus Afrika wurde nach dem Tod des Vaters zu den Großeltern gebracht, da die Mutter arbeiten musste. Der Großvater war ein sehr dominanter Voodoo-Priester einer extrem geschlossenen Gemeinde, der auch eine Art Religionsmissbrauch praktizierte. Er zwang den Jungen regelmäßig, in seinen Ritualen verschiedene Handlungen zu übernehmen, worüber dieser in der Therapie kaum sprechen konnte. Als 14-Jähriger konnte er dies alles »nicht mehr aushalten«, verlor die Kontrolle über sich und tötete den Großvater. Eine Frau organisierte innerhalb von ein paar Tagen seine Flucht nach Europa.

Unter den Tätern mit ausgeprägtem innerem Drang nach Dominanz und Macht über Andere finden sich viele, die führende Rollen in politischen, religiösen oder kriminellen Gruppierungen übernommen haben. Die Zugehörig-

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keit zu einer Gruppe ist ihnen nur wichtig, insofern sie eine befehlende Rolle übernehmen können. Die Gruppe ist in diesem Fall nur das wegbereitende Werkzeug ihrer Machtansprüche. Suche nach Macht durch gemeinsame Identität. Gruppenzugehörigkeit gibt ein Gefühl von Wärme, Vertrauen, Mitgefühl, Fürsorge, vom Teilen gemeinsamer Werte, Aufgaben und Zukunftsziele. Sie kann aber dafür etwas anderes einfordern: die Durchsetzung bestimmter Ziele, wie nationale Bestimmung, Kastendenken, Patriotismus, Rassismus, Militarismus, starre Ehrvorstellungen und Schicksalsergebenheit oder die Verteidigung von bestehenden Ungleichheitsverhältnissen. Hier sind die Bluttaten zu finden, die vor allem im Namen der Wir-Identität begangen werden. Es geht um die Verteidigung der eigenen Gruppe oder die Durchsetzung ihrer Ziele. Das Wir-Gefühl und die Gruppenidentität sind hier die psychologischen Leitwörter. Einzelne identifizieren sich stark mit der Gruppe und ihren Normen und verteidigen sie nach außen. Das Moralverständnis der einzelnen Mitglieder spiegelt die Gruppennormen. Die Evolutionspsychologen Jim Sidanius und Felicia Pratto sprechen innerhalb einer Gruppe vom Wunsch des Menschen nach sozialer Dominanz (vgl. auch Pinker, 2013, S. 761). Dieses ursprünglich als Stammesdenken und -fühlen bekannte Verlangen gibt den Angehörigen einer Gruppe nicht nur Orientierung und Identität, sondern hat auch die Aufgabe, die Mitglieder nach außen sichtbar zu positionieren und andere Gruppen stetig zu bekämpfen. Arendt (1968/2012) beschrieb das Bestreben nach sozialer Dominanz als »gewaltige[n] Zuwachs an gegenseitigem Hass und ein gewissermaßen universales Sich-Gegenseitig-auf-die Nerven-fallen« (S. 102). Zugespitzt bezeichnen Politikwissenschaft und Philosophie diese Entwicklung als Ressentiment, einen Zustand, in dem durch die Ableh-

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nung der Anderen aufgrund von Neid, des Gefühls der Erniedrigung und Ohnmacht ein heimlicher Groll aufrechterhalten wird, um sich dadurch erklären und definieren zu können (Olschanski, 2015). Daraus entwickelt sich die Überzeugung, dass die eigene Nation, Kultur oder Gruppe das ultimative Recht auf eine große, übergeordnete und privilegierte Stellung gegenüber den Anderen hat, denen gegenüber sie missgünstig agiert (Mishra, 2017). Kommt dabei noch ein politischer Führer mit einem unermesslichen Glauben an sich selbst und an die erhabene Position seiner Gruppe oder Ethnie hinzu, so kann Gewalt schnell metastasieren. So begegnen wir hier den Menschen, die sich im Namen ihrer Ethnie, Religion oder ihrer politisch Gleichgesinnten der Täterschaft schuldig gemacht haben. Da sie sich meist durch die Ideen der Anderen oder tatsächlich physisch angegriffen fühlen, empfinden sie sich paradoxerweise nur als Verteidiger – unabhängig davon, wie brutal sie auch selbst vorgehen. Die Kämpfer aus den Bürgerkriegen im ehemaligen Jugoslawien, im Ukraine-Konflikt, teilweise auch im Syrien-Krieg sind nur wenige Beispiele hierfür. Der Fokus liegt ausschließlich darauf, den Feind zu besiegen und die Kontrolle zu übernehmen. Die Rechtfertigung dafür suchen und finden sie innerhalb der eigenen Gruppe. Das Bild von sich selbst ist keinesfalls das eines Täters, sondern eher von jemandem, dem die Last des Tötens im Namen der Gruppe aufgebürdet wurde. Psychologisch lauert im Hintergrund vor allem die Suche nach und die Behauptung der eigenen Gruppenidentität und der Machtbereiche. Mitläufer – die individuelle Suche nach dem Gruppenschutz. Die dritte Form sehen wir bei den Gewalttaten, die aus dem konformen Wunsch entstanden sind, einer Gruppe anzugehören und deren Schutz zu genießen. Hier handelt es sich nicht um Menschen, die aus dem

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Glauben an die Erhabenheit der eigenen Gruppenidentität und -ziele heraus die Täterschaft vollziehen, wie bei der vorherigen Form, sondern bei ihnen überwiegt das opportune Zugehörigkeitsgefühl. Sie sind keine überzeugten Nationalisten, Rassisten oder Kastendenker, aber sie passen sich der dominanten Gruppe an. Sie reagieren mehr aus Pflicht, Loyalität, Gruppenzwang, Gehorsam oder aus dem Wunsch nach dem Schutz der Gruppe. Das Individuum ist zu schwach, zu ängstlich, autoritätshörig oder innerlich gefangen, um sich der Gewaltanwendung allein entziehen zu können. Die Unterschiede zwischen individueller und Gruppenmoral sind etwas leichter erkennbar. Die Schuld für die Taten wird aber weiterhin auf die Gruppe projiziert. Christopher Browning (1993) hat das Verhalten von Soldaten analysiert, die das Massaker in Babij Jar während des Zweiten Weltkrieges durchführten. Er stellte heraus, dass bei vielen kaum Judenhass zu finden war, sie folgten jedoch ihren Befehlen, einfach, weil es Befehle waren (Waller, 2007, S. 186). Psychologisch betrachtet, erkennen wir bei ihnen sowohl die Angst vor Autoritäten als auch Angst vor sozialer Isolation. Diese Täter können unter ihren Taten leiden, führen aber dennoch unverändert das aus, was von ihnen verlangt wird. Dieses Verhalten sehen wir auch im Milgram-Experiment: Die meisten Versuchspersonen litten sehr unter der Tatsache, dass sie Stromstöße als Strafe anwenden mussten. Sie baten vor jedem geforderten Stromschlag, ihn nicht ausführen zu müssen, gehorchten jedoch letztendlich – trotz ihres Gewissens, das dies ablehnte. Sie folgten der jeweiligen Norm, unabhängig davon, wie skurril, unerklärlich, menschenfeindlich oder abscheulich sie war. Andererseits war bei denjenigen, die eher Angst vor dem Ausgestoßensein hatten, deutlich weniger Angst vor Autoritäten feststellbar. Sie kehrten so weit wie möglich zu ihren ursprünglichen moralischen Normen zurück, so-

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bald sie nicht mehr dem Gruppenzwang unterlagen. Ein überraschendes Ergebnis in einer der Varianten des Milgram-Experiments bestätigte dies: Die Bereitschaft zur Gewaltanwendung stieg von 65 auf 90 %, wenn eine andere Person im Raum mit der Versuchsperson zusammen war und zuerst den Stromschlag geben musste. Diese 25 %, die automatisch den anderen folgten, hatten allein keine Angst gehabt, sich der Autorität zu widersetzen, scheiterten jedoch am Gruppenzwang. Handelt es sich hier um die Angst, aus der Gruppe ausgestoßen zu werden, um Loyalitätsgefühl oder um Zuschauerapathie von Menschen, die sich von der Gewalt mitgerissen fühlen? Oder ist dies als ein angeborener Konkurrenzmodus innerhalb der Gruppe zu verstehen, der außer Kontrolle geraten ist und dem potenziellen Gegner nur die Botschaft senden möchte: »Leg dich nicht mit mir an, da ich auch die Muskeln zum Zuschlagen habe«? Exkurs: Die Gruppe und die Gewalt

Am Ende der 19. Jahrhunderts lebte der bekannte französische Intellektuelle und Denker Gustave Le Bon (1895/1982) in ewiger Angst, der Mob könne jeden Moment die Gesellschaft erobern und ruinieren (vgl. Waller, 2007). Er hielt die Gruppe für fähig, das Individuum radikal zu verändern und zu deformieren. Das Kollektive betrachtete er als unvernünftig, primitiv, unbeständig, diktatorisch, intolerant und Dummheit produzierend. Er war zutiefst davon überzeugt, die Gruppe vermindere die Intelligenz des einzelnen Menschen dramatisch. Beeindruckt von diesem Gedanken bestätigte Sigmund Freud (1921/2014) rund zwanzig Jahre später, dass die Masse temporär ein regressives Verhalten tatsächlich einfordert. Die eigene Meinung geht leichter in der Masse verloren, die intellektuellen Fähigkeiten sinken, die Gefühle sind

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schwieriger zu kontrollieren, und der Mensch kann sich selbst kaum noch erkennen. Das Über-Ich, unsere Quelle des Gewissens, wird außerdem externalisiert und auf die Führerin bzw. den Führer der Gruppe projiziert. Der Weg zur Verantwortungs- oder Schuldfreiheit wird dadurch angelegt. Das weitere Teilen des gemeinsamen Über-Ichs in der Gruppe erleichtert das Ausleben der Aggressivität, weil die eigenen moralischen Normen nicht mehr berücksichtigt werden müssen, fügte Freud (1921/2014) hinzu (vgl. auch Canetti, 1960/1980). Zehn Jahre später, im Jahr 1932, sorgte ein weiteres wichtiges Werk für Furore. Reinhold Niebuhr, ein berühmter amerikanischer Theologe, veröffentlichte ein Buch mit dem sehr provokanten Titel »Moral Man and Immoral Society« (1932). Das Böse sah er in jedem von uns permanent vorhanden und nahm eine grundlegende Differenz zwischen einem individuellen und einem Gruppen-Moralempfinden an. Individuen seien zum Humanen, Guten und Moralischen fähig, die Gruppe hingegen sei von Natur aus egoistisch und keinesfalls mitfühlend Anderen gegenüber, sondern nur bezüglich der jeweils eigenen Mitglieder. Das Kollektiv sei arrogant, heuchlerisch, auf sich fixiert und auf alle Fälle skrupelloser in der Durchsetzung des eigenen Willens. Die moralischen Hemmungen haben auffallend weniger Kraft in der Gruppe als bei Individuen, bei denen sie erheblich wirksamer zu sein scheinen (Waller, 2007). Konrad Lorenz (1963) hielt nicht die Einzelnen für Mörder, die Gruppe jedoch schon, und Grossman (2009) bekräftigte, dass die Gruppenanonymität sogar eine Art von atavistischen hysterischen Tötungen einfordert. Und Vergewaltigungen im Krieg ebenfalls. Die Diffusion der Verantwortung bei Individuen in kriminellen Banden und bei Kämpfern ermöglicht, solche Taten zu begehen, die sie »nie im Leben als Zivilisten getan hätten« (S. 151).

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Gruppen haben die Macht, das Gute und Anständige bei Einzelnen zu unterdrücken. Eine weitere freiwillige Unterdrückung der Individualität zugunsten der Gruppe und der gemeinsamen Atmosphäre beschrieb der Psychologe Irving Janis (1972) als Gruppendenken (vgl. Pinker, 2013, S. 825). Die Anführerin bzw. der Anführer der Gruppe wird absichtlich vor anderen Meinungen geschont und stattdessen mit genau dem bedient, was sie bzw. er hören möchte. Die Mitglieder sorgten dafür, dass Zweifel zensiert würden – im eigenen Kopf, vor allem aber jene, die laut ausgesprochen werden könnten. So verstummen Diskussionen sehr schnell. Unter den Augen der Öffentlichkeit werden häufiger Gewalttaten begangen als im stillen Kämmerlein, bestätigt die Sozialforschung. Eine Untersuchung auf amerikanischen Straßen zeigte, dass bei den Jugendlichen, die sich zu einem Ehrenkodex bekennen, die Anwesenheit von Publikum die Chance auf einen gewalttätigen Ausbruch verdoppelt (Brezina, Agnew, Cullen u. Wright, 2004). Eine Reihe von Experimenten führte die Psychologen John Darley und Bibb Latané (1968) zum Begriff der Zuschauerapathie. Viele Menschen, die sich in einer Zuschauergruppe befinden und so Zeuginnen bzw. Zeugen eines Verbrechens oder einer Misshandlung sind, werden nichts unternehmen, um die Gewalttat zu stoppen. Bei realistisch inszenierten Experimenten mit vermeintlich schwer Verletzten im (nicht einsehbaren) Nachbarzimmer, die laut um Hilfe riefen, dachten 80 % der Versuchspersonen, es könne nicht so schlimm sein, weil keine der in ihrem Raum anwesenden Personen etwas unternahm (vgl. Pinker, 2013, S. 827). Gemeinschaften sind aber keinesfalls für alle nur schlecht, und das für immer – unveränderbar und unwiderruflich. Gruppen können auch durch positive Ideen stark verbinden und sich dadurch der Destruktivität

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widersetzen. Viele Forschungen kommen zu dem Schluss, dass die Gruppe grundsätzlich die Fähigkeit hat, das in Menschen bereits Vorhandene zu Extremen zu steigern: Durch die Gruppe werden sie zu etwas befähigt, was sie allein nie getan hätten (Waller, 2007, S. 38 f.). Die entscheidende Frage dabei ist jedoch, in welche Richtung und wodurch die Gruppe gelenkt wird, da sie sowohl gute wie auch aggressive Eigenschaften in sich trägt. Aus vielen Kriegen wurden Beispiele berichtet für die Unterordnung unter den Gruppenzwang, wenn beispielsweise nach den Kämpfen »Trophäen« der Feinde in Form abgeschnittener Ohren oder Nasen gesammelt werden sollten, um damit zu prahlen. Oder bei Massenvergewaltigungen, obwohl der eine oder andere im Grunde wusste, dass er dies nicht mit sich selbst vereinbaren konnte. Clark McCauley und Mary E. Segal (1987) analysierten terroristische Organisationen und stellten fest, dass viele von deren Gruppenmitgliedern sich einander verbunden fühlten, weil sie unter ähnlichen Missständen litten. Mit der wachsenden Isolierung von moderaten Einflüssen werden sie zunehmend extremer, als Gruppe wie auch als Individuen (Waller, 2007, S. 39).

3.4 Ideologie – die Suche nach dem idealen Wir und die absolute Macht Das soziale Dominanzstreben hat nicht nur zu besonders tödlichen und verheerenden Konflikten der Menschheitsgeschichte geführt, es kommt auch in einer besonders wüsten ideologischen Verkleidung daher. Entgegnen könnte man an dieser Stelle, dass die Ursprünge aller Ideologien ausnahmslos in dem Wunsch liegen, etwas Gutes zu erreichen. Dem widersprechen jedoch längst in Stein gemeißelte Warnungen wie »Der Weg zur Hölle ist mit guten

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Absichten gepflastert« (Sprichwort) oder »Es sind immer die guten Männer, die den größten Schaden in der Welt anrichten« (Henry Adams; Übers. v. Verf.). Keinesfalls könnten wir die bekanntesten Kriegsverbrecher, Terroristen und Diktatoren als gute Menschen bezeichnen, wie Baumeister (1996/2001) bekräftigte. In ihrer verzerrten Wahrnehmung von sich selbst glaubten sie in der Tat, etwas Gutes zu wollen (S. 170). Angesichts der Millionen Toten und des unsäglichen Leids, das sie im Laufe ihrer Herrschaft verursachten, klingt diese Behauptung über ihre guten Absichten abstrus. Diese einzelnen Personen können wir im Nachhinein als verrückt, als maligne Psychopathen oder wahnhafte Narzissten bezeichnen. Als Gesellschaft könnten wir Vereinzelte von ihnen gut verkraften, aber was ist mit den Millionen, die ihnen folgen, besonders wenn sie Gewalt predigen? Und wie sieht es aus, wenn wir einem von ihnen als Geflüchtetem begegnen? Finden wir unter der Oberfläche des angeblichen Idealismus nur verborgene Wünsche nach Selbstbereicherung, wie einige Autorinnen und Autoren glauben? Die leidenschaftliche Hingabe an ein System von Glaubenssätzen und starren Vorstellungen, wie eine ideale Gesellschaft aussehen sollte, kann unter gewissen Umständen in einen frenetischen Fanatismus münden. Im Vergleich mit anders motivierten Kriegen ist für das Töten unter ideologischer Flagge kein zusätzlicher praktischer Gewinn notwendig. Der materielle Nebengewinn ist nur wichtig, um die Macht der Ideologie zu verfestigen. Die Idee selbst ist die motivierende Kraft. Wie absurd sie auch immer sein mag, verspricht sie die ultimative Lösung für viele Grundprobleme einer Gesellschaft. Ein anschauliches Beispiel für die Absurdität ideologie-­ motivierter Taten stellt das Massaker an über zwei Millionen Menschen durch das Pol-Pot-Regime in Kambodscha dar. Nach Massentötungen und der Übernahme der ab-

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soluten Macht entschieden die Roten Khmer, alle außer Landes geflüchteten Intellektuellen ebenfalls zu vernichten. Auf Basis der Behauptung, die Augen könnten nur durch das Lesen verdorben werden, erklärten sie alle Brillentragenden zu Intellektuellen. Einige Zeit nach der Machtübernahme luden sie alle Geflüchteten zur Rückkehr ein, um das Land mit aufzubauen. Viele kehrten tatsächlich zurück in der Hoffnung, wieder im eigenen Land leben zu können. Nach ihrer Rückkehr wurden jedoch alle Brillenträger inhaftiert und getötet. Da ihre Güter längst vereinnahmt waren, bedeutete dies für das Regime keinesfalls eine zusätzliche Bereicherung. Vielmehr betrachtete es diese ganze Aktion als seine moralische Pflicht. Ähnliche Gräueltaten fanden während des Stalinismus statt mit über zwanzig und in China während der Kulturrevolution mit 32 Millionen Getöteten. Auch im Namen der verschiedenen Religionen sind im Verlauf der Menschheitsgeschichte unzählige Millionen Menschen als blutige Kollekte gefallen. Die Kreuzzüge der Christen, die Zerstörungen durch die Taliban, durch den Islamischen Staat und andere Gruppierungen, die für die Einführung der Scharia, gegen die westlich orientierten Staatssysteme oder für die strengere islamische Ausrichtung des Staates kämpften, sind nur einige Beispiele. Das sehen wir bei den Boko Haram in Nigeria ebenso wie bei anderen islamistischen Gruppierungen in Afghanistan, Syrien, Saudi-Arabien, Irak, Jemen, Bangladesch, Pakistan, Sri Lanka, auf den Philippinen, in Tschetschenien, Dagestan, Inguschetien (vgl. auch Heine, 2001; Witzens, 2017). Meist entstehen diese Zerstörungszüge als Reaktion auf Dominanzbestrebungen anderer Ideologien oder Staatsformen und bedienen sich einer religiös-ideologischen Idee, um sich gegen den Feind zu vereinen. Leider lehrt uns die Gewaltforschung, dass gerade die Kriege, die im Namen einer Ideologie geführt werden, unendlich brutaler, schmutziger,

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unbarmherziger und mit viel mehr Gräueltaten übersät sind als jene mit einem anderen Bezugsrahmen. Instrumentalisiert in den Händen weniger Psychopathen haben solche Gruppierungen zweifellos mehr Ausdauer und Bereitschaft zu kämpfen als eine raublustige und kriminelle Bande (Baumeister, 1996/2001, S. 174). So werden solche Konflikte und Kriege sehr langlebig. Was ist an den Ideologien so anziehend für eine einzelne Person, um unter Umständen zum Täter zu werden – obwohl diese sich selbst keinesfalls so nennen würde? Wie sieht ihre psychologische Landkarte aus? Ideologie ist sicherlich nicht das Produkt eines hypnotischen Massenwahnzustandes (vgl. Broch, 1948/1979; Marks, 2003), obgleich darin sehr wohl eine Prise Wahrheit stecken könnte. Die Waage, mit der wir die Wirkung einer Ideologie messen können, enthält in einer Schale den Glauben an etwas und in der anderen die Menge an Zerstörung, die sie sich deshalb zugesteht. Die Ideologie will sinnstiftend wirken, Orientierung geben und Grenzen setzen, auf absolute Gehorsamkeit und Kontrolle bestehen und vor allem die vorherigen Missstände gänzlich beseitigen. Sie basiert auf der tiefen und selbstidealisierten Überzeugung, dass sie die absolut gute, wertvolle und über alles erhabene Lösung für alle vorherigen Probleme und Leiden darstellt. Der selbstverherrlichende und ultimative Glauben an die eigenen Ziele und Werte ist ihr erster Grundstein, der Erlösung von den vorherigen Leiden verspricht. Und je mehr eine Ideologie im Zuge ihrer »ultimativen Lösung« auf eigene Selbstverherrlichung besteht, desto kompromissloser wird sie mit Andersdenkenden sein, desto starrer in ihrem Moralverständnis und brutaler in der Gewalt, die sie sich anzuwenden erlaubt. Je »heiliger« das Flair eines Glaubens, desto anziehender ist er für diejenigen, die ihr authentisches Dasein zugunsten dieser großen Idee aufzugeben bereit sind. Die Suche nach einem idealen Wir beginnt.

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Der Preis für die erhoffte Selbstaufwertung durch die Ideologie liegt jedoch gerade im Aufgeben von großen Teilen des eigenen Selbst – in Bezug auf eigene Urteilskraft und Vernunft, ganz zu schweigen vom eigenen Willen. Die bisher geltenden individuellen Moralvorstellungen fallen damit der entsprechenden Ideologie zum Opfer. Die Augen starr auf das über alle Maßen wertvolle Ziel gerichtet, werden so alle Mittel zur Erreichung dieses fernen Ideals als gerecht erklärt. Eine massenhafte Erblindung für Untaten jeglicher Form stellt sich auf diese Weise allmählich ein. Bei einigen ideologiegetriebenen Tätern werden durch diese willentliche Blindheit (»willful blindness«; Heffernan, 2011/2016) nur die moralischen Aspekte verwischt, für andere werden sogar die Taten selbst unsichtbar, wie zum Beispiel bei den vielen, die über die Massenvernichtungslager »nichts wussten«. Jegliche Hinterfragung wird als »Schwäche« oder »Verrat« verstanden (Baumeister, 1996/2001, S. 180; vgl. Volkan, 2005), bis eines Tages alle verstummen. Gefangen in diesen ideologietypischen paranoiden und misstrauischen Strukturen, fordert die Ideologie so von den Einzelnen als Beweis ihrer Zugehörigkeit sowohl absoluten Gehorsam als auch die Bereitschaft, Opfer zu bringen. Dicht aneinander gebunden, sind dies die zwei weiteren Grundsteine der Ideologie. In keinem anderen Krieg werden so viele fremde, aber auch eigene Menschenverluste, so viele eigene Opfer verlangt, um die bedingungslose Hingabe an das Ziel zu beweisen. Die Selbstopferungen durch terroristische Selbstmordattacken sind die extremsten Beispiele dafür, wie das Individuelle nur noch ein Diener einer Idee sein darf. Den vierten Grundstein sehe ich in dem Glauben – wie Ervin Staub (1992) es pointiert formulierte – dass »die Ideologie vermittelt, die Welt wäre ohne die Anderen ein bessere« (S. 183; Übers. v. Verf.), da dann für diese Ideo-

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logie keine Bedrohung mehr existieren würde. Baumeister (1996/2001) fügte hinzu, dass jene, die aus ideologischen Gründen Kriege führen, sich gerne eine Erlaubnis zum Hassen geben (S. 181). Der Spruch »Alle, die nicht auf unserer Seite sind, sind gegen uns« ergänzt dieses Grundverständnis. Entwertung und Entmenschlichung des feindlichen Gegenübers sind hier besonders stark zu spüren, wodurch sich der Weg zur Brutalität öffnet. Es ist erlaubt, im gemeinsamen Hassgefühl regelrecht zu baden, eingebettet in eine angebliche moralische Überlegenheit. Die Geschichte ist voll von solchen hasspredigenden Terroristen, Islamisten, Rassisten oder anderen Ideologen. Die Völkermorde an den Jesiden in Sindschar seitens der Terrormiliz »Islamischer Staat« und an den Rohingya, einer muslimischen Minderheit in Myanmar, sind nur die letzten mit massivem Hass begründeten Gräueltaten. Wenn sie über ihre Ideologie sprechen, bilden solche Täter ein Narrativ, das durch ihre Glaubenssätze und starren Plattitüden leicht zu erkennen ist. Es wirkt oft wie eine mehr oder weniger nihilistische Werbekampagne für die eigene Doktrin, die nicht hinterfragt werden darf und wie eine Wand zwischen ihnen und den Anderen steht. Sie versuchen, sich selbst dadurch zu erklären, ohne zu begreifen, dass sie genau daran nur scheitern können. Sie nur durch ihre Ideologie zu sehen, wie sie es selbst wollen, kann auch jenen passieren, denen sie begegnen: Zuerst verschwindet das Bild des Menschen hinter der ideologischen Fassade. Vor uns sehen wir dann Geflüchtete, die auf den ersten Blick sogar stolz und selbstverständlich darüber berichten, in ihrem Heimatland jemanden getötet zu haben, weil sie die Ehre des Bruders oder der Familie retten oder Andere einfach bekämpfen mussten. Oder sie erzählen, dass sie Frauen aus ihren Familien ausgestoßen oder geschlagen haben, dass sie ihre Töchter als Minderjährige in eine

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Ehe gegeben haben. Da ihre moralischen Normen nur innerhalb der eigenen Gruppe gelten, erleben sie sich auch Professionellen in Beratung und Therapie gegenüber als aufrichtig in ihren Taten. Sie können die Einsicht besitzen, dass sie sich nach anderen ethischen Kriterien schuldig gemacht haben, doch für das, was sie selbst diesbezüglich empfinden, ist dies nicht ausschlaggebend. In diesem Sinne dient das Bewahren des Glaubens der Schuldabwehr. So kann die Ideologie wie eine identitätsstiftende psychologische »Plombe« weiter existieren. Manche identifizieren sich gänzlich mit den Werten, die sie vertreten, Andere innerhalb derselben Gruppe aber nicht: Dies sind die ideologischen Mitläufer. Wie Pinker (2013) viele Experimente treffend zusammenfasste, unterstützt der Mensch sehr oft eine Meinung, die er überhaupt nicht hat, wenn er fälschlich glaubt, ein anderer vertritt sie (S. 837). Wir verhalten uns offensichtlich, wie wir denken, dass es die Anderen von uns erwarten. So kann es passieren, dass zwei Personen in einem Raum nur das machen, von dem sie vermuten, dass die je andere damit rechnet. Am Ende agiert keine von beiden in ihrer ursprünglichen Motivation und keine liegt richtig mit ihrer Ahnung, was die andere Person denkt. In einem ideologischen Gruppenzwang des Schweigens wissen daher viele weder, was sie selbst tatsächlich denken oder vertreten, noch, was wirklich von ihnen erwartet wird. Um sich in diesem Nebel zurechtzufinden, orientiert man sich dann an den lautesten Führern, Parolen und Ritualen.

3.5  Sadismus – die Quelle des Bösen Laut Statistiken, die in diesem Fall nur aus den forensischen und psychiatrischen Quellen stammen können, findet sich Psychopathie bei 2–3 % der Bevölkerung, häufiger bei Männern als bei Frauen (Pinker, 2013, S. 754). Und in

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politisch stabilen Ländern wird die Hälfte aller Schwerverbrechen von Psychopathen begangen, die unter malignem Narzissmus leiden (Pinker, 2013, S. 755). Wenn bereits in ruhigen Zeiten ein so hoher Anteil an Gewalttaten von einem so kleinen Personenkreis begangen wird, was erwartet uns dann im Krieg, in dem kein funktionierendes Justizsystem mehr existiert, das dagegen einschreiten kann? Tzvetan Todorov (1993) bestätigte bei seinen Forschungen die Schätzungen einer in Auschwitz inhaftierten Ärztin, dass nicht mehr als 5–10 % der Männer in Auschwitz wirklich sadistisch, erbarmungslos und grausam waren, andere Täter waren völlig normal und kannten sehr wohl den Unterschied zwischen Recht und Unrecht – was sie jedoch nicht daran hinderte, brutal und sadistisch zu handeln. Ein manipulativer Mensch mit psychopathischer Prägung, der nie so sehr auffallen wird, dass er forensisch oder psychiatrisch erfasst wird, unterscheidet sich trotz vieler Ähnlichkeiten von einem gewalttätigen psychopathischen, der an schwerem malignem Narzissmus leidet. Die meisten Psychopathen sind keine (Serien-)Mörder oder Sadisten (Hare, 1993/2005; vgl. Pinker, 2013, S. 820). Aber für jene, die genau dies sind, stellt der Krieg einen äußerst willkommenen Weltzustand dar, in dem sie ungestraft die eigenen pervertierten Gewalt- und Machtansprüche und sadistischen Impulse ausleben können. Angst auf sich selbst bezogen können Psychopathen kaum empfinden, bei Anderen nehmen sie sie jedoch schneller als jeder andere Mensch wahr, weil die Angst der Anderen sie regelrecht euphorisiert. Die Anziehungskraft eines Krieges, die sich ohnehin von der Angst ernährt, wird damit für gewalttätige Psychopathen unwiderstehlich. Im Krieg brechen solche Täter mit den abscheulichsten und kriminellsten Verbrechen jegliche humane Regel und hinterlassen eine Spur der Verwüstung.

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Es geht hier also um einen Menschen, der ohne Weiteres die elementare Grenze eines starken inneren Ekels und regelrechter körperlicher Abscheu davor, jemandem absichtlich Schmerz zuzufügen, leicht überschreiten kann (Pinker, 2013, S. 819). Dabei wird er von einer enormen Lust am Leiden anderer überschwemmt und möchte vor allem Herrscher über den Schmerz sein. Er ist ausnahmslos entwertend und ignoriert die Rechte, Wünsche und Gefühle der Mitmenschen. Kompromisslos auf den eigenen Nutzen fokussiert, hat er keinerlei Hemmungen zu foltern oder zu töten, falls dies seinen Zwecken dient. Weder Schuld- noch ein warmes Mitgefühl kennt er. Eine kalte Form der Empathie, in der er minuziös erkennt, was Andere fühlen, ist nur einem Zweck dienlich: um noch besser manipulieren zu können (Dutton, 2013). Eine übereifrige Ambition ist bei ihm kombiniert mit einem extremen Minderwertigkeitsgefühl und einer hohen Kränkbarkeit. Diese kompensiert er durch ungeheure Größenfantasien, in denen er sich gerne zum Herrn über Leben und Tod erhebt. Die Möglichkeit der Kontrolle über die Anderen, die er stets entwertet, befriedigt ihn zutiefst. Sie sind für ihn entweder närrisch oder feindlich, wie der Kriminalpsychiater Reinhard Haller (2009) ausführt. Er beschreibt sie als bösartigste Narzissten, die höchst misstrauisch sind, selten die Kontrolle über eine Situation verlieren, immer überlegt handeln und keinesfalls von ihren Gefühlen getrieben sind. Sie können jedoch bei jeglicher, auch kleinster Kränkung ihre Rachegelüste zu blutigsten Taten eskalieren lassen. Wie entschlüsseln Neurobiologie und Neurokriminologie diese Störungen? Das neurobiologische Korrelat dieser durch genetische und Umweltfaktoren entstandenen Störung finden wir im limbischen System. Dieses steuert unser Gedächtnis, den Antrieb und unsere Emotionen. Drei funktionale Verbindungen gehören zum limbischen System: der Hypothalamus, der für Nahrung, Sexualität,

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Angriff und Verteidigung zuständig ist, die Amygdala, die unsere Gefühle bewertet, die Situationen emotional einschätzt, mit dem Ereignis verknüpft, Hormone freisetzt und uns dadurch konditioniert, wenn wir die Flucht ergreifen müssen, und schließlich der Hippocampus, der unser Gedächtnis organisiert. Diese Hirnareale geben uns Bescheid, wann wir Gewalt anwenden oder wann wir sie lieber unterlassen sollten. Die Bremse gegenüber sinnloser Gewalt ist uns im präfrontalen Cortex ebenfalls mitgegeben, mit einem Vernunft anstrebenden Gegenflüsterer, der mit dem limbischen System verbunden ist. Dieser hoch entwickelte vordere Bereich der Großhirnrinde befähigt uns, komplexe Entscheidungen zu treffen, zwingt uns zu Selbstbeherrschung und Reflexion, bereichert uns mit dem Moralgefühl und der Fähigkeit, die Zukunft zu planen. So kann er Aggressionen dämpfen sowie die Konsequenzen aus eigenen Handlungen voraussehen (Raine, 2015). Bei impulsartigen und ungehemmten Gewalttätern zeigten sich im PET-Scan, wie der Neurokriminologe Adrian Raine (2015) nachweisen konnte, kaum Aktivitäten im präfrontalen Cortex. Die reglose Vernunft überlässt die Bühne den ungehemmten Aggressionen, die Amygdala und das limbische System übernehmen die Kontrolle. Es zeigte sich, dass Gehirnverletzungen im präfrontalen Cortex bei einigen Vietnam-Veteranen ebenfalls eine erheblich erhöhte Bereitschaft zur Aggression verursachten. Bei den dauerhaften Kampfeinsätzen wurde über ähnliche Reaktionen berichtet, wenn der präfrontale Cortex vorübergehend Furcht und Gewaltausbrüche, sprich die Aggressivität der Kämpfer, nicht mehr kontrollieren konnte (Raine, 2015). Bei der anderen Art von Tätern, den eiskalten Psychopathen, funktioniert die Verbindung zum präfrontalen Cortex hervorragend und sorgt für ihre Kaltblütigkeit. Ungestört von der Amygdala, die bei allen Psychopathen

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geschrumpft, abgestumpft und insgesamt weniger reaktionsfähig ist, ergeben sich vier Ausprägungen der schweren Psychopathie (Pinker, 2013), die unterschiedlich stark zum Vorschein kommen können. Bei sexuellem Sadismus sind besonders die Schaltkreise im Hypothalamus aktiv, die für die Verflechtung von Sexualität und Aggressivität zuständig sind. Nicht nur Psychopathen, sondern auch ganz gewöhnliche Kämpfer berichteten über solche Reaktionen während der Hitze der Gefechte. Einige Vietnam-Veteranen schilderten, das Tragen der Gewehre auf dem Schlachtfeld und die Macht zu töten habe auch eine enorme sexuelle Komponente für sie gehabt, und verglichen dieses Gefühl mit dem ersten Sex und der Macht, die sie dabei empfanden (Bourke, 1999). Mehrere Holocaust-Überlebende erzählten von ähnlichen Vorfällen mit sexuellen Sadisten. Einer erzählte, wie er über dreißig Mal gesehen hatte, dass ein SS-Lagerführer sich während der Prügelexekutionen selbst befriedigte (Heger, 1972, S. 68 f.). Neben dem sexuellen Sadismus nennt Pinker (2013) drei weitere Merkmale der Psychopathie: die morbide und makabre Faszination ob der Verletzlichkeit von Lebewesen, den unersättlichen Drang nach Dominanz, Macht und das Herrschen über den entmachteten und entwerteten Anderen sowie schließlich ein von Besessenheit getriebenes Verlangen nach Rache. Da sie kein Mitgefühl empfinden und emotional unempfindlich sind, kennen sie keine authentische Reue für ihre Taten. Das beste Beispiel dafür, wie Sadisten mit dem Schuldgefühl umgehen, ist in dem Dokumentarfilm von Joshua Oppenheimer »The Act of Killing« (2013) zu sehen, in dem Täter gezeigt werden, die in den 1960er Jahren in Indonesien am Massenmord von über einer halben Million Menschen beteiligt waren. Einer dieser Massenmörder erzählte: »Das Wichtigste ist zu lernen, wie du die möglichen Schuldgefühle unterdrückst. Sonst kannst

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du nicht töten, weil du hinterher von so vielen Bildern verfolgt würdest, dass du nicht mehr schlafen kannst. Ich habe zum Beispiel gedacht, wenn ich ausreichend Geld fürs Töten bekomme, hält sich die Waage zum Schuldgefühl im Gleichgewicht, und es gibt keinen Grund mehr, so zu empfinden. Für das Töten habe ich einfach das Geld bekommen« (transkrib. u. übers. v. Verf.). Das Prahlen von Tätern über ihre Taten und der dabei empfundene Genuss, der im Film deutlich zu erkennen war, ist auch in der realen Begegnung mit ihnen leicht auszumachen.

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Fallbeispiel Ein junger Patient, psychisch äußerst instabil, erzählte überdreht, aufbrausend und stark wiederholend, was er in seiner Einheit erlebt hatte: Den Feinden wurden die Köpfe abgetrennt, um damit Fußball zu spielen. Er habe getan, so sagte er, was auch dann alle anderen taten, und genoss seine Macht nicht nur in der eigenen Erinnerung, sondern auch angesichts des im Schrecken versteinerten Gesichtsausdrucks der Therapeutin.

Trotz des Leidens, das diese Täter durch PTBS auch empfinden können, gelten sie insgesamt als therapieunfähig. Die Begegnung mit solchen Psychopathen hinterlässt bei uns meist das Gefühl von tiefer Furcht, Abscheu, Wider­willen, das Gefühl, benutzt, manipuliert und »verschluckt« zu werden, starke Verwirrung, Hilflosigkeit, lähmende Starre, Fassungslosigkeit, aber bei einigen von uns auch Faszination, abgespaltene Idealisierung, starke Unterwürfig­keit und Scheu. Die Psychologen Roy Baumeister (1996/2001) und Richard L. Solomon (1980) erklären die Entstehung des Sadismus mit einer erworbenen Vorliebe (vgl. Rozin, 1997). Bei allen Menschen ist dies ein bekannter Prozess, bei Sadisten aber artet er aus. Der erste Widerstand oder Ekel,

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rohen Fisch zu essen, Marathon zu laufen oder von einer Ski-Schanze zu springen, muss überwunden werden. Von Mal zu Mal wird dieser Widerstand kleiner und die Vorfreude größer. Bei Sadisten passiert Ähnliches: Das abstoßende Gefühl, das auch sie anfangs beim Töten oder Foltern haben können, verfliegt schnell, bis das Gegenteil bleibt – pure Freude und Aufregung. Die pervertierte Lust und der Wunsch, die Grenze weiter zu testen, wurde geboren. Die erschreckende Erkenntnis dabei ist, dass Sadismus wohl lernbar und nicht ausschließlich auf genetische Disposition und frühkindliche Prägungen oder schwere Vernachlässigungen und Missbrauch begrenzt zu sein scheint. Das berühmte, aber auch – weil an Menschen durchgeführte – sehr kontrovers besprochene psychologische Stanford-Gefängnis-Experiment aus dem Jahr 1971 von Phillip Zimbardo, Craig Haney und Curtis Banks (vgl. Zimbardo, 2000) zeigte überraschend, wie leicht Menschen ohne jegliche Disposition zu sadistischer Persönlichkeit in Abhängigkeit von einem sozialen und situativen Setting beeinflusst werden konnten, sadistisch zu handeln. Nach dem Zufallsprinzip wurden für das Experiment 21 als »normal« ausgewiesene Personen in »Gefängniswärter« und »-insassen« aufgeteilt und in ein sehr realistisches Gefängnis-Setting versetzt. Ursprünglich für 14 Tage geplant, musste das Experiment schon nach sechs Tagen abgebrochen werden, da die »Insassen« stark unter Depressivität, Hilfs­losigkeit sowie einem gravierenden Rückgang ihres Selbstwertgefühls litten und die »Wärter« wiederum begannen, ihre Machtbefugnisse rücksichtslos auszunutzen, bis hin zu sadistischen Quälereien. Für die Versuchsleiter war es qualvoll zu beobachten, mit welcher Leichtigkeit das sadistische Verhalten hervorgerufen werden konnte. Zwar ist Harald Welzer (2005/2016) der Meinung, die Versuchsleiter hätten mit ihrem Verhalten erheblich zu der Eskala-

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tion beigetragen (S. 283), doch zeigt dies umso mehr, dass unter dem Einfluss einer Autoritätsperson und einer besonderen situativen Umgebung ein solches Verhalten bei einer Versuchsperson leichter auszulösen ist als gedacht. Ein weiteres alltägliches Tabu ist eine Art des Sadismus, die sich nicht im Verborgenen, sondern im öffentlichen Rahmen abspielt. Dieser gesellschaftlich gepflegte und institutionalisierte Sadismus wird entweder gegenüber den Mitgliedern der eigenen Gruppe angewendet, um ihre Folgsamkeit zu gewährleisten, oder zum erlaubten Umgang mit Feinden erklärt. Folterung in Guantanamo, Verfolgung durch die SED und das Regime in Nordkorea, der chinesische Umgang mit Dissidentinnen und Dissidenten, aber auch weibliche Genitalverstümmelungen in Afrika, öffentliche Steinigungen und die Missachtung der Frauen in arabischen Ländern sind nur einige Beispiele dafür. Es drängt sich der Eindruck auf, dass perfidere Formen des Sadismus viel mehr im öffentlichen Rahmen zu finden sind, als wir wahrhaben möchten. Nach dem Krieg oder bei geänderten gesellschaftlichen Umständen können sich solche Psychopathen sehr utilitär verhalten. Sie passen sich mit einer chamäleonartigen Fähigkeit den sittlichen Normen der Umgebung an, sobald sie ihnen nützlich werden. Kevin Dutton (2013) schreibt über sie: »Wenn es eine Sache gibt, die Psychopathen verbindet, dann ist es die Fähigkeit, ganz normal und unauffällig zu wirken. Doch hinter dieser brillant getarnten Fassade schlägt das Herz eines Säbelzahntigers« (S. 12).

3.6 Die fremden Gründe – erzwungene Taten und Missbrauch Wie auch immer Militärs, Rebellengruppen und andere Kämpfer versuchten, den Akt des Tötens zu regulieren, um Kontrolle darüber zu erlangen, sind der Akt selbst und der

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Alltag des Tötens zutiefst pervers, brutal und jenseits von allem, was wir uns in unserem alltäglichen Dasein überhaupt vorstellen können. Besonders zerstörerisch ist diese Erfahrung für jene, die nicht durch ihren eigenen Willen in diese Situation kamen. Zu dieser Gruppe von Tätern gehören Kämpfer, Zivilisten und Kindersoldatinnen bzw. -soldaten, die zu diesen Gräueltaten gezwungen oder missbraucht wurden. Kindersoldatinnen und -soldaten. Die extremste Form dieses ausbeuterischen Missbrauchs und der Instrumentalisierung von Unschuldigen sehen wir bei den Kindersoldatinnen und -soldaten. Laut dem Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR – United Nations High Commissioner for Refugees) zählen dazu alle Personen unter 18 Jahren, die an Feindseligkeiten direkt aktiv beteiligt sind. Obgleich nach Angabe des Internationalen Strafgerichtshofs die Rekrutierung von unter 15-Jährigen ein Kriegsverbrechen darstellt, nehmen nach dem jeweiligen Gesetz völkerrechtlich legal viele Länder vermeintlich freiwillig gemeldete Jungen und Mädchen schon im Alter von 14 Jahren in ihre kämpfenden Truppen auf. Die meisten Kinder kommen aus den ärmsten Bevölkerungsschichten, sind von ihren Eltern getrennt oder haben sie verloren. Sie werden entweder zwangsrekrutiert oder suchen Schutz bei den Kampfeinheiten oder Milizen, weil sie hoffen, so leichter überleben zu können. Die Leichtigkeit, mit der sie ohne Konsequenzen zwangsrekrutiert und kontrolliert werden können, ihre Empfänglichkeit für ideologische Indoktrination und das Wecken von Rachegefühlen, von induziertem Sadismus und Brutalität, da sie die Konsequenzen ihrer Taten noch nicht in einem angemessenen Ausmaß begreifen können, die Leichtigkeit, mit der sie sich einschüchtern und einsetzen lassen, sowie ihre Risikobereitschaft machen es einfach, sie gerade in Krisenregionen unproblematisch zu  

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missbrauchen. Der IS rekrutiert sie, bildet sie gezielt in speziellen Camps aus, in denen sie trainiert werden, andere Kinder zu schlagen, zu foltern oder lebendig zu begraben, falls diese sich der IS-Ideologie entziehen wollen. Nach den unterschiedlichsten militärischen Ausbildungen werden ihnen zur »Abhärtung« Enthauptungsvideos gezeigt (UNHCR, 2015). Falls sie sich weigern, werden sie physisch misshandelt. Die Kinder werden eingesetzt als Soldatinnen bzw. Soldaten, für Selbstmordattentate, als Spitzel, als Bedienstete, als Wachen oder auch als sexuelle Sklavinnen und Sklaven. Laut dem jährlichen UN-Bericht sind Kindersoldatinnen und -soldaten aktuell in vielen Ländern eingesetzt: im Irak, in Syrien, Jemen, Pakistan, Afghanistan, Myanmar, Indien, Thailand, Philippinen, Somalia, Nigeria, Kongo, Südsudan, Mali, in der Zentralafrikanischen Republik, in Kolumbien. Sind diese Kinder frei von Rache, Dominanzlust, Sadismus, Raublust oder Ideologie? Keinesfalls. Viele werden gerade dahingehend indoktriniert, manipuliert und dann ausgenutzt. Dennoch haben gerade sie keinerlei Möglichkeit, sich dem ausbeuterischen Missbrauch zu entziehen. Für ihre psychologische Entwicklung, die Reifung der moralischen Instanzen und eine differenzierte Betrachtung erwachsener Vorbilder war kein Raum vorhanden, der nicht durch gewalttätige und vor allem sadistisch-manipulative Einflüsse verseucht wurde. Von geschätzten mehr als eine viertel Million Kindersoldatinnen und -soldaten konnte in der letzten Dekade nur etwa ein Fünftel befreit werden. Zum Töten gezwungene Erwachsene. Bei den erwachsenen Geflüchteten, die über erzwungene Tötungen berichteten, war das Gefühl der Schuld sehr ausgeprägt. Sie erkannten in der Regel, dass sie mit dem, was sie getan hatten, all ihre moralischen und menschlichen Werte ver-

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rieten. Sie schämten sich zutiefst und fühlten sich innerlich zerstört. Unabhängig davon, wodurch sie gezwungen wurden, zu Tätern zu werden, veränderten sich – aus der Perspektive der Opfer – das Leid und die Folgen der Gewalt kaum. Das Tragische in solchen Fällen wird deutlich in den Gesprächen, die mit ihnen geführt wurden. Fallbeispiel Ein Mann, Zivilist, wurde bei der Besetzung seines Dorfes von einem sadistischen Milizenführer zusammen mit anderen Dorfbewohnern und seinen kleinen Söhnen gefangen genommen. Der Milizenführer warf ihm vor, nicht wie ein Mann in den Kampf gezogen, sondern als Feigling zu Hause geblieben zu sein. Er müsste deshalb auch selbst entscheiden, wer sterben und wer leben dürfe, und gab ihm den Befehl auszuwählen, welche von seinen Söhnen überleben sollte und welche nicht. Nur einen dürfe er behalten. Jedes Mal, wenn er die Entscheidung verweigere, werde man einen der anderen Dorfbewohner töten, was auch geschah. Sobald er diese Entscheidung zwischen den Söhnen aber treffe, werde der Peiniger mit dem Töten aufhören. Nach jedem Mord wurde er erneut gefragt. Er verweigerte immer wieder, diese Entscheidung zu treffen, bis nur noch er mit seinen beiden Söhnen übrig blieb. Sein Flehen half ihm nicht. Dieses Mal wählte er den aus, der überleben sollte – in der Hoffnung, so zumindest einen von ihnen retten zu können. Die Milizen töteten den anderen Sohn und ließen ihn und seinen letzten Sohn frei. Dieser Patient schaffte es, zusammen mit seinem Sohn nach Deutschland zu fliehen, wurde aber psychotisch.

Einige Zivilisten, Minderheiten oder Soldaten, die in Gefangenschaft gerieten, wurden an die Front geschickt, um unbeliebte Arbeiten zu erledigen – wie die Verbrennung von Häusern voller Leichen oder Verwundeten. Oft wurden sie gezwungen, an der vordersten Linie zu kämpfen,

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über die Minenfelder zu gehen, die Überlebenden zu töten und verschiedene andere Grausamkeiten durchzuführen. Alle diese Geschichten künden von der völligen Abwesenheit jeglicher Entscheidungsfreiheit und von einem brutalen und unausweichlichen Zwang in dieser Situation. Wahrscheinlich fragt sich jede Leserin und jeder Leser angesichts des obigen Fallbeispiels, wie er bzw. sie selbst in einer solchen Situation reagiert hätte. Die Weigerung, die geforderte Entscheidung zu treffen, führte zu einem Tod nach dem anderen. Die Entscheidung, wer getötet werden sollte, brachte einem Kind den Tod, dem anderen das Leben. In keinem anderen Beispiel, das ich je gehört habe, spiegelt sich so abgrundtief pervers, tragisch und zerstörerisch die Essenz aller Tötungen in Kriegen. Selbst in pervertierter Form eigenen Leidens zum Sadisten geworden, zwang der Milizenführer den Vater, ebenfalls über Leben und Tod entscheiden zu müssen. Selten ist so deutlich der unverhüllte Neid und Hass des Täters auf denjenigen zu sehen, der sich des Tötens noch nicht schuldig gemacht hatte.

4 Die Wege und Umwege der Schuld

Wie sieht die »moralische Weste« eines Kriegstäters aus? Wie sehen wir sie, und wie beurteilen die Kriegstäter ihr Gewissen selbst? Wovon sind wir dabei beeinflusst? Ist die Schuld dichotom? Moralempfinden ist kulturell und situativ ein dehnbarer Begriff. Bildlich gesprochen enthält es einige »moralische Löcher« – manche »Weste« mehr, manche weniger. Kämpfer und Täter quetschen sich irgendwie in sie rein, stolz, überhaupt etwas an sich zu haben, was noch vorzeigbar ist, besonders, wenn sie an ihre eigenen Taten denken oder an die, die sie nicht verhindern konnten. Manchmal erklären sie die Situationen ohne die geringste Ahnung davon, dass alles nur noch von einem dünnen Faden zusammengehalten wird. Aber sogar diese Fäden sind für sie ungeheuer wichtig. Hin und wieder bemerken sie – schmerzlich und schuldbehaftet – die durch den Krieg zerfetzte »Weste« des eigenen Gewissens und spüren ihre mit Scham erfüllte Blöße. Zeitweilig verhärten sich Schuldgefühle bezüglich einer einzigen entscheidenden Situation, eines auch für sie erkennbaren Versagens, ohne die geringste Fähigkeit, das ganze Spektrum ihrer Taten wahrzunehmen und emotional zu erfassen. Bar-On (1989, 1990b) nannte es die paradoxe Moral des Täters (vgl. auch Bar-On u. Charny, 1992). Damit ist gemeint, dass einige der Täter infolge des Krieges einen Konflikt austragen zwischen ihrem Über-Ich bzw. ihren moralischen Normen einerseits und dem existenziellen Selbst, das Erfahrungen gesammelt hat, andererseits. Die Verantwortung für alle im Krieg begangenen Taten zu übernehmen, wäre für die

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psychologische Integrität des Täters zu bedrohlich. Hätten er hingegen alle Gräueltaten verdrängt, so wären sie nun in seinen eigenen Augen ohne jegliche Moral. Deshalb übernehmen Täter häufig nur die Verantwortung für bestimmte Taten, die sie begangen haben, spalten die anderen ab und verleugnen deren Macht, Schuldgefühle hervorzurufen. Dies stellt einen Versuch dar, die Kontinuität des Moralempfindens zu bewahren. Ähnlichen Anstrengungen begegnen wir bei vielen Tätern, die immer wieder berichten, jemanden »trotz allem« gerettet zu haben. Den Versuch, sich das eigene Moralempfinden zu erhalten, erkennen wir auch bei ausgebildeten Soldaten, die während ihrer Einsätze das willkürliche Töten ohne Schuldgefühl als sehr unmoralisch erlebten und beurteilten (Bourke, 1999, S. 227). Einen entscheidenden Beitrag zum Verständnis bietet meiner Meinung nach eine genaue Beachtung der Situationen, die die Schuldgefühle hervorrufen. Da aus den Wurzeln der Täterschaft eigene, unterschiedlich große schuldfreie Binnenrealitäten erwachsen sind, entstehen Gewissensbisse und Einsichten in eine eigene Verantwortung zuerst eher außerhalb dieses Raums oder dann, wenn die Abwehr der Schuld generell zu bröckeln beginnt. Durch Raubgelüste motivierte Täter fühlten die Schuld schneller und unangenehmer, wenn sie Zeugen von rassistischen, sadistischen, ideologisch oder ethnisch motivierten Taten waren oder sie, unter Gruppendruck, selbst ausführen mussten. Für die Folgen durch Raub motivierter Taten fühlten sie dies zunächst nicht oder kaum. Auch bei anders motivierten Tätern ist dieses Muster erkennbar. So trägt am Ende jeder aus dem Krieg Zurückgekehrte eine eigene innere Topografie von Schuld und daraus resultierender Scham in verschiedenen Schichten verborgen (vgl. das Fallbeispiel).

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Fallbeispiel Ein alleinerziehender Witwer mit drei Kindern wurde in einer Nacht-und-Nebel-Aktion mit seinem gerade volljährig gewordenen Sohn unter Waffengewalt für einen Kampf um ein bestimmtes Gebiet mobilisiert. Er wurde einer Panzer­ division zugeteilt und wusste nicht, wohin man seinen Sohn geschickt hatte. An der Front weigerte er sich, mit dem Panzer über eine Straße zu fahren, die von Leichen und Verwundeten übersät war. Daraufhin stieg sein sadistisch veranlagter Offizier zu ihm in den Panzer und zwang ihn mit der Pistole an der Schläfe, loszufahren und den Befehl auszuführen. »Wenn ich keine Kinder gehabt hätte, hätten sie mich ruhig erschießen können – und ich wäre selig gewesen. In diesem Moment war es mir absolut egal. Ich wollte ein Mensch bleiben. Aber dann dachte ich an meiner Kinder und besonders an meinen großen Sohn, dass ich ihn finden und aus dieser Hölle irgendwie herausholen musste. Ich kann den drei nicht zumuten, auch noch ohne Vater zu bleiben. Und ich fuhr unter Tränen mit dem Panzer drüber …« Diese Szene wiederholte sich unzählige Male in seinen Albträumen, er litt danach sehr unter Schuld- und Schamgefühlen und unter schwerer PTBS. Seine anderen eigenen Kriegshandlungen verblassten in seinen Erinnerungen im Vergleich zu diesem Erlebnis. Nur dieses Ereignis blieb zuerst schuld- und schambehaftet.

Wie sich das Moralempfinden im Laufe der Zeit oder unter unterschiedlichen Einflüssen ändert, beschäftigt sowohl die Moralpsychologie als auch die Täterforschung. Menschen seien generell sehr bemüht, so Albert Bandura (2000), einer der führenden Sozialpsychologen in der Moralforschung, sich selbst so zu empfinden und zu verhalten, dass ihre moralischen Normen nicht verletzt werden und sie dabei ein gutes Bild von sich selbst behalten. Kei-

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ner möchte von sich selbst angewidert sein und sich mit seinen eigenen moralischen Schwächen zeigen. Auf der neurobiologischen Ebene zeigte Joshua Greene (2014), ein experimenteller Psychologe an der Harvard Universität, wie das Moralgefühl in unserem Gehirn entsteht, und bestätigte damit Lawrence Kohlbergs (1995/2014) Hypothese über die zwei Hauptkomponenten des moralischen Empfindens. Er konfrontierte Versuchspersonen mit dem berühmt gewordenen moralischen Dilemma: »Stellen Sie sich vor, ein außer Kontrolle geratener Zug rast auf eine Gruppe von fünf Gleisarbeitern zu. Durch Umlegen einer Weiche können Sie das Gefährt auf ein Nebengleis lenken, wo ein einzelner, nichts ahnender Kollege steht […]. Würden Sie diesen einen opfern, um fünf andere zu retten?« (Greene, 2014; zit. nach u. übers. v. Ayan, 2015, o. S.). Die meisten Personen bejahten dies, verneinten es jedoch, wenn sie selbst einen Mann vor den Zug stoßen müssten, um denselben zu stoppen. Auf Basis dieses Experiments, bei dem die Hirnaktivität gemessen wurde, formulierte Greene (2014) die Dual-Prozess-Theorie über das moralische Urteilen, wonach ethische Fragen zwei verschiedene Systeme im Gehirn aktivieren, ein kognitives und ein emotionales. Ohne Gefühle, so wies Greene (2014) nach, sind wir nicht in der Lage, etwas als gut und richtig im moralischen Sinne wahrzunehmen und zu beurteilen. Die Vernunft kann dabei völlig andere Botschaften senden, dennoch haben Gefühle das letzte Wort in Bezug auf das, was wir als moralisch empfinden. Aber nur vorläufig. Um das Gewissen zu beruhigen, müssen sowohl die Gefühle als auch der kognitive Referenzrahmen so umgedeutet werden, dass auch das Töten als moralisch gesehen werden kann. So wird das Gefühl von Schuld durch verschiedene psychische Mechanismen in Schach gehalten und der eigenen oder der Gruppenmotivation des Kampfes angepasst. Das Schweigen des Schuldgefühls ist existenziell

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entscheidend für das Überleben im Kampf, wie auch viele der amerikanischen Vietnam-Veteranen berichteten. Auch Grossman (2009) beschreibt Soldaten, die aufgrund von Schuldgefühlen nicht mehr fähig waren, im Kampf zu töten, und daraufhin entsprechend schnell ihr Leben verloren. Und so droht mit dem Bröckeln dieses psychischen Konstrukts im Kampf der eigene physische Tod oder im Frieden der eigene moralische Tod durch die Überflutung mit Gewissensbissen. Wie widersprüchlich die Normen, Bestrafungen und Erwartungen in diesen zwei Welten sind und wie sie innerlich zutiefst verwirren können, beschreibt ein Fallbeispiel. Fallbeispiel Ein Geflüchteter wand sich monatelang um dieses Thema herum, dass er im Krieg töten musste, bis er eines Tages den Satz fallen ließ, eine Polizeistreife habe ihn beim Autofahren »erwischt«: »Wie absurd! Ich habe einer Unmenge von Menschen im Krieg die Kehle durchschneiden müssen und wurde dafür nicht bestraft, und hier werde ich gemaßregelt, weil ich mit einem echten Führerschein, der nun in Deutschland plötzlich nicht mehr gültig ist, gefahren bin. Und nur dafür werde ich büßen müssen. Wie absurd das alles ist!« Das war das erste Mal, dass er sich überhaupt getraut hatte, den Akt des Tötens direkt anzusprechen.

Der Philosoph Peter Singer (1996) meinte, dass in einem wachsenden Wir-Gefühl, in dem für alle Beteiligten die gleichen moralischen Werte, die gleiche Empathie und Fürsorge gelten, die zivilisatorische Entwicklung erkennbar wird (vgl. Waller, 2007, S. 201). Krieg bringe allerdings immer einen Rückfall mit sich, der einige aus der Gemeinschaft völlig ausstoße. Unabhängig davon, ob wir diese allmähliche Entfremdung wahrnehmen oder nicht, ist es wichtig zu erkennen, dass es sich hier immer um einen

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aktiven Prozess handelt. Die Trennung, das Ausstoßen Anderer aus der Gemeinde, geschieht nie passiv (Bandura, 1999). Sie muss mit verschiedenen Mitteln aktiviert werden, um Feindschaften und die Erlaubnis zum Töten aufrechterhalten zu können. Die steten Bemühungen, die eigenen Taten gerechtfertigt zu sehen, sind enorm.

4.1 Moralisierungslücke und kognitive Dissonanz

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Menschen verfügen über zahlreiche Mechanismen, die ihnen ermöglichen, ihre Taten so darzustellen, dass sie die Diskrepanz zwischen bedauerlichen Dingen, die sie tun müssen oder getan haben, einerseits und ihren Idealvorstellungen von sich selbst andererseits maximal verringern können (Bandura, 1999). So werden verschiedene Strategien entwickelt, um eine entstandene Moralisierungslücke zu schließen, vor allem zur Wiederherstellung des zerrütteten Selbstwertgefühls und des stark geschädigten IchIdeals. Die kognitive Dissonanz (Festinger, 1957/1978), jene verwirrende Diskrepanz zwischen Verhalten und Wahrnehmen, wird kognitiv so umgedeutet, dass ein Mensch sie akzeptieren und dabei schmerzhafte moralische Fragen vermeiden kann. Dabei bedient er sich verschiedener Rationalisierungen, um etwas sehr Konfliktbehaftetes, Scham-, Schuld- oder Schmerzbesetztes aus der Vergangenheit unter emotionaler Kontrolle zu halten. So werden Fehlentscheidungen auf verschiedene Weise schöngeredet und selbsttäuschend bewahrt. Neurobiologie (z. B. Izuma et al., 2010) und Gedächtnisforschung (z. B. Schacter, 2001/2005, 1996/1999; Markowitsch, 2002; Shaw, 2016) haben diese Funktionsweise bereits bewiesen und gezeigt, dass wir sehr gut schädliche Ereignisse und die Erinnerung daran in unserem Gedächtnis verzerren können. Dazu haben wir außer Verleugnung

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und Rationalisierung eine Menge anderer psychischer Abwehrmechanismen zur Verfügung, die fleißig dabei helfen, wie Verdrängung, Spaltung, Projektion und Reaktionsbildung. Ein großes Potenzial für Selbsttäuschung ist bei jedem Menschen vorhanden, besonders, wenn die Gesellschaft dies unterstützt und keine Anstöße dafür gibt, die Lüge über sich selbst fallenlassen zu müssen. Dennoch müssen wir feststellen: »Wir belügen uns selbst, damit wir glaubwürdiger sind, wenn wir andere belügen« (Pinker, 2013, S. 726; in Anlehnung an Trivers, 2013). Und gleichzeitig ahnen wir irgendwo tief und insgeheim in uns, dass wir uns selbst belügen, sodass wir den Bezug zur Realität nicht vollständig verlieren.

4.2  Rationalisierung der Schuld Mitunter sind die Rationalisierungen der Schuld beim Täter so grotesk und überzogen, dass Zuhörende die wachsende Verwunderung darüber, wie sehr jemand selbst daran glaubt, kaum noch unterdrücken können. Bei ihnen wächst der Drang, sofort zu reagieren und das Absurde zu korrigieren. Andere Rationalisierungen bieten aber ein sehr gut ausgearbeitetes und in sich logisch kohärentes System, das nicht leicht zu demaskieren ist. Eine Rationalisierung steht – unabhängig davon, dass sie unzählige Formen und Inhalte annehmen kann – auf zwei Säulen: Zum einen ist der Täter sehr stark bemüht, daran zu glauben, und zum anderen kann diese Rationalisierung plausibel genug erscheinen, um von Anderen akzeptiert zu werden (Baumeister, 2001, S. 306–311). Allerdings nur dann, wenn man sie nicht genauer hinterfragt. Zu den üblichen Rationalisierungen der Ausbeuter und Räuber, Menschenhändler, der Warlords und anderer Kriegsprofiteure gehören Aussagen wie zum Beispiel »jemand musste die Menschen schmuggeln, sonst hätten

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sie nicht über die Grenze kommen können«, »die Drogen haben den Kämpfern geholfen, das Chaos des Krieges auszuhalten«, »die Soldaten haben ein Recht auf Entspannung mit den Frauen nach den Kämpfen«, »jemand anderes hätte sicherlich ihr Haus besetzt, dann besser ich, da ich das Haus gut behüten werde«, »wozu braucht er sein Gut, wenn er sowieso sterben wird«. Bei den durch Ideologie motivierten Tätern hören wir unterschiedliche Erklärungen, meist simplifizierende oder jene, dass im Namen der Idee vieles erlaubt sei, um den Glauben aufrechtzuerhalten. Der Verteidigungsmythos ist eine der am meisten missbrauchten Rationalisierungen. Variationen des Satzes »wir haben uns nur verteidigt«, »ich konnte nicht anders, sonst wären wir alle getötet worden« zählen zu den häufigsten, manipulativsten und überall anwendbaren Versuchen, die wahren Motive zu verbergen. Diese »aggressive Verteidigung« öffnet nur die Büchse der Pandora – zum Beispiel bei Verwüstungen, »weil dieses oder jenes Dorf und alle dort Lebenden besiegt werden mussten«, »um einen Korridor zu schaffen«, oder bei Tötungen, »weil er ein potenzieller Verräter war«, »weil eine Minderheit vertrieben werden musste, um zukünftige politische Probleme zu vermeiden«, oder beim Angriff gegen andere Nationen, »um die eigenen wirtschaftlichen Einflüsse zu schützen«. Die Funken der kleinen und zuerst nicht so bedrohlichen Wahrheiten und Halbwahrheiten haben, vermengt mit dem Nicht-Hinterfragen, bis heute viele Kriege entzündet. Am stärksten legitimiert fühlten sich Kämpfer und Unterstützer für ihre Form der Gewalt immer dann, wenn sie ihre potenziellen Konflikte im Rahmen von Verteidigungskriegen inszenieren konnten, auch wenn die Körnchen der Wahrheit hierbei erschreckend klein und konstruiert ausfielen. Allgegenwärtig sind dabei Rationalisierungen, die darauf abzielen, das eigene Handeln als Folge des Fehlens

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von Alternativen darzustellen: »Ich hatte/wir hatten keine Wahl« oder »es war eine Notwendigkeit«. Die Wirklichkeit wird rekonstruiert, um die Tat zu rechtfertigen, die Ursachen werden im Äußeren und kaum im Inneren gesucht und wahrgenommen. Baumeister (2001) zitiert eine Hutu-Frau, selbst Mutter von sechs Kindern, die zusammen mit anderen Müttern eine größere Gruppe von Tutsi-­ Kindern aus ihrer Nachbarschaft mit großen Stangen zu Tode schlug. Sie hatte zwei dieser Kinder bereits deren ganzes Leben lang gekannt und meinte nur allen Ernstes, ihnen damit einen Gefallen getan zu haben: »Sonst hätten sie als Waisen ein hartes Leben führen müssen. Ihre Väter waren mit Macheten abgeschlachtet, ihre Mütter entführt worden, um vergewaltigt und getötet zu werden« (S. 308; Übers. v. Verf.). In Therapie und Beratung bedarf ein solcher Sprachgebrauch von Tätern des sehr wachen und vorsichtigen Zuhörens. Er ist ein guter Hinweis darauf, wo sich Schuld und Scham verbergen können, was genau schmerzhaft für die Person selbst ist und welche Konfrontationen vermieden werden sollen (vgl. z. B. Wurmser, 1981/1997; Hirsch, 2002/2007). Das Bröckeln von Rationalisierungen führt in der Regel zu einer massiven Verstärkung der Symptomatik: PTBS, Suchterkrankungen, depressive Verstimmungen, Angstsymptomatik und Panikattacken. Verstärkte aggressive Ausbrüche, starke depressive Symptomatik und besonders Selbstgefährdungen sind ebenfalls eine häufige Folge.

4.3  Euphemismus und Bagatellisierung Euphemismus und Bagatellisierung sind ein Weg, die Schuld zu verschleiern und zu minimieren, die emotionale Konnotation auszuradieren und alle sprachlichen Möglichkeiten zu nutzen, um die emotionale Bedeutung

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einer schrecklichen Tat nicht wahrhaben zu müssen. Die Wahrheit wird beschönigt, die Tat bagatellisiert. Dahinter steckt der (zwanghafte) Versuch, einen zutiefst verletzenden Akt weniger unmoralisch erscheinen zu lassen, sowohl für sich selbst als auch für die Umgebung. Alle Vorgänge vor, während und nach der Untat werden sprachlich passiviert, entindividualisiert und verschwommen formuliert, durch radikales Vermeiden aller Worte, die emotional mit Schuldgefühlen besetzt sein könnten. Eine emotionale Distanzierung des Täters von seinen eigenen Taten und von den Opfern wird dadurch aufrechterhalten. Letztlich entsteht der Eindruck, dass das Böse nur durch undefinierbare und namenlose Kräfte entstand und nicht durch verantwortliche Individuen mit Namen. Diese von den Gefühlen abgespaltenen Ausdrücke sind ein Zeichen der vollkommenen Trivialisierung der Opfer. Weitere Versuche, die Schuld durch Bagatellisierung zu vermindern, erkennen wir in der Relativierung der Schäden und bei dem Trick des vorteilhaften Vergleichs (Bandura, 1999; Gabor, 1994): »Die anderen haben das auch gemacht und waren deutlich schlimmer und brutaler als wir. Wir dagegen haben alles ›sauber‹ erledigt.« Ein Angriffskrieg wird »Präventionskrieg« genannt, hinter den »Säuberungen« in Bosnien und Kroatien oder der »Säuberung von kranken Elementen« wie bei den Roten Khmer finden wir Massenmord oder Massenvertreibung. »Kollateralschaden« ist ein gern genutzter Begriff für getötete Zivilistinnen und Zivilisten, »Mission erfüllt« dafür, wenn die Bombe ein Dorf niederbrennt oder jemand getötet wird. Hinter dem Ausdruck »spezielle Behandlung« verstecken sich oft Massenvergewaltigungen und Folter und hinter der »Umsiedlung« die Besetzung eines Landes. Das Kleinreden der Schäden sehen wir in Sätzen wie »wir haben nur die Männer getötet, Frauen und Kinder aber nicht«, »wir sorgten für einen ›sauberen‹ Abzug

Herabwürdigung, Dehumanisierung und Dämonisierung der Opfer 83

ohne ›unnötiges‹ Gemetzel«. Ein unglaubliches und berühmtes Beispiel lieferte Raul Hilberg (1954/1999), der jahrelang Zehntausende Seiten von Nazi-Dokumenten penibel untersuchte und nur ein einziges Mal das Wort »Töten« finden konnte, benutzt im Kontext von Hunden und nicht einmal für die Tötung von Menschen. Bagatellisierende Sprache und die Verwendung euphemistischer Ersatzbegriffe für Kriegshandlungen überleben viele Kriege über Jahrzehnte, besonders in jenen Ländern, in denen kein öffentlicher Diskurs darüber stattfindet. Die Termini bekommen ein selbstständiges emotionsloses Leben, völlig abgespalten von der dahinter stehenden Monstrosität. Sie werden von der Gesellschaft als verinnerlichte Beschreibung der historischen Taten oft gedankenlos benutzt und generationenübergreifend weitergegeben.

4.4 Herabwürdigung, Dehumanisierung und Dämonisierung der Opfer Eine Herabwürdigung, Dehumanisierung und Dämonisierung der Opfer erhöht die Gewaltbereitschaft signifikant, wie Albert Bandura, Bill Underwood und Michael E. Fromson (1975) in ihrem klassischen Experiment zeigen konnten. Sie wiesen mehrere Gruppen Studierender an, je eine andere Gruppe von einem ihnen nicht bekannten College beim Lernen zu überwachen. Dabei durften sie die Stärke von (Pseudo-)Elektroschocks bestimmen, um eine fehlerhafte Leistung zu bestrafen. Direkt vor Beginn des Experiments machten drei Personen, die der Versuchsleitung assistierten, wie zufällig ihren jeweiligen Teams gegenüber unterschiedliche Bemerkungen über die »Lehrlinge«: eine sehr positive und humane, eine sehr inhumane, entwertende und bei der dritten eine neutral-­ informative. Das damals schockierende Ergebnis war, dass die entwerteten Studierenden im Vergleich zu den beiden

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anderen Gruppen signifikant stärker bestraft wurden. In Milgrams Experiment (Milgram, 1974/1995) gingen die Versuchspersonen sogar so weit, die bestraften »Lehrlinge« dafür zu rügen, dass sie sich mit ihrem Verhalten überhaupt selbst in diese Situation gebracht hätten. Schon die Tatsache, dass sie sich als »Lehrlinge« für dieses Experiment angemeldet hatten, zeige, wie »dumm und faul« sie seien. Die Versuchspersonen sahen sich selbst als gerecht, potenter und erhabener, um das eigene Verhalten – das Zufügen vermeintlicher Stromstöße – zu rechtfertigen. So entstand eine offenkundige Heuchelei zur Rechtfertigung der eigenen Täterschaft. Die Grenze zwischen entwertender Sprache und Gräueltaten kann unter Umständen erschütternd schmal sein (vgl. Brennan, 1995). Die Bezeichnung einer anderen Person als nicht wertvoll, als schlecht oder gar als sprachlich entmenschlicht kreiert eine Atmosphäre, in der eine Bestrafung durch Massakrierung, Tod oder Vergewaltigung sogar als »verdient« empfunden wird. Die Schuld wird auf die Opfer selbst projiziert: »Weil die abscheulich sind, verdienen sie, bestraft zu werden«. Einen solchen Sprachgebrauch finden wir in jedem Krieg. So waren zum Beispiel die Tutsi für die Hutus die »inyezi«, was »Kakerlaken« und »Insekten« bedeutet, »Giftschlangen« oder »unwahres Blut«, sodass deren Vernichtung »eine gute Tat« war. Alle Ungläubigen, die nicht an das vom IS angestrebte Kalifat glauben, sind »schmutzig« und »unrein«. Für einen Vietnam-Veteranen waren die Vietcong »weniger als Tiere«. In anderen Konflikten wurden Feindinnen und Feinde zu »nichts als Uniformen« und damit »unmenschlich« erklärt (vgl. Bašić, 2004, S. 273 f.). Die generelle Anonymisierung der Opfer erleichtert langfristig die Verdrängung der Schuldgefühle. Die Opfer bleiben »Uniformen«, Ziffern oder ferne Gestalten ohne Gesicht und eigene Geschichte. Die Intention hinter all

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dem ist leicht zu erkennen: Sieht man in der Feindin bzw. im Feind keinen Menschen mehr, so ist man nicht verpflichtet, die eigenen moralischen Normen auf sie oder ihn anzuwenden. So wird der Weg zur Schuldfreiheit gebahnt. Die massivsten Entwertungen und Demütigungen erleben Frauen und Mädchen, die im Krieg vergewaltigt worden sind. Die Vergewaltigungen werden von den Feinden als Mittel der totalen Herabwürdigung und Demoralisierung eingesetzt, als eine Botschaft der absoluten Dominanz über das wertlose Gegenüber. Sie ist aber nicht nur Ausdruck von und Wunsch nach Erniedrigung und nach dem sozialen Tod der feindlichen Anderen, ein »Siegesakt« und das Zeichen der ultimativen Eroberung, sondern sie wird oft auch als ein symbolischer Akt des Tötens erlebt. Die sexualisierten Aspekte des Tötens, wenn das Schießen mit dem Maschinengewehr als eine »orgiastische Entladung« (Grossman, 2009, S. 136; Übers. v. Verf.) erlebt wird, wie es der israelische Militärpsychologe Ben Shalit (1988) im Feld bei einigen Soldaten beobachtete, werden durch die Aussagen vieler Kämpfer weltweit bestätigt (Grossman, 2009, S. 136 f.). Ein Vietnam-Veteran berichtete unverblümt, das Schießen habe sich angefühlt wie eine permanente Erektion, ein anderer fühlte sich dadurch erinnert an die enge Verknüpfung von Schuld und Genuss beim Masturbieren (Grossman, 2009, S. 136). So wird einerseits das Töten sexualisiert und andererseits Sex als Mordwaffe benutzt und erlebt. Für einige Täter ist Vergewaltigung im Krieg ein Ausdruck des Hasses und des subjektiven Sieges über die eigene erlittene Todesangst. So können sie das feindliche Lager bestrafen, ohne dabei fürchten zu müssen, selbst getötet zu werden. In einigen Fällen werden systematische Vergewaltigungen von Frauen institutionalisiert, wie zum Beispiel an jesidischen Frauen und Kindern durch die IS-Kämpfer, um das feindliche Gegenüber gezielt zu

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demoralisieren und zu vernichten. Frauen und Mädchen werden durch die Massenvergewaltigungen für ihre Gemeinde »verunreinigt« und dadurch »sozial getötet«. Und die eigenen Kämpfer in ihrer Annahme ununterbrochen bestätigt, sich alles erlauben zu dürfen. In Beratung und Therapie stoßen offene oder versteckte Entwertung und Dämonisierung der feindlichen Anderen auf starke Abwehr, aber auch auf die Tendenz, überhört zu werden, wenn nämlich wir Professionellen selbst der Verteufelung der Anderen insgeheim zustimmen. Das passiert am häufigsten, wenn wir selbst den Gewaltkonflikt, in dem der geflüchtete Kämpfer sich befand, moralisch ähnlich wie er beurteilen. Die Dämonisierung fällt noch leichter, wenn die Opfer zugleich die offiziellen Aggressoren im Krieg sind oder unsere eigenen bestehenden Vorurteile bedienen. Das Erkennen der Täterschaft kann insofern davon abhängen, auf welcher moralischen Seite des gewalttätigen Konflikts wir »gemeinsam« stehen.

4.5 Verdrängung, Delegation und Diffusion der Verantwortung Delegation der Verantwortung oder deren Verdrängung benennt Bandura (1999) als einige der entscheidenden Faktoren, die individuelle moralische Prinzipien außer Kraft setzen können – sowohl bei jenen, die die Untat ausführen, als auch bei denen, die sie »nur« befehlen. Die Befehlenden führen sie nicht aus, und die Ausführenden treffen nicht die Entscheidung, sondern befolgen nur Befehle, trotz aller Ambivalenz, die sie diesbezüglich haben könnten. So verschiebt sich die Verantwortung vom Befehlshabenden zum Ausführenden und umgekehrt. Die klare Trennung zwischen diesen beiden erhöht signifikant die Gewaltbereitschaft. Sie ist der strukturelle Grundsatz, der Kriege überhaupt ermöglicht. In unterschiedlichsten Er-

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scheinungsformen größeren oder kleineren Umfangs ist sie überall präsent. In Milgrams Experiment (Milgram, 1974/1995) sehen wir etwas Ähnliches: Die »Täter« empfanden sich hier trotz aller Bedenken und inneren Qualen beim Bestrafen der »Lernenden« als Ausführende, jedoch nicht als Verantwortliche. Genau diese Bereitschaft, die Verantwortung eher bei Anderen als bei sich selbst zu sehen, steigerte generell die Bereitschaft zur Gewalt und vice versa sank diese dramatisch, wenn sie selbst die Verantwortung übernahmen, wie Bandura (1999) zeigte. Diffusion der Verantwortung in einer Gruppe ist die Folge von Verteilung der Verantwortung zwischen den gleichberechtigten Gruppenmitgliedern. So werden die verschiedenen Aktionen nicht als etwas Eigennütziges wahrgenommen, sondern als etwas, was für die Gruppe geleistet wird. Man nimmt sich selbst nur als ein kleines Zahnrad wahr im großen und komplizierten Mechanismus der Täterschaft, versinkt in der Zuschauerapathie und denkt sich, es könne sicherlich nicht so schlimm und keinesfalls unmoralisch sein, wenn es die anderen doch auch machen. Oder auch, dass der selbst übernommene Teil einem persönlich so »unbedeutend« erscheint im Vergleich zu dem, was Andere tun. Der Schutz der Gruppe gibt Tätern Anonymität. Diese De-Individuation und Verteilung der Aufgaben zwischen allen Mitgliedern einer Gruppe erschwert die Einsichten in die eigene Verantwortung.

4.6  Das Leben mit der Schuld Sobald Rationalisierungen und alle dazugehörigen psychologischen Abwehrmechanismen anfangen zu bröckeln, wird die empfundene Schuld allgegenwärtig, schwer aushaltbar und zum Verfolger. Die Einsicht in die eigene Ver-

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antwortung liegt zwar am Beginn des Weges zur Heilung, ist jedoch in der ersten Phase der Therapie nicht unbedingt präsent oder ansprechbar. Die Schuldgefühle sind oft verborgen oder treten in verschiedenen Formen auf. Die Täter berichten von der Überlebensschuld bezüglich ihrer Kameraden, Mitkämpfer und aller Anderen, die sie nicht retten konnten, bis hin zu dem Schuldgefühl, nicht interveniert zu haben, als sie Zeugen von Gräueltaten wurden oder sie selbst ausführten oder gar genossen. Selbst das Töten in einem Überlebenskampf kann Schuld erwecken. Die Intensität der Schuldgefühle kann stark variieren. Sie kann intensiver sein bei jenen, die in einen Nahkampf involviert waren, als bei denen, die wenig bis kaum direkten Kontakt mit den Opfern hatten, wie zum Beispiel Flugpiloten bei Bombardierungen oder die Verwalter, die bürokratisch die Mordaufträge verordnen (Grossman, 2009). Wie wir bei einigen der oben genannten Beispiele gesehen haben, fühlen sich die Täter oft nur für bestimmte Situationen schuldig, während sie die eigene Verantwortlichkeit für andere Taten nicht erkennen. Bei jedem von ihnen entsteht eine eigene Topografie der Schuldgefühle, oft von anderen intensiven Gefühlen oder deren Abwehr überlappt. Das Schuldgefühl ist immer beziehungsorientiert, gerichtet auf andere Menschen oder auf das eigene Selbstideal. Daher prägt, definiert und gestaltet es die Beziehungen sowohl zu Anderen als auch zu sich selbst. Aus dem Gefühl von Schuld und dem Zerfall des idealisierten Selbstbildes wird die Angst geboren, stigmatisiert und aus der Gesellschaft oder einem wichtigen sozialen Zusammenhalt ausgestoßen zu werden bzw. deshalb bereits ausgestoßen worden zu sein. Das Gefühl des Verrates breitet sich aus in Bezug auf eigene humanitäre Werte sowie gegenüber allen anderen Menschen, die an die betreffende Person geglaubt, sie geliebt und im Laufe des Lebens geformt haben.

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Durch das Schuldgefühl wird sich der Täter selbst immer neu in der Gesellschaft positionieren müssen, nicht nur gegenüber jenen, bei denen er sich schuldig gemacht hat, sondern auch gegenüber der eigenen Familie und der alten Gesellschaft, aus der er stammt, und gegenüber der neuen Gesellschaft, in der er zu leben beginnt. Die Positionierung kann aufgrund der unterschiedlichen Abwehr der Schuld sehr kompliziert verlaufen. Ein Soldat berichtete nach der Rückkehr aus dem Vietnam-Krieg: »Ich dachte, […] ich bin irgendwie paranoid. Ich dachte, alle […] wüssten, was ich dort getan habe, und wären gegen mich. Ich hatte Angst. Ich fühlte mich schuldig« (Bourke, 1999, S. 336; Übers. v. Verf.). Ein anderer meinte, nach Vietnam müsse er berechtigt sein, schuldfrei alles tun zu können, was er wollte – sogar die Vergewaltigung der eigenen Frau müsse ihm verziehen werden (Bourke, 1999, S. 336). Seine ganze Schuld projizierte er auf die Zeit während des Krieges, wo er sich im Namen der Gesellschaft so schuldig gemacht habe, dass alles andere damit nicht zu vergleichen und für ihn damit zu »banal« geworden sei. Den Soldaten und Kämpfern, die nach dem Krieg eher zu einer Gruppe gewaltbereiter Veteranen (Glover, 1985) gehören, dienen aggressive Ausbrüche nicht selten als Schutzschild vor den immensen und unerträglichen Schuldgefühlen. Der eigene schuldbeladene Selbsthass wird auf Andere projiziert und stellvertretend dort bekämpft. Oft provokativ in die Umgebung hineingetragen, kann er ebenso ein Ausdruck von Wut und Enttäuschung gegenüber einer Gesellschaft sein, in deren Namen sie getötet haben und von der sie sich jetzt im Stich gelassen fühlen. Auch Neid gegenüber den Anderen, die nicht töten mussten, kann diese Ausbrüche auslösen, da diese Begegnungen Minderwertigkeitsgefühle, Schmerz und Selbsthass verstärken können. Wie sehr auch versucht wird, bezüglich der Schuld die Grenze zwischen den legitimierten

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Tötungen befeindeter Soldaten im Kampf und den nicht legitimierten Bluttaten an Zivilpersonen und Gefangenen zu trennen, so kann sie doch sehr präsent sein, besonders, wenn es sich um Tötungen aus nächster Nähe handelt. Die bewusste Vermeidung von Themen, die Schuldgefühle auslösen könnten, sowie ein depressiver oder depressiv-paranoider Rückzug von der Umgebung sind die anderen Arten, mit der Schuld umzugehen. Der depressive Umgang ist durch das Unterdrücken jeglicher aggressiver Impulse nach draußen erkennbar, sie werden lediglich gegen die betroffene Person selbst gerichtet. Alle potenziell aggressiven Situationen werden vermieden und als höchst stressvoll erlebt. Die paranoide Bearbeitung des Themas kann sowohl ein Hinweis darauf sein, dass Schuld und Täterschaft verleugnet und nach draußen projiziert wurden, als auch ein Ausdruck der Furcht vor der unbewusst erwarteten Vergeltung. Viele Geflüchtete brauchen in Therapien lange Zeit, um genügend Vertrauen zu fassen, das Thema anzusprechen. Mit Sätzen, die scheinbar nebenher fallen gelassen werden, testen sie ihr Gegenüber meist zunächst darauf, ob sie oder er wirklich bereit ist zuzuhören – was keinesfalls immer der Fall ist. Gleichzeitig prüfen sie damit ihre eigene Kraft, darüber zu sprechen und sich damit auseinanderzusetzen. Fallbeispiel Ich erinnere mich, wie die ersten Soldaten unter meinen Patienten, die langsam Zutrauen gefasst hatten, sich vorsichtig an das Thema der Täterschaft im Krieg herantasteten. Anfangs sprachen sie zum Beispiel über andere Kämpfer, die »durchgedreht« waren, oder darüber, dass sie selbst beschämt waren und mit anschauen mussten, wie Frauen vergewaltigt, Menschen erniedrigt, gefoltert und grauenvoll getötet wurden. Einige plagte die Schuld, dass sie nichts dagegen unternehmen konnten. Anderen deuteten

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an, dass es schwer war, sich dem Gruppendruck zu widersetzen, und schalteten phasenweise ihre Gefühle völlig ab. Ein Kämpfer sprach viel und lange über die Zeit, die er in einem Einsatzkommando verbracht hatte, über die Angst um sich selbst und um seinen Mitkämpfer, über die Spiele mit Hand­granaten, die sie abends vor dem Einschlafen als Mutprobe miteinander spielten, bis er eines Tages in einem Nebensatz das Thema endlich direkter ansprach: »Jemand wollte, dass wir alle drogensüchtig werden, damit wir die Angst im Einsatz verlieren. Die Unmengen von Waffen und Munition und verschiedenste Aufputschmittel, Drogen und Alkohol, mit denen wir regelrecht vollgepumpt wurden, um leichter töten zu können, waren einfacher zu bekommen als Essen oder Kleidung.«

Für die meisten Kriegsbeteiligten ist es äußerst heikel, komplex und schmerzhaft, die eigene Schuld anzusprechen, und nicht weniger komplex für die Zuhörenden, es emotional auszuhalten, dabei handlungsfähig zu bleiben und adäquat zu reagieren. Diese Momente sind atmosphärisch beidseitig hoch emotional aufgeladen und entscheidend für die weiteren Phasen von Therapie und Beratung. Die Annäherung an das Thema kann zur massiven Überflutung mit unerträglichen Schuldgefühlen und zur Verschlechterung der Symptomatik führen – es kann zu Selbstund Fremdgefährdung kommen, zu einem Abbruch des Kontaktes, zu länger anhaltendem Schweigen und zur Vermeidung der Thematik, zu dissoziativen Zuständen oder zu einem schweren Substanzmissbrauch, aber ebenso kann es erleichternd wirken. Obwohl wir in der Praxis auch Geflüchteten begegnen, die sehr früh ihre Täterschaft und ihre Schuldgefühle ansprechen und sie auch authentisch wahrnehmen, verläuft bei den meisten eine Annäherung an das Thema komplex und vorsichtig. Die Ängste vor Stigmatisierung, Verurteilung und Ausgestoßenwer-

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den durch die Anderen und Überflutung durch eigenen Schmerz und Selbsthass, werden häufig vehement und gleichzeitig als lähmend empfunden. Die Rationalisierungen und Verleugnungen der eigenen Täterschaft können sich während der Therapie auflösen, was zu neuen emotionalen Einsichten oder einer grundlegenden Erschütterung führen kann. Oder zur bewussten Vermeidung, die als Schutz eingesetzt wird. Im privaten Rahmen holen sich einige, die ihre eigene Schuld wahrnehmen, emotionale Unterstützung. Die Anderen begründen ihr Schweigen gegenüber Nahestehenden meist mit dem Wunsch, diese Menschen – und besonders die Kinder – nicht mit dem Grauen und dem Schmerz belasten zu wollen. Das Zusammensein mit den Anderen wird gestaltet durch die Verlustängste, die Angst, nicht verstanden, sondern verurteilt und stigmatisiert zu werden, sowie die Angst, nach einer Offenbarung von ihnen oder auch in der eigenen Wahrnehmung nie wieder in einer anderen Rolle gesehen werden zu können. Die reale Schuld kann damit ein unausgesprochener Stolperstein in der Beziehung werden. Er wird in Kauf genommen, da es sehr schambehaftet und schmerzlich ist, die eigenen moralischen Abgründe bei sich selbst oder im Blick der nahestehenden Menschen zu sehen.

5 Symptomatik

Die Reduzierung der psychischen Folgen von Töten auf Trauma, auf die Frage von Schuld oder auf die Gefahr für die Umgebung wird weder gesellschaftlich noch psychologisch der Komplexität des Themas gerecht. Krieg und bewaffnete Konflikte brutalisieren die Menschen, die sich daran beteiligen. Der Akt des Tötens hinterlässt Folgen bei den betroffenen Personen – unabhängig davon, ob sie in einen Krieg ziehen, um das Land oder eine Idee zu verteidigen, ob sie Berufssoldaten, Kriegsprofiteure oder Abenteuersuchende sind oder ob sie diese Wahl mangels anderer Möglichkeiten treffen. Dies gilt besonders dann, wenn der Akt des Tötens direkt ausgeführt wird. Einige gewöhnen sich nie daran, bei anderen sind die ersten Tötungen und Leichen schockierend, der Rest gerät bald zu simpler Wiederholung, »wie die Arbeit im Schlachthaus. Am Anfang macht das Blut, der Grind dich noch fertig. Aber nach einer Weile siehst du es nicht mehr, riechst es nicht mehr und fühlst es nichts mehr«, zitierte Bourke (1999, S. 344; Übers. v. Verf.) einen Offizier. Ein ähnliches Beispiel für den Versuch, die Tötung innerlich zu professionalisieren und als Arbeit darzustellen, liefert Natalija Bašić (2004): »Aber wenn du geschnallt hast, dass du ihn getroffen hast, ist dir unglaublich zum Kotzen zumute […], aber ich dachte so bei mir: Verdammt, wozu eigentlich, er hatte mir doch nichts getan?! […] [D]ie erste Reaktion ist der Brechreiz und dann wird es normal« (S. 219). Die Betäubung und Abspaltung der Gefühle gelingt im Kampf meist sehr schnell. Die Realität beginnt, surreal, emotional fern und fremd zu wirken, das Gefühl der

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inneren Kohärenz und der Sinn des Lebens verschwinden und eine starke Fokussierung auf die Aufgabe und das Überleben selbst entsteht (vgl. z. B. Reese, 1944/2003). Die immensen Todesängste bei ständigen Kämpfen produzieren eine enorme Menge an hormonellen Ausschüttungen. Dabei sorgt Adrenalin für die Stressbewältigung und das »Kampf-Hochgefühl«, das anschließend in die »Gefechtserschöpfung« umschalten kann, eine völlige emotionale und körperliche Entkräftung. Das Hochgefühl vergleichen die Kämpfer mit der Wirkung einer Kokain- oder Morphin-­Injektion (Grossman, 2009, S. 234). Bessel van der Kolk, Mark Greenberg, Helene Boyd und John Krystal (1985) bestätigten dies auf neurobiologischer Ebene und erkannten in diesen endogen produzierten Opioiden im Gehirn die Ursache für sporadisch auftretenden Blutrausch, Begeisterung beim Töten und Schmerzlosigkeit in extremen Kampfsituationen. Es ist in der Tat eine bittere Ironie, dass gerade die körperliche Reaktion auf hohen Stress, Trauma und Lebensgefahr einen solchen Rausch beim Töten verursachen kann. Laut den Aussagen von Kämpfern (vgl. v. a. Grossman, 2009) kann aber postuliert werden, dass dies nur situativ in den todesangsterfüllten Situationen auftritt – im Unterschied zu Psychopathen und Sadisten, bei denen dieses Hochgefühl beim Töten häufiger zu finden ist und nicht mit der notwendigen Lebensbedrohung verbunden sein muss. Differenzialdiagnostisch ist dieser Unterschied wichtig. Solche Erfahrungen bringen ein sehr breites Spektrum von Gefühlen mit sich und werden völlig unterschiedlich erlebt: als äußerst berauschend, sehr verwirrend oder auch zutiefst beschämend und an sich selbst verzweifelnd. Welche Symptome werden durch diese lang andauernde Brutalisierung, die chronische Lebensgefahr und die gefühlsmäßige Betäubung hervorgerufen? Bei einigen Betroffenen sind keine lang andauernden Symptome zu

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finden bzw. treten erst signifikant später auf, häufig erst im Ruhestand (Sleek, 1998). Andere kehren traumatisiert aus dem Krieg zurück und entwickeln komplexe Störungsbilder. Die häufigste Diagnose ist weiterhin die PTBS, die in verschiedenen Intensitäten und in verschiedenen Phasen des Lebens unterschiedlich ausgeprägt sein kann. Die PTBS kann mit verschiedenen anderen Krankheitsbildern und Symptomen zusammen auftreten. Am häufigsten sind Selbst- und Fremdgefährdung, Sucht, schwere Depression, dissoziative Störung, paranoide Einstellungen und Wahn, Psychosen und generalisierte Angst. Die meisten dieser Symptome werden gewöhnlich mit der PTSB-Diagnose zusammen betrachtet (vgl. Fischer u. Riedesser, 2009).

5.1 Fremdgefährdung Schon nach dem Ersten und Zweiten Weltkrieg, aber besonders nach dem Vietnamkrieg boomten die besorgten Fragen, ob eine zivile Gesellschaft durch zurückkehrende Soldaten zu einem bedrohlichen Ort wird. Die Forschung überprüfte in mehreren Ländern die Kriminalitätsrate nach Kriegen daraufhin, ob signifikant mehr Taten von Veteranen durchgeführt wurden (Übersicht bei Bourke, 1999). Die Forschungsergebnisse waren widersprüchlich. Quer durch die umfänglich erfassten Länder – USA, Kanada, England, Irland, Schottland und Australien – erwiesen sich die Raten der von Veteranen verübten Morde als unterschiedlich und keineswegs einheitlich steigend oder sinkend. Die Aggressivitätsrate stieg bei jenen Veteranen, die schon vor dem Krieg familiär vorbelastet waren. Dies zeigte die Forschung an australischen Vietnam-Veteranen (vgl. Bourke, 1999). Einige Soldaten blieben nach dem Krieg extrem aggressiv, explosiv und gewaltsam, andere entwickeln sich ganz entgegengesetzt: Sie wollten nie mehr im Leben Waffen tragen und wurden »weich und friedlich«.

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Symptomatik

Motiviert durch den Wunsch nach Prävention von weiteren Gewalttaten wurden Jahrzehnte später weitere Untersuchungen eingeleitet, die präziser eruieren sollten, inwiefern die Symptome von PTBS bei ehemaligen Soldaten und Kämpfern ein erhöhtes Risiko für gewalttätiges Verhalten nach der Rückkehr darstellen. J. Arturo Silva, Dennis V. Derecho, Gregory B. Leong, Robert Weinstock und Michelle M. Ferrari (2001) erfassten dies forensisch und klassifizierten die Symptome in vier Kategorien: ȤȤ Die ersten und mildesten Auslöser für die Gewalt sind Albträume. Die nächtlichen Intrusionen während des Schlafens können unter anderem begleitet sein vom Um-sich-Schlagen oder -Treten, vom Angreifen und Anschreien Anderer. Dies geschieht in keiner Weise bewusst oder absichtlich. ȤȤ Ausgeprägte und chronische Stimmungsschwankungen sind die zweite Ursache für Aggressionsausbrüche, chronische Reizbarkeit und Feindseligkeit. ȤȤ Die nächste Kategorie ist durch Flashbacks ausgelöste Gewalt, die zu Missinterpretationen der Situation führt. Die Person kann die reale Gegenwart nicht als solche erkennen, sie fühlt sich versetzt in einen bestimmten traumatischen Moment der Vergangenheit, in dem sie angegriffen wird, und handelt entsprechend. ȤȤ Die letzte Kategorie stellt die Kampfsucht (»combat addiction«) dar, eine Abhängigkeit vom Rausch des Kämpfens selbst. Nach dem Krieg bleibt eine kompulsive Suche nach einem stetigen und aggressiven Aktionismus zurück, der das subjektive Gefühl, lebendig zu sein, weiterhin ermöglicht. Sie kann eine Folge von psychologischem und neurobiologisch maladaptivem Festhalten am Trauma sein, aber auch eine manische Abwehr von Trauer (vgl. Akhtar, 2001) und Schuld.

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5.2 Suizidalität Die ersten Studien, die sich mit der Suizidalitätsrate bei ehemaligen Kämpfern beschäftigten und sich vorsichtig bemühten, einen öffentlichen Diskurs anzustoßen sowie das Forschungsinteresse zu wecken, wurden erst viele Jahren nach dem Vietnamkrieg durchgeführt. Abgesehen von den USA und Israel existieren weltweit nur wenige Studien, die dieses Thema systematisch verfolgen und die Ergebnisse mehr oder weniger zugänglich machen. Dies hängt vermutlich nicht nur mit der methodologischen Komplexität zusammen, sondern es scheint auch militärisch, politisch sowie gesellschaftlich nicht gewollt, die Ausmaße öffentlich zu machen. Eine ähnliche Tendenz ist auch beim Erfassen der Suizidalität von Geflüchteten festzustellen, besonders bei der Untergruppe der Kriegsbeteiligten. In Ermangelung einer fehlenden eindeutigen Datenbasis werden nachfolgend relevante Daten und Fakten aus nahe liegenden Forschungen genutzt, um zumindest für mögliche Tendenzen zu sensibilisieren. Offiziellen Statistiken zufolge starben mehr Soldatinnen und Soldaten nach den Kriegen in Vietnam, Irak und Afghanistan durch Suizid als während der ganzen Zeit des aktiven Krieges selbst. So stellte das Kriegsveteranenministerium der Vereinigten Staaten (U.S. Department of Veterans Affairs) fest, dass sich 2012 täglich 22 Kriegsveteranen das Leben nahmen (Kemp u. Bossarte, 2013). Die Zahlen sind noch höher, wenn wir das nicht erfasste suizidale Verhalten während des Kampfes und die unerklärlichen »Unfälle« in Einsätzen oder nach der Rückkehr ins Zivilleben sowie die passive und langsame Selbstzerstörung durch verschiedene Abhängigkeiten berücksichtigen. Auf jeden erfolgreichen Suizid kommen statistisch mindestens dreimal so viele Versuche, obgleich bei ehemaligen Soldatinnen und Soldaten die Zahl erfolgreich

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durchgeführter Suizide von allen erfassten Gruppen weit am höchsten ist. Die Suizidgefahr korreliert stark mit der PTBS-Symp­ tomatik. Sie steigt bei allen, die direkt an Kämpfen beteiligt waren, aber auch bei Offizierinnen bzw. Offizieren, Elitegruppen-Mitgliedern und jenen, die besonders lange im Krieg waren (MacNair, 2002). Da in der amerikanischen Literatur die PTSB häufig eher als Kontinuum an Beschwerden denn als ein dichotomes Krankheitsbild betrachtet und beforscht wird, stellten einige Forschungen heraus, dass die Suizidgefahr auch bei »partiell« oder subklinischen Symptomen signifikant erhöht ist (Marshall et al., 2001). Als häufigsten Grund für einen Suizid nannten die Betroffenen in den Abschiedsbriefen Hoffnungslosigkeit, gegenüber Anderen empfundene, nicht wiedergutzu­ machende Schuld, den Wunsch, Anderen nicht zur Last zu fallen, und die traumatischen Erfahrungen im Kampf selbst (Cox et al., 2011). Generell gelten als Risikofaktoren die hohen Herausforderungen während der Okkupation, das Kommando zu haben, PTBS und Depression, materielle und familiäre Schwierigkeiten nach der Rückkehr, Schwierigkeiten im Umgang mit Menschen, die Gefühle von Scham, Schuld, Verlust und Wut, starke soziale Isolation, Stressunerträglichkeit und Substanzabhängigkeit.

5.3  PTBS aus Täter-Opfer-Perspektive Obwohl schon im Ersten Weltkrieg schwer traumatisierte Soldaten beobachtet wurden, fand die erste große Forschung dazu, ob die Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) bei Soldaten direkt mit dem Akt des Tötens und nicht ausschließlich mit der erfahrenen Lebensgefahr verbunden ist, erst viele Jahrzehnte später statt. Jean Mager Stellman, Steven D. Stellman und John F. Sommer (1988) untersuchten 6.810 zufällig ausgewählte Kriegsvetera-

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nen und fanden heraus, dass die Verbindung von PTBS mit einem Tötungsakt besonders dann extrem hoch ist, wenn die Veteranen ihn direkt in den intensiven Kampf­ einsätzen oder anderen Situationen ausgeführt haben oder als Zeugen an Tötung, Folter oder Vergewaltigung beteiligt waren. Grossman (2009) bekräftigt jedoch, er habe die PTBS-Symptomatik in seiner ganzen Karriere als Militärpsychologe bei keinem einzigen Menschen gefunden, der die Entscheidung für das Töten aus der Ferne traf (S. 296). Die traumatische Reaktion ist eng mit dem direkten und besonders dem Nahkampf verbunden. Der Alltag des bewaffneten Kampfes ist voller Situationen, in welchen die Amygdala, der mandelkernige Teil unseres limbischen Systems, eine potenzielle Lebensgefahr meldet und das hormonelle System in Aufruhr bringt, um die optimale Reaktion für das Überleben zu ermöglichen. Ständige Lebensgefahr, eigene Verwundung, Verstümmelung oder das Bezeugen von Sterben und Verletzungen von Kameraden oder Zivilisten aus den eigenen Reihen werden als hoch traumatisch erlebt. Sie können leicht eine PTBS auslösen, da eine hohe emotionale Verbindung mit dem Geschehen selbst hergestellt werden kann. Die Fixierung auf solche Situationen, in denen der Kämpfer selbst Opfer war, wird häufig zuerst angesprochen. Sie kann die ganze Beziehung zu sich selbst, zur Therapeutin bzw. zum Therapeuten und zur sozialen und weiteren gesellschaftlichen Umgebung so sehr bestimmen, dass die anderen traumatisierenden und schuldbeladenen Aspekte vernachlässigt werden. Der Psychoanalytiker Klaus Ottomeyer (2011) berichtet von einer Therapie mit einem Soldaten der internationalen Friedenstruppe, in der viele Sitzungen sich ausschließlich den Opferaspekten widmeten. Erst nach dem Abbruch der Therapie erkannte Ottomeyer, dass sie gemeinsam die Beteiligung des Soldaten an der Tötung von drei Kindersoldaten verleugnet und nicht angesprochen hatten.

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Dieser Rückzug und die willentliche Blindheit (»willful blindness«; Heffernan, 2016) gegenüber der Täterseite bei der Kriegsbeteiligung zeigen eine Tendenz der letzten Jahrzehnte bei der Arbeit mit Geflüchteten, die in bewaffneten Konflikten als Kämpfer beteiligt waren. Lange Zeit wurde »das Böse« meist »irgendwo außerhalb Deutschlands« verortet, sodass die Täteraspekte schlichtweg nicht wahrgenommen werden konnten. Auf jeden Fall saß es in der Wahrnehmung von Professionellen in Hilfsorganisationen sowie in Beratung und Therapie nicht gerade im Stuhl gegenüber. Die Täterseiten blieben beidseitig tabuisiert, nicht nur, weil das Geflüchtetsein per se ein Symbol für Opfersein darstellt und von enormen Verlusten, Leiden, Traumata und Unsicherheiten geprägt ist, sondern auch, weil es wie eine hinterlistige Ketzerei oder Verletzung der Würde der Anderen klingen könnte, wenn diese Position infrage gestellt wird. Ebenfalls spielt die Angst vor der eigenen Überforderung und vor einem möglichen politischen Missbrauch dieser Tatsachen sicherlich eine bedeutende Rolle. Wenn eine Täterschaft aber bekannt wurde, verschwand diese Tatsache oft schon bald hinter gemeinsamen Rationalisierungen und Umdeutungen des Geschehens als notwendige Verteidigung oder unvermeidliche Folge einer bitter erzwungenen Kriegsrealität oder kultureller Unterschiede. So bleiben Patientinnen und Patienten schweigend zurück, meist in Scham, Schuld, verharrter Symptomatik oder in Verleugnung oder Rationalisierungen gehüllt, Stigmatisierung, Ablehnung und Ausweisung fürchtend und verängstigt von der Konfrontation mit der eigenen Erfahrung als Täter und Kämpfer. Die Helfenden ihrerseits bleiben überwiegend gefangen in einem dichotomen Verständnis von Täter und Opfer, das eine konfliktfreiere und unmittelbar mitfühlendere Arbeit erleichtert. Auch eine Neigung zur Ignoranz bezüglich der geografi-

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schen Ferne der Täterschaft (»Dort kann er machen, was er will, hier nicht«) unterstützt die Spaltung zwischen dem Leben vor und nach der Flucht. Die Zunahme von terroristischen Angriffen in Europa änderte aber die Wahrnehmung in der Öffentlichkeit in den letzten Jahren völlig, sodass sich das Verständnis von Täterschaft jetzt beinahe nur noch auf mögliche Terroristen und potenzielle Vergewaltiger und Mörder begrenzt. Um statt der erfahrenen Lebensgefahr und des Kontrollverlusts der Kämpfer den Akt des Tötens selbst als ausschließlichen Auslöser für die posttraumatische Belastungsstörung in der Diagnose zu erfassen, schlug Rachel MacNair (2002) den »Perpetration-Induced Traumatic Stress« (PITS; »Täterinduzierter traumatischer Stress«) als Zusatzdiagnose bei der PTBS vor. Dafür fokussierte sie anhand der Analyse von Fachliteratur und der gesammelten Daten über die Vietnam-Veteranen vor allem die aktiven eigenen Anteile bei der Täterschaft, die zu starker Traumatisierung führen können, um die Aspekte von Ohnmacht und Kontrollverlust – die mit der PTBS-Diagnose generell verbunden sind – zu ergänzen. Als praktische Folge dieses Ansatzes können wir eine etwas andere Psychodynamik erwarten, da die Fragen von Schuld und eigener Verantwortung so der Bearbeitung deutlich zugänglicher werden. Die Praxiserfahrung zeigt aber nicht nur, dass die Ursachen von PTBS durch die Differenzierung von proaktiven und reaktiven Gewaltanwendungen besser verstanden werden können, sondern auch, dass diese Auslöser, wie sie einige der Kämpfer berichten, oft nur als die Spitze des Eisbergs zu betrachten sind. Fallbeispiel Ein Soldat, der in mehreren Einsätzen an der Tötung durch Fernsteuerung militärischer Flugkörper und ähnliches Waf-

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fenarsenal beteiligt war und sogar die Folgen davon manchmal sehen konnte, entwickelte massive Symptome der PTBS erst nach dem gewaltsamen und plötzlichen Tod seiner Mitkämpfer. Während er in der Therapie zunächst nur Themen und Albträume ansprach, die seine Perspektive als Opfer mit Kontrollverlust wiedergaben, kristallisierten sich für ihn erst später die Inhalte jener anderen Albträume und Themen heraus, die eher verstanden werden können als Folge seiner eigenen Schuldgefühle, selbst getötet zu haben, und führten zu einer Chronifizierung des Bildes der PTBS.

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Solche und ähnliche Beispiele zeigen, dass bei einer einzigen Person die PTBS sowohl als Reaktion auf passiv erlebte traumatische Erfahrungen aus der »Opfer-Perspektive« als auch durch die aktive Täterschaft entstanden sein kann. In den unterschiedlichen Phasen der Therapie treten diesen Themen abwechselnd in den Vordergrund. Eine PTBS als ausschließliche Reaktion auf eigene Täterschaft ist ebenfalls nicht selten und häufig mit dissoziativen Zuständen, Schuldgefühlen, Depression, Suchtproblematik, Suizidalität oder massiven aggressiven Impulsen verbunden. Sich selbst aus der Opfer-Perspektive zu betrachten, kann aber bei den Kämpfern nicht nur durch die reale Erfahrung von Lebensgefahr, Ausgeliefertsein und Kontrollverlust auslösen, sondern auch ein psychodynamisches Konstrukt darstellen, das sich als Abwehr von der Realität des Täterseins formiert. Der Psychoanalytiker Sandór Ferenczi (1933; vgl. Mlodoch, 2017) stellte heraus, dass in der komplexen Täter-Opfer-Beziehung die körperliche Abhängigkeit und erzwungene Intimität bei der Verletzung den Wunsch bei den Opfern auslöst, durch das »Verstehen« und Verinnerlichen der Täteranteile die Aggressivität mildern und den Täter selbst kontrollieren zu können. Durch diesen Prozess der Entstehung des Täter-Introjekts in der Psyche der Opfer und durch die sich in diesem Zu-

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sammenhang entwickelnde Identifizierung mit den Tätern versuchen Opfer, die Kontrolle über das Geschehen selbst zu übernehmen. Zusätzlich zu der Tatsache, dass es als emotional erträglicher empfunden wird, sich eher als ein »Täter« mit Kontrolle über die Situation und Verletzung zu sehen denn als ein Opfer, das der Situation völlig ausgeliefert ist, verinnerlichen die Opfer damit auch die Hassanteile der Täter gegenüber sich selbst. Dies führt zu starken Schuld- und Minderwertigkeitsgefühlen und dem irregeleiteten Gefühl, selbst für das eigene Leiden »irgendwie verantwortlich« zu sein. Einen ähnlichen Mechanismus habe ich auch bei eini­ gen Kriegstätern und Kämpfern beobachtet. Unter gewissen Umständen entsteht beim Täter ein Opfer-Introjekt, mit dem er sich identifiziert, um die Konfrontation mit den eigenen aggressiven und »bösen« Anteilen zu vermeiden. Mit der Verinnerlichung einer Opfer-Imago wird zusätzlich der unbewusste Wunsch verstärkt, die Situation und die andere Seite bis zum Äußersten kontrollieren zu wollen. Zuerst werden die Feinde (die zukünftigen Opfer) als sehr bedrohlich und lebensgefährlich wahrgenommen, unabhängig davon, ob sie zum Kämpfer selbst oder nur zur Gruppe des Feindes generell gehören. In einem direkten Kampf aber sind Täter- und Opfersein gleichzeitig in jedem präsent, mit dem Bewusstsein, dass sich die Lage jederzeit ändern kann. Das andauernde Wechselbad von beiden Rollen, unterstützt durch Spaltungsvorgänge und dichotomes Denken in solchen Situationen, erleichtert die Tendenz zur Identifizierung mit den Opfern. Um das idealisierte Selbstbild leichter aufrechtzuerhalten und die »bösen« eigenen Anteile zu vermeiden, bringt die Verinnerlichung und Identifikation mit der Opferposition einerseits eine bedeutende emotionale Entlastung von der Schuld mit sich. Gleichzeitig dient sie der Linderung der Angst vor der fantasierten Vergeltung durch Zugehörige der Ge-

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töteten oder vor der Bestrafung durch andere Instanzen für Tötungen, Folter oder Vergewaltigungen. Andererseits wird sie bei der gescheiterten Identifikation mit den Opfer-Introjekten eher als innerer Verfolger erlebt, paranoid abgewehrt oder durch verstärkte Intrusion symptomatisch erfasst. Die extremste und perverseste Form der psychologischen Verinnerlichung der Opfer-Imago sehen wir bei denjenigen, die das Gefühl der Allmacht anstreben, all ihre Opfer durch das Töten innerlich zu »besitzen«. Bei einigen anderen Tätern deutet eine fixierte Wahrnehmung von sich selbst als Opfer des eigenen Hasses auf den Anderen und der eigenen unkontrollierbaren aggressiven Impulse eher auf den starken dissoziativen Charakter der Störung als auf einen Verinnerlichungsprozess.

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6 Begegnung mit den Kriegstätern im professionellen Kontext

Nur jene Erfahrungen, die sich Patientinnen bzw. Patienten selbst und anderen Personen gegenüber eingestehen, können zur Realität werden, mit der man sich auseinandersetzen kann. Dies gilt auch für ihr soziales Gegenüber, alle Helfenden und Therapeutinnen bzw. Therapeuten, die den Tätern und Kämpfern begegnen. Wir können nur auf die Erfahrungen eingehen, die wir bereit sind, bei den Anderen wahrzunehmen und emotional aufzufangen, wobei wir der jeweiligen Person uns gegenüber genug Mitgefühl geben, um die Bindung aufrechtzuerhalten, gleichzeitig aber uns genug Distanz gestatten, um handlungsfähig zu bleiben. Unsere Bereitschaft hierzu testen diese Patienten bei uns beinahe immer aus. Damit hängt das Sprechen über die Täterschaft im Krieg nicht nur ab von der Einsicht eines Patienten in die eigene Täterschaft und von seiner Fähigkeit und Bereitschaft, darüber zu sprechen, sondern auch davon, inwieweit das Gegenüber aufgeschlossen genug ist, dies aufzunehmen und zu vertiefen. Das Sprechen darüber ruft bei allen Beteiligten intensive Gefühle hervor, die häufig schwer auszuhalten sind, sodass ein ste­tiger Aushandlungsprozess einsetzt zwischen dem, was die Patienten bereit sind zuzugeben und darauf einzugehen, und dem, was wir bereit sind anzuhören. Schon Sarah A. Haley (1974) und Chaim F. Shatan (1978) berichteten, wie schwer den Professionellen in Therapie und Beratung das Anhören der Gewalt- und Gräueltaten von Vietnam-Veteranen fiel. Dan Bar-On und Israel W. Charny (1992) führten den Begriff der Doppelwand ein, um ein Phänomen zu beschreiben, das sie in der schweig-

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Begegnung mit den Kriegstätern im professionellen Kontext

samen Beziehung zwischen Nazi-Täterinnen bzw. -Tätern und deren Kindern beobachtet hatten. Damit ist eine beidseitige Schutzwand des Nicht-wissen-Wollens gemeint, die Täterinnen bzw. Täter gemeinsam mit ihrem Gegenüber aufbauen, um nicht mit den schmerzlichen oder schambehafteten Inhalten konfrontiert zu werden. Viele Gründe lassen uns diesem Phänomen, das der willentlichen Blindheit (»willful blindness«; Heffernan, 2016) und der kollektiven Dissoziation (Reddemann, 2001) ähnelt, in Therapie und Beratung begegnen. Sie sind in der jeweiligen psychologischen Abwehr zu suchen und durch die je eigenen persönlichen und kollektiven Vermeidungs-, Verleugnungs- und Dissoziationsmuster gekennzeichnet. Sie verhindern, dass eine Wahrheit, die alle kennen, aber niemand aussprechen möchte, sichtbar wird, denn dann müsste sie gezwungenermaßen offen berücksichtigt oder aber verleugnet werden. Als Folge der Ohnmacht, mit diesem Thema umzugehen, bildet sich eine schweigende Komplizenschaft zwischen Patientinnen bzw. Patienten einerseits und den Helfenden andererseits. Seitens der Täter kann das Vermeiden des Themas auf eine bewusste Entscheidung zurückzuführen sein, aber auch darauf, dass sie ihre Täterschaft gar nicht wahrnehmen. Wenn ihnen schmerzlich bewusst ist, dass sie ihre eigenen moralischen Normen unter extremen Umständen verlassen haben, können sie die eigene konkrete Schuld vor lauter Scham kaum ansprechen, solange sie einen inneren Konflikt zwischen Scham und Schuld austragen – und dabei einfach verstummen. Weitere Gründe für das Nichtansprechen liegen in der Angst vor Stigmatisierung, vor Konsequenzen, vor Verurteilung, Ablehnung, Unverständnis, in der Angst davor, eine Zumutung und Belastung für Andere zu sein oder die Selbstkontrolle über die eigenen Gefühle und aggressiven Impulse zu verlieren. Vor allem ist aber eine Angst erkennbar, die eigenen Abgründe

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und Schwächen zu erkunden, der Schuld zu begegnen und damit das eigene Selbstbild dramatisch infrage zu stellen. Das Schweigen kann auch der Schutz vor einem psychotischen Verfall sein. Die inneren Widerstände, die Professionelle in Therapie und Beratung und anderen Hilfebereichen aufbauen, um sich selbst vor der Konfrontation mit der Täterschaft des Gegenübers zu schützen, sind ebenfalls vielschichtig. Eigene Ängste können auftreten – vor Überflutung durch unerträgliche Gefühle, professionell nicht zu genügen, die Situation nicht kontrollieren zu können, Angst vor der Übermacht und den eigenen oder Gefühlsregungen der Patientin bzw. des Patienten, Angst davor, ausgeliefert zu sein und sich ohnmächtig fühlen. Es kann aber auch die Angst sein, die eigene gesellschaftliche Stellung oder ein idealisiertes Selbstbild zu verlieren – das eigene oder das des Gegenübers. Mit Unbehagen zu entdecken, dass man sich selbst in vergleichbaren Situationen vielleicht ähnlich verhalten würde, kann ebenfalls ein Hindernis darstellen. Diese Angst, dem »Bösen« im Anderen, aber auch in sich selbst zu begegnen, verhindert, ein reales Bild des Gegenübers entwickeln zu können, es zu erfassen, zu differenzieren und sich damit auseinanderzusetzen. Und so kann die erzwungene Intimität mit dem »Bösen« sehr angst­ erzeugend und schambehaftet sein. Worin auch immer die unbewusste Motivation für diese Widerstände liegt: Sie sorgt dafür, dass die Wahrnehmung des Gegenübers gezwungenermaßen nur zwischen den beiden Extremen pendelt – von völliger Verleugnung oder Rechtfertigung der Täterschaft und einer daraus folgenden Bagatellisierung des Themas bis zur Öffnung der Büchse der Pandora, wodurch die Projektionen zur gänzlichen und undifferenzierten Verzerrung und Ablehnung des Gegenübers führen können. In beiden Fällen wird die reale Auseinandersetzung mit dem Thema weiterhin vermieden oder erschwert.

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Begegnung mit den Kriegstätern im professionellen Kontext

Was passiert nach dem Aufbau von genug Vertrauen, wenn das Leiden zu groß ist oder das narzisstische Bedürfnis, mit den Taten zu prahlen, so präsent, dass die Täterschaft angesprochen wird? Wir können Mitgefühl und Trauer empfinden, aber auch entrüstet sein, selbst dissoziieren, Wut, Ekel und Abscheu empfinden, ein Geltungs­ bedürfnis haben, starke Verurteilung, Moralisierung, Ablehnung, Distanzierung und Abwertung verspüren oder ganz im Gegenteil die Tat kleinreden, verklären und entschuldigen. Wir können die kapitalen moralischen Konflikte durchstehen, uns ohnmächtig fühlen oder sogar panische Angst um die eigene Sicherheit oder vor »Ansteckung« durchleben. In diesem Moment können wir sogar vergessen, dass dieser Verfall der inneren Werte für den größten Teil der Täter ausschließlich situations- und gesellschaftsbedingt war. Wir können uns aber auch selbst durch die Zeugenschaft mit dem Täter und seinen Taten zutiefst beschämt fühlen (vgl. Marks u. Mönnich-Marks, 2003; Marks, 2011), da wir die Intimität des Abgrunds einer Person bezeugt haben. Diese Wechselwirkung von verschiedenen Persönlichkeitsprägungen und Möglichkeiten des Umgangs mit den Taten seitens des Täters und der beratenden Person bestimmen stark die Dynamik der Gespräche. So kann zum Beispiel die Gruppe der Täter, deren Umgang starke narzisstische Prägungen und eher eine überhebliche, selbstgerechte und abwertend-kühle oder aggressive Haltung hat, bei den Professionellen in Therapie und Beratung starke Minderwertigkeitsgefühle und Ängste hervorrufen und eine schwer zu überwindende innere »Minderwertigkeitswand« bilden, sodass sie daran hindert, sich mächtig genug zu fühlen, das Gegenüber überhaupt infrage zu stellen und sich selbst zu behaupten. Eine ähnliche Dynamik entsteht, wenn die Helfenden selbst – zumindest vorübergehend – beginnen, ihr Gegenüber zu entwerten, zu dä-

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monisieren, anzugreifen und zu verfolgen. So können sich beide Seiten phasenweise leer, missbraucht, manipuliert, verängstigt, wütend oder ausgelaugt fühlen. Wenn wir lernen, mit den komplexen Gefühlen und Projektionen im Kontakt mit diesen Patienten umzugehen, und wenn es uns gelingt, diese Gefühle als Teil sowohl der Erfahrung des Patienten als auch der eigenen Prägungen zu sehen, kann eine tragende therapeutische Basis erreicht werden. Unabhängig davon, ob alle Stadien der Bearbeitung eigener Täterschaft und Kampferfahrung vorhanden sind und in welcher Reihenfolge und Ausprägung sie vorkommen, ähnelt der therapeutische Prozess der Auseinandersetzung jenen Phasen, die in der Sterbeforschung von Elisabeth Kübler-Ross (1969/2001) benannt wurden. Die Phase von Verleugnung und Nicht-wahrhaben-Wollen der Täterschaft kann übergehen in das Ausleben von Zorn, Wut und Neid allen Anderen gegenüber, die unschuldig geblieben sind oder den Täter in diese Situation gebracht haben. Daraufhin kommt es zum Handeln, mit Gott, sich selbst oder einem Gegenüber, wobei Rationalisierungen zu greifen beginnen oder Schuldgefühle eine Gestalt bekommen. Es folgt die Phase der Depression und Verzweiflung, die, wenn sie bearbeitet wird, in die Phase der Akzeptanz und Integration dieser Erfahrung münden sollte. Mit der Ermöglichung dieser Phasen geben wir diesen Patienten die Chance, ihre geschädigte Integrität und den Bruch mit den Gewissensnormen in das eigene Leben zu integrieren und den Weg zu einer neuen Integrität zu finden, die nicht generationenübergreifend ihr Unwesen weiter verbreiten muss.

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7 Zwischen gesellschaftlicher Verantwortung und individueller Schuld

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Weltweit wird in Gesellschaften ein Teil der Menschen dazu ausgebildet, gezwungen, manipuliert, motiviert im Namen von irgendetwas, das überwiegend als edel, ehrenhaft und als etwas Großes dargestellt wird, zu kämpfen und den Feind, wer auch immer er sein sollte, zu töten – brutal, blutig und höchst effizient. Der hohe innerliche Preis, den jeder dieser Menschen zu zahlen hat, wird dabei verschwiegen. Dieser Preis kann und soll keinesfalls mit den immensen Leiden und den grenzenlosen Folgen verglichen werden, die die Opfer dieser Täter zu zahlen haben. Denn für die Opfer bleiben Bedeutung und Folgen der Tat immer ungleich größer, auch wenn ein Täter sich seiner Schuld bewusst ist und die Tat bereut. Wenn wir allerdings die psychologischen und gesellschaftlichen Folgen der Täterschaft auf einem Kontinuum für eine einzelne Person betrachten und einen Vergleich der Zeit vor und nach den Taten vornehmen, auch generationsübergreifend, sind diese enorm. In keinem einzigen Land wird über die psychologischen und gesellschaftlichen Folgen von Täterschaft, die im Namen des Staates bzw. der eigenen oder einer fremden Gruppe erfolgt, systematisch und offen berichtet. Geschichte und Psychologie lehren kaum darüber, ohne die Interpretationen für eigene politische Zwecke zu missbrauchen oder umzubenennen. Wir als Gesellschaft produzieren Menschen, die zur Anwendung von massiver Gewalt bereit sind und sein sollen. Gleichzeitig wollen wir uns ganz utilitär nach der Erfüllung des Zwecks nicht mehr darum sorgen, und wenn doch, dann nur im Geheimen,

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höchst individuell, im privaten Kämmerlein und möglichst frei von jeglicher Verantwortung. Am liebsten ist es uns, wenn nicht gerade wir uns damit befassen müssen, sondern lieber die Abteilung nebenan oder in einem anderen Ministerium und am liebsten in einem anderem Land, und das besonders gerne, wenn uns das angeblich überhaupt nicht direkt angeht. Aber die Menschheitsgeschichte war und ist noch immer voller Exil-Täterinnen und -Täter, die nach Argentinien, Bolivien, Syrien und anderen arabischen Ländern, nach Südafrika, Australien oder Europa geflüchtet sind in der Hoffnung, die »Nebel der Stunde-Null« (Speier, 1988, S. 15) erleben zu dürfen. Unsere Vergangenheit und unsere Gegenwart strotzen von hochentwickelten Ländern, die mit ihrer Politik und ihren Waffenlieferungen die »Täterproduktion« aus der Nähe oder Ferne regelrecht unterstützen und fordern. So kann es geschehen, dass die neuen Exil-Länder, die für die meisten Kriegstäter und Kämpfer einen juristisch freien Raum für die vergangenen Taten darstellen, gesellschaftlich die Verantwortung übernehmen sollen und müssen. Besonders in Bezug auf aktuelle und lang andauernde psychologische und gesellschaftliche Folgen und Gefahren der generationenübergreifenden Weitergabe der Gewalt trägt das Aufnahmeland eine große Verantwortung. Die enorme Verantwortung wiederum, mehr über diesen schmerzlichsten Schwachpunkt ganz normaler Menschen zu lernen und ihn zu erforschen, um ihn eines Tages besser kontrollieren zu können, liegt bei jeder und jedem Einzelnen von uns. Letztendlich sind die extreme Gewalt und Täterschaft immer und vor allem eine individuelle Entscheidung, die auch durch das Verstehen von Entstehung und Zusammenhängen kaum gerechtfertigt werden kann. Bourke (1999) zitierte in ihrem Buch einen Offizier, der Vietnam-Soldaten für den Krieg vorbereitet hatte und nach

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dem Krieg jahrelang die Zeitungen penibel und panisch danach durchsuchte, ob wieder ein Veteran eine Körperverletzung oder einen Mord begangen hatte. Zu einem Kollegen sagte er: »Erinnerst du dich, wie wir diesen Jungs beibringen mussten, sich für das Töten zu motivieren? Wir haben sie richtig darauf programmiert, Mann! Na ja, keiner programmiert sie um« (S. 341; Übers. v. Verf.). Die extrem unterschiedlichen moralischen Normen und Bestrafungssysteme in diesen beiden Welten – eine im Krieg, komplett desorientiert und im höchsten Maße destruktiv, und die andere im Frieden, hochstrukturiert und positiv wirksam – machen es vielen Tätern und Kämpfern schwer, sich in der Normalität zurechtzufinden und sich zu adaptieren, zumindest am Anfang. Sie suchen oft nach einer Brücke zwischen den zwei Welten. Aber schon die alten Völker, wie die Militärpsychologen Sarah A. Haley (1974) und Richard A. Gabriel (1986, 1987) erforschten, wussten über diese allzeit vernachlässigte Wahrheit, dass die Kämpfer nach der Rückkehr aus dem Krieg nie mehr dieselben waren wie zuvor. Wenn sie gewalttätig Anderen das Leben genommen hatten, Familien zerstörten und alles, was dem feindlichen Gegenüber heilig war, wurde ihnen direkt nach der Rückkehr der Kontakt untersagt mit den eigenen Familien und Anderen, die nicht gekämpft hatten. Erst nach einer Isolierungsphase, nach der sie sich durch Rituale gereinigt fühlten und die Gewalt innerlich abgelegt haben, durften sie wieder in das Zivilleben zurückkehren und wurden dort willkommen geheißen. Diesen symbolischen Raum und diese Phase eigener Purifikation brauchen sie und die Gesellschaft unverändert auch heute noch.

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