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German Pages 192 Year 2015
Jutta Jacob, Heino Stöver (Hg.) Männer im Rausch
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2009-02-05 15-43-45 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02d6201747141040|(S.
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Editorial Die weltweiten Transformationen der Geschlechterverhältnisse und Bedeutungszuschreibungen an »Geschlecht« zeigen widersprüchliche Entwicklungen, Kontinuitäten und Wandlungen. Die Veränderung alter und die Konturierung neuer Segmentationslinien stehen in einem komplexen Spannungsverhältnis zueinander. Die Reihe Studien interdisziplinäre Geschlechterforschung stellt regelmäßig neuere Untersuchungen in diesem Themenbereich vor. Dabei wird der Breite möglicher Zugangsweisen Rechnung getragen: Natur-, technik-, sozial- und kulturwissenschaftliche Sichtweisen werden miteinander verknüpft und die Ansätze verbinden die strukturierende Bedeutung der Kategorie »Geschlecht« systematisch mit der Wirkung anderer sozialer Differenzlinien wie »Klasse«, »Ethnizität«, »Rasse« und »Generation«. Die Schriftenreihe gibt Perspektiven Raum, in denen die radikale Infragestellung der heterosexuellen und auf Zweigeschlechtlichkeit basierenden gesellschaftlichen Ordnung im Zentrum steht und zugrunde liegende Machtverhältnisse reflektiert werden. Ziel der Reihe ist es, wissenschaftliche Beiträge zu publizieren, die Fragen nach Geschlechterkonstruktionen und Geschlechterverhältnissen in Kultur, Gesellschaft und Wissenschaft aufgreifen und Impulse für weitere Auseinandersetzungen geben. Angesprochen werden sollen alle an Themen der Frauen- und Geschlechterforschung Interessierten aus dem universitären und weiteren wissenschaftlichen Umfeld – Studierende, Lehrende und Forschende. Zugleich sind die Publikationen auch für jene Praxiskontexte interessant, die sich kritisch mit der geschlechterbezogenen Verfasstheit von Kultur, Technik, Wissenschaft und Gesellschaft auseinandersetzen. Die Reihe wird herausgegeben von den Forschungseinrichtungen »Zentrum für interdisziplinäre Frauen- und Geschlechterforschung« der Carl von Ossietzky-Universität Oldenburg (ZFG) und »Zentrum Gender Studies« der Universität Bremen (ZGS).
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Jutta Jacob, Heino Stöver (Hg.)
Männer im Rausch Konstruktionen und Krisen von Männlichkeiten im Kontext von Rausch und Sucht
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2009 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat: Jutta Jacob, Heino Stöver Satz: Kathleen Schwarz Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-89942-933-6 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
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I N H AL T
I.
Grundlagen
Einleitung JUTTA JACOB/HEINO STÖVER Die Entwicklung der männerspezifischen Suchtarbeit in Deutschland – Eine Zwischenbilanz HEINO STÖVER Männliche Adoleszenz und Sucht KARIN FLAAKE Sucht, Männergesundheit und Männlichkeit – ein neu entdecktes Thema HARALD KLINGEMANN Männer, Körper, Doping IRMGARD VOGT Rein risikoorientierte Sichtweisen auf Männergesundheit enden in präventiven Sackgassen – Neue Männergesundheitsdiskurse und geschlechtsspezifische Gesundheitsförderungsstrategien sind notwendig THOMAS ALTGELD
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Ältere Männer, Drogenkonsum und Sucht: Probleme und Versorgungsstrukturen HEINO STÖVER
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Sinn und Funktion exzessiven Drogengebrauchs bei männlichen Jugendlichen – zwischen Risikolust und Kontrolle ANDREAS HAASE/HEINO STÖVER
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II. Praxis Genderkompetenz als Bestandteil von männerspezifischer Suchtarbeit ANDREAS HAASE
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Männerspezifische Suchtarbeit – wie anfangen? HERBERT MÜLLER
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Gendergerechte Suchtarbeit in der Schweiz MARIE-LUISE ERNST
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10 Jahre Gender-Arbeit in der Prävention mit und für Jungen und Männer – Ein Erfahrungsbericht aus der Arbeit der DROBS Hannover CARSTEN THEILE/LENNART WESTERMANN
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Autorinnen und Autoren
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I. G RUNDLAGEN
Einleitung HEINO STÖVER UND JUTTA JACOB
Sucht ist neben Gewalt ein wesentlicher Bezugsrahmen für Männlichkeitskonstruktionen und Männlichkeitsinszenierungen. Einfluss von und Mythen über Drogen bedienen bzw. kompensieren Vorstellungen tradierter Männlichkeitsbilder von Vitalität, Tatendrang und Wertvorstellungen von Erfolg, Geld und Status. Drogen spielen in männlichen Lebenskonzepten eine herausragende Rolle als Demonstrationsmittel von Stärke, als Anti-Stressmittel, als Symbol von Grenzüberschreitung und Gefährlichkeitssuche, als Kommunikations- oder Rückzugsmittel oder als soziales Schmiermittel überhaupt. Aber über psychotrope Substanzen hinausgehend gerät auch der männliche Körper (wieder) in den Fokus von Männlichkeitsdemonstration: Gestählte Körper drücken als Muskelpanzer Immunität gegenüber zunehmend geforderter Sensibilität und fürsorglicher Verantwortungsübernahme in der Partnerschaft, Kinderversorgung, Familie und im Haushalt aus. Die Auswirkungen und die Funktion der Einnahme anaboler-androgener Steroide und Stimulanzien bei Männern sind zwar augenfällig aber weitgehend unerforscht. Auch pathologisches Glücksspiel ist vor allem eine Männderdomäne. Damit verbindet sich der große männliche Traum von Größe durch Geld. Der Konsum psychotroper Substanzen, ob gelegentlich oder dauerhaft, moderat oder exzessiv, scheint für viele Jungen und (junge) Männer ein probates Mittel grundsätzliche Probleme wie Sprachlosigkeit, Ohnmacht, Isolation, Bedeutungsverlust, Armut oder Identitätskrise für einige Zeit zu lösen. Auf Dauer genommen verschärfen sich jedoch viele Probleme durch nicht mehr zu ignorierende gesundheitliche, soziale
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oder familiäre Folgen. Jungen und Männer sind bei Problemen resultierend aus Alkohol- und Drogenabhängigkeit besonders stark betroffen. Gleichzeitig sind ihre Fähigkeiten, Ressourcen und Aussichten diese Problematik zu bewältigen unterentwickelt – angefangen bei der geringeren und oft sehr späten Inanspruchnahme von Hilfeangeboten, bis hin zu der gefühlten und gefürchteten Erosion des eigenen Männlichkeitskonzeptes, nicht zu sprechen von geringeren Kommunikations- und Kooperationskompetenzen: „Lonesome Cowboy“ bedeutet immer noch für viele Männer, alles mit sich abzumachen und Hilfe anderer als Stärkeeinbruch zu erleben. Brauchen wir überhaupt eine männerspezifische Sucht- und Drogenarbeit? Wir könnten ebenso fragen: Warum werden besondere Angebote für Jugendliche, Migrant/innen oder Menschen aus sozial benachteiligten Schichten, oder Frauen gemacht? Wir stellen diese Fragen nicht mehr: Zu deutlich ist geworden, dass Menschen mit unterschiedlichen kulturellen, sozialen Hintergründen, individuellen Ressourcen, in verschiedenen biographischen Stadien aus ganz unterschiedlichen Motiven Drogen konsumieren. Vor allem unterscheiden sich Männer und Frau en in ihren Konsummotiven, -gründen, -anlässen, in Suchtverlauf, -bewältigung und -beendigung ganz erheblich voneinander. Nach allgemeiner Einschätzung ist die Suchtkranken-/gefährdetenhilfe aber nicht entsprechend auf die Überrepräsentanz männlicher Abhängigkeitsproblematiken vorbereitet. Diskussionen über männerspezifische Hilfeansätze werden in Therapieeinrichtungen, in Publikationen und auf Fachtagungen erst seit einigen Jahren geführt, die Erkenntnis, dass ein solcher Arbeitsansatz zur Qualitätssteigerung, zum größeren Erfolg der Hilfestrategien beitragen kann, hat sich noch nicht ausreichend durchgesetzt – auch nicht bei den Kostenträgern oder in einer allgemeineren Debatte über die zukünftige Ausgestaltung der Suchtkrankenhilfe. Deshalb verwundert es nicht, dass männerspezifische Arbeitsansätze und Konzeptionen für die Beratung und Behandlung von Drogenabhängigen/ -gefährdeten rar sind. Es fehlen damit Modelle in vielen Regionen, die Anstöße geben können, den eigenen Blick in der Einrichtung für männerspezifische Ursachen, Verläufe und Beendigungsmuster von Abhängigkeit zu schärfen. Die Sucht- und Drogenhilfe hat sich einerseits in den letzten Jahren stark ausdifferenziert, um Menschen dort zu unterstützen, wo sie den Wunsch entwickeln und ihre Ressourcen mobilisieren können, um aus der Sucht oder dem problematischen Drogenkonsum heraus zu kommen. Denn: ebenso vielfältig wie die Wege in die Sucht, sind die Wege wieder he10
EINLEITUNG
raus und ebenso vielfältig müssen die Unterstützungen auf den einzelnen Gebieten der Suchthilfe sein. Der Erfolg und die Wirksamkeit der Suchtarbeit hängt maßgeblich davon ab, wie zielgruppengenau, bedarfsorientiert und lebensweltnah sie ihre Angebote ausrichtet, um den unterschiedlichen Erfahrungen und Bedürfnissen der Hilfesuchenden besser gerecht zu werden. Wissenschaftliche Zugänge zur Erklärung von Drogenkonsum, Projekte zur zielgenauen Prävention, lebensweltnahen Beratung, bedarfsgerechten Therapie und Nachsorge von Drogenkonsument/innen sind dringend indiziert. Trotz aller gelungenen Ausdifferenzierung in wichtigen Arbeitssegmenten wird eine geschlechterspezifische Suchtarbeit jedoch noch immer mit „frauengerechten Angeboten“ gleichgesetzt, in der stillschweigenden Übereinkunft: „Sucht-/Drogenarbeit minus frauenspezifischer Ar beit muss gleich männerspezifisch sein.“ Diese geschlechtsnegierende Sicht auf das Phänomen Sucht in allen Facetten wird jedoch kontrastiert durch Erkenntnisse, dass auch männlicher Drogenkonsum besondere Ursachen hat, dass die Inanspruchnahme von Vorsorge-/Hilfe- und Beratungsangeboten von Männern begrenzt ist, dass der individuelle Suchtverlauf und -ausstieg, die Kontrolle über Drogen sowie die soziale Auffälligkeit geschlechtsspezifische Besonderheiten aufweist. Diese Gedanken sind in der frauenspezifischen Suchtarbeit – zumeist von Frauen für Frauen – in den letzen 25 Jahren bereits umgesetzt worden – wenn auch nicht flächendeckend und immer noch nicht differenziert genug. Angebote wurden erkämpft, Standards und Leitlinien erarbeitet, wissenschaftliche Theorien entwickelt und empirisch überprüft. Für suchtkranke/-gefährdete Männer hingegen fehlen solche Angebote oder selbst Konzepte nahezu völlig. Scheinbar haben Männer bislang keinen Bedarf gesehen, männerspezifisch zu arbeiten. Haben Professionelle und Betroffene geglaubt, in all den Angeboten, in denen keine oder kaum Frauen waren, würde bereits ihr soziales Geschlecht und der Zusammenhang der Konstruktion ihrer Männlichkeit mit Drogenkonsum reflektiert? War Geschlechtsspezifik nur etwas für (frauenbewegte) Frauen? Glaubte man(n), die besonderen gesundheitlichen Belastungen für Männer und ihre Auswirkungen auf den Drogenkonsum wären bereits hinreichend erkannt und therapeutisch bearbeitet? Betrachtet man die Verbreitung und Verteilung der von psychoaktiven Substanzen abhängigen oder gefährdeten Menschen in Deutschland, fällt deutlich die vermehrte Betroffenheit bei Männern auf. Gleichzeitig bestehen jedoch auffällig wenig Versorgungsangebote mit männerspezifischen Ansätzen. 11
HEINO STÖVER UND JUTTA JACOB
Diese Diskrepanz wird zunehmend in der (Fach-)Öffentlichkeit deutlich, und in einer Reihe von Seminaren, Fachtagungen und Publikationen ist in den letzten Jahren auf die Notwendigkeit einer Ausweitung männerspezifischer Angebote hingewiesen worden. Immer augenfälliger wird die Notwendigkeit, männerspezifische Ursachen und Ausprägungen von Sucht(-gefährdung) zu erforschen, therapeutische Antworten auf den spezifisch männlichen Umgang mit Krisen, Süchten, Hilfeangeboten, eigenen Ressourcen und Lebensentwürfen zu suchen. Männer machen es dabei sich und anderen nicht leicht, strukturelle Bedingungen wie sozialisations- bzw. rollentypische Erwartungen an Männer (z.B. keine Ängste zulassen), Stummheit, das mangelhafte Erkennen und Benennen eigener Bedürfnisse, die Ignoranz gegenüber Körpersignalen wahrzunehmen. Aber auch ausgeprägtes Desinteresse an Reflexion, theoretischer Aufarbeitung von sich verändernder Männeridentität und Mannsein erschweren sowohl eine Männergesundheitsbewegung, als auch eine männerspezifische Sucht- und Drogenarbeit. Eher existieren Überlegungen, was man(n) von der Frauenbewegung übernehmen könnte, eher bequeme, fast selbstgefällige, aber auf jeden Fall holprige (erste) Gedanken zur eigenen kulturell-sozialen Geschlechtlichkeit und deren Auswirkungen auf Gesundheit und Drogenkonsum/-sucht. Die Beiträge des vorliegenden Bandes beleuchten die beschriebenen Zusammenhänge aus unterschiedlichen Perspektiven. Einige von ihnen stehen im Zusammenhang mit der Konferenz „[rau] m Konstruktionen und Krisen von Männlichkeiten im Kontext von Sucht“ (5.-6..2007) in Bremen, veranstaltet von dem „Zentrum für interdisziplinäre Frauenund Geschlechterforschung an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg“ und dem Bremer Institut für Drogenforschung und dem ARCHIDO an der Universität Bremen. Wir danken allen Autorinnen und Autoren für ihre aktive fachliche Beteiligung an einem lebendigen Prozess der Auseinandersetzung um die Verwobenheit von Männlichkeiten mit dem Phänomen Sucht sowie die Gestaltung von praxistauglichen Ansätzen männerbezogener Sucht- und Drogenarbeit.
Oldenburg/Bremen, Dezember 2008 Jutta Jacob/Heino Stöver
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Die Entw icklung der männerspezifischen Suchtarbeit in De utsc hland – Eine Zw ischenbila nz HEINO STÖVER
1. In der deutschen Drogenpolitik und Drogenhilfe: „Gender means women“ Nach allgemeiner Einschätzung ist die Suchtkranken-/gefährdetenhilfe nicht entsprechend auf die Überrepräsentanz männlicher Abhängigkeitsproblematiken vorbereitet. Diskussionen über männerspezifische Hilfeansätze werden in Therapieeinrichtungen, in Publikationen und auf Fachtagungen erst seit einigen Jahren geführt, die Erkenntnis, dass ein solcher Arbeitsansatz zur Qualitätssteigerung, zum größeren Erfolg der Hilfestrategien beitragen kann, hat sich in Deutschland – im Gegensatz zur Schweiz (Chisholm 2008; BAG 2006) – noch nicht ausreichend durchgesetzt. Auch nicht bei den Kostenträgern (z.B. Rentenversicherer) oder in einer allgemeineren Debatte über die Qualitätsentwicklung in der Suchtkrankenhilfe. In der Schweiz ist „Infodrog“ vertraglich vom Bundesamt für Gesundheit (BAG) mandatiert gendergerechte Suchtarbeit in den Bereichen Therapie und Schadensminderung zu entwickeln und zu fördern: „Suchtarbeit ist wirkungsvoller, wenn sie sowohl den biologischen als auch den soziokulturellen Unterschieden zwischen den Geschlechtern Rechnung trägt. Nachhaltige Suchtarbeit setzt bei den unterschiedlichen Ressourcen, Bedürfnissen Erfahrungen und Lebensrealitäten von Frauen und Männern an. Diese werden systematisch bei allen Interventionen zugunsten Suchtbetroffener berücksichtigt. Auf nationaler Ebene sind diese Grundsätze im dritten 13
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Maßnahmenpaket des Bundes zur Verminderung der Drogenprobleme (MaPaDro III) 2006í20 verankert. … Das BAG unterstützt Institutionen der Suchthilfe bei der Entwicklung und Verankerung von frauen- und männergerechter Suchtarbeit mit dem Ziel, diese schweizweit zu etablieren.“ (Infodrog 2008)
In der Schweiz werden in besonderen Datenbanken ausdrücklich genderspezifische und vorab zertifizierte Angebote ausgewiesen. www.drugsandgender.ch ist ein online-Verzeichnis, das eine komplette Bestandesaufnahme der geschlechtergerechten sowie der frauen- und männerspezifischen Suchtarbeit in der Schweiz beinhaltet. Die Ziele von www.drugsandgender.ch sind: • Übersicht über die aktuellen geschlechtersensiblen und -spezifischen Organisationen und Angebote in der Suchtarbeit • Honorierung der Organisationen und ihre Leistungen bei der Entwicklung frauen- und männergerechter Angebote • Erleichterung von Zugang, Austausch und Vernetzung zwischen den interessierten Fachkräften und Organisationen über geschlechtergerechte Suchtarbeit • Ermutigung von Organisationen ihr Engagement für geschlechtersensible Arbeit öffentlich zu machen und im Angebotsbeschrieb, Konzept, Leitbild oder im Rahmen eines Subventions- oder Leistungsvertrages zu verankern (http://www.drugsandgender.ch/de/) Insbesondere der Zusammenhang von „Sucht und Männlichkeit“ erlebt in der Schweiz eine stärkere Beachtung (Graf 2006; vgl. Beitrag von Ernst in diesem Band). In Deutschland jedoch gilt allgemein immer noch „Gender means women“ (Scambor/Scambor 2006). Kennzeichnend dafür sind die Verlautbarungen des Bundesgesundheitsministeriums, das zwar einerseits übergeordnet den zentralen gesundheitspolitischen Stellenwert einer zielgenauen, geschlechterdifferenzierten Gesundheitsvorsorge und versorgung anerkennt, und auch die Tatsache, dass die gegenwärtige gesundheitliche Versorgung nicht genügend auf die spezifischen gesundheitlichen Anforderungen von Frauen und Männern eingeht. Andererseits dann aber als Beispiel einer geschlechtersensiblen Sichtweise die Gesundheitsrisiken und Krankheiten, die ausschließlich bei Frauen auftreten, häufiger vorkommen oder schwerwiegender verlaufen, thematisiert (Gewalt gegen Frauen, gesundheitliche Prävention bei Frauen in der zweiten Lebenshälfte, Hormonersatztherapien, Wechseljahre und Hormontherapie). 14
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Ebenso in den „Empfehlungen des Drogen- und Suchtrates an die Drogenbeauftragte der Bundesregierung für ein Nationales Aktionsprogramm zur Alkoholprävention“ (Facharbeitsgruppe 2008) fehlt jegliche Gender-Orientierung, oder eine Ausrichtung und Wahrnehmung der Bedeutung geschlechtsspezifischer Präventionsstrategien. Dies trifft ebenso für die Tabakprävention zu. In den „Empfehlungen des Drogen- und Suchtrates an die Drogenbeauftragte der Bundesregierung für ein Nationales Aktionsprogramm zur Tabakprävention, heißt es lediglich: „In Deutschland fehlt es z.Z. noch an einem flächendeckenden Angebot zielgruppengerechter und qualifizierter Beratung für Raucherinnen und Raucher, wie sie auf das Rauchen verzichten können.“ (S. 6) Das ist alles an geschlechtsspezifischen Erkenntnissen und Strategien! Wenn dann eine geschlechtsspezifische Orientierung auftritt, beziehen sie sich in Veranstaltungen etwa auf drogenbedingte Risiken bei Frauen (z.B. „Frauen und Rauchen“ – Jahrestagung der Drogenbeauftragten (3.-4. 0. 2008). In den Erkenntnissen werden dann vorrangig die biologischen Aspekte betont: „Rauchen in der Schwangerschaft schädigt das ungeborene Kind und begünstigt Fehlgeburten. Es ist daher besonders wichtig, die Frauen mit den Angeboten der Tabakprävention zu erreichen“ (Drogenbeauftragte 2008). Männerspezifische Gesundheitsthemen, jenseits von Leistungszwang und men’s health-lifestyle-Beschäftigungen, werden nur sehr langsam öffentlich behandelt. Dies trifft auch auf die Fachöffentlichkeit zu und deren Thematisierung des Zusammenhangs von „Männer-RauschDrogenkonsum-Sucht“. Eine intensive Auseinandersetzung mit den sozio-kulturellen Zuschreibungen der Geschlechtsidentitäten und den gesundheitlichen Folgen der Widersprüche und Belastungen im täglichen Männerleben – theoretisch, praktisch und politisch – hat es im wesentlichen auch auf Fachebene nicht gegeben. Daran hat auch eine (verordnete) Gendermainstreaming-Debatte wenig geändert: Auch sie konzentriert sich im wesentlichen auf die gesellschaftlichen Benachteiligungen und biologische Aspekte bei Frauen. „Wir haben es also mit dem Phänomen der einseitigen Vergeschlechtlichung zu tun“. (Schwarting 2005: 65). Frauke Schwarting (2005: 65f) plädiert für einen geschlechtsreflexiven Perspektive in der Sucht- und Drogenarbeit: • „Verdeckte geschlechtsbezogene Aspekte von Suchtentstehung, Alltag und Ausstieg sollten sichtbar gemacht werden, ohne die Geschlechter bzw. die Gruppe der Männer und der Frauen jeweils zu homogenisieren (also ohne die Konstruktion einer ”Identitätslogik”). • Geschlechtsbezogene Aspekte werden so formuliert, dass sie nicht essentiell den Geschlechtern zugeordnet werden, sondern als histo15
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risch-gesellschaftliche, kontext- und lebensbedingungsbezogene und damit veränderbare Aspekte sichtbar werden (also ohne die Konstruktion einer ”biologischen Fundierung”). Eine geschlechtsreflexive Perspektive berücksichtigt Verschränkungen von Geschlecht mit anderen Dimensionen, etwa Generation und soziale Lage bzw. Schicht, ist also offen für weitere soziale Differenzierungen. Ein geschlechtsbezogener Blick erfordert eine beständige Reflexion auch der AkteurInnen in der Praxis. „Reflexivität“ betont hier die Notwendigkeit einer “entdeckenden Haltung“ angesichts konkreter KlientInnen, in der die ihrem Vorgehen zugrunde liegenden Annahmen im Einzelfall kritisch überprüft werden (also gegen eine Verfehlung oder Verdeckung der jeweiligen konkreten empirischen Situation).“
Erst vor kurzem hat das Bundesministerium für Gesundheit einen Forschungsauftrag vergeben („Geschlechterspezifische Anforderungen an die Suchthilfe-Gender Mainstreaming in der Suchttherapie von Jugendlichen“). Die Ausschreibung basiert auf der Erkenntnis, dass Jungen und Mädchen quantitativ und qualitativ unterschiedlich von Suchtproblemen betroffen sind und demnach präventive wie therapeutische Interventionen notwendig sind, die den Einfluss des soziokulturellen Geschlechtes auf Suchtentwicklungen berücksichtigen. Erschwerend für die Analyse kommt hinzu, dass Drogen konsumierende Jugendliche mit ihrem Konsumverhalten von unterschiedlichen Systemen und Experten/Professionen erfasst und betreut werden: Suchtkrankenhilfe, Jugendhilfe und Kinder- und Jugendpsychiatrie und weitere Akteure. Ziele des Forschungsprojektes sind die Abbildung der Ist-Situation gendersensibler Suchtarbeit und die Erarbeitung konkreter Empfehlungen zur Verbesserung von Suchthilfeangeboten und ambulanter wie stationärer Suchttherapie sowie die Entwicklung von Vorschlägen für die Verzahnung der unterschiedlichen Hilfesysteme. Erste Ergebnisse sind erst 2009 zu erwarten. Soviel kann gesagt werden: Jungen-/Männerspezifische Arbeitsansätze und Konzeptionen für die Beratung und Behandlung von Drogenabhängigen/-gefährdeten sind rar. Es fehlen damit Modelle in vielen Regionen, die Anstöße geben können, den eigenen Blick in der Einrichtung für männerspezifische Ursachen, Verlaufsformen und Beendigungs-/Bewältigungsmuster der Abhängigkeit zu schärfen. Historisch, und das bestimmte auch die Dynamik der Herausbildung von gendergerechten Angeboten in der Schweiz (Ernst in diesem Band), sind 16
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praxisrelevante Manuale für Beratung, Therapie und weitergehende Behandlungen vor allem für die frauenspezifische Drogenarbeit entwickelt worden (BAG 998; 2000; 2005; LANDESFACHSTELLE FRAUEN & SUCHT NRW, BELLA DONNA 2004). Diese einseitige Ausrichtung in der Thematisierung von Genderfragen wird jedoch zunehmend in der (Fach-Öffentlichkeit deutlich und in einer Reihe von Seminaren, Fachtagungen und Publikationen ist in den letzten Jahren auf die Notwendigkeit einer Ausweitung männerspezifischer Angebote hingewiesen worden. Immer augenfälliger wird die Notwendigkeit, männerspezifische Ursachen und Ausprägungen von Sucht(-gefährdung) zu erforschen, therapeutische Antworten auf den spezifisch männlichen Umgang mit Krisen, Süchten, Hilfeangeboten, eigenen Ressourcen und Lebensentwürfen zu suchen. Männer machen es dabei sich und anderen nicht leicht, strukturelle Bedingungen wie sozialisations- bzw. rollentypische Erwartungen an Männer (z.B. keine bngste zulassen), Stummheit, das mangelhafte Erkennen und Benennen eigener Bedürfnisse, die Ignoranz gegenüber Körpersignalen wahrzunehmen. Aber auch ausgeprägtes Desinteresse an Reflexion, theoretischer Aufarbeitung von sich verändernder Männeridentität und Mannsein erschweren sowohl eine Männergesundheitsbewegung, als auch eine männerspezifische Sucht- und Drogenarbeit. Eher existieren Überlegungen, was man(n) von der Frauenbewegung übernehmen“ könnte, eher bequeme, fast selbstgefällige, aber auf jeden Fall holprige (erste) Gedanken zur eigenen kulturell-sozialen Geschlechtlichkeit und deren Auswirkungen auf Gesundheit und Drogenkonsum/-sucht.
2 . Ar b e i t s k r e i s „ M a n n u n d S u c h t “ i n Nordrhein-Westfalen In den letzten fünf Jahren hat es in Deutschland mehrere Fachtagungen zum Thema „Männer und Sucht“ gegeben, so etwa 2003, 2004 und 2007 veranstaltet vom ‚Zentrum für interdisziplinäre Frauen- und Geschlechterforschung‘ der Universität Oldenburg und dem ‚Bremer Institut für Drogenforschung‘ an der Universität Bremen, dem Fachverband Drogen und Rauschmittel (FDR) 2005 in Berlin, oder dem Landschaftsverband Westfalen-Lippe/LWL (2004 in Dortmund, und fortlaufend in den nächsten Jahren im „Arbeitskreis Mann und Sucht“). Vor allem die Koordinationsstelle Sucht (KS) des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe (LWL) hat deutschlandweit wesentlich zu einer inten17
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siven Diskussion des Themas „Mann und Sucht“ beigetragen. Die mittlerweile 6 Arbeitskreissitzungen mit jeweils 40-60 überwiegend männlichen Vertretern aus Suchtkrankenhilfeeinrichtungen haben verschiedene Facetten des Zusammenhangs erhellt mit Schwerpunktsetzungen auf Migration, Spiritualität, Doping/Körperstyling, Sexualität, männliche Jugendliche. Eine von der Koordinationsstelle Sucht (KS) des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe (LWL) in Kooperation mit dem Netzwerk „Westfälische Einrichtungen Stationärer Drogentherapie e. V. (WESD)“ veranstaltete Fachtagung „Männersache – Brauchen wir eine männerspezifische Suchthilfe?“ im September 2004 in Dortmund war der Ausgangspunkt, es folgten ein Arbeitskreis „Mann und Sucht“ im April 2005 in Münster, sowie ein Workshop zum Thema „Männerspezifische Suchtarbeit“ im August 2005 in Münster. Aus dieser Arbeit ist ein Leitfaden entwickelt worden: „Leitfaden zur männerspezifischen Sucht- und Drogenarbeit – Handlungsempfehlungen für die Praxis“. Dieser Leitfaden will neben der Eröffnung eines Diskurses über Männerspezifik gleichzeitig Orientierungen und praktische Hilfestellungen zur Implementierung männerspezifischer Ansätze in der Suchthilfe geben. Damit ist ein erster Schritt getan worden, die fachliche Aufmerksamkeit auf die längst überfällige Abstimmung der Hilfeangebote auf jungen-/ männerspezifische Besonderheiten der Suchtentwicklung/-bewältigung/ -überwindung und Bedürfnisse nach mehr Kontrolle über den Substanzkonsum bzw. Stabilisierung der Abstinenz zu lenken.
3 . E r s t e E r f a h r u n g e n u n d P e r s p e k t i ve n Der Leitfaden wurde seit Mitte 2006 bisher ca. .700 mal versandt, die elektronische Version wurde von der LWL-URL 2.354 heruntergeladen worden (0.06.2006-2.0.2008). Evaluations-/feed-back-Bögen waren leider nicht vorgesehen. Er ist grundsätzlich in zwei Bereiche unterteilt: • Grundsätzliche Aspekte • Praxis- und Handlungsempfehlungen Während die „grundsätzlichen Aspekte“ eine Einführung in Epidemiologie und Geschlecht als zentrale Kategorie in der Gesundheitsförderung beinhalten, geben die Praxis- und Handlungsempfehlungen konkrete Hinweise für männer- und jungenspezifische Suchtarbeit im Rahmen der Sicherung von Strukturqualität. 18
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Deutlich herausgearbeitet wird, dass die Einführung männerspezifischer Hilfeangebote Veränderungen auf der MitarbeiterInnen- und Organisationsebene voraussetzen: • Voraussetzung einer fachlich fundierten männerspezifischen Arbeit in der Suchtkrankenhilfe ist eine kontinuierliche Auseinandersetzung der Mitarbeiter, die sich entscheiden, männerspezifische Arbeit zu leisten (Breuker-Gerbig 2005). Erfahrungen, Bedingungen und vorhandene Kompetenzen müssen eruiert werden. Ist eine geschlechtshomogene Arbeit überhaupt aufgrund der geringen Präsenz von Männern in den Therapieeinrichtungen möglich? • Organisation: Gibt es eine top-down-Unterstützung durch die Leitung, beteiligt sie sich aktiv an der Einführung geschlechtsspezifischer Arbeitsansätze? Sind die vorhandenen Konzepte daraufhin überprüft worden? Sind die Kostenträger involviert und überzeugt worden? Insgesamt wird in diesem Leitfaden davon ausgegangen, dass eine geschlechtsspezifische Arbeit die Qualität der Suchtkrankenarbeit ebenso steigert wie die Arbeitszufriedenheit und -qualität der MitarbeiterInnen. Gegenwärtig arbeiten drei Autoren (Arnulf Vosshagen, Peter Bockholt, Heino Stöver) im Auftrag des LWL an einer Fortsetzung und Erweiterung des Manuals mit dem Titel: „Manual zur Männerarbeit im Suchtbereich“. Dieses neue Manual soll das Verständnis für geschlechtsspezifische Arbeit fördern und BeraterInnen und TherapeutInnen umfassende praktische Umsetzungsmöglichkeiten von Männerarbeit im Suchtbereich bieten. Es ist sehr viel praxisorientierter als die ursprüngliche Fassung. Eine erste Übersicht über die Gliederung des Manuals, das in verschiedene Module eingeteilt ist: Modul 1: Sucht und Männlichkeit: „Cool und trinkfest“ Modul 2: Sucht und Männlichkeit: Beispielhafte Inhalte u. a.: Bilder von Männlichkeit in der Gesellschaft und beim individuellen Patienten/Lerngeschichte des Suchtmittelkonsums in der Interaktion mit anderen Männern/Abstinenz und das Männerbild Modul 3: MeinVater „Wo warst Du“? Geschichten unerfüllter Sehnsucht/fehlendem Vorbild/väterlicher Abhängigkeit/unausweichlicher bhnlichkeit 19
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Modul 4: Männerfreundschaft „Nur nicht zu nah“ Freunde oder Trinkkumpanen/Homophobie als vielgesichtige Angst vor anderen Männern/männliche Weggefährten in der Selbsthilfegruppe Mann und Homosexualität Modul 5: Beziehung zu Frauen „Frauen wollen immer dasselbe“ Übernahme von Verantwortung vor und nach der akuten Sucht/ -Machtverteilung zwischen den Geschlechtern/Umgang mit der Vergangenheit /Konfliktverarbeitung und Kommunikation Modul 6: Gesundheit – „Was von selber kommt – geht von selber wieder weg“ mechanisches Verhältnis zum eigenen Körper/Selbstwahrnehmung und Sensibilität Modul 7: Arbeit/Freizeit „Männer zwischen Herzinfarkt, Freizeitstress und Langeweile“ Selbstdefinition über den Beruf, „Hauptsache Arbeit“, leben mit Hartz IV/Dauerarbeitslosigkeit/Dauerüberforderung/Genuss/Entspannung, Leidenschaft Modul 8: Sexualität „Hardware, Software oder Heartware“ Sexuelle Störungen/Angst vor dem Versagen/Lustverlust/Sex ohne Alkohol/Reden über Sex wie reagieren andere Männer/Pornographie/ Lustverlust Modul 9: Gewalt/Benutzung „Die Überwindung von Hilflosigkeit oder Kraft konstruktiv nutzen“ Gewalt gegen andere Männer/Gewalt in der Familie/Gewalt gegen mich selbst/Männer als Opfer/Tabus brechen/Hilflosigkeit eingestehen/konstruktive Konfliktlösung Modul 10: Vaterschaft „Neue Väter braucht das Land“ „Meine Kinder haben nichts mitbekommen“/mit den Kindern über die Sucht reden/meine Vaterrolle ausfüllen/fehlende elterliche Kompetenz Modul 11: Spiritualität/„Die unbekannte Dimension“/Emotionalität: Sinnfindung/Werte entdecken/Verantwortung für das Leben und die Umwelt Gefühle wahrnehmen, benennen und ausdrücken
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4 . P e r s p e k t i ve n Wie kann eine männergerechte Suchtarbeit begonnen und verbessert werden? Fachtage und Veröffentlichungen sind sicher ein wichtiger Weg. Sie befördern Austausch und bilden ein Netzwerk „guter Praxis“. In Deutschland hat lediglich die Koordinationsstelle Sucht (KS) des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe (LWL) die Bedeutung männerspezifisch ausgerichteter Suchtkranken/-gefährdetenhilfe erkannt. Seit 2004 findet im Rahmen von Arbeitskreisen und Fortbildungen ein lebhafter Austausch statt. Darum geht es auch für andere Regionen, Kostenträger und Drogenpolitik: Im Rahmen von Qualitätsverbesserung, Zielgenauigkeit, Entwicklung von drogenpolitischen Strategien und individueller Behandlung muß der Wert von gendergerechter Arbeit stärker betont werden. Dies ist wie gezeigt noch nicht der Fall, bzw. gültig nur für frauenspezifische Angebote. Für die männerspezifische Arbeit sind Champions noch nicht identifiziert, Erfahrungen und Konzepte noch nicht gesammelt und ausgewertet. Darüber hinaus sollten Methoden systematisiert und Leitlinien entwickelt werden.
Literatur Bundesamt für Gesundheit (998): Es braucht eine frauenspezifische und frauengerechte Drogenarbeit, weil… Ein Argumentarium für Vorstands- und Behördenmitglieder für Fachkräfte und an Drogenarbeit interessierten PolitikerInnen. Bern/Schweiz. Bundesamt für Gesundheit (998): Frauengerecht! Anforderungen an die niederschwelligen Angebote im Suchtbereich. Ein Instrumentarium für die Praxis. Bern/Schweiz. Bundesamt für Gesundheit (2005): Frauengerecht! Die praxis. Dokumentation zur Umsetzung des Qualitätsentwicklungsinstrumentes „Frauengerecht! Anforderungen an die niederschwelligen Angebote im Suchtbereich.“ Bern/Schweiz. Breuker-Gerbig, U. (2005): Referat „Entwicklung frauenspezifischer Suchtarbeit“ im . Arbeitskreis „Männerspezifische Suchtarbeit“ am 26. April 2005 im LWL Münster. Bundesamt für Gesundheit (2006): Das modulare QuaTheDAReferenzsystem. Die Qualitätsnorm für den Suchthilfebereich. Bern/Schweiz ([email protected]). Chisholm, A. (2008): „Das Gender-Netz: Ein Projekt zur Verankerung der Genderperspektive in der schweizerischen Suchthilfe.“ 21
HEINO STÖVER
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Männliche Ad oleszenz und Sucht KARIN FLAAKE
Vorbemerkungen Zunächst eine Vorbemerkung zum Thema dieses Aufsatzes. Ich werde keine unmittelbaren Verknüpfungen zwischen männlicher Adoleszenz und Sucht herstellen, sondern für die Bundesrepublik Deutschland gesellschaftlich nahe gelegte Adoleszenzverläufe für junge Männer skizzieren, die mit spezifischen Problemkonstellationen verbunden sind, für die Suchtverhalten eine – aber eben nur eine – mögliche Verarbeitungsstrategie darstellen kann. (Zum Thema Männlichkeit und Sucht vgl. auch die Beiträge in Jacob/Stöver 2006 und Stöver 2007). Dabei werde ich mich auf eine spezifische für Suchtverhalten potentiell bedeutsame Facette von Entwicklungsverläufen konzentrieren: auf die bei Jungen und jungen Männern nicht selten zu findende Kluft zwischen demonstrierter Unabhängigkeit und Stärke einerseits und Gefühlen von Abhängigkeit, Selbstzweifeln, Angst, Hilflosigkeit und Schwäche andererseits, die im Verlaufe des Heranwachsens zunehmend weniger gezeigt werden können, immer weniger Ausdrucksmöglichkeiten finden und zunehmend abgespalten und verdrängt werden. Diese Kluft zieht sich wie ein Leitmotiv durch Sozialisationsprozesse von Jungen und jungen Männern und vertieft sich in der Adoleszenz. Im ersten Teil dieses Beitrags wird es um die Bedeutung eines mit der Adoleszenz für Jugendliche besonders bedeutsamen sozialen Kontexts gehen, nämlich um die gleichgeschlechtliche peer group, im zweiten Teil steht dann die Familie im Zentrum. Abschließend werde ich Bezüge zum Suchtverhalten andeuten.
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KARIN FLAAKE
Bedeutung der peer group Für adoleszente Männlichkeitsinszenierungen hat die gleichgeschlechtliche peer group eine besondere Bedeutung. Sie dient der Ablösung von der Familie und zugleich der kollektiven Aneignung von Männlichkeitsentwürfen – denn mit der Adoleszenz, der Zeit des Übergangs zwischen Kindheit und Erwachsensein, werden gesellschaftliche Geschlechterbilder und die damit verbundenen Anforderungen für die Jugendlichen auf eine neue Weise bedeutsam: Erwachsenwerden heißt in westlich industriellen Gesellschaften wie in Deutschland immer auch zur Frau oder zum Mann werden. Studien zur Adoleszenz von Jungen kommen übereinstimmend zu dem Ergebnis, dass sich mit Beginn der Pubertät schon vorher vorhandene Identitätspräsentationen und -inszenierungen verstärken und dass die gleichgeschlechtliche peer group dabei eine große Rolle spielt (vgl. Böhnisch 2004; Brandes/Menz 2002). Obwohl gesellschaftliche Männlichkeitsbilder in öffentlichen Diskussionen zunehmend problematisiert werden, orientieren sich viele Jungen dennoch – und gerade in solchen Gruppen – stark an einem Ideal von Unabhängigkeit und Stärke, von Aktivität und Dominanz, das den Charakter eines Leitbildes von gelungener und sozial hoch bewerteter Männlichkeit hat (vgl. Budde/Faulstein-Wieland 2005; Budde 2005; King 2000; Meuser 2005; Michalek 2007). Diese Orientierung ist umso ausgeprägter, je eingeschränkter die Perspektiven und Lebensbedingungen der Jungen und jungen Männer sind; sie gilt also in besonderem Maße für Jugendliche aus unteren sozialen Schichten und mit Migrationshintergrund. Verschiedene Studien zeigen jedoch eindrücklich, dass ein solches Leitbild für Jungen und junge Männer aller sozialen Milieus – mit jeweils unterschiedlichen inhaltlichen Ausgestaltungen und Schwerpunktsetzungen – eine zentrale Bedeutung hat (vgl. Helfferich 1994; King 2002). Gleichzeitig scheint dieses Leitbild gelungener Männlichkeit für die meisten Jungen den Charakter eines unerreichbaren Ideals zu haben, dem es jedoch möglichst nahe zu kommen gilt. Dieses „möglichst nahe kommen“ geschieht über Prozesse der Hierarchisierung unter den Jungen und der Abgrenzung von den Mädchen. Zentrale Felder für Männlichkeitsinszenierungen sind dabei insbesondere die Bereiche „Sport“ und „Technik“ (Jösting 2005). Untersuchungen an Schulen – in Deutschland ebenso wie in England – zeigen eindrücklich, dass viele Jungen in Schulen aller Formen und Typen in ständige Abgrenzungs- und Selbstbehauptungskämpfe involviert sind, in denen es um die Demonstration einer möglichst großen Nähe zum Leitbild autonomer und überlegener Männlichkeit geht (vgl. Budde/Faulstich-Wieland 2005; Budde 2005; Faulstich24
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Wieland u.a. 2004; Frosh u.a. 2002; Phoenix/Frosh 2005). Erreichte Positionen in der Hierarchie der Jungen sind dabei immer bedroht und müssen gegen andere verteidigt werden. Dazu ein Zitat von Jürgen Budde und Hannelore Faulstich-Wieland bezogen auf die Situation in einer Gymnasialklasse: Der wichtigste Mechanismus zur Herstellung von Männlichkeit ist das Zusammenspiel von Inklusion und Exklusion innerhalb der geschlechtshomogenen Gruppe. Einige Jungen werden in der Schule mit unterschiedlichen Strategien ausgegrenzt, und durch diese Ausgrenzung gewinnen die anderen legitime geschlechtliche Zugehörigkeit. Die so entstehende „Wir-Gruppe“ ist auf die Ausgrenzung anderer grundsätzlich angewiesen, denn nur so erhält Männlichkeit eine scharfe Konturierung, die es den Schülern erlaubt, zwischen männlich und unmännlich zu unterscheiden. (Budde/Faulstich-Wieland 2005: 41)
Kernelement von Männlichkeitsinszenierungen ist die Abgrenzung von und Entwertung des Weiblichen und all dessen, was als weiblich konnotiert ist. Nicht männlich ist all das, was weiblich ist und männlich all das, was nicht weiblich ist – darin besteht der Kern jugendlicher Männlichkeitsinszenierungen, der zugleich deutlich macht, dass Männlichkeit ein fragiles Gebilde ist, das durch als weiblich Konnotiertes ständig bedroht ist. Als weiblich konnotiert sind insbesondere alle Seiten einer Person, die mit Abhängigkeit und Schwäche, mit Unsicherheiten, Angst und Hilflosigkeit verbunden sind. Solche Eigenschaften werden Mädchen zugeschrieben und in ihnen verachtet, aber auch unter Jungen dienen sie als zentrales Ausgrenzungsmerkmal – verdichtet in dem wohl am weitesten verbreiteten Schimpfwort „schwul“, das beliebig mit Inhalten gefüllt wird, sich z. B. auf die Kleidung, die Haare, den Klang der Stimme oder das Verhalten beziehen kann, immer aber auf als ‚mädchenhaft’ Konnotiertes verweist. Für Jungen, die über solche Entwertungen ausgegrenzt werden, sind die damit verbundenen Kränkungen und Verletzungen nur schwer artikulierbar, denn auf diese Weise würden sie sich erneut als „zu weich“ zeigen (vgl. Kindlon/Thompson 2000). Gegenüber Mädchen spielen in adoleszenten Männlichkeitsinszenierungen nicht selten sexualisierende und zugleich entwertende Kommentare eine Rolle. So stellen Georg Breidenstein und Helga Kelle (1998) in ihrer Studie zum Geschlechteralltag in einer in ein schulisches Reformklima eingebundenen Klasse bei den 10- bis 12-Jährigen einen „geradezu obsessiv wirkenden Gebrauch von Vokabeln und Metaphern aus dem
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Bereich des Sexuellen“ (Breidenstein/Kelle 1998: 155) fest, der geschlechtlich deutlich unterschieden ausgestaltet ist. Es verteilen sich die Rollen von Subjekt und Objekt ... eindeutig auf die Geschlechter: Überwiegend sind es Jungen, die Mädchen kommentieren. Die Kommentare beziehen sich meist auf körperliche Merkmale oder Details der Kleidung von Mädchen. (Breidenstein/Kelle 1998: 165; vgl. auch Schön 1999: 255ff.)
Nicht zufällig ist es dabei häufig der Körper von Mädchen, der sexualisierend und in spöttischer Absicht kommentiert wird. Die in der Pubertät mit neuer Heftigkeit sich Ausdruck verschaffenden sexuellen Wünsche und Erregungen verunsichern Jungen zunächst und können als bedrohlich erlebt werden. Es scheint dabei für Jungen eine in gesellschaftlichen Bildern weiblicher Körperlichkeit und Sexualität verankerte Verführung zu geben, ihre Probleme und Verunsicherungen auf Kosten des anderen Geschlechts zu bewältigen, sich psychisch durch Herabsetzen des weiblichen Körpers und der Sexualität zu stabilisieren, Schwäche also durch Demonstration von Stärke zu überdecken. Auch wenn nicht alle Jungen und jungen Männer an adoleszenten Männlichkeitsinszenierungen beteiligt sind, haben diese Inszenierungen doch einen stark normierenden Charakter und schaffen einen Druck, durch den sich alle mit den dort vorherrschenden Männlichkeitsbildern auseinandersetzen und dazu positionieren müssen. Abgrenzungen können besonders für Jungen mit geringem Selbstbewusstsein und fehlender Unterstützung durch soziale Kontexte mit flexibleren Geschlechterbildern – z.B. in der Familie – schwierig sein. Zusammenfassend können adoleszente Männlichkeitsinszenierungen gekennzeichnet werden durch ein Nebeneinander von verborgener Fragilität und inszenierter Überlegenheit, die sexualisierende Grenzüberschreitungen gegenüber Mädchen als Potenzial enthält. Sie sind immer auch zu verstehen als widersprüchliche Prozesse der Etablierung von Machtpositionen, aber zugleich auch des Verlustes an inneren Möglichkeiten: Sie können für die Jungen mit dem Preis verbunden sein, dass der Zugang zu den eigenen weichen, verletzlichen Seiten – den Wünschen nach Nähe und emotionaler Zuwendung, den damit verbundenen Ängsten, Enttäuschungen und Kränkungen, den Gefühlen von Trauer und Leiden – zunehmend blockiert wird, dass die Fähigkeit, entsprechende Befindlichkeiten zu fühlen und auszudrücken in wachsendem Maße verloren geht. Es wird dann eine „zweite Wirklichkeit“ (StreeckFischer 1997: 52) geschaffen, in der Unabhängigkeit von anderen und Unverletzbarkeit zu dominieren scheinen. In diesem Zusammenhang 26
MÄNNLICHE ADOLESZENZ UND SUCHT
scheint mir ein Ergebnis der Londoner Studie von Stephan Frosh und Ann Phoenix (Frosh u.a. 2002; Phoenix/Frosh 2005) bedeutsam zu sein: Männlichkeitsinszenierungen finden wesentlich in Gruppen von Jungen statt, entsprechend zeigen sich die damit verbundenen Orientierungen insbesondere in den Gruppendiskussionen. In den Einzelinterviews, einer persönlicheren Situation also, in der der Einzelne im Zentrum steht, war es einigen Jungen durchaus möglich, ihr Verhalten in der Gruppe kritisch zu sehen und auch weichere verletzlichere Seiten zu zeigen. Männlichkeitsinszenierungen sind zu verstehen als kollektive Muster der Aneignung und Darstellung von geschlechtlicher Identität, sie machen jedoch nicht alle Seiten einer Person aus (vgl. Michalek 2007). Eine Studie von Michael Herschelmann (2008) zur Adoleszenz junger Männer zeigt, dass es Jungen durch Freundschaften mit anderen Jungen und insbesondere mit Mädchen, durch „beste Freunde“ und „beste Freundinnen“ also, möglich werden kann, sich dem Druck gleichgeschlechtlicher peer groups zu entziehen und anderen Seiten als denen, die in Gruppenzusammenhängen hoch bewertet werden, Raum zu geben. Um solche intimeren Beziehungen eingehen zu können, sind innere und äußere Ressourcen erforderlich, die zu stärken ein Ziel von pädagogischer Arbeit mit Jungen sein kann. So zeigt sich in der Londoner Studie von Stephen Frosh und Ann Phoenix, wie wenig selbstverständlich solche engen und intensiven Freundschaftsbeziehungen unter Jungen sind: In der gleichgeschlechtlichen peer group und in öffentlichen Selbstdarstellungen wird meist nicht von ihnen berichtet.
B e d e u t u n g vo n F a m i l i e n b e z i e h u n g e n Für die Ausgestaltung von Männlichkeitsentwürfen in der Adoleszenz sind – neben Beziehungen zu Gleichaltrigen – ebenso die Familienbeziehungen von Bedeutung. Auch wenn in dieser Lebensphase im Verhalten der Jugendlichen Distanzierungen von den Eltern vorherrschen, bleibt doch die Qualität der Beziehung zu ihnen eine wichtige Hintergrundquelle, aus der sich auch Männlichkeitsentwürfe speisen. So zeigt eine eigene empirische Untersuchung (vgl. Flaake 2005) mit jungen Männern, ihren Müttern und Vätern, dass die noch immer häufige Arbeitsteilung in Familien, durch die es die Mütter und damit Frauen sind, die die Rolle der körperlich und emotional nahen Bezugsperson übernehmen, für Jungen nicht unproblematisch ist und in der Adoleszenz zur Vertiefung der Kluft zwischen nach außen gezeigter Unabhängigkeit und Stärke einerseits und inneren Bedürfnissen und Befindlichkeiten andererseits beitragen kann. Deutlich wurde das für beide Seiten – Mutter 27
KARIN FLAAKE
und Sohn – Schmerzliche und Schwierige der mit der Adoleszenz endgültig anstehenden inneren Abgrenzung, wenn ihre Beziehung bis zur Pubertät eng war und nicht durch eine ebenso nahe und vertraute Beziehung zum Vater oder zu anderen Männern ergänzt wurde. Zugleich erhält der Vater in der Adoleszenz als Repräsentant erwachsener Männlichkeit eine neue Bedeutung. Dabei liegt der Schwerpunkt der gemeinsamen Unternehmungen oft auf sportlichen, technisch orientierten und handwerklichen Aktivitäten, meist mit einer deutlich rivalisierenden Komponente. Das sich Miteinandermessen und körperliche Stärke spielen eine große Rolle. Auch für Fragen der beruflichen Zukunft haben die Väter häufig eine große Bedeutung. Selten zu finden ist jedoch eine selbstverständliche zärtliche und liebevolle körperliche Nähe zwischen Vater und Sohn, ebenso selten ist der Vater Ansprechpartner bei emotional stark berührenden Themen oder Problemen. In einigen Schilderungen der jungen Männer wird deutlich, dass die fehlende zärtliche und liebevolle körperliche Nähe zum Vater als Mangel empfunden wird. So beschreibt ein junger Mann im Interview diese Seite der Beziehung zu seinem Vater so: „Da war früher wenig und heute noch weniger.“ In den Interviews mit den Vätern wird deutlich, wie wenig selbstverständlich die Vorstellung einer zärtlichen und körperlich nahen Beziehung zum Sohn für sie ist. So beschreibt ein Vater die Körperkontakte zu seinem Sohn: „Abends klopfen wir uns doch schon mal gegenseitig auf die Schulter, das ist also, ich möchte sagen, auch normal, nicht übertrieben.“ Die körperliche Kontaktaufnahme, die hier beschrieben wird, ist zwar getragen von Sympathie, aber kumpelhaft distanziert. Dennoch ist es wichtig, zu betonen, dass das „auch normal“ ist, nicht „übertrieben“. Das nicht Normale, Übertriebene, gegen das der Befragte sich in dieser Formulierung abgrenzt, könnte eine zärtliche, liebevolle körperliche Nähe zwischen Vater und Sohn sein, die möglicherweise mit Homoerotik verbunden und deshalb tabuisiert ist. In einigen Interviews mit Vätern zeigt sich, dass sie selbst früher an einem Mangel an emotionaler Nähe zum Vater gelitten und eine solche nur mit der Mutter erlebt haben. So beschreibt der zitierte Vater seinen eigenen Vater als „verständnislos“, die Mutter aber habe ihn – anders als der Vater – auch in der Adoleszenz bei „Problemen, zum Beispiel mit Mädchen, getröstet“. So scheinen nicht wenige Väter an ihren Söhnen Selbsterlebtes zu wiederholen. Da sie selbst emotionale Einfühlung und körperliche Nähe wesentlich von ihren Müttern aber kaum von ihren Vätern erfahren haben, ist ihnen die Einfühlung in das emotionale Erleben 28
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des Sohnes und eine liebevolle körperliche Nähe zu ihm erschwert: Unter Männern haben solche Qualitäten dann wenig Raum. So scheinen in vielen derzeitigen Vater-Sohn-Beziehungen liebevolle körperliche Nähe sowie Unsicherheiten, Selbstzweifel und als schmerzlich Erlebtes kaum einen Ort zu haben. Mit der Adoleszenz als lebensgeschichtlicher Phase, in der gesellschaftlich ein „Zum-Mann-Werden“ gefordert ist, ist der Weg zurück zur emotionalen und körperlichen Vertrautheit mit der Mutter jedoch zunächst versperrt. Die mit der Beziehung zu ihr verbundenen Qualitäten müssen in Einklang gebracht werden mit dem Selbstbild und Selbstgefühl als Mann. Wenn eine entsprechende Integration nicht gelingt, müssen die mit der Beziehung zur Mutter verbundenen Seiten des Selbsterlebens vom eigenen Männlichkeitsentwurf abgespalten werden. Dabei haben die schon beschriebenen Männlichkeitsinszenierungen in den gleichgeschlechtlichen peer groups eine große Bedeutung: Sie können auch verstanden werden als kollektive Rituale einer Ablösung von all dem in der Mutter und allgemeiner in Frauen Repräsentierten (vgl. King 2006b). Nahe gelegt wird auf diese Weise eine Fortsetzung der Polaritäten in den Geschlechterbildern: Männer stehen dann weiterhin für Autonomie und für eine Selbstdarstellung, in der Unsicherheiten, Schwäche, Hilflosigkeit, Abhängigkeitswünsche und als schmerzlich Erlebtes keinen Raum haben; Frauen stehen für emotionale Nähe, in der diese Seiten des Selbsterlebens untergebracht werden können. Um solche Polaritäten und damit auch traditionelle Geschlechterbilder zu verflüssigen, sind von beiden Seiten – von Männern und Frauen – Veränderungen in den geschlechtsspezifischen Arbeitsteilungen – insbesondere wenn es um beziehungsorientierte Tätigkeiten geht – erforderlich.
Resümee Ich habe bezogen auf zwei für adoleszente Sozialisationsprozesse wichtige soziale Kontexte – die gleichgeschlechtliche peer group und die Familie – ein für Suchtverhalten potentiell bedeutsames Element gesellschaftlich nahe gelegter Entwicklungsverläufe für Jungen und junge Männer dargestellt: Die in der Adoleszenz sich vertiefende Kluft zwischen nach außen gezeigter Unabhängigkeit und Stärke einerseits und Gefühlen von Abhängigkeit, Hilflosigkeit, Angst, Selbstzweifeln und Schwäche andererseits, für die immer weniger Ausdrucksmöglichkeiten gefunden und die zunehmend abgespalten oder verdrängt werden. Eine solche Kluft ist schon in lebensgeschichtlich früheren Sozialisationspro29
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zessen von Jungen angelegt, verstärkt sich jedoch in der Adoleszenz, da in dieser Entwicklungsphase Geschlechterbilder und damit die an ein Zum-Mann-Werden geknüpften gesellschaftlichen Vorstellungen und Fantasien auf neue Weise bedeutsam werden. Vera King weist hin auf die Nähe einer solchen Kluft zu depressiven Symptomen, die bei jungen Männern oft externalisierend, also in sozialen Inszenierungen zum Ausdruck gebracht werden und stellt Zusammenhänge zum Suchtverhalten her: Bestimmte Formen der Sucht, insbesondere die Drogensucht ... junger Männer, stellen Formen der Abwehr und Bewältigung depressiver Empfindungen dar. ... Alkoholismus und die Abhängigkeit von Rauschmitteln oder Medikamenten dienen dazu, einen Ausgleich zu schaffen, und können daher als Form der Selbstmedikation der Depression betrachtet werden. Die Erfüllung durch die Sucht ist die Kehrseite der Leere der Depression. Hier sind Männer bzw. männliche Adoleszente überproportional betroffen. (King 2006a: 230)
Die innere „Leere“ zum Sprechen zu bringen, den abgespaltenen Gefühlen Raum zu verschaffen, kann ein Ziel pädagogischer und sozialpädagogischer Arbeit mit Jungen und jungen Männern sein, die damit zugleich auch für Suchtverhalten präventiven Charakter hat.
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Sucht, Männergesundheit und Männlichkeit – ein neu entdecktes Thema 1 HARALD KLINGEMANN
1. Männer – der vergessene Pol des Gender Mainstreaming Männergesundheit ganz allgemein und männerspezifische Aspekte selbstschädigenden Verhaltens im Besonderen, sind lange vernachlässigte Themen und haben erst im übergeordneten Rahmen des GenderMainstreaming potentiell an Bedeutung gewonnen. Diese allgemeine gesundheitspolitische Orientierung zielt darauf ab, einerseits die Passgenauigkeit von Maßnahmen zu erhöhen, andererseits den Abbau von gesundheitlicher Ungleichheit zwischen den Geschlechtern zu fördern (Kolip/Summermatter 2003). Im Rahmen der WHO Strategie „Integrating Gender Perspectives in the Work of WHO“ weiter ausformuliert, wird die Bedeutung sozial konstruierter Geschlechtsrollen – im Unterschied zur biologischen Geschlechtszugehörigkeit – für eine gerechte und bedürfnisangepasste Gesundheitsversorgung als zentral anerkannt (WHO 2002). Döge merkt in diesem Zusammenhang kritisch an: „Verstanden als Androzentrismuskritik kann Gender Mainstreaming einen Beitrag leisten zum Abschied vom starken – aber kranken – Mann ... Diese Potentiale wird das Konzept aber nur entfalten können, wenn ... es nicht auf Frauenförderung reduziert wird“ (Döge 2004: 240). In der Tat: Während die Frauenbewegung seit den 70er Jahren für maßgebliche Veränderungen im institutionellen Angebot und Reformen im Gesundheitswesen gesorgt hat (man denke an Frauengesundheitszentren, die 1
Der vorliegende Beitrag entstand im Rahmen eines Auftrages des schweizerischen Bundesamtes für Gesundheit BAG. 33
HARALD KLINGEMANN
Wiederentdeckung des Hebammenwissens, Frauenhäuser aber auch die Eröffnung der frauenspezifischen Suchtfachkliniken wie Wysshölzli und Turbenthal) (Meier 2004b: 5f), kann von entsprechenden Erfolgen einer Männerbewegung noch nicht die Rede sein. Erste Ansätze sind jedoch auch in der Schweiz vorhanden: So verfolgt das Projekt MaGs – Männergesundheit von RADIX- Gesundheitsförderung das Ziel, „eine breite Öffentlichkeit und Fachkräfte für die körperlichen, seelischen und sozialen Aspekte der Gesundheit von Männern zu sensibilisieren und in der Umsetzung von Maßnahmen zu unterstützen“ (Setz 2003: 1). Was nun den Suchtbereich anbetrifft, so enthält beispielsweise das Positionspapier „Eine neue Suchtpolitik für die Schweiz“ zwar nur allgemeine Hinweise auf Versorgungslücken (Spinatsch 2004: 6) und erwähnt die Genderperspektive nicht; gleichzeitig ist das Bundesamt für Gesundheit (BAG) jedoch seit geraumer Zeit auf diesem Feld aktiv. Als Einschnitt kann das 1997 erteilte Mandat „Frauengerechte Suchtarbeit“ gelten, welches 2001 um die Förderung männergerechter Suchtarbeit erweitert worden ist (Bundesamt für Gesundheit 2003; Ernst 2002). So wurde die Erarbeitung des Übersichtsbandes „Sucht und Männlichkeit“ (Graf et al. 2006) ermöglicht. Die Fachstelle Gender Health des BAG hat sich zum Ziel gesetzt, nationale Forschungsnetzwerke auf diesem Gebiet zu initiieren, berät und informiert und bringt auf politischer Ebene den Aspekt der Geschlechtergesundheit ein (Meier 2004a). Im Folgenden werden epidemiologische Befunde aus der Suchtforschung in einen weiteren theoretischen gesundheitssoziologischen Rahmen gestellt und auf die Frage der Geschlechtsrollenidentität bezogen. Im Einzelnen geht es um • die Darstellung der Gesundheitsrisiken von Männern im Allgemeinen; • den Rückbezug von Gesundheitsverhalten, spezifisch auch selbstschädigender Verhaltensweisen auf zentrale Geschlechtsrollenerwartungen und Männlichkeitsbilder; • die Beschreibung genderspezifischer Funktionen und Ausprägungen der Sucht und geschlechtsrollenkonforme Bewältigungsstrategien; • die Frage der Angleichung des Suchtverhaltens zwischen den Geschlechtern (Konvergenz- oder Emanzipationsthese); • die Annahme von Süchten, die typisch für Männerwelten sein sollen; • Männerrollen und Sucht in spezifischen Lebenslagen; • Hilfesuchverhalten und Männerrollen kompatible Unterstützungsangebote; • Präventionsangebote in männerspezifischen Settings.
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SUCHT, MÄNNERGESUNDHEIT UND MÄNNLICHKEIT
2 . M ä n n e r , d a s s c hw a c h e G e s c h l e c h t ? Männerspezifische Gesundheitsrisiken Wie schlecht es um die Gesundheit der Männer steht, ist mittlerweile hinreichend bekannt. Gemäß einer aktuellen Zusammenstellung von Wettstein (2004) zum Thema ‚Sozialisation und Gesundheit‘ ist die Lebenserwartung der Männer in der Schweiz etwa 6 Jahre geringer als diejenige der Frauen; der Frühtod bei männlichen Säuglingen wesentlich häufiger als bei Mädchen. Knaben und junge Männer sind signifikant häufiger in Unfälle mit Verletzungsfolgen verwickelt, bei Lungenkrebs und Herzkrankheiten verlieren Männer dreimal so viele Lebensjahre als die Frauen. Spitäler und Heime für chronisch Kranke sind doppelt so häufig mit Männern als mit Frauen belegt (Wittschier 2004). Solche Trends können auch aufgrund von Daten aus anderen Ländern verdeutlicht werden: So sterben im deutschen Bundesland Brandenburg vor dem 65. Lebensjahr doppelt so viele Männer wie Frauen, bei den Kindern weisen Jungen mehr medizinisch relevante Befunde auf als Mädchen (Ministerium für Arbeit Soziales Gesundheit und Frauen 2003). In Westeuropa sind insgesamt noch deutliche geschlechtsspezifische Diskrepanzen in der Lebenserwartungen zu beobachten (White/Cash 2004). Amerikanische Daten zeigen, dass Männer bei lebensbedrohlichen Krankheiten die Frauen in allen Kategorien übertreffen (Kilmartin 1994: 153). Geschlechtsspezifische Unterschiede beim Suchtverhalten sind allgemein bekannt. Sie werden an dieser Stelle nicht rekapituliert, sondern auf einem weiter gefassten Hintergrund verständlich gemacht. Insbesondere was die – später noch näher zu erläuternde Funktionalität – von Suchtverhalten für die männliche Identität anbetrifft, so ist ein Blick auf Risikoverhalten und selbstschädigende Verhaltensweisen angezeigt. Große geschlechtsspezifische Unterschiede zeigen sich nämlich auch hier: Männer weisen wesentlich höhere Suizidraten auf: In der Schweiz entfallen im Vergleich zu Frauen drei Mal mehr verlorene potentielle Lebensjahre auf Männer (Wettstein 2004); 1999 nahmen sich in der Schweiz 38 Männer und 16 Frauen mit einer Schusswaffe das Leben (Holenstein 2004). Bei älteren amerikanischen Männern ist eine zehnfach erhöhte Rate bei vollendeten Selbstmorden festzustellen (Kilmartin 1994: 158), deutsche Daten weisen darauf hin, dass Männer mehr als drei Mal häufiger durch Selbsttötungen als Frauen sterben und dieser Trend im Gegensatz zu den Frauen kaum rückläufig ist (Ministerium für 35
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Arbeit Soziales Gesundheit und Frauen 2003: 30f). Bemerkenswert ist, dass auch in aktuellen Beiträgen zur Suizidproblematik in der Schweiz, welche nicht zuletzt auf erhebliche Kostenfolgen von Suiziden und Suizidversuchen hinweisen, männerspezifische Präventionsempfehlungen beziehungsweise eine Genderperspektive gänzlich fehlen (Holenstein 2004). Selbstmord ist die extremste Form selbstschädigenden Verhaltens; Kiltmartin weist jedoch darauf hin, dass Männer auch bei weniger ausgeprägten Formen selbstschädigenden Verhaltens überrepräsentiert sind: Hierzu zählt die Vernachlässigung der eigenen Gesundheit („neglectful behavior“). Auch in lebensbedrohenden Situationen nehmen Männer verschriebene Medikamente oft nicht oder nicht wie vorgeschrieben ein; Krankheitssymptome sind häufig unbekannt oder werden ignoriert und die Bereitschaft, Hilfe anzunehmen, ist gering (Kilmartin 1994: 159f) – ein Punkt, auf den später noch im Zusammenhang mit der Frage nach männerspezifischen Therapieangeboten näher eingegangen wird. Männer neigen weiter häufiger als Frauen zu risikoreichen Verhaltensweisen und Devianz auch ganz allgemein. Kilmartin (1994) nennt vor allem gefährliche Risikosportarten wie Boxen und Football, ungeschützte sexuelle Praktiken mit hohem HIV Risiko und – meist nicht in Betracht gezogen – die Beteiligung vor allem junger Männer bei Kriegshandlungen. Riskantes Verhalten im Straßenverkehr kann dieser Liste hinzugefügt werden. So kommt beispielsweise ein Ländergesundheitsbericht aus Deutschland zum Schluss: „... bei Männern werden überproportional häufig Geschwindigkeitsüberschreitungen registriert und die Anschnallquote ist bei jungen Männern besonders gering“ (Ministerium für Arbeit Soziales Gesundheit und Frauen 2003: 57f). Auch bei anderen Unfällen zeigt sich, dass Männer aller Altersgruppen ein höheres Unfalltodrisiko tragen als Frauen, ein Unterschied, der in der Unterschicht ganz besonders ausgeprägt ist (Green 1997: 81). Schliesslich ist allgemein bekannt, dass Männer eine wesentlich höhere Kriminalitätsbelastung aufweisen als Frauen. So werden in den Vereinigten Staaten 90 % aller Gewaltverbrechen von Männern ausgeübt (Kilmartin 1994: 212). Warum sind diese Befunde in einem Beitrag zum Thema ‚Männer und Abhängigkeit‘ von Belang? Suchtverhalten steht in engem Zusammenhang mit den hier aufgeführten Verhaltensweisen, denkt man etwa an den Einfluss von Alkohol und Drogen am Steuer, die Rolle des Alkoholkonsums bei Suizid und in Gewaltsituationen sowie Doping im Sport. Als gemeinsame Nenner dieses geschlechtsspezifischen Verhaltensspektrums kann, wie noch zu zei36
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gen sein wird, das Geschlechtsrollenverständnis, welches maskuline Identität konstituiert, angenommen werden. Bevor auf diesen analytischen Rahmen im nächsten Abschnitt näher eingegangen wird, noch ein Hinweis auf Erklärungsansätze zu den beschriebenen geschlechtsspezifischen Gesundheitsunterschieden, also etwa zur Beantwortung der Frage, warum leben Männer kürzer als Frauen? Gemäß der umfassenden Literaturübersicht von Verbrugge (1985) können fünf Perspektiven und damit verbundene spezifische Hypothesen zur Erklärung gesundheitlicher Geschlechtsunterschiede herangezogen werden (Verbrugge 1985: 16ff): • Erworbene Risiken (acquired risks): Hiermit sind die weiter oben bereits dargelegten gesundheitsrelevanten Einflussfaktoren im sozialen Umfeld gemeint, in der Freizeit und am Arbeitsplatz, Besonderheiten des Lebensstils – es wird auch das Suchtverhalten eingeschlossen – sowie psychischer Stress. Abgesehen von kinderbezogenem und emotionalem Stress, weisen Männer ein höheres Stressniveau auf. Gemäß Verbrugge trägt diese Perspektive im Vergleich zu den im Folgenden aufgeführten, die größte Rolle bei der Erklärung geschlechtsspezifischer Gesundheitsunterschiede. (Verbrugge 1985: 156). • Psychosoziale Aspekte der Symptomerkennung und Krankheitsverarbeitung: Männer sind weniger geneigt, Symptome überhaupt wahrzunehmen, oder diese als schwerwiegend zu bewerten; entsprechend gering ist die Bereitschaft, etwas zu unternehmen, oder Hilfe zu suchen. • Kommunikation von Krankheitszuständen: Frauen sind stärker an Gesundheit interessiert, berichten genauer und differenzierter auch über zurückliegende Krankheitszustände in ihren sozialen Netzwerken; oft dienen sie auch als Auskunftspersonen über die Krankheitsbilder anderer Familienmitglieder. • Inanspruchnahme von Hilfe als Determinante gesundheitsrelevanter Einstellungen und Folgekrankheiten: Art und Zeitpunkt der Inanspruchnahme von Hilfe und Versorgung haben ihrerseits Auswirkungen auf gesundheitsrelevantes Wissen und Gesundheitseinstellungen: Symptome werden besser und früher erkannt, positives Gesundheitsverhalten wird verstärkt. Unterschiedliche Einstellungen von Ärzten gegenüber Rat suchenden Männern und Frauen kommen hinzu. • Abschließend soll noch näher auf biologische Erklärungsansätze eingegangen werden, welche vor allem auf genetische und hormonale Unterschiede zwischen den Geschlechtern abstellen: Das zweite X-Chromosom bei Frauen fällt als Korrekturfaktor bei Männern aus, etwa wenn es um eine erbbedingte Bluterkrankheit oder Farben37
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blindheit geht. Es wird ebenfalls angenommen, dass Lernschwierigkeiten und Hyperaktivität X-Chromosom bezogen sind. Diese genetischen Unterschiede liefern jedoch keine Erklärung für die unterschiedliche Lebenserwartung von Männern und Frauen. Weiter spielen geschlechtsspezifische Hormone eine wichtige Rolle: Bis zum Einsetzen der Geschlechtsreife sind bei Mädchen und Jungen „schlechtes“ und „gutes“ Cholesterol (HDL), welches gegen Herzinfarkt (eine der wichtigsten Todesursachen) schützt gleich verteilt. Die dann einsetzende Testosteronproduktion bei den jungen Männern senkt das HDL-Niveau während vom Östrogen kein entsprechender Effekt ausgeht. Testosteron begünstigt weiter aggressives Verhalten und scheint auf noch nicht geklärte Weise die Lebenserwartung der Männer zu verkürzen (Kilmartin 1994: 156f; Verbrugge 1985: 164). Biologische und erbliche Faktoren (,biological markers‘) spielen, wie im ersten Teil dargelegt, auch bei den Reaktionen auf Alkohol und Drogenkonsum eine Rolle und interagieren mit den Suchtfolgen: So weist Vogt darauf hin, dass Gesundheitsschädigungen durch den Gebrauch psychoaktiver Substanzen bei Frauen schneller auftreten als bei Männern und insbesondere Reproduktionfähigkeit und Schwangerschaft beeinflussen (Vogt 2004).
3. Maskulinität und Geschlechtsrollenorientierung als Bezugspunkt für Gesundheitsu n d S u c h t ve r h a l t e n Faltermaier vertritt die These, dass das gesundheitliche Risikoverhalten von Männern „zumindest teilweise durch zentrale Merkmale der traditionellen Männerrolle und Identität von Männern erklären lassen“ (Faltermaier 2004: 27); aus der spezifischen Perspektive der Suchtforschung wird auf die Rolle des Suchtmittelkonsums bei der sozialen Konstruktion von Männlichkeit und als Teil männerspezifischer Bewältigungsstrategien hingewiesen: „Substance use continues to be a central part of imagees linked to notions of masculinity. They may change with age from the youthful macho, rebel images, to the stressed family bread winner to the stoic older man, influencing the role of substance use in constructing or sustaining male identities and in providing a coping mechanism or an escape route in difficult times.“ (Thom 2004: 208).
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Müller postuliert dementsprechend, dass „der Suchtmittelkonsum bei Männern häufig zum Ersatz für blockierte Gefühlswahrnehmungen sowie zum Konfliktregulierungsmittel wird. Männliche Rollenerwartungen prädestinieren somit den Suchtmittelkonsum“ (Müller 1996: 38). Bis anhin lässt die empirischen Überprüfung dieser Leitthese gerade im Suchtbereich noch zu wünschen übrig. Konsumunterschiede, Trends und Verschiebungen im Suchtmittelkonsum werden in der Regel schlicht über das biologische Geschlecht (überdies mit männerdominierten Stichproben) abgehandelt und keiner rollentheoretischen Analyse zugeführt. Deswegen ist Vosshagen nur zuzustimmen, wenn er konstatiert: „Männer besitzen fortgesetzt, gerade im Suchtbereich, kein Geschlecht (Gender), zu verstehen im Sinne einer sozialen Konstruktion von Maskulinität. Ebensowenig erfolgte ... eine systematische Analyse von Geschlechtsrollenerwartungen und -stereotypen, die in Beziehung zum männlichen Suchtmittelkonsum und Missbrauch stehen könnten“ (Vosshagen 2002: 21). Was ist unter Maskulinität nun genauer zu verstehen, wie kann diese konzeptualisiert und gemessen werden und wo können Beziehungen zum Suchtverhalten angenommen werden? Männliche Rollenerwartungen, welche im Zuge geschlechtsspezifischer Sozialisation vermittelt werden (vgl. Santrock 2003), umfassen gemäß Brannon (2000), zitiert nach Faltermaier (2004) das Bedürfnis anders zu sein als Frauen, das Bedürfnis anderen überlegen zu sein, das Bedürfnis unabhängig zu sein und sich auf sich selbst zu verlassen und das Bestreben mächtiger zu sein als andere. Ähnlich wird die männliche Rolle als generalisierte soziale Rolle durch Kilmartin durch die Ideale ‚Mut, Härte, Risikobereitschaft, Aggressivität und Konkurrenzorientierung‘ charakterisiert, wobei Logik und Rationalität zu Lasten des emotionalen Ausdrucks im Vordergrund stehen (Kilmartin 1994: 141). In der männlichen Identität treffen das tatsächliche und das ideale (negative und positive) Selbstkonzept bezüglich dieser Eigenschaften zusammen. Der dichotomen Auffassung der Geschlechtsrollen entspricht das klassische „gender identity model“, welches von einem biologisch fundierten, natürlichen Gegensatz der Geschlechtsrollen ausgeht (solche Rollencharakterisierungen können im Extremfall als Gender stereotyping beschrieben werden (Santrock 2003: 325ff). Demnach kann die männliche Identitätsbildung nur durch ausschließlich männliche Rollenmodelle – vorzugsweise verkörpert durch den Vater – und in klarer Abgrenzung zu allem weiblichen erreicht werden. Empirische Studien haben allerdings gezeigt, dass gerade die Ausrichtung an einem derart rigiden Ge39
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schlechtsrollenverständnis Stress auslöst. Dieses Stresserleben basiert auf dem Gefühl körperlicher Unzulänglichkeit etwa in Sport oder Sex, der Furcht vor gefühlsbesetzten Situationen, Stress durch Unterlegenheit gegenüber Frauen, intellektuelle Unterlegenheit und Leistungsversagen (Dimensionen des MGRS Masculine Gender Role Stress). MGRS erweist sich als Prädiktor für pathologisch kompulsives Verhalten und stützt die allgemeinere Annahme, dass „gender related differences in the way men appraise environmental, behavioural and perceptual events are directly related to their experience of stress, which may increase vulnerability to physical and psychological disorders“ (Kolk/Kwee/Booms 2003: 252). Das bipolare Modell wurde durch das Androgynie-Konzept in Frage gestellt, welches die Unabhängigkeit der Geschlechtsrollenorientierungen annimmt. So können hohe Ausprägungen, annahmegemäß weiblicher Eigenschaften wie Ausdrucksfähigkeit, durchaus einhergehen mit einer hohen Erfüllung typischer männlicher Rollenerwartungen.
(Burkhard & Heckendorn Werbeagentur AG) Sieverding illustriert dies am Beispiel der Unabhängigkeit der Dimensionen ‚Instrumentalität‘ (m) und ‚Expressivität‘ (w) (Kalant 1997: 39). Hoffman et al. zeigen in einer aktuellen Studie, dass diesbezügliche Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen bei Kontrolle der Geschlechtsrollenorientierung verschwinden, dasselbe gilt für die Internalisierung oder Externalisierung von Problemen (Hoffmann/Powlishta/ White 2004: 806). Das „Geschlechtsrollen-Stress-Modell“ als jüngster rollentheoretischer Ansatz, stellt schließlich auf die potentiellen Konflikte zwischen 40
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dem Rollenselbstbild und den von der Gesellschaft an den Mann herangetragenen Erwartungen ab.2 So sieht sich beispielsweise ein eher emotionaler Mann großem Druck ausgesetzt, dem Bild des gefühlsarmen Mannes zu entsprechen. Aber auch die Erwartung sowohl traditionelle männliche Erwartungen zu erfüllen und gleichzeitig weibliche Eigenschaften zu lernen und zu internalisieren kann stressauslösend sein und negative Gesundheitsfolgen bzw. ungeeignete Bewältigungsstrategien begünstigen (zu dieser knappen rollentheoretischen Übersicht vgl. Kilmartin 1565: 17ff). „Heute muss der Mann alles zugleich sein, Vater und Ernährer, Krieger und Liebhaber. Mitarbeiter von Anlaufstellen berichten von Männern, die nach der Arbeit noch ein paar Runden ums eigene Haus drehen, um möglichst spät nach Hause zu kommen.“ „Frauen können dank Samenbanken auch ohne das physische Zutun eines Mannes Kinder bekommen. Genetiker diskutieren, ob auf Grund der Verkümmerung des Y-Chromosoms der Mann nicht ohnehin langfristig zum Aussterben verurteilt ist.“ (Teuwsen 2004: 26ff).
Neuere Untersuchungen stützen den Zusammenhang zwischen Geschlechtsrollenorientierung und Bewältigungsverhalten in Stresssituationen bereits bei heranwachsenden Jugendlichen: Feminin ausgerichtete Mädchen und Jungen (feminine typed gender role) berichteten in der Studie von Washburn-Ormachea et al. überdurchschnittlich häufig emotional gefärbte Bewältigungsstrategien bei Problemen mit Gleichaltrigen und schätzen situationale Faktoren wichtiger ein als Jugendliche mit anderen Ausprägungen auf dem „Bern-Sex-Role Inventory“ (WahsburnOrmachea/Hillmann/Sawilowsky 2004: 38). Es ist empirisch vorläufig ungeklärt, inwieweit der differentielle Umgang mit Gruppendruck die Vulnerabilität gegenüber Alkohol- und Drogenkonsum in solchen Situationen tangiert. Thomas macht allerdings aufgrund einer Literaturanalyse durchaus plausibel, dass affektive Zustände und das Erlernen ungeeigneter Strategien des „emotion management“ im Zuge der männlichen Sozialisation Ausweichverhalten wie Suchtmittelkonsum und Esssucht begünstigen, um so in der Folge negative Gefühlszustände möglichst vermeiden zu können (Wahsburn-Ormachea et al. 2004: 259). Aufgrund laufender eigener Untersuchungen und unter Heranziehung amerikanischer Studien aus den 60er und frühen 90er Jahren weist Vosshagen auf die Pufferwirkungen von positiven maskulinen und fe2
Populäre Illustrationen maskulinen Rollenstresses finden sich nebenbei auch in der Rock und Country music, wie bei „A boy named Sue“ (Johnny Cash) oder „I’m a boy“ (THE WHO). 41
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mininen Persönlichkeitseigenschaften gegenüber Alkoholmissbrauch hin: „In Untersuchungen an größeren Bevölkerungsgruppen zeigte sich, dass eine hohe Ausprägung femininer und maskuliner Persönlichkeitseigenschaften und deren androgyne Kombination in negativer Beziehung zu Alkoholkonsum und Alkoholproblemen standen, und zwar insbesondere bei Männern“ (Fett 1996: 93). Derselbe Autor verweist auf klinische Daten, welche darauf hindeuten, dass männliche Alkoholpatienten sowohl bei maskulinen (zum Beispiel instrumentellen) als auch bei femininen (zum Beispiel expressiven) Persönlichkeitseigenschaften unterdurchschnittliche Ausprägungen aufweisen, hingegen die Anreicherung rigider Geschlechtsrollenvorstellungen sich positiv auf die Krankheitsbewältigung und Abstinenzverhalten auswirkt (Fett 1996: 93f).
4. Frauensüchte – Männersüchte? Die im vorangehenden Abschnitt diskutierten rollentheoretischen Ansätze spiegeln sich letztlich auch in der Frage, ob es, auf das biologische Geschlecht bezogen, typische Männer und Frauensüchte gibt und ob ein Trend zur Angleichung der geschlechtsspezifischen Unterschiede zu beobachten ist (Konvergenz- Emanzipationsthese). Zahlreiche Befunde aus dem ersten Teil dieses Berichtes und eine kritische Analyse epidemiologischer Daten legen nahe, dass eine bipolare am biologischen Geschlecht und „natürlicher Männlichkeit“ orientierte Auffassung, welche konsequenterweise auch typische Frauen- und Männersüchte annimmt, zu kurz greift und vieles für ein Androgyniekonzept spricht, das scheinbar typisch feminine selbstschädigende Verhaltenweisen auch mit gemischten Geschlechtsrollenorientierungen bei Männern in Beziehung setzt: Anders ausgedrückt, wenn man genauer hinsieht, so treten Frauensüchte auch in Männerwelten auf und umgekehrt.
4.1 Medikamente und Körper Betrachten wir zunächst das Beispiel der Medikamentenabhängigkeit (verbunden mit Aspekten der Körperlichkeit), welche als klassisches Beispiel für frauenspezifische Süchte gilt. Vogt führt demgegenüber Belege an, dass Abhängigkeit von Medikamenten längst nicht mehr typisch für Frauen ist, sondern ebenso für Männer, wenn man ein breiteres Spektrum von Medikamenten betrachtet und über den engen Rahmen der psychotropen Medikamente hinausgeht. „Mothers little helpers“ werden zu „men’s darlings“. Die Illusion, dass Medikamentenabhängigkeit typisch weiblich sei, wird dadurch gestützt, dass Untersuchungen über Medikamentengebrauch im Alter über 50 Jahre und den Gebrauch 42
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von Lifestyle Pillen sowie Doping Mitteln etwa im Fitnessbereich, eher die Ausnahme bilden (vgl. Vogt 2004: 206). Bereits im ersten Teil dieses Berichtes wird auf geschlechtsübergreifende Gemeinsamkeiten hingewiesen, wie der positive Zusammenhang zwischen Schlafmittelgebrauch und Tabakkonsum und einen vergleichbaren täglichen Konsum von Schmerzmitteln. Gleichzeitig können jedoch die rollenspezifische Funktionen des Medikamentenkonsums durchaus unterschiedlich ausfallen. So deutet der männerspezifische Zusammenhang zwischen Erwerbsstatus und Schmerzmitteln darauf hin, dass Schmerzmittel zur scheinbaren Aufrechterhaltung der Leistungsfähigkeit eingesetzt werden, wohingegen die frauenspezifische Korrelation von hohem Alkoholkonsum und Schmerzmittelgebrauch mit der Bewältigung allgemeiner affektiver Stresszustände in Verbindung gebracht werden kann. Der von Vogt hervorgehobene Einsatz von Pillen im Fitness- und Bodybuildingbereich signalisiert neue Akzente der Männerrolle und eine Beschäftigung mit dem Körper, welche – etwa im Zusammenhang mit Gewichtsproblemen unter dem Motto „fat is a feminist issue“ (Haslam 2004) – früher als typisch weiblich galten. Der Adoniskomplex, die besessene Verfolgung körperlicher Perfektion als Antwort auf gesellschaftliche Rollenbilder ist das Gegenstück zur jahrzehntelangen Beschäftigungen der Frauen mit ihrem Körperbild. Faltermeier hebt die zentrale Bedeutung des Körpers für die männliche Identität hervor, genauer den potentiellen Einsatz von Stärke für aggressive Lösungen (Faltermaier 2004: 2). Diese instrumentelle Argumentation muss jedoch relativiert werden: Pope et al. illustrieren den zunehmenden Druck der männlichen Medienmodelle auf das Selbstbild bereits bei männlichen Jugendlichen. So zeigt eine Inhaltsanalyse des Playmates im Magazin PLAYGIRL, dass die abgebildeten Männer im Beobachtungszeitraum von 1970 bis 1990 zwölf Pfund Fett verloren und 27 Pfund Muskeln zugelegt hatten (Pope/Phillips/Olivardia 2000: 47ff). Essstörungen, insbesondere binge eating und die zwanghafte Beschäftigung mit Haarverlust und Genitalien (bis hin zu operativen Penisvergrösserungen) sind die Folge (vgl. Pope et al. 2000: 150). Gleichzeitig muss jedoch darauf hingewiesen werden, dass die Beschäftigung von Männern mit Gewichtsproblemen jenseits der extremen Ausprägungen des Andoniskomplexes durchaus angebracht ist. Haslam legt deutlich erhöhte medizinische Risiken des ‚apfelförmigen‘ Übergewichts bei Männern im Vergleich zum ‚birnenförmigen‘ Übergewicht bei Frauen dar und beklagt die frauenspezifische Besetzung dieses Themas: „Fat is a feminist issue‚ has set men’s health back considerably. Fat is a problem for both sexes, but men have particular causes for concern” (Haslam 2004: 210). Franke verweist auf Langzeitstudien, welche insbesondere bei Männern ein erhebliches Risi43
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ko feststellten: Die sogenannten Exzess-Mortalität war bei Männern mit Adipositas per magna um ein dreifaches erhöht ... hoher Leidensdruck, Rückzug aus sozialen Netzen und Stigmatisierung im Beruf als nach wie vor wichtiger Bereich männlicher Identitätsstiftung sind die Folge. Zudem kommt Adipositas nach Erhebungen in Deutschland etwa sechs Mal so häufig vor wie in den anderen sozialen Schichten; so dass Männer in der Unterschicht besonders betroffen sind (Franke 2002: 362).
4.2 Stoffungebundene Süchte Wenden wir uns den nicht-stoffgebundenen Süchten zu, so gelten vor allem Glücksspiel-, Sex-, Arbeits- und Internetsucht als Männerdomänen, wohingegen teilweise Kauf-, vor allem aber Liebessucht, Essstörungen und Co-Abhängigkeit immer wieder als frauenspezifisch angesehen werden (vgl. die Übersicht bei Wolf 2002: 90). Wiederum erweist sich ein bipolares Modell als wenig aussagekräftig: Gesellschaftlich bedingte Geschlechtsrollenveränderungen schlagen auch auf scheinbar männeroder frauenspezifische Süchte durch. Hierzu einige Stichworte: • Gemäß Wyssling sind Arbeitssüchtige konkurrenzorientiert, setzen sich selbst unter Druck, brauchen ein hohes Erregungsniveau, lieben ihre Arbeit und ziehen keine Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit (Wyssling 2002: 25ff). Diese Einstellung ist offensichtlich mit Werten wie Erfolg und Leistungsstreben verknüpft. Diese traditionell maskulinen Werte können jedoch grundsätzlich durchaus auch von Frauen zulasten oder zusätzlich zu weiblichen Rollenerwartungen übernommen werden. In welchem Ausmaß dies tatsächlich geschieht ist eine empirisch ungeklärte Frage, wenngleich die Annahme plausibel erscheint, dass mehr Männer als Frauen leistungsbezogene Elemente in ihre Geschlechtsrollenorientierung integriert haben. Gleichzeitig weist Poppelreuter zu Recht darauf hin, dass die Einschränkung von Forschungsansätzen auf die bezahlte Berufsarbeit den Eindruck entstehen ließ, dass es sich hier ausschließlich um ein männerspezifisches Phänomen handle (Poppelreuter 1997: 19). Aufgrund des vorliegenden Standes der Forschung folgert er: „Die landläufige Meinung, dass Arbeitssucht eine Managerkrankheit sei ... erschwert ebenfalls eine gesellschaftliche Auseinandersetzung mit der Arbeitssuchtproblematik ... empirische Untersuchungen zeigen, dass arbeitssüchtiges Verhalten gleichermaßen bei Frauen und Männern auftritt ...“ (Poppelreuter/Evers 2000: 76). • Während Müller (1996) das „Internet“ als die neueste Männersucht bezeichnet, zeigen die wenigen empirischen Befunde zwar, dass Frauen unter 20 Jahren weniger gefährdet sind als Männer; im weite44
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ren Altersverlauf sich das Verhältnis jedoch wieder umkehrt (Grunder-Rytz/Coulin-Gisler 2003: 52). Weniger wichtig als die nicht stark voneinander abweichenden Prävalenzen sind – wie am Medikamentenkonsum bereits illustriert – die unterschiedlichen Nutzungsmuster (vgl. auch Eidenbenz 2004) und geschlechtsrollenbezogenen Funktionalitäten dieses Suchtverhaltens: So wird angenommen, dass Männer Macht- und Dominanzerwartungen in interaktiven Online Spielen ausleben können, welche sich durch klare Rangzuteilungen und Möglichkeiten der Gewaltanwendung auszeichnen. Erotische chatrooms und cybersex entsprechen restriktiven emotionsarmen Sexualitätsvorstellungen in klassischen Männerrollen. Frauen hingegen suchen enge Freundschaften, Romanzen und schätzen die anonyme Kommunikation, welche es erlaubt das eigene Erscheinungsbild verdeckt zu halten. Diese Präferenzen sind an weibliche Geschlechtsrollendimensionen wie „Expressivität“ und „Soziabilität“ geknüpft. Entsprechend kann man folgern, dass „attributes of gender played out in Cyberspace paralell the sterotypes men and women have in our society“ (Men women and the internet: gender differences, o.J.). Männer dominieren auf den ersten Blick im Bereich „Glückspielsucht“: So konstatiert Petry das grösste Risiko bei jungen männlich Singles, die in Grossstädten leben und Sozialhilfe in Anspruch nehmen. Insgesamt wird der Frauenanteil auf etwa ein Drittel geschätzt, was mit der starken Untervertretung bei Behandlungsangeboten kontrastiert (Petry 2003: 16). Höhere Stigmatisierung bei Frauen und die Präferenz des eher kontrollierten Casinosettings werden als Erklärungsfaktoren aufgeführt (Spectra 2002). Es kann spekuliert werden, dass Geld und Geldmangel (Arbeitslosigkeit) zentral für traditionelle männliche Rollenerwartungen sind – sensation seeking kommt in der Adoleszensphase hinzu, in der Männer typischerweise in die Glücksspielsucht einsteigen (Petry 2003: 17) – wohingegen die bei pathologischen SpielerInnen festgestellten hohen Impulsivitätswerte (Meyer 2000: 13) möglicherweise eher mit femininen Rollenerwartungen verknüpft sind (ähnlich die Interpretation von Kaufsucht als frauenspezifische Impulskontrollstörung).
Bereits dieser kurze Überblick über noch wenig erforschte, angeblich typische Männer- und Frauensüchte hat zahlreiche Hinweise auf das Wechselspiel zwischen Geschlechtsrollenveränderungen und der Funktionalität von Suchtverhalten aufgezeigt. Männer und Frauen besetzen demnach im Einklang mit ihrer Geschlechtsorientierung wechselseitig Terrain. 45
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5. Die These von der Gender-Konvergenz Untersuchungen zur Geschlechtskonvergenzthese hinsichtlich des Konsums legaler und illegaler Drogen, bei dem nach wie vor, wie im ersten Teil des Berichtes ausführlich dargelegt, erhebliche Geschlechtsunterschiede bestehen, deuten auch hier auf oft altersgruppenspezifische Angleichungsprozesse hin. Eine Trendanalyse der Alkoholkonsummuster im Rahmen der Schweizer HBSC (Health Behaviour in School Aged Children) von Kuntsche für den Zeitraum von 1986 bis 1998 weist darauf hin, dass „... bei den 15jährigen Jungen ... der Prozentsatz der regelmäßigen Alkoholkonsumenten kaum angestiegen (ist) während er bei den gleichaltrigen Mädchen stetig zugenommen hat und 1998 fast doppelt so groß ist wie noch zwölf Jahre zuvor“ (Kuntsche 2001: 396). Hinzu kommt – Kuntsche spricht von einer Radikalisierung des Alkoholkonsums bei Jugendlichen – der Anstieg des Rauschtrinkens. Auch hier ist der Anteil bei den Mädchen von 1994 auf 1998 von 4.4 Prozent auf 7.3 Prozent sprunghaft gestiegen, dies im Gegensatz zum sehr schwachen Anstieg bei ihren männlichen Altersgenossen (von 15 Prozent auf 15.4 Prozent) (vgl. Kuntsche 2001: 399, Tabelle 2; Vogt 2004: 198). Offenbar finden hier „Prozesse der Umkodierung“ und eine einsetzende Auflösung von Rollenstereotypen ein, galt doch Rauschtrinken in den 90er Jahren als typisch männlich (vgl. Vogt 2004: 198). Aktuelle Untersuchungen aus Neuseeland im Zeitraum von 1995 bis 2000 (McPherson/Casswell/Pledger 2004) zeigen ebenfalls, dass Annäherungsprozesse vor allem auf einen Anstieg des Alkoholkonsums bei den Frauen und nicht auf einen Rückgang bei den Männern zurückzuführen ist. Ein differenziertes Bild ergibt sich auch hinsichtlich unterschiedlicher Altersgruppen: Während in der Altersgruppe zwischen 20 und 39 Jahren sowohl Trinkmenge, Folgeprobleme als auch Rauschzustände zwischen den Geschlechtern konvergierten, tranken die über 40jährigen Frauen lediglich häufiger und bei den unter 20-jährigen veränderten sich die ohnehin bereits sehr geringen Unterschiede im Konsumverhalten nicht weiter (Kilmartin 1994: 746). Die Schweizerische Gesundheitsbefragung 2002 zeigt ein differenziertes Bild: Demnach ist beim Alkoholkonsum die Trinkhäufigkeit bei Männern und Frauen im etwa gleichen Umfange zurückgegangen, wobei die jungen Frauen bei den täglichen und wöchentlichen Konsumenten nach wie vor etwa im Verhältnis 1:5 /1:6 vertreten sind. Bei der „Herstellung 46
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von Männlichkeit“ spielt der Alkohol offenbar nach wie vor eine wichtige Rolle in dieser Altersgruppe. Über alle Altersgruppen hinweg hingegen ist hinsichtlich des täglichen Alkoholkonsums eine deutlichere Annäherung – diesmal der Männer an die Frauen – festzustellen: während der Anteil der täglichen Konsumenten bei den Frauen praktisch konstant blieb (11.5 Prozent vs. 10 Prozent), fiel er bei den Männern um fast ein Drittel (30.1 Prozent vs. 22.2 Prozent) (Bundesamt für Statistik 2003: 13). Beim Rauchen ist bereits seit längerer Zeit die wohl markanteste Konvergenz festzustellen, wie auch im ersten Teil des Berichtes dokumentiert wird. Daten aus der Schweizerischen Gesundheitsbefragung 2002 stützen ebenfalls eine zunehmende geschlechtsbezogene Konvergenz der Konsummusters. Im Zeitraum zwischen 1992 und 2002 haben sich die Raucheranteile bei jungen Männern und Frauen (15 bis 24 Jahre) praktisch angeglichen: 1992 rauchten noch 10 Prozent weniger Frauen (25.7 Prozent vs. 35.9 Prozent) so hatte sich diese Differenz 2002 praktisch halbiert, was auf einen Anstieg des Rauchens vor allem bei jungen Frauen zurückzuführen ist (34.8 Prozent vs. 39.9 Prozent). Daten aus England illustrieren die wichtige intervenierende und verstärkende Rolle der sozialen Schichtzugehörigkeit. Sowohl Problemtrinken als auch Rauchen ist vor allem bei einem niedrigen sozioökonomischen Status anzutreffen. Die geschlechtsspezifischen Konsumdifferenzen sind am wenigsten in den höheren sozialen Schichten und am stärksten in den unteren sozialen Schichten ausgeprägt: So betrugen die Differenzen bei den Raucherquoten im Rahmen einer Erhebung 1999 in England und Wales bei den Angehörigen der beiden oberen sozialen Schichten 1 bis 4 Prozent „zugunsten der Frauen“, während in den beiden unteren sozialen Schichten diese zwischen 5 und 11 Prozent „zugunsten der Männer“ schwankten (Thom 2003: 8). Diese Differenzen deuten einerseits auf eine stärkere traditionelle Rollenabgrenzung in den benachteiligten sozialen Schichten hin, andererseits wird klar, dass Unterschichtszugehörigkeit vor allem bei den Männer, aber auch den Frauen als zusätzlicher Risikofaktor gelten kann. Im Teil 1 dieses Bandes wird der Schluss gezogen, dass „zwischen den Geschlechtern, der illegale Drogenkonsum als großer Gleichmacher wirkt‘ (vgl. 6.3). In der Tat zeigt auch die Gesundheitsbefragung 2002 bei jungen Erwachsenen, dass die positive Differenz zwischen Männern und Frauen bei der Erfahrung mit harten Drogen von 1.9 Prozent im Jahre 1992 auf 1.1 Prozent im Jahr 2002 schrumpft; bei der Haschischlebenszeitprävalenz von 13.4 Prozent auf 11.7 Prozent (Bundesamt für Statistik 2003: 8). 47
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Allerdings scheint bei illegalen Drogen der Trend zur Konvergenz weniger ausgeprägt zu sein. Zimmer-Höfler verweist in ihrer Interpretation auf die stärkere Internalisierung von „Konformität“ und „Einfügung“ bei Frauen versus dem zentralen Stellenwert von „Rebellion und Aufbegehren“ als Bestandteil maskuliner Rollenerwartungen und führt als historisches Beispiel an, dass der Anteil der Heroin konsumierenden Frauen in den USA, nachdem dieser 1914 für illegal erklärt worden war (‚Harrison Act‘), von 55 Prozent auf 15 Prozent absank (Zimmer 1995: 51). Auch bei anderen risikoreichen Verhaltensweisen sind gewisse Annäherungen im Sinne der Konvergenzthese zu beobachten. So kann ein langfristiger Trend während der letzten fünf Jahrzehnten in der Annäherung der geschlechtsspezifischen Raten der Jugenddelinquenz festgestellt werden. Betrug das Verhältnis zwischen weiblichen und männlichen Delinquenten in England Ende der 50er Jahre noch 1:11, so verschob sich dieses Verhältnis bis 1995 auf 3.6 :1. Holländische Daten weisen auf eine markante Annäherung vor allem während der 70er Jahren hin. In den Vereinigten Staaten verdoppelte sich die weibliche Gewaltdelinquenz zwischen 1985 und 1994 (Rutter/Giller/Hagell 1998: 74, vgl. figure 4.3). Es kann angenommen werden, dass die geschlechtsspezifische und deliktspezifische Häufung von Delinquenz zu biographischen Entwicklungsphasen und Identitätsbildungsprozessen in Beziehung gesetzt werden kann: „The peak age of offending is closely related to the timing of events in the transition from dependence to independence, including the compulsory school-leaving age and transition into the labor market“ (Rutter et al. 1998: 77). Geschlechtsspezifisches Erziehungsverhalten beinhaltete früher meist eine starke Kontrolle und Anhalten zu Konformität bei Mädchen. Kriminologische Befunde zeigen denn auch, dass Delinquenz und Drogenkonsum mit geringer elterlicher Kontrolle einher gehen (McArdle et al. 2002). Vermehrt abweichendes Verhalten bei Mädchen könnte somit auf eine bewusste Veränderung der Erziehungspraktiken, welche stärkere Unabhängigkeit betonen, zurückzuführen sein (Rutter et al. 1998: 271). Auf der anderen Seite sind auch gegenläufige Strategien zu verzeichnen, um aggressives, spontanes und „wildes maskulines Verhalten“ als Krankheit zu löschen, dem Weiblichen anzugleichen und damit besser kontrollieren zu können: Unter dem griffigen Titel „Boys under attack“ weist Rollins (2003) darauf hin, dass in den USA Jungen etwa drei Mal so häufig wie Mädchen in Sondererziehungsprogrammen anzutreffen sind und vier Mal so häufig mit der Diagnose Hyperaktivität/Aufmerksamkeitsdefizit (attention deficit/hyperactivity disorder ADHD) bedacht werden (Rollins 2003). Erhöhte Aggressivität und Aktivität, die teilwei48
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se hormonal bedingt sind, fallen insbesondere in der Schulwelt, die oft als eine ideale Welt der entwicklungsreiferen Mädchen bezeichnet wird, als besonders deviant auf. Bemerkenswert ist die damit verbundene Medikalisierung des Problems: Neben verhaltenstherapeutischen Maßnahmen steigert der zunehmende Einsatz von Ritalin vorzugsweise bei männlichen Jugendlichen die Umsätze der Pharmaindustrie. Trotz potentiell gefährlicher Nebenwirkungen wird geschätzt, dass etwa 4 Millionen amerikanischer Jugendlicher und 10 bis 12 Prozent aller männlicher Jugendlicher mit Ritalin behandelt werden (http://www.nfgcc.org/ banritalin.htm). Im Zusammenhang mit risikoreichen männerspezifischen Verhaltenweisen war auch die Teilnahme an Kriegshandlungen aufgeführt worden (vgl. Abschnitt 2), die wie unter anderem der Vietnamkrieg zeigte, auch mit problematischen Alkohol- und Drogenkonsum einhergeht. Auch hier sind mit der zunehmenden Integration der Frauen in die Streitkräfte Tendenzen zur Konvergenz zu beobachten. So beträgt der Frauenaneil beim amerikanischen Militär bereits 16 Prozent und die Beteiligung an Kampfeinsätzen ist ebenfalls bereits Alltag. „Am Anfang der 1990er Jahre war es undenkbar, dass Frauen Kampfflugzeuge fliegen. Das mussten ‚richtige Männer‘ tun – wie Tom Cruise im Film Top Gun. Mittlerweile muss man für diesen extremen Job nicht mehr männlich sein, sondern risikofreudig, leistungsorientiert und technikbesessen“ (Clarke/Shim/Mamo/Fosket/Fishman 2003: 75). Fazit: Insgesamt gesehen wird die, zumindest teilweise empirisch gestützte Konvergenzthese, mit allgemeinem gesamtgesellschaftlichem Wertewandel in Zusammenhang gebracht – Kuntsche verweist beispielsweise auf die SHELL Jugendstudie, welche eine zunehmende Bedeutung von „Spontaneität“‚ „Risikobereitschaft“ und „Schnelllebigkeit“ in der Welt der Jugendlichen annimmt. Die spezifischere Annahme – pauschal oft als Emanzipationsthese bezeichnet – geht davon aus, dass Konvergenzprozessen Veränderungen in den Geschlechtsrollenorientierungen, neue Formen der Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern und eine Angleichung struktureller, vor allem auch beruflicher Zugangsmöglichkeiten für Frauen zu Grunde liegen. So zeigt eine Analyse der Anfragen bei Match.com, einem der größten online Partnervermittlungsdienste in den USA, dass im Jahre 2004 54 Prozent der Männer unter 30 Jahren nur Frauen mit einem bestimmten Einkommen in Betracht zogen, ein Anteil der 2001 noch bei 26 Prozent
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lag („Mars seeks provider, Venus a good cook“, International Herald Tribune, 4-5 December 2004: 15). Wenngleich solche Annahmen über die Heranziehung von Sekundärdaten, etwa von Berufstätigkeitsstatistiken und Zeitbudgetstudien, plausibel gemacht werden können, so liegen in der Regel keine Daten über veränderte Sozialisationspraktiken und Veränderungen in den Geschlechtsrollenorientierungen vor. Hier besteht ein beträchtlicher Forschungsnachholbedarf, welcher aktuell von Hodgson und John im Zusammenhang mit der geschlechtsbezogenen Wirksamkeit diverser Behandlungsansätze diagnostiziert worden ist: „When we refer to gender differences, we have in mind traits that are associated with masculinity and femininity, such as aggression and caring; but these characteristics cross gender boundaries. A focus upon gender role, rather than gender per se could open up the whole field, as it already has in other areas of mental health...“ (Hodgson/John 2004: 3; siehe auch Thom 2003: 30)
Auch mit Blick auf die sogenannten männer- und frauenspezifischen Süchte argumentiert Vogt hinsichtlich der Konvergenzthese ähnlich. Sie sieht keineswegs nur eine einseitige Annäherung der weiblichen an die männlichen Erwartungsstrukturen und diesbezüglich auch nicht als unkritische Übernahme der Männerweltkriterien: „Im ersten Fall (Rauschund Komatrinken) gleichen sich die Mädchen und jungen Frauen den „typisch männlichen“ Modellen an ... sie verlieren wie diese die Kontrolle und riskieren wie diese Belastungen mit Abhängigkeit und Sucht. Im zweiten Fall (Bodybuilding) sind es die Jungen und jungen Männer, die sich ... im Verborgenen an „typisch weibliches“ Verhalten annähern: sie nehmen Pillen aller Art, um ihren Körper und ihre Stimmung zu manipulieren und zu stimulieren. Die Geschlechtsrollen ... sind aufgebrochen ... es geht nicht einfach um die androgyne Angleichung ... sondern um Grenzüberschreitungen ... Mädchen und junge Frauen nehmen sich Freiheiten heraus, die bislang Männern vorbehalten waren …“ (Vogt 2004: 207).
6. Männer in kritischen Lebenslagen Im Folgenden soll auf biographische Statuspassagen und spezifische situative Herausforderungen in Männerwelten eingegangen werden, welche potentiell stresserzeugend sowie gesundheitsschädigend sind und spezielle Bedürfnisse und Bereiche verdeutlichen. Diese bieten wichtige 50
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Anhaltspunkte wenn es um männerorientierte therapeutische, präventive oder sonstige Interventionen geht. Prekäre Lebenslagen und Statuspassagen bei Männern sind überaus komplex, denkt man allein an die ‚werdenden Männer‘, das heisst die Statuspassagen der Jungen in die Männerwelt, welche bereits verschiedentlich angesprochen worden sind. Während nun die Adoleszenzphase noch beachtliche wissenschaftliche und politische Aufmerksamkeit auf sich zieht – wenngleich, wie später im Behandlungs- und Präventionsabschnitt noch näher ausgeführt – durchaus mit einem „Mädchenbia“ – so werden darüber wichtige biographische Männerproblemlagen, die auch mit Sucht zusammenhängen, schlichtweg ignoriert. Im Folgenden werden Vatersein, Gewalt, Sexualität und Alter beispielhaft herausgegriffen und andiskutiert. Eine weitergehende Analyse und Erforschung dieser Problembereiche wäre überfällig, würde aber den Rahmen Beitrages sprengen.
6.1 Sucht und die vergessenen Väter Die Bedeutung und die Rolle des Vaters in der Kindererziehung, insbesondere auch als geschlechtsspezifisches Modell für die Jungen ist unumstritten ( vgl. z.B. Deutsche Hauptstelle gegen Suchtgefahren 1990: 310) und in den letzten Jahrzehnten Gegenstand nationaler und internationaler Programme gewesen, welche unter anderem das Verständnis für die Rolle der Väter in der kindlichen Entwicklung fördern, ungewollte Schwangerschaften thematisieren, und die Qualität von Vater-Kind Beziehungen verbessern wollen (McMahon/Rounsaville 2002: 1109). Mit dieser gesamtgesellschaftlichen Entwicklung kontrastiert die totale Ausblendung der Väter aus der Suchtforschung.
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Loriot’s Heile Welt, Diogenes, 1980:Seite 132 In der Fachzeitschrift ADDICTION wurde 2002 eine erste Diskussion lanciert und ein Vorstoß unternommen, das Thema „Vaterrolle und Sucht“ endlich auf die Forschungsagenda zu setzen. Angesichts der großen Forschungslücken in diesem Bereich verweisen McMahon und Rounsaville (2002) auf wichtige „blinde Flecken“ in der Forschungslandschaft: • Biologischer oder sozialer Vaterschaft wird bei der Aufnahme von süchtigen Männern in Behandlungsprogramme kaum Aufmerksamkeit geschenkt, obgleich erste amerikanische Befunde bei Methadonbezügern darauf hindeuten, dass bei Therapiesuchenden, Männer mit Kindern die größte Gruppe bildeten (aus Schweizer Sicht wäre hier hinzuzufügen, dass die Schaffung von stationären Programmen, bei denen Väter mit ihren Kindern bleiben können bislang wohl noch aussteht). • Wenig Evidenz liegt bezüglich des Reproduktionsverhaltens süchtiger Männer vor und die Debatte wird vom Stereotyp des unverantwortlich agierenden männlichen Drogenkonsumenten bestimmt, der mit verschiedenen Partnerinnen frühe Schwangerschaften unter sozial ungünstigen Bedingungen verursacht. Der Einfluss des Drogenkonsums auf die Qualität des Spermas und die fötale Entwicklung ist ebenfalls nicht erforscht. • Die Frage, auf welche Weise Substanzgebrauch die Art und Weise der Ausübung der Vaterschaft beeinflusst oder beeinträchtigt, ist weithin ungeklärt. Neuere Untersuchungen liefern Hinweise darauf, dass abhängige Väter oft mehr besorgt sind um ihre Kinder, vor al52
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lem wenn sie mit diesen nicht zusammen wohnen – als eigentlich zu erwarten gewesen wäre. Klassische männliche Geschlechtsrollenorientierungen bremsen jedoch ein weitergehendes Engagement. Erneut spiegeln sich hier offenbar gesamtgesellschaftlichen Veränderungen, wiesen doch vereinzelte Untersuchungen in Deutschland in den 1980er Jahren bei männlichen Alkoholpatienten in stationärer Therapie noch auf ein starkes Desinteresse der Männer an ihren Kindern hin und die Diagnose lautete, dass „bei männlichen Suchtkranken große Defizite in der Fähigkeit, elterliche Sorge zu übernehmen und emphatische Väterlichkeit auszudrücken bestehen“ (Fett 1996: 47). Während umfangreiche Forschungsarbeiten über den affektiven Stress bei Frauen, welche sich durch den Drogenkonsum in der Ausübung ihrer Mutterrolle beeinträchtigt fühlen, vorliegen, ist die Auswirkung derselben Situation auf süchtige Männer bislang nicht thematisiert worden. Die Autoren folgern: „by not acknowledging that substance-abusing men may experience psychological distress concerning their inability to function as a parent, researchers may be ignoring an opportunity to better understand how shame, associated with perceived failings might contribute to active avoidance of familly problems“ (McMahon/Rounsaville 2002: 1112). Der Einfluss des Erziehungsverhaltens von Eltern mit Suchtproblemen auf die Entwicklung ihrer Kinder ist bislang von einer Defizitperspektive bestimmt – etwa nach dem Motto „Böses generiert Böses“ – insbesondere was die spätere Übernahme des Suchtverhaltens durch die Kinder anbetrifft. Es liegen keine Forschungsbefunde vor, die erlauben würden, die negativen oder positiven Auswirkungen der Präsenz eines Suchtmittel missbrauchenden Vaters im Familienverband einzuschätzen. Aus einer systemischen Perspektive verweist Phares auf zwei weitere Punkte, nämlich die Rolle weiterer Familienmitglieder, insbesondere der Großeltern, im Sozialisationsprozess und die Auswirkung schwierigen Verhaltens der Kinder auf den Suchtmittelkonsum der Eltern (Phares 2002).
Wie Virginia Berridge betont, kann der Grund für die Vernachlässigung dieser Männerperspektive historisch in den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und Werten gesehen werden, welche in erster Linie Frauen zu Hüterin der Gesundheit der Nation und Frauen in ihrer Mütterrolle als verantwortlich für Sozialhygiene und das Wohlergehen der Kinder erklärten (Berridge 2002).
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6.2 Männer als Gewaltopfer Die Vorstellung, dass Frauen stärker von physischer Gewalt betroffen sind, hält sich hartnäckig. Dazu beigetragen hat die geringe Sichtbarkeit und Anerkennung männlicher Erfahrung als Gewaltopfer, welche ihrerseits, wie Hagemann-White und Lenz anmerken, einem kulturellen Paradox entsprechen, d.h. dem Bild einer hegemonial organisierten Männergesellschaft mit einer „Siegerkultur“, bei der Unterlegene stigmatisiert wird; das heißt „entweder ist jemand ein Opfer, oder er ist ein Mann“ (Hagemann-White/Lenz 2002: 462). Entsprechend werden männliche Opfer im Behandlungs- und Beratungssystem oft nicht ernst genommen und können Ängste bei den Therapeuten selbst auslösen (Hagemann-White/Lenz 2002: 475). Der World Report on Violence der WHO (Genf 2002) weist aus, dass global Männer zwei bis drei Mal häufiger Opfer von Mordtaten, Kriegen und Selbstmordhandlungen sind. Gemäß Döge haben junge Männer heute im Vergleich zu Frauen ein fast vierfach höheres Risiko Opfer einer Gewalttat zu werden. Der Einfluss von Alkohol und Drogen in aggressiven Kontexten ist beachtlich und Gegenstand zahlreicher Forschungsarbeiten (Übersicht bei Pernanen 2001) auf die hier nicht näher eingegangen werden kann. Männer unter Alkoholeinfluss tragen beispielsweise ein erhöhtes Risiko, Opfer von Straftaten zu werden (Klingemann 2001: 115). Aus der umfassenden Übersicht zu Gewalterfahrungen von Männern und Frauen bei Hagemann-White und Lenz (Hagemann-White/Lenz 2002) sowie bei Döge (2004) geht hervor, dass trotz schwieriger Datenlage Männer in vielen Bereichen ebenso stark oder noch mehr als Frauen betroffen sind. Nur zwei Beispiele sollen herausgegriffen werden: • Gewalt und sexualisierte Gewalt in Gefängnissen, die etwa in Deutschland zu 96 Prozent von Männern besetzt sind, mit einem hohen Anteil an inhaftierten Drogenabhängigen. In diesem subkulturellen Gewalt- und Riskomilieu sind auch die Prävalenzen für problematischen Alkoholkonsum höher als in der Durchschnittbevölkerung (Thom 2003: 14). • Doppelt so viele männliche wie weibliche Jugendliche werden mindestens einmal täglich zu Hause geschlagen (Döge 2004: 235; Hagemann-White/Lenz 2002: 466); nordamerikanische Studien weisen bei Jungen einen Anteil von 40 Prozent aus, der im öffentlichen Bereich Erfahrungen mit sexueller Ausbeutung gemacht hatte (im Vergleich 21 Prozent bei den Mädchen) ( Hagemann-White/Lenz 2002: 54
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467). Weiter wird geschätzt, dass in 50 Prozent aller schwulen Beziehungen, Männer zu Opfern häuslicher Gewalt werden (Hagemann-White/Lenz 2002: 474); Döge stellt fest: „Ein tabuisierter Bereich ist Beziehungsgewalt von Frauen gegen Männer ... gegenwärtig nicht geklärt ist – wie entsprechende Untersuchungen nahe legen, Frauen und Männer in heterosexuellen Paarbeziehungen zu gleichen Teilen körperliche Gewalt gegen den Partner ausüben“ (Döge 2004: 236).
6.3 Männer – Sexualität und HIV Wurde Risikoverhalten als „typisch männliches Verhalten“ charakterisiert, so kann ein dementsprechendes Sexualverhalten, das traditionellen männliche Vorstellungen von Sexualbeziehungen, sexuellen Ausdrucksweisen und Beziehungen zum anderen Geschlecht entspricht, schwerwiegende Folgen haben. Gleichzeitig besteht Grund zur Annahme, dass sich „Männer nicht nur im toten Winkel der HIV- und Aidsprävention befinden, sie fallen auch aus dem Raster der Politik, die zum Ziel hat, die sexuelle Gesundheit zu verbessern. Tatsächlich gelten die Männer für die Prävention als verloren und die Männlichkeit wird auf die biologische Funktion reduziert (Spencer 2003: 50). Gleichzeitig spielen heterosexuelle, Drogen gebrauchende und schwule Männer bei der Übertragung infektiöser Geschlechtskrankheiten eine Schlüsselrolle. Ungeschützter Geschlechtsverkehr ist vor allem bei jungen risikobereiten Männern zwischen 19 und 24 Jahren zu beobachten. Klienten von Prostituierten aber auch Männer, die als „escorts“ arbeiten sind verstärkten Risiken ausgesetzt (Jaiyesimi/Harry 2004: 213). Die Interaktion zwischen dem generell problematischeren Alkoholkonsum bei Männern und risikoreichem Sexualverhalten ist aufgrund bisheriger Untersuchungen allerdings umstritten. Thom kommt zum Schluss, das bisherige quantitative Untersuchungen den Einfluss von Trunkenheitszuständen unterschätzt haben könnten: „Research needs to examine, whether people are more likely to have unsafe sex when the have had a drink but are not yet drunk, when they have drunk to intoxication, or in both circumstances“ (Thom 2003: 16).
6.4 Wenn Männer alt werden Wie am Beispiel der Konstruktion von Männlichkeit und Weiblichkeit in der Adoleszenz bereits dargelegt, ist besonderes Augenmerk auf geschlechtsspezifische Statuspassagen und allfällige Funktionen des Suchtmittelkonsums zu richten. Dies gilt auch für das Ausscheiden der 55
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Männer aus dem für viele als zentral angesehen professionellen Leben. Der Wechsel aus dem aktiven Erwerbsleben ist oft der größte Einschnitt im Sozialgefüge des Mannes, der im Extremfall zum ‚frühen Pensionärstod‘ als Zusammenwirken von Stresserleben und Herzkrankheit, aber auch zu einer ganzen Palette sonstiger Gesundheitsbeschwerden führen kann: „Der fehlende Tagesrhythmus, Langweile, Rollenkonflikte mit der Ehefrau, fehlende Erfolgserlebnisse und Selbstbelohnungen können zu Depressionen und Symptomen führen, die denen des akuten Stresses gleichkommen“ (Jacobi 2003: 144). Zum Stichwort Rollenkonflikte im Alter und im Nachtrag zu den obigen Ausführungen zum Thema „Gewalt“ sei angemerkt, dass offenbar gebrechliche Männer im Alter zumindest gleich oft wie Frauen Gewalt in der Partnerschaft ausgesetzt sind und so möglicherweise „alte uneingelöste Rechnungen zwischen den Partnern beglichen werden „(Hagemann-White/Lenz 2002: 474). Wichtige Hinweise darauf, dass auch nach dem Ausscheiden aus dem Berufsleben maskuline Rollenerwartungen und -orientierung ähnlich wirksam bleiben wie in früheren Lebensabschnitten, ergeben sich aus einer qualitativen Untersuchung von Davidson bei 85 Männern im Alter von über 65 Jahren, welche auch den Suchtmittelkonsum einbezieht (Davidson/ Arber 2003). Grundsätzlich finden sich bei Männern im Alter ähnliche gesundheitsbezogene Einstellungen wie bei jungen Männern, dies, trotz oft objektiv verschlechtertem Gesundheitszustand oder gar schwerer Krankheit. Im Einzelnen werden Arztbesuche nicht als solche deklariert, soziale Unterstützung und öffentliche Programme – vor allem wenn diese von älteren Frauen dominiert werden – kaum angenommen und Krankheit als unerklärlich plötzlich einsetzender Zustand (‚domino pathologies – viele Jahre war alles perfekt, dann plötzlich ging es mit allem schlechter‘) wahrgenommen. Beim Alkohol- und Zigarettenkonsum, aber auch bei allgemeinen gesundheitsrelevanten Einstellungen zeigt sich ein klarer protektiver Effekt bei den verheirateten Männern. Während bei dieser Gruppe der Konsum kontinuierlich über die Altersklassen sinkt, ist dies insbesondere bei den geschiedenen, daneben aber auch den verwitweten und allein stehenden Männern weit weniger der Fall. Letztere Gruppen haben auch eine eher stoische Einstellung zu Krankheit und Gesundheit und sind nicht bereit, über Körper und Krankheit zu sprechen und Krankheit anzuerkennen: „I am pretty good for my age“ (Davidson/ Arber, 200: 73). Diese qualitative Studie ist eine der wenigen Ausnahmen auf diesem Gebiet. Es besteht eine große Forschungslücke; auch in der Alkoholforschung werden gegenläufige Thesen zur Konsumveränderung im Alter vertreten: Einerseits kann die Entbindung von beruflichen Verpflichtungen (zum Beispiel die Bedienung einer gefährlichen Ma56
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schine) zu einem Anstieg des Konsums führen, „nun, da man nicht mehr aufpassen muss“, der noch verstärkt wird durch den Versuch, mit Rollenkonflikten nach der Pensionierung zurecht zu kommen, andererseits könnte spekuliert werden, dass der Ausstieg aus „feuchten“ Berufskulturen und ein tendenziell verminderter Zugang bei sinkendem Einkommen zu einem Rückgang des Konsums führen müsste. Beide Annahmen sind bis anhin empirisch nicht gesichert. Fest steht allerdings, dass insbesondere nicht-verheiratete Männer – der Geschiedenenanteil ist zudem ansteigend – sich im Alter zu einer Hochrisikogruppe entwickelt, die in dieser Lebenslage männergerechte Unterstützung mehr denn je benötigt.
7. Männerbedürfnisse und gesundheitliches V e r s o r g u n g s s ys t e m – v o n d e r S c hw i e r i g k e i t , Hilfe annehmen zu können Bei der Diskussionen männerspezifische Behandlungsangebote und Therapieziele kann jeweils hinterfragt werden, welches grundsätzliche Geschlechtsrollenmodell den therapeutischen Maximen jeweils zugrunde liegt. Schliesslich wäre eine bislang noch ausstehende Bewertung des suchttherapeutischen Versorgungssystems mit Blick auf männerspezifische Rollenerwartungen zu leisten.
7.1 Inanspruchnahme von Behandlung und Hilfe allgemein Als einer der wichtigsten geschlechtsspezifischen gesundheitsrelevanten Unterschiede kann gelten, dass Männer das Gesundheitsversorgungssystem weniger in Anspruch nehmen als Frauen. Um nur einige Beispiele zu nennen: Gemäß der Schweizerischen Gesundheitsbefragung 2002 haben in den letzten zwölf Monaten 82.1 Prozent der Frauen einen Arztbesuch absolviert, während es bei den Männern 71.3 Prozent waren Vorsorgeuntersuchungen werden ebenfalls eher von Frauen genutzt, wobei bei steigenden Einkommen auch die Vorsorgebereitschaft wächst (Bundesamt für Statistik 2003: 11ff). Im Mental Health Bereich sind die geschlechtsspezifischen Unterschiede noch ausgeprägter. So sind gemäß amerikanischen Daten beispielsweise zwei Drittel der Patienten in psychologischen Beratungsdiensten Frauen und während lediglich ein Mann von sieben im Verlaufe seines Lebens Beratung in Anspruch nimmt, so sind es ein Drittel aller Frauen (vgl. McCarthy/Holliday 2004: 26). Gemäß der Mannheimer Kohortenstudie wurden Frauen mehr als doppelt so häufig ambulant psychiatrisch behandelt wie Männer. Zwar scheint dies in etwa den entsprechenden Prävalenzen bei psychischen Störungen zu entsprechen, fraglich ist jedoch die 57
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Unterdiagnostizierung etwa von Depressionen bei Männern (vgl. McCarthy/Holliday 2004: 27) und die Einschätzung der Einstellung und ‚Anerkennung‘ von Männerbeschwerden durch Ärzte. Weitere Befunden weisen auf größeren Therapiewiderstand bei Männer auch bei Kontrolle der Behandlungsbedürftigkeit hin: 63 Prozent der für eine Behandlung indizierten Frauen und 71 % der Männer lehnten in der Mannheimer Kohortenstudie eine Behandlung ab (Strauss/Hartung/Kächele 2002: 535). Selbsthilfegruppen werden ebenfalls häufiger von Frauen in Anspruch genommen; so konstatiert beispielsweise der Gesundheitsbericht aus dem deutschen Bundesland Brandenburg einen Nachholbedarf bei Männern hinsichtlich gesundheitlicher Selbsthilfe bei einem Frauenanteil von 80 Prozent (Ministerium für Arbeit Soziales Gesundheit und Frauen 2003: 62). Im Suchtbereich variiert bei den AA Gruppen der Frauenanteil je nach Land beträchtlich, liegt jedoch etwa bei mehr als einem Drittel. Humphreys folgert in seiner internationalen Vergleichsarbeit „that women alcoholics are particularly likely to attend AA in those countries where the alternative is a traditional male-oriented recovery movement in which most members are alcoholic men accompanied by their wives (Humphreys 2004: 42). Eisenbach-Stangl vermutet, dass Frauen mit leichteren Alkoholproblemen insbesondere von zwölf Schrittgruppen angezogen werden, wohingegen schwerere Fälle möglicherweise professionell geleitete Gruppen bevorzugen (Eisenbach-Stangl 1997: 29).
7.2 Perspektiven männerspezifischer Behandlung unter Berücksichtigung des Geschlechtsrollenverständnisses 7.2.1 Systemaspekte Ein zentraler Begründungsansatz zur Erklärung dieser Unterschiede im Hilfesucheverhalten bezieht sich auf männliche Geschlechtsrollenorientierungen, welche die Annahme von Hilfe und bereits schon die Initiierung von Hilfesuchprozessen tendenziell verhindern. Schließlich sind Behandlungsphilosophien und die therapeutischen Rahmenbedingungen oft inkompatibel mit Männerbedürfnissen: „Traditonal counseling requires men to set aside much of their masculine socialization simply to get through the door and ask for help“ (Romelsjo/Leifman/Nystrom 1995: 148). Hier stellt sich nun die Frage inwieweit das Therapiesystem, speziell im hier interessierenden Suchtbereich, geschlechtsrollenspezifi58
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schen Erwartungen unterschiedlich Rechnung trägt und welche Therapieformen oder Therapiesystemansätze auf höhere Akzeptanz bei der am stärksten belasteten Risikogruppe, nämlich den Männern, treffen könnten. Diese Perspektive ist eher neu: Typisch waren Positionen wie von Vogt vertreten, die aus der Minderheitenposition der Frauen in gemischtgeschlechtlichen stationären Drogenbehandlungseinrichtungen folgert, dass das Behandlungssystem von Anbeginn einseitig auf Männerbedürfnisse ausgerichtet und dieselben Bedürfnislagen wie bei den männlichen Patienten fälschlicherweise auch für Frauen postuliert worden seien (Vogt 1998: 284). Im Alkoholbereich argumentiert Menethrey ähnlich (Menétrey 2000: 30). Diese Annahme entbehrt jedoch einer soliden empirischen Grundlage und müsste allgemeiner formuliert und überprüft werden: Moynihan weist in einem Überblick zu Theorien der Maskulinität darauf hin, dass mit steigender Ausprägung weiblicher Geschlechtsrollenerwartungen bei Männern und Frauen, generell die Inanspruchnahme der Gesundheitsversorgung zunimmt (Moynihan 1998: 1073). Ähnlich müsste überprüft werden inwieweit denn spezifische Therapieangebote, vor allem auch im Suchtbereich, auf Menschen mit einem variierenden Anteil von sogenannt weiblichen und männlichen Geschlechtsrollenerwartungen implizit (hidden agenda) oder explizit abgestellt sind. Die Tatsache, dass Männer in bestimmten Behandlungseinrichtungen die Mehrheit bilden, heißt noch nicht, dass männergerechte Behandlung angeboten wird. Argumentationen wie „Drogenarbeit ist einseitig an den Bedürfnissen von Männern ausgerichtet … So etwa fühlen sich von Bau- und Waldarbeit in Arbeitsprogrammen genauso wie von großen Gruppen und Status orientierten Gruppenstrukturen in therapeutischen Wohngemeinschaften vor allem Männer angesprochen“ (Geschlechtergerechte Drogenarbeit, o.J.) gehen an der eigentlichen Problematik vorbei. Anders ausgedrückt ,wie weiblich oder männlich‘ die Inszenierung von gesellschaftlichen Reaktionen auf problematischen Alkoholkonsum ausfällt etwa nach dem Motto, cure – care – or control‘ mit männlichen Alkoholkontrollpolitikern und weiblicher Pflege und Fürsorge, ist durchaus eine offene Frage. Betrachten wir unter diesem Blickwinkel zunächst ganz allgemein die institutionalisierten Systemerwartungen, welche gemäß Parsons mit der Krankenrolle verknüpft werden, so betreffen diese vier Punkte: a) Die kranke Person wird je nach Schwere der Krankheit temporär von seinen übrigen sozialen Rollenverpflichtungen entbunden; b) sie wird von jeglicher Verantwortung für ihre Krankheit befreit und anerkennt hilfsbedürftig zu sein; c) die Übernahme der Verpflichtung den unerwünschten Zustand der Krankheit zu überwinden und d) die Bereitschaft, den An59
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weisungen eines technisch kompetenten Heilers bereitwillig zu folgen (Parsons 1951: 436f). Rückblickend auf die eingangs dargelegten rollentheoretischen Überlegungen, wird bereits hier deutlich, dass die so charakterisierten Elemente der Krankenrolle, wie Rückzug, Passivität und Unterwerfung unter einem Spezialisten wohl eher traditionellen weiblichen Rollenelementen entsprechen. Wie im folgenden Abschnitt dargelegt, kann man in der Tat nicht davon ausgehen, dass Behandlungsangebote in der Regel auf Männerbedürfnisse ausgerichtet sind, sondern vielmehr „gender“ als wichtige Leitlinie therapeutischen Handelns völlig ignoriert wird, wenn es sich nicht gerade um eine der äußerst seltenen explizit frauen- oder männerspezifischen Angebote handelt. Wirft man schließlich eine Blick in die Zukunft, die bereits begonnen hat, so legt die medizinsoziologische Analyse des anbrechenden Zeitalters der Biotechnologie die These nahe, dass die damit verbundenen Neudefinitionen von Gesundheit und Krankheit und medizinischer Interventionen wieder verstärkt auf klassisch männlichen Wertorientierungen aufbauen. Mit dem Wechsel von der Medikalisierung zur Biomedikalisierung ist tendeziell auch ein Paradigmenwechsel verbunden: Es stehen nicht mehr Heilung von Krankheit, und Anpassung an allgemeine Gesundheitsnormen im Vordergrund sondern vielmehr wird Gesundheit als fortwährend anzustrebendes Ziel begriffen und ist Gegenstand routinemäßiger biomedizinischer Interventionen (Clarke et al. 2003). Hoch technisiertes Risikomonitoring und die zentralisierte Sammlung von Patientendaten sind Bestandteile einer Überwachungsmedizin. Diese erlaubt nicht nur Kontrolle über Krankheitszustände, sondern geht viel weiter indem der Körper transformiert (genetische Eingriffe; kosmetische Operationen) und der individualisierten Erwerb neuer Eigenschaften und Identitäten (etwa über life style drugs) ermöglicht wird: „As a Foucauldian technique, regulation through biomedicalization works ‚from the inside out‘ as a type of biomedical governance. It is achieved through alterations of biomedicalized subjectivities and desires for transformed bodies and selves. The body is no longer viewed as relatively static, immutable and the focus of control, but instead as flexible, capable of being reconfigured and transformed“ (Clarke et al. 2003: 191).
Man könnte zumindest darüber spekulieren, inwieweit diese neue Qualität der Machtausübung über den Körper und dessen individuelle Modellierung, als Extrapolation typisch männlicher Macht- und Kontrollbedürfnissen (der Körper als kontrollierbare Maschine Moynihan 1998: 1074) begriffen werden kann. 60
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7.2.2 Männergerechte Behandlungspraxis: Sex, Macht und Ohnmacht als Leitmotive? oder „Den Mann zur Sprache bringen?“ Werfen wir einen Blick auf spezifische Behandlungsangebote und inwieweit diese mit männlichen Geschlechtsrollenorientierungen kompatibel sind: Ein indirekter Hinweis auf Geschlechtsrollenverschiebungen findet sich hinsichtlich der Al-Anon Philosophie, welche in den 50er Jahren forderte, dass die Frauen von alkoholabhängigen Männern geduldig, nachgiebig und verständnisvoll sein sollten und vor allem die Machtstellung des Mannes in der Familie keinesfalls in Frage stellen dürfen. Mit der einsetzenden Frauenbewegung traten dann als Verhaltenserwartungen „persönliche Kontrolle durch die Frau“, „Respekt und Unabhängigkeit“ in den Vordergrund, das heißt die traditionelle Männerrolle wurde grundsätzlich in Frage gestellt (Humphreys 2004: 47). Damit sind Erwartungen „mächtig“ und „stark“ zu sein, als wichtige Bestandteile männlicher Rollenorientierung angesprochen, die neben der erwarteten Stigmatisierung durch andere Männer, wenn Hilfe gesucht wird und Vorstellungen über die erwartete Wirksamkeit des Hilfsangebotes eine wichtige Rolle spielen. „Macht“ und „Stärke“ bedeutet gleichzeitig auch, dass ein Mann nicht die Kontrolle verliert („Alkohol vertragen kann“; „auch noch angetrunken fahren kann“). Dies steht im diametralen Gegensatz zum klassischen Verständnis von Sucht als „Kontrollverlust“ – Kontrolle über sich selbst und andere als Wesensmerkmal der Macht im Weberschen Sinne – und dem damit einhergehenden deterministischen Krankheitskonzept. Beide spiegeln die oben kurz skizzierte Parson’sche passive weibliche Krankenrolle, welche Unterwerfung unter den professionellen Heiler impliziert. Die Inanspruchnahme von Hilfe muss erfolgreich als ein Akt von Stärke umgedeutet werden können (vgl. Thomas 2004: 265: etwa nach dem Motto: „contacting me when you did, was the best thing, you could have done“); Behandlungsformen und -programme, welche Konformität, Eingeständnisse der eigenen Machtlosigkeit einfordern, sind so gesehen „wenig männergerecht“. Mit Blick auf die überwältigende Dominanz von Zwölf-Schritt-Programmen wie den AA in den USA, folgert Thomas: „these programs (Zwölf-Schritt-Programme) do not work for men, who find it objectionable to admit powerlessness over alcohol/drugs and adopt reliance on a higher power“ (Thomas 2004: 265). Behandlungsphilosopien der abgestuften Behandlung (stepped care) und Techniken wie des motivationsfördernden Interviews hingegen respektieren in weit höherem Masse Bedürfnisse der Einflussnahme, Abgrenzung und der von Reziprozität im Verhältnis „Patient – Behandler“. Das Prinzip der 61
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abgestuften Behandlung (stepped care) favorisiert Minimalinterventionen (z.B. Bibliotherapie) und steigert die Behandlungsintensität – evidence-based – und nur wenn „mildere Mittel“ fehlgeschlagen sind (Sobell/Sobell 1993: 150, Figure 6.2). Diese möglichst wenig invasive Vorgehensweise respektiert die Privatsphäre und Lebenswelt des Patienten. Die Akzeptanz etwa des Therapieziels „kontrolliert zu Trinken“ neben der Abstinenzmöglichkeit, einhergehend mit der Aushandlung und fortlaufenden Anpassung des Therapieziels, entspricht „maskulinen“ Werten wie „Unabhängigkeit“, „Stärke“, „Kontrolle“, „Willenskraft“, „Aktivität“, „Instrumentalität“ ganz besonders. „Kontrolliert zu Trinken“ und diese Fähigkeit tagtäglich auf die Probe zu stellen, könnte, wie Room darlegt, so gesehen sogar als moralisch höherwertiger „Sieg des freien Willens“ über den Abstinenzgedanken gedeutet werden (Klingemann et al. 2004). Die Technik des motivationsfördernden Interviews ist spezifisch für therapieresistente und auch zwangszugewiesene Patienten entwickelt und geeignet. Sie könnte besonders geeignet sein, um „den Mann zur Sprache zu bringen“ (Neumann/Süfke 2004), da sie einen positiven Einstieg wählt und einen Abwägungsprozess zwischen negativen und positiven Aspekten des Suchtverhaltens in Gang setzt. Die emotionale Besetzung von Handlungen und Handlungszielen wird damit graduell Bestandteil des Dialogs und überfordert das männliche Expressivitätsvermögen nicht von Anfang an. Nun verbietet die rigide klassische Männerrolle das Eingeständnis von Schwäche, hier Abhängigkeit; gleichzeitig wird gerade das Leugnen von Problemen als Diagnosemerkmal von fortgeschrittener Abhängigkeit betrachtet – ein klarer Männerbias könnte man spekulieren: „Not surprisingly, adherence to sterotypical masculinity ideology is associated with reluctance to admit dependency on alcohol and enter treatment“ (Thomas 2004: 265). Welche Männerthemen kommen nun konkret in aktuellen therapeutischen Angeboten konkret zu kurz? Manches deutet darauf hin, dass vor allem das Thema Sexualität zentral ist. Eine Pilotstudie an der schweizer Alkoholfachklinik südhang zur Therapiezielbewertung einerseits bei PatientInnen und Patienten und andererseits bei Therapeutinnen und Therapeuten, liefert erste Hinweise darauf, dass insbesondere bei der subjektiven Wichtigkeit des Themas ‚Sexualität‘ bzw. des Ziels „Besseres Sexualleben“, große Diskrepanzen zwischen männlichen Patienten und männlichen Therapeuten festzustellen waren (Edel und Klingemann 2007: 55). Wie diesen spezifischen Therapiebedürfnissen besser Rechnung getragen werden kann – und inwieweit dies in therapeutischen Set62
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tings überhaupt erreichbar ist – bedarf weiterer empirischer Abklärung im Rahmen künftiger Männerforschungsprojekte. Weiter dürfte die Berücksichtigung von Macht- und Kontrollbedürfnissen, insbesondere bei traditionell männlichen Geschlechtsrollenorientierungen, relevant sein; einerseits um die Akzeptanz und den Zugang zu Behandlungsangeboten zu verbessern, andererseits aber auch, um die Bearbeitung des Verhältnisses zwischen Sucht und Machtbedürfnis zu bearbeiten. Entsprechend geht die „Macht-Ohnmacht-Alkoholthese“ (MAO) von der These aus, dass Alkohol insbesondere von Männern funktional als „Machtproduzent“ eingesetzt wird, welcher das subjektive Leistungsgefühl steigert und bei der Bewältigung emotionaler Spannungen – von Ohnmachtsgefühlen – hilft. Studien zeigen, dass insbesondere Personen mit hohem Bedürfnis nach Macht (das heißt im vorliegenden Argumentationszusammenhang‚ „hoher Ausprägung traditionell männlicher Geschlechtsrollenorientierung“) durch Trinken Machtphantasien verstärkten (Sieber 1996: 33). Aus dieser Perspektive wäre für eine männerspezifische Therapie eine Typologie qualitativ unterschiedlicher Formen „subjektiver Macht“ zu entwickeln und den Umgang mit Machtprivilegien und subjektiver Ohnmacht, insbesondere bei Männern, aber auch bei Frauen, in der Therapie zu hinterfragen (Sieber 1996: 36). Weitere Dimensionen männergerechter Behandlung sind die Zusammensetzung von Behandlungsgruppen; die Frage gleich- oder gegengeschlechtlicher Therapeuten und deren Einstellungen und die Außendarstellung und -wirkung von Behandlungsprogrammen. Hinsichtlich des letzten Punktes kann manchmal schon die Bezeichnung von Therapieangeboten eine Rolle spielen; statt „persönliche Beratung“ distanzierter und unverfänglicher etwa „MännerbürO“ (sic!), „Seminar“, „Workshop“ oder „Lehrgang“ (McCarthy/Holliday 2004: 28); diese Angebote müssen ‚klar strukturiert‘ und überschaubar sein (Braun 2004: 4). Was die Ausgestaltung des Behandlungssettings anbetrifft, so förderte, wie bereits ausgeführt, die Minoritätenposition der Frauen in stationären Suchteinrichtungen die Gründung von Einrichtungen, in denen ausschließlich Frauen von Frauen behandelt wurden. Die Beschäftigung und Wahrnehmung männerspezifischer Behandlungsbedürfnisse setzte als verzögerte Reaktion auf die Forderungen der Frauen nach genderspezifischer Behandlung ein. Dies kann am Beispiel der 1993 gegründeten männerspezifischen Einrichtung CASA FIDELIO (Oberbuchsiten) illustriert werden: Ursprünglich als gemischte Einrichtung betrieben, forderten die Frauen im Team eine frauengerechte Suchtarbeit, was zu Konflikten mit den Männern und der Gründung der 63
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ersten frauenspezifischen Therapiestation in der Schweiz – Villa Donna im Jahre 1990 führte. Die „zurückgebliebenen Männer“eschlossen daraufhin keine Frauen mehr aufzunehmen und sich ganz dem „Mannsein“ zu widmen. Die Übergangsphase während derer dann vorübergehend doch wieder Frauen ins Team und die Wohngruppen aufgenommen wurden, zeigte die Schwierigkeit der Männer sich nicht vorwiegend in Beziehung zur Frau zu definieren. Grundlage der männerspezifischen Arbeit ist heute, „dass die Männer wieder über ihre persönlichen Erfahrungen sprechen lernen, Vertrauen aufbauen, sich unter Männer geborgen fühlen und ihre Schwächen zeigen können, ohne abgewertet zu werden“ (H. Müller 2002: 72). Die Übernahme und Valorisierung von ‚Frauenalltagsverrichtungen‘ bricht rigide maskuline Rollenorientierungen auf. In gemischten Settings sind Projektionen auf die Frauen und Ausweichmanöver der Männer eher zu erwarten, wenngleich diese Meinung durchaus von Behandlungspraktikern kontrovers diskutiert wird: „... getrennt geschlechtliche Einrichtungen laufen eher Gefahr, bei Frauen gängiges Rollenverhalten zu zementieren als es aufzulösen ... gemischte stationäre Einrichtungen bieten doch auch eine große Chance dafür, am der Auflösung dieser Rollenstereotype zu arbeiten“ (Klingemann 1993: 94f). Konkrete Hinweise was bei grundsätzlich – unabhängig vom spezifischen Beratungsanlass und nicht nur auf stationäre Therapien bezogen – bei einer männerspezifischen therapeutischen Interaktion zu berücksichtigen wäre, umfassen beispielsweise folgende Punkte: • Die Frage ob Männer tendenziell besser mit männlichen oder weiblichen Therapeuten einen geeigneten Rapport aufbauen können, muss differenziert angegangen werden: Forschungsbefunde zur Auswirkung unterschiedlicher Geschlechterkonstellationen in der Psychotherapie weisen darauf hin, dass gleichgeschlechtliche Dyaden oft günstigere Behandlungserfolge aufweisen als gemischte Settings. Gleichzeitig kommt es jedoch vor, dass Therapeuten durch misstrauische männliche und weibliche Patienten verunsichert werden und konfrontativ reagieren. Weiter wurde deutlich: „Mit hilflosen, abhängigen Männern konnten Therapeuten schlecht umgehen, während sie mit hilflosen abhängigen Frauen gut zurecht kamen“ (Strauss et al. 2002: 539). McCarthy und Holliday weisen zusätzlich auf die Rolle des Alters hin: Jüngere Männer fühlen sich tendenziell wohler mit eher ‚maskulinen‘ helfenden Berufen wie Psychiatern und Geistlichen (McCarthy/Holliday 2004: 27). • Bei der Wahl der ‚Behandlungssprache‘ ist der ‚male dialect‘ zu berücksichtigen, der mit dem ‚emotion speak‘ von Therapeuten nichts zu tun hat. Wenn eine Unfähigkeit vorliegt, Gefühle in Worten aus64
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zudrücken, so muss auf andere Mittel zurückgegriffen werden, wie beispielsweise Biblio-, Audio- und Videotherapie, das Erzählen von Geschichten, oder das Verwenden von Metaphern. Wichtig ist auch ‚männliches Schweigen‘ als Vorbereitungshandlung für den Ausdruck von Gefühlen zu erkennen und zu respektieren (Teuwsen 2004: 29). Hingegen gilt es als kontraproduktiv, wenn Therapeut und Patient in Männermythen befangen bleiben, beispielsweise wenn der Therapeut eine Metapher wählt, welche rigide Rollen noch verfestigen. Moynihan illustriert dies aus der klinischen Praxis: „male clinicians often do address dramatic existential crisis by referring to infertility as, for example shooting blanks ... this kind of language reinforces the way in which many men think about their bodies as machines” (McMahon/Rounsaville 2002: 1074). Neumann und Süffke sind aufgrund ihrer therapeutischen Erfahrung der Meinung, dass es in der Interaktion mit Männern um eine graduelle Verunsicherung und Verwirrung der eingebrachten jahrelang eingeübten Konzepte gehen muss, teilweise auch mit Hilfe therapeutischen Humors als Türöffner, „denn nur so kann sich ein neues, therapeutisches und hilfreiches Sprechen ausbilden“ (Neumann/Süfke 2004: 9). Männerspezifische Ansätze sollen männliche Stärken wie etwa ‚Großzügigkeit‘, ‚Ausdauer‘, ‚für andere einstehen‘ anerkennen und nutzen (McCarthy/Holliday 2004: 28). Braun umschreibt dies aus der Praxis eines Männerbüros wie folgt: „Männer sollen in Kontakt zu ihren eigenen Ressourcen und Möglichkeiten kommen und sich dadurch zusätzliche Handlungsalternativen und eigenständige Lösungen öffnen – Männer sollen ihr Mannsein eigenständig und in der Gemeinschaft mit anderen Männern definieren“ (Braun 2004: 1). In diesem Zusammenhang ist auch das sogenannte Variablen- oder Balancemodell zu nennen, das darauf abzielt traditionellerweise den Männern zugeschriebene Aspekte wie etwa Leistung, Stärke und Aktivität positiv anzuerkennen und diese mit entsprechenden, ebenfalls männlichen Aspekten, die in traditionellen Männerbildern eher verdeckt bleiben, wie Entspannung, Begrenztheit und Reflexivität auszutarieren oder ins Gleichgewicht zu bringen (Neubauer/Winter 2001; Winter 2001; 2002). Dieser Orientierungsrahmen diente auch als Grundlage für das eingangs erwähnte „MaGs – Männergesundheit‘ (vgl. Setz 2002) und wurde 2008 bei der Einführung eines Männerkurses ‚Mannagement mit Kopf, Herz und Leidenschaft – Ein Kurs für Männer mit Suchtproblemen‘ durch das Blaue Kreuz und die Suchtfachstelle St.Gallen als Referenz herangezogen. Wenngleich keine empirischen Überprüfungen dieses Modells be65
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kannt sind, so entspricht doch die Grundannahme den diskutierten Schlussfolgerungen zum Männerstresserleben. Fazit: Die Einrichtung scheinbar homogener Behandlungsprogramme für Männer und Frauen und Empfehlungen für geschlechtsspezifischen Umgang mit Hilfe suchenden Personen, gehen letztlich von der Annahme aus, dass sich biologisches Geschlecht und Gender-, oder Geschlechtsrollenorientierungen bipolar zueinander verhalten oder zumindest stark miteinander korrelieren. Dies mag vorläufig über weite Strecken noch so sein. Je mehr sich jedoch Geschlechtsrollen vermischen im Sinne des Androgynie Konzepts umso weniger geeignet ist dieser Ansatz. Im Zuge der postmodernen Gesellschaft nimmt auch die IntraGruppenheterogenität bei Männern und Frauen bezüglich vormals klassischer Geschlechtsrollenmerkmale tendenziell zu. Daraus folgen würde dann auch gerade die gemeinsame Behandlung von Frauen und Männern, welche ungeachtet ihrer biologischen Geschlechtszugehörigkeit, gleichermaßen ein großes subjektives Machtbedürfnis haben oder niedrige Werte auf einer Skala der Expressivität aufweisen und möglicherweise schädliche Strategien des Emotion Managements verfolgen, um nur einige Beispiele zu nennen.
8 . M ä n n e r s p e z i f i s c h e P r ä ve n t i o n s a n g e b o t e – e i n e ve r n a c h l ä s s i g t e P e r s p e k t i v e „Setting approach“ und „teachable moments“ sind Leitmotive aktueller Präventionsarbeit. Spielt die Gender Perspektive eine Rolle in der Prävention? Müssen Männerbotschaften für die Männerwelten anders formuliert werden als bei Frauen? Wie so oft kann man hier von Werbestrategen ‚der Gegenseite‘ lernen, welche mit Werbebotschaften etwa an die weiter oben diskutierten subjektiven maskulinen Machtbedürfnisse anknüpfen, ein Aspekt auf den Sieber bei der Diskussion der ‚MachtOhnmacht-Alkohol‘ (MAO These) zu Recht verweist (Sieber 1996: 36). Die aktuelle Alkoholkampagne ‚Alles im Griff‘ knüpft zumindest implizit insofern an Männerorientierungen an, als etwa auf die negativen Wirkungen des Alkohols auf die sexuelle Leistungsfähigkeit und Potenz Bezug genommen wird und der Anspruch auf Kontrolle in Risikokonsumsituationen erhoben wird. Primärsuchtprävention bei Jugendlichen, muss geschlechtsspezifischen Aufgaben der Herstellung von Männlichkeit (und Weiblichkeit) während der Adoleszenz zur Kenntnis nehmen und die Funktionalität des Suchtmittelkonsums genau einschätzen können. Wie bereits in den vorangehenden Abschnitten angesprochen, dient 66
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bei Jungen der Rauschmittelkonsum als Bewältigungsinstrument für einen Zustand der Statusunsicherheit: Alkohol vermittelt Macht und Stärke und betrifft den Aufnahmeritus in die Männergesellschaft. Für die jungenspezifische Prävention bedeutet dies, „dass ‚funktionale Äquivalente‘ für den Suchtmittelkonsum bei Jugendlichen gemeinsam gefunden und angeboten werden müssen, mit deren Hilfe sie Bedürfnisse nach der Demonstration von Männlichkeit, Stärke und dem Ausloten von Grenzen befriedigen können“ (Krüger 1992: 29). In diesem Zusammenhang beklagt Weil, „dass geschlechtsspezifische Arbeit im Bereich Jugendarbeit weithin mit Mädchenarbeit gleichgesetzt wird“ und betont die Notwendigkeit eines an den Stärken der Jungen orientierten Ansatzes ohne konkrete Handlungsanweisungen anbieten zu können (Weil 1996: 28ff). Ähnlich mahnt Kolip an, dass künftig die unterschiedlichen Belastungen und Ressourcen von Jungen und Mädchen in der Präventionsarbeit berücksichtigt werden müssten (Kolip 2002: 887). Sturzenhecker weist auf interessante Praxiserfahrungen mit jugendpädagogischen Modellen hin, welche unter dem Titel ‚beer education‘ den Versuch unternehmen, sich in das kollektive peer-group Trinken ohne moralisierende Untertöne ‚einzuklinken‘. Gemeinsame Kneipenabende mit den Jungen (Rituale verstehen und würdigen), Bau und Diskussion eines Turmes aus den während einer Woche konsumierten Bierdosen (Menge = Leistung) und Einbezug der Reaktionen der Mädchen; gemeinsam mit den Jungen typische Orte besuchen und photographieren wo Männer Alkohol konsumieren (Sturzenhecker 2001: 39f). Schmidt und Kolip verweisen ebenso auf einen ressorucenorientierten Ansatz mit Schwerpunkten in der Erlebnispädagogik, die Spaß macht (Schmidt/ Kolip 1999: 53). Männerspezifische Setting Ansätze werden sich beispielsweise auf Sport und Arbeit als vorwiegend typische Männerarenen beziehen. In der Tat treiben Männer generell mehr Sport als Frauen (Brähler/Merbach 2002: 137), Doping und Hooliganism sind suchtspezifische maskuline Begleiterscheinungen und die zentrale Rolle des Körpers auch für den Mann ist bereits zur Sprache gekommen. Dementsprechend bieten sich auf Sport bezogene Kontexte für Männerprävention geradezu an. Nichts desto trotz lag der Schwerpunkt der Projektphilosophie der Schweizer Sportprogramme in der Therapie von Drogenabhängigkeit (Start – Mach mit plus) auf der Kompensation frauenspezifischer Defizite. So heißt es, ganz im Gegensatz zu den oben angestellten Überlegungen apodiktisch: „Er (der Sport in der Drogentherapie, Anmerkung des Verfassers) ist anzugehen unter dem Aspekt einer frauengerechten Drogenarbeit“ 67
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0–30 g, Frauen: > 0– 20 g), • riskanten Konsum (Männer: > 30–60 g, Frauen: > 20–40 g), • gefährlichen Konsum (Männer: > 60–120 g, Frauen: > 40–80 g) und • Hochkonsum (Männer: > 120 g, Frauen: > 80 g) Entlang dieser Grenzen können Konsumrisiken anschaulich gemacht werden. Das Totalverbot von Alkohol kann für viele der Zielgruppe trinkender Männer so hochschwellig sein, es geht darum brauchbare, in die Praxis überführbare Teilschritte zu formulieren, mehr Kontrolle über den eigenen Alkoholkonsum zu erlangen. Studien und Praxisentwürfe zur Förderung der Veränderungsmotivation sind daher von großer Bedeutung (vgl. Reiners 2004). Ein interessantes Projekt wird von Bärbel Schäfer beschrieben. Es geht um eine realitätsangemessene Betreuung Alkoholkranker in einem Pflegeheim unter Einbeziehung‚ individuell festgelegter Alkoholzuteilung in einem Pflegeheim. Aus der praktischen Notwendigkeit der Unterbringung alkoholkranker Pflegebedürftiger heraus wurde das Konzept entwickelt, „fremd bestimmtes kontrolliertes Trinken“ als ein Element des Betreuungskonzeptes anzubieten. Dieses Konzept ist wissenschaftlich begleitet und fußt auf der Grundlage „autonomer Abstinenzunfähigkeit“: Eine eigenständige, bewußte willensmäßige Steuerung des Alkoholkonsums ist bei diesem Personenkreis nicht mehr möglich. Für die alkoholkranken Bewohner gilt darüber hinaus: 1. Reduktion der Trinkmenge, ggf. der Trinkexzesse, 2. Führung zu langen alkoholfreien Perioden, 3. Bearbeitung von Rückfällen zwischen diesen Perioden, 4. Abstinenz, 5. Bearbeitung von Rückfällen (Schäfer 2004).
Fazit Das Konzept harm reduction ist in der Vergangenheit hauptsächlich auf die KonsumentInnen illegaler Drogen angewandt worden. Es eignet sich besonders für Menschen, die gegenwärtig nicht, nicht mehr oder noch nicht in der Lage sind abstinent zu leben. Es eignet sich aber auch besonders als „Ansprachekonzept“ für Männer, weil das sperrige Konzept 125
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„Abhängigkeit“ nicht zentral in den Vordergrund der Ansprache und Hilfen gerückt wird. Es geht zunächst um den Kontakt und erst in der Entwicklung der Betreuung um weiterführende Hilfen. Dies kann ein Weg sein insbesondere bei Jungen und Männern, eigene Autonomieansprüche nicht unmittelbar durch Abhängigkeitskonstruktionen aufgeben zu müssen.
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ÄLTERE MÄNNER, DROGENKONSUM UND SUCHT
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Sinn und Funktion e xzess ive n Drogengebrauchs bei männlichen Jugendlichen – zw ischen Risikolust und Kontrolle ANDREAS HAASE UND HEINO STÖVER
Einleitung Neueste Zahlen zur Drogenaffinität Jugendlicher in der Bundesrepublik Deutschland belegen, dass trotz eines Rückganges von ca. 5% 12- bis 17-jährige männliche Jugendliche noch immer zu fast 22% einmal in der Woche Alkohol konsumieren. Weibliche Jugendliche tun dies nur zu gut 13%. Damit trinken 9% mehr Jungen als Mädchen einmal wöchentlich Alkohol (2008). Auch riskanter Alkoholkonsum in Form von Binge-Drinking findet häufiger bei männlichen als bei weiblichen Jugendlichen statt. So haben in den letzten 30 Tagen 23% männliche jugendliche, aber nur ca. 18% weibliche Jugendliche mindestens einmal Rauschtrinken praktiziert. Der Begriff „Binge Drinking“ beschreibt den exzessiven bzw. übermäßigen Alkoholkonsum zu einer bestimmten Gelegenheit, welcher auch den Alkoholrausch impliziert. Diese Form des Alkoholkonsums wird als Rauschtrinken oder umgangssprachlich unter anderem als „Komasaufen“ bezeichnet. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) versteht unter „Binge Drinking“ den Konsum von fünf und mehr alkoholischen Standardgetränken zu einer Gelegenheit. Auch beim Konsum von Cannabis ist ein deutlicher Unterschied im Konsumverhalten zwischen männlichen und weiblichen Jugendlichen zu erkennen. Ergebnisse aus dem „Hamburger Schulbus“ zeigen, dass der
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ANDREAS HAASE UND HEINO STÖVER
Konsum von Cannabis innerhalb der befragten Population im Vergleich zu den Vorjahren spürbar zurückgegangen ist und das Alter des Erstkonsums von Cannabis im Vergleich zum Vorjahr wieder ansteigt. Seit 2004 ist die 30-Tage-Prävalenz des Cannabiskonsums in Hamburg bei den männlichen Befragten von 22% auf 13%, bei den Mädchen und jungen Frauen von 13% auf 7% gesunken (Abbildung 2.3). Die Lebenszeitprävalenzen sanken im selben Zeitraum von 46% auf 33% (Jungen und junge Männer) bzw. 35% auf 22% (weibliche Befragte) (Baumgärtner 2008).
Abb. 1. Lebenszeit- und 30-Tage-Prävalenz des Cannabiskonsums bei Hamburger Jugendlichen; Quelle: REITOX-Bericht für Deutschland 2008. Die Frage, die sich stellt ist: Wie kommt dieses unterschiedliche Konsumverhalten zwischen männlichen und weiblichen Jugendlichen zustande und wie ist dieses zu erklären? In dem weiteren Artikel beschränken wir uns auf die Jungen und männlichen Jugendlichen und werfen einige Blitzlichter mit Blick auf den möglichen Sinn und die Funktion ihres exzessiven Drogengebrauchs.
Drogen machen Sinn: auch zur Konstruktion von Geschlechtsidentität „Drogengebrauch ist Grenzgang zwischen Zivilisation und Wildnis, nicht Auswanderung. Nicht indem wir ein anderer werden und bleiben, erfahren wir, wer wir sind, sondern indem wir die Grenzen unserer gewohnten Lebenswelt überschreiten, um als Veränderte zurückzukehren.“ (Marzahn 1994: 46) 130
SINN UND FUNKTION EXZESSIVEN DROGENGEBRAUCHS MÄNNL. JUGENDLICHER
Dieser Grenzgang wird von der sozialen und kulturellen Geschlechterkonstruktion bestimmt. Was erwarten wir in der „Zivilisation“ von Jungen und Männern und welche „Wildnis“ (gleichzusetzen mit Wild-Sein, Kreativität, Unbeugsamkeit) gestehen wir ihnen zu? Wann und wie oft, mit welchen (Sucht-)Mitteln und welcher Art? Über die „Zivilisation“ und die Erwartung hoher Kontrolle der Affekte bei Männern, und das Stark-Sein-Müssen ist viel geschrieben worden. Der amerikanische Psychotherapeut Herb Goldberg benannte 1979 die sieben maskulinen Imperative von Männlichkeit: … je weniger Schlaf ich benötige, … je mehr Schmerzen ich ertragen kann, … je mehr Alkohol ich vertrage, … je weniger ich mich darum kümmere was ich esse, … je weniger ich jemanden um Hilfe bitte und von jemand abhängig bin, … je mehr ich meine Gefühle kontrolliere und unterdrücke, … je weniger ich auf meinen Körper achte, … desto männlicher bin ich. Es liegt die Vermutung nahe, dass je stärker die Affektkontrolle ist, desto mehr prägen diese Imperative auch die Erfahrungen und die Inanspruchnahme der „Wildnis“. So finden männliche Jugendliche und Männer immer wieder Ventile und Möglichkeiten archaische Gefühle in bestimmten Situationen zu erleben: Aggression, Gewalt und alle Formen von Intensitäten werden ausgelebt oder der alltägliche Zeitdruck einfach durch „das sich treiben lassen“ aufgehoben. Drogen bieten dabei ideale Medien und Foren und unterstützen diese Erfahrungen. Sie machen Sinn in diesem Konzept, um verborgene, verschüttete und verloren geglaubte Anteile (wieder) erfahren und ausleben zu können: Der Anzugträger, der alkoholisiert im Fußballstadion wüste Beschimpfungen und Drohungen gegenüber anderen Männern ausstößt, aber später bei der Freundin den Latin-Lover gibt. Kollektiver Tor-Jubel, bei dem sich wildfremde Männer in die Arme fallen und küssen, kann mit einem Male ohne Angst vor Homosexualität geschehen. Sehr viele positiv besetzte männliche Erfahrungen sind gleichzeitig auch drogenbesetzt. Wir müssen nur Bundeswehrveteranen zuhören, wenn sie von ihren „Heldentaten“ berichten. Schauen wir auf männliche Erfahrungen aus der Jugendzeit: kaum auszudenken wie langweilig viele Lebensläufe verlaufen wären, hätte da nicht „König Alkohol“ (zeitweise)
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regiert, oder wären da nicht gefährliche Situationen der Drogenbeschaffung, des Drogenkonsums und der Folgen zu bestehen gewesen. Selbst komatöse Zustände, in denen sich Männer als „hilflose Personen“ befinden (z.B. betrunken im Schnee), geben in der Konstruktion von Männlichkeit noch Sinn: Sie lassen sich auch mal retten – kurz vorm Erfrieren! Aber auch sehr viele negative Erfahrungen sind drogenbesetzt: Ausbrüche häuslicher Gewalt, allgemein Gewalt der Partnerin/dem Partner gegenüber, Opfer/Täter von Gewalthandlungen mit anderen Männern, polizeiliche Auffälligkeiten, scham- und schuldbesetzte Verhaltensweisen und Handlungen. Drogen spielen in diesen Prozessen der Konstruktion von Geschlechtsidentitäten eine herausragende Rolle als Demonstrationsmittel von Stärke und Macht, als Anti-Stressmittel, als Symbol von Grenzüberschreitung und Gefährlichkeitssuche, als Kommunikations- oder Rückzugsmittel oder als soziales „Schmiermittel“. Dies alles ist ein Teil von männlicher Geschlechteridentitätskonstruktion gerade und vor allem mit Drogen, „doing gender with drugs“: Der Drogenkonsum als Geschlechtsidentität bildende Handlung stellt diese im alltäglichen Handeln ständig neu wieder her und verfestigt sie damit. Die Bedeutung der Drogen an diesen Prozessen des „doing gender“ wird allgemein noch unterschätzt, zumindest nicht entsprechend gewürdigt. Die Erfahrungen der Jungen und Männer werden von ihnen in der Regel zu „heldenhaft“ beschrieben, um die tiefer liegende Bedeutung wahrzunehmen und nicht gleich wieder abzutun. Negativen Erlebnisse werden zudem eher ganz verschwiegen und verdrängt und somit als Geschlechtsidentität bildende Erfahrungen nicht wahrgenommen oder genutzt. Hinzu kommt, dass im gesellschaftlichen Sprachgebrauch zwischen Verherrlichung und Verteufelung bisher wenig drogenbezogene Alltagsdiskurse bestehen und somit eine Rauscherfahrung sprachlich nur ungenau und wenig differenziert von Jungen und Männern beschrieben werden kann. Im Laufe der Biographie, von jung bis alt, erfüllt der Drogenkonsum im Prozess der Konstruktion von Männlichkeiten verschiedene Funktionen. Der Konsum psychotroper Substanzen, ob gelegentlich oder dauerhaft, moderat oder exzessiv, allein oder in Gruppen scheint für viele Jungen und Männer ein probates Mittel der Erlebnis- und/oder Gefühlssteige132
SINN UND FUNKTION EXZESSIVEN DROGENGEBRAUCHS MÄNNL. JUGENDLICHER
rung. Die Grenzen des Wachbewusstseins werden im Rausch aufgehoben und Erfahrungen im Rauschzustand intensiver (Freude und Leid, Kollektivität, Gefahren) erlebt. Begegnungen und Aktivitäten werden nur unter Drogeneinfluss begonnen und durchgeführt (z.B. Feste feiern, Tanzen). Die Steigerung des Zugehörigkeitsgefühls wird durch neue Gemeinschaftserfahrungen möglich. Sind z.B. „Komasaufen/Kampftrinken“ oder Kiffen in der Gruppe eher kritisch zu sehen, so können andere Situationen ein verlorenes Zusammengehörigkeitsgefühl durch das gemeinsame Konsumieren von Alkohol oder Cannabis wieder herstellen. Die Szene in dem Düsseldorfer Tatort (1997), in dem der Schauspieler Martin Lüttge alias Kommissar Flemming mit seinem pubertierenden und rebellierenden Sohn im Auto einen Joint raucht, hat dabei Vorzeigecharakter. Doch der Grad zwischen positiven und grenzüberschreitenden Kollektiverfahrungen ist schmal. Gleichwohl sind es gerade diese Situationen unter Jungen und Männern, die die männliche Geschlechteridentität herausbildet und verfestigt. Darüber hinaus konsumieren Jungen und Männern vor allem Drogen auch, um Sprachlosigkeit, Ohnmacht, Isolation, Bedeutungsverlust, Armut oder Sinnlosigkeit für einige oder längere Zeit zu bewältigen. Drogen auf Dauer genommen stellen für die Konsumenten einen schwierigen Balanceakt dar: Der ursprüngliche „Kick“ und „Kitzel“, die oft als sensationell erlebte Ursprungserfahrung der ersten Male ist irgendwann vorbei. Substanzen müssen nun routinierter und gewohnheitsmäßiger eingenommen und von Jungen und jungen Männern in das Alltagsleben integriert werden. „I took more out of the alcohol than the alcohol took out of me“, sagte einmal Winston Churchill. Diese individuelle Kostenrechnung müssen alle Konsumenten von Drogen mit sich selbst aufstellen. Auf Dauer genommen verschärfen sich jedoch viele Probleme durch nicht mehr zu ignorierende gesundheitliche, familiäre, finanzielle, soziale oder rechtliche Folgen. Epidemiologisch betrachtet sind Jungen und Männer bei Problemen resultierend aus Alkohol- und Drogenabhängigkeit besonders stark betroffen. Auch wenn sich in einigen Bereichen Angleichungen zwischen den Geschlechtern ergeben (z.B. Tabakkonsum), so sind intensivere, „härtere“ Konsummuster zumeist bei Jungen/Männern zu finden.
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Pathologisierung Drogenkonsum macht also für Jungen und Männer Sinn. Doch Drogen und insbesondere Alkohol und Cannabis scheinen so eng mit Männlichkeiten verbunden zu sein, dass diese Selbstverständlichkeit in der öffentlichen Diskussion kaum noch in Frage gestellt wird. Aktuelle Prozesse verdeutlichen allerdings etwas anders: Das Thema Tabakkonsum bei männlichen Jugendlichen zeigt, dass wir hier eine Veränderung sehen, dergestalt, dass sich der Konsum bei männlichen Jugendlichen deutlich verringert, und die noch vor wenigen Jahren für unzertrennbar gehaltene Einheit von „Mann und Kippe“ auseinander bricht. Trotz aller Hysterie um Rauchverbote und die Wahrnehmung von RaucherInnen ist diese Veränderung vor allem mit Mitteln der Aufklärung, Information und Reorganisation öffentlicher Räume und deren Benutzungsordnung erreicht worden. Auch gegenüber dem Kampf- und Komatrinken lässt sich zwar eine erregte Debatte feststellen, aber auf dem Boden allgemeiner Akzeptanz des Alkoholkonsums fällt diese Debatte noch relativ harmlos und wenig schädigend für die Zielgruppe aus. Doch wie kommt diese Akzeptanz für den Alkoholkonsum? Auch sie ist ein Teil des „doing gender“, der eine männliche Identität prägt und verfestigt, die eher in den bildungsfernen Schichten der Gesellschaft vorhanden ist. Wie soll ein Junge lernen, Situationen wie Feste und Feiern positiv zu konnotieren, wenn der Vater und die männlichen Freunde und Verwandte ungezwungen Alkohol konsumieren? Dem Jungen wird intensiv vorgelebt, das Alkohol zum „ganzer Mannsein“ dazugehört, sei es auf dem Fußballplatz, im Sportverein, bei der Feuerwehr oder in der Peer-Group. Von der Werbung ganz zu schweigen. Anders bei den illegalen Drogen: das Fremde, das doch mittlerweile bei Cannabis stark heimisch geworden ist, fasst man die hohen Lebenszeitprävalenzen zusammen, macht immer noch Angst. Dieses hat eine Pathologisierung statt eines Verständnisses für Entwicklungszusammenhänge Jugendlicher zur Folge: Pressemiteilungen der Bundesdrogenbeauftragten etwa sprechen davon, dass Cannabiskonsumenten und -konsumentinnen immer jünger werden, oder der Cannabisgebrauch überall in Europa zunehme (Pressemiteilung vom 30.11.2004 Bundesministerium für Gesundheit und soziale Sicherung) – was beides der Grundlage entbehrt. Diese politischen und eindeutig Interessen geleiteten Verlautbarungen, die oftmals die Grundlage für weitere Dramatisierungs- und Pathologisierungsentwicklungen geben, sind empirisch nicht haltbar. Sie werden auch nicht gestützt durch die Ergebnisse aus der Be134
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handlungsforschung, zumal die einfache Übertragung einer „Abhängigkeitsdefinition“ auf oftmals minderjährige Cannabiskonsumenten und -konsumentinnen nicht statthaft ist.
Kriminalisierung Das Verbot des Umgangs mit illegalen Substanzen durch das Betäubungsmittelgesetz (BtmG) kriminalisiert die Gebraucher von Cannabis – und bei dem Erwischtwerden drohen überdies Schulverweis, Führerscheinentzug und massive Probleme im Elternhaus, Schule oder in der Lehre. Massive familiären Probleme oder der Ausschluss aus dem Jugendfreizeitheim drängen Cannabis konsumierende Jugendliche nicht nur weiter ins Abseits, sondern tragen ihrerseits einen großen Anteil daran, dass eine offene und (selbst-)reflexive Diskussion über den Gebrauch und über die positiven und negativen Seiten von Cannabis verhindert wird. Diese (selbst-)reflexive Diskussion muss dabei auch und gerade die Herstellung der männlichen Geschlechtsidentität durch eine solche Kriminalisierung mit in den Blick nehmen. Mit der Ausgrenzung von Cannabiskonsumenten wird der Konsum seiner Thematisierbarkeit beraubt, d.h. mit zunehmender Problemzuschreibung werden Tabuisierungsprozesse in Gang gesetzt, die allen Hilfe- und Unterstützungsbemühungen zuwiderlaufen. Cannabis-Konsum wird potenziell zum Makel, gepaart mit der Illegalität zu einem Problemattribut, das im auf Vertrauensbildung angelegten Erziehungsprozess eine negative Funktion einnimmt: Jugendliche CannabisKonsumenten allgemein und Jungen insbesondere vertrauen sich aus Angst vor einer Störungs- oder zumindest Defizitzuschreibung und „Ausrufung“ eines Beratungs- und Behandlungswunsches den Eltern und Erziehern nicht (mehr) an. Dadurch werden Peer-Groups immer wichtiger, die jedoch von Präventions- und Hilfestrategien (noch) nicht (genügend) angesprochen werden. Dies betrifft insbesondere männliche Jugendliche, die über geringere Kommunikationskompetenzen verfügen. Hier fehlt es an jungen-/män nerspezifischen Materialien primärer und sekundärer Prävention. Zudem verstärkt der Hinweis auf den (vermeintlichen) Kontrollverlust, der mit der augenblicklichen Dramatisierungsdebatte transportiert wird, bei den meisten Jungen und Männern die Blockade, zu reden und sich zu öffnen. Dadurch wird der in der männlichen Sozialisation stark gefragte und erwünschte Aspekt der Kontrolle über Zustände, Umstände und Verläufe den Konsumenten abgesprochen. Dieses wiederum trifft einen wesentlichen identitätsstiftenden Teil der Konstruktion von Männlichkeiten: die 135
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Autonomie des Handelns. Wenn jedoch Kontrollverlust unterstellt wird, wird mehr als nur der Kontrollverlust gegenüber Cannabis gegeißelt – es geht gleichzeitig um einen zentralen Aspekt der Männlichkeitskonstruktion: die Kontrolle und Autonomie wird abgesprochen. Deshalb ist das Suchtkonzept, das heute leicht diesem doch sehr passageren Verhalten „Cannabisgebrauch“ übergestülpt wird, enorm schädlich. Weil das Suchtkonzept eine Totalität beinhaltet, die die gesamte Persönlichkeitsäußerungen, alle sonstigen Fähigkeiten und Interessen des Jungen/jungen Mannes/Mannes ausblendet und ihn reduziert auf einen Status „Sklave der Droge, Opfer der Händler“, und die Persönlichkeit der Sucht unterordnet. Sucht also als sperriger Zuschreibungsbegriff unterminiert Autonomiebewegungen, Selbsthilfe und Selbstheilungskräfte Dies kann dazu einladen, sich nach dem zugeschriebenen Label zu verhalten – im Sinne einer „Sich-Selbst-Erfüllenden-Prophezeihung“ – und das Angebot einer abweichenden Identität anzunehmen und sich künftig in der Rolle des bewusst deviant Verhaltenden zu begeben. Es ist anzunehmen, dass diese gesellschaftlichen Nebenwirkungen des Konsums für die allermeisten Konsumenten weitaus dramatischer und einschneidender sind, als ihr eigenes Konsumverhalten bzw. die eigentlichen Wirkungen der Droge.
I n t e r ve n t i o n e n Was wir wissen ist, dass alters-, geschlechts- und kulturspezifische Ansätze dann erfolgreich in der Prävention und Suchthilfe sind, wenn sie lebensweltnah und zielgruppenspezifisch gestaltet werden. In einem gesundheitsförderlichen Sinne – und das drängt sich bei Cannabiskonsumenten und -konsumentinnen geradezu auf – müssen die Selbstheilungskräfte mobilisiert und unterstützt werden. Von-Gleich-zu-GleichMethoden (peer-support) eignen sich dabei in besonderer Weise. Verkrankungsstrategien, die den Cannabiskonsumenten zu einem passiven Objekt professioneller Intervention machen, sind nicht geeignet Betroffenenkompetenz aufzubauen, die im Sinne von Nachhaltigkeit jedoch benötigt wird. Noch sind die Fähigkeiten, Ressourcen und Aussichten diese Problematik zu bewältigen bei vielen männlichen Jugendlichen unterentwickelt – angefangen bei der geringeren und oft sehr späten Inanspruchnahme von Hilfeangeboten. Damit einhergehend ist eine gefühlte und gefürchtete Erosion des eigenen Männlichkeitskonzeptes. Doch nicht nur die Jungen, auch das soziale Umfeld wie Elternhaus, Schule, Freizeitheim etc. muss mit in Präventionsstrategien einbezogen 136
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werden. Für Eltern und Professionelle ist es wichtig, den Sinn und die Funktion des Drogenkonsums bei den Jungen zu erkennen. Erste Ansätze einer systemischen Betrachtung sind in dem Projekt INCANT enthalten. Zielgruppe für die Behandlung sind Jugendliche mit Cannabisproblemen zwischen 13 und 18 Jahren und deren Familien oder andere Bezugspersonen. Ziel des Therapieprogramms ist es, den Jugendlichen und ihren Eltern oder Bezugspersonen bei der Lösung der cannabisbezogenen Probleme zu helfen. Dabei gilt es nicht nur jugendliches Suchtverhalten zu überwinden, sondern auch damit zusammenhängende psychische, soziale und familiäre Probleme zu lösen. Einen solchen Ansatz um den Teil einer geschlechtsspezifischen Betrachtung zu erweitern wäre sinnvoll. Die Frage an Konsumenten nach dem Zusammenhang ihrer Männlichkeitsvorstellung und ihres Suchtverhaltens öffnet bei vielen von ihnen einen neuen Blick auf den Sinn und die Funktion, mit der sie Drogen konsumieren oder konsumiert haben. Es geht dabei auch und im Besonderen darum, mit den Jungen in Kontakt zukommen. Nicht die Verbote der Eltern oder der Bezugspersonen helfen den Jungen weiter, sondern das auf sie zugehen. Es gilt Beziehungsarbeit zu leisten: Beziehungen nicht nur herstellen, sondern diese zu halten, zu belasten und klären zu können. Eltern, die Sorge um ihre Söhne haben, sollten genau dieses ihren konsumierenden Jungen mitteilen, anstatt nur Verbote auszusprechen. Unter der Annahme, dass Gefühle auszudrücken nicht nur den konsumierenden Jungen schwer fällt, sondern auch den Vätern, wird hier das Dilemma offensichtlich: Beide, Vater wie Sohn, verfestigen auf ihre Weise eine männliche Geschlechteridentitätskonstruktion, der eine durch die nicht mögliche Aussprache seiner Gefühle, der andere durch den Konsum der Drogen. Dieses Muster einer männlichen Geschlechteridentitätskonstruktion gilt es für alle Beteiligte zu erkennen und in Therapie- und Beratungsansätzen zu integrieren und umzusetzen. Daher sollten Gendertrainings zur Erlangung einer Genderkompetenz für in der Suchthilfe arbeitenden Professionellen zur Standard-Fortbildung werden.
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Literatur Baumgärtner, Th. (2008): Verbreitung und Hintergrunde des Konsums von Rauschmitteln bei Hamburger Jugendlichen und jungen Erwachsenen 2007/08. Hamburger SCHULBUS -Schüler- und Lehrerbefragung zum Umgang mit Suchtmitteln. Hamburg: Büro für Suchtprävention der Hamburgischen Landesstelle für Suchtfragen e.V. Goldberg, H. (1979): Der verunsicherte Mann, Rowohlt-Verlag, Reinbek bei Hamburg. Marzahn, Chr. (1994): Plädoyer für eine gemeine Drogenkultur. In: Bene tibi: über Genuss und Geist. Bremen: Edition Temmen, S. 46. Projekt INCANT: internationales Therapieforschungsprojekt, www.incant.de. REITOX-Bericht für Deutschland (2008): Neue Entwicklungen, Trends und Hintergrundinformationen zu Schwerpunktthemen: Drogensituation 2007/2008. WDR (1997): Tatort „Brüder“, Ausstrahlung am 23.03.1997, ARD.
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II. P R AXIS
Genderkompetenz als Bestandteil von männerspezifischer Suchtarbeit ANDREAS HAASE
Die Bedeutung des Geschlechts in der Gesellschaft im Allgemeinen und in der Suchtarbeit im Besonderen ist schon seit geraumer Zeit offensichtlich. Dennoch fällt auf, dass der männerspezifischen Suchtarbeit in den Einrichtungen noch nicht sehr differenziert nachgegangen wird. • Was muss geschehen, damit männerspezifische Suchtarbeit entwickelt und umgesetzt wird? • Welchen Einfluss haben Führungs- und Fachkräfte auf die Realisierung von Genderkompetenz und wie kann diese erlernt werden? • Sind Gendertrainings oder -workshops als Lernsituation geeignet, Genderkompetenz als Bestandteil von männerspezifischer Suchtarbeit zu vermitteln?
Die geschlechterpolitische Strategie „Gender Mainstreaming“ Als Genderkompetenz wird das Wissen über das Entstehen und die soziale Konstruktion von Geschlechterrollen und Geschlechterverhältnissen, sowie die Fähigkeit zur Reflexion von (eigenen) Geschlechterrollenbildern bezeichnet. Außerdem sollte dieses Wissen zur Anwendung von Gender als Analysekategorie im beruflichen und im organisationalen Kontext vorhanden sein. Gender Mainstreaming verlangt von den Beteiligten, dass bei allen Planungs-, Entscheidungs- und Umsetzungsprozessen die jeweils spezi-
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fische Lebenssituation von Frauen und Männern ausdrücklich mit beachtet werden muss. Die besonderen Interessen und Bedürfnisse von Frauen und Männern müssen so aufgegriffen werden, dass Chancengleichheit für beide Geschlechter realisiert werden kann. Dafür sind alle verantwortlich, jeder und jede an seinem oder ihrem Platz. Die so europaweit institutionalisierte Aufmerksamkeit für Genderfragen bewirkt, dass die Lebensverhältnisse von Frauen und Männern nicht als naturgegeben und schicksalhaft, sondern als sozial geschaffene erkannt werden, und damit Veränderungen real in Gang gesetzt werden können.
Gender Im deutschsprachigen Raum wird das Wort Geschlecht sowohl für das biologische als auch das soziale Geschlecht benutzt, während das Wort „Gender“ im internationalen Sprachgebrauch ausschließlich das gesellschaftlich, sozial und kulturell geprägte Geschlecht bezeichnet (dazu im Gegensatz „Sex“ als das biologische Geschlecht). Die biologischen Merkmale von Frauen und Männern lassen i.d.R. das Geschlecht eindeutig erkennen. Das gesellschaftlich, sozial und kulturell geprägte Geschlecht basiert im Gegensatz dazu auf Rollenerwartungen, Stereotype und Klischees, die Mädchen oder Jungen zugeschrieben werden, aufgrund dessen, dass sie als Mädchen oder Junge geboren werden. Von einem Jungen wird gesellschaftlich etwas anders erwartet als von einem Mädchen. Diese Zuschreibungen und Erwartungen führen dann zu Aussagen wie „typisch weiblich“ oder „typisch männlich“ und werden vorrangig dem biologischen Geschlecht zugeordnet.
Mainstreaming Das Wort ist abgeleitet aus dem engl. Wort „Mainstream“ (gleich Hauptstrom). Mainstreaming bedeutet, dass das gesellschaftlich, sozial und kulturell geprägte Geschlecht vermehrt in den Blickpunkt genommen werden soll. Bei allen politischen und planerischen Entscheidungen soll die jeweilige Lebenssituation von Frauen und Männer mit berücksichtigt werden, um die Chancengleichheit für Frauen und Männer zu verbessern. Geschlechterpolitik wird damit von der Nebenstrecke auf die Hauptstraße verlagert.
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GENDERKOMPETENZ ALS BESTANDTEIL VON MÄNNERSPEZIFISCHER SUCHTARBEIT
Prägung von Geschlechterrollen Abbildung 1: Prägung von Geschlechterrollen Gesellschaftliche Ebene (z.B. geschlechtsspezifische Arbeitsteilung)
Fachliche Ebene
Individuelle Ebene
(Geschlechterrollen in der Facharbeit, z.B. im Umgang mit Frauen und Männern in der Suchthilfe)
(Geschlechterrollen und -stereotype, die das Verhalten von Männern und Frauen prägen)
Organisationsebene (Arbeitsstrukturen, Beschäftigtenleitbilder, Nachwuchsförderung, Führungskultur)
Geschlechterrollen und -stereotype prägen sich bei jedem Menschen individuell aus. Dabei kommt der Erziehung im Elternhaus, dem Kindergarten und der Schule eine große Bedeutung zu, da die Erziehungspersonen ihre Haltung und Normen zu den Geschlechterrollen – meist unreflektiert – an die Jungen und Mädchen weitergeben. Die Prägung und Haltung zu den Geschlechterrollen basiert u.a. auf die eigene biografische Herkunft, dem Alter, dem Ort, an dem die Kindheit verbracht wurde (Stadt, Land), der religiösen Orientierung, dem Bildungsniveau, aber auch dem politischen System, in dem Frauen und Männer aufgewachsen sind. Darüber hinaus spielt die ethnische Herkunft eine entscheidende Rolle, ebenso wie sie sexuelle Orientierung. Alle diese Kriterien prägen sowohl das Verhalten, welches Männer und Frauen gegenüber anderen Männern und Frauen entgegen bringen als auch die Interaktion zwischen den Geschlechtern. Diese unterschiedlichen Verhalten zwischen den Geschlechtern werden im alltäglichen Handeln ständig hergestellt und damit verfestigt. Dies wird „Doing Gender“ genannt. Die Rollenerwartungen an Männer und Frauen werden dabei nicht nur unterschiedlich bewertet, sondern auch hierarchisiert, indem Männern Eigenschaften wie z.B. Stärke, Aktivität, Unabhängigkeit, Frauen dagegen Eigenschaften wie z.B. Schwäche, Passivität, Abhängigkeit und Ängstlichkeit zugeschrieben werden. Das Geschlecht spielt eine große Rolle – und das nicht erst mit der Geburt, sondern oftmals schon lange vorher. Eltern stellen sich vor, wie und was ihr Sohn oder ihre Tochter einmal sein wird. Das verbalisierte „Anforderungsprofil“ an Jungen und Mädchen hat sich in den letzten Jahren ziemlich angeglichen. Gleichwohl zeigt sich im alltäglichen 143
ANDREAS HAASE
Handeln immer noch der Einfluss traditioneller Geschlechterrollenbilder – von den handelnden Personen selbst in der Regel unbemerkt Dieses „unbemerkte“ Handeln geschieht nicht nur in der privaten Umgebung, sondern auch auf der Organisationsebene des Arbeitsumfeldes (in der Suchthilfe z.B. in der Interaktion zwischen Therapeut und Klient). Arbeitsstrukturen, Beschäftigtenleitbilder und Führungskultur sind dadurch geprägt und derzeit meistens noch männlich konnotiert. Ebenso ist davon auszugehen, dass ein „Doing Gender“ auch in Bereichen der Arbeitwelt vorhanden ist. Gerade in den sozialen und pädagogischen Arbeitsfeldern ist es von besonderer Bedeutung, da geschlechterbezogenes und -sensibles Handeln der Fachkräfte unmittelbare Auswirkungen auf Männer (und Frauen) hat, im positiven wie im negativen Sinne. Es ist zu erkennen, dass die Ausprägung der eigenen Geschlechterrolle durch vielfältige Einflüsse entsteht, und immer wieder auf privater, gesellschaftlicher und politischer, sowie der beruflichen (organisationaler als auch fachlicher) Ebene verfestigt wird.
Gender Mainstreaming und männerspezifische Suchtarbeit Von Chancengleichheit für Frauen und Männern in der Gesellschaft kann noch nicht gesprochen werden, auch nicht in der Suchthilfe. Genau hier setzt die geschlechterpolitische Strategie „Gender Mainstreaming“ an: die Suchthilfe mittels Genderanalyse differenziert zu betrachten und als Folge, präzise und wirkungsvolle Maßnahmen zu entwickeln. Gender Mainstreaming ist eine innovative Herangehensweise, bei der in allen Lebensbereichen die Geschlechterfrage – neben z.B. anderen Sachfragen und Wirtschaftlichkeitsüberlegungen – mit gestellt wird. Gender Mainstreaming bewirkt eine weitreichende Kulturveränderung in der Gesellschaft und in Organisationen hin zu mehr Chancengleichheit und Geschlechtergerechtigkeit. Gender Mainstreaming zielt damit nicht nur auf emanzipatorische Veränderungen individueller Lebenssituationen ab, sondern nimmt auch Ungleichheiten (Benachteiligungen bis hin zu Diskriminierungen) in den gesellschaftlichen Strukturen als veränderungswürdig in den Blick. Bezogen auf die männerspezifische Suchtarbeit ergeben sich z.B. folgende Fragestellungen: • Mit welchen Geschlechterrollenbildern wird gearbeitet und was haben diese für Auswirkungen auf die Männer? 144
GENDERKOMPETENZ ALS BESTANDTEIL VON MÄNNERSPEZIFISCHER SUCHTARBEIT
• •
•
Wie äußern sich männliche Selbstbilder im Beratungsprozess? Wie kann eine gendergerechte Suchthilfe entwickelt werden, die die unterschiedlichen Bedürfnisse und Lebenssituationen von Männern (und Frauen) berücksichtigt? Passen die Methoden und Angebote in Prävention, Beratung und Therapie zu den Ressourcen und Bedürfnissen von Männern? In welcher Wechselwirkung steht hat das Geschlecht der Professionellen in der Arbeit mit den männlichen Klienten? Was muss in den Einrichtungen organisatorisch geschehen, dass die beste Konstellation zum Wohle und Entwicklung der Klienten zu Stande kommt?
Männerspezifische Suchtarbeit setzt auf verschiedenen Ebenen an. So müssen folgende (Handlungs-)Ebenen, auf denen das Geschlecht eine Rolle spielt, bei der Umsetzung einer männerspezifischen Suchthilfe bedacht werden. Abbildung 2: Das Geschlecht spielt eine Rolle
Identität
Interaktion
Normen, Werte, Zuschreibungen
Strukturen und Regeln in Institutionen
Identität Die Identität bezieht sich sowohl auf den Klienten, als auch auf den Therapeuten, bzw. die Therapeutin. Wer bin ich als Mann? Was ist mein biografischer Hintergrund? Auf Seiten des Therapeuten oder Beraters ist eine personenbezogene Gendersensibilität gefragt, mit der er immer wieder kritisch und reflektiert hinterfragt, wie er anderen Männern und Frauen gegenüber tritt. Hilfreich erscheint es, sich über die eigene Identität mit Kollegen und Kolleginnen auszutauschen. Gendersensibilität ist ein Teil von Professionalisierung der eigenen beruflichen Praxis.
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ANDREAS HAASE
Abbildung 3: Anforderungen an das Fachpersonal
Klienten Therapeut / Therapeutin
Struktur /
Was bringe ich mit? • eigener biographischer Hintergrund als Mann/Frau • Projektionen und Zuschreibungen zu Geschlechterrollen, Wünsche • berufliche und persönliche Lebenserfahrung • Einstellungen / Haltungen • Unsicherheiten • ...
Selbstversuch und Reflexion Weiß ich stets, was ich tue • Methoden planen, ausprobieren, nachbereiten • Erfahrungsaustausch (Kollegen, gemischtgeschlechtliche AGs) • relevante Literatur • Fortbildung • ...
Fachpersonal
Interaktion Welche Einstellungen habe ich gegenüber anderen Männern und gegenüber Frauen? Wie gehe ich mit ihnen, z.B. in der Beratungssituation um? Mache ich Unterschiede zwischen Männern und Frauen? Wie gestalte ich Beziehungen? Es bedarf in der männerspezifischen Suchtarbeit sowohl der Wahrnehmung der sozialen Geschlechtlichkeit des Klienten, als auch der Wahrnehmung der eigenen Geschlechtlichkeit – als Berater / Therapeut im beruflichen Kontext, wie auch aufgrund des eigenen biografischen Hintergrundes.
Normen, Werte, Zuschreibungen Wie ist die Einrichtung entstanden? Wer hat sie gegründet? Welche Leitbilder liegen der Arbeit zugrunde (z.B. christliche, humanistische)? Welche Normen und Werte herrschen in der Einrichtung vor, bzw. haben sich bei jedem Akteur verinnerlicht? Ist z.B. die in der Gesellschaft vorherrschende Norm der „Heterosexualität“ auch in der Einrichtung vorrangig? Was geschieht bei abweichendem Verhalten? Welche Zuschreibungen werden gegenüber einer Gruppe von Männern (z.B. mit Migrationshintergrund) unbewusst vorgenommen?
Strukturen und Regeln in den Einrichtungen der Suchthilfe Sind die Strukturen in der Einrichtung schon geschlechtergerecht? Wer besetzt die Führungspositionen und welche „Botschaft“ hat das wiederum auf die Klienten? Gibt es eine geschlechtsspezifische Arbeitsteilung, die eher den traditionellen Geschlechterrollenbildern entspricht? Wer arbeitet Vollzeit, wer Teilzeit? 146
GENDERKOMPETENZ ALS BESTANDTEIL VON MÄNNERSPEZIFISCHER SUCHTARBEIT
Im (Arbeits-)Verhältnis der Geschlechter spiegelt sich i.d.R. die hierarchisch-dualistische Gesellschaftsstruktur wider, die männliche Lebenswirklichkeit höherwertig und die weibliche Lebenswirklichkeit dagegen als minderwertig festlegt. Dadurch wird das traditionelle Geschlechterverhältnis zum herrschenden System auf allen Ebenen des menschlichen Miteinanders. Männerspezifische Suchtarbeit trägt langfristig dazu bei, dieses hierarchische Geschlechterverhältnis zugunsten der Gleichberechtigung und Egalität von Frauen und Männern abzulösen.
I m p l e m e n t i e r u n g vo n m ä n n e r s p e z i f i s c h e r Suchtarbeit Um männerspezifische Suchtarbeit unter Zuhilfenahme von Gender Mainstreaming erfolgreich anzuwenden und umzusetzen, sind einige Voraussetzungen in den Institutionen notwendig: • Die Führung zeigt sichtbares Engagement. Jede Entscheidung der Führung wird unter geschlechtsspezifischen Aspekten getroffen. Daten werden grundsätzlich geschlechterdifferenziert erhoben und ausgewertet, um so die anhaltend hohe Bedeutung der Geschlechterfrage zu vergegenwärtigen. Zugleich dienen die erhobenen Daten einem ersten Umsetzungsschritt. • Es werden Kriterien zur Bewertung geschlechtsspezifischer Daten entwickelt. • Auf jeder Ebene (Leitung, mittlere Führungsebene, Sachbearbeiter etc.) wird „Gender-Kompetenz“ vermittelt. Es finden Fortbildungen über die Lebenssituationen von Männern (und Frauen) sowie über die Ursachen von Unterschieden in gesellschaftlichen, kulturellen, sozialen und beruflichen Bereichen statt. • Eine Steuerungsgruppe, die die Umsetzung einer männerspezifischen Suchthilfe im Kontext der Strategie Gender Mainstreaming vorantreibt und begleitet, wird installiert. • Therapieansätze werden um Erkenntnisse der Genderarbeit erweitert. • Alle Schritte werden transparent umgesetzt.
Trainings, Workshops, Beratung und Coaching Alle Beteiligten – vor allem die Fachkräfte in der Suchthilfe – sollten Genderkompetenz erwerben. Dieses ist vor allem in Gendertrainings und -workshops möglich. Dabei werden die Inhalte der Fortbildungen jeweils auf die Zielgruppe (Führungskräfte, Therapeuten etc.) abgestimmt. 147
ANDREAS HAASE
Ist für therapeutische und pädagogische Fachkräfte vor allem die Reflexion der eigenen Geschlechtlichkeit (u.a. in der Interaktion mit dem Klienten) sinnvoll, sollten Führungskräfte auch zu genderorientierter Personalpolitik geschult werden. In Genderworkshops werden konkrete Umsetzungsschritte zur Implementierung von Gender Mainstreaming sowie therapeutische und sozialpädagogische Maßnahmen unter dem Genderaspekt bezogen auf eine männerspezifische Suchtarbeit vertiefend betrachtet. Dies schließt eine Selbstreflexion der Fachkräfte zur eigenen Geschlechtlichkeit mit ein. In Prozessen zur Umsetzung und Anwendung von Gender Mainstreaming in Organisationen hat sich die externe Begleitung und Beratung durch Genderfachkräfte bewährt. Auch spezielles Coaching der Führungskräfte bezogen auf ihre Rolle während des Umsetzungsprozesses kann als sinnvolle Maßnahme betrachtet werden. Führungskräfte sollten sich daher nicht scheuen, eine entsprechende externe Unterstützung in Anspruch zu nehmen.
Fazit Genderaspekte sind Bestandteil einer männerspezifischen Suchthilfe, doch werden sie noch relativ gering berücksichtigt. Anders ist dies auf der Frauenseite, dort hat der frauenspezifische Blick schon eine längere Tradition. Die Schulung der Fachkräfte und die Umsetzung männerspezifischer Suchtarbeit in den Einrichtungen der Suchtkrankenhilfe sind Maßnahmen, die möglichst zeitnah in Angriff genommen werden sollten. Für Therapeuten und Therapeutinnen ist die eigene Auseinandersetzung mit den Rollenbildern und die Erwartungshaltung gegenüber ihren Klienten ein erster Schritt, sich diesem Thema zu nähern. Männerspezifische Suchtarbeit unterstützt Lern- und Entwicklungsprozesse, sie regt Männer an, ihr Rollenrepertoire zu erkennen und zu erweitern. Von Fachkräften wird dabei erwartet, dass sie ihre unterschiedlichen Verhaltensweisen und Beurteilungen (Zuschreibungen) gegenüber Männern (und Frauen) wahrnehmen, hinterfragen und verändern. Ein geübter Genderblick differenziert die Arbeit an und mit den Patienten (Patientinnen). Dies alles braucht chancengleichheitsfördernde Strukturen in den Einrichtungen der Suchthilfe. Fortbildungen in Form von Gendertrainings tragen dazu bei, die eigene Genderkompetenz zu entwickeln und damit auch die notwendigen strukturellen Veränderungen zu erkennen. 148
GENDERKOMPETENZ ALS BESTANDTEIL VON MÄNNERSPEZIFISCHER SUCHTARBEIT
Zum Schluss noch eine Rückmeldung eines Teilnehmers aus dem Gendertraining im Rahmen der Veranstaltung „Konstruktionen und Krisen von Männlichkeiten im Kontext von Rausch und Sucht“: „... die Fortbildung hat mich in Bewegung gebracht, sie hat Hürden abgebaut und Lust auf mehr gemacht, daran hatte das Gendertraining wesentlichen Anteil. Dafür noch mal Danke.“
Literatur Rudlof, Matthias (2006): Männlichkeit – Macht – Beziehung: Gendersensibilität und Professionalisierung in der Sozialen Arbeit. In: Jacob, Jutta/ Stöver, Heino (Hrsg.) (2006): Sucht und Männlichkeiten, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften, S. 101-118. Blickhäuser, Angelika/Bargen, Henning (2005): Gender-MainstreamingPraxis. Schriften zur Geschlechterdemokratie Nr. 12, Berlin: Heinrich-Böll-Stiftung. Bentheim, Alexander/ Haase, Andreas (2007): Männergesundheit und Gender Mainstreaming. In: Stiehler, Matthias/ Klotz, Theodor (Hrsg.) (2007): Männerleben und Gesundheit, Juventa, Weinheim, S. 261-270.
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Männerspezifische Suchtarbeit – w ie a nf a nge n? HERBERT MÜLLER (CASA FIFELIO.CH)
• • • •
Männerspezifische Suchtarbeit soll sich nicht einseitig defizitorientiert darstellen. Vielmehr sollten die Ressourcen der Männer im Mittelpunkt der Behandlung stehen. Ausgangspunkt ist das „ICH“ als Mann und Therapeut. In der Gruppenarbeit soll eine vertraute Atmosphäre geschaffen werden. Die Sprache ist ein wichtiges Ausdruckswerkzeug. Übungen mit dem Inhalt Gefühle zu benennen, wie Wut, Scham, Schuld, Freude, Interesse, Neugier, Liebe usw. sind wichtig. Klientenorientierte Männerarbeit: Die Männer dort abholen, wo sie stehen (im Schilf, in ihrer überdeckten Unsicherheit). Vertrauen schaffen: erst müssen die emotionalen Barrieren überwunden werden, dann setzt das Sprechen darüber ein (sich frei-sprechen-lernen).
Die Institutionsleitungen sollten Schulungen und Informationsaustausch zum Thema Geschlechtergerechtigkeit ermöglichen und fördern, um das Knowhow ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sicherzustellen.
Was ist nun bisher geschehen, warum ist es so s c hw i e r i g , m ä n n e r s p e z i f i s c h e S u c h t a r b e i t i n d e n I n s t i t u t i o n e n z u ve r a n k e r n u n d z u f ö r d e r n ? Vor der Arbeit mit dem männlichen Klientel steht oder kommt die Arbeit mit dem Team. Schwierigkeiten dabei sind bei größeren Suchteinrichtungen der männerspezifischen Sucharbeit das nötige Gewicht zu
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HERBERT MÜLLER
geben sowie Überzeugungsarbeit zu leisten bei den Verantwortlichen der Institution. Dort herrscht häufig Angst vor Mehrausgaben, zusätzlichen Stellenprozenten, Konzeptüberarbeitungen sowie Unruhe im Alltag der Einrichtung. Dies alles erschwert es, ein hochkompliziertes Schiff auf Kurs zu halten. Den Kapitänen und Steuermännern ist es klar, wie wichtig die Mannschaft ist, wie jeder einzelne sein Handwerk beherrscht und sich auch mit seinem persönlichen Engagement in den Dienst der Sache stellt. Aber die Männer in den jeweiligen Teams holen sich noch zu wenig Unterstützung für ihre Anliegen, die männerspezifische Suchtarbeit zu installieren. Die männerspezifischen Themen werden viel zu oft an einzelne Männer delegiert. Denen geht aus Mangel an Unterstützung von allen Seiten der „Schnauf“ aus.
Was wir dringend tun müssen
• •
Weiterbildungsveranstaltungen durchführen zu einzelnen Männerthemen wie Gewalt, Sexualität, Vater sein, Gesundheit, Freizeit, Partnerschaft. Weiter wäre für interessierte Institutionen Teamcoaching eine Alternative.
Was das Klientel betrifft, fehlt immer noch in den Beratungsstellen die Sensibilisierung für männerspezifische Angebote im stationären Bereich. Es ist höchste Zeit für mehr männerspezifische Suchtarbeit in der Schweiz und auch in Deutschland. • Wir Männer haben einen großen Einfluss auf das Klima in unserer Institution. • Oft verhindert zu wenig Zeit, dass Mann in die Tiefe der männerspezifischen Arbeit kommt. Liegt es aber tatsächlich an zu wenig Zeit oder müsste ich mein Zeitmanagement neu überdenken? (Ist sowieso immer eine gute Übung, da wir Männer ja so unentbehrlich sind oder sein wollen) • Das Nachfragen, ob unser Klientel uns überhaupt versteht was wir meinen gehört zum klientenorientierten Arbeiten dazu. • Wir Fachmänner haben die Aufgabe unseren Klienten-Männern gegenüber Illusionen und Leerläufe aufzulösen, damit sie lernen eine klare Haltung zu entwickeln (eindeutig sein).
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MÄNNERSPEZIFISCHE SUCHTARBEIT – WIE ANFANGEN?
• • •
Sich selber die Frage stellen, warum möchte ich Männerspezifisch arbeiten, was hat das mit meiner persönlichen Entwicklung zu tun? Meine Männerthemen nicht zu den Themen des Klienten machen. Den Klient immer und zu jeder Zeit ernst nehmen, gerade in seinem Mannsein. Seine „verschütteten“ Sinne wieder wahrnehmen gehört zu den Entwicklungsschritten zum „gesunden Mann“.
An g e b o t e
Niederschwellige Angebote
Mitarbeiter
Klient
Abstinent Gassenarbeit Beziehungsnetz aufbauen/ im Hilfssystem Vernetzung der Männerarbeit Arbeitgeber Ambulant Substitution
Angehörige Gefängnis
• • • • •
Unsere Klienten wissen oft gut Bescheid über die Institution und unserer Arbeitsweise (Buschtrommel). Das können wir auch nutzen. In der Ausbildung des Teams Wert auf geschlechterspezifische Arbeit legen. Praktikumsplätze anbieten und sensibilisieren für die Geschlechterspezifische Arbeit. Immer darauf achten, dass die Klientel in erster Linie wegen ihren Suchtproblemen zu uns kommt. Der Ton macht die Musik, die Sprache Achtsamkeit entwickeln, reagieren auf Abwertungen, nichts überhören. Oft müssen unsere Männer den richtigen Umgangston lernen. Respekt und Achtung dem Gegenüber!
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HERBERT MÜLLER
Entzug (gemischt)
Therapie reine Männer, reine Frauen Angebote)
Sensibilisieren auf das Spezielle
Nachsorge (gemischt)
Vorbereiten auf das andere Geschlecht
• Institutionen können ihren Klienten nach dem Austritt Wiederholungskurse anbieten. Die casa fidelio macht hierbei sehr gute Erfahrungen (Schutz bei Krisen und Rückfällen). • Team: Männertage organisieren zum Thema „Mannsein und Sucht“. • Jungs – Mann, hoppla, da sind oft auch noch die Mütter, die großen Einfluss auf die Entwicklung haben. Im Gespräch festlegen, wann die Zeit der Abnabelung gekommen ist. • Noch etwas zum Team: Wer gehört alles dazu? Zum Beispiel auch der Mann an der Pforte, der Hausmeister. Sie haben oft eine interessante Sichtweise zur Therapie und im Speziellen zum Mannsein. • Gerade in den größeren Institutionen müssen verstärkt Frauen mit Männern arbeiten, das ist zwar meiner Meinung sehr unbefriedigend doch leider nicht zu vermeiden. Die Frauen müssen sich bewusst sein das Sie Projektionsoberfläche bieten für alle negativen Abhängigkeitsstrukturen der Klientel. Sehnsucht nach Liebe und Geborgenheit genauso wie Vergeltung für frühere Erniedrigung und Zurückweisungen. Die Frau wird in erster Linie als Frau wahrgenommen und als Fachfrau mit Vorbehalt akzeptiert. Sie braucht die Unterstützung der Männer im Team und muss sich schützen können, klare Grenzen ziehen können. Das auch in ihrer Rolle als Frau im Team. • In den Angeboten der Institutionen sollten Fragen zur Sexualität mit der Klientel nur von gleichgeschlechtlichen Fachpersonen besprochen werden. • Zum Thema Männergesundheit empfiehlt es sich, mit dem zuständigen Institutionsarzt zusammen zu arbeiten. Die Frage ausgewogener gesunder Ernährung gehört da auch dazu. • Öffentlichkeitsarbeit: Kontakte suchen zur Zeitung, Lokalradios Artikel zur männerspezifischen Suchtarbeit verfassen, Diskussionsrunden am Radio mit Klientel zum Beispiel Männer Geschwindigkeit und Rausch währe so ein Einstieg. • Mannsein und Homosexualität, ein verdrängtes Thema, sollte aber zuerst im Team geklärt werden. Überhaupt anders sein, was ist die 154
MÄNNERSPEZIFISCHE SUCHTARBEIT – WIE ANFANGEN?
• • • • • • • •
Norm und wer gibt die vor? Beziehungsarbeit ist Vertrauen schaffen, dazu gehört auch meine persönliche Meinung auch zu heiklen Fragen. Gründe und Unterlagen sammeln, Argumente bilden, warum es dieses Angebot braucht. Inhalte für ein männerspezifisches Konzept entwickeln. Immer vom Ist-Zustand der Einrichtung ausgehen. Wo stößt das Angebot an seine Grenzen innerhalb einer schon lange bestehenden Institutionsstruktur? Was können wir vertiefen, verbessern? Wie können wir den Männerspezifischen Alltag in unserer Einrichtung bewusst gestalten? Und immer im Austausch bleiben mit anderen Angeboten. Ich möchte mich für die angeregte Mitarbeit bei den zahlreichen TeilnehmerInnen bedanken.
Weiterführende Literatur www.infodrog.ch Radix Gesundheitsförderung, Kontakt: René Setz [email protected]
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Gendergerechte Suchtarbeit in der Schw eiz MARIE-LOUISE ERNST
Ein kurzer historischer Rückblick zeigt im Folgenden die Entwicklungsgeschichte gendergerechter Suchtarbeit in der Schweiz auf. Anschliessend werden die heutigen Strukturen, Vorgehensweisen und Inhalte zum Thema dargestellt. Die erfolgreichen Strategien aber auch der nach wie vor bestehende Handlungsbedarf führen schliesslich zu einem kurzen Ausblick in die Zukunft.
1. Historischer Rückblick Die Mütter der gendergerechten Suchtarbeit sind Frauen. Da wäre einmal die Frauenbewegung in der Schweiz zu nennen, welche wie in anderen Ländern auch, in den verschiedensten Bereichen nach den Zusammenhängen zwischen dem Geschlecht und bestehenden sozialen und ökonomischen Ungleichheiten gefragt hat, selbstverständlich auch im Suchtbereich. Weiter ist hier die Literatur zu nennen, etwa das Buch von Christa Merfert-Diete und Roswitha Soltau „Frauen und Sucht“ (1984) oder die Publikationen zu den frühen Forschungsarbeiten von Irmgard Vogt (1985; 1986), welche das Unbehagen vieler in der Suchtarbeit engagierter Fachfrauen in der Schweiz in Worte gefasst haben. Dieses Unbehagen bestand gegenüber den Strukturen in den damaligen Institutionen ebenso wie gegenüber den konkreten Angeboten und Inhalten der Suchthilfe, die oft wenig oder gar nicht den Lebensrealitäten und Bedürfnissen der Suchtmittel konsumierenden Frauen gerecht wurden. Die ersten Projekte entstanden, so zum Beispiel frauenspezifische therapeutische Einrichtungen wie 1987 das Projekt „Gillarens“ im Kanton Fri-
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MARIE-LOUISE ERNST
bourg, 1992 die „Villa les Crêts“ in Genf oder niederschwellige Angebote für sich prostituierende Drogenkonsumentinnen wie der „Lila Bus“ 1989 in Zürich. Die Fachtagung unter dem Titel „Frauen sichten Süchte“ versammelte schliesslich 1991 mehr als 200 Fachfrauen und geriet zu einem vorläufigen Höhepunkt im Diskurs über frauengerechte Suchtarbeit. Es folgten Phasen der theoretischen Fundierung. Mit der Publikation „Frauen, Sucht, Perspektiven“ (Ernst/Rottenmanner/Spreyermann 1995) lag 1995 erstmals eine umfassende Zusammenstellung nationaler und internationaler Forschungsgrundlagen zu Frau und Sucht vor. Ergänzt wurde sie durch eine in der französischsprachigen Schweiz durchgeführten Untersuchung zu Suchtmittel konsumierenden Frauen in der Romandie (1998) und weiteren Forschungsarbeiten. Aus der Praxis wiederum kamen Fragen nach der Umsetzbarkeit des Wissens in den Alltag der Suchthilfe und der Prävention. Ein Bedarf nach Definitionen und handlungsleitenden Kriterien trat in den Vordergrund. Das Bundesamt für Gesundheit BAG schuf deshalb 1997 ein erstes Mandat zur Förderung frauengerechter Suchtarbeit, welches zum Ziel hatte, „dass in der Schweiz mehr Angebote in der Drogenarbeit, insbesondere in gemischtgeschlechtlichen Institutionen so gestaltet sind, dass sie den weiblichen Betroffenen die für sie optimale Hilfestellung bieten können“1. Im Rahmen dieses Mandates, wurden neben der Beratung von Institutionen, Projektgruppen und Behörden, deren Vernetzung und einer kontinuierlichen Öffentlichkeitsarbeit weitere Instrumente zur Förderung frauengerechter Suchtarbeit entwickelt und publiziert. Ein Argumentarium (1998) begründete zu Händen von Vorstands- und Behördemitgliedern, Fachkräften und interessierten PolitikerInnen frauengerechte Drogenarbeit. Das Qualitätsentwicklungsinstrument „Frauengerecht!... (2000) zeigte die wesentlichen Zielsetzungen frauengerechter Angebote auf, beinhaltete Checklisten in Bezug auf die erforderlichen Dienstleistungen im Bereich der niederschwelligen Suchthilfe sowie Qualitätskriterien auf der Struktur- Prozess- und Ergebnisebene. Eine weitere Publikation (2005) dokumentierte, dass sich das erwähnte Instrumentarium gut in die Praxis umsetzen liess, was mit zahlreichen Beispielen illustriert werden konnte. 2001 wurde das Mandat auf die Förderung gendergerechter Suchtarbeit erweitert und dies sollte nicht einfach eine Umbenennung darstellen. Auch wenn die Suchthilfe von Beginn an stärker auf die Männer ausgerichtet war, so hat sie dies doch weitgehend ohne Hinterfragen von 1
So im Auftrag des BAG formuliert. Beauftragte für das BAG Mandat ist die Verfasserin dieses Beitrags.
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MARIE-LOUISE ERNST
Tabelle 2: Die Umsetzung des BAG-Mandats
Arbeitsfelder
Zielpublikum
1. Beratung und
Beispiele
Institutionen, Pro-
Bedürfnisorientierte Weiterbil-
Weiterbildung
jektgruppen, Fach-
dungen und Beratungen für the-
für BAG-Externe
leute
rapeutische WG’s, Kontakt- und Anlaufstellen, Substitutionsprogramme, ambulante Beratungsund Präventionsstellen etc. ⇒ 160 Institutionen
2. Beratung und
AG Gender Natio-
Verankerung von Genderkriterien
Weiterbildung
nale Präventionspro-
in QuaTheDA modular, Veranke-
für BAG-Interne
gramme NPP
rung der Genderperspektive in
Konzeptentwicklung
⇒ 10 BAG – interne Organisa-
Fachleute
BAG-interne Kommunikation
der Abteilung NPP, etc. tionseinheiten 3. Öffentlichkeitsarbeit
Internet Auftritt, Tagungen Publikationen (z. B. Lehrbücher, Referate, Fachzeitschriften) ⇒ 70
4. Internationale
Internationale Fach-
Groupe Pompidou, ICAA, UNO
öffentlichkeit
DC, etc.
Institutionen aus al-
Vermittlung von Genderwissen
(Weiterbildung
len Bereichen der
und –kompetenzen
und Vernetzung)
Suchtarbeit
⇒ 25 Institutionen
Institutionen, Fach-
Enge Begleitung der Studie
leute
„Sucht und Männlichkeit“
Gremien und
⇒ 20
Kontakte 5. Gender-Netz
6. Entwicklung Männer- und gendergerechter
Bisher einzelne Beratungen
Suchtarbeit
Im Bereich Beratung und Weiterbildung ist unter anderem die Tatsache wichtig, dass auch innerhalb des BAG eine Verankerung der Genderperspektive im Bereich Sucht (zusammengefasst in der Abteilung Nationale Präventionsprogramme NPP) angestrebt wird. Dies führte zum Beispiel dazu, dass das BAG eigene Qualitätsmanagementsystem QuaTheDA modular (2006) für den Suchthilfebereich die Genderperspektive als Qualitätsnorm aufgenommen hat. 162
GENDERGERECHTE SUCHTARBEIT IN DER SCHWEIZ
Eine kontinuierliche Öffentlichkeitsarbeit in Form von Publikationen und Tagungen sowie der Dokumentation gendergerechter Suchtarbeit hat einen grossen Stellenwert in der Sensibilisierung und Motivation der Fachleute. Sie zwingt immer wieder dazu, die Dinge auf den Punkt zu bringen. Es gehört zu den Aufgaben der BAG-Beauftragten, die Erfahrungen mit dem Mandat auch international zu kommunizieren. Das Mandat des BAG hat in der internationalen Fachöffentlichkeit grosse Resonanz gefunden und steht unseres Wissens einzig da. Im Gender-Netz treffen sich Fachleute aus 25 Institutionen der ganzen Schweiz, um ihre Genderkompetenz zu erhöhen, sich weiterzubilden und sich zu vernetzen. Der bisher grösste Erfolg im Bereich männergerechter Suchtarbeit ist sicher die Publikation der bereits erwähnten Grundlagenstudie „Sucht und Männlichkeit“. Ein Boom in Bezug auf männergerechte Suchtarbeit ist bisher ausgeblieben, ohne dass dafür Gründe ersichtlich sind.
Infodrog Einen weiteren wichtigen Beitrag liefert Infodrog, die vom Bundesamt für Gesundheit und der Konferenz der kantonalen Sozialdirektoren beauftragte Schweizerische Koordinations- und Fachstelle Sucht, welche unter anderem Gender als Querschnittaufgabe wahrzunehmen hat. Auf deren Internet Seite www.infodrog.ch (unter Querschnittsthemen/Gender) wird die Arbeit dokumentiert, die im Rahmen und in Zusammenarbeit mit der Mandats-Beauftragten des BAG geleistet wird. Die Datenbank zu den Suchthilfeeinrichtungen ist bei denjenigen Institutionen, die über ein geschlechterspezifisches oder geschlechtergerechtes Angebot verfügen mit der nachfolgend beschriebenen Homepage von drugsandgender verlinkt. Ein von Infodrog verwalteter Impulsfonds steht zudem auch Gender-Projekten offen.
www.drugsandgender.ch Die Internetseite bietet eine Übersicht der aktuellen gendergerechten Angebote im Suchtbereich, macht deren Leistung öffentlich sichtbar und ist eine Plattform für Austausch und Vernetzung. Um in dieses Verzeichnis aufgenommen zu werden, müssen klare Kriterien erfüllt sein. So zum Beispiel: Die Institutionen • nutzen frauen- und männerspezifische Erfahrungen und Ressourcen zur Gestaltung des Hilfeprozesses 163
MARIE-LOUISE ERNST
• • • •
nutzen diese Erfahrungen, um Einstellungs- und Verhaltensänderungen herbeizuführen und Suchtmittelabhängigen eine möglichst selbst bestimmte und eigenverantwortliche Lebensführung zu ermöglichen erweitern den Handlungs- und Erlebensspielraum der Klientinnen bzw. der Klienten im Hinblick auf Chancengleichheit und Förderung der Gleichstellung von Frauen und Männern weisen die Angebote im Leitbild, im Angebotsbeschrieb oder anderen öffentlich zugänglichen Konzepten aus machen mindestens zwei Angebote für Frauen oder Männer.
Zurzeit sind 74 Institutionen aufgenommen, darunter 53 geschlechtersensible, 15 frauenspezifische und 6 männerspezifische Organisationen oder Organisationseinheiten. Diese verteilen sich wie folgt auf die einzelnen Bereiche der Suchthilfe: Tabelle 3:Verteilung der gendergerechten Angebote auf die Bereiche der Suchthilfe (Stand Juni 2008) 53 gendersensible Organisationen
stationäre
15
ambulante
23
Entzug
1
Kontakt- und Anlaufstellen
5
Notunterkunft
2
Prävention
5
Substitution
2
15 frauenspezifische Organisationen/
stationär
8
Organisationseinheiten
ambulant
1
Kontakt- und Anlaufstellen
5
Arbeitsangebot
1
6 männerspezifische Organisationen/
stationär
5
Organisationseinheiten
ambulant
1
Auffallend sind in dieser Aufstellung zwei Dinge: • Zum einen sind hier weit weniger Institutionen verzeichnet, als im Rahmen des BAG - Mandat beraten und begleitet wurden. Das hat damit zu tun, dass nicht alle Institutionen z.B. nach einer Weiterbildung tatsächlich gendergerechte Suchtarbeit eingeführt haben, andere wiederum haben zwar angefangen, gendersensible Angebote zu entwickeln, haben dies aber bisher nicht in den Strukturen verankert, so dass sie den Kriterienkatalog von drugsandgender noch nicht erfüllen.
164
GENDERGERECHTE SUCHTARBEIT IN DER SCHWEIZ
•
Zum andern fällt auf, dass die stationären Angebote den grössten Anteil aufweisen (28 von 74 Institutionen). Das mag unter anderem damit zusammenhängen, dass im nahen Zusammenleben einer stationären Einrichtung die Geschlechterfrage drängender und offenkundiger wird, als in Institutionen, wo die Kontakte mit den Klientinnen und Klienten kürzer oder gar flüchtig sind.
Plateforme genre et dépendances In der französischsprachigen Schweiz existiert neben den im Rahmen des BAG-Mandats erwähnten Angeboten, die alle zweisprachig geführt werden, eine Plateforme genre et dépendances unter der Internet Adresse www.grea.ch/dossiers/Plateformes/genre et dépendances. Die Plattform wird vom Verband der französischsprachigen Suchtfachleute geführt. Sie bietet neben Information auch regelmässige Austauschtreffen (viermal jährlich) an, wo Aspekte der Genderperspektive vermittelt und diskutiert werden.
Fachgruppe Frauengerechte Suchtarbeit Die Fachgruppe Frauengerechte Suchtarbeit des Fachverbands Sucht dient der Vernetzung und dem Austausch von Wissen und Erfahrungen unter Fachfrauen zu frauenspezifischen Fragen im ambulanten und stationären Bereich der Suchtarbeit. Sie trifft sich vier Mal jährlich.
3. Erfolge und Handlungsbedarf Zu den Erfolgen gendergerechter Suchtarbeit in der Schweiz haben insbesondere beigetragen: • Das kontinuierliche Engagement des BAG. • Die Verknüpfung der Genderperspektive mit dem Qualitätsmanagement. • Die anhaltende Öffentlichkeitsarbeit und Dokumentation. • Die Drehscheiben-Funktion des Mandats und der Beauftragten. • Das Engagement und das Wissen von Fachfrauen und Fachmännern. Das drückt sich aus in einem zwar langsamen aber kontinuierlichen Wachstum der Anzahl gendergerechter resp. gendersensibler Institutionen.
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MARIE-LOUISE ERNST
Handlungsbedarf besteht insbesondere in folgenden Bereichen: • Die strukturelle Verankerung gendergerechter Suchtarbeit ist nicht im selben Mass gewachsen wie das Bewusstsein für deren Bedeutung. • Finanzsprechende Behörden und Leistungsträger nehmen gendergerechte Kriterien nur sehr zögerlich in ihre Vergabepraxis auf. • Gemäss Verzeichnis von drugsandgender können ca. 10% der Institutionen in der Suchthilfe als gendergerecht bezeichnet werden. Das sind zu wenige. • Fehlende Forschung zur Wirksamkeit. • Die möglichen Väter einer gendergerechten Suchtarbeit sind bis auf wenige Ausnahmen weit davon entfernt, ihre Vaterschaft anzuerkennen.
4 . Au s b l i c k Mit den oben gemachten Ausführungen zu Erfolgen und bestehendem Handlungsbedarf ist auch angedeutet, in welche Richtung die zukünftigen Bemühungen gehen sollen. Die Verankerung der Genderperspektive auf struktureller Ebene muss einerseits bei den Institutionen (Leitbild, Konzepte etc.), andererseits bei den Leistungsträgern (Projekt-/Angebotsfinanzierung, Leistungsverträge) vorangetrieben werden. Mit der Frage nach der Wirksamkeit geschlechtersensibler Suchtarbeit ist die Forschung gefordert, ihren Beitrag zu geschlechtersensibler Suchtarbeit zu leisten. In Schulungen, in der Aus- und Weiterbildung muss Wissen für beide Geschlechter über beide Geschlechter vermittelt werden. Genderwissen ist Fachwissen. Es braucht eine gezielte Weiterentwicklung der Praxis frauen-, männerund gendergerechter Suchtarbeit, um den bisherigen Erfahrungsschatz zu erweitern. Dieser Erfahrungsschatz muss geteilt werden. Das wiederum gelingt durch institutionalisierten Austausch und Vernetzung. Und nicht zuletzt: Die Frauen können es nicht richten. Um wesentliche Schritte voranzukommen, braucht es Fachmänner, die ihre Vaterschaft 166
GENDERGERECHTE SUCHTARBEIT IN DER SCHWEIZ
bezüglich gendergerechter Suchtarbeit anerkennen und damit ein mutiges gender together ermöglichen!
L i t e r a t u r - u n d L i n k ve r z e i c h n i s Bendel, Christine/Brianza, Angela/Rottenmanner, Isabelle (Hrsg.) (1992): Frauen sichten Süchte, Lausanne: SFA Verlag. Bundesamt für Gesundheit (Hrsg.) (2006): Das modulare QuaTheDAReferenzsystem. Die Qualitätsnorm für den Suchthilfebereich, Bern. Bundesamt für Gesundheit (Hrsg.) (2006): Leitfaden QuaTheDA modular. Erläuterungen und Beispiele zum QuaTheDA-Referenzsystem, Bern. Ernst, Marie-Louise/Rottenmanner Isabelle/Spreyermann Christine (1995): Frauen – Sucht – Perspektiven. Grundlagen zur Entwicklung und Förderung frauenspezifischer Drogenarbeit, Bern: Studie im Auftrag des Bundesamtes für Gesundheit BAG. Ernst, Marie-Louise et. al. (2000): Frauengerecht! Anforderungen an die niederschwelligen Angebote im Suchtbereich, Bern: Im Auftrag des Bundesamtes für Gesundheit BAG. Ernst, Marie-Louise et. al. (2005): Frauengerecht! Die Praxis. Dokumentation zur Umsetzung des Qualitätsentwicklungsinstrumentes „Frauengerecht! Anforderungen an die niederschwelligen Angebote im Suchtbereich“, Bern: Bundesamt für Gesundheit BAG. Graf, Michel/Annaheim, Beatrice/Messerli, Janine (2006): Sucht und Männlichkeit. Grundlagen und Empfehlungen, Lausanne: SFA Verlag. Groupe de travail „femmes dépendances“ (1998): Point de vue sur les toxicodépendances des femmes en Suisse Romande, Lausanne: Enquête sur la demande et l’offre d’aide spécialement destinée aux femmes. Merfert-Diete, Christa/Soltau, Roswita (Hrsg.) (1984): Frauen und Sucht. Die alltägliche Verstrickung in Abhängigkeit, Reinbek bei Hamburg:Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH. Spreyermann, Christine (1998): Es braucht frauenspezifische und frauengerechte Drogenarbeit, weil … Ein Argumentarium für Vorstandsund Behördemitglieder, für Fachkräfte und an Drogenarbeit interessierte PolitikerInnen, Bern: Im Auftrag des Bundesamtes für Gesundheit BAG. Vogt, Irmgard (1985): Für alle Leiden gibt es eine Pille, Opladen: Westdeutscher Verlag.
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MARIE-LOUISE ERNST
Vogt, Irmgard (1986): Alkoholikerinnen. Eine qualitative Interviewstudie, Freiburg i.B.: Lambertus Verlag.
www.bag.admin.ch/Themen/Alkohol, Tabak, Drogen/Drogen/Gender www.drugsandgender.ch www.fachverbandsucht.ch www.grea.ch/dossiers/Platesformes/genre et dépendances www.infodrog.ch unter: Querschnittsthemen/Gender
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10 Jahre Gender- Arbeit in der Prävention mit und für Jungen und Männer – Ein Erfahrungsbericht aus der Arbeit der DROBS Hanno ver CARSTEN THEILE UND LENNART WESTERMANN
1. Prolog 1998 kommt es im Rahmen einer Sonderförderung zu einem Kooperationsprojekt zwischen dem Sozialdienst einer großen IGS in der Region Hannover und dem Präventionsteam der DROBS Hannover. Die Sozialarbeiterinnen möchten, dass ein Angebot für Jungen vorgehalten wird – für Mädchen gibt es schon viele Angebote und beim Sozialdienst ist kein Kollege im Team. Bei der Diskussion um die inhaltliche Ausgestaltung werden in dem (zu der Zeit rein männlich besetzten) Präventionsteam der DROBS Hannover Widerstände deutlich. Zur Arbeit mit Schulklassen wird übereinstimmend festgestellt, dass alle Kollegen speziell die Jungen in den 8. Jahrgängen (ca. 14 Jahre) als sehr schwierig und nervig erleben – während man z. B. als Gesundheitsförderer beim „Klasse 2000“-Projekt in der Grundschule die Jungen bis zur 4. Klasse eher noch als „liebenswert“ bezeichnet. Bei näherer Betrachtung muss eingeräumt werden, dass „Mann“ in dem Alter von 13, 14 oder 15 Jahren auch so schwierig war – niemand aus dem Team erinnert sich gerne an diese Zeit. Im Laufe der Diskussion reift die Erkenntnis, dass die Widerstände daraus resultieren, in den unreifen Jungs seiner eigenen (manchmal schmerzlich verdrängten) Ver169
CARSTEN THEILE UND LENNART W ESTERMANN
gangenheit zu begegnen. Die Auseinandersetzung mit dem Thema birgt zwar die Möglichkeit, einen neuen Blick auf die eigenen Ressourcen als Mann zu ermöglichen, beinhaltet aber auch gleichzeitig, sich mit seinen persönlichen Unzulänglichkeiten beschäftigen müssen – und das passt nicht in das Rollenverständnis vom „coolen“, souverän handelnden Mann, in dem auch die Mitarbeiter mehr oder weniger verfangen sind … Aber die Neugierde ist geweckt und es entsteht die Idee, die Jungen einer Klasse über vier Jahre (5. bis 8. Klasse) zu begleiten, um zu begreifen, wie und warum diese jungen männlichen Wesen ab einem bestimmten Punkt so „nervig“ und „schwierig“ werden. Es wird ein Programmrahmen abgesteckt, in enger Absprache mit dem weiblich besetzten Sozialdienst werden die Inhalte für die einzelnen Jahrgangsstufen abgesprochen. Während sich die Kolleginnen des Sozialdienstes um die Mädchen kümmern, skizziert das Präventionsteam für die Jungen vier Projekttage pro Schuljahr plus eine besondere Abschlussaktion – das erste Gender-Projekt der DROBS Hannover ist geboren …
2 . G r u n d s ä t z l i c h e r Ar b e i t s a n s a t z Seit Jahren wird in der Jugendhilfe in unterschiedlichsten Settings mit Mädchen und Jungen „geschlechtsspezifisch“ gearbeitet. Fragt man jedoch heute Kolleginnen oder Kollegen aus der Praxis, was denn das speziell geschlechtsspezifische an ihrer Arbeit ist, ist die Antwort meist ungeheuer komplex – um am Ende zu einem sehr schlichten Ergebnis zu kommen: Frauen arbeiten mit Mädchen, Männer arbeiten mit Jungen. Vergleicht man dann Themen und Inhalte der Angebote, stellt man fest, dass sich streckenweise große Überschneidungen ergeben. Woran lässt sich nun das „Spezifische“ festmachen? Die in den letzten Jahren zu den selbstverständlich dennoch zu treffenden notwendigen Unterscheidungen verstärkt geführte Diskussion bezüglich einer Gender-Orientierung bzw. Gender-Gerechtigkeit soll hier nicht wiederholt werden – vielmehr soll kurz dargestellt werden, aus welcher Perspektive die Arbeit der DROBS durchgeführt wird: Es gibt bei den Geschlechtern biologische Unterschiede bis in den neurophysiologischen Bereich hinein, die nicht nur zu unterschiedlicher körperlicher Ausprägung führen, sondern auch zu unterschiedlichen Wahrnehmungsmustern, Reaktionen und Verhaltensweisen. Das meiste jedoch, was als typisch weiblich oder männlich beschrieben wird, sind Rollenmuster, die in ihrem Erscheinungsbild und in ihrer Zuordnung 170
10 JAHRE GENDER-ARBEIT IN DER PRÄVENTION MIT U. FÜR JUNGEN UND MÄNNER
den (veränderlichen!) gesellschaftlichen Sozialisationsbedingungen unterworfen sind. Beiden Bereichen ist bei der Arbeit mit jungen Menschen Rechnung zu tragen: In biologischer Hinsicht entscheidender als die rein faktischen Unterschiede sind die differierenden Abläufe der Entwicklung bis zum körperlichen und geistigen Erwachsenenstadium – gerade in der für die Arbeit mit Jugendlichen so entscheidenden Phase der Pubertät. Hierauf wird mit dem Einsatz unterschiedlicher Methoden reagiert. Die Herausbildung des sozialen Geschlechtes, also die Annahme gesellschaftlich definierter weiblicher oder männlicher Eigenschaften, unterliegt zwangsläufig den jeweiligen gesellschaftlichen Bedingungen und Veränderungen – diese deutlich zu machen und die Möglichkeit zu eröffnen, selbst emanzipiert auf diesen Prozess einwirken zu können, führt in der Arbeit mit unterschiedlichen Geschlechtern zu einer häufigen Überschneidung der zu behandelnden Themen. Die jugendliche Entwicklungsphase ist geprägt von Umbrüchen, Grenzüberschreitung und Neuorientierung; in der Adoleszenz warten auf Individuen entscheidende Schritte – z. B. „… das Erreichen zunehmender Unabhängigkeit von den Eltern, der Aufbau von Peerbeziehungen und Partnerschaftsbeziehungen, die Auseinandersetzung mit der körperlichen Entwicklung und die Identitätsentwicklung (…). Die Entwicklungsaufgaben sind häufig nicht leicht zu bewältigen, da der Erwachsenenstatus und die Handlungsbedingungen zu dessen Erreichung nicht klar definiert sind, da Entwicklungsbereiche komplex vernetzt sind (…), und da die Lösung der Entwicklungsaufgaben durch ungünstige gesellschaftliche Rahmenbedingungen erschwert sein kann (…).“(Pinquart/Silbereisen 2004: 64)
Ein unklares Werte- und Normensystem in einer „ent-grenzten“ Welt und unklare Zukunftsperspektiven führen zunehmend zu Verunsicherungen und Orientierungslosigkeit, die nicht nur die Alltagsbewältigung und eine gesunde Strukturierung des jungen Lebens immer schwieriger machen, sondern die auch das Einfinden in die eigene Geschlechtsrolle behindern. Jungen sehen sich z. B. heute in einer globalisierten und technisierten Welt mit dem Umstand konfrontiert, dass viele frühere typische Männerberufe, die mit schwerer körperlicher Arbeit verbunden waren, entweder in Niedriglohnländer ausgelagert werden oder durch den Einsatz von Technik schlicht überflüssig werden. Übrig bleiben Dienstleistungsberufe, die ein niedriges soziales Ansehen besitzen, schlecht bezahlt werden und – mit deren Ausübung „Mann“ alleine folglich in der Regel keine Familie ernähren kann. Für Viele ist diese Befähigung aber nach wie vor ein Schlüsselkennzeichen für einen erwachsenen Mann. 171
CARSTEN THEILE UND LENNART W ESTERMANN
„Frauen am Brandherd – Allmählich erobern Frauen auch die letzte Männerbastion: Die Berufsfeuerwehr“ (Hintz 2008: III/1) – eine Zeitungsüberschrift wie diese macht deutlich, womit sich Heranwachsende heute auseinandersetzen müssen: Während die Emanzipation der Frauen den Mädchen eine Vielfalt von neuen Wegen eröffnet, kämpfen die Jungen nicht nur mit einer Definition der „Geschlechtsidentität per Negation: Männlich ist, was nicht weiblich ist“ (vgl. Vogel 1999: 16), sondern verlieren auch noch die letzten (vermeintlichen) Orientierungssicherheiten. Die Vielfalt an Optionen nimmt zu – die Sehnsucht nach Sicherheit bleibt! „Cause I’m losing my sight, losing my mind. Wish somebody would tell me I’m fine, losing my sight, losing my mind. Wish somebody would tell me I’m fine“. (Papa Roach 2000)
In diesem Zusammenhang übernehmen oftmals gesundheitsriskante Verhaltensweisen – auch das Experimentieren mit Alkohol und anderen Rauschmitteln – für Heranwachsende wichtige Funktionen bei dem Sich-Ausprobieren und dem Ausloten eigener Fähigkeiten und Grenzen. Und so wird dieses Risikoverhalten auch „ … zur Auseinandersetzung mit der männlichen und weiblichen Geschlechtsrolle genutzt (etwa von männlichen Jugendlichen, um Mut und Stärke zu demonstrieren und von weiblichen, um sich vom traditionellen Geschlechtsrollenverständnis abzugrenzen).“ (Pinquart/Silbereisen ebd.: 65) Oder, wie bereits 1998 anders formuliert wurde, dient es geradezu „der Konstruktion von Geschlecht“ (vgl. Schmidt 1998: 204) Eine geschlechtergerechte Suchtprävention und Gesundheitsförderung muss daher einerseits den geschlechtsspezifischen Unterschieden im Suchtmittelkonsum von Jungen und Mädchen Rechnung tragen, andererseits auf die in der Pubertät jeweils sehr unterschiedlichen Entwicklungsphasen und die damit einhergehenden geschlechtstypischen Wahrnehmungsmuster und Empfindungen eingehen. Die Erfahrungen in der Suchtarbeit lehrt, dass ein überwiegender Teil der Abhängigen nicht in seinem Körper „zuhause“ ist – der Suchtmittelkonsum dient somit u. a. dazu, die subjektiv empfundene Diskrepanz und Spaltung zwischen eigenem Empfinden und eigenen Wünschen, Vorstellungen und Bedürftigkeiten und den an die Individuen von ihrer Umwelt an sie herangetragenen Erwartungen und Anforderungen zu überbrücken. Ziel einer geschlechtsspezifischen und gender172
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orientierten Präventionsarbeit muss also sein, jungen Menschen die Möglichkeit zu geben, sich bei der Definition und Konstruktion des eigenen Geschlechts nicht nur an Stereotypen zu orientieren (um dann evtl. daran zu scheitern), sondern auch Neues auszuprobieren – trotz (bzw. genau wegen!) des Erprobens neuer und alternativer Lebensbewältigungsstrategien müssen Mädchen sich als ungebrochen weiblich und Jungen sich als ungebrochen männlich erleben können. „Ungebrochen“ meint hier: „Sich eins fühlen mit sich selbst.“ Für die Arbeit mit Jungen und jungen Männern bedeutet das, parteiisch zu sein und sich als Unterstützer anzubieten und authentisch die eigenen – männlichen – Interpretationen von Wirklichkeit anzubieten; aber genauso, wie die folgenden Generationen für neue Probleme Lösungen finden müssen, werden Jungen und junge Männer von dem Selbstverständnis und Rollenbild des Sozialarbeiters von „Mann“ immer nur Bruchstücke verwerten können. Es bedeutet, für sie da zu sein, aber ihnen diese Freiheit zu lassen. Wie wichtig und sinnstiftend die Präsenz erwachsener Männer für Jungen ist, belegt die Aussage eines 28jährigen Mannes, der mit sechs Jahren seinen Vater durch plötzlichen Tod verlor und eine sehr starke Bindung zu seinen Großeltern väterlicherseits entwickelt hatte: „Das war immer toll, wenn ich bei meinen Großeltern war – Oma kümmerte sich ums Essen oder bereitete das Kaffeetrinken vor und Opa spielte was mit mir: Fußball, Tischtennis, irgendwas. Oder wir guckten zusammen Sportsendungen im Fernsehen – jedenfalls war er immer für mich da. Tja – und dann war er plötzlich tot. Es ärgert mich heute noch, dass ich ihm nie mehr sagen konnte, wie cool ich das fand, dass er sich immer für mich Zeit genommen hat und mit mir rumgetobt ist. Ich hatte ja damals diese aggressive Pubertätsphase, wo ich nur negativ war und immer nur an allem rumgenörgelt habe …“.
Wichtigste Voraussetzung für die Umsetzung einer geschlechtsbezogenen Suchtprävention und Gesundheitsförderung ist nicht nur eine gemischtgeschlechtliche Besetzung des Arbeitsbereiches, um sicherzustellen, dass Frauen mit Mädchen und Männer mit Jungen arbeiten können – unentbehrlich ist eine reflektierte Haltung der Kolleginnen und Kollegen und die Bereitschaft, besonders bei der Arbeit mit Jugendlichen die eigene Persönlichkeit als Projektions- und Reibefläche anzubieten. Die Auseinandersetzung mit der Thematik und diese Haltung sind zugleich Vorraussetzung einer erfolgreichen Arbeit, auch wenn z. B. aus organisatorisch oder institutionell bedingten Gründen eine paritätische Teambesetzung nicht sichergestellt werden kann. Nur so können die Grenzen des eigenen Tuns erkannt, überzogene Zielvorstellungen ver173
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mieden und doch geschlechtsspezifischen Bedürftigkeiten mit darauf abgestellten Methoden Rechnung getragen werden.
3 . G e n d e r - Ar b e i t f ü r d a s m ä n n l i c h e G e s c h l e c h t in unterschiedlichen Bereichen der Suchtp r ä ve n t i o n u n d G e s u n d h e i t s f ö r d e r u n g „Die männliche Geschlechterrolle wird als wesentlicher Risiko- und Belastungsfaktor gesehen, da sie zu selbstschädigenden Einstellungen und Verhaltensweisen führt. Bereits im Zuge einer geschlechtsspezifischen Sozialisation werden Männer (…) zu einer weniger ausgeprägten Wachsamkeit gegenüber ihrem Körper erzogen.“ (Krämer 2008: 7)
Jungen wählen in der Regel Verhaltensweisen, Suchtmittel und Konsumformen, die zu ihrem Rollenverständnis passen und die ihnen helfen, sich expressiv und enthemmt zu verhalten. „Trotz aller Trends hin zur Gleichverteilung der Drogenerfahrungen unter Schülern und Schülerinnen konsumieren männliche Jugendliche und Erwachsene Alkohol und illegale Drogen immer noch häufiger, in größeren Mengen, in risikoreicheren Gebrauchsmustern und sozial auffälliger als weibliche Personen.“ (Landschaftsverband Westfalen-Lippe (Hrsg.) 2006: 9)
Die Bedeutung, die sich dahinter versteckt, ist immens. „Wer flink, zäh und hart ist, den haut so schnell nichts um. Ein richtiger Junge ist wild und frech. Vor allem ist er gesund und stark. Allerdings: Gerade jene Anforderungen, die Jungen erfolgreich machen sollen, können ihnen schaden. Wer stets durchsetzungsfähig, hart gesotten und unverwüstlich sein muss, dessen Gesundheit ist sehr gefährdet.“ (Schnack/Neutzling 2000: 119)
Diese Gefährdungen gilt es anzuerkennen und in geeigneter Weise zu begegnen, um gesunde, risikominimierte Verhaltensweisen zu fördern. Dementsprechend hält das Präventionsteam in verschiedenen Bereichen für unterschiedlichen Altersgruppen gender-orientierte Angebote für Jungen, junge und erwachsene Männer vor. Hier eine Übersicht: • 7 Jahre Jungenarbeit in begleitenden 4-Jahres-Projekten an einer großen IGS in der Region Hannover, incl. Durchführung von VäterAbenden; • 10 Jahre gender-orientierte Arbeit in der Kooperation mit einem Kindergarten in der Region Hannover – Beratung bei Suchtpräven174
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tionswochen für die Kinder, Durchführung von Mütter- und VäterAbenden; jahresbegleitendes Jungen-Projekt „Respect“ an einer Schule in der Stadt Hannover; jahresbegleitendes Jungen-Projekt „Sozialkompetenz“ an einer IGS in der Region Hannover; „ge-genderte“ Phasen bei der Projektarbeit mit Schulklassen aller Schulformen; „ge-gendertes“ einjähriges Kooperationsprojekt mit einer Kindertagesstätte in einem sozialen Brennpunkt der Stadt Hannover für Kinder aus sozial belasteten Familien – Durchführung von wöchentlichen Mädchen- und Jungengruppen plus jeweiligem AbschlussEvent (Klettern), Gestaltung von darauf bezogenen thematischen Elternabenden zu Erziehungsfragen; 3 Jahre ressourcenorientierter Trainingskurs für jungen und junge Männer, die sich mit stoffgebundenem oder -ungebundenem Risikoverhalten in krisenhafte Lebensumstände gebracht haben (Boys’ ResorT).
4 . „ S c hw u l e s i n d a u c h M ä n n e r “ – o d e r : So sieht die Praxis aus „Hungry, feeding on chaos and living in sin, Downward spiral, where do I begin, It all started when I lost my mother, No love for myself and no love for another, Searching to find a love upon a higher level Finding nothing but questions and devils” (Papa Roach 2000)
Nachfolgend werden Methoden und Kernthemen der Arbeit in diesen Projekten beschrieben. Die Gender-Arbeit lebt davon, dass sich die Mitarbeiter mit ihrer ganzen Individualität und eigenen Männlichkeit einbringen – folglich soll eine sehr persönliche Darstellungsweise die Praxis bebildern, bis hin zu dem sicherlich komplexesten Gender-Angebot, der Jungengruppe „Boys’ ResorT“. Die subjektive Beschreibung versucht, die Lebhaftigkeit und Veränderbarkeit dieser Arbeit zu transportieren.
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4.1 „Bad guy/good guy“ – Team-Teaching Einem wichtigen Prinzip der Gruppenarbeit folgend, werden alle Projekte von zwei Kollegen des Präventionsteams betreut – Ausnahmen gibt es manchmal bei Väter-Abenden. Jeder Mann ist einzigartig, hat persönliche Ressourcen und Schwächen, die sein Mann-sein ausmachen. Diese Unterschiedlichkeit soll deutlich gemacht werden, um individuelle Interpretationen von Männlichkeit zu ermöglichen. Ein Kollege ist groß und schlank, einer klein und untersetzt; einer hat einen „Waschbrett“-Bauch, der andere einen „Waschbär“-Bauch; ein Kollege ist Mitte 50, ein anderer Ende 30. Persönliches wird bewusst mit eingebracht, entsprechende Fragen werden ausdrücklich zugelassen und offen beantwortet: „Welche Musik hören Sie?“, „Nehmen Sie selber Drogen?“, „Welches Hobby haben Sie?“, „Haben Sie Kinder?“, „Sind Sie verheiratet?“ usw. usf.. Unterschiedliche Sichtweisen werden vor der Gruppe transparent gemacht, gleichzeitig wird demonstriert, wie man trotzdem als Team gut funktioniert. Stimmungsschwankungen dürfen auch bei den Teamern vorkommen, mit direkter Offenheit vor der Gruppe („Ich hab’ heute keinen Bock – übernehm’ Du mal!“) werden bewusst Rollen getauscht: Führen vs. Mitmachen. Bis hin zu den wechselnden – im Team abgestimmten – Rollen des strengen, sanktionierenden Mannes (bad guy) und des verständigen, nachsichtigen Mannes (good guy).
4.2 „Manchmal könnte ich den Jungen aus dem Fenster schmeißen!“ – Elternarbeit Im schulischen Bereich wie im Elementarbereich spielt die Elternarbeit eine wesentliche Rolle – als wichtige Multiplikatoren müssen Eltern dafür gewonnen werden, Aspekte der Suchtprävention und der Gesundheitsförderung als ihrem Erziehungsalltag zugehörig zu erkennen und mit einzubeziehen. Im Zuge der Projektarbeit und über die thematische Auseinandersetzung zur Gender-Orientierung werden nicht nur Elternabende angeboten, sondern auch Mütter- und Väterabende. Ziel ist es, Eltern für gender-orientierte Sichtweisen zu sensibilisieren. Vor allem soll ihnen zunächst die Möglichkeit gegeben werden, sich mit der eigenen Interpretation der Geschlechtsrolle auseinanderzusetzen und ihren Einfluss auf den Erziehungsprozess erkennen zu können. Dabei kommen die unterschiedlichsten Bereiche zur Sprache, etwa die Reflexion der eigenen Befindlichkeit/Hilflosigkeit beim Thema „Wünsche, Bedürfnisse“, die Erwachsenenbeziehung in der Ehe nach
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der Geburt der Kinder betreffend (Zitat/Vater beim Väterabend im Kindergarten): „Ich spüre einen großen Zorn – seit die Kinder da sind, komme ich mir immer vor wie ein Bittsteller. Ich wünschte, meine Frau würde mich nicht nur als Vater ihrer Kinder betrachten – ich habe doch auch als Mann Bedürfnisse! Früher waren wir Mann und Frau, Partner eben – heute sind wir nur noch „Mutter“ und „Vater“. Sie hat die Kinder und ich guck` in die Röhre! Wir können da nicht drüber reden!“
Oder – noch brisanter – beim Thema „Wie gehe ich mit meinem Sohn um?“ (Zitat/Vater beim Väterabend im Kindergarten): „Die ganzen Zeitungen sind voll von diesen Päderasten-Stories – ich trau mich gar nicht mehr, meinen Jungen in der Öffentlichkeit mal in den Arm zu nehmen oder zu schmusen, wie wir es früher gemacht haben – nachher denken die Leute, ich wäre so einer ...“.
Oder es tun sich tiefe Erkenntnisse über die Entwicklungsdynamik bei Pubertierenden auf (Zitat/alleinerziehender Vater eines 13-jährigen – aber älter wirkenden – Sohnes, beim Väterabend erfahrend, dass auch die anderen Väter jede Menge Stress und Streit mit ihren Söhnen haben, z. Zt. auch alles doppelt und dreifach ansagen müssen und die Jungen launisch und unberechenbar reagieren; nach fachlichem Input zu neurobiologischen Entwicklungsprozessen durch den DROBS-Kollegen, sich den Schweiß von der Stirn wischend): „Gott-sei-dank! Und ich dachte schon, mein Junge ist verrückt!!“
4.3 „Mir geht’s beschissen!“ – Raum geben In allen Projekten macht das Präventionsteam die Erfahrung, dass Jungen und Männer zwar anfangs zögern, über Persönliches zu reden, ein entsprechendes Angebot aber dankbar annehmen, wird ein entsprechender Rahmen geschaffen. In dem begleitenden 4-Jahres-Projekt an der IGS sieht dies so aus: Am Anfang eines jeden Projekttages verteilen sich die Jungen in den vier – durch Wettersymbole gekennzeichneten – Ecken des Raumes. Der Reihe nach begründet jeder Junge, warum er sich diesem Symbol zugeordnet hat und nicht woanders steht. Zu Anfang wird viel herumgealbert und über alle Jahre hinweg ist ein Teamer immer damit beschäftigt, für Disziplin zu sorgen („Einer redet, die anderen sind still!“). Allmählich aber wird den Jungen der Sinn deutlich und in der 8. Klasse hört man Sätze wie.
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„Ich stehe bei der Sonne, weil meine Eltern sich wieder vertragen haben!“, oder „Ich stehe beim Regen, weil ich sehr traurig bin – mein Bruder ist gestern ins Krankenhaus gekommen und wir wissen nicht, ob er wieder gesund wird …“. Dramen werden sichtbar – sehr persönlich, sehr intim. Aus der Gruppe (und von den Teamern) kommen spontan Glückwünsche, aber auch Bekundungen des Trostes. Ein Indianer kennt keinen Schmerz? Männer reden nicht über ihre Gefühle? Hier lernen es die Jungen – eine große Ressource zur Bewältigung von Stress und eine wichtige Grundlage für das Entwickeln von Lebensbewältigungsstrategien (sog. Life Skills)1.
4.4 „Gimme five!“ – Rituale Bei erlebnispädagogischen Maßnahmen wird bei gemeinsamen Mahlzeiten darauf geachtet, dass jeder etwas mit vorbereitet („Everyone like to do his duty!“ – ein alter Spruch in einem irischen Youth Hostel) und dass erst mit dem Essen begonnen wird, wenn alle am Tisch sitzen („Guten Appetit!“, „Mahlzeit!“, oder schlicht „Haut ’rein, Jungs!“). Beim Jungenprojekt in der IGS gibt es neben den „Wetterecken“ zu Beginn ein simples Abschiedsritual, mit dem man sich von einander trennt – vorher verlässt niemand den Raum: Alle (auch die Teamer) stehen Schulter an Schulter im Kreis, rechte Hand in die Mitte gestreckt. Unter einem anschwellenden „Hey!“-Ruf wird mit den Händen gewackelt, um sie gleichzeitig in die Höhe zu reißen. Nach anfänglichem Murren („Wie doof is’ das denn?!“) wird dieser Abschluss immer selbstverständlicher, die Jungen erinnern die Teamer daran, wenn diese ihn „rein zufällig“ einmal „vergessen“. Einige Jungen, die sich besonders gut verstehen, verbinden das Hochreißen der Hände mit einem „Abklatschen“ im Kreis – körperliche Nähe, wie sie Jungen in diesem Alter gerade noch zulassen können. Regelhaftigkeit, Verlässlichkeit, Vertrautheit – je chaotischer das Seelenleben und je unklarer das körperliche Empfinden ist, desto wichtiger sind für Jungen sinnstiftende, strukturierende Routinehandlungen – Rituale eben. Und seien sie noch so banal – sie geben Halt, verbinden, ordnen.
1
Definition der Weltgesundheitsorganisation (WHO): „....diejenigen Fähigkeiten, die einen angemessenen Umgang sowohl mit unseren Mitmenschen als auch mit Problemen und Stresssituationen im alltäglichen Leben ermöglichen. Solche Fähigkeiten sind bedeutsam für die Stärkung der psychosozialen Kompetenz.“
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4.5 „Im Takt bleiben!“ – Disziplin Wer gibt in der Gruppe den Ton an? Folgen die anderen? Wie gehen Jungen mit Konkurrenz um? Wie funktioniert überhaupt eine Gruppe? Das eigene Verhalten in der Gruppe zu reflektieren, Verantwortung zu übernehmen oder sich bewusst (?) führen zu lassen – diese wichtige Sozialkompetenz zu erlernen bedarf es Regeln, Struktur und – Disziplin. Das Präventionsteam bietet Jungen u. a. in Trash Drumming-Workshops die Möglichkeit, sich spielerisch mit dieser Thematik auseinander zu setzen. „Trash Drumming“ – das Trommeln auf großen, leeren Ölfässern erfordert den „ganzen Mann“: Die Fässer schwingen nicht, die Tonerzeugung erfordert Kraft, die Erschaffung eines Rhythmus` verlangt Ausdauer. Zu klären ist: Was wollen wir trommeln, wer übernimmt welchen Part? Wie bekommen wir das synchrone Trommeln hin? Wer gibt den Takt vor? Eine eigene Idee (Solo) wird an einem Extra-Fass gespielt, dafür muss der Solist aus der Gruppe hervortreten. Nur wenn sich alle an die Regeln halten und nicht wild durcheinander quatschen/trommeln, wird aus dem Krach ein beeindruckender „Groove“. Beim Üben reihen sich die Teamer ein, ordnen sich auch den Anweisungen von (jeweils führenden) Workshop-Teilnehmern unter. Die anschließende öffentliche Präsentation wird meist ohne Teamer bestritten. Wichtig ist die Funktion der Erwachsenen beim Vorleben der Disziplin. Der Clou ist in jedem Fall die Präsentation (beim Schulfest, Stadtteilfest o. ä.): Nur so gibt es Lampenfieber und die Erfahrung, gemeinsam Stresssituationen positiv meistern zu können (trotz vor Aufregung feuchter Hände, aus denen die Knüppel rutschen …) – mit Disziplin zum Erfolg.
4.6 „Was guckst du?!“ – Respekt Die Einsicht in die Gefährlichkeit des eigenen Risikoverhaltens, das die Möglichkeit der Selbstschädigung in sich trägt, erfordert Respekt: Vor der eigenen Person mit all ihren Verletzlichkeiten, vor der Wirkungsweise und Potenz einer konsumierten Droge, vor den möglichen Auswirkungen des eigenen Tuns und – vor den Grenzen anderer Personen. Selbstbeherrschung, das Anerkennen sozialer Regeln, schützen vor Verwahrlosung und fördern die Entwicklung sozialer Kommunikationsfähigkeit, sind unabdingbare Voraussetzung für das gesellschaftliche Integriert-sein. Die Songs der bei vielen jungen männlichen Teilnehmern der DROBS-Projekte so beliebten HipHop-Musik quellen über mit Texten zu diesem Thema – allein, es sind hohle Floskeln und leere Gesten: Im 179
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Alltag der Jungen und jungen Männer spielt das Thema nur allzu oft als Idee eine Rolle. Dem Klischee des wilden, unangepassten Draufgängers folgend, aber – noch nicht zuhause im eigenen Körper – in erster Linie nach Identität suchend, haben sie vor nichts und niemand Respekt, am allerwenigstens vor sich selbst. So wird das Präventionsteam nicht selten von Schulen angefragt, speziell für die nicht angepassten, auffälligen Jungen Kurse zur Sozialkompetenz, Respekt und Disziplin anzubieten. Diese Kurse können nur von Erfolg sein, wenn sie langfristig angelegt sind. Und so konzipieren die DROBS-Mitarbeiter jahresbegleitende Projekte für Jungen, die nur diesen Themenkreis bearbeiten. Spielerisch, mit erlebnispädagogischen und kooperativen Elementen, vor allen Dingen aber mit eindeutigen Regeln und Sanktionen geführt, erobern sich die Teilnehmer dieses Terrain. „Schließlich ist eine klare und transparente Festlegung von Regeln des Umgangs in der Klassengemeinschaft für Jungen von erheblich größerer Wichtigkeit als für Mädchen. Diese schaffen es mit typisch weiblicher Sensibilität sehr schnell, den sozialen Code des Umgangs in der Gruppe zu entschlüsseln. Das fällt den machtorientierten und instrumentell eingestellten Jungen sehr schwer. Sie müssen erst Freude am Leben in einer Gemeinschaft entwickeln können, auf die Reize von Harmonie und Aufgehobenheit in der Gruppe aufmerksam werden und lernen, Vereinbarungen einzuhalten.“ (Hurrelmann/Quenzel 2008: 77)
Am Ende begreifen sie, dass es sehr viel „cooler“ sein kann, sich als Mann auch zurückhaltend, begrenzt und respektvoll verhalten zu können.
4.7 „Face Your Fear!“ – Reflexion Dem bekannten Werbeslogan „Begegne deiner Angst!“ aus der Hochzeit des Bungee-Jumpings folgt auch das DROBS-Team bei der Arbeit mit Jungen – wenn auch mit gänzlich anderer Intention. In einem Jungenprojekt (6. Klasse, ca. 12 Jahre) sind zwei „dicke“ Freunde, der Kleinste aus der Klasse (keck und wagemutig) und der Klassengrößte (bedächtig und zurückhaltend) – ein Paar wie Pat & Patachon. Beim Klettern im nahegelegenen Mittelgebirgszug ergibt sich folgende Situation: Der Große soll den Kleinen sichern – eine Angelegenheit, die sich dank des Sicherungsgeschirrs theoretisch mit Daumen und Zeigefinger bewerkstelligen lässt. Beim Anblick des kleinen Freundes, der sich anschickt, den 20 m hohen, steilen Felsen zu erklimmen, befällt den Großen Panik, seiner Aufgabe nicht gerecht zu werden. Mit zittriger Stimme bittet er 180
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einen Teamer um Hilfe. Der beruhigt und weist auf die Stärke des Jungen hin, fragt aber: „O.K. – wo soll ich anfassen?“. Die Antwort: „Hinter mir!“ – eine Sicherung des Sicherers also ... Bei der (für diese Art des pädagogischen Arbeitens unerlässlichen) Reflexion des Geschehens am Abend im Lager kreuzt der Klassengrößte auf dem Reflexionsbogen in der Spalte „Ich habe heute eine neue Erfahrung gemacht“ den höchsten Wert „Stimmt total“ an – er hat nämlich die Erfahrung gemacht, dass auch ein „starker Mann“ in bestimmten Situationen Unsicherheit spüren kann, Hilfe benötigt und sie sich auch holen kann – ohne das Gesicht zu verlieren. Eine Rolle wird um ein weiteres Spektrum erweitert ...
4.8 „Zuckerfest & Weihnachten“ – Multikulti Obwohl in unserer multikulturellen Gesellschaft Jugendliche beider Geschlechter tagtäglich an den Schulen eine – von den Erwachsenen viel zu wenig honorierte – Integrationsleistung erbringen, kommt es gerade unter männlichen Jugendlichen nicht selten zu Spannungen und Auseinandersetzungen. Dabei kommen sowohl der Verhaftung in traditionellen, kulturell eingefärbten Rollenmustern, als auch dem Hadern mit von den Erwachsenen vorgegebenen Stereotypen wesentliche Bedeutung zu. Auch in den Projekten des Präventionsteams tauchen immer öfter Jungen mit Migrationshintergrund aus traditionell muslimisch geprägten Ländern oder Gebieten der ehemaligen UdSSR auf. Trotzdem treten hier die o. g. Probleme in den Hintergrund – vielleicht gerade deshalb, weil eben Eigenartigkeit und Andersartigkeit ständig als Themen mitschwingen. Gute Erfahrungen macht das Präventionsteam, indem etwa bei entsprechender Gelegenheit einfach besprochen wird, wie unterschiedlich bestimmte Feste gefeiert werden, welche Bedeutung sie eigentlich und für die Jungen tatsächlich haben. Oftmals wird hier die Zerrissenheit deutlich, weder zu der einen noch zu der anderen Kultur richtig dazuzugehören – das „darüber-reden-können“ macht diese innere Heimatlosigkeit erträglicher. Oder – bei dem Ausloten von Regeln und Grenzen – wird z. B. gemeinsames „Quellenstudium“ betrieben: Was steht in der Bibel, was im Koran, was sagt das Grundgesetz? Das Verbindende an dieser Auseinandersetzung ist die Erkenntnis, dass jeder Teilnehmer zwar in bestimmten Bereichen einen gewissen Freiraum beim Entwickeln eigener Rollenausprägung hat, sich in anderer Hinsicht aber durchaus auch als „Herr seiner Selbst“ an für alle gültige Vorgaben, Regeln und Grenzen zu halten hat.
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4.9 „All inclusive!” – Boys’ ResorT „Cut my life into pieces This is my last resort Suffocation, no breathing Don’t give a fuck if I cut my arm bleeding This is my last resort“ (Papa Roach 2000)
Seit 1998 bietet die DROBS Hannover eine Jugendgruppe an, die anfangs mit Mädchen und Jungen arbeitet. Da jedoch im Laufe der Zeit eigentlich nur Jungen in die Beratung kommen, für die dieses Gruppenangebot passend ist, wird das Konzept nach sechs Jahren entsprechend geändert. Anfang 2006 bekommt dies maßgeblich veränderte Konzept dann einen neuen Titel, bei dem nur zwei Buchstaben getauscht werden. Aber bekanntlich kann ein „kleiner Unterschied“ große Wirkung verursachen – und so wird aus der DROBS-Jugendgruppe die Jungengruppe Boys’ ResorT. Bei der Namensgebung lässt sich das Team von dem Text “Last Resort” der Nu-Metal-Band “Papa Roach” (im Teamer-Jargon auch „Testosteron-Mucke“ genannt …) inspirieren. Ein „Ressourcenorientierter Trainingskurs für Jungen und junge Männer entsteht, der den Teilnehmern – der Doppeldeutigkeit des englischen Begriffes entsprechend – gleichzeitig Zuflucht und Ausweg bietet. Der Zugang erfolgt freiwillig oder über eine Auflage. Eine Teilnahme an Boys’ ResorT ist maximal ein halbes Jahr lang möglich. Wenn das zu Beginn individuell vereinbarte Ziel verlässlich erreicht worden ist, ist nach Absprache mit den Teamern auch ein vorzeitiges Ende der Gruppenteilnahme möglich. Die Arbeit der DROBS mit den jungen Männern beruht auf drei Säulen: Bei Boys’ ResorT geht es neben „Suchtprävention“ insbesondere um „Persönlichkeit“ und „Lebensbewältigung“. Dienstags um 17:30 Uhr werden die Teilnehmer zur Gruppe abgeholt. Sie warten vor der Beratungsstelle, die bereits seit einer halben Stunde geschlossen hat. Meistens stehen da vier bis sechs Jungen oder Männer oder junge Männer – was ist man(n) zwischen 16 Jahren und 25 Jahren? Ihre persönliche Reife entspricht oft der von Minderjährigen, aber ihre Erfahrungen reichen auch für Erwachsene: Manche haben ihre Träume aufgegeben, sie sind arbeitslos, viele sind integriert oder berufstätig, studieren oder gehen noch zur Schule; manche sind mit dem Gesetz in Konflikt geraten oder haben ihren Führerschein verloren. Und – sie sind alle durch ein Risikoverhalten aufgefallen. Einige wollen freiwillig an 182
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ihrem Risikoverhalten etwas ändern, andere nicht. Manche von ihnen leben in Beziehungen, und – es sind auch junge Väter unter den Teilnehmern. Nennen wir sie Superman, Hulk oder Hellboy – das würde ihnen vielleicht gefallen, aber im Grunde ist es egal, wie man sie nennt: Sie stecken alle mitten in ihrem Leben und angesichts ihrer Probleme wünscht man ihnen gelegentlich die Fähigkeiten von Superhelden. Denn das Leben hat ihnen eine Lektion erteilt, hat ihnen Zähne gezeigt – sonst wären sie Dienstagabend nicht zur DROBS gekommen, zu Boys’ ResorT. In Boys’ ResorT werden die jungen Männer immer wieder mit den Fragen konfrontiert, die das Leben stellt und deren Beantwortung gelegentlich schwierig, wenn nicht gar unmöglich ist: Wie ist/war meine Beziehung zu meinem Vater? Welchen Einfluss hat oder hatte er auf mich? Wann ist ein Mann ein Mann? Was sind meine Stärken und Schwächen? Welche Vor- und Nachteile hat mein Drogenkonsum? Welche Risiken bin ich bereit einzugehen und was schützt mich? Wie gehe ich mit Stress und Konflikten um? Wie gehe ich mit meinen Gefühlen um? Wo und wie übernehme ich Verantwortung? Nicht, dass sich die jungen Männer eine Antwort von Boys’ ResorT auf diese Fragen erhoffen würden (manche von ihnen haben sich diese Fragen noch nicht einmal gestellt), aber die Teamer wissen, dass es genau darum geht. Sie wissen es, weil sie sich diese Fragen selber irgendwann einmal gestellt haben. Auch sie standen und stehen noch vor Herausforderungen. Diese wachsen mit der Zeit, aber jeder Mitarbeiter erinnert sich an seine eigene Jugend und die damaligen Herausforderungen – und sei es wie es war, das allererste Mal vom 3-Meter-Brett springen zu müssen ... „Jetzt endlich weißt du dass deine Eltern dich nur zeugten damit du hier wie ein Vollidiot fröstelnd und ohne Not über allem stehst und nicht vorwärts gehst Und du weißt, dass dein Vater sich fragt, „wird er das bringen?“ und deine Mutter sagt „nein“ und aus endloser Menge erklingen ermunternde Rufe „jetzt musst du springen!“ (Element Of Crime 1999)
Die meisten springen, nur die Landungen sind unterschiedlich. Und die Boys’ ResorT-Teilnehmer sind auch irgendwann „gesprungen“, nur sind 183
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manche von ihnen „auf dem Bauch gelandet“ … Aber was bedeutet das schon? Jean-Jaques Rousseau sagte von sich selbst, faul und „dazu bestimmt, von allen Berufen ausgeschlossen zu sein“, Gottfried Keller war (auch) ein Schläger und Schuldenmacher, Charles Baudelaire war zeitlebens erfolglos, und Sigmund Freud hat jahrelang Kokain konsumiert. (vgl. Koch/Overath/Overath 2006) Bauchlandungen gehören zum Leben, aber wie kann „Mann“ dennoch gesund und genussvoll das Leben meistern? Die Antwort lautet: Seine persönlichen Ressourcen erkennen, sich seine Schwächen eingestehen können; Verantwortung übernehmen können; Rituale zu schätzen lernen; sich Freiräume verschaffen; Respekt zeigen; verbindliche Regeln schaffen und diszipliniert handeln. Und den Gefühlen einen Ausdruck geben! Die DROBS-Mitarbeiter verschaffen den Teilnehmern einen Raum hierfür, bieten sich als Projektionsfläche an und geben ihnen ein Feedback. Stetiges Feedback gibt den jungen Männern die Möglichkeit, innerhalb der Gruppe neue Persönlichkeitsprofile für sich zu entdecken, zuzulassen und andere (männliche) Rollenanteile an sich wahrzunehmen und in sich zu integrieren. Das Reflektieren von eigenem Verhalten erweitert das Rollenspektrum und ergänzt die Persönlichkeit somit auch um diverse Handlungsoptionen. Und: zumindest ein positives Feedback macht die jungen Männer auf ihre Ressourcen aufmerksam – hieraus schöpfen sie Kraft! Aber Feedback sorgt auch für Diskrepanzen. Und sich an Diskrepanzen zu reiben, sie vielleicht zu beseitigen oder aber all die Widersprüche und Zwiespälte in sich zu integrieren, mit ihnen umgehen zu lernen und trotzdem ungebrochen zu bleiben – das kann ein Ziel sein, für das es sich zu kämpfen lohnt! Und kämpfen tun sie alle! Welche Superhelden kämpfen nicht? Hierbei kommen die eigenen Ressourcen zu Tage: Superman gelingt es mühelos – fest eingebunden in die muslimische Tradition der Familie – in der 4-wöchigen Fastenzeit seinen Drogenkonsum komplett einzustellen. Das Erstaunen und die offene Bewunderung in der Gruppe sind groß, als dies bei seinem Bericht über das Zuckerfest zur Sprache kommt. Ihm selbst wird die Bedeutung seines Handelns erst bewusst, als mit der Gruppe nachgeforscht wird, wie ihm das gelungen ist und warum es ihm im Alltag sonst so schwer fällt. Und da ist zum Beispiel der ewige Kampf ums Mann-sein (Gruppenthema: „Wann ist der Mann ein Mann“) … Der 19jährige Hulk (er kommt wegen einer Auflage des Gerichtes zu Boys` ResorT – Gewaltdelikt im Alkoholrausch) antwortet auf die Frage, wie er als Mann mit Konflikten umgeht: „Wenn mir einer schräg kommt, den hau` ich um!“ Die Teamer haken nach: „Unter anderem deswegen bist du doch hier! 184
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Fällt dir nicht noch was anderes ein?“ Hulk denkt kurz nach und schüttelt dann energisch den Kopf. Im Brustton der Überzeugung sagt er: „Nee! Was willste denn machen – willste Knecht sein?!“ Und was macht Hulk, wenn es um die Liebe geht? Beim DauerThema „Beziehungen“ kommt Folgendes zutage: Hulk und seine Freundin (auch die Mutter des gemeinsamen Kindes) haben getrennte Wohnungen. Dennoch besteht sie darauf, dass Hulk jede Nacht bei ihr schläft. Er hat ein Problem damit. Er ist vor ein paar Wochen durch die Abschlussprüfung seiner Ausbildung gefallen und muss sich auf die Wiederholung der Prüfung vorbereiten. Mit der Freundin zusammen gibt es immer wieder Stress, und dann auch noch der Kleine in der Wohnung … Aber Hulk ist auch eifersüchtig, und geht mit potentiellen „Rivalen“ nicht gerade zimperlich um. Sie sagt: „Wenn du nicht hier bist, gehe ich wieder alleine auf die Piste …!“ Er fragt in die Runde: „Was soll ich machen? Dann dackel ich da eben jeden Abend hin, ich will sie ja nicht verlieren. Und ich tue es für meinen Sohn.“ Und so „dackelt“ (!) derselbe junge Mann, der niemals „Knecht“ sein wollte, zu seiner Freundin … Mit diesen Diskrepanzen konfrontiert Boys’ ResorT ihn und die anderen – denn auch, wenn sie die Widersprüche nicht wahrhaben wollen oder können, so spüren sie sie doch bei jeder sich bietenden Gelegenheit schmerzhaft. Und nicht selten fehlt ihnen das Instrumentarium dazu, mit quälenden Widersprüchen anders umzugehen als in der Weise, die ihnen (und vielleicht auch anderen) massive Probleme verschafft. Erfahrungen werden also mit Boys’ ResorT reichlich gesammelt, doch die Frage, „Wann ist ein Mann ein Mann?“ stellt sich bis zuletzt. Alle Teilnehmer äußern hierzu ihre Ideen und Vorstellungen, doch am Ende sind ihre Beiträge zur Männlichkeit (bis auf biologische Unterschiede) nicht von weiblichen, bzw. geschlechtsneutralen Eigenschaften zu trennen – sie sind eben menschlich. „Während ich nach vorn gebeugt auf dem zweihundertjährigen Sofa saß und in ihre grünbraunen Augen sah, wurde mir klar, dass meine Mutter alle Eigenschaften verkörperte, die ich mit Männlichkeit verband: Härte, Ausdauer, Entschlossenheit, Zuverlässigkeit, Ehrlichkeit, Rechtschaffenheit, Mut. Vage war ich mir dessen immer bewusst gewesen, doch als ich jetzt zum ersten Mal einen Blick auf die Kriegerin erhaschte, die sich hinter ihrer ausdruckslosen Miene verbarg, begriff ich es vollständig und konnte es zum ersten Mal in Worte fassen. So lange hatte ich gesucht und mir gewünscht, hinter das Geheimnis zu kommen, wie man ein guter Mann wird, dabei hätte ich nur dem Beispiel einer einzigen überaus guten Frau folgen müssen.“ (Moehringer 2005: 418)
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Viele Antworten werfen erneut Fragen auf. Allerdings kann man sich einer Antwort auch annähern – so antwortet der 22jährige (freiwillig teilnehmende) Hellboy bei der obligatorischen Schlussrunde auf die Frage „Was nimmst du heute mit?“ vollkommen ernst und nachdenklich: „Also – ich nehme heute mit, dass Schwule auch Männer sind!“ Nicht schlecht!! Und ganz nebenbei: Die Teamer kennen keinen Superhelden, der diese Erkenntnis jemals gewonnen hätte …
5 . R e s ü m e e u n d Au s b l i c k Nicht nur das Feedback der unterschiedlichen Adressaten dieser genderorientierten Arbeit ist für das Präventionsteam positiv, auch von indirekt Beteiligten kommt Verstärkung (Zitat/Lehrerin eines 8. Jahrgangs im Anschluss an ein Jungenprojekt des Präventionsteams zum Thema „Respekt“): „Was haben Sie denn mit den Jungs gemacht? Die sind ja wieder beschulbar!“. Selbst wenn die Mitarbeiter persönlich Unsicherheit ob des Erfolges einer Maßnahme verspüren, ist das Echo positiv (Zitat/Mitarbeiterin der Jugendgerichtshilfe über einen per Auflage verpflichteten Teilnehmer von Boys` ResorT): „Ich habe den Eindruck, dass der Junge wirklich von der Verbindlichkeit und Regelmäßigkeit Ihrer Gruppe profitiert hat! Den Raum, über seine Probleme reden zu können, hat er so sonst nirgends in seinem Leben.“
Zudem bestätigen die nach dem „Pisa-Schock“ durchgeführten neuesten Studien zu den Ursachen der Lernschwächen besonders des männlichen Geschlechts den Weg, den das Präventionsteam in der Arbeit mit Jungen und jungen Männern eingeschlagen hat: „Sollen die Jungen in ihrer Kompetenzentwicklung positiv beeinflusst werden, müssen sie (…) in ihren typischen männlichen Eigenschaften gestärkt und in ihren bisher erfolgreichen schulischen Aktivitäten bestätigt, zum anderen aber in ihren Schwachzonen gezielt aufgebaut werden. Das Fernziel der Männerförderung ist dann, analog zur Frauenförderung, die Fixierung auf die traditionelle Geschlechtsrolle abzubauen und zu einem flexibleren Verständnis von Mannsein zu kommen. Das ist die wichtigste Erkenntnis der Studien: Die Leistungsfähigkeit der jungen Männer kann effektiv nur dann gefördert werden, wenn ihre gesamte Perspektive der Lebensführung inklusive ihres Körper- und Selbstbegabungsbildes zum Thema wird.“ (Hurrelmann/Quenzel 2008: 77)
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10 JAHRE GENDER-ARBEIT IN DER PRÄVENTION MIT U. FÜR JUNGEN UND MÄNNER
Mittlerweile ist diese Art zu arbeiten für das Team ganz selbstverständlich geworden – durch den Zugang von zwei Kolleginnen können nun auch Projekte angeboten werden, die beiden Geschlechtern gerecht werden. Trotzdem kommt der Arbeit mit Jungen und jungen Männern auch in Zukunft eine besondere Bedeutung zu: „Es hat lange gedauert, bis die Benachteiligung der Mädchen und Frauen als inakzeptabel wahrgenommen wurde und Gegenstrategien als notwendig galten. Nun droht eine Benachteiligung der jungen Männer. Auch sie haben ein Anrecht darauf, Geschlechtergerechtigkeit zu erfahren.“ (Hurrelmann/ Quenzel, ebd.)
Im Zuge des laufenden Qualitätsmanagements wird es für das Präventionsteam nun zukünftig darum gehen, die gender-orientierte Ausrichtung der Arbeit als Qualitätsmerkmal zu etablieren.
Literatur Auernheimer, Georg (2002a): Interkulturelle Kommunikation, vierdimensional betrachtet, www.uni-koeln.de/ewfak/Allg_paeda/int/ pub/ik_kompetenz.htm, 18.06.2002 Auernheimer, Georg (2002b): »Kultur, Lebenswelt, Diskurs – drei konkurrierende Konzepte«. In: Tertium Comparationis – Journal für International und Interkulturell Vergleichende Erziehungswissenschaft 2, S. 93-103. Auernheimer, Georg (2003): Einführung in die Interkulturelle Pädagogik, Darmstadt. Badura, Bernhard/Feuerstein, Günter/Schott, Thomas (Hg.) (1993): System Krankenhaus. Arbeit, Technik und Patientenorientierung, Weinheim/München. Beauftragte der Bundesregierung für Ausländerfragen (2000): Bericht über die Lage der Ausländer in der Bundesrepublik Deutschland, Berlin/Bonn. Hintz, J. (2008): Frauen am Brandherd, in „Beruf und Bildung“, Beilage der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung vom 18.10.08; Hannover. Hurrelmann, K./Quenzel, G. (2008): „Lasst sie Männer sein“ in ZEIT ONLINE; http//www.zeit.de/2008/44/C-Leistungsabfall. Koch, M. /Overath, A./ Overath, S. (2006): Genies und ihre Geheimnisse, Berlin. Krämer, K. (2008): „Männergesundheit im Fokus des DAK-Gesundheitsreports 2008“ in Landesvereinigung für Gesundheit und Aka-
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CARSTEN THEILE UND LENNART W ESTERMANN
demie für Sozialmedizin Niedersachsen e. V. (Hrsg.): impulse 3/08, Hannover. Landschaftsverband Westfalen-Lippe (Hrsg.) (2008): Leitfaden zur männerspezifischen Sucht- und Drogenarbeit – Handlungsempfehlungen für die Praxis, Münster. Moehringer, J. R. (2005): Tender Bar; Frankfurt a. M.: Pinquart, M./Silbereisen, R. K. (2008): „Prävention und Gesundheitsförderung im Jugendalter“. In: Hurrelmann/Klotz/Haisch (Hrsg.): Lehrbuch Prävention und Gesundheitsförderung, Bern. Schmidt, B. (1998): Suchtprävention bei konsumierenden Jugendlichen – Sekundärpräventive Ansätze in der geschlechtsbezogenen Drogenarbeit, Weinheim/München. Schnack, D./Neutzling, R. (2000): Kleine Helden in Not. Jungen auf der Suche nach Männlichkeit, Hamburg. Vogel, G. (1999): „… immer gut drauf?“ in Aktion Jugendschutz Bayern (Hrsg.): Ideenbuch zur jungenspezifischen Suchtprävention, München.
Tonträger Element Of Crime (1999): „Jetzt musst Du springen“ auf „Psycho“, Motor; Berlin. Papa Roach (2000): „Last Resort“ auf “Infest”, Dreamworks Records; Los Angeles.
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Au torinne n und Autore n
Thomas Altgeld, Dipl. Psychologe, Geschäftsführer der Landesvereinigung für Gesundheit und Akademie für Sozialmedizin Niedersachsen e.V., Vorstandsmitglied der Bundesvereinigung für Prävention und Gesundheitsförderung e.V. sowie der Bundesarbeitsgemeinschaft Mehr Sicherheit für Kinder e.V., Leiter der Arbeitsgruppe „gesund aufwachsen“ bei „gesundheitsziele.de“ Arbeitschwerpunkte: gesundheitliche Chancengleichheit; Settingarbeit in der Gesundheitsförderung, Männergesundheit und systemische Organisationsentwicklung E-Mail: [email protected] Dr. Marie-Luise Ernst, lic.phil.I, Psychologin FSP. Beauftragte des Bundesamtes für Gesundheit BAG für die Förderung gendergerechter Suchtarbeit in der Schweiz. Selbständig erwerbend mit den Schwerpunkten Organisationsentwicklung, Bildungsarbeit und sozialwissenschaftliche Studien und Evaluationen. Lehraufträge an Fachhochschulen für die Themen der Gesundheitsförderung und Prävention sowie zu Sucht und Gender. Studien und Evaluationen unter anderem zu Frau und Sucht, HIV-Prävention, Gewalt, Gesundheitsförderung. E-Mail: [email protected] Prof. Dr. Karin Flaake (i. R.), Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, Arbeitsschwerpunkte: Sozialisation und Geschlecht, Adoleszenzforschung, Geschlechterverhältnisse im Bildungs- und Erziehungsbereich, psychoanalytisch-hermeneutische Methoden der Textinterpretation. E-Mail: [email protected] 189
MÄNNER IM RAUSCH
Andreas Haase, Jg. 1961, Gendertrainer und -berater, Organisationsberater, Coach und Herausgeber von „Switchboard - Zeitschrift für Männer und Jungenarbeit“ (www.maennerzeitung.de), Arbeitsschwerpunkte: Gendertrainings und -beratung (z.B. Qualifizierung, Qualitätsmanagement) in der Suchthilfe, männerspezifische Suchtarbeit (u.a. in Kliniken), geschlechtsspezifische Jungenarbeit, Organisationsentwicklung zu Gender-Prozessen E-Mail: [email protected] Dr. Jutta Jacob, Lehrerin und Diplom Psychologin, wissenschaftliche Mitarbeiterin des Zentrums für interdisziplinäre Frauen- und Geschlechterforschung an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg (ZFG). Arbeitsschwerpunkte: Langjährige Praxiserfahrungen in der ambulanten Sucht- und Drogenarbeit, Frauen und Sucht, Gesundheitsförderung im Justizvollzug, gesundheitswissenschaftliche Evaluationsforschung in den Bereichen Sucht, HIV, AIDS, Justizvollzug. E-Mail: jutta.jacob@uni-oldenburg Dr. Dr. h.c. Harald Klingemann, Soziologe, Südhang Klinik – Forschung und Entwicklung - Kompetenzzentrum für Mensch und Sucht & atf – Alkoholismus Therapieforschung Schweiz. Forschungsschwerpunkte: Suchtkarrieren und Selbstheilung von der Sucht sowie internationaler Vergleich von Therapiesystemen. Aktuelle Projekte in den Bereichen, „Erstauffällige Trunkenheitsfahrer“, „Kontrolliertes Trinken“ sowie „männerspezifische Therapiebedürfnisse in der Alkoholfachklinik“. E-Mail: [email protected] Herbert Müller, Diplom Heimerzieher und Sozialtherapeut. Mitbegründer und Geschäftsleiter der casa fidelio Institution für männerspezifische Suchttherapie in Niederbuchsiten Kanton Solothurn. Zuständig für Therapie, Ausbildung und Konzeptentwicklung; Arbeits- und Forschungsschwerpunkt: Praxisbezogene Arbeit mit suchtmittelabhängigen Männern, Therapeutische Leitung des Rehabilitationszentrums für suchtabhängige Männer casa fidelio in der Schweiz. E-Mail: [email protected] Prof. Dr. Heino Stöver, Lehre und Forschung an der Fachhochschule Frankfurt/Main, Fachbereich 4, Soziale Arbeit und Gesundheit; Forschungsschwerpunkte: Gesundheitswissenschaften und -politik in den Bereichen Drogenkonsum, Suchterkrankungen, Infektionskrankheiten (HIV/AIDS und Hepatitis) und Strafvollzug. E-Mail: [email protected] 190
AUTORINNEN UND AUTOREN
Carsten Theile, Dipl. Sozialpädagoge; Fachbereich Ambulant / Jugendhilfe im Jugend- und Suchtberatungszentrum Hannover (DROBS Hannover) Arbeitsschwerpunkte: Beratung und Betreuung von jungen Männern und Prävention. Langjährige Praxiserfahrungen in der ambulanten Alkohol-, Sucht- und Drogenarbeit. E-Mail: [email protected] Prof. Dr. Irmgard Vogt, Professorin an der Fachhochschule Frankfurt am Main, Fachbereich Soziale Arbeit und Gesundheit, Direktorin des Instituts für Suchtforschung der FH Frankfurt am Main, Arbeitsschwerpunkte: Beratung und Beratungsforschung, Suchtpolitik und psychosoziale Suchtforschung E-Mail: [email protected] Lennart Westermann, Dipl.-Pädagoge; Fachbereich Ambulant / Jugendhilfe im Jugend- und Suchtberatungszentrum Hannover (DROBS Hannover). Arbeitsschwerpunkte: Prävention und Gesundheitsförderung; Multiplikatorenfortbildung; betriebliches Gesundheitsmanagement; Arbeit mit Jugendlichen, Elternarbeit; Gender-Arbeit mit Jungen / jungen Männern und Vätern; Konzeptentwicklung. Langjährige Praxiserfahrung in der ambulanten Sucht- und Drogenarbeit, Veröffentlichung von Fachbeiträgen zu akzeptierender Drogenarbeit und neuen Ansätzen der Präventionsarbeit. E-Mail: [email protected]
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Studien interdisziplinäre Geschlechterforschung Constance Ohms Das Fremde in mir Gewaltdynamiken in Liebesbeziehungen zwischen Frauen. Soziologische Perspektiven auf ein Tabuthema 2008, 346 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-89942-948-0
Lydia Potts, Jan Kühnemund (Hg.) Mann wird man Geschlechtliche Identitäten im Spannungsfeld von Migration und Islam 2008, 234 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN 978-3-89942-992-3
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2009-02-05 14-53-44 --- Projekt: transcript.anzeigen / Dokument: FAX ID 02c7201744140368|(S.
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