Lust, Rausch und Ekstase: Grenzgänge der Ästhetischen Bildung [1. Aufl.] 9783839423080

In der Lust, im Rausch und in der Ekstase geht es um die Veränderung von Wahrnehmungs-, Bewusstseins- und Erfahrungsmust

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German Pages 208 Year 2014

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Table of contents :
Inhalt
Einleitung
Eine Ästhetik des Risikos. Grenzgänge der Ästhetischen Bildung
Lust
Ars Erotica? Zur pädagogischen Kultivierung der sexuellen Lüste im Abendland
Die performativen Aspekte des Torjubels. Lust, Rausch und Ekstase im Fußball
Rausch
Im Rausch des Lebens: Friedrich Nietzsche
Rausch und Rahmen. Liminale Erfahrungen im Theater
Der Rausch der Sprache. Überlegungen zum Erwerb des Japanischen
Ekstase
Musik und Ekstase: Richard Wagner
Exzesskonsum. Die Ekstase der Heckflosse
Der Nierentisch – Ekstase im Design
Autorenverzeichnis
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Lust, Rausch und Ekstase: Grenzgänge der Ästhetischen Bildung [1. Aufl.]
 9783839423080

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Eckart Liebau, Jörg Zirfas (Hg.) Lust, Rausch und Ekstase

Ästhetik und Bildung | Hg. von Eckart Liebau und Jörg Zirfas | Band 7

Eckart Liebau, Jörg Zirfas (Hg.)

Lust, Rausch und Ekstase Grenzgänge der Ästhetischen Bildung

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2013 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat & Satz: Anne Örtel, Jörg Zirfas Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-2308-6 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Einleitung Jörg Zirfas Eine Ästhetik des Risikos. Grenzgänge der Ästhetischen Bildung ……….……….…............. 9

Lust Leopold Klepacki & Jörg Zirfas Ars Erotica? Zur pädagogischen Kultivierung der sexuellen Lüste im Abendland …....……….... 31 André Studt Die performativen Aspekte des Torjubels. Lust, Rausch und Ekstase im Fußball …...…....……………….... 61

Rausch Eckart Liebau Im Rausch des Lebens: Friedrich Nietzsche ……………………. 85 Matthias Warstat Rausch und Rahmen. Liminale Erfahrungen im Theater .......... 107 Peter Ackermann Der Rausch der Sprache. Überlegungen zum Erwerb des Japanischen ...………............... 127

Ekstase Eckhard Roch Musik und Ekstase: Richard Wagner ……..…….......................... 151 Gert Schmidt Exzesskonsum. Die Ekstase der Heckflosse …………................. 177 Hans Dickel Der Nierentisch – Ekstase im Design ………………………….... 197

Autorenverzeichnis ……………………….....……………..……... 205

Einleitung

Jörg Zirfas

Eine Ästhetik des Risikos Grenzgänge der Ästhetischen Bildung

„Die Ästhetik aber geht zugrunde, wenn sie nicht die Richtung des Exzesses einschlagen darf.“ René Schérer

Vorbemerkung In der Lust, im Rausch und in der Ekstase geht es um die Veränderung von Wahrnehmungs-, Bewusstseins- und Erfahrungsmustern. Sie sind daher genuin sinnliche und im hohen Maß ästhetische Zustände. Und sie sind zugleich Risiko- und Bildungsszenarien. Denn in der Ästhetik der Lust, des Rausches und der Ekstase gehen Menschen bewusst über Grenzen hinaus und in einen Bereich des Anderen hinein. Für diese Entgrenzungserscheinungen in Kunst und Kultur finden sich nicht zufällig metaphorische Ausdrücke, in denen diese Szenarien prägnant zum Ausdruck gebracht werden: So heißt es nämlich, dass man in Bildern ertrinken, in Tönen baden, in Atmosphären eintauchen und von Stimmen ergriffen werden kann; oder es heißt, dass man von einer Darbietung gefesselt und von Melodien und Rhythmen ge- bzw. betroffen wird, oder auch, dass man sich in Phantasien verstrickt und seinen Leidenschaften folgt. Ästhetische Erfahrungen der Lust, des Rauschs und der Ekstase können als ästhetische Ur- und Grenzerfahrungen gelten, markieren sie doch Risse und Brüche mit dem Üblichen. Als Entgrenzungserfahrungen sind sie nicht nur mit intellektuellen, sondern vor allem mit sinnlichen und körperlichen Bewegungen und Veränderungen verbunden. Sie intendieren die Erfahrungen einer faszinierenden, aber auch erschreckenden Welt. In diesem Sinne gehen in die Lust, den Rausch und die Ekstase auch religiöse Momente mit ein, die oftmals durch rituelle Vorkehrungen begleitet werden. In ihnen kommen die Sehnsüchte nach ungelebten Möglichkeiten, einer neuen Zukunft oder einer utopischen Gegenwart zum Ausdruck (Wulf/Zirfas 2004).

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EINLEITUNG

Doch obwohl die angesprochenen Szenarien ein enormes Bildungspotential aufweisen, tauchen sie im Rahmen der Debatten um Ästhetische Bildung eher am Rande oder implizit auf. Dieses Potential soll in diesem Band daher explizit zum Thema werden; dabei kann die beschriebene Forschungslücke natürlich nur angedeutet, nicht umfassend bearbeitet werden. In dieser Einleitung wird nach einer kurzen begrifflichen, anthropologisch wie phänomenologisch orientierten Einführung zu den Phänomen Lust, Rausch und Ekstase aus pädagogischer Sicht an einige bildungstheoretische Zusammenhänge der ästhetischen Grenzerfahrungen von Lust, Rausch und Ekstase erinnert. In den weiteren Überlegungen stehen dann die ästhetische Lust, der ästhetische Rausch und die ästhetische Ekstase im Mittelpunkt der Betrachtungen. In den hier erfolgten Zugängen kann die Komplexität der historisch und kulturell je unterschiedlichen Konzeptionen der Grenzerfahrungen, die zudem in jeweils differente Theoriegeflechte aus Anthropologie, Theologie, Ethik, Erkenntnistheorie und Politik eingebettet sind, nur angedeutet werden.

Grenzphänomene Die Lust ist ein merkwürdiger emotionaler Zustand: Sie stellt sich bei der Erfüllung eines Wunsches ein, geht aber der Erfahrung der Befriedigung auch schon voraus. Die Lust ist heftiges Verlangen, Begierde und Appetit; sie ist aber auch das Behagen, das in der Befriedigung eines Verlangens erwächst, die Freude, das Vergnügen und die Ergötzung der Befriedigung. Und schließlich hebt die Lust auch weniger auf die Empfindung der Befriedigung, als vielmehr auf das, was die Befriedigung verursacht, ab. Die Lust wird zum Gegenstand der Lust. Die Grundbedeutung des dt. Wortes Lust, die zurückgeht auf den Bedeutungsumfang von „begehren“, „streben“, „sehnen“, „spielen“, „vergnügt sein“ – im Mittelhochdeutschen hat die Lust auch noch die interessante Bedeutung „Gehör schenken“ –, ist die Begierde, sodann das mit der Befriedigung der Begierde sich einstellende Gefühl. In das Bedeutungsumfeld der Lust fallen auch die nachbarschaftlichen Begriffe Freude, Wonne, Leidenschaften, Genuss, Vergnügen und Wohlbefinden (Barcha 2009: 9, 273).

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Unterschiedlichste Lüste – sinnliche und geistige, irdische und himmlische – treiben die Menschen an und werden doch gleichzeitig von ihnen zivilisiert, wie etwa die sexuellen, aggressiven oder auch die rationalen und ästhetischen Lüste. Die Lust gilt als Ziel einzelner Handlungen und als Lebensziel, sie gilt als Begleiter von einzelnen Handlungen und von umfassenden Lebensweisen und sie gilt als immer wiederkehrendes Bedürfnis. Zudem ist sie kein einfaches, sondern ein sehr komplexes Gefühl: „Die Lust ist eine vitale, individuelle, temporär begrenzte, wiederkehrende, variable Empfindung, die mit Wohlergehen (auf der Ebene des Spürens), mit Begehren (auf der Ebene des Wollens) und mit Befriedigen (auf der Ebene des Tuns) verknüpft ist. Als Wohlergehen ist die Lust ein gesättigter Zustand, als Begehren ein ungesättigter und als gelungenes Befriedigen eine sättigende Handlung. […] Das Lustgefühl ist immer augenblicklich, das Lustverlangen immer begrenzt und prinzipiell unersättlich“ (ebd.: 308).

In der Lust wird das menschliche Leben spannend und entspannend zugleich. Denn in der Lust herrscht das Prinzip der Hingabe, die ihre Erfüllung sucht und ggf. auch findet. Die Dimensionen des Spürens, Wollens und Tuns verweisen auf das Individuum als den Ort der Lust. Bildet die Lust-Unlust-Matrix nicht die Basis aller menschlichen Einschätzungen und Bewertungen? Ist Lust zu haben nicht Ausdruck gelungener Selbstbestimmung und Selbstübereinstimmung? In der Lust kommt der Mensch zu sich selbst; Lust ist das Gefühl des Für- bzw. In-sichselbst-Seins des Menschen. Die Lust zeigt dem Menschen an, dass sich seine (unbewussten) Bedürfnisse und Wünsche realisieren lassen. Der Rausch ist ein notwendiges Verlangen, dessen Kultivierung durch die Künste, die Medien, den Sport und die Drogen allgegenwärtig erscheint. Etymologisch betrachtet leitet er sich wohl von der rauschenden, ungestümen Bewegung her (d.h. vom Krachen, Sausen, Schwirren), die dann als metaphorische Übertragung für die Trunkenheit gebraucht wurde, wobei nicht nur das mit einem bestimmten Alkoholpegel verbundene Rauschen im Kopf als auch die geräuschvolle Lustigkeit der Zecher gemeint wurde. Erst dann wird der Rausch auch zum Taumel, zur seeli-

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EINLEITUNG

schen Trunkenheit oder zum Entzücken und zur Selbstvergessenheit. Der Rausch ist ein ästhetischer Ausfall, ein Ereignis, das den herkömmlichen Gang der Dinge zerbricht, die Sinne verwirrt, die Zeitlichkeiten verheddert und den Menschen aus der Bahn wirft. Hier geht es um veränderte Wachbewusstseinszustände (VWB), die mit der Veränderung des Denkens, der zeitlichen und körperlichen Befindlichkeiten und des Zeit- und Raumerlebens einhergehen; es kommt im Rausch zu Selbstkontrollverlusten, intensiveren Gefühlen und Verschmelzungsphantasien. Unabhängig von den diversen Formen des Rausches – des aggressiven, des sexuellen, des pharmakologischen oder des durch spezifische kulturelle Formen wie Sport, Musik, Konsum etc. hervorgerufenen Rausches –, besteht die entscheidende Dimension in einer mystischen Erfahrung, die sich in Aufhebungen von Grenzen und Differenzen, in Levitationen und Glücksbeschreibungen ausdrückt (Bruns 2002). Daher auch die Gefahr, sich im Rauschzustand zu verlieren: Denn in ihm geht es um das Jenseits von Tod und Leid. Daher aber auch die Gefahr, dass der Rausch in einen Zustand der Anästhesie umschlägt, weil dessen Intensität nicht dauerhaft erlebt werden kann. Der Begriff der Ekstase entstammt dem griechischen džǘǔǕǂǔǀǓ, das im ursprünglichen Sinne eine Ortsveränderung, die Entfernung von einem Ort oder ein Außer-sich-Sein meint; im lateinischen wird hier der Begriff alienatio verwendet. In den Begriff der Ekstase gehen Momente des Nicht-bei-sich-Seins, der Bewusstseinsveränderung bis hin zum Erlöschen des Selbstbewusstseins, der Entfremdung der äußeren Realität, des Erlebens intensiver Affekte und der Erfahrung des Transzendenten und Numinosen ein (vgl. Spoerri 1968: 2f.). Ekstase bezeichnet „das Heraustreten, das Außersichsein, u. zwar genauer das Heraustreten aus dem gewöhnlichen Zustand, der Ausnahmezustand gesteigerter Gefühl- und Seelenerregung, oft unter Zurücktreten oder Verschwinden des klaren Bewusstseins, was auch körperlich zum Ausdruck kommen u. verschiedene Stärken annehmen kann, von vorübergehender Dauer ist u. mannigfache Erscheinungsformen zeigt.“ Der Umfang des Begriffs erstreckt sich „vom Affekt der Freude, Furcht u. Trauer bis zum krankhaften Wahnsinn u. religiösem Gotteserfülltsein“ (Pfister 1959: 944f.).

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Die für die Ekstase verwendeten phänomenologischen Beschreibungen sind komplex und widersprüchlich, denn der mit ihm bezeichnete Zustand wird sowohl als unterwaches wie überwaches, als eingeengtes wie geöffnetes Bewusstsein, als Leere wie Fülle, als Chaos wie Integration, als Verlöschen wie Erwachen des Ichs etc. verstanden. Ekstasen entstehen durch Lust- und Reizsteigerungen, durch die Intensvierung von Erfahrungen wie auch umgekehrt durch die Miminierung von Intensitäten und Reizeinflüssen – wie z.B. durch Einsamkeit und Askese. Zudem erscheint es schwierig, die Ekstase eindeutig von Phänomen der Faszination, der Exaltiertheit, der Versunkenheit, der Trance, des Somnambulismus, der Hypnose und der Mystik abzugrenzen. Anthropologisch betrachtet ist die Ekstase der Zustand eines Außer-sich-Seins in sich selbst; oder ein Zustand, in der der Mensch die Fülle des Lebens genießen kann. Das Über-sichHinaussein des Rausches wird dem Menschen im Außer-sich-Sein der Ekstase bewusst (Caysa 2002: 112). Die Ekstase verweist auf Verzücken und Entsetzen, auf den Einbruch oder den Einfall des ganz anderen. In ihr geht es darum, die Grenzen des Humanen nach innen wie nach außen zu überschreiten. Die Ekstase ist die intellektuelle und affektive Überwältigung durch das Andere bzw. den Anderen. Insofern erscheint sie als die Transzendenzerfahrung par excellence. Und je kultivierter und durch Traditionen gesicherter das Außer-sich-Sein mit einem Zu-sich-selbstKommen verknüpft wird, desto eindeutiger und profilierter, ja bildungstheoretisch bedeutsamer erscheint diese Erfahrung (vgl. Pfister 1959: 9). Als Antipode der Ekstase gilt daher die Askese, die als bewusster Verzicht auf die Fülle und den Aufschwung in die Transzendenz bezeichnet werden kann. Der Ursprung der Ekstase wird in der Magie und der Religion vermutet. Entweder durch Praktiken der Ruhe (Apathie, Meditation, Kontemplation etc.) oder durch Praktiken der Bewegung (Tanz, Musik etc.) herbeigeführt, ermöglicht die Ekstase eine andersartige Erfahrung der Wirklichkeit. Es verwundert daher nicht, dass eine Form der Ekstase, nämlich der Enthusiasmus, schon früh mit den Fähigkeiten des Künstlers, namentlich mit dem Dichter, in Verbindung gebracht worden ist. Bei Platon (Ion, 532b-535a; Phaidros, 249b-250e) ist die Identität des Dichters eng verknüpft mit der des Priester und des Sehers; dem Künstler sind Sinne und Vernunft vergangen und er ist unmittelbares Sprachrohr und

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EINLEITUNG

Werkzeug der Götter. Die Künste, insbesondere die Dichtung und die Musik, entstehen aus dem ekstatischen göttlichen Enthusiasmus. Diese Lehre vom göttlichen Ursprung der Kunst lebt, mit säkularen Modifikationen versehen, in den Genius- und Ingeniumskonzeptionen der Renaissance und in den Geniekonzeptionen der Spätaufklärung und Romantik weiter (vgl. Krüger 2007: 20f.). Und es ist wohl im Vergleich mit den anderen Künsten die Musik, die einen ganz speziellen Transzendenzbezug besitzt und somit ganz besondere Ekstaseerfahrungen ermöglicht, gilt sie doch aufgrund ihrer semantischen Unbestimmtheit und ihrer emotionalen Ansteckungsfähigkeit seit jeher als eine Kunst, die nicht ganz von dieser Welt zu sein scheint. Zudem ist es wohl kein Zufall, dass gerade die flüchtige Kunst der Musik die aus der Zeit fallenden ästhetischen Ekstasen ermöglichen kann (vgl. den Beitrag von Eckhard Roch in diesem Band). Zusammenfassend: In der Lust geht es um das In-sich-Sein, im Rausch um das Über-sich-hinaus-Sein und in der Ekstase um das Außer-sich-Sein des Menschen. Dabei ist wohl deutlich geworden, dass man zwischen den genannten Phänomenen kaum eine begrifflich und auch phänomenologisch eindeutige Abgrenzung vornehmen kann. Denn die Lust ist auch eine Lust am Rausch oder an der Ekstase oder sie ist gar eine Lust des Rausches oder der Ekstase; und auch der Rausch geht mit ekstatischen Momenten einher, wie umgekehrt die Ekstase ihre rauschhaften Züge hat (vgl. den Beitrag von André Studt in diesem Band). Man kann die Lust, den Rausch und die Ekstase aber in einen finalistischen Zusammenhang stellen, denn die Lust zielt auf den Rausch und dieser wiederum auf die Ekstase.

Lust, Rausch und Ekstase in Bildungstheorien Beginnen wir mit der Lust, so wird man die These, dass die Auseinandersetzung mit Kunst und Kultur Lust bereiten bzw. Spaß – neuerdings auch „fun“ – machen kann, in der modernen Pädagogik sehr häufig lesen können; Lust und Spaß spielen z.B. im Kontext von reformpädagogischen Konzepten, die sehr stark auf die Entfaltung der sinnlichen und körperlichen Möglichkeiten der Kinder und Jugendlichen abheben, eine bedeutsame Rolle. Geht man allerdings vom griechischen Begriff ƿDžǐǎƿ (hedoné) – die durch den Geschmack vermittelte angenehme Empfindung –

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aus, der sowohl die Lust als auch die Freude umfasst, so lassen sich noch umfangreichere Betrachtungen mit Blick auf die ästhetische Bildung anstellen, etwa mit Aristoteles, der die Freude des Erkennens als ein den Menschen im besonderen Maße hervorhebendes Gefühl bezeichnet; mit Seneca, der darauf hinwies, sich an den richtigen Dingen zu erfreuen oder mit Epikur, der auf die Differenz von natürlichen und eingebildeten Freuden hinwies (Hauser u.a. 1980). Und auch in der Pädagogik wird die Freude seit dem Humanismus in eine unauflösliche Verbindung mit der Erkenntnis und dem Lernen gebracht; gerade in Verbindung mit dem Interesse und der Liebe ist sie für den Willen zur Vernunft unverzichtbar (vgl. Zirfas 2011). Sie ist darüber hinaus mit der Charakterbildung verbunden. Freude ergibt sich wesentlich aus der Tätigkeit, die als Grund und Folge von Freiheitsspielräumen begriffen werden muss und die den Solipsismus überwinden hilft. Hierbei denken vor allem die Renaissance und dann die Romantik an die schöpferischen künstlerischen Tätigkeiten. Vor allem in der letzteren Epoche wird die Zeit der Kindheit dann mit der Freude identifiziert; während der Mensch im Laufe seines Lebens diese Freude einbüßen solle, avanciert gleichzeitig die kindliche Freude als ewig verlorenes Paradies zum Ziel der Pädagogik. Und schließlich kann man auch an die ästhetischen „Fehlformen“ der Freude, an die Freude am Nutzlosen, am Kitsch und am Klischee erinnern, die ebenso ihre Beachtung gefunden haben (vgl. Lassahn 1975). Schon schwieriger wird es mit dem Rausch im Kontext der Bildungstheorien. Blickt man in die Kunst und die Kunsttheorie, so wird man in der Moderne auf den ersten Blick schnell fündig: Denn seit Friedrich Nietzsche gilt der Rausch als ästhetisches Urphänomen und geradezu als Voraussetzung der hohen Kunst. So wäre wohl ohne die tröstende oder stimulierende Kraft der drogeninduzierten Räusche ein bedeutender Teil etwa der Literatur des 20. Jahrhunderts nicht denkbar, weil schlicht nicht geschrieben worden. Statt des Verzichts auf das Stimulans und damit auf das Schreiben entschieden sich Autoren wie G. Benn (Amphetamine), H. Fallada (Alkohol, Morphium, Kokain), E. Jünger (Opium, LSD), K. Mann (Opium) und G. Trakl (Kokain und Alkohol) für den Rausch und für die Literatur (Brenner/Zirfas 2002: 63; Papajorgis 1993). Auch in der Öffentlichkeit gilt der Künstler oftmals

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EINLEITUNG

als derjenige, der gleichsam in einer Melange aus Wahnsinn und Rausch sein Werk vollbringt (Kris/Kurz 1995: 74, 160f.). Doch über die façon de parler des künstlerischen Schaffensrausches oder auch des ästhetischen Rausches der Sinne hinaus (vgl. Liessmann 1999), wird vom Rausch im Kontext der Bildungstheorien kaum systematisch gesprochen. Jedoch ist im Kontext der neueren ritualbezogenen Sozialisationsforschung auf die Bildungsbedeutung des Rausches hingewiesen worden. Vor allem durch Drogen, Sport und Musik initiierte Rauschrituale haben als (kollektive) Erfahrungen des Irrationalen und der Hingabe an Substanzen, Situationen und Sozialitäten ein enormes Bildungspotential, denn der Rausch als eine liminale synästhetische Erfahrung ermöglicht gerade Jugendlichen eine Übergangsarbeit ins Erwachsendasein in mehrfacher Hinsicht: als Generator von sozialen Beziehungen und Abgrenzungen, als Handlungsraum für Selbst- und Sozialexperimente, als Verschränkung von selbstgesteuerter Rationalität und Irrationalität in der Hingabe an das Andere, als Raum für die Wahrnehmung von Zustandsveränderungen und -konstanten und als kollektives Erlebnis von Enthemmung und Spaß (vgl. Sting 2009: 96; Mattig 2009, vor allem: 93ff.). So kann der Rausch nicht nur den Menschen ihre gesellschaftliche Entfremdung in einer synästhetischen Erfahrung nahe bringen (Hartwich 2009: 120), sondern auch zu einer erfolgreichen Sozialisation in die Gesellschaft beitragen. Der Begriff der Ekstase, so kann man zunächst festhalten, ist derjenige, der im Kontext von (ästhetischen) Bildungstheorien wohl am gebräuchlichsten ist. So findet man in der Geschichte der Pädagogik eine ganze Reihe von Beschreibungen und Reflexionen sog. „fruchtbarerer Momente im Bildungsprozess“ (Copei 1963), von Platons Dialog Menon oder seinem 7. Brief bis hin zu Montessoris Phänomen der Polarisation der Aufmerksamkeit, in denen die Ekstatik des Lernens sich dadurch auszeichnet, dass man sich aus vermeintlichem Wissen befreit, stereotype habituelle Reaktionen durchbricht, Erwartungshaltungen konterkariert und so zu neuen Wahrnehmens-, Handlungs- und Wissensstrukturen vorstößt. Diese Momente stehen auch im Zusammenhang mit Erfahrungen der Lust, des Rausches und der Ekstase. Daher ist in der Bildungstheorie der Kairos oft als Ergebnis eines Entwicklungsprozesses, als eine Erfüllung, als Erreichen einer Bildungsstufe, als subjektives Gefühl des Wissens, der Freude und des Glücks be-

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stimmt worden. Das Überwinden von intellektuellen, aber auch körperlichen Begrenzungen, die „Rückwege aus der Entfremdung“ (Buck) im Versunkensein in den Gegenstand, stehen durchaus mit den hier thematisierten Grenzerfahrungen in Verbindung. Und so finden wir ästhetische Bildungsekstasen in der antiken mania oder im Enthusiasmus ebenso wieder wie in der Begeisterung oder im flow (Csikszentmihalyi); auch die sich schon in den Diskursen der Reformpädagogik wieder finden lassenden Begrifflichkeiten wie „lebendiges Sprudeln“ (Freinet), „Versenken“, „Konzentration“ (Montessori), „Erfüllung“ (Makarenko), „schöpferische Leidenschaft“ (Hahn) oder auch „Interesse“ (Neill) verweisen auf ekstatische Momente im Bildungsprozess (vgl. Plöhn 2002). Friedrich Copei (1902-1945) etwa definiert diesen fruchtbaren Moment im Bildungsprozess als eine Form der sinnhaften Indifferenz, in dem sich ein äußerer, vorgegebener Sinn mit einer inneren, sich entwickelnden Struktur zusammenschließt, kurz: „die Verschmelzung von Subjekt und Objekt“ wird zu Formen „tiefster und lebendigster Sinnerfassung und Sinngestaltung“ (ebd.: 86, 101). Man kann diesen Augenblick als ekstatischen Moment im Bildungsprozess bestimmen, in dem sich ein Mensch durch Erschütterungen unterschiedlichster – intellektueller, ethischer, ästhetischer und religiöser – Art dazu veranlasst sieht, sein Leben ändern zu müssen (Bilstein 2004: 298ff.). Konzentriert um die teils erlittene, teils selbst herbeigeführte Erfahrung als Konfrontation mit einem Anderen, Fremden, Neuen ergibt sich die Lösung eines Problems, und zwar oftmals dann, wenn man es nicht erwartet. „Man kann den ganzen Prozess als die allmähliche Klärung einer dunklen Intention – oder Intuition – bis zum Punkte des Aufleuchtens bezeichnen. Er ist zugleich der Anschmiegungsprozess des Denkens an die Sache, im ,fruchtbaren Moment‘ verschmelzen beide, der Krampf des Suchens löst sich in einem Hingegebensein und in einem Verschmelzen mit der Sache. Nicht ich denke, es denkt in mir, das ist immer wieder der Eindruck der großen Männer in solchen Momenten gewesen“ (Copei 1963: 72).

Mit der Fruchtbarkeit des ekstatischen Moments sind mehrere Sachverhalte verbunden: eine „vor-romantische Metaphorik der

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EINLEITUNG

Prägnanz“, die mit der imaginären Vorstellung eines dunklen Grundes einhergeht, aus dem das Neue, das Plötzliche und Überraschende hervorgehen (Bilstein 2004: 301); ein Moment der Erwählung und des Ergriffenwerdens, das unausweichlich zu sein scheint, aber gleichwohl auch pädagogisch angebahnt wie verhindert werden kann; ein erzieherisches Dual von aktiver Gestaltung und quasi religiöser unio mystica (ebd.: 302); eine freudige Lösung von Suchprozessen, Spannungen und Widerständen; eine echte geistige Leistung für alle Lebensbereiche und eine das Leben des Betroffenen „umformende Macht“, eine „Gewalt“ und „Erschütterung (Copei 1963: 89), bei der die Fruchtbarkeit zur Furchtbarkeit des Augenblicks wird. Die Bildungsekstase ist ein erhabener, fast metaphysischer Augenblick, in dem der Alltag in einem anderen Licht erscheint, weil sich Wahrheit und Richtigkeit des Lebens eingestellt haben.

Die ästhetische Lust: Bildung als Spiel Im Kontext ästhetischer Theorien seit der Aufklärung findet sich eine Reihe von Theorien, die etwa von einer ästhetischen Lust sprechen, die unmittelbar mit dem Wahrgenommenen als natürlichem oder künstlichem Gegenstand einhergeht. Dabei lassen sich diverse Formen der ästhetischen Lust unterscheiden, je nachdem, ob sie mehr aktiv oder mehr kontemplativ, mehr kreativ oder mimetisch, mehr intellektuell oder sensorisch, mehr apollinisch oder dionysisch akzentuiert ist. Prominent ist hier Immanuel Kant (1724-1804) und seine Differenzierung des sinnlich Angenehmen von der ästhetischen Lust zu nennen: Während jene eine unmittelbar sinnliche Wahrnehmung impliziert, die über Reizungen der Sinne verläuft, ist diese eine spezifische Lust des ästhetischen Wohlgefallens, das auf das Spiel mit den Formen der Gegenstände zielt (Kant 1790). Die ästhetische Lust ist kein bloß sinnlicher Genuss, noch eine Lust, die sich der Übereinstimmung mit einer Regel oder einer kontemplativen Versenkung verdankt, sondern eine Lust der Reflexion: „Dagegen ist die Lust am Schönen weder eine Lust des Genusses, noch einer gesetzlichen Tätigkeit, auch nicht der vernünftelnden Kontemplation nach Ideen, sondern der bloßen Reflexion“ (Kant 1798: § 39). Ästhetische Urteile heißen mithin so,

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weil sie jedem ästhetisch Urteilenden selbst eine Erfahrung von Lust und Unlust ermöglichen und nicht, weil es sich um Urteile über Schönes, Erhabenes oder Kunst handelt; mit ihnen sind keine Eigenschaften von Gegenständen, sondern solche über Befindlichkeiten von Subjekten gemeint. Doch sind es in der ästhetischen Urteilskraft, und darauf macht Kant mit aller Deutlichkeit aufmerksam, nicht die unmittelbaren Empfindungen, die ein Wohloder Missfallen am Gegenstand auslösen, sondern die ästhetischen Formen – denn nur die Formen sind es, die einen Anspruch auf eine allgemeine Regel für das Gefühl erheben können (ebd.: § 64). Mit dem ästhetischen Urteil kommt aber vor allem eine Lust an der Reflektion auf die eigenen, subjektiven Formen des Wahrnehmens und Erkennens, eine Lust an der Selbstreflexion zum Ausdruck (vgl. Kern 2001). Denn nicht die Gegenstände sind im eigentlichen Sinne schön, sondern die Schönheit resultiert aus dem anthropologischen Vermögen, aus den Reflektionen auf subjektive Formgebungen und Bedeutungszuschreibungen Lust ziehen zu können. Die ästhetische Erfahrung der Schönheit bezieht sich dabei einerseits auf einen spezifischen Gegenstand sowie anderseits auf sich selbst, d.h. auf den Vollzug der Erfahrung, die das Subjekt als lustvoll erlebt; und diese Erfahrung kann deshalb als allgemein wertvoll beurteilt werden, weil diese Weise der Erfahrung von allen Menschen geteilt werden kann. Kant unterstellt hier, dass Menschen es genießen, der Welt subjektive Zweckhaftigkeiten zukommen zu lassen, und dass sie dabei vor allem sich selbst bzw. ihr Vermögen der Zweckbestimmungsfähigkeit (Urteilskraft) genießen. Nur indem der Mensch nicht(s) erkennen will, kann er erkennen, dass er erkennen kann: Und das erlebt er als lustvoll. „Die ästhetische Erfahrung ist wesentlich eine Kunst des Vergnügens und keine des Verstehens“ (ebd.: 144). D.h. im ästhetischen Spiel des Urteilens kann der Mensch die Lust an den eigenen Verstehensleistungen genießen. Allgemeiner gefasst ist die ästhetische Lust die positive emotionale Reaktion auf ein harmonisches Zusammenwirken des produktiven oder rezeptiven ästhetischen Subjekts und der Eigenschaften und Formen seines Gegenstandes. Die Ästhetische Bildung erscheint damit als spielerische Bereicherung des Lebens (Zirfas 2013).

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EINLEITUNG

Der ästhetische Rausch: Bildung als Einverleibung Mit Friedrich Nietzsche (1844-1900) erfährt die Ästhetische Bildung nicht nur eine leibliche Fundierung, die bis zur „Bildung der Eingeweide“ führt, sondern auch eine Rehabilitation des Rausches in der Ästhetik (vgl. den Beitrag von Eckart Liebau in diesem Band). Ästhetische Bildung wird von Nietzsche als grundlegende anthropologische Bildung und das Leben selbst als eine künstlerische Grundübung verstanden. In seiner Gegenüberstellung von apollinischer (bildnerischer) und dionysischer (musikalischer) Kunst erinnert Nietzsche zudem daran, dass im ästhetischen Bildungsgeschehen nicht nur (apollinische) Form- und Harmoniemomente, Sublimation und maßvolle Rationalität ihren Ort haben sollen, sondern auch (dionysische) Schreckens- und Leidensmomente sowie Verschmelzungs- und Rauscherfahrungen. Ästhetik wird zur „angewandten Physiologie“ (Nietzsche 1999/6: 418); und die Kunst „wirkt tonisch“, sie evoziert den Rausch und ist doch auf ihn als Bedingung der Möglichkeit ästhetischen Handelns angewiesen (Nietzsche 1999/13: 296). Ästhetische Phänomene, Erfahrungen und Urteile werden bei Nietzsche vom Körper und von den Lebensvorgängen her verstanden. Damit rücken der Künstler und seine Möglichkeiten der Kreativität ebenso in den Mittelpunkt wie die sinnlichen Empfindungen, die gegenüber der auf Nachvollzug und Erkenntnis gerichteten Wahrnehmung privilegiert werden. Im – durch Sexualität wie durch Feste, Affekte und Drogen hervorgebrachten – Rausch erlebt der Mensch Gefühle der Kraft und der Lebenssteigerung, einen Willen zur Macht, der sich die Wirklichkeit angeeignet hat und damit (für sich) legitimiert. So heißt es bei Nietzsche in den §§ 8 und 9 der „Streifzüge eines Unzeitgemässen“ in der „Götzen-Dämmerung“: „Zur Psychologie des Künstlers. – Damit es Kunst gibt, damit es irgendein ästhetisches Tun und Schauen gibt, dazu ist eine physiologische Vorbedingung unumgänglich: der Rausch. […] Das Wesentliche des Rausches ist das Gefühl der Kraftsteigerung und Fülle. Aus diesem Gefühle gibt man an die Dinge ab, man zwingt sie von uns zu nehmen, man vergewaltigt sie – man heißt diesen Vorgang idealisieren. […] Der Mensch dieses Zustandes [des Rauches, JZ] verwandelt die Dinge, bis sie seine Macht widerspiegeln – bis sie Reflexe seiner Vollkommenheit sind. Dies

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Verwandeln-müssen ins Vollkommene ist – Kunst. Alles selbst, was er nicht ist, wird trotzdem ihm zur Lust an sich; in der Kunst genießt sich der Mensch als Vollkommenheit“ (Nietzsche 1999/6: 116f.).

Der ästhetische Rausch ist Zustand der permanenten Erregung, des ständigen Involviertseins, der stetigen Transformation und der beständigen Machtausübung. Im ästhetischen Rausch verklären die Menschen die Dinge und legen eine Fülle in sie hinein, die die eigene Fülle und Lebenslust zurückspiegelt (Nietzsche 1999/12: 393). Der Rausch ist das Signum des potenten Künstlers, denn nur dieser ist in der Lage, sich die Wirklichkeit zu assimilieren. Im Rausch verleibt sich der Mensch die Wirklichkeit ein und verleiht ihr damit seine eigene, unverwechselbare, nicht intersubjektivierbare Form. Der Rauschhafteste ist der Übermensch mit der größten Fülle an Macht, denn er hat sich eine Fülle an Wirklichkeiten zu Eigen gemacht. „Der Rausch selbst ist daher als Prozess der Kraftsteigerung zu begreifen, dem unterschiedliche Momente und Phasen wie Zerstörung, Formung, Anwachsen, Ekstase, Sucht innerhalb des Spannungsfeldes von Dionysisch-Orgiastischem und Appolinischem eigen sind. […] Das Sein des Rausches ist daher wesentlich ein Über-sich-hinaus-sein-Können im Zu-sich-selbst-Kommen, es ist der gefühlte, erlebte und reflektierte Wille zur Macht“ (Caysa 2002: 105f.).

Im Zentrum der Nietzscheanischen Bildung steht nicht die Sexualität, das Alter oder der Tod, sondern die Nahrung und die Verdauung. Nietzsche zielt auf das paradoxe Projekt einer ästhetischen Erziehung der Eingeweide, einer Bildung durch den Geschmack – womit sowohl die sinnliche Fähigkeit als auch die ästhetische Kompetenz gemeint ist. Dabei hebt Nietzsche vor allem auf die Bedeutung der Sprache für das ästhetische Urteil ab; so solle niemand hoffen „auf einem anderen Wege zu einem ästhetischen Urtheile zu kommen als auf dem dornigen Pfade der Sprache und zwar nicht der sprachlichen Forschung, sondern der sprachlichen Selbstzucht“ (Nietzsche 1999/1: 684; vgl. den Beitrag von Peter Ackermann in diesem Band). Seinen Geschmack finden heißt aus der Wirklichkeit ein permanentes Objekt der Bejahung zu machen, heißt, die „ewige Lust des Werdens selbst zu sein“ immer wieder zu genießen – eine Lust, die auch die „Lust am Vernichten“ noch einschließt (Nietzsche

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1999/6: 160). Der Rausch ist ein Geschmacksverstärker, der zu einem sensibleren, intensiveren, konzentrierteren und bewussteren Erleben führt. Der Rausch ist Grausen, Tragödie, Verzückung, Bejahung, Fest, Hervorbringung von Fülle, Daseinsvollendung, Vergöttlichung und Entsubjektivierung – im doppelten Sinne.

Die ästhetische Ekstase: Bildung als Erlösung Und schließlich ist auch die Ekstase in der Ästhetischen Erfahrung durchaus zu finden, etwa in Arthur Schopenhauers (1788-1860) Modell der Kontemplation. Diese spielt insofern eine herausragende Rolle in seiner Philosophie und Bildungstheorie, als sie neben dem sich mit dem anderen Identifizieren im Mitleid die einzige Möglichkeit bietet, jenem Urwillen zu entkommen, der der grundlose Grund für den tiefen Schmerz und die bodenlose Langeweile des Menschen bildet. Der Weg der Erlösung führt dabei generell über die „Vorstellung“, d. h. über die Anschauung, das Denken hin zur Kontemplation. Das bedeutet zunächst, das Sehen als dreistellige prozessuale Relation zu begreifen, die über die Wahrnehmung und die Abstraktion bis hin zur Kontemplation führt, als Sehen der Erscheinung, als Sehen der Erscheinung als Erscheinung und als Sehen der Wirklichkeit durch die Erscheinung. In der Theorie der Kontemplation lässt sich nun ein ekstatisches Dual von Subjekt und Objekt ausmachen. Denn die Kontemplation ist für Schopenhauer eine doppelte Bewegung, eine des Subjekts und eine des Objekts. Subjekt und Objekt werden herausgerissen aus allen Relationen des unendlichen, metaphysisch gedachten Willens, der rast- und ruhelos nach Befriedigung strebt, ohne diese finden zu können. In der Kontemplation entspricht das Objekt auf der Gegenstandsseite dem inneren Zustand des Subjekts auf der anderen Seite. So tritt die Welt als Vorstellung in der Kontemplation rein und vollkommen hervor: „in ihr halten sich aber Beide ganz das Gleichgewicht: und wie das Objekt auch hier nichts als die Vorstellung des Subjekt ist, so ist auch das Subjekt, indem es im angeschauten Gegenstand ganz aufgeht, dieser Gegenstand selbst geworden, indem das ganze Bewußtseyn nichts mehr ist, als dessen deutlichstes Bild“ (Schopenhauer 1982: 233).

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Weltbild und Bilderwelt gehen hier eine unauflösbare, ununterscheidbare Einheit ein. Die Ekstasen der Dinge fallen mit den Ekstasen des Subjekts zusammen (vgl. den Beitrag von Gert Schmidt in diesem Band). Schopenhauers Theorie der ästhetischen Erfahrung hat ihren Fluchtpunkt in einer unauflösbaren, ununterscheidbaren, ekstatischen Einheit von Gegenstand und Betrachter in der Kontemplation. Die Kontemplation erlöst den Menschen, denn er wird ein „reines, willenloses, schmerzloses, zeitloses Subjekt der Erkenntniß“ (ebd.: 232).

Eine Ästhetik des Risikos Lust, Rausch und Ekstase sind sich selbst genug. Daher sind diese Grenzerfahrungen bildungstheoretisch wie -praktisch bedenklich. In ihnen geraten die Menschen in die Gefahr, überwältigt zu werden und nicht mehr zu sich selbst zu finden. Gefürchtet werden eine Auflösung, Ichverlust und Ohnmacht durch Rausch und Ekstase oder den Gegenstand der Lüste. Und obwohl von Natur aus flüchtige Momente, geht mit ihnen die Befürchtung einher, dass sie eine aktuelle oder dauerhafte Aufhebung der Selbstverantwortung zur Folge haben könnten (Düe 1993: 375). Damit würde der Rauschhafte, Ekstatische und von Lüsten Getriebene seinen sozio-moralischen Pflichten nicht mehr nachkommen; für ihn erschienen Recht und Gesetz belanglos, führen doch ästhetische Transzendenzerfahrungen über den Alltag – und gelegentlich auch über die Sozialität – hinaus. Die mit ihnen verbundene Logik der Überschreitung könnte zu einer immer wiederkehrenden Verschwendung und Verausgabung und in seinen Fehlformen auch zu Abhängigkeit und Sucht führen. In der Kulturgeschichte findet man daher immer wieder die allopathischen Versuche, die leibliche durch die rationale Lust, den dionysischen durch den apollinischen Rausch und die profane durch die sakrale Ekstase zu bekämpfen. Es geht um Selbstkultivierung und -ästhetisierung der Selbstbeherrschung, um einen souveränen Umgang etwa mit seinen Lüsten; denn schon mit den Vorsokratikern lässt sich eine negative Weichenstellung für den Lustdiskurs ausmachen, die die Lust mit Verblendung und Unheil, den lüsternen Menschen mit der Unbeherrschtheit und die Menschwerdung mit Verzicht auf die Lüste in Verbindung bringt, und damit die Lust mit Unvernunft, Sünde, Schmutz und Bedro-

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hung auflädt (Barcha 2009: 272, 290; vgl. den Beitrag von Leopold Klepacki und Jörg Zirfas in diesem Band). Und so erscheinen Lust, Rausch und Ekstase in modernen Risiko- und Erlebnisgesellschaften nur dann als funktionale, ja rationale Angelegenheiten, wenn sie den prästabilisierten und prästabilisierenden Ordnungen dieser Gesellschaften Folge leisten: Zwar gilt, dass wer kein Risiko eingeht, verkehrt lebt, oder kurz No risk – no fun (vgl. Kemper/Sonnenschein 2000, 2001). Doch ist dieser fun nur dann legitim, wenn er die demokratische, neoliberale Ordnung der Gesellschaft selbst nicht tangiert. Auch die Süchte werden toleriert, wenn sie zum Funktionieren von Gesellschaft und Wirtschaft beitragen. Wobei natürlich beachtet werden muss, dass die Ästhetiken der Lust, des Rausches und der Ekstase schon seit einiger Zeit auch warenförmig angeboten werden (vgl. den Beitrag von Hans Dickel in diesem Band). „Fun“, so lautet das diesbezügliche kritische Fazit, sei allerdings ein „Stahlbad“ der Kulturindustrie, das mit Gefühligkeit und Kitsch sowie mit Manipulation und Indoktrination einhergehe (Horkheimer/Adorno 1981: 126). Weil ästhetische Grenzerfahrungen potentiell gefährlich sind, sind sie immer wieder durch allerlei Ritualisierungen flankiert worden. Diese dienten i.d.R. nicht ihrer Steigerung, sondern ihrer Kanalisierung und Unterdrückung. Allerdings haben diese Ritualisierungen ihre Eigenlogik, die sich auch dann zeigt, wenn das intendierte Ziel in Lust, Rausch und Ekstase besteht – was sich nicht zuletzt beim „göttlichen“ Marquis de Sade zeigt. Denn die durch ihn betriebene systematische Rationalisierung der Lüste führt nicht nur zu einer neurotischen Ritualisierung der Praktiken und einer emotionalen Neutralisierung der Beteiligten, sondern auch zu einer hedonistischen Sättigung der (sexuellen und aggressiven) Lüste. Auch eine ästhetische Steigerungslogik kennt ihre absoluten Maße der Körper, der Zeit, der Intensität und der Innovation. Und nicht jede Ritualisierung führt zur Aufhebung von Selbstbetäubung und Selbstbetrug. Fasst man die letzten zweitausend Jahre der Diskurse und Praktiken um Lust, Rausch und Ekstase im Abendland holzschnittartig zusammen, so generieren diese das Ideal des selbstbeherrschten, souveränen Individuums, dem es um die Unterdrückung und Sublimierung der Lüste, um die Ritualisierung und Kultivierung des Rausches und die Rationalisierung und Spiritua-

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lisierung der Ekstase ging. In diesem Ideal ging es um die Hemmung der Hingabe und die Hingabe an die Hemmung. Und selbst das in der Gegenwart immer noch dominante Kunstverständnis, das Kunst mit Distanzierung und Reflexivität, statt mit Hingabe und Pathos in Verbindung bringt, partizipiert noch an dieser Tradition. Doch sind mit den ästhetischen Grenzerfahrungen und Grenzüberschreitungen auch anthropologische Bedürfnisse nach Leiblichkeit, Unmittelbarkeit, Nichtrationalität und Transzendenz sowie bildungstheoretische Möglichkeiten der Selbstentgrenzung und Selbsterweiterung verbunden (vgl. den Beitrag von Matthias Warstat in diesem Band). Sollte man daher nicht nur aus pädagogischer Sicht für eine Steigerung der Rausch- und Ekstasefähigkeiten, für die Herausbildung der Kompetenz eines kompetenten Scheiterns plädieren? Führt nicht der Rausch, sondern vielmehr die Askese und die Nüchternheit in die Sucht (Kamper 2002)? Vielleicht kann man zusammenfassend behaupten, dass die abendländische Geschichte im Kern eine Ästhetik der Nüchternheit vertreten hat. Sie hat das Risiko der Hingabe an das Andere nur dann zugelassen, wenn diese mit Kontrolle und Beherrschung einherging. Doch es ist nicht nur die Nüchternheit, „die das Risiko unentwegt zu steigern erlaubt“ (Peskoller 2004: 79), sondern man braucht dazu auch die Emotionen und die Phantasien. Eine Ästhetik des Risikos ist ohne Gefahren nicht zu haben. Der ästhetische Grenzgänger ist derjenige, der Lust, Rausch und Ekstase in einen Einklang bringen, d.h. ein In-sich-Sein, mit einem Über-sichhinaus-Gehen und einem Außer-sich-Sein harmonisieren kann. Dabei geht es um ein Spielen mit den Lüsten, wozu auch ein Spiel mit der Wahrnehmung und dem Bewusstsein gehört; es geht um die Räusche des Schmeckens und Genießens, die ein anderes, hingebendes Denken erlauben, und es geht schließlich um die Ekstasen des Sichverlierens und Auflösens, die die Existenz in einer ganz anderen Form erlebbar und verstehbar werden lassen. Kurz: Ein Ästhet des Risikos ist ein Akrobat auf dem Drahtseil. An dieser Stelle soll Anne Örtel für ihre sorgfältige und zuverlässige Redaktion des Buches sehr herzlich gedankt werden.

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Literatur Barcha, Fady (2009): Die Lust. Ein Disput in der abendländischen Tradition – von Homer bis Robespierre. Wien: Wilhelm Braumüller. Bilstein, Johannes (2004): „Der ekstatische Moment im Bildungsprozess“. In: Paragrana. Internationale Zeitschrift für Historische Anthropologie. Band 13, Heft 2: Rausch – Sucht – Ekstase. Berlin: Akademie Verlag, S. 293-310. Brenner, Andreas/Zirfas, Jörg (2002): Lexikon der Lebenskunst. Leipzig: Reclam. Bruns, Georg (2002): „Sehnsucht nach dem leichten Sein – Rausch als Transzendenzerlebnis“. In: Uhlig, Stephan/Thiele, Monika (Hg.): Rausch – Sucht – Lust. Kulturwissenschaftliche Studien an den Grenzen von Kunst und Wissenschaft. Gießen: Psychosozial-Verlag, S. 73-98. Caysa, Volker (2002): „Fun – Lust oder Sucht?“ In: Ebd., S. 99-119. Copei, Friedrich (1963): Der fruchtbare Moment im Bildungsprozess. 7. Aufl. Heidelberg: Quelle & Meyer. Düe, Michael (1993): Konzentration und Entrückung. Aus der Geschichte des Verhältnisses von ekstatischer Erfahrung und wissenschaftlicher Begriffsbildung. Heidelberg: C. Winter. Hartwich, Wolf-Daniel (2009): „Romantische Genuss-Religionen. Die Philosophie der ästhetischen Existenz“. In: Mattioli, Aram/Rudolph, Enno (Hg.): Philosophie der Lust. Orell Füssli Verlag, S. 115-152. Hauser, Richard/Lieberg, Godo/Schöpf, Alfred/Stempel, Werner (1980): „Lust, Freude“. In. Historisches Wörterbuch der Philosophie. Darmstadt: WBG, Sp. 552-564. Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W. (1981): Die Dialektik der Aufklärung. Frankfurt a.M.: Fischer. Kamper, Dietmar (2002): „Rauschfähigkeit – Die Balance des Glücks“. In: Uhlig, Stephan/Thiele, Monika (Hg.): Rausch – Sucht – Lust. Kulturwissenschaftliche Studien an den Grenzen von Kunst und Wissenschaft. Gießen: Psychosozial-Verlag, S. 177-182. Kant, Immanuel: (1790): Kritik der Urteilskraft. Werkausgabe Band X. Hg. v. Wilhelm Weischedel. Frankfurt a.M. 1982: Suhrkamp.

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Pfister, Friedrich (1959): „Ekstase“. In Reallexikon für Antike und Christentum. Band 4, Stuttgart: Hiersemann, Sp. 944-987. Plöhn, Inken (2002): Zur erziehungswissenschaftlichen Relevanz des „Flow“-Begriffs. Eine Analyse reformpädagogischer Konzepte. Hamburg: Dissertation, online. Schérer, René (1994): „Die Schönheit des Bösen“. In: Wulf, Christoph/Kamper, Dietmar/Gumbrecht, Hans-Ulrich (Hg.): Ethik der Ästhetik. Berlin: Akademie Verlag, S. 217-224. Schopenhauer, Arthur (1982): Die Welt als Wille und Vorstellung I. Züricher Ausgabe. Werke in zehn Bänden. Bde. I u. II. Hg. v. Arthur Hübscher. Zürich: Diogenes. Spoerri, Theodor (1968): „Der Begriff der Ekstase“. In: Ders. (Hg.): Beiträge zur Ekstase. Basel/New York: S. Karger, S. 1-10. Sting, Stephan (2009): „Jugendliches Rauschtrinken als ,passion agency‘“. In: Pargrana. Internationale Zeitschrift für Historische Anthropologie. Band 18, Heft 2: Handlung und Leidenschaft. Berlin: Akademie Verlag, S. 93-101. Wulf, Christoph/Zirfas, Jörg (Hg.) (2004): Paragrana. Internationale Zeitschrift für Historische Anthropologie. Band 13, Heft 2: Rausch – Sucht – Ekstase. Berlin: Akademie Verlag. Zirfas, Jörg (2011): „Zur Pädagogik der Glücksgefühle. Ein Beitrag zum Pursuit of Happiness“. In: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 14 (2011), Heft 2. Heidelberg/New York: Springer, S. 223-240. Zirfas, Jörg (2013): „Sapere aude oder Der Geschmack am ästhetischen Spiel. Immanuel Kants Perspektiven einer ästhetischen Aufklärung“. In: Klepacki, Leopold/Zirfas, Jörg: Geschichte der ästhetischen Bildung. 4 Bände. Band 3.1: Aufklärung. Paderborn u.a.: Schöningh (in Vorbereitung).

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Lust

Leopold Klepacki & Jörg Zirfas

Ars Erotica? Zur pädagogischen Kultivierung der sexuellen Lüste im Abendland „Das ästhetische Leben sollte auch die Freuden und Disziplinen des Körpers kultivieren.“ Richard Shusterman

Einführung: Scientia Sexualis oder Ars Erotica? Im ersten Band seiner Geschichte der Sexualität im Abendland hält Michel Foucault mit einem durchaus bedauernden Unterton fest, dass die abendländische Gesellschaft keine ars erotica, sondern „nur“ eine scientia sexualis entwickelt habe: Während etwa China, Japan, Indien und die arabisch-islamischen Gesellschaften im Verlaufe ihrer theoretischen und praktischen Beschäftigung mit der Sexualität die Praxis der sexuellen Lust in den Mittelpunkt gerückt und um diese herum Techniken der Intensivierung, Qualifizierung, Dauerhaftigkeit und Ausstrahlung der sexuellen Lüste entwickelten hätten, habe sich das Abendland mit Geständnistechniken und hermeneutischen Methoden begnügt, um der Verborgenheit der sexuellen Wahrheit auf die Spur zu kommen. Und während in Asien erotische Meister-Schüler-Verhältnisse und Initiationsriten an der Tagesordnung gewesen wären, hätten in Europa Geständnisrituale dominiert, in denen man seine Sexualität dem Priester beichten, dem Wissenschaftler gestehen, oder in der „freien Assoziation“ (Freud) dem Psychoanalytiker mitteilen wollte. Ging es nach Foucault also, kurz gesagt, im Morgenland um ein praktisches Wissen sexueller Aktivitäten im Sinne einer anderen Ökonomie der Körper und somit um die Möglichkeiten einer lustbetonten, rauschhaften und ekstatischen Sexualität, so im Abendland um theoretisches Wissen des sexuellen Begehrens im Rahmen der Gesetzlichkeit des Erlaubten und Verbotenen. Wenn das Abendland eine Lust entwickelt habe, dann die, über die Sexualität zu sprechen. Die abendländische Erotik sei eine des Diskurses, ihre Ekstasen fänden in den Gedächtnisritualen statt (Foucault 1983: Kap. III).

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LUST

Auch in der Pädagogik kann man wohl kaum von einer Tradition der ars erotica sprechen, wenn man darunter versteht, dass Erziehung und Bildung darauf zielen, den Menschen Einstellungen und Techniken zu vermitteln, die sie in sexuelle Rausch- und ekstatische Lustzustände zu versetzen in der Lage sind. In einem weiten Sinne allerdings macht die Rede von einer pädagogischen ars erotica Sinn, insofern es, historisch betrachtet, in der Pädagogik um eine Kultivierung der Sexualität ging, die über das Geständnis und den erkenntnistheoretischen Zugang zur Sexualität weit hinausreichte. Denn seit der Antike ist neben Essen und Trinken vor allem die Sexualität im Rahmen von pädagogischen Kultivierungs- und Zivilisierungsdiskursen behandelt worden. Und das macht auch Sinn: Dort, wo es um die Arterhaltung und wo es um die Selbsterhaltung geht, treten Bedürfnisse auf, die körperlich, impulsiv, fordernd, überschwänglich und wenig kontrollierbar bzw. formbar erscheinen. Die Leidenschaften der Seele, vor allem Selbst- und Arterhaltungstriebe, haben eine extremistische Tendenz; sie scheinen kaum befriedigt werden zu können und neigen zum Exzess. Hier sind sowohl eine philosophische Lebenskunst wie eine medizinische Heilkunst oder eine pädagogische Lenkungskunst gefragt. Diesen Leidenschaften gilt es, auch und gerade aus pädagogischer Sicht, volle Aufmerksamkeit zu widmen, um sie mit Hilfe entsprechender Maßnahmen in einem kulturellen Rahmen zu halten. Kurz: Wer aus einem pädagogischen Blickwinkel die Geschichte der Sexualität betrachtet, kann durchaus Formen einer ars erotica wahrnehmen. Mit diesen Formen zielt die Pädagogik kaum auf ein rauschhaft ekstatisches erotisches Leben, sondern oftmals auf eine Problematisierung, Reglementierung und Normierung der sexuellen Lüste und der erotischen Begierden im Hinblick auf eine sozial und moralisch akzeptable Existenz. In diesem Sinne bezieht sich dieser Beitrag auf diejenigen, je nach ideengeschichtlichen Etappen gegliederten, pädagogischen Maßnahmen im Abendland, die eine bestimmte, als kultiviert und schön geltende Formung der sexuellen Lüste vorgenommen haben. Dabei zielt eine Frage auf Bildungstechniken und Bildungsformen, die für den Umgang mit den sexuellen Lüsten zentral waren und die insofern als das Ziel pädagogischer Bemühungen gelten konnten. Die andere Frage zielt auf die damit verbundene anthropologische Figur, cum grano salis auf den Künstler der sex-

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uellen Lüste und auf diejenige Selbstbeziehungsform, die als Bedingung der Möglichkeit einer Kultivierung der Sexualität gesehen werden kann. Dabei scheint, und das mag überraschen, die Kultivierung der Sexualität über lange Zeit weniger eine Erziehungs- denn eine Bildungsgeschichte gewesen zu sein. Versteht man unter Sexualerziehung die sexuelle Entwicklung durch Information (im Sinne von Sexualaufklärung) und durch praktische (medizinische, psychologische, soziale, kulturelle etc.) Ratschläge, so scheint es – bis hin zur Aufklärung – ebenso sehr, wenn nicht überwiegend, auf eine Sexualbildung angekommen zu sein, d.h. auf die Entwicklung von praktischen Selbstsorgetechniken, mit deren Hilfe die Individuen ihre Sexualität geformt, d.h. stilisiert, kultiviert und normiert haben. Erst in „ihrem“ 18. Jahrhundert nimmt sich die Pädagogik sehr intensiv der Sexualität in erzieherischer Hinsicht an 1: Wir werden sehen, dass sie dabei nicht sehr zimperlich war. Im Folgenden werden wir nicht die gesamte pädagogische Reflexion der Sexualität in einem Zeitalter bearbeiten können. Daher konzentrieren wir uns auf die jeweilig zentralen Aspekte der sexualpädagogischen Diskussion – die über sieben Etappen von der antiken Stilisierung der sexuellen Lüste bis hin zur postmodernen Pornographisierung reichen. Zum Schluss soll der Versuch unternommen werden, eine pädagogische ars erotica als erotische Bildung zu skizzieren.

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Schreibt man die Geschichte der Sexualpädagogik aus dem Blickwinkel der Erziehung (Koch 2008) als Reflexion über die erzieherischen Voraussetzungen und Ziele, intentionalen Unterweisungspraktiken, methodischen Kontrollen und medialen Unterstützungen der sexuellen Entwicklung von Kindern und Jugendlichen, so ist diese Geschichte nicht älter als 250 Jahre. Wir halten diese Form aus dem Blickwinkel der Bildungstheorie für eine Verkürzung: quod est demonstrandum; historisch betrachtet wäre es zudem sinnvoll, die hier sehr verkürzte Geschichte der erotischen Bildung mit der Geschichte der Ästhetischen Bildung (vgl. Zirfas u.a. 2009; Klepacki/Zirfas 2011) zu verschränken. – Der Begriff Sexualität erscheint u.E. zum ersten Mal 1820 im Titel des Buches von August Henschel „Von der Sexualität der Pflanzen“. – Zur Geschichte der Sexualität im Abendland vgl.: Ariès u.a. 1984; Imhof 1985; Eder 2002; Muchembled 2008; Fiedler 2010, Kap. 1 u. 2.

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Antike: Stilisierung und Selbstbeherrschung der Sexualität (Epikur) Gelegentlich findet man immer noch ein pseudowissenschaftliches Bild von der griechischen Antike als einem Zeitalter, in dem man es mit der Sexualität nicht so genau nahm und gerade auch in pädagogischen Zusammenhängen erotische Beziehungen aller Art gang und gäbe waren. Dabei ist der Sachverhalt, wie eigentlich immer, bei genauer Betrachtungsweise wesentlich diffiziler. So gab es in der griechischen Antike die gleichgeschlechtliche (pädagogische) Liebe als Beziehung zwischen einem älterem Mann (džǒǂǔǕǐǓ) und einem Jugendlichem (džǒǐǍdžǎǐǓ), der ca. 15-18 Jahre alt war; und es gab wohl auch Formen der lesbischen (pädagogischen) Liebe, etwa im Umkreis der Dichterin Sappho. Doch hat uns z.B. Kenneth Dover darüber belehrt, dass Homosexualität alles andere als unproblematisch war, steht doch der geliebte Jüngling immer in der Gefahr, vom erfahrenen älteren Liebhaber missbraucht, das heißt auf eine Art und Weise sexuell „bedrängt“ zu werden, die seinen Status als potentieller Machthaber in der griechischen Polis dann in Frage stellt, wenn er sich im sexuellen Umgang als passiver Akteur verhält (Dover 1983). In diesem Sinne gab es einen kulturellen Code, der die homoerotische Beziehung regelte: Der Jüngere durfte dem Älteren erst nach längerem Werben – dann allerdings nicht zu oft – nachgeben. Er musste frei von sexuellen Begierden sein und vom Älteren (pädagogische) Hilfe bei der Entwicklung zu einem vollwertigen Mitglied der Polis bekommen. Und Michel Foucault hat darauf hingewiesen, dass selbst unser Begriff von Sexualität nicht der antiken Vorstellung entsprach: Die Sexualität ist für die Griechen nicht wie im Christentum eine Dimension des schwachen und sündigen Fleisches, und auch nicht, wie in der Moderne, eine widerspenstige, unfügsame und fremde Triebkraft, sondern geht im Begriff der aphrodisia mit Bedeutungen wie Liebesdinge, Liebesfreuden, Geschlechtsleben oder Fleischeslüste einher (Foucault 1986: 49). Die Griechen haben es nicht für nötig erachtet, diesen Begriff der aphrodisia klar abzugrenzen, dessen Natur zu erforschen oder ihn in seine Elemente zu zerlegen. Nicht „die“ Sexualität war ihnen wichtig, sondern der Umgang der Lüste mit den Menschen und der Umgang der Menschen mit ihren Lüsten. Im Mittelpunkt steht hierbei die Fra-

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ge nach dem dynamischen und ökonomischen Band, das Akt, Begehren und Lust miteinander in Beziehung setzt. Gleichwohl, und das zeigen alle Analysen, war der griechische Mann – und um diesen geht es zunächst und zumeist in der antiken Pädagogik, die eine Pädagogik von Männern für Männer ist – aufgefordert, sich mit Hilfe seines Pädagogen eine kultivierte Stilisierung des sexuellen Verhaltens in Bezug auf seinen eigenen Körper (Diätetik), in der Ehe (Ökonomik), in der homosexuellen Beziehung (Erotik) und in Bezug auf die wahre Liebe (Epistemik) herauszuarbeiten. Was bedeutet nun ein kultivierter, vernunftorientierter Umgang mit der Sexualität? Wie gelangt man von einer durch die (sexuellen) Leidenschaften geprägten Erkenntnis der Welt zu einer Haltung, die die Wertigkeiten unabhängig von ihnen betrachtet? Wie kann diese in eine überlegte Gestaltung von Lebenszielen so integriert werden, dass sich ein möglichst hohes Maß an persönlichem Lebensglück ergibt? Ziel der ethisch-ästhetischen Kultivierung der Griechen war es, durch die souveräne Beherrschung der eigenen Lüste zur Besonnenheit (sophrosyne) zu gelangen; man sollte sein Leben zu einer schönen Gestalt formen, die auch über das Leben hinaus als Vorbild noch Bestand hatte. Es ist die aktive Freiheit im Umgang mit der Beherrschung seiner sexuellen Lüste, die zu einem schönen und glücklichen Leben führt. Dieses verdankt sich der Unabhängigkeit gegenüber den Leidenschaften resp. der Sexualität: Nicht der Mensch ist abhängig von den körperlichen Lüsten, sondern diese sind abhängig von ihm. Nur so kann der Mensch seiner eigentlichen Bestimmung, autonom zu sein, gerecht werden. Das Subjekt definiert sich nicht über seine Sexualität – die im Vergleich zur Ernährung oder der Diät einen geringeren Stellenwert im gesellschaftlichen Leben hatte – oder über sein Begehren, sondern über die Art und Weise, wie es über sich selbst herrscht. Während das moderne Individuum als Begehrenssubjekt in einer Hermeneutik seiner selbst als Subjekt einer richtigen und falschen Sexualität auftritt, in der die Akte kodifiziert sind und das Begehren erforscht wird, ist für die Griechen nicht eine Logik, sondern eine Diätetik des Sex maßgebend, in der es um Fragen des Mehr oder Weniger, des Gesunden und Ungesunden geht. Die Sorge um den Gebrauch der Lüste steht nicht in einem Spiel von Wahrheit, Repression und Geständniszwang und auch nicht im Kontext

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von Verboten, sondern im Rahmen einer ethischen Problematisierung, die vor allem Fragen nach den Formen und den Umständen der Ausübung des Sexuellen betrafen. Der griechische Sittenkodex besaß in sexuellen Belangen einen Raum für Stilisierungen, insofern in der Diätetik die Kunst des Verhältnisses zu seinem Körper, in der Ökonomik die Kunst des Umgang mit Haushalt, Familie und Ehefrau und in der Kunst der Erotik die Liebesbeziehung zu den Knaben im Mittelpunkt stand. Eine Kultivierung der sexuellen Lüste verweist in diesem Kontext nicht auf das Einhalten von und die Übereinstimmung mit spezifischen sexuellen Verhaltensformen oder -normen und auch nicht auf eine (christlich konnotierte) Reinigung seiner Leidenschaften, sondern auf den Umgang mit gewissen Prinzipien und Formen des Gebrauchs der Lüste, der erkennen lässt, dass man diese aufteilen, begrenzen, hierarchisieren und genießen kann. So unternimmt z.B. die epikureische Pädagogik den Versuch, durch die Differenzierungen von natürlichen und notwendigen, natürlichen, aber nicht notwendigen und schließlich weder natürlichen, noch notwenigen Begierden eine Analytik und Diagnostik anzubieten, die letztlich auf den kompetenten Umgang mit den Begierden zielt. (Sexuelle) Lust meint hier nicht Zügellosigkeit und Libertinage, sondern regelgeleitete Begierden, vernünftige Genussfähigkeit sowie souveräne Weltorientierung. Der epikureische Gebildete ist derjenige, der souverän mit seinen Lüsten, aber auch mit den Ängsten und Sorgen des Alltags umgehen kann, um so zu einer Lust ohne Risiken und Nebenwirkungen zu gelangen: „Ich habe vernommen, dass dich der Kitzel in deinem Fleische übermäßig zum Geschlechtsverkehr treibt. Folge ihm, wie du magst, aber sorge dafür, dass du dabei die Gesetze nicht übertrittst, nicht den Anstand verletzt, keinen dir nahe stehenden Menschen kränkst, deine Gesundheit nicht zerrüttest und dein Vermögen nicht vergeudest. Es ist jedoch schwer, sich nicht wenigstens in eine der genannten Schwierigkeiten zu verstricken. Denn der Liebesgenuss bringt keinen Nutzen, man kann sogar froh sein, wenn er nicht schadet“ (Epikur 1973: 70).

Lust ist nach Epikur mit Lustempfindung gleichzusetzen. Dabei hat Epikur, wie deutlich wird, nicht jedwede Lust, sondern nur, wenn man so will, die kultivierte Lust vor Augen.

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Die Kultivierung der Sexualität sah allerdings in den einzelnen philosophischen Schulen recht unterschiedlich aus, denn während die Epikureer einen gelassenen und heiteren, aber nicht libertären Umgang mit den Begierden pflegten, standen bei den Stoikern die Momente des Kampfes und der Beherrschung der Begierden im Vordergrund; bei den Platonikern wiederum wird der Verzicht auf Sinnlichkeit und die geistige Konzentration empfohlen, während die Neuplatoniker auf eine Reinigung der Triebe und die ekstatisch-göttlichen Vorstellungen abgehoben haben. Erst allmählich, vor allem dann in den ersten Jahrhunderten nach unserer Zeitrechnung, zeigt sich eine verstärkte negative pädagogische Aufmerksamkeit auf die sexuellen Lüste. Waren sie ehemals vor allem unter den Gefahren einer unwillkürlichen Gewalt und einer unbesonnenen Verausgabung betrachtet worden, so sind sie jetzt Anzeichen für die allgemeine Gebrechlichkeit des Menschen: „Beharren auf der Zweischneidigkeit der Wirkungen der sexuellen Aktivität, Ausdehnung der ihr zugeschriebenen Wechselbeziehungen über den gesamten Organismus, Verstärkung der ihr eigenen Anfälligkeit und ihrer pathogenen Macht, Aufwertung der Spielarten von Enthaltsamkeit und zwar für beide Geschlechter“ (Foucault 1989: 162).

Mittelalter: Moralisierung des Geschlechtsaktes und Ächtung der Lust (Augustinus) Im christlichen Mittelalter ereignete sich im Zuge dieser Entwicklung sozusagen eine theologische Pathologisierung des Sexuellen. Enthaltsamkeit und Askese, Züchtigung und Geißelung sowie die moralisch-theologische Herabsetzung der Frau waren die Folgen. Etwas überspitzt fasst Karlheinz Deschner in seiner Sexualgeschichte des Christentums (1974: 91) das offizielle, kirchlich bestimmte, Verhältnis des Mittelalters zur Sexualität folgendermaßen zusammen: „Noch das ganze christliche Mittelalter sieht in der leib- und triebfeindlichen Existenz hysterischer Asketen das höchste Ideal. Fast alles Sexuelle ist für sie schwer sündhaft, das pathologisch Keusche heilig. Die Lust wird verteufelt, die Kasteiung in den Himmel gehoben. Sämtliche masochistischen Exzesse der Antike kehren wieder, die Dauerdepressi-

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onen ebenso wie die Tränenbäche, die Unsauberkeit, das Fasten, der Schlafentzug, das Geißeln, und neue Monstrositäten kamen dazu.“

Die Verabscheuung der fleischlichen Lust bzw. der ungezügelten sexuellen Triebhaftigkeit führte insbesondere in klerikalen Kontexten zu einer weit verbreiteten Missachtung des eigenen Körpers, die sich sowohl in grundsätzlicher Unsauberkeit äußern konnte, als auch im Tragen von Bußgürteln oder Stachelbändern sowie in der täglichen Selbstgeißelung, im Trinken von Waschwasser oder im Küssen der Wunden von Aussätzigen (vgl. ebd.: 92ff.). Dieses Panorama körperlicher Selbstmissachtung soll an dieser Stelle nicht weiter ausgeführt werden. Stattdessen soll hier ein konzentrierter Blick auf die eigentlichen theologischen Begründungszusammenhänge und Argumentationsweisen gelegt werden, die zu derartigen Verhaltensweisen geführt haben. Die Schriften des Heiligen Augustinus (354-430) sind es, die einerseits den systematischen Grundstein für die Lust- und Sexualfeindlichkeit des Christentums gelegt haben und andererseits dadurch die Sexualmoral des Christentums bzw. genauer gesagt der christlichen Kirche entscheidend geprägt haben. Für Augustinus ist das sexuelle Begehren und die Lüsternheit (luxuria) vor allem mit der Ausschweifung und dem Exzess verbunden. Denn die „unheilvollen und gefahrdrohende Sinnlichkeit“ überwuchert wie „Dornen das Haupt“ des Menschen und „der Sumpf fleischlicher Begierden“ führt bei fehlender Selbstbeherrschung unmittelbar in die „Düsternis der Wollust“ (Augustinus 1988: 56ff., II. 2-8). Wenn Menschen sich der Sexualität hingeben, blenden sie alle anderen Aktivitäten aus. Das heißt, dass der Sex nicht nur das Denken unterbindet, sondern vor allem das Beten unmöglich macht. Aufgrund des überschäumenden Charakters des Sexuellen, lässt sich also eine (religiös) kontrollierte sexuelle Ekstase nicht sinnvoll denken. 2 Um diesen Sachverhalt theologisch zu untermauern, bringt Augustinus „[…] die Übertragung der Erbsünde, die in seinem Erlösungssystem eine so große Rolle spielt, in Zusammenhang mit der Lust beim Geschlechtsakt“, so Uta Ranke-Heine2

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Simon Blackburn (2008: 33f.) merkt zu Recht an, dass gerade die christlichen Theologen im Mittelalter und insbesondere die Mystiker die ekstatische Kommunion der Menschen mit Gott nicht selten am Vorbild der sexuellen Ekstase dargestellt haben.

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mann (1988: 81). Einzig und allein der eheliche Geschlechtsakt zum Zwecke der Kindeszeugung ist in den Augen des Augustinus vertretbar, nicht jedoch die Lust, die dabei empfunden werden kann. Die Geschlechtslust ist es nämlich, die nach Augustinus die Erbsünde des Menschen weiter trägt, denn nur Jesus wurde ohne Fleischeslust gezeugt und empfangen. Diese Argumentationsfigur führt nun bei Augustinus zwangsläufig auch zur Verdammung jedweder Verhütung, da sie die sexuelle Lust am Geschlechtsakt gegenüber seiner Zeugungsfunktion betonen würde. Damit würde man jedoch den zügellosen Trieben Vorschub leisten. In seiner Schrift „Der Gottesstaat“ versucht Augustinus deshalb auch darzustellen, dass der Mensch vor dem Sündenfall seine sexuellen Begierden völlig dem Willen unterworfen hatte (vgl. Ranke-Heinemann 1988: 94ff.). Im Paradies war der Geschlechtsakt also abgekoppelt von sexueller Erregung und die Sexualorgane damit rational gesteuert. Wir müssen oder können uns den Geschlechtsakt somit als ein völlig normales und ganz harmloses Interaktionsritual, sagen wir als eine Begrüßung oder ein Händeschütteln, vorstellen. „Denn nicht nur solche Körperteile bewegen wir nach Belieben, die durch feste Knochen gegliedert sind, sondern auch die, welche nur mit weichen Sehnen ausgestattest und schlaff sind.“ Und im Paradies wurde auch „[...] jener Körperteil, der jetzt nur durch Begierde erregt wird, bloß durch den Willen bewegt“ (Augustinus 1985: 203f., 14.24). Erst als die Menschen im Paradies ungehorsam wurden und vom Baum der Erkenntnis aßen, schämten sie sich und bedeckten ihre Geschlechtsteile mit Feigenblättern. Somit war die geschlechtliche Lust als Movens der Erbsünde identifiziert (Ranke-Heinemann 1988: 83). Augustinus war sich jedoch auch darüber im Klaren, dass ein gewisses Lustempfinden für den Vollzug des Geschlechtsaktes unumgänglich ist. Deshalb unterschied Augustinus zwischen fleischlicher Empfindung und fleischlichem Verlangen. Erstere ist Teil einer rechten Absicht, nämlich des Aktes zum Zwecke der Zeugung, die zweite aber ist Sünde (ebd.: 99). Bei Augustinus führt dies allgemein schließlich dazu, den Zeugungszweck zwar anzuerkennen, die Gefahr der Lust jedoch über alles zu stellen und somit den Geschlechtsverkehr systematisch abzuwerten und einzudämmen. Einzig und allein die Kultivierung der Enthaltsamkeit kann daher den Menschen davor bewahren, der „geisttötenden Gewalt der Geschlechtslust“ (ebd.:

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103) anheim zu fallen. Aus diesem Grund forderte Augustinus auch strikte Enthaltsamkeit an Sonn- und Feiertagen sowie in der Fastenzeit. Das Gebet durfte nicht Gefahr laufen, in den fleischlichen Begierden unterzugehen. Anders formuliert: Wer sich der rauschhaften sexuellen Lust hingibt und bis zu den Gipfeln sexueller Ekstase aufsteigt, ist zwar gleichsam nicht mehr von dieser Welt, aber auch nicht in der richtigen. Denn er überwindet die Welt in einem höchst irdischen Dasein und geht nicht über in die Welt Gottes. Die Unsterblichkeit ist nicht auf dem sexuellen Wege, sondern nur in der Keuschheit zu erlangen: Die neue Ordnung Gottes zeigt sich darin, dass ein mächtiges Verlangen des Menschen keine Rolle mehr spielte, nämlich die Sexualität (vgl. Brown 1994). Die Askese der Keuschheit hat dann ihren Kampf gegen die Exzesse der Lüsternheit gewonnen, wenn sie die Verwicklung des Willens mit den sexuellen Wahrnehmungen, Phantasien und Handlungen, die Konkupiszenz, vollständig aufgelöst hat: Man hat diesen Grad übermenschlicher Anstrengungen dann erreicht, wenn man selbst im Schlaf nicht mehr von unzüchtigen Gedanken bedroht wird (Foucault 1984: 31).

Frühe Neuzeit: Zivilisierung und Selbstbeobachtung (Erasmus von Rotterdam) Zur Zeit der Reformation und des Humanismus wird das Problem des körperlichen und auch des sexuellen Verhaltens so wichtig, dass selbst Humanisten vom Range eines Erasmus von Rotterdam (1469-1536) sich diesem Thema annehmen. Für die Geschichte der Pädagogik wie die der Zivilisierung insgesamt bedeutsam ist seine kleine Schrift „De civilitate morum puerilium“, die 1530 erschienen ist, und die in den nächsten Jahren nicht weniger als 30, im ganzen schließlich etwa 130 Neuerscheinungen erleben und Auswirkungen auf ganz Europa haben wird (vgl. Erasmi 1721). Für Norbert Elias erhält der schon damals alt bekannte Begriff der „civilité“ seine spezifische und sehr weit reichende Prägung und Funktion als anständiges (körperliches) Benehmen in der Gesellschaft eben durch diese Schrift von Erasmus (Elias 1985, Bd. I: 66ff.). Denn im historischen Moment einer Verschiebung der Gesellschaftshierarchien von einer ritterlich-feudalen zu einer höfisch-absolutistischen und der damit verbundenen Etablierung einer neuen Oberschicht wird die Frage nach dem guten Benehmen

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im verstärkten Maße dringlich, da es nun neue Formen des Zusammenlebens braucht: So werden vom Einzelnen allmählich ein restriktiveres Verhalten und größere Rücksichtnahme gefordert (ebd.: 89ff.). Rekapituliert man die Reihenfolge der auf die Körperzivilisierung bezogenen Inhalte bei Erasmus, so behandelt er folgende Themen: Körper, Kleidung, Kirche, Essen, Begegnungen, Spiel und Schlafzimmer (de gestibus, de cultu, de moribus in templo, de conviviis, de congressibus, de lusu, de cubiculo). Dabei gelten die auf Sexualität bezogenen Kultivierungs- und Zivilisierungsempfehlungen von Erasmus nicht nur für das Schlafzimmer, sondern auch für den Körper, wenn er davon spricht, nicht über Zoten und Obszönitäten zu lachen, die Schamteile nicht unnötig zu entblößen und der Berührung von anderen auszusetzen. Und er vergisst auch die Kleidung nicht, die nicht zu durchsichtig oder zu kurz sein dürfe (Erasmus 1963: 92, 94f.). Für das Verhalten im Schlafzimmer spricht er folgende Empfehlungen aus: „In seinem Gemach verhält man sich schweigsam und züchtig. […] Verhalte dich immer anständig, sowohl beim Auskleiden wie beim Aufstehen. Stelle dich nicht anderen mit Körperteilen nackt zur Schau, die Natur und Sitte verhüllt wissen wollen. […] Bevor du dich auf das Kopfkissen legst, machst du das Kreuzzeichen auf Stirn und Brust und empfiehlst dich Christus mit einem kurzen Gebet!“ (ebd.: 106; vgl. auch Duerr 1988: § 11).

Um die Zöglinge in seinem Sinne zu motivieren, verwendet er den höchst subtilen Hinweis, dass die Engel immer alles beobachten und dass diese die Schamhaftigkeit der Kinder lieben würden. Kurz: Man soll sich, nicht nur in sexuellen Angelegenheiten, anständig verhalten, zurückhaltend, taktvoll, selbstbeherrschend und höflich (Zirfas 2013). Mit Erasmus etablieren sich also neue sexuelle Schamgrenzen und ein Zwang zum Selbstzwang, Tendenzen zur sexuellen Triebdämpfung, Psychologisierung und Rationalisierung. Mit ihm nimmt der Hang zur Selbstbeobachtung auch im Intimen zu: Der zivilisierte Mensch fühlt sich beobachtet, nicht nur weil er weiß, dass andere auf ihn schauen, und auch nicht nur, weil er spürt, wie sein Körper für andere aussieht, sondern vor allem, weil er sich selbst aus und in der Position eines Selbst-Beobachters überwacht. Der Umgang mit den sexuellen

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Lüsten ist davon bestimmt, dass diese primär aufdringlich sind: Daher sollte man darauf achten, dass man die Mitmenschen nicht sexuell belästigt und gelegentlich sollte man – nicht nur metaphorisch – ein Auge zudrücken, um sich nicht selbst von der Macht des Sexuellen mitreißen zu lassen und um die Mitmenschen nicht zu beschämen.

Aufklärung: Der Kampf gegen die Onanie (Joachim Heinrich Campe) Welches Gefahrenpotential den ungezügelten, unkanalisierten sexuellen Lüsten und den damit zusammenhängenden moralischpädagogisch unkontrollierbaren sexuellen Phantasien attestiert wurde, zeigt sich besonders drastisch im pädagogischen und medizinischen Kampf gegen die Onanie. Insbesondere das 18. Jahrhundert, das Jahrhundert der Aufklärung, leistete hier einer beinahe hysterischen Pathologisierung der jugendlichen Selbstbefriedigung Vorschub. Dass die Onanie ein sündhaftes Laster sei, war dabei nur mehr ein Legitimationsaspekt des Kampfes. Vielmehr wurde die Onanie als krankhafte Handlung gesehen, die nicht unerhebliche schädliche Konsequenzen für Leib und Leben haben konnte: „Dörr- und Schwindsucht, Convulsionen [Anm.: Krämpfe] und Epilepsie sowie ,schwacher Samen‘, der die Gesundheit der Nachkommen gefährdete“, wurden als Folgen der Onanie publik gemacht (Eder 2002: S. 97). Bis in das 19. Jahrhundert hinein wurde ein Zusammenhang von Onanie mit Rückenmarkschwund und Geisteskrankheiten aller Art hergestellt. Dieser hatte seine wissenschaftliche Erklärung darin, dass man annahm, der Mann verdanke seine Zeugungskraft seinen geistigen Fähigkeiten. Und die „reale“ Grundlage dieser Erklärung bestand darin, dass der männliche Samenkanal nicht in den Hoden, sondern in der Wirbelsäule entsprang. Nunmehr ließ sich wunderbar erklären, warum zuviel Sex bzw. zu häufige Masturbation dem Gehirn die Lebensgeister ausblies. Ein höchst instruktives Beispiel in diesem Kontext stammt aus der Feder des pädagogischen Philanthropen Johann Heinrich Campe (1746-1818) aus dem preisgekrönten Werk von J. Oest mit dem Titel: „Wie man Kinder und junge Leute vor allem Leib und Seele verwüstenden Laster der Unzucht überhaupt und der Selbstschwächung insbesondere verwahren, oder wofern sie

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schon davon angesteckt waren, wie man sie davon heilen könnte?“ von 1789. Dieses Beispiel soll hier den pädagogischen Eifer gegen die Onanie verdeutlichen: Campe berichtet von einem „Erzieher von starker Leibensbeschaffenheit und blühender Gesundheit“ (den er nicht umsonst in dieser Hinsicht beschreibt) eine Anekdote aus dessen Kindheit. Als dieser zehn Jahre alt war, fiel er dem Laster der Onanie anheim und sah keine andere Rettung als die Infibulation, d.h. er zog sich einen Ring in die Vorhaut seines Penis’ ein. Ohne hier auf die technischen Einzelheiten dieses Vorganges, die von Campe in aller Ausführlichkeit geschildert werden, einzugehen, kommen wir hier zu den Schlüssen, die er aus dieser heroischen Tat zieht: „Der Nutzen eines solchen Ringes ist dreifach. Erstlich macht er die Selbstschändung schlechterdings unmöglich; zweitens verhindert er auch die bloße Erektion durch den Schmerz […] und hierdurch wird er drittens ein vollkommen sicheres Verwahrungsmittel auch gegen alle unwillkürlichen Schwächungen im Schlaf.“ Campe schließt seine diesbezüglichen Ausführungen: „Was ich übrigens bedaure, ist, dass dieses allersicherste Mittel nur bei der einen Hälfte unserer Jugend, nämlich bei den Knaben, aber nicht bei Kindern des andern Geschlechts eine Anwendung finden kann“ (Campe 1787: 317ff.).

Schon dieses Beispiel lässt vermuten, dass die Pädagogik der Aufklärung insgesamt ein besonders schwarzes Kapitel der erzieherischen ars erotica geliefert hat. Die pädagogische Botschaft ist eindeutig: Nur durch radikale Bekämpfung der Onanie lassen sich „Unschuld, Gesundheit und Gemütsruhe“ (ebd.: 319) bis in den heiligen Stand der Ehe und darüber hinaus wahren. Thomas Laqueur hat in seinem höchst informativen Buch über „Die einsame Lust“ (2008) präzise herausgearbeitet, warum die Aufklärer die Onanie so massiv bekämpft haben. Denn es erscheint doch merkwürdig, das die Onanie, die bis in das 18. Jahrhundert hinein pädagogisch, moralisch oder auch medizinisch eher als eine Nebensache behandelt worden war, mit einem Schlag in das Licht der Öffentlichkeit trat. Es sind drei Aspekte, die den einsamen Sex für die Aufklärung brisant und unnatürlich machen: „Erstens: Er wurde nicht durch ein reales Objekt des Begehrens, sondern durch ein Trugbild motiviert […]. Zweitens: Während alle anderen Formen des Sex sozialer Natur waren, war die Masturbation etwas Pri-

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vates […]. Und drittens konnte der Drang zum Onanieren, anders als andere Begierden, weder gesättigt noch gezügelt werden“ (ebd.: 178).

Phantasie, Solipsismus und Anomie bilden ein „Wirtschaftssystem für sich, eine nicht regulierte Heimstatt des Begehrens“ (ebd.: 181), die nicht nur unnatürliche gesundheitliche Effekte wie Rückenmarkschwindsucht, Epilepsien, Pickel, Ehelosigkeit und Wahnsinn zur Folge hatte, sondern auch gesellschaftlich und moralisch höchst bedenklich erschien. Denn wenn der Schlaf der Vernunft schon Ungeheuer gebiert, so konnte man sich mit Grausen ausmalen, was die Phantasien des Onanisten leisteten. „Die Beobachter des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts sprechen mit derselben Mischung von moralischer Abscheu und widerwilligem Mitgefühl über Masturbation, mit der wir heute Drogensüchtige betrachten“ (ebd.: 212). Kinder mussten somit darüber aufgeklärt werden, dass Onanie etwas Verabscheuungswürdiges war, damit sie nicht der Einsamkeit, dem Exzess und der Sucht verfielen (ebd.: 200ff.). Damit wurden Eltern und Lehrer in die Pflicht genommen, den Kampf gegen das geheime Laster auf allen Ebenen durchzusetzen. Insofern wurde die Onanie ein Zeichen der Selbstbestimmung und Selbstkontrolle und die Pädagogik versuchte, die Kontrolle über diese sexuelle Form auf einem inneren Weg zu etablieren. Wie fanatisch die Onanie durch die Aufklärungspädagogik gebrandmarkt wurde, soll abschließend noch einmal ein Beispiel aus der Feder von Oest zeigen: Oest berichtet von einem Jungen, der nach einem Gespräch über die Onanie derart über die Schändlichkeit seines Tuns erschüttert war, dass er Besserung gelobte und von diesem Zeitpunkt an sein Versprechen „mit einer solchen Aengstlichkeit und mit so vielem Mißtrauen gegen sich selbst [hielt], daß er sich kaum bei den notwendigsten Naturerleichterungen zu berühren wagte“. Oest notiert dazu: „Ich zähle diese Erfahrung zu den angenehmsten meines Lebens“ (Oest zit. n. Koch 2000: 130). Laqueur (2008: 254ff.) geht nun davon aus, dass der Kampf gegen die Masturbation vor allem der Tatsache geschuldet ist, dass diese strukturelle Ähnlichkeiten mit der sich etablierenden kommerziellen Kreditwirtschaft aufwies: Stellvertretend bekämpfte man am eigenen Leib die mit dem Kapitalismus verbundenen Ängste der Substanzlosigkeit, der Täuschung, der Unersättlich-

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keit, der falschen, phantasierten, Bedürfnisse, des Fetisches etc. (Haben sich diese Ängste nicht in der aktuellen Finanzkrise alle bewahrheitet?). Die restriktive Einstellung gegenüber der Onanie hat sich im 20. Jahrhundert und vor allem seit den 1960er Jahren fast vollständig in ihr Gegenteil verkehrt. Die Selbstbefriedigung ist nun kein Akt der Unterwerfung unter die Unersättlichkeit des sexuellen Triebes, sondern eine autonome Handlung, die die Lust um ihrer selbst willen bejaht. Sie ist nicht mehr mit kapitalistischen Ängsten der Substanzlosigkeit und Täuschung, sondern mit kapitalistischen Hoffnungen auf das Geldverdienen mit Sexspielzeugen aller Art verknüpft. Sie ist nicht mehr eine imaginäre, substanzlose und fehlgeleitete Praktik, sondern eine wichtige Dimension der leiblichen Erfahrung und ästhetischen Kultivierung des Subjekts und eine Art von Gegenpolitik, die sich erfolgreich den demographischen Empfehlungen der Politiker verweigert. Sie ist auch ein bedeutsames Thema der Kultur und der Künste; und im Zeitalter des Internets hat die so einsame Masturbation durchaus auch zu virtuellen Gemeinschaften geführt (vgl. ebd.: 349f.). Nunmehr werden Stimmen ernster genommen, die etwa wie Oscar Wilde behaupten, der einsame Sex sei sauberer und effizienter und zudem bekäme es man dabei bei ihm mit Leuten „von einem gewissen Niveau“ zu tun. Und auch Woody Allen wird durchaus zugestimmt, wenn er darauf beharrt, dass die Masturbation Sex mit jemandem sei, den man mag.

Moderne I: Sublimierung und Selbststärkung (Sigmund Freud) Gelegentlich gibt es ja immer noch die populäre Meinung, in der Psychoanalyse habe alles mit Sex zu tun. Das Problem ist nur, dass diese Meinung mit der Psychoanalyse eigentlich nichts zu tun hat. Denn Freud hat die Psychoanalyse immer als Wissenschaft verstanden, die den Antagonismus von Sexualtrieben, oder auch von Libido, Eros, oder schlicht: Bindungen auf der einen und von Ichtrieben, Aggressivität, Thanatos oder wiederum schlicht: Entbindungen auf der anderen Seite zum anthropologischen oder auch therapeutischen Gegenstand hatte. Zudem ist er, was die Definition von Sexualität betrifft, äußert vorsichtig. Hören wir dazu Freud selbst: „Im Ernst, es ist nicht leicht anzugeben, was den Inhalt des Begriffs ,sexuell‘ ausmacht. Alles, was mit dem Unter-

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schied der zwei Geschlechter zusammenhängt, wäre vielleicht das Treffende, aber Sie werden es farblos und umfassend finden“ (Freud 1915/17: 300). Freud wirft seinen Zeitgenossen vor, die Sexualität wie einen biologischen Instinkt zu behandeln, der auf Fortpflanzung zielt. Indem die Psychoanalyse die Sexualität von dem Fortpflanzungsimperativ abkoppelt, wird diese frei für vielerlei menschliche Lust-Aktivitäten, die man schon in frühester Kindheit beobachten kann. So geht Freud davon aus, dass die sexuelle Entwicklung über verschiedene Organe, nämlich den Mund, den After und das Genital verläuft. Anders formuliert lassen sich aufgrund der vielfältigen Triebziele des Sexuellen keine eindeutigen Rückschlüsse auf die Natur der Sexualität ziehen, dafür aber lässt sich die Natur des Menschen bestimmen, nämlich als von Anfang an polymorph perverses Lustwesen (Freud 1905). Moderater formuliert: Das Charakteristikum der Sexualität ist der Wunsch. Ein weiteres, sehr beliebtes Vorurteil gegenüber der Psychoanalyse Freuds besteht darin zu behaupten, sie sei für die schrankenlose Befreiung der Sexualität. Auch wenn für ihn der heterosexuelle Koitus das Modell einer vollkommenen Befriedung darstellt, ist er weit von einer sexuellen Libertinage entfernt. Lesen wir auch dazu noch einmal Freud: „Die Gesellschaft muss es nämlich unter ihre wichtigsten Erziehungsaufgaben aufnehmen, den Sexualtrieb, wenn er als Fortpflanzungsdrang hervorbricht, zu bändigen, einzuschränken, einem individuellen Willen zu unterwerfen, der mit dem sozialen Geheiß identisch ist. […] mit dem vollen Durchbruch des Sexualtriebes [in der Jugend, die Verf.] findet auch die Erziehbarkeit praktisch ein Ende. Der Trieb würde sonst über alle Dämme brechen und das mühsam errichtete Werk der Kultur hinwegschwemmen“ (ebd.: 308). In diesen Kontext einer Warnung vor der kulturellen Sprengkraft der Sexualität gehören auch Freuds Hinweise zur sexuellen Erziehung. Erziehung wird ihm neben der altersgemäßen sexuellen Aufklärung vor allem zum „Triebtraining“, d.h. zur Beherrschung der sexuellen Triebe, um der kontrollierten Befriedigung willen. Eine erfolgreiche Erziehung nach Freud soll gewährleisten, dass das Kind sich in einer je historisch-gesellschaftlichen Zivilisation anpassen kann, ohne seine Wünsche gänzlich aufgeben zu müssen. Obwohl sie so einem Balanceakt gleicht, gibt es in der Theorie Freuds eine Tendenz zur Affirmation der Kultur gegen-

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über den Wünschen des einzelnen. Die anhand der Psychoanalyse entwickelte Pädagogik ist zunächst bestrebt, den erreichten kulturellen status quo zu erhalten. Das Kind soll auch in sexueller Beziehung so erzogen werden, dass es einerseits in der Realität seine Befriedigungsmöglichkeiten wahrnehmen kann, aber andererseits keine zu großen Ansprüche an eben diese Realität stellt, denn die Realität stellt nicht nur umgekehrt Forderungen an das Kind, sondern ist im Kern eine versagende. So muss das Kind, um seine sexuellen Wünsche real befriedigen zu können, Spannungen zu ertragen lernen. Die im Primärvorgang enthaltene halluzinatorische Befriedigung zeitigt auf die Dauer mehr Spannung als der an der realen Befriedigungsmöglichkeit sich orientierende Sekundärvorgang. Das Lustprinzip wird zum Realitätsprinzip, weil es sonst in sein Gegenteil umschlagen würde. Realitätsprinzip heißt somit: Spannungen ertragen, Aufschub dulden, warten können (vgl. Althans/Zirfas 2006). „Das Kind soll Triebbeherrschung lernen. Ihm die Freiheit geben, daß es uneingeschränkt allen seinen Impulsen folgt, ist unmöglich. [...] Die Erziehung muß also hemmen, verbieten, unterdrücken und hat dies zu allen Zeiten reichlich besorgt“ (Freud 1933: 577f.). Es gibt bei Freud kein Patentrezept für den erzieherischen Umgang mit der Sexualität. Doch erscheint ihm eine Kultivierung im Sinne einer Sublimierung der Sexualität, d.h. eine Ablenkung des Sexualtriebs auf andere, kulturell akzeptierte Ziele, als eine probate Möglichkeit. Man könnte durchaus sagen, dass für Freud die Kultur vor allem ein Aggregat sublimierter sexueller Energie darstellt. In der künstlerischen oder intellektuellen Arbeit finden sich seiner Meinung nach besonders signifikante Beispiele gelungener erotischer Verschiebungen: Man kann hier durchaus noch einmal an die Alten, namentlich an Aristoteles erinnern, der von den künstlerischen Werken behauptete, dass sie in Wirklichkeit zeigen, was der Künstler der Möglichkeit nach ist (Aristoteles 1984: 268, 1168a). Analog ließe sich mit Freud die These aufstellen, dass Künstler und Intellektuelle in ihren wirklichen Werken auch ihre sexuellen Phantasien und ihre libidinösen Wünsche ausleben, die ihnen durch die Wirklichkeit oder durch ihr Ich oder ihr ÜberIch versagt bleiben.

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Moderne II: Die Sexuelle Revolution (Wilhelm Reich) Die deutsche Nachkriegsgesellschaft kannte zunächst einmal nur eine Form des Umgangs mit Sexualität: Schweigen. Prüderie bestimmte die moralische Bewertung der Sexualität. Die konservativen Vertreter der Kirchen, der Politik und auch der Medien führten einen vehementen Kampf gegen Schmutz und Schund. Doch diese Haltung war schon bald nicht mehr die alleinig existierende. Die „wertkonservative Sexualmoral“ (Eder 2002: 214) wurde seit den 1950er Jahren zusehends erschüttert, wofür v.a. die neuen kulturellen Orientierungsmuster der Jugend verantwortlich waren. Die von der Elterngeneration als unzüchtig eingestuften Bewegungen von Elvis Presley, die offensive Sexualität von Marylin Monroe, das Aufkommen des Bikinis usw. wurden zu Symbolen einer neuen Jugendkultur und, damit einhergehend, einer sich am Horizont langsam abzeichnenden Liberalisierung der Sexualität. Die Jugendzeitschrift „Bravo“ sowie später die Aufklärungsfilme von Oswalt Kolle machten das Sexualleben der Menschen zu einem heiß begehrten Thema. Die sexualisierte Jugend wirkte natürlich enorm provozierend auf den Rest der Bevölkerung. „So wurden etwa in Eheratgebern und Aufklärungsbüchern nach wie vor Anstand, Zurückhaltung und Keuschheit als oberstes Gebot und unabdingbare Voraussetzung für ein glückliches Liebes- und Eheleben angesehen“ (ebd.: 215). Die Verlockungen und Verheißungen der Sexualität einerseits und die gesellschaftlichen Strategien der Desexualisierung des Lebens führten daher in den 1950er Jahren zu einer äußerst ambivalenten Wahrnehmung des Sexuellen durch die Jugendlichen (ebd.: 212ff.). Auch das professionelle pädagogische Denken und Handeln dieser Zeit war, bis auf einige wenige Ausnahmen, bestimmt von Verheimlichungen und Tabuisierungen bzw. von Verharmlosungen des Sexuellen einerseits und seiner Züchtigung andererseits und festigte damit das traditionell bestehende Unbehagen im Umgang mit der Sexualität. Eine dieser Ausnahmen stellte der schottische Reformpädagoge Alexander Sutherland Neill (1883-1973) dar, der Gründer einer der ersten demokratischen Schulen, des Internats „Summerhill“. Neill war ein radikaler Befürworter einer libertären Sexualität aus pädagogischen und psychologischen Grundsätzen heraus. Eine

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natürliche Entwicklung des Kindes war seiner Ansicht nach nur möglich, wenn die kindliche bzw. jugendliche Sexualität als normal angesehen wurde. Erst die Tabuisierung und Brandmarkung von Sexualität durch die Erwachsenen würde zu pathologischen Einstellungen der Sexualität gegenüber führen. Neills pädagogisches Ziel bestand deshalb darin, die Kinder und Jugendlichen frei von Befangenheiten, Ängsten und Scham- bzw. Schuldgefühlen der Sexualität gegenüber aufwachsen zu lassen (vgl. Neill 1969: S. 197ff.). In Anlehnung an Freud will Neill Sexualität als etwas verstanden wissen, das von Beginn des Lebens an im Menschen verankert ist. Das spielerische Entdecken der eigenen Genitalien und der Genitalien des jeweils anderen Geschlechts sowie die Onanie sind natürliche Prozesse und nicht etwas, das mit moralischen Schuldgefühlen belastet werden solle. Aufklärung als Prinzip der ungezwungenen Beantwortung von Fragen, nicht als bedeutungsschweres und moralisch kritisches Prinzip, gehört für Neill hier ebenfalls zu einer Normalisierung des Sexuellen, die wiederum zu einer natürlich moralischen Einstellung führen sollte. Pornographie, Exhibitionismus und sexuelle Zoten als Resultate neurotischer Verhältnisse gegenüber der Sexualität würden somit überhaupt nicht zu einer Problemstruktur werden: „Manche Mädchen nehmen nackt Sonnenbäder, aber keinem Jungen fällt es ein, sie insgeheim zu beobachten […] das zeigt, welch selbstverständliche Einstellung in Summerhill zur Nacktheit herrscht“ (ebd.: S. 219). Dass bei all dem die bestehenden Jugend- und Schulgesetze beachtet und eingehalten werden müssen, wurde von Neill immer wieder betont. Dass Summerhill mit seiner Idee in einer deutlichen Differenz zu herkömmlichen Alltagserfahrungen und Alltagsstrukturen hinsichtlich des Sexuellen steht, die von den Schülerinnen und Schülern auch erst einmal verarbeitet werden muss, dürfte aber ebenso deutlich sein. Auch wenn das Prinzip Summerhill und damit Neills Pädagogik immer eine Insel blieb, so wurde doch sein Konzept – zwar eher unfreiwillig – zu einem zentralen Bezugspunkt dessen, was man seit Ende der 1960er Jahre programmatisch als „antiautoritäre Erziehung“ bezeichnet hat. Ein Begriff übrigens, der nicht von Neill selbst stammt und von dem er sich auch distanzierte, sondern der auf eine strategische Überlegung des Rowohlt-Verlags zurückzuführen ist, der die deutschsprachige Version von Neills Buch über seine Pädagogik in Summerhill mit dem Titel „Theorie

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und Praxis der antiautoritären Erziehung – das Beispiel Summerhill“ publizierte. Spätestens mit der öffentlichen Diskussion um die „Anti-BabyPille“ seit Mitte der 1960er Jahre setzte jedoch diejenige Entwicklung ein, die man später als „Sexuelle Revolution“ bezeichnete. Während der Kinsey-Report (dt. 1954/55) das reale Sexualverhalten der Amerikaner statistisch erfasste und Geschlechtsverkehr im Zuge dessen als normale Alltagspraxis des Lebens auswies, trugen die Massenmedien Stück für Stück zu einer Sexualisierung der Welt bei. Die sexuellen Ausschweifungen der „Kommune I“ waren dabei ebenso Teil einer, natürlich höchst kontrovers diskutierten und immer noch angeprangerten, Popularisierung des Sexuellen, wie beispielsweise die Sex-Shops von Beate Uhse. Was sich in der Lebensform der „Kommune I“ bereits exemplarisch abzeichnete, entwickelte sich dann seit der 2. Hälfte der 1960er Jahre zu einem Element gesellschaftlichen Protestes: die Zusammenführung der politischen mit der sexuellen Emanzipation (ebd.: 221ff.). Als theoretische bzw. ideologische Wegbereiter dieser Indienstnahme der sexuellen Befreiung für die Veränderung gegebener gesellschaftlicher Zustände können Wilhelm Reich und Herbert Marcuse erachtet werden. „In ihren Werken fanden sie nicht nur eine sexuelle Erklärung für die ,Verdrängung‘ der nationalsozialistischen Vergangenheit, sondern obendrein Verheißungen für eine gerechtere Gesellschaft auf Basis der nichtrepressiven ,Entsublimierung‘ des ,Sex‘“ (ebd.: 221). Nach Reichs Auffassung war die sexuelle Befreiung daher ein mögliches Mittel zu friedlichen Veränderung der Gesellschaft. Auch wenn Wilhelm Reichs Buch „Die sexuelle Revolution“ aus dem Jahre 1945 (dt. 1966) denselben Titel trägt, mit dem dann die Strömung der sexuellen Emanzipation der 1960er Jahre etikettiert wurde, so muss doch an dieser Stelle angemerkt werden, dass das eine mit dem anderen nur bedingt zu tun hatte. Während seit Ende der 1960er Jahre auf die Bestrebungen der sexuellen Befreiung eine mediale Sexwelle, also eine Kommerzialisierung von Sexualität und damit eine machtgeladene Vereinnahmung des Sexuellen durch die Medien folgte, ging es in den Schriften Reichs dezidiert darum, in einer Verbindung von Tiefenpsychologie und Marxismus „den Zusammenhang zwischen den libidinösen und ökonomisch-gesellschaftlichen Bedingungen der Persönlichkeitsentwicklung des Menschen zu konzeptualisieren und zu analysie-

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ren“ (Popp-Baier 1998: 115). Wurde die medialisierte Sexualität wiederum zu einem gesellschaftlichen Machtfaktor, zielte Wilhelm Reich in einer freudomarxistischen Perspektive darauf ab, den gesellschaftlich-moralisch unterdrückten Sexualtrieb als einen Grund von Aggression zu entlarven, der sich in gesellschaftlichen Repressionen und damit in hierarchischen Machtverhältnissen niederschlägt (vgl. z.B. Kastenbutt 1993). War es Reich, der mit dem Konzept der „Sexualökonomie“ die individuellen und gesellschaftlichen Prämissen und Gesetze der Sexualität auf Basis einer zu entwickelnden dialektischmaterialistischen Psychologie herausarbeiten wollte, entstand als Nachwirkung der sog. „sexuellen Revolution“ der 1960er Jahre eine Vermarktung der Sexualität, die ihrerseits in sich bereits das angelegt hatte, was heute als Pornographisierung der Gesellschaft verstanden wird.

Postmoderne: Pornographisierung 3 und Selbstaufgabe (Alain Finkielkraut und Pascal Bruckner) Es erscheint – wegen der zu geringen reflexiven Distanz – immer schwierig, eine Geschichte der Gegenwart zu schreiben. Dieser Sachverhalt trifft auch auf die Frage nach der Kultivierung der sexuellen Lüste in der sog. Postmoderne zu, deren wichtiges Kennzeichen zunächst in der Pluralisierung der Aspekte besteht: So finden wir in der Pädagogik eine Fülle von Konzepten, die sich mit Fragen der Sexualentwicklung im Bereich der Motivationen, der Einstellungen, Orientierungen und der Verhaltensweisen beschäftigen; wir finden Modelle der sexuellen Aufklärung oder sexualethische Debatten um den Umgang mit und das Erlernen von moralisch-sittlichen Vorstellungen von Sexualität; oder gesundheitspädagogische und -psychologische Hinweise zu Fragen eines förderlichen Umgangs mit sexuellen Praktiken und zum Zusammenhang von Körperlichkeit, Liebe und Geschlecht; genderbezogene Arbeiten, die sich mit Vorstellungen von Weiblichkeit und Männlichkeit und/oder der Bildung einer (hetero-, bi-, homo-, 3

Unter Pornographie wird, den derzeit gängigen Definitionen entsprechend, die direkte und einseitige Darstellung geschlechtlicher Vorgänge, des Sexualakts oder der Genitalien mit dem Ziel verstanden, den Betrachter sexuell zu erregen.

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oder trans-)sexuellen Identität oder Geschlechtsrolle beschäftigen, medienpädagogische Konzeptionen, die die sexuelle Sozialisation in den Blick nehmen, Untersuchungen der pädagogischen Anthropologie, die biologische, historische und kulturelle Aspekte des pädagogischen Umgangs mit dem Sexuellen rekonstruiert, pädagogisch-medizinische Diskurse, die sexuelle Devianz und Störungen der Sexualpräferenz (z.B. sexueller Kindesmissbrauch) diskutieren usw. (Berenike-Schmidt/Sielert 2008). Aus diesem pädagogischen Bündel von Perspektiven und Problematisierungen soll ein Aspekt herausgehoben werden, nämlich die Frage, wie es heute, im Zeitalter der schwindenden allgemeingültigen sexuellen Normen und der Pornographisierung der Gesellschaft der „Generation Hardcore“ gelingen kann, eine Kultivierung der sexuellen Lüste vorzunehmen? Konkret: Findet nun eine Modellierung des sexuellen Begehrens und Verhaltens durch Modelle des Cybersex statt? Seit 1995 das Time Magazin auf den „Cyber Porn“ aufmerksam gemacht hat, ist der Kampf gegen die Online Pornographie, die Cybersexsucht und die virtuelle sexuelle Gewalt in vollem Gange. Einerseits ist Pornographie im Internet leicht zugänglich, mittlerweile praktisch umsonst und zusätzlich anonym konsumierbar; auf der anderen Seite gelten allgemein die pornographischen Inhalte ästhetisch oftmals als schwer erträglich, moralisch i.d.R. als disqualifiziert, rechtlich als eingeschränkt (d.h. die harte – Gewalt, Kinder und Tiere betreffende – Pornographie soll ausgeschlossen werden), sozial i.d.R. als unerwünscht und feministisch als Medium der Unterdrückung. Doch wirkt die Dialektik von Ordnung und Lust, d.h. die Lust an der Lust, die ästhetischen und anderen Ordnungen zu überschreiten, auch hier; in diesem Sinne erklärt man sich die etwa 10% von Nutzungen im Bereich von Sex und Porno im Internet. 4 Das Internet gilt den Forschern als sexueller Handlungsraum zur Ermöglichung sexueller Wünsche, bei dem körperliche Risiken, soziale Kontrollen und Schamgefühle reduziert werden und Aspekte der eigenen, sexuellen Persönlichkeit erkundet werden können (Döhring 2008). Obwohl bislang wenige Forschungen über Nutzungen und Effekte des Konsums von Pornographie im Internet vorliegen, werden die Nutzer, gemäß einem alten päda4

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Bei Google finden sich ca. 3.150.000.000 Einträge für „Sex“ und 935.000.000 für „Porno“; zum Vergleich: für „Bildung“ findet man: 81.500.000 und für „Ästhetik“: 6.620.000 Einträge: Abruf 17.6.2013).

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gogischen Reflex gegenüber neuen Medien und ihren Inhalten, zunächst unter Devianzverdacht gestellt. Kritisiert werden im Einzelnen: der mangelnde Kinder- und Jugendschutz, die verringerte Kontrolle harter Pornographie, die Entwicklung einer Cyberpornographiesucht, die Förderung sexueller Paraphilien (sexuell abnormer Verhaltensweisen), die Belästigung Dritter, die verminderte Arbeitsleistung durch Nutzung während der Arbeitszeit (ebd.: 273) oder auch eine allgemeine emotionale Verarmung und sexuelle Frustration. Über diese durchaus berechtigten kritischen Invektiven erscheinen uns mit Blick auf die Kultivierung der sexuellen Lüste folgende Fragen von Belang: Wie gehen die Nutzer konkret mit diesen Bildern um? Inwieweit beeinflussen pornographische Inhalte die Phantasien von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen so, dass sich auch im „real life“ neue oder andere sexuelle Wahrnehmungs- und Denkformen, Praktiken und Rituale wieder finden lassen? Verändern sich durch diesen Konsum Körperbilder, Geschlechtsvorstellungen und sexuelle Umgangsformen? Kommt es durch die flächendeckende öffentliche Darstellung von sexuellen Organen ohne Körper zu einer Bedeutungsentleerung des Sexuellen, zum Verlust der Erotik, des Geheimnisses oder der Transzendenz? Aber auch: Inwieweit hat die Nutzung dieser Seiten positive Effekte für die Nutzer bzw. inwieweit können die je spezifischen Aneignungsformen erotischer Inhalte durch unterschiedliche Nutzer sexualpädagogisch fruchtbar gemacht werden? Gegenwärtig ist der Umgang mit der Sexualität nicht nur im Internet auf dem Stand des Grundsatzes: Erlaubt ist, was wechselseitig gefällt und die gesetzlichen Altersgrenzen anerkennt. Spiegelt also die Pornographisierung der Gesellschaft, die man ja nicht nur im Internet, sondern auch in anderen alltagskulturellen Phänomenen wie etwa der Sprache beobachten kann, nur eine Facette unserer auf Erlebnis, Event und Risiko fixierten Gesellschaft wider? Oder führt die mit der Pornographisierung verbundene schleichende Entmoralisierung und Enttabuisierung der Sexualität zu einer neuen Moral der Verpflichtung zur hedonistischen Leistungsfähigkeit (vgl. Finkielkraut/Bruckner 1989: 7)? In diesem Sinne hätte dann ironischerweise die Befreiung der Sexualität zur Unterdrückung durch den Sex geführt. Ist also die Pornographisierung im Internet nur das mediale Schaubild einer obszönen Kapitalisierung sexueller Körper? Besteht die neue Kultivierung

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der sexuellen Lüste in der sexuellen „Selbstoptimierung“ um jeden Preis? Oder ist vielleicht alles gar nicht so schlimm? Es gibt Untersuchungen, die zeigen, dass mit der externen, medialen Dramatisierung von Sexualität – in der Öffentlichkeit, d.h. mit dem Genitalen als „neuer theatralischer Darstellungsform“ (ebd.: 28), eine interne, familiale und beziehungsbezogene Entdramatisierung von Sexualität einherzugehen scheint. Ja, man geht schon so weit zu sagen, dass diese Entdramatisierung, die innerhalb des modernen Liebesparadigmas erfolgte, zu einer Abnahme der Lust auf Sex führe und dass ein letztes Tabu darin bestehe, keinen Sex mehr zu wollen (Eder 2002: 240f.; Fiedler 2010: 168ff.). Andererseits scheint es sinnvoll, eine private von einer öffentlichen Kultivierung der sexuellen Lüste zu unterscheiden und gerade auch die mit der sexuellen Liberalisierung verbundenen äußeren Zwanglosigkeiten nicht gering zu schätzen. Immerhin scheint fast so zu sein, als ob auch die so genannten Internetnutzer immer noch sehr genau zwischen den virtuellen und realen sexuellen Realitäten unterscheiden können.

Schluss: Eine Pädagogik der erotischen Bildung? Die sexuellen Begierden sind, und das ist wohl deutlich geworden, in der Geschichte der Pädagogik bis heute sehr argwöhnisch betrachtet worden. Nur sehr wenige Stationen lassen sich im Sinne einer pädagogischen ars erotica fruchtbar machen: die antiken Konzepte einer Selbstkultivierung des sexuellen Handelns (vgl. Ovid 1996), psychoanalytische Aspekte einer Erziehung zum sexuellen Realitätsprinzip oder auch die Anerkennung der Lust an Körperlichkeit und Erotik, die über die antiautoritäre Erziehung bis hin in neuere Konzepte der Sexualpädagogik reicht. Wenn von einer pädagogischen ars erotica die Rede ist, so ist unter sexueller Kultivierung und Zivilisierung i.d.R. nicht die Stilisierung ekstatischer Sexualität, sondern die Repression und Sublimierung der sexuellen Lüste gemeint. Sexualität wird in der Pädagogik nicht als gefährdet, sondern als gefährlich wahrgenommen: Sie bedroht das autonome Subjekt. Dabei etabliert die Pädagogik in der Kultivierung der sexuellen Lüste ein Paradox: Sie thematisiert, problematisiert und produziert sexuelle Sachverhalte, um diese dann überwachen, kontrollieren und sanktionieren zu können.

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Wer dennoch an dem Projekt einer pädagogischen ars erotica festhalten möchte, und wer dabei nicht umstandslos die orientalischen oder asiatischen Modelle der Erotik zu europäisieren gedenkt, wird wohl historisch nicht umhin kommen, die sexuelle Begierde, d.h. die Wollust zu rehabilitieren, die in der europäischpädagogischen Geschichte der Sexualität so intensiv inkriminiert wurde. Positiv wäre eine europäische pädagogische ars erotica als Pädagogik der erotischen Bildung zu entwerfen. Eine solche Pädagogik hätte dementsprechend nicht den negativen, den bösen und bedrohlichen, sondern den positiven, lustspendenden Charakter sexueller Erfahrungen zu betonen. Das sexuelle Begehren und die sexuellen Praktiken wären dann nicht mehr mit Scham und Peinlichkeit, mit Unbeherrschtheit und animalischen Gegrunze in Verbindung zu bringen, sondern mit einem ekstatischen Begehren, mit der als Lust der Körper nach Sexualität und mit dem Genuss an den Freuden der Sexualität um ihrer selbst willen (vgl. Blackburn 2008). Eine Pädagogik der erotischen Bildung zielt auf den Geschmack am Sexuellen. Ohne an dieser Stelle skizzieren zu können oder zu wollen, wie man sich ein solches Bildungsmodell didaktisch und methodisch vorstellen muss, führt hier eine wichtige theoretische Spur über einen Denker, der in der Pädagogik kaum rezipiert und in den Kulturwissenschaften insgesamt als moderner Theoretiker einer pessimistischen Anthropologie eingegangen ist, nämlich über Thomas Hobbes (1588-1679). Er schreibt: „Das Verlangen, das die Menschen Wollust nennen […], ist ein sinnlicher Genuß, aber nicht allein das; es ist eine geistige Freude dabei, denn es besteht aus der Verbindung von zwei Arten von Verlangen, man will Gefallen erregen und erfreut werden; und die Freude, die die Menschen empfinden, wenn sie erfreuen, ist nicht sinnlich, sondern ein Genuß oder eine Freude des Geistes, die in der Vorstellung der Macht besteht, dass sie so viel Freude erregen können“ (Hobbes 1983: 72f.).

Dieses Zitat macht deutlich, warum die sexuelle Begegnung noch zu biblischen Zeiten und darüber hinaus eng mit dem „Erkennen“ identifiziert worden ist. Denn hier wird von einem wechselseitigen Begehren des Begehrens von Freude gesprochen. Gelingende Sexualität bildet die Folie einer wechselseitigen und symmetrischen Perspektivenübernahme an der Lust des anderen, die ihres-

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gleichen suchen dürfte. Sex ist in diesem Sinne nicht dumpfes, triebgesteuertes Verlangen, sondern auch ein höchst subtiles ästhetisches Geschehen, das das Bewusstwerden des Anderen und seiner selbst an das leibliche Begehren und die körperlichen Reaktion bindet. Gerade in der sexuellen Lust und Ekstase gehen Menschen bewusst über Grenzen hinaus und in einen Bereich des Anderen hinein. Diese Erfahrungen sind deshalb genuin ästhetisch, weil man in ihnen höchst intensive Erfahrungen mit Erfahrungen machen kann: mit den eigenen sinnlich-leiblichen Erfahrungen, die an die des Anderen gebunden sind, und mit den sinnlichleiblichen Erfahrungen des Anderen, die an die eigenen adressiert sind. Menschen wollen wohl nicht immer selbst beherrscht, zivilisiert und kultiviert sein. Sie brauchen, wenn sie nicht süchtig werden wollen, auch Kontrollverluste. Sie wollen spüren und erfahren, wie sie selbst und andere die eigenen Grenzen überschreiten und wie sie gemeinsam fortgerissen werden. Die Sexualität bietet in dieser Hinsicht einige Möglichkeiten, Körper und Geist in Einklang mit dem Anderen zu bringen. Liegen auf diesem Gebiet nicht wichtige Aufgaben für eine Pädagogik der erotischen Bildung?

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Die performativen Aspekte des Torjubels Lust, Rausch und Ekstase im Fußball

Ende 2006 teilte die „Gesellschaft für deutsche Sprache“ folgendes per Pressemitteilung mit: „Zum ,Wort des Jahres 2006‘ wählte die Jury der GfdS Fanmeile. Damit wurden Orte bezeichnet, die während der WM in Deutschland Fußballbegeisterte aus aller Welt zu Hunderttausenden aufsuchten, um dort ihrem ganz besonderen Lebensgefühl Ausdruck zu verleihen. […] Die Klinsmänner stürmten und jubelten sich nach vorne und in der Jury immerhin auf Platz 9. Mit einer originellen Wortgruppe auf Platz 10 rundet sich die Grundstimmung der Bevölkerung in Deutschland während der WM ab: schwarz – rot – geil!“ 1

Die rhetorischen Auswüchse des so genannten „Sommermärchens“ – ein auf Heinrich Heines „Deutschland ein Wintermärchen“ anspielender Neologismus und Titel des Dokumentarfilms von Sönke Wortmann über die Fußball-WM, die vom 9. Juni bis 9. Juli 2006 in Deutschland stattfand – haben es seinerzeit mit drei Phrasen auf die jährlich zum Jahresende erscheinende Liste der „Wörter des Jahres“ geschafft, welche Begriffe zusammenstellt, die für die öffentliche Diskussion des betreffenden Jahres besonders prägend waren, für wichtige Themen standen oder sonst als charakteristisch, als die so genannten „verbalen Leitfossilien“ eines Jahres, erschienen (ebd.). Die Begeisterung für und über ein Sport-Event hat sich nachhaltig in den Wortschatz der deutschen Sprache eingeschrieben 2 und dabei vermeintlich bedeutsamere, weil politisch relevantere Themen des Jahres ein Stück weit mar1 2

http://www.gfds.de/index.php?id=143. Bei der ein Jahr später ebenfalls in Deutschland stattfindenden Handball-WM wurde der Titelgewinn der Heimmannschaft kurzerhand zu einem „Wintermärchen“ erklärt; die Nutzung des Begriffs wurde aber weniger als eine Rückkehr zu Heine vollzogen, sondern erfolgte vielmehr als Etablierung eines rhetorischen Äquivalent zu den Fußballern.

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ginalisiert: So hatte der „Karikaturenstreit“, in dessen Kontext es zu diplomatischen Verwicklungen und lokalen Ausschreitungen mit Todesopfern kam, das „Prekariat“ oder die „Generation Praktikum“, beides sozial stigmatisierende Begriffe, in denen ein subjektives Krisengefühl und fragile ökonomische Lebensbedingungen zum Ausdruck kommen, in diesem Ranking das Nachsehen. Den Fußball-affinen Begriffen wohnt demgegenüber durchweg eine relativ unkritische Begeisterung inne, die in der oben zitierten Begründung der Auswahl als „besonderes Lebensgefühl“, „Geilheit“ und Bewegung „nach vorne“ hervorgehoben wird. Diese Begeisterung, die man auch als Melange aus Lust, Rausch und Ekstase bezeichnen könnte, zeigt sich unter anderem im Jubel. Auf den „Fanmeilen“ kamen Millionen von sich im Grunde fremden Menschen zusammen, um sich die Spiele auf Großbildleinwänden anzuschauen. Die besonderen Umstände – vor allem die viel besser und erfolgreicher als erwartet spielende Heimmannschaft und das strahlend schöne Wetter – sorgten dafür, dass die Stimmung durchweg ausgelassen und fröhlich war und die Bilder von miteinander feiernden, sich umarmenden und lachend die Fahne des eigenen Landes, aber eben auch die Farben anderer Nationen schwingenden (jungen) Menschen um die Welt gingen. Dieses mehr als vier Wochen dauernde Fest sorgte wenn schon nicht für den angekündigten Babyboom, so doch wenigstens um eine beginnende Korrektur des noch immer stark von den totalitären Ikonographien des nationalsozialistischen Regimes geprägten Deutschland-Bildes im Ausland (vgl. Sieckmann, 2007). 3 So gesehen könnte es sich lohnen, diesen Begriff und die damit verbundenen Handlungen einer differenzierten Betrachtung zu unterziehen: Wieso eignet sich der Jubel als spezifische Form eines Kommunikations-Aktes scheinbar besonders für eine gleichzeitige Homogenisierung und Aufwertung eines an sich banal 4 erschei3

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Vgl. den offiziellen Abschlussbericht der Bundesregierung – vgl. http://wm2006.deutschland.de/DE/Content/SharedDocs/Publika tionen/abschlussbericht-bundesregierung-wm2006,property=publicationFile.pdf – hier vor allem S. 12-14. Die Veranstaltung hatte das Motto: Die Welt zu Gast bei Freunden. Es handelt sich immerhin „nur“ um das Fußball-Spiel: Der Ausspruch von Bill Shankly – „Einige Leute halten Fußball für einen Kampf um Leben und Tod. Ich mag diese Einstellung nicht. Ich versichere Ihnen, dass es viel ernster ist.“ – relativiert sich durch die Inschrift einer ihm zu Ehren aufgestellten Statue am Stadion in Liver-

ANDRÉ STUDT: DIE PERFORMATIVEN ASPEKTE DES TORJUBELS

nenden, jedoch mit hoch komplexen Diskursen verbundenen Geschehens? Kann man demgegenüber im Jubel auch trennende, spezifizierende, bzw. heterogene Aspekte und somit auch seine vermeintlich destruktiven Seiten ausmachen? Im Folgenden soll ein vorsichtiger Versuch unternommen werden, den Torjubel im Rahmen eines Fußballspiels im Hinblick auf die Grundannahmen der Titel gebenden Begriffstrias LustRausch-Ekstase als konkret konstative, wie auch als performative Kommunikationshandlung zu analysieren. Dabei soll zunächst geklärt werden, was man in dieser Perspektivierung der Handlung „Torjubel“ an denkbaren Bedeutungen zuschreiben kann. Hernach werden diese Aussagen und denkbare Handlungskonsequenzen skizzenhaft mit unserem begrifflichen Dreigespann in Beziehung gesetzt.

Jubel als konstatierender und als performativer Akt Wird Jubel als konstatierender Akt verstanden, so belegt er lediglich einen Torerfolg: Der erfolgreiche Schütze stellt durch choreographische und ikonographische Muster die Wahrnehmung seiner Handlung sicher; dabei markiert er etwas für sich und etwas für Andere: Ersteres könnte man als zeremoniellen Abschluss einer individuellen Leistung bezeichnen, die mit den Zielen des Spiels zusammenfällt, in dem es immerhin darum geht, mehr Tore als der Gegner zu schießen. Hierbei kommt eine persönliche Freude über das Erreichte zum Ausdruck, der sich als ein affektivemotionaler Moment – mehr oder weniger deutlich und u.a. abhängig vom Spielstand 5 – zeigt. Letzteres fungiert als spezifische Inszenierung, als bewusst posierende Zurschaustellung seiner Selbst, die ausschließlich für die anderen noch am Spiel teilhabenden Personen, sei es auf dem Feld selbst, im Stadion oder per Übertragungsmedium angesprochene Menschen, gemacht ist.

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pool, wo er in den 1970er Jahren sehr erfolgreich als Trainer arbeitete: „He made the people happy.“ Beispiele für die eher kulturkritische Einordnung des Fußballspiels finden sich zuhauf in Caysa 1997. So wird z.B. der Schütze des Siegtreffers vermeintlich exaltierter feiern, als jemand, der auf 1:4 verkürzt. – Zu den individuellen Ausprägungen des Jubel(n)s komme ich im nachfolgenden Abschnitt.

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Diese bekommen im Vollzug und Vorgang des Jubelns die Chance angeboten, am Spielgeschehen teilzuhaben und per Partizipation am Jubel nicht nur Zuschauer zu sein, sondern zu einem Mitspieler zu werden: „Wenn die Kanzlerin dem Kaiser nach dem Sieg über Argentinien in den Armen liegt, dann ist das – jenseits aller Realität, aber das ist hier uns jetzt egal – der Höhepunkt der sozialen Synthesis“ (Böhme zit. n. Ladewig/Vowinckel 2009: 163). Die Aufhebung aller sozialen Schranken, die Vereinigung von Zuschauer, Spieler und Lebenswelt in einem Aufschrei, d.h. der den konkreten Augenblick des Erfolges auskostenden und dehnenden Jubel, markiert und verdinglicht das, was mit Hans Ulrich Gumbrecht mit Produktion von Präsenz“ (zit. n. Herzog 2002: 35) zu beschreiben ist – und scheint für das Spiel und seine Attraktivität notwendig. Der Jubel wirkt, eingebunden in die Logiken des Spielvollzugs, selbst relativ harmlos, bzw. für diejenigen, die gemeinsam im Vorgang des Jubelns verbunden sind, harmonisierend. Jedoch kann Jubel – losgelöst vom Spiel als Impuls – im Angesicht politischer Inszenierungen und Manifestationen schnell als manipulierende Geste eingesetzt werden. Man denke hierbei an die immer ausgefeilter konzipierten Inszenierungen von Parteitagen, bei denen die jubelnde Masse ihr Einverständnis mit den vorgegebenen Zielen der Partei und ihrer Anführer nach innen und als ein Bild der Geschlossenheit nach außen feststellen und kommunizieren will. Dabei sind nicht die kommunizierten Inhalte der Reden, Personen und Beschlüsse, sondern die Dauer des Applauses immer öfter Indikator für die Qualität des eigentlichen Anliegens. Demzufolge kann für den Impulsgeber des Jubels konstatiert werden: „Der Berühmte sammelt Chöre. Er will nur seinen Namen von ihnen hören. Sie können tot oder am Leben oder noch nicht am Leben sein, das ist gleichgültig, wenn sie nur groß sind und irgendwann auf seinen Namen eingeübt“ (Canetti, 1980: S. 471). Die akustische Form des Jubels, von der hier die Rede ist – und die sich in den an anderer Stelle dieser Argumentation noch zur Sprache kommenden Stadion-Sprechchören ihren eigenen Rahmen schafft – wird durch visuelle Formen ergänzt, zumal „[b]ei dem einfachen Volk […] die Dinge wirksamer über die Augen als über die Ohren ein[dringen], denn das Volk verinnerlicht besser das, was es sieht, als das, was es hört“ (Warnke zit. n. Beyer 1992:

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23). 6 Dieser eigentlich politisch gemeinte Ratschlag bekommt im Zuge der vor allem ökonomischen Bedeutung des Fußballspiels und seiner Bildübertragungsrechte einen ganz besonderen Spin, da mit dem Akt des Jubelns nun nicht nur die bloße Feststellung eines signifikanten Moments im Spiel gemeint ist, sondern sich durch den individuellen Jubel ein auf die Person rückführbarer Markenkern bildet, der als audio-visuelle Ikone in die Mechanismen der Massenkommunikation eingespeist wird und als Vorbild für ein global angelegtes Angebot einer mimetischen Anverwandlung taugt. Das schreibt sich bis in die Software von Computerspielen fort, wo die virtuellen Ausgaben von in der Lebenswelt konkret vorhandenen Spielerpersönlichkeiten nicht nur die fußballerischen Handlungen auf dem Spielfeld, sondern auch die Gesten der Freude nach einem Torerfolg präzise nachvollziehen können. Da ob des großen Abstands von Spieler und Zuschauer im Stadion ein rein akustisch unterlegter Kommentar des Erfolges zu wenig wäre, nutzt der im Spiel Jubelnde im Zuge seiner Absicht einer visuellen Individualität pezifische Bewegungsfolgen, die als außergewöhnlicher und expressiver Gebrauch von Mimik und Gestik auffallen und z.B. als Hochreißen der Arme, ein gerichtetes Gestikulieren auf den Mitspieler, den Lauf in die Fankurve, das Winken in am Spielfeldrand postierte Kameras, das Klopfen auf das Vereinswappen auf der Brust, das Ausziehen von Trikotteilen etc. beschrieben werden können. Bei Betrachtung der Fußballhistorie zeigt sich, dass diese auch als Geschichte eines sich beständig weiter ausbuchstabierenden Jubel-Codes – sowohl der Spieler als auch seiner Zuschauer – gelesen werden kann: In den Frühformen wurde das Spielgerät noch über Feld und Wiesen in benachbarte Dörfer getrieben, was die Spieler bei einem Erfolg eher dazu veranlasst haben dürfte, zu regenerieren, als sich in aufwändigen Posen zu ergehen. Im viktorianischen England kam dem Torerfolg eine eher zurückhaltende Aufmerksamkeit zu; beim Fußball, der zunächst als Spiel der Gentlemen galt, gab man sich die Hand und spielte weiter (Bausenwein 1999). Erst durch die Proletarisierung des Spiels zu Beginn des 20. Jahrhunderts und dem Aufkommen seiner medialen Verbreitung explodiert das Repertoire des Jubels, 6

Laut Warnke wurde die zitierte Aussage an den englischen König Heinrich VIII im Jahre 1533 mit dem Ziel gerichtet, die Abkehr von der katholischen Kirche plausibel zu kommunizieren.

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wobei diese beiden Faktoren oftmals eng aufeinander bezogen werden: „Es ist diese offene, sich unzivilisiert gebärdende Anteilnahme, die sich im Brüllen und Pfeifen, im Jubeln und Fluchen, wissenschaftlich: im Verlust der Affektkontrolle äußerte, die nicht unwesentlich zur Einschätzung des Fußballsports als Proletensport – immerhin eine moralische und keine soziale Kategorie – beitrug“ (Lindner 1983: 35).

Neben den medial notwendigen Transformationen eines empirischen Geschehens, das sich nur vermittelt, aber dafür nicht weniger intensiv dem Zuschauer und -hörer zeigt – man denke nur an die legendär gewordenen Torschreie von Herbert Zimmermann bei der Fußball-WM 1954 –, erwächst bei den Spielern selbst der Wunsch nach etwas, was man „Bildverewigung“ nennen könnte. So wurde mit der Globalisierung und Ökonomisierung des Fußballs als TV-Event in den letzten 30 Jahren eine Bühne geschaffen, auf der es zu regelrechten Choreographien und Performances kam: Man schlug Salti (Hugo Sanchez – ab Mitte 1980er), tanzte an der Eckfahne (Roger Milla – WM 1990), rutschte in eine Liegeposition (Brian Laudrup – EM 1992) oder wiegte unsichtbare Babys (Bebeto – WM 1994) und bot mit diesen Formen die Möglichkeit, sich und seinen Erfolg ikonographisch zu transzendieren. Die hierbei verwendeten Posen lassen an konventionalisierte Pathosformeln denken: Der von Aby Warburg geprägte Begriff verschränkt den dynamischen Teil einer Gefühlsäußerung mit dem statischen Teil seiner Formierung, die sicherstellt, dass das, was zum Ausdruck kommt – unabhängig, ob es visuell oder akustisch formuliert ist, über einen längeren Zeitraum erinnerbar bleibt. Bei der Pathosformel haben wir es – in Warburgs Worten – mit „Ausdrucksformen des maximalen inneren Ergriffenseins“ zu tun; bei ihr „handelt es sich nicht um eine unvermittelte, gleichsam naturwüchsige Artikulation von Affekten und Leidenschaften, sondern um eine kulturell überformte und codierte Inszenierung derselben“ (Port 2001: 229). Gerade Letzteres markiert den Übergang in performative Bereiche des Jubels als Handlungsform, da es in diesen Inszenierungen nicht nur um die Feststellung eines Sachverhalts geht, sondern vielmehr Anspielungen auf weitergehende und vermeintlich komplexe Verbindungen der Auswirkung dieses Sachverhalts erfolgen. Die an sich banal scheinende

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Handlung des Torjubels wird durch ihren Verweischarakter zu einer komplexen Handlung – und zieht ggf. weitere Aktionen, die weit über das hinausgehen, was die jubelnde Einzelperson als Impulsgeber initiiert hat, in divergierenden Kontexten nach sich. Auf dem Spielfeld kann dies bereits unmittelbar nach dem individuellen Torerfolg des Schützen in seinem sich zumeist mit ihm freuendem Umfeld beobachtet werden: Die Mitspieler, die dem Schützen gratulieren und sich dem dargebotenen Jubel und seinen spezifischen Handlungen demonstrativ anschließen, sind damit implizit gezwungen, sich zu der Leistung eines ggf. konkurrierenden Subjekts zu verhalten und stellen durch ihr Verhalten performativ Verweise auf die Mentalität der Mannschaft dar. Ebenfalls in diesem Zusammenhang zeigen sich der Trainer, die Betreuer und die auf der Ersatzbank am Spielfeldrand sitzenden (verhinderten) Spieler. Jubel kann so die Binnenstruktur der Mannschaft als soziales Gefüge sichtbar machen. Ist dieses intakt, so ebnet das gemeinsame Jubeln die Herausstellung der Tat eines Einzelnen ein und stellt so den eigentlichen Kontext, Fußball als Mannschaftssport, wieder her. Störungen dieses Gefüges zeigen sich bspw. in einer Vereinzelung des Jubels, ausbleibenden Reaktionen auf den individuellen Erfolg oder sogar dem Abwinken und/oder Verächtlichmachen des Umfelds. So besehen ist Jubel viel mehr als eine rein demonstrative Handlung; in ihm sind Texturen für weit über ihn hinausreichende Handlungs- und Themenkontexte angelegt. Ähnliches gilt auch für den Zuschauer – sei es unmittelbar im Stadion oder mittelbar durch diverse medial geprägte Strategien der Übertragung und Übermittlung an Radio, TV, Projektionen auf Großleinwänden in private und/oder öffentliche Settings, die dann mit spezifischen Dramaturgien des Ereignishaften eine Unmittelbarkeit suggerieren wollen (vgl. Rademacher 1998; Burk 2002). Der an einem Schauplatz erfolgte Torschrei im Stadion und z.B. Rahmen der Schlusskonferenz im Radio konstatiert ein Ereignis, welches dann als performatives Angebot einer daran anschließenden Entscheidung zum konkreten Sich-dazu-verhaltenKönnens (d.h. Zustimmung, Ablehnung, Desinteresse) individuell ausgelebt werden kann. Jubel beginnt als konstatierender Akt und wird schnell zu einem performativen Akt, der die Bedeutung des Torerfolgs in Bereiche, die weit jenseits des Spielfeldes angesiedelt sind, transfe-

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riert und transformiert. Diese wechselseitig ineinander verschränkten Muster sind dabei sowohl Ergebnis einer historischtechnologisch und ökonomisch motivierten (Weiter-)Entwicklung des Fußballsports, als auch eines sich immer weiter ausdifferenzierenden Prozesses der Individualisation und Subjektivierung aller an diesem Prozess Beteiligten, bzw. in diese Vorgänge involvierten Menschen. Weil aber das Jubeln eine konkret körperlichleibliche Handlung ist, die ein Involviert-Sein im Akt des (Mit)Jubelns bedeutet, ist die Möglichkeit gegeben, diesen Vorgang unter Bezugnahme auf die Begriffe Lust, Rausch und Ekstase zu untersuchen – nicht zuletzt, da diese ebenfalls von einem starken Bezug auf Körper und Leib getragen werden. Im Folgenden soll nun der Versuch unternommen werden, jeweils einen Begriff relativ schematisch einem jubelnden Akteur zuzuordnen, auch wenn sich Lust, Rausch und Ekstase miteinander verbunden sehen – und sich wechselseitig befeuern (anstatt auszuschließen). Mir geht es darum, vermeintliche Ursachen dominanter Strukturen des jeweils gezeigten, getätigten, gelebten Jubel(n)s anhand einer Rückführung auf einen der denkbaren Quellen „Lust“, „Rausch“ und/oder „Ekstase’“– und den dazu flankierend in der Pressemitteilung zu der IZÄB-Vorlesungsreihe angeführten Kurzdefinitionen 7 – zu analysieren.

Lust: Der jubelnde Spieler „Die Lust ist ein merkwürdiger emotionaler Zustand: Sie stellt sich bei der Erfüllung eines Wunsches ein, geht aber der Erfahrung der Befriedigung auch schon vorher. Unterschiedlichste Lüste treiben die Menschen an und werden doch gleichzeitig von ihnen zivilisiert. In der Lust wird das menschliche Leben spannend und ent-spannend.“ Jörg Zirfas

Für einen Stürmer scheint diese Umschreibung sehr treffend. Er befindet sich in einer professionellen Grundspannung, die ihre Ausrichtung darin findet, alles dafür zu tun, dass er zu dem Erfolg kommt, der ihn als Stürmer legitimiert: Tore zu schießen. 7

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http://www.uni-erlangen.de/infocenter/meldungen/nachrichten/ 2009/10/30/379.shtml – den nachfolgenden Abschnitten wird jeweils ein Satz aus diesem Text vorangestellt.

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Trifft er das Tor nicht, so kann sich dies negativ auf seine Leistung, sein Ansehen und seine Lust am Spiel auswirken – im Fall einer anhaltenden Erfolglosigkeit droht die Auswechselbank und somit die Verbannung aus dem aktiven Kern des Spiels. Um dem zu entgehen, muss er die Lust auf das Spiel trotz mangelndem Erfolgserlebnis disziplinieren und sich von ihr weiterhin antreiben lassen – nicht zuletzt, um die Mitspieler, den Trainer und die Fans durch das eigene Tun zu überzeugen und nicht durch Lustlosigkeit, d.h. eine mangelnde Einstellung zum Spiel aufzufallen. So gesehen kann der Stürmer als wahrscheinlichster Akteur eines Jubels erwartet werden; seine Position prädestiniert ihn dazu, über ein wahrscheinlich adäquateres und vielseitigeres Repertoire an möglichen Handlungen bei einem Torerfolg zu verfügen, als ein Spieler, dessen Beitrag zum Spiel im Verhindern von Toren besteht. Der Jubel zeigt sich hier in der Tat lustvoll als Erfüllung eines Wunsches, was den Vorgang bis zum Torerfolg spannend und hernach ent-spannend gestaltet hat. Hatte ein Stürmer eine längere Zeit nicht getroffen, so kann man vermuten, dass die Expressivität des Jubels mit dem Grad der Anspannung, bzw. deren Entladung verbunden sein kann. Darüber hinaus bietet sich dem Torschützen dieser Moment als Möglichkeit einer spezifischen Kommunikation, die einen Bezug zu erfolgter Kritik haben kann. Die Geste des Jubels ist dann Kommentar zu Zeitpunkt und Kontext des Erfolges: Per Zeigefinger auf dem Mund, Wölben der Hand hinter dem Ohr etc. sollen Nörgler symbolisch zum Verstummen gebracht werden, der Lauf in die Fankurve, das Kosen des Emblems auf dem Trikot bringt Dankbarkeit für die Geduld in der Krise zum Ausdruck, ein pathetisches Auf-die-Knie-Sinken oder in den Himmel schauen bringt den Moment der Erlösung sinnfällig zum Ausdruck etc. Die expressive Intensität des Jubels ist generell vom Zeitpunkt des Torerfolges innerhalb des Spiels und dessen Verlauf abhängig: So wird ein kurz vor Ende des Spiels erzielter Siegtreffer intensiver per Jubel kommentiert als ein so genannter „Ehrentreffer“, der einen aussichtslosen Abstand zur führenden Mannschaft geringfügig verkürzt. Die Intensität zeigt sich im Jubelverhalten der Gruppe: Als Aktion eines Einzelnen verknüpft und vergesellschaftet er dessen Erfolg mit der Mannschaft, die sich als unsortiertes Rudel oder Haufen, als geordneter Kreis oder Traube um den Schützen modelliert. Zudem gibt es choreographische Formen,

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wie zuletzt im Rahmen der Bundesligaspielzeit 2010/11 die so genannte Boy-Band vom Bruchweg, in der sich die erfolgreichen Spieler von Mainz 05 als „Luft-Musikanten“ an der Eckfahne in der Fankurve positionierten. Durch die Wahl einer spezifischen Form des Selbstausdrucks zeigt sich die Domestizierung des Lustprinzips, die eher auf einen kommunikativen Sachaustausch zwischen Spielern und Zuschauern aus ist, anstatt auf Instinkte zu setzen. Hierunter lassen sich auch die Übertragungen und Verweise im Jubeln – das Wiegen von Babies, das Nuckeln am Daumen, das Tragen von T-Shirts mit (zumeist religiösen) Botschaften etc., wo der eigentliche Anlass des Jubelns mit etwas außerhalb des Spieles angesiedeltem verbunden wird, fassen. Im Gegensatz dazu stehen bestimmte Vorgänge im Jubeln, die sich als libidinöses Verhalten des Torschützen in Bezug auf sich, seinen Körper, das Spielgerät etc. lesen lassen: So ist es bemerkenswert, dass nur derjenige, der das Tor erzielt hat, sich oftmals des Trikots entledigt, um seinen durch den Sport gestählten Oberkörper als narzisstischen Akt zu präsentieren. „Der moderne Sport ist Darstellung von Bewegungen. Er zeigt dies in Form von Aufführungen […] Ihr Hauptmerkmal besteht darin, dass sie den Körpertechniken der sozialen Praxis formale Eigenschaften geben. Ähnlich wie die Kunst ist die sportliche Praxis eine Art Materialgestaltung, in der formale Qualitäten herausgearbeitet werden“ (Gebauer/ Wulf 1998: 62, 65.). 8

Die Betonung der Materialität des Körpers ist ambivalent: Zum einen konkretisiert und visualisiert sie die Muskel gewordene Leistungspotenz des dahinter stehenden Menschen, der damit seine Anhänger- wie auch Gegnerschaft anzusprechen weiß, zum anderen kann diese Geste eben auch zur Provokation oder konkreten Beleidigung werden, weil sie sich kulturell geprägten Grenzen und Normen widersetzt. So nimmt es nicht Wunder, dass dieses Verhalten per Änderung des Regelwerks sanktioniert wurde – und das Trikotausziehen mit einer Verwarnung geahndet wird. 9 Libidinös gesteigert wird dieses Verhalten durch eindeutig 8 9

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Freud spricht davon, dass der Körper des Idols mit dem „MassenIndividuum libidinös verbunden ist“ – vgl. Freud 1974: 90. Vgl. die FIFA Regel 12: „Ein Spieler ist wegen unsportlichen Verhaltens zu verwarnen, wenn er beim Torjubel sein Hemd über seinen

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sexuell konnotierte Handlungen wie z.B. das Küssen des Balles oder des Pfostens, so wie jüngst im Qualifikationsspiel ÖsterreichDeutschland durch Mario Gomez, der eine groteske Fehlleistung von ihm, die vor drei Jahren an gleicher Stelle geschah, durch diesen Vorgang vergessen machen wollte. Das Bild des Kusses legt sich über das Bild des Verstolpern eines sicher geglaubtes Tores, der Glanz des Erfolges ebnet per erotischem Signal die Unbillen der Vergangenheit ein. Das Herausreißen der Eckfahne, der man auch phallische Eigenschaften zusprechen könnte, markiert hierbei einen Sonderfall: Als Paradigma einer exemplarischen Visualisierung gilt der Jubel Oliver Kahns im Meisterschaftsfinale 2000/01: „Der irrsinnige Verlauf des letzten Meisterschaftsspiels wurde […] durch Bilder gebündelt, die Torhüter Kahn zeigen, wie er die Eckfahne herausreißt und sich – diese wild schwenkend – auf den Rücken wirft. […] Der Status exemplarischer Visualisierungen – und ihre Differenzqualität – resultiert nur selten aus der bildlichen Darstellung alleine, sondern gründet auf ihrem Diskursivierungspotenzial. Dementsprechend kann Oliver Kahn, im Nachhinein auf die Szene an der Eckfahne angesprochen, das Exemplarische der Szene erläutern: ‚Es war keiner zum Jubeln da, da musste halt die Eckfahne herhalten. Aber das sind Dinge, Dinge, die kann man gar nicht erklären. […] Es sind so Emotionsmomente, ich meine, dafür, dafür spielt man Fußball‘“ (Adelmann/ Keilbach/Stauff, 2001: 49).

Bezeichnenderweise wird hier – wie generell im Vorgang des Jubelns, wo sich im „Männersport Fußball“ die männlichen Körper in Umarmungen sehr nahe kommen können 10 – nicht die sexuelle Kopf auszieht oder es ganz oder teilweise über seinen Kopf stülpt“ (http://de.fifa.com/mm/document/afdeveloping/refereeing/law _12_fouls_misconduct_de_47381.pdf). Gerade die globale Präsenz des Fußballspiels in (TV-)Bildern machte die Aufnahme dieses Umstands in das Regelwerk notwendig: „Die verschärfte Regel gilt mittlerweile weltweit – nicht zuletzt aus kulturellen und religiösen Gründen. ‚In islamischen Ländern ist das Ausziehen des Trikots eine Beleidigung dessen, der es ansehen muss‘, erläuterte DFBSchiedsrichter-Chef Volker Roth die Absichten der neuen Vorschrift, beteuerte aber zugleich: ‚Niemand hat etwas gegen Freude’“ (http://www.rp-online.de/sport/fussball/bundesliga/Gelbe-Karte-fuer-angedeuteten-Torjubel-Striptease_aid_55060.html). 10 „Für den Sport ist der Blick des Liebenden – erst recht des gleichgeschlechtlichen – ein Anathema; der Sexus der Athleten wird aus der

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Ebene der Lust angesprochen, die als Anlass und Motivation zur Handlung im Spiel ist; vielmehr ist begrifflich ungleich unschärfer von „Emotionsmomenten“ die Rede. Dass sich diese Momente über die Dauer ihres Vollzuges verlängern lassen, zeigt sich nicht nur in den Bildern, die es davon gibt: Neun Jahre später imitierte ein Torwartkollege, es handelt sich um den damaligen Schalker Manuel Neuer, eben genau diesen Jubel, als er sich nach einem Auswärtssieg seiner Mannschaft bei Bayern München an genau diesen Moment erinnerte. Durch den von Kahn euphorisch bejubelten Erfolg wurde damals Schalke 04 in buchstäblich letzter Sekunde die Meisterschaft entrissen: „Das war eine spontane Aktion, die nicht gegen Bayern gerichtet war, sondern für unsere Fans. Ich habe selbst 2001 im Parkstadion auf dem Rasen gestanden und habe mit unserem Club gelitten. Das war vielleicht heute ein wenig Genugtuung.“ 11 Diese Aktion hat mit dazu geführt, dass der Wechsel Manuel Neuers zu Bayern München von Teilen der Fans äußerst skeptisch betrachtet wurde. Im Akt des Jubels wird so in der Tat die Diskursivierung eines Geschehens betrieben; der Vorgang zeugt nicht von einer scheinbaren Begrenztheit des eigenen Repertoires an entsprechenden Gesten, die man bei Spielern, deren Eigenschaft es ist, Tore zu verhindern, vermuten könnte, sondern von einem Bewusstsein über den zeitlos scheinenden performativen Gehalt dieser Handlung, die weit mehr sein kann, an- und ausspricht als ein lustbetonter Laut.

Rausch: der jubelnde Zuschauer „Der Rausch ist ein ästhetischer Ausfall, ein Ereignis, das den herkömmlichen Gang der Dinge zerbricht, die Sinne verwirrt, die Zeitlichkeiten verheddert und den Menschen aus der Bahn wirft.“ Jörg Zirfas

Natürlich gibt es auch für den Spieler auf dem Feld die Möglichkeit des Rausches: Man ergötzt sich an seinem eigenen Tun, das eine Nähe zur Perfektion bekommt, die einstudierten Spielzüge Furcht geleugnet, die Unbekümmertheit der körperlichen Nähe könne zerstört werden“ (Gebauer/Lenk zit. n. Gebauer 1988: 155). 11 http://www.11freunde.de/sonstige/120529.

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gelingen, sonst Schwieriges entpuppt sich als ganz leicht, so spielt man sich in einen Rausch, der vor allem die Menschen der gegnerischen Mannschaft aus der Bahn katapultieren kann – die einen wünschen, das Spiel möge nie zu Ende gehen, während die anderen den Abpfiff herbeisehnen. Aber hier soll nun der dem Spiel durch Betrachtung von außen verbundene Zuschauer in den Blick genommen werden. Fällt ein Tor für seine Mannschaft, jubelt auch er – dabei ist sein Jubeln sowohl ein Bejubeln der Tat eines Anderen, dem konventionalisierten Applaus nach Beendigung einer (Theater-)Aufführung vergleichbar, als auch – und damit strukturell andersartig – ein Mitjubeln als Ausdruck der aktiven (und damit auch körperlichen) Teilhabe am Spielgeschehen. Das Mitjubeln meint nicht nur das Tor als Ereignis, sondern ist als ein ästhetischer Ausfall eine exaltierte Handlung, die letztlich auch an den Zuschauer selbst adressiert ist und ihn somit stark in das Spiel involviert: „Obwohl die Zuschauer sich körperlich außerhalb des Spielfeldes aufhalten, sind sie wie die Spieler Aktivisten des Spiels, die zum Spiel gehören, und nicht die passiven, nur zuschauende Zuschauer im Theater. Sie können, wie die entsprechende Wendung sagt, anfeuern. Wer könnte im Theater einen Hamlet zum Handeln anfeuern.“ 12 Der Grad der Involviertheit des Zuschauers kann sowohl von seiner räumlichen Positionierung, d.h. als Fan im Stadion oder als Mediennutzer daheim etc., als auch von seiner mentalen Einstellung abhängig gemacht werden. Diese kann man wie folgt differenzieren: x „Der distanziert-passive[n] Zuschauer: keine oder gering ausgeprägte Vereinspräferenz; wenig Identifikationsbereitschaft mit Mannschaft und Spielern, beherrschte und betont neutrale Reaktion auf das Spielgeschehen; Erwartung: interessantes Fußballspiel. x Der engagiert-kontrollierte Zuschauer: deutliche Vereinspräferenz und Identifikation mit der Mannschaft, kritische Solidarität mit Spielern; emphatisches Erleben des Spielgeschehens; vorwiegend verbaler Ausdruck der Vereinsfixiertheit; Erwartung: gutes Spiel der eigenen Mannschaft, wenn möglich Sieg. 12 So eine Äußerung Peter Handkes laut Lindner und Breuer in Hopf 1998: 167.

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x Der fanatisch-parteiliche Zuschauer: totale Identifikation mit Verein und Mannschaft; einseitiges Miterleben und parteiliches Beurteilen des Spielgeschehens; Demonstration der Vereinsfixiertheit durch Tragen der Vereinsfarben und -symbole; aktives Eintreten für Vereinsinteressen; gezielte Diskriminierung des Gegners; Erwartung: Sieg der eigenen Mannschaft, wie auch immer. x Der konfliktsuchend-aggressive Zuschauer: Vereinsfixierung unterschiedlich ausgeprägt; nicht die Gastmannschaften sondern ihre Fans sind die Gegner; Fußballspiel und Umfeld als Aggressionsstimulanz; Teilnahme am Spielgeschehen stets in Gruppen; Erwartung: eigene Aktionsmöglichkeiten“ (Hüther zit. n. Kübert u.a. 1994: S. 9). Während die Zuschauer der ersten und letzten Kategorie, da sie durch ihre Haltung per se überdistanziert oder unterdistanziert das Spiel nur abstrakt für ihr jeweiliges Verhalten zum Anlass nehmen, nicht unbedingt einen Rausch anstreben, in den sie durch das konkrete Spielgeschehen und den Spielverlauf, d.h. dessen spezifische Dramaturgie, bzw. die beteiligten Handlungsträger versetzt werden, sind die beiden übrig bleibenden Gruppen per se als Adressat für eine rauschhafte Verwirrung ihrer Sinne zu haben. Die angesprochene Identifikation mit Verein, Mannschaft und Spielern kommt im Stadion zudem in einem besonderen Verhalten zum Ausdruck, das dem spontan bei einem Tor der eigenen Mannschaft erfolgenden Jubel einen Rahmen gibt, die Sprechchöre, Anfeuerungen und Gesänge. 13 Dieses akustische Kontinuum, das eine ritualisierte Form direkter Kommunikation mit dem eigenen Team darstellt und den Zuschauer direkt mit dem Geschehen auf dem Spielfeld in Verbindung bringt – die Rede ist hier oftmals vom „zwölften Mann“ – steigert sich dann in einen Rausch, wenn die Taten der so unterstützten Gruppe dazu den Anlass geben. Der kollektive Aufschrei bei einem Tor durchbricht dieses Kontinuum zunächst, um es hernach umso stärker in seine herkömmlichen Strukturen zurückkehren zu lassen. Beflügelt vom Erfolg der eigenen Mannschaft, der durch die selbst hergestellte 13 Vgl. dazu Prosser 2002 u. Kopiez 2002. – Zur generellen Verfasstheit des Fußballs als Ritual vgl. Bromberger 2003.

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akustische Kulisse in Teilen zu einem eigenen Erfolg wird, werden Intensität, Lautstärke und die Präsenz der eigenen Körperlichkeit erhöht, obwohl diese dem Spiel vermeintlich nur zuschauend verbunden ist: „Für den Sport, der keinen Bezug auf Texte, Partituren oder Rollenfiguren hat, ist das interaktive Zusammenspiel von Räumen, Athleten und den vielfältigen expressiven Gestaltungsbeiträgen des Publikums konstitutiv. Der Gesamtanlass z.B. eines Fußballspiels bezieht seine Attraktivität maßgeblich aus den Interferenzen zwischen diesen Faktoren. In geglückten Momenten entstehen sich verstärkende Resonanzen, so dass alle Beteiligten in das Ereignis hineingezogen werden wie in einen musikalischen Rhythmus. Es entsteht dann eine szenische Konstellation, in der die Trennungen zwischen Akteuren und Publikum tendenziell aufgehoben und beide Seiten zur Deckung gebracht werden“ (Alkemeyer 2004: 217).

Die für den erlebten Rausch notwendig scheinende unmittelbare Teilhabe am Spielgeschehen ist quantitativ begrenzt, denn nicht alle, die dem Spiel zusehen wollen, können dies auch live vor Ort tun. So gesehen ist die mediale Vervielfältigung und Übertragung des Spielvorgangs eine Art von Kompensation der fehlenden Augenzeugenschaft. In ihr werden die Insignien des Rausches als audiovisuelle Spur für die narrative und emotionale Konstruktion einer Szenerie instrumentalisiert. Dabei kommt „den Besuchern ‚vor Ort‘ eine bedeutende Rolle in der (medialen) Inszenierung von Fußball zu: Sie sind die unentbehrliche Begleitung des sportlichen Wettkampfes. Ein echtes Spitzenspiel ohne eine stimmgewaltige Kulisse im Stadion bleibt bisher auch für den Fernsehfußball kaum vorstellbar“ (Klose 1991: 244f.). Durch das Erfassen der Stadionbesucher in Ton und Bild mittels eigens dafür aufgestellter Aufnahmeapparaturen und die geschickte Einbindung dieses Materials in den Bildfluss des Spiels soll die so „vermittelte emotionale Anteilnahme der Stadionzuschauer […] die Grundlage für ein Gefühl der Authentizität an Stelle von synthetischer Rezeption“ (ebd.: 245) beim Fernsehzuschauer erwecken. Die Tatsache, selbst nicht persönlich dabei bzw. anwesend gewesen zu sein, wird durch mediale Erzähltechniken vernebelt – und baut sich so zu einer Autosuggestion der Teilhabe auf, die völlig unabhängig vom empirischen Raum-Zeit-Gefüge besteht.

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In diesem Zusammenhang kann auch die Aufhebung der zeitlichen Beschränkung des Spiels auf 90 Minuten (plus etwaiger Verlängerungen und finalem Elfmeterschießen) durch den jubelnden Zuschauer interpretiert werden: Per Wiederholung und Nachberichterstattung wird das Spiel und seine entscheidenden Momente dauerhaft verfügbar gemacht – auch wenn der originäre im Kontext des Spielvollzuges entstandene Jubel letztlich unwiederholbar ist. Jedoch werden diese Momente des Rausches in jüngster Zeit durch das Abhalten eines Autokorsos, dem feiernden Verweilen im öffentlichen Raum des public viewing und medialen Momenten einer Vergegenwärtigung per Bild- und Tondokument zu verlängern versucht. Ergebnis dieser Aktivitäten – vor allem Ersterer – ist dann vielleicht auch ein Rausch, der aber letztlich von anderen Substanzen herrührt als vom Spiel selbst: Spätestens im Kater am Tag danach zeigt sich die „Echtzeit“ der Lebenswelt.

Ekstase: Jubel als Indikator des Anderen „Die Ekstase wiederum ist der Zustand eines Außer-sich-Seins in sich selbst, eines Zustandes, in der der Mensch die Fülle des Lebens genießen kann. Die Ekstase verweist auf Verzücken und Entsetzen, auf den Einbruch oder den Einfall des Anderen. In ihr geht es darum, die Grenzen des Humanen nach innen wie nach außen zu überschreiten.“ Jörg Zirfas

Die abendländische Kultur tut sich generell schwer mit der Ekstase, war diese doch immer Bemühungen um eine, weniger auf aktive Handlungen bezogene, als vielmehr einer analytischbeschreibenden Eingemeindung und Disziplinierung durch spezifische Ordnungsmuster ausgesetzt. Dies gilt für ihren religiösen Gehalt, in dem sie oftmals als Utopie des Glaubens erscheint und nur durch bestimmte Praktiken zu erreichen ist, genauso wie für eher säkulare Deutungen, zu denen man auch das Theater – als Ergebnis einer logozentrischen Zähmung des Dionysus-Kultes – zählen kann. Dass der Mensch einen Zustand des Außer-sich-Seins in sich selbst erreichen kann, läuft nicht nur den Vorstellungen des zoon politikon zuwider, sondern bringt auch unterschiedliche Interpretationen zum Konzept der Innerlichkeit und deren Bezug-

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nahme zur Bildung eines autonomen Subjekts hervor (vgl. Bataille 1999). Eine Ausprägung dieser Bändigung kann im Konzept der Liminalität aufgefunden werden, vor allem dann, wenn es um die Rolle von Schwellen-Erfahrungen im Rahmen ästhetischer Prozesse geht (Fischer-Lichte 2003). Zwar findet hier eine Verbesonderung des Subjekts statt, in der es sich von der Umgebung separiert und es einer transformativen Selbstbefremdung ausgesetzt ist, jedoch steht am Ende des Prozesses seine Wiedereingliederung als Domestizierung in eine ggf. erneuerte soziale Position. Vor allem die historischen Avantgarden im Theater, die sich gegen die Beschränkung des Individuums durch soziale, politische und/oder kulturelle Normen ästhetisch zur Wehr setzen wollten, bringen diese Ambivalenz des Ekstatischen treffend zum Ausdruck – sie wollen, folgt man der Argumentation Matthias Warstats (2011), Krise und Heilung gleichermaßen und schlagen um die Ekstase einen Bogen. Auch im Fußballspiel, bzw. im Torjubel – ob nun auf dem Rasen, auf den Rängen oder vor den Geräten – ist für die Ekstase wenig Raum. Wie gesehen, gibt es zwar punktuelle Momente einer absoluten Vereinzelung im Moment des Erfolges, dennoch ist hier das Andere, das in das eigene Leben einfällt, bekannt und (lustvoll) herbeigesehnt. Zudem wird dieser Moment relativ schnell durch die Herstellung von Beziehungen zu Anderen sozialisiert; der erfolgreiche Schütze hat gar nicht die Chance dazu, lange bei sich zu sein, da ihn der Vorgang des Jubelns automatisch vergesellschaftet. Lediglich zwei Phänomene, die dann aber nur bedingt etwas mit der unmittelbar erfolgten Reaktion auf einen Torerfolg zu tun haben, scheinen aus der hier aufgerufenen Perspektive der Ekstase diskutabel – die ikonographische Inthronisierung der Idole des Sports als Bild-Ekstase der Werbung und das Ausleben von Aggressionen als Gewalt-Ekstase am Rande des Spiels. Beide Formen sorgen dafür, dass die Grenzen des Humanen nach innen wie nach außen überschritten werden (sollen). Zur Fußball-WM 2006 wurde Michael Ballack im Zuge einer globalen Werbekampagne als einzelner Fußballspieler, der seinerzeit als Protagonist seines Teams fungierte, auf etwa 70 Meter hohen Transparenten ikonographisch veredelt. 14 Die Sichtbarkeit ei14 Beispiel: Michael Ballack an der Fassade des Radisson SAS Hotels in

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nes Einzelnen stand in einem bemerkenswerten Kontrast zur generellen Aussage der Kampagne, die mit dem Motto „+10“ das Konstrukt der Mannschaft, die eben aus diesem Spieler und zehn Anderen besteht, würdigen wollte. Dieses Paradigma der allgemein verwendeten „Götzenbilder des Marktes“ (Gebauer 1988: 133) zeigt sich als visuelle Ekstase des Charismas eines überhöhten und veröffentlichten Menschen, die Bildsprache ist die eines Helden, der, „schenkt man der Archetypenlehre C.G. Jungs Glauben – ‚von vornherein als [...] Gott gekennzeichnet’“ (ebd.: 136) ist. Natürlich geht es in diesen Bildinszenierungen auch um den Menschen und seine spezifischen Fähigkeiten, die abgebildet werden; jedoch bemühen sich die Darstellungsstrategien um einen affektiven Appell an das, was jenseits der konkreten Person angesiedelt ist, so dass er als Heilsbringer erscheint und das Unmögliche möglich macht. Dieser Anspruch wurde durch das übergeordnete Motto dieser Kampagne verdeutlicht: „impossible is nothing“. Das Unmögliche als Verstoß gegen Ordnung und Tabus wird auch in den Ekstasen der Gewalt erreicht. Der bereits angesprochene konfliktsuchend-aggressive Zuschauertypus nimmt bei der Erlangung eigener Aktionsmöglichkeiten Verletzungen und Todesfälle bei seinen von ihm ausgerufenen Gegnern billigend in Kauf. Nach der Katastrophe im Brüsseler Heyselstadion 1985, bei der 39 Menschen zu Tode kamen und über 400 verletzt wurden, wurde der Einbruch des Chaotischen ins Spiel u.a. durch eine zunehmende Verregelung des Zugangs erschwert. Jedoch sorgte dies nicht dafür, dass Gewalt im Stadion nun kein Thema mehr ist, vielmehr verlagerten sich die Aktionen der Hooligans in das Umfeld des Stadions, bzw. in die Innenstädte (so z.B. 1998 in Lens oder jüngst im Rahmen des EM-Qualifikationsspiels Österreich – Deutschland in Wien). Die Grenzen des Humanen werden hier als Grenze des Zivilisierten konkret, die „Leidenschaft der Selbstenthemmung ist ein wichtiger Schlüssel zum Verständnis absoluter Gewalt“ (Sofsky 1996: 57).

Hamburg: http://www.slanted.de/eintrag/1500-qm-ikone. – Generell zur Kampagne vgl.: http://www.crossmedia-zentrum.de/cms/ 2008/03/01/adidas-10-kampagne/.

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Schlussbemerkung Es bleibt ein Stück weit Spekulation, ob sich die hier skizzenhaft geschilderten Verbindungen von Lust, Rausch und Ekstase als Ausprägungen eines „männlichen Prinzips“ erklären lassen. Nachdem 2006 die Welt zu Gast bei Freunden war, zeigte sich nun 20ELF von seiner schönsten Seite: Mit Blick auf die Fußball-WM der Frauen, von der man nicht einmal ansatzweise die Breitenwirkung der hier zur Sprache gekommenen Phänomene des Männerfußballs erwarten darf, würde sich eine Neuauflage und Modellierung dieser Betrachtung sicherlich lohnen.

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ANDRÉ STUDT: DIE PERFORMATIVEN ASPEKTE DES TORJUBELS

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LUST

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Eckart Liebau

Im Rausch des Lebens: Friedrich Wilhelm Nietzsche

Prolog Für die meisten Angehörigen meiner Generation, der in den 1940er Jahren Geborenen, war Nietzsche über lange Zeit tabu. Er war durch den Missbrauch im Nationalsozialismus so vollständig vergiftet, dass man nicht mal von fern Interesse an seine Schriften entwickelte. Es waren Gefühle des Abscheus und des Ekels, die sich mit seinem Namen verbanden. Man wollte das nicht lesen, geschweige denn ernst nehmen und diskutieren. Man meinte ja immer schon zu wissen, dass da nichts zu holen sein würde, nur Irrationales, Anti-Demokratisches, Anti-Semitisches, Anti-Feministisches, Elitäres, den Faschismus und seine Epoche Vorbereitendes – die herrschende Philosophie der NS-Zeit eben. Die blonde Bestie“, die „Herrenrasse“, der „Übermensch“, „Gott ist tot!“, „Der Wille zur Macht“, „Vergiss die Peitsche nicht!“ – vielleicht noch „die ewige Wiederkehr des Gleichen“, und dann auch noch die Verknüpfung mit Wagner, dem Liebling des Führers und der NS-Größen: Das war so ziemlich alles, wovon man schon mal gehört hatte. Und das reichte einem schon. Ich kann mich nicht erinnern, dass in meiner Studentenzeit, Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre sich irgendjemand inhaltlich für Nietzsche interessiert hätte. Umso größer war die Überraschung, war das ungläubige Staunen, als ich in den 80er Jahren feststellte, dass es da doch Interessenten gab – und zwar dort, wo ich sie überhaupt nicht vermutet hatte: bei kritischen Intellektuellen aus Frankreich und Italien. Das hatte allerdings eine längere Vorgeschichte. Giorgio Colli und Mazzino Montinari bereiteten schon in den späten 50er Jahren eine neue italienische Nietzsche-Ausgabe vor. Auf dem Umweg über die Auseinandersetzung mit dem Marxismus hatten sie Nietzsche entdeckt, sich faszinieren lassen und in der Auseinandersetzung mit den vorliegenden Editionen festgestellt, dass der veröf-

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fentlichte und damit dann auch öffentlich rezipierte Nietzsche in weiten Teilen ein Produkt bewusster Fälschung, bewussten und gezielten Missbrauchs war. Karl Schlechta hatte bereits 1954 darauf hingewiesen; er hatte auch bereits eine philologisch veränderte Edition herausgegeben, die die alten, vom Nietzsche-Archiv unter der Leitung von Nietzsches Schwester Elisabeth FörsterNietzsche herausgegebenen Ausgaben als Fake sichtbar machte. Die Geschichte dieser Fälschungen und ihrer Hintergründe ist hoch aufregend; es waren diese Fälschungen, durch die Nietzsche erst zum Kronzeugen des Nationalsozialismus stilisiert werden konnte. Das bekannteste Beispiel ist hier „Der Wille zur Macht“, zuerst 1901 und dann in erweiterter Version 1906 von Elisabeth Förster-Nietzsche unter Mitarbeit von Peter Gast (d.i. Heinrich Köselitz) aus dem Nachlass zusammengebastelt, im Einzelnen nach Bedarf gefälscht und dann als angebliches Hauptwerk ihres Bruders herausgegeben. Nietzsche selbst hatte den Plan zu einem Buch dieses Titels indessen bewusst aufgegeben – es gab Pläne, aber die Aufgabe schien ihm offenbar aus inhaltlichen Gründen nicht lösbar. Der Schluss aus dieser Editionslage war für Colli und Montinari eindeutig: Es bedurfte einer kompletten philologisch korrekten Neuausgabe der veröffentlichten und unveröffentlichten Schriften sowie der Briefe, wenn denn eine angemessene Auseinandersetzung mit dem originalen Nietzsche möglich werden sollte. Diese Ausgabe konnte dann in den 60er Jahren tatsächlich begonnen werden; sie erschien auf italienisch, französisch und deutsch; und sie liegt der heute normalerweise als Referenz genutzten Kritischen Studienausgabe sowie der Briefausgabe zugrunde. Die Colli/Montinari-Ausgabe hat in Frankreich und Italien und mit leichter Verspätung dann auch in Deutschland eine neue Rezeption Nietzsches ermöglicht. Dabei haben die französischen Diskurse für die deutsche Rezeption eine Schlüsselrolle gespielt: Stark verkürzt kann man sagen, dass Nietzsche auf dem Umweg über Foucault und Deleuze den Weg zurück in die aktuellen deutschen Diskurse seit den 80er Jahren gefunden hat; Angelika Schober ist in einer sehr interessanten Studie der umfangreichen französischen Nietzsche-Rezeption nachgegangen, die eine wesentliche Grundlage für die neuen deutschen Diskurse bildet. Heute gehört es in den Geistes- und Kulturwissenschaften wieder zu den

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Selbstverständlichkeiten, sich auch mit Nietzsche auseinanderzusetzen. Dass er da oft genug zu nichts anderem als einem Vordenker postmodernen Denkens stilisiert wird, bedeutet allerdings einen nun wiederum ziemlich fragwürdigen Umgang mit seinem Werk. Auch wenn die philologischen Grundlagen heute unvergleichlich besser sind als früher, so bleibt doch die inhaltliche Aufgabe angesichts der Komplexität und der Entwicklung des Werks extrem schwierig – und das liegt nicht nur an der sprachlichen Form, die Nietzsche von den essayistischen Abhandlungen der Frühschriften über die aphoristischen Formen der mittleren Zeit zur symbolistischen Dichtung des „Zarathustra“ und der Spätwerke geführt hat (wenngleich hier zum Teil auch wieder essayistische Formen vorkommen). Es ist eine hermeneutische HerkulesAufgabe, dieses Werk angemessen zu erschließen – aber es gibt immerhin Schritte auf dem Weg dahin. Diese Aufgabe ist gerade in der Pädagogik besonders schwierig, weil es hier bis in die 40er Jahre eine eigene intensive und höchst folgenreiche Rezeptionsgeschichte zu Nietzsche gibt, aber eben auf den falschen Fährten, die Elisabeth Förster-Nietzsche so absichtsvoll gelegt hatte. Es ist das Verdienst insbesondere von Christian Niemeyer, Nietzsche für die aktuelle pädagogische Debatte neu erschlossen zu haben (1998, 2002); besonders möchte ich auf das jüngst erschienene, von Niemeyer herausgegebene „Nietzsche-Lexikon“ hinweisen (2009), das auch eine umfangreiche Bibliographie auf aktuellem Stand enthält. – Aber nun genug der Vorrede! Beim Thema „Rausch, Lust, Ekstase“ muss Nietzsche vorkommen. Es sind zentrale Themen seiner Lebensphilosophie. Es sind zugleich pädagogische Themen. Jedes Kind, jeder Mensch muss lernen, mit Rausch, Lust, Ekstase umzugehen. Im antiken Mythos erscheint der Gott, der diese Dimension für Nietzsche repräsentiert. Dionysos ist es, der für den ekstatischen Taumel, für die Manie, für den Enthusiasmus steht – Eckhard Roch hat das in seinem Beitrag zu Wagner (in diesem Band) wunderbar dargestellt und dann am Tannhäuser und vor allem an Tristan und Isolde entfaltet. Und Dionysos ist es, der Nietzsche inspiriert hat, bis zum Schluss; er hat nicht zufällig das letzte Wort vor dem Zusammenbruch. Die Autobiographie „Ecce Homo“ endet mit der Frage „Hat man mich verstanden? – Dionysos gegen den Gekreuzigten…“ (KSA 6: 374).

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Vorspiel Wer war das, der sich zu solcher Selbst-Vergottung hinreißen ließ? Eine Annäherung an die Person und an das Werk soll hier mit Bildern seines Lebens versucht werden 1. – Da sind die Eltern:

Der Vater, Carl Ludwig Nietzsche, evangelischer Pastor in Röcken bei Lützen (nahe Leipzig), 1813-1849. Der Vater ist 31, als sein Ältester geboren wurde, er ist mit 36 an den Spätfolgen eines Unfalles gestorben – Friedrich ist da noch nicht fünf, Elisabeth drei, Joseph ein Jahr alt – er ist wenige Monate nach dem Tod des Vaters ebenfalls gestorben. 1

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Die Nietzsche-Literatur zu Leben und Werk füllt Bibliotheken. Eine gute erste Einführung bietet nach wie vor der Band von Ivo Frenzel (2009); sie liegt im Blick auf die äußeren Lebensdaten und die wesentlichen biographischen Entwicklungsstationen auch der folgenden Darstellung zugrunde. Hier findet sich auch eine Zeittafel (S. 150f.). Als Einführungen eignen sich darüber hinaus sehr gut die Arbeiten von Ries (1990), Montinari (1991) und vor allem Niemeyer (2002). Für einen ersten Überblick bietet sich indessen auch hier wikipedia an – dort findet sich ein ausgezeichneter Einführungsartikel: http://de.wikipedia.org/wiki/Friedrich_Nietzsche.

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Die Mutter, Franziska Nietzsche, geb. Oehler, 1826-1897, ist 17, als sie heiratet, 18, als sie Friedrich zur Welt bringt. Das Bild zeigt eine sehr hübsche junge Frau, die sich ihrer Schönheit auch durchaus bewusst zu sein scheint. Nach dem frühen Tod des Vaters zieht die Familie mitsamt der Großmutter und zwei Tanten von Röcken nach Naumburg um, dem Ort der ersten Schulbildung, zunächst auf der städtischen Bürgerschule, dann im Domgymnasium. 1858 erfolgt der Wechsel des als begabt erkannten 14Jährigen nach Schulpforta, wo er eine gründliche humanistischphilologische Bildung erhält. 1861 wird Nietzsche konkonfirmiert. Hier findet sich das früheste Foto, das ich gefunden habe. Man sieht einen ziemlich ernst blickenden Jüngling in gestelzter Pose, offenbar nicht unbeeindruckt von der Tatsache, dass er fotografiert wird; besonders glücklich schaut er freilich nicht drein. Dass hier ein extrem musikalischer junger Mann vor einem steht, der hervorragend Klavier spielt, komponiert und später für seine Klavier-Impro– visationen geradezu be-

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rühmt sein wird, zugleich einer, der bereits seine ersten literarischen Versuche hinter sich hat, ist dem Bild natürlich nicht anzusehen. Nietzsches Lektüren sind ungewöhnlich; er liest neben den humanistischen Schullektüren romantische Texte, Jean Paul und vor allem den damals noch nahezu unbekannten Hölderlin, und er zieht aus dieser Mischung seine Schlüsse, die ihn allmählich nicht nur von der Religion abbringen, sondern zugleich zu einer Kritik des Fachmenschen, des Philisters führen. Dieses Bild aus dem Jahre 1864 zeigt Nietzsche etwa zu Beginn des Studiums der Theologie und der klassischen Philologie, das er im Oktober des Jahres in Bonn aufnimmt. Hier bemüht er sich um ein fröhliches Studentenleben, mit Eintritt in die Burschenschaft Franconia und den damals in diesem Kontext üblichen Vergnügungen – wenn es denn eine Syphilis war, die ihn schließlich krank machte und zu Tode brachte, so dürfte er sie sich in dieser Zeit zugezogen haben. Aber die Krankheits- und Todesursache ist bis heute umstritten. Bald freilich findet er eher widerlich, was er da erlebt, und so tritt er aus der Verbindung wieder aus. Für ihn viel wichtiger ist die Begegnung mit Friedrich Wilhelm Ritschl, der als berühmter klassischer Altphilologe in Bonn lehrt – und viel wichtiger war die Musik, der er sich nun nicht nur klavierspielend, sondern auch intensiv komponierend widmet, auch eigene Dichtungen vertonend. Nietzsche folgt 1865 Ritschl nach Leipzig, um das Studium bei ihm fortzusetzen (bis 1869) und wird nun mit Nachdruck gefördert; erste Publikationen entstehen, ein erster Preis wird verliehen – und er wird, auf Empfehlung Ritschls, mit nur 25 Jahren noch vor Abschluss seines Studiums als außerordentlicher Professor nach Basel berufen.

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Bevor es aber soweit ist, muss Nietzsche noch zum Militär: Nietzsche wird als Einjährig-Freiwilliger 1867 bei der preußischen Artillerie in Naumburg verpflichtet. Auf diesem Bild blitzen nicht nur Säbel und Helm, sondern nun auch schon der Schnurrbart, der zu seinem Markenzeichen werden wird. Freilich will die bemüht stolze Pose so gar nicht zum Gesicht passen! Es sei „das Bild eines verkleideten Gelehrten“, schreibt Ivo Frenzel als Kommentar dazu (2009: 38). Lange hält der Stolz nicht an; Nietzsche erleidet 1868 einen schweren Reitunfall und war damit dienstunfähig – was ihm weitere philologische Arbeit möglich macht. In die Leipziger Zeit fällt die Entdeckung und Lektüre Schopenhauers, die ihn sehr prägen wird, sowie die erste persönliche Begegnung mit Richard Wagner (1868), dem Mann also, der ihm zum Schicksal werden wird und an dessen Musik er schon lange vorher den intensivsten Gefallen gefunden hat – SchopenhauerFan auch er. Dieser junge Mann, 25 Jahre alt, wird gerade außerordentlicher Professor, und er wird nur ein Jahr später schon zum Ordinarius ernannt sein. Die Promotion und Habilitation wird ihm aus Leipzig auf der Grundlage erbrachter Leistungen zuerkannt – so etwas ist an der alten Universität möglich!

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Rausch: Musik Nietzsche siedelt nach Basel über, und er sucht nach kürzester Zeit den Kontakt zu Wagner, der von 1866-1872 in Tribschen in der Nähe von Luzern wohnt. Nietzsche schreibt darüber an seinen Freund Erwin Rohde: „Dazu habe ich einen Menschen gefunden, der wie kein anderer das Bild dessen, was Schopenhauer „das Genie“ nennt, mir offenbart und der ganz durchgedrungen ist von jener wundersamen innigen Philosophie. Dies ist kein anderer als Richard Wagner, über den Du kein Urteil glauben darfst, das sich in der Presse, in den Schriften der Musikgelehrten usw. findet. Niemand kennt ihn und kann ihn beurteilen, weil alle Welt auf einem anderen Fundament steht und in seiner Atmosphäre nicht heimisch ist. In ihm herrscht so unbedingte Idealität, eine solche tiefe und rührende Menschlichkeit, ein solcher erhabener Lebensernst, dass ich mich in seiner Nähe wie in der Nähe des Göttlichen fühle“ (KSB 3: 35f.).

Und Nietzsche begegnet erstmals Cosima, die sein bewusstes Leben lang, auch über den Bruch mit Wagner hinaus, Frau seiner Träume und Phantasien werden wird; sie war wohl die Ariadne, von der in „Also sprach Zarathustra“ und noch in letzten Äußerungen vor dem Zusammenbruch die Rede ist; Dietrich FischerDieskau hat in seinem 1974 erstmals erschienenen, immer noch höchst lesenswerten Buch „Wagner und Nietzsche. Der Mystagoge und sein Abtrünniger“ auch über diese Beziehung ausführlich berichtet. In jüngster Zeit hat Dieter Borchmeyer (2008) die Freundschaft dieses Dreigestirns erneut portraitiert. Tribschen wird für drei Jahre zum Sehnsuchts- und Glücksort; mehr als zwanzigmal weilt Nietzsche dort und erlebt geradezu rauschartig die Übereinstimmung mit dem großen Meister. Unter diesem Eindruck geschieht der erste entscheidende Bruch: Nietzsche schreibt „Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik“. Das 1872 erscheinende Buch findet zwar Wagners und Cosimas begeisterte Zustimmung, aber es bedeutet letztlich zugleich das Ende der gerade erst begonnenen wissenschaftlichen Karriere des Altphilologen, wenn auch noch nicht das Ende der Tätigkeit als Hochschullehrer. Nietzsche geht es darum, „die Entwicklung der griechischen Tragödie aus dem rituellen Chortanz des Dionysos darzustellen,

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und zwar zum Beweis der These, dass in der Tragödie die Verschmelzung zweier verschiedener Lebensformen verkörpert sei. Damit wird zugleich der Versuch unternommen, das klassische Altertum neu zu deuten“ (Frenzel 2009: 49). Es geht um das Verhältnis des Apollinischen zum Dionysischen, des Traums zum Rausch. Das klingt so: „Diese freudige Nothwendigkeit der Traumerfahrung ist […] von den Griechen in ihrem Apollo ausgedrückt worden: Apollo, als der Gott aller bildnerischen Kräfte, ist zugleich der wahrsagende Gott. Er, der seiner Wurzel nach der ,Scheinende‘, die Lichtgottheit ist, beherrscht auch den schönen Schein der inneren Phantasie-Welt. Die höhere Wahrheit, die Vollkommenheit dieser Zustände im Gegensatz zu der lückenhaft verständlichen Tageswirklichkeit, sodann das tiefe Bewusstsein von der in Schlaf und Traum heilenden und helfenden Natur ist zugleich das symbolische Analogon der wahrsagenden Fähigkeit und überhaupt der Künste, durch die das Leben möglich und lebenswerth gemacht wird. Aber auch jene zarte Linie, die das Traumbild nicht überschreiten darf, um nicht pathologisch zu wirken, widrigenfalls der Schein als plumpe Wirklichkeit uns betrügen würde – darf nicht im Bilde des Apollo fehlen: jene maassvolle Begrenzung, jene Freiheit von den wilderen Regungen, jene weisheitsvolle Ruhe des Bildnergottes. Sein Auge muss ,sonnenhaft‘, gemäss seinem Ursprunge, sein; auch wenn es zürnt und unmuthig blickt, liegt die Weihe des schönen Scheines auf ihm.[…].“

Während Apollon und das Apollinische für den schönen Schein und die integrative, verbindende und zugleich individuierende Kraft einer harmonisierenden Kunst stehen, stehen Dionysos und das Dionysische für die wilden, auflösenden, tragischen Mächte der Selbstauflösung im verzückten Taumel kollektiver Verschmelzung: „Wenn wir zu diesem Grausen die wonnevolle Verzückung hinzunehmen, die bei demselben Zerbrechen des principii individuationis aus dem innersten Grunde des Menschen, ja der Natur emporsteigt, so thun wir einen Blick in das Wesen des Dionysischen, das uns am nächsten noch durch die Analogie des Rausches gebracht wird. Entweder durch den Einfluss des narkotischen Getränkes, von dem alle ursprünglichen Menschen und Völker in Hymnen sprechen, oder bei dem gewaltigen, die ganze Natur lustvoll durchdringenden Nahen des Frühlings erwachen jene dionysischen Regungen, in deren Steigerung das Subjective zu völliger Selbstvergessenheit hinschwindet. […]

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Unter dem Zauber des Dionysischen schließt sich nicht nur der Bund zwischen Mensch und Mensch wieder zusammen: auch die entfremdete, feindliche oder unterjochte Natur feiert wieder ihr Versöhnungsfest mit ihrem verlorenen Sohne, dem Menschen. Freiwillig beut die Erde ihre Gaben, und friedfertig nahen die Raubthiere der Felsen und der Wüste. Mit Blumen und Kränzen ist der Wagen des Dionysus überschüttet: unter seinem Joche schreiten Panther und Tiger. Man verwandele das Beethoven’sche Jubellied der ,Freude‘ in ein Gemälde und bleibe mit seiner Einbildungskraft nicht zurück, wenn die Millionen schauervoll in den Staub sinken: so kann man sich dem Dionysischen nähern. Jetzt ist der Sclave freier Mann, jetzt zerbrechen alle die starren, feindseligen Abgrenzungen, die Noth, Willkür oder ,freche Mode‘ zwischen den Menschen festgesetzt haben. Jetzt, bei dem Evangelium der Weltenharmonie, fühlt sich Jeder mit seinem Nächsten nicht nur vereinigt, versöhnt, verschmolzen, sondern eins. […] Singend und tanzend äussert sich der Mensch als Mitglied einer höheren Gemeinsamkeit: er hat das Gehen und das Sprechen verlernt und ist auf dem Wege, tanzend in die Lüfte emporzufliegen. Aus seinen Gebärden spricht die Verzauberung. Wie jetzt die Thiere reden, und die Erde Milch und Honig giebt, so tönt auch aus ihm etwas Uebernatürliches: als Gott fühlt er sich, er selbst wandelt jetzt so verzückt und erhoben, wie er die Götter im Traume wandeln sah. Der Mensch ist nicht mehr Künstler, er ist Kunstwerk geworden: die Kunstgewalt der ganzen Natur, zur höchsten Wonnebefriedigung des Ur-Einen, offenbart sich hier unter den Schauern des Rausches“ (KSA 1: 27ff.).

So sehr Nietzsche auch die widerspruchsvolle Einheit des Apollinischen und des Dionysischen betont, so deutlich ist doch seine Faszination durch den wilden Dionysos. Mit dieser Hymne auf den dionysischen Kunst-Rausch verspielt Nietzsche seinen Ruf als ernstzunehmender Altphilologe. Für das Buch erntet er bei den Fachkollegen äußerlich Schweigen, für seine Wagner-Verehrung Hohn und Spott. Nur ein noch jüngerer Altphilologe, Ulrich von Wilamowitz-Moellendorf, ebenfalls Absolvent von Schulpforta, äußert eine scharfe öffentliche Kritik. Aber das Schweigen der etablierten Zunft sitzt mindestens so tief. Rausch, dieses Spiel mit der Grenze, zieht eben Kater nach sich, und hat manchmal unerwartete Folgen. Für Nietzsche ist damit der Weg in seine eigene Philosophie frei, den er nun auch entschlossen zu beschreiten beginnt – nicht zuletzt mit den sehr wagnerianischen, aber auch heute noch und

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gerade wieder sehr lesenswerten Basler Vorträgen „Über die Zukunft unserer Bildungsanstalten“ (KSA 1: 641-752), die nicht zuletzt eine scharfe Kritik eines utilitaristischen Bildungsphilistertums enthalten. „Ich glaube bemerkt zu haben,“ heißt es da, „von welcher Seite aus der Ruf nach möglichster Erweiterung und Ausbreitung der Bildung am deutlichsten erschallt. Diese Erweiterung gehört unter die beliebten nationalökonomischen Dogmen der Gegenwart. Möglichst viel Erkenntniß und Bildung – daher möglichst viel Produktion und Bedürfniß – daher möglichst viel Glück: – so lautet etwa die Formel. Hier haben wir den Nutzen als Ziel und Zweck der Bildung, noch genauer den Erwerb, den möglichst großen Geldgewinn. […] Der ,Bund von Intelligenz und Besitz‘, den man nach diesen Anschauungen behauptet, gilt geradezu als eine sittliche Anforderung. Jede Bildung ist hier verhasst, die einsam macht, die über Geld und Erwerb hinaus Ziele steckt, die viel Zeit verbraucht: man pflegt wohl solche andere Bildungstendenzen als ,höheren Egoismus‘, als ,unsittlichen Bildungsepikureismus‘ abzutun. Nach der hier geltenden Sittlichkeit wird freilich etwas Umgekehrtes verlangt, nämlich eine rasche Bildung, um schnell ein geldverdienendes Wesen werden zu können und doch eine so gründliche Bildung, um ein sehr viel Geld verdienendes Wesen werden zu können. Dem Menschen wird nur so viel Kultur gestattet als im Interesse des Erwerbs ist, aber so viel wird auch von ihm gefordert. Kurz: die Menschheit hat einen notwendigen Anspruch auf Erdenglück – darum ist die Bildung nothwendig – aber auch nur darum!“ (KSA 1: 667f.).

1875 ist Nietzsche 31 Jahre alt. Je mehr Bayreuth Konturen annahm, desto mehr entfernt er sich innerlich von Wagner – die Verehrung der Person hält nicht allzu lange an. Die Gründe sind vielfältig; entscheidend ist wohl, dass Nietzsche von Wagner menschlich enttäuscht ist, weil in Nietzsches Sicht seine Ideale verraten hat, zugunsten eines gesellschaftlichen Erfolgs, der sich dann doch in einem durch dicke Matronen beherrschten Publikum zeigt.

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Zwischen 1873 und 1876 entstehen die vier „Unzeitgemäßen Be– trachtungen“, darunter „Richard Wagner in Bayreuth“. Von da ist es nicht mehr sehr weit bis zum endgültigen Bruch. Dieser Rausch ist vorbei und wurde dann u.a. in „Menschliches, Allzumenschliches“ (1878) dokumentiert – auch wenn die Liebe zur und die Verehrung der Musik Wagners bleibt: und die Trauer über den Verlust der Beziehung. Aber ein neuer Lebensabschnitt hat begonnen, der sich auf mehreren Ebenen zeigt. „Menschliches, Allzumenschliches“ ist die erste große aphoristische Schrift. Nietzsche hat sich von Wagner gelöst. Und er ist immer häufiger schwer krank. Unter anderem deswegen hegt er Heiratswünsche, freilich auf ziemlich abstruse Weise, und ohne passende Gelegenheiten: gewünscht ist eine Zweckehe mit einer reichen Frau. Zu diesem Zweck eingespannt hat Nietzsche seine ältere Freundin Malwida von Meysenburg, die ihm passende Damen zuführen soll. Diese bürgerliche Rettung wird ihm freilich nicht zuteil. Im Mai 1879 ist es dann soweit: Nietzsche kann nach eigener Einschätzung seinen Basler Verpflichtungen nicht mehr nachkommen und reicht seine Entlassung ein. Im Juni reist er zum ersten Mal ins Oberengadin, nach St. Moritz, was ihm „gut tut“ (KSB 5: 423). Den Sommer-Zufluchtsort Sils-Maria wird er erst zwei Jahre später entdecken. Die nächsten zehn Jahre werden durch ein unstetes Wanderleben (Sils-Maria im Sommer, Genua, Rapallo, Turin, Nizza, im Winter, und dazwischen immer mal wieder Naumburg) gekennzeichnet sein – ein Leben, das, wenn die Gesundheit es eben zulässt, vor allem lesend, schreibend und mit den wenigen alten und neuen Freunden diskutierend verbracht wird – und in einer sehr schwierigen Beziehung zur Schwester und zur Mutter.

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Lust: Wissenschaft, Kunst (und Liebe) Erst mit dem endgültigen Ausscheiden aus dem Wissenschaftsbetrieb dringt Nietzsche vor zu kühner wissenschaftlicher Erkenntnis. Die mit dem aphoristischen Stil neu gewonnene sprachliche und gedankliche Freiheit führt zu intensiver Produktion. „Menschliches, Allzumenschliches“ (1878) mit den Fortsetzungen „Vermischte Meinungen und Sprüche“ (1879) und „Der Wanderer und sein Schatten“ (1880), „Morgenröthe“ (1881), „Die fröhliche Wissenschaft“ (1882) einschließlich „Scherz, List und Rache“ entstehen rasch aufeinander folgend. Nietzsche beobachtet in diesen Schriften scharf und genau, wie das Leben im Kleinen und im Großen funktioniert. Es handelt sich in weiten Teilen um so etwas wie qualitative Sozialforschung avant la lettre – präzise Alltagsbeobachtungen, in dichter Beschreibung, zugleich präzise Sozialund Tiefenpsychologie. Es ist die Lust an der Erkenntnis, die hier kultiviert wird, „fröhliche Wissenschaft“ eben, und sie führt dazu, dass das Verhältnis von Wissenschaft und Kunst nun neu und anders gefasst wird als in der „Geburt der Tragödie“: Die Wissenschaft wird aufgewertet. Sie wird zum beglückenden Zweck des Lebens. Der Aphorismus 324 im vierten Buch der „Fröhlichen Wissenschaft“ lautet: „In media vita. – Nein! Das Leben hat mich nicht enttäuscht! Von Jahr zu Jahr finde ich es vielmehr wahrer, begehrenswerther und geheimnissvoller, – von jenem Tage an, wo der grosse Befreier über mich kam, jener Gedanke, dass das Leben ein Experiment des Erkennenden sein dürfe – und nicht eine Pflicht, nicht ein Verhängniss, nicht eine Betrügerei! – Und die Erkenntniss selber: mag sie für Andere etwas Anderes sein, zum Beispiel ein Ruhebett oder der Weg zu einem Ruhebett, oder eine Unterhaltung, oder ein Müssiggang, – für mich ist sie eine Welt der Gefahren und Siege, in der auch die heroischen Gefühle ihre Tanz- und Tummelplätze haben. ,Das Leben ein Mittel der Erkenntnis‘ – mit diesem Grundsatze im Herzen kann man nicht nur tapfer, sondern sogar fröhlich leben und fröhlich lachen! Und wer verstünde überhaupt gut zu lachen und zu leben, der sich nicht vorerst auf Krieg und Sieg gut verstünde?“ (KSA: 552).

Wenn man den Universitätsalltag kennt, können einem da mancherlei Assoziationen zu Krieg und Sieg und dem Leben als Mittel der Erkenntnis kommen. Aber Nietzsche meint nicht den Univer-

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sitätsalltag. Ihm geht es um viel Grundsätzlicheres; kurz vorher findet sich folgender Aphorismus: „Vom Ziele der Wissenschaft. – Wie? Das letzte Ziel der Wissenschaft sei, dem Menschen möglichst viel Lust und möglichst wenig Unlust zu schaffen? Wie, wenn nun Lust und Unlust so mit einem Stricke zusammengeknüpft wären, dass, wer möglichst viel von der einen haben will, auch möglichst viel von der andern haben muss, – dass, wer das ,Himmelhoch-Jauchzen‘ lernen will, sich auch für das ,zum-Tode-betrübt‘ bereit halten muss? Und so steht es vielleicht! [...] Auch heute noch habt ihr die Wahl: entweder möglichst wenig Unlust, kurz Schmerzlosigkeit – und im Grunde dürften Socialisten und Politiker aller Parteien ihren Leuten ehrlicher Weise nicht mehr verheissen – oder möglichst viel Unlust als Preis für das Wachsthum einer Fülle von feinen und bisher selten gekosteten Lüsten und Freuden! Entschliesst ihr euch für das Erstere, wollt ihr also die Schmerzhaftigkeit der Menschen herabdrücken und vermindern, nun, so müsst ihr auch ihre Fähigkeit zur Freude herabdrücken und vermindern. In der That kann man mit der Wissenschaft das eine wie das andere Ziel fördern! Vielleicht ist sie jetzt noch bekannter wegen ihrer Kraft, den Menschen um seine Freuden zu bringen, und ihn kälter, statuenhafter, stoischer zu machen. Aber sie könnte auch noch als die grosse Schmerzbringerin entdeckt werden! – Und dann würde vielleicht zugleich ihre Gegenkraft entdeckt sein, ihr ungeheures Vermögen, neue Sternenwelten der Freude aufleuchten zu lassen!“ (KSA 3: 382f.).

Die große Schmerzbringerin, das bedeutet, die große Desillusioniererin, Zerstörerin des Glaubens und der Gewohnheit, wird hier zum entscheidenden Mittel der Emanzipation, zum Mittel, die „neuen Sternenwelten der Freude“ aufleuchten zu lassen; und die Kunst führt nun nicht mehr, wie in der „Geburt der Tragödie“, zur weltlichen Erlösung. Ihre Aufgabe wird hier viel vorsichtiger formuliert; sie dient nun eher der Entlastung, der Kompensation. So heißt es im 107. Aphorismus: „Unsere letzte Dankbarkeit gegen die Kunst. – Hätten wir nicht die Künste gut geheissen und diese Art von Cultus des Unwahren erfunden: so wäre die Einsicht in die allgemeine Unwahrheit und Verlogenheit, die uns jetzt durch die Wissenschaft gegeben wird – die Einsicht in den Wahn und Irrthum als in eine Bedingung des erkennenden und empfindenden Daseins –, gar nicht auszuhalten. Die Redlichkeit würde

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den Ekel und den Selbstmord im Gefolge haben. Nun aber hat unsere Redlichkeit eine Gegenmacht, die uns solchen Consequenzen ausweichen hilft: die Kunst, als den guten Willen zum Scheine. […]Als ästhetisches Phänomen ist uns das Dasein immer noch erträglich, und durch die Kunst ist uns Auge und Hand und vor Allem das gute Gewissen dazu gegeben, aus uns selber ein solches Phänomen machen zu können. Wir müssen zeitweilig von uns ausruhen, dadurch, dass wir auf uns hin und hinab sehen und, aus einer künstlerischen Ferne her, über uns lachen oder über uns weinen; wir müssen den Helden und ebenso den Narren entdecken, der in unsrer Leidenschaft der Erkenntniss steckt, wir müssen unsrer Thorheit ab und zu froh werden, um unsrer Weisheit froh bleiben zu können! Und gerade weil wir im letzten Grunde schwere und ernsthafte Menschen und mehr Gewichte als Menschen sind, so thut uns Nichts so gut als die Schelmenkappe: wir brauchen sie vor uns selber – wir brauchen alle übermüthige, schwebende, tanzende, spottende, kindische und selige Kunst, um jener Freiheit über den Dingen nicht verlustig zu gehen, welche unser Ideal von uns fordert […]“ (KSA 3: 464f.)

Die Kunst macht das Leben erträglich und die Wissenschaft mit ihren schauerlichen Erkenntnissen über den Menschen aushaltbar und lebendig; sie ist der Weg zur „Freiheit über den Dingen“. Ironie, Selbstdistanz, der verfremdete und verfremdende Blick von außen erscheinen hier als die lebensnotwendigen Haltungen, die der Schwere und Ernsthaftigkeit von Wissenschaft und Alltag gegenwirken können – diesem vergleichsweise realistisch-vorsichtigen Befreiungsprogramm wird mit dem Konzept des Übermenschen in „Also sprach Zarathustra“ ein anderes, wieder radikalisiertes ästhetisches Programm gegenübergestellt werden. Dazwischen freilich fällt die zweite Liebe seines Lebens: Lou Salomé (1861-1937), die er 1882 in Rom kennenlernt und die er wirklich gerne geheiratet hätte – ebenso wie auch sein Freund Paul Rée, dem er die Einladung nach Rom verdankt, und den er dann zum Werber für sich bei Lou bestimmte, nicht ahnend, dass Rée selbst ebenfalls verliebt war. Aus den Heiratsplänen wird nichts, weder für den einen noch für den anderen. Aber es wird ein für alle Beteiligten ziemlich aufregender Sommer daraus, von dem wiederum ein berühmtes Bild kündet:

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Da stehen sie nun, die beiden Helden, vor den Karren ins Joch gespannt und angetrieben von der Dame, die die Peitsche hält – eine wahrhaft komische Inszenierung, die sie für den Fotografen aufgebaut haben. Aber es geht dennoch nicht voran – es bleibt ein Standbild. Dieser Karren wird nicht gezogen. Dass auch die Freundschaft zwischen Nietzsche und Lou Salomé auf die Dauer zerbricht, verdankt sich nicht zuletzt den ziemlich bösartigen Intrigen seiner auf Lou eifersüchtigen Schwester. Daran geht nicht nur die Freundschaft mit Lou, sondern auch die ohnehin schon belastete Beziehung mit der Schwester und der Mutter zu Bruch; und sie wird später in seinem bewussten Leben nur äußerst notdürftig wieder gekittet.

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Ekstase: Zarathustra Den folgenden Winter verbringt Nietzsche zunächst in Genua, dann in Rapallo, und hier beginnt die Niederschrift des „Zarathustra“. In einer euphorisierten Schaffensekstase schreibt Nietzsche den ersten Teil – immerhin fast 100 Druckseiten – in zehn Tagen nieder. Auch der zweite und der dritte Teil entstehen in solchen kurzen ekstatischen Schaffensperioden. Der – nicht abgeschlossene – vierte Teil braucht dann etwas länger. „Zarathustra“ hat eine Sonderstellung in Nietzsches Werk. Es handelt sich um eine durchkomponierte symbolistisch aufgeladene Dichtung mit philosophischen Inhalten. Nietzsche versucht sich an Philosophie in dionysischem Gewand. Er verfasst einen großen dionysischen Gesang. Es ist hier nicht der Raum, dieses außerordentliche Werk, das zweifellos den Höhepunkt von Nietzsches Schaffen bedeutet, im Einzelnen vorzustellen. Nur so viel: Der Wille zur Macht, der hier gelehrt wird, ist nicht der politische Wille zur Herrschaft, sondern der Wille zur Selbstüberwindung, zur Umwertung der Werte zugunsten des Schaffenden; der Schluss des entsprechenden Kapitels „Von der Selbst-Ueberwindung“ lautet: „Der traf freilich die Wahrheit nicht, der das Wort nach ihr schoss vom »Willen zum Dasein«: diesen Willen – giebt es nicht! Denn: was nicht ist, das kann nicht wollen; was aber im Dasein ist, wie könnte das noch zum Dasein wollen! Nur, wo Leben ist, da ist auch Wille: aber nicht Wille zum Leben, sondern – so lehre ich’s dich – Wille zur Macht! Vieles ist dem Lebenden höher geschätzt, als Leben selber; doch aus dem Schätzen selber heraus redet – der Wille zur Macht! – Also lehrte mich einst das Leben: und daraus löse ich euch, ihr Weisesten, noch das Räthsel eures Herzens.“

Das Dasein und das Leben sind Voraussetzung des Willens, aber was aus dem Leben und aus dem Dasein wird, entscheidet sich an den Werten, in denen sich jedoch nicht Moral, sondern der Wille zur Macht, zur Gestaltung äußert. Diese Kraft aber wirkt verändernd und stellt immer neue Verhältnisse her:

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„Wahrlich, ich sage euch: Gutes und Böses, das unvergänglich wäre – das giebt es nicht! Aus sich selber muss es sich immer wieder überwinden. Mit euren Werthen und Worten von Gut und Böse übt ihr Gewalt, ihr Werthschätzenden: und diess ist eure verborgene Liebe und eurer Seele Glänzen, Zittern und Überwallen.“

Die Tiefenstruktur der Moral ist der Kampf; und Neues gibt es nur um den Preis des Verlusts, ja der Vernichtung des Alten: „Aber eine stärkere Gewalt wächst aus euren Werthen und eine neue Überwindung: an der zerbricht Ei und Eierschale. Und wer ein Schöpfer sein muss im Guten und Bösen: wahrlich, der muss ein Vernichter erst sein und Werthe zerbrechen. Also gehört das höchste Böse zur höchsten Güte: diese aber ist die schöpferische. – Reden wir nur davon, ihr Weisesten, ob es gleich schlimm ist. Schweigen ist schlimmer; alle verschwiegenere Wahrheiten werden giftig. Und mag doch Alles zerbrechen, was an unseren Wahrheiten zerbrechen – kann! Manches Haus giebt es noch zu bauen! Also sprach Zarathustra“ (KSA 4: 148f.).

Im Willen zur Macht steckt der Wille zum Machen. Wer Neues machen will, muss Altes überwinden. Und aus den Ambivalenzen kommt man auch als noch so schöpferischer Übermensch nicht heraus. Vielleicht ist es allzu schematisch, wenn hier der Rausch mit Musik, die Lust mit Wissenschaft, Kunst und Liebe und die Ekstase mit der Dichtung in Verbindung gebracht wurden. Vielleicht wäre man den drei Stadien in Nietzsches geistiger und schriftstellerischer Entwicklung besser mit seinem eigenen Bild vom Kamel, dem Löwen und dem Kind gerecht geworden. Das Kamel stünde dann für die akademische Wissenschaft, der Löwe für die freie, fröhliche Wissenschaft der aphoristischen Phase und das wiedergewonnene Kind für den dionysischen Gesang. Aber wo wären dann Rausch, Lust, Ekstase geblieben?

Epilog Die folgenden Schriften „Jenseits von Gut und Böse“ (1886), „Genealogie der Moral“ (1887), „Der Fall Wagner“ (1888), „Götzen-

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dämmerung“ (1889) sowie die nachgelassenen Schriften „Der Antichrist“, „Ecce Homo“, „Nietzsche contra Wagner“ und die über einen längeren Zeitraum entstandenen und gesammelten „Dionysos-Dithyramben“ sollen hier nicht mehr im Einzelnen charakterisiert werden. Alles in allem nehmen sie bekannte Themen auf und variieren sie neu. Die Krankheit gewinnt immer mehr Macht über Nietzsche und führt schließlich im Januar 1889 zum Zusammenbruch, zum geistigen Tod. Körperlich wird Nietzsche noch elf Jahre leben, nun vollständig der Schwester und der Mutter zunächst in Naumburg, dann in Weimar ausgeliefert. Es gibt eine Reihe erschütternder Bilder aus dieser Zeit:

Das Bild von 1892 zeigt den nun 48jährigen mit der 66jährigen Mutter am Arm. Nur die seltsam starre Haltung des Kopfes und der Hände verweisen darauf, dass da nicht alles in Ordnung ist.

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Dieses Bild von 1895 zeigt den zunehmend an den Rollstuhl Gefesselten auf der Gartenveranda des Naumburger Hauses. Es gibt eine berühmte Serie von Fotos aus dem Jahre 1899, die der Maler Hans Olde (1855–1917) aufgenommen hat; das berühmteste ist wohl das folgende Bild:

Das andere Tanzlied Eins! Oh Mensch! Gieb Acht! Zwei! Was spricht die tiefe Mitternacht? Drei! ,Ich schlief, ich schlief –, Vier! ,Aus tiefen Traum bin ich erwacht: – Fünf! ,Die Welt ist tief, Sechs! ,Und tiefer als der Tag gedacht. Sieben! ,Tief ist ihr Weh –, Acht! ,Lust – tiefer noch als Herzeleid: Neun! ,Weh spricht: Vergeh! Zehn! ,Doch alle Lust will Ewigkeit –, Elf! ,– will tiefe, tiefe Ewigkeit! Zwölf!“ (KSA 4: 285f.)

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Dies andere Tanzlied steht auch auf dem Nietzsche-Gedenkstein in Sils-Maria.

Literatur Borchmeyer, Dieter (2008): Cosima, Wagner und Nietzsche. Porträt einer Freundschaft. Frankfurt a.M.: Insel. Fischer-Dieskau, Dietrich (1979): Wagner und Nietzsche. Der Mystagoge und sein Abtrünniger. München: dtv. Frenzel, Ivo (2009): Friedrich Nietzsche. 5. Aufl. Reinbek: Rowohlt. Montinari, Mazzino (1991): Friedrich Nietzsche. Eine Einführung. Berlin/New York: De Gruyter. Niemeyer, Christian (1998): Nietzsches andere Vernunft. Darmstadt: WBG. Niemeyer, Christian (2002): Nietzsche, die Jugend und die Pädagogik. Eine Einführung. Weinheim/München: Juventa. Niemeyer, Christian (2009): Nietzsche-Lexikon. Darmstadt: WBG. Nietzsche, Friedrich (1986): Sämtliche Briefe. Kritische Studienausgabe. Hg. von Giorgio Colli u. Mazzino Montinari. München (KSB): dtv. Nietzsche, Friedrich (1988): Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe. Hg. von Giorgio Colli u. Mazzino Montinari. München (KSA): dtv. Ries, Wiebrecht (1990): Nietzsche zur Einführung. 4. Aufl. Hamburg: Junius. Schlechta, Karl (1956): Philologischer Nachbericht. In: Friedrich Nietzsche. Werke in drei Bänden. Darmstadt 1994: WBG. Schober, Angelika (2000): Ewige Wiederkehr des Gleichen? Hundertzehn Jahre französische Nietzsche-Rezeption. Limoges: PULIM. http://de.wikipedia.org/wiki/Friedrich_Nietzsche

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Rausch und Rahmen Liminale Erfahrungen im Theater

Von Rauschzuständen ist in Theaterdiskursen selten ohne Vorbehalt die Rede. So wie Friedrich Nietzsche darauf insistierte, dass das Prinzip des Dionysischen, d.h. des Rausches, der Entgrenzung und des Selbstverlusts, in der Tragödie mit dem Gegenprinzip des Apollinischen, d. h. der Gestaltung, der Schönheit und der Form, ausgeglichen werden solle, taucht die Idee des Rausches in den Künsten meist in Begleitung einer Relativierung, wenn nicht gar einer Entkräftung auf (zum richtigen Verhältnis zwischen dionysischem und apollinischem Prinzip vgl. Nietzsche 1993: 19-36, 4665). Dieser Denkfigur des konterkarierten Rausches soll hier im Blick auf das Theater der Moderne nachgegangen werden. Aus analytischer Perspektive müssen die mit dem Theater verbundenen Verheißungen von Rausch, Lust und Ekstase unterschieden werden von ästhetischen Erfahrungen, wie sie im Theater tatsächlich gemacht werden können. Das Rauschhafte und das Ästhetische können sich treffen im Begriff der Grenzerfahrung, aber dann gilt es zu klären, was unter „Grenzerfahrung“ im Einzelfall zu verstehen ist: Ob das Konzept als eine tragfähige Brücke zwischen ästhetischer Erfahrung und Rauschzuständen wie auch zwischen Ästhetik und Ritualtheorie fungieren kann, bleibt auch nach langer fächerübergreifender Diskussion unter Beteiligung von Ethnologen, Religionswissenschaftlern, Pädagogen, Ritualforschern und Theaterwissenschaftlern eine offene Frage (vgl. zu dieser Diskussion Fischer-Lichte u.a. 2003). Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde in Manifesten und Programmschriften der Avantgarden ein Theater heraufbeschworen, das die Konventionen des Alltags zugunsten exzessiver Verausgabung, häufig verbunden mit provokanten Tabubrüchen, sprengen sollte. Dieser programmatische Diskurs traute dem Theater Transgressionen und Exzesse gleich in mehrfacher Hinsicht zu: Die Grenzüberschreitung konnte in einem elementaren Sinne räumlich gemeint sein und dann bedeuten, dass die the-

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atertypische Rampe, d.h. die strukturelle Trennung zwischen Bühne und Zuschauerraum, überwunden werden sollte. Von Grenzüberschreitung konnte man im Theater aber auch dann sprechen, wenn ästhetische Konventionen missachtet wurden. Und schließlich konnte Grenzüberschreitung die Verletzung moralischer Normen oder einen radikalen politischen Dissens bedeuten. Für alle diese Transgressionen – räumlich, ästhetisch, moralisch, politisch – lassen sich aus der Tradition der Theateravantgarde Beispiele anführen (vgl. dazu ausführlich Warstat 2011). In wirkungsästhetischen Diskursen des 20. Jahrhunderts war es vor allem der affirmative Vergleich von Theater und Ritual, der Vorstellungen vom Theater als Ort des Rausches hervorbrachte. Wo immer dieser Vergleich auftauchte, bei Wagner, Nietzsche, Georg Fuchs, Peter Behrens oder später bei Hermann Nitsch, Jerzy Grotowski und Richard Schechner, diente er dazu, dem Theater Wirkungen zuzuschreiben, die ansonsten mit Ritualen in Verbindung gebracht wurden. Wer Theater als Ritual entwarf, tendierte dazu, theatralen Aufführungen transformative Wirkungen zuzutrauen (die Traditionslinie wird aufgearbeitet bei Fischer-Lichte 2005). Während die Ritualforschung im Jahrzehnt vor dem Ersten Weltkrieg eine Affinität zu Theaterbegrifflichkeit im Allgemeinen und zu theaterbezogenen Ursprungsmythen im Besonderen entwickelte, bestimmte umgekehrt die entstehende Theaterwissenschaft ihren Gegenstand in einer Weise, die ihn in die Nachbarschaft des Rituals rückte. Max Herrmann definierte Theater – in seinen „Forschungen zur deutschen Theatergeschichte des Mittelalters und der Renaissance“ von 1914 – als ein soziales Spiel, in dem sich eine überpersönliche Macht manifestiere. Sein Kölner Kollege Carl Niessen lieferte der nationalsozialistischen Thingspiel-Bewegung eine zweifelhafte ritualtheoretische Fundierung und veröffentlichte in den 1940er- und 50er Jahren erste Bände eines nie vollendeten „Handbuchs der Theater-Wissenschaft“, das Rituale außereuropäischer Kulturen wie selbstverständlich zu einem Themenschwerpunkt erhob. Die wissenschaftsgeschichtliche Nähe der Begriffe Ritual und Theater hat eine Entsprechung in der Theaterpraxis des 20. Jahrhunderts: Noch vor dem Ersten Weltkrieg realisierte Max Reinhardt sein Konzept eines Massentheaters, das alle Teilnehmer – Bühnenakteure wie Publikum – u.a. durch chorische Aktion in eine homogene Festgemeinde transformieren sollte. Diese spezifi-

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sche Mischung von Theater, Fest und Ritual mit dem Ziel einer Entgrenzung des Ichs in festlicher Gemeinschaft war zuvor von Georg Fuchs theoretisch ausgearbeitet worden (vgl. Fuchs 1905, 1909). In der Nachkriegszeit griffen die Dadaisten die Grenze zwischen Ritual und Theater von einer anderen Seite her an: Anstatt wie Reinhardt im Theater rituelle Effekte hervorzubringen, versuchten sie, anerkannte Rituale der Gesellschaft (Gottesdienste, Vernissagen, Parlamentsdebatten) mit theatralen Mitteln zu dekonstruieren. Auf lange Sicht besonders einflussreich war das rituelle Theatermodell Antonin Artauds. Artaud äußerte in den frühen 1930er Jahren die Hoffnung, dass „der Sinn der alten rituellen Magie auf der Ebene des Theaters eine neue Realität wiederfinden“ könne und forderte in diesem Sinne ein Theater, das durch die genaue Einhaltung von Regeln ebenso präzise wie tief greifende Wirkungen erzielen sollte (Artaud 1996: 41). Neue, transformative Theaterzeichen sollten wie rituelle Symbole unmittelbar – d.h. energetisch, jenseits alltäglicher Codes, ohne Umweg über Interpretationsprozesse – auf Leib und Seele der Teilnehmer einwirken. Prägende Theatermacher der Neo-Avantgarde griffen Artauds Ideen auf, wenn sie, wie etwa Peter Brook 1968, ein Theater forderten, das sich für die Teilnehmer „gewalttätiger, weniger vernünftig, extremer, weniger verbal und gefährlicher“ gestalten sollte (Brook 1994, bes. 143-207). Bereits ein Jahrzehnt früher hatte Jerzy Grotowski im polnischen Opole ein Laboratorium im Grenzbereich von Ritual und Theater eröffnet: Sein Konzept eines „Armen Theaters“ definierte die Arbeit des Schauspielers als eine Art Opferritual, das allen Beteiligten neue Erfahrungshorizonte eröffnen sollte. Ziel war es, durch Hingabe und Selbstentblößung in der Aufführung wahrhaftige und exzessive Formen eines zwischenmenschlichen Austauschs zu entwickeln (Grotowsky 1999). Ähnliche Zielsetzungen motivierten auch die Bemühungen von amerikanischen Performance-Gruppen wie „Living Theatre“ oder „The Performance Group“, ihr Publikum aktiv in rituelle Szenarien einzubinden, um kreative Partizipation mit Gemeinschaftseffekten zu verbinden.

Liminalität Von dem neuerlichen Aufschwung ritualnaher Theaterprojekte gingen seit den 1970er Jahren wichtige Anstöße für die Theoriede-

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batte aus: Richard Schechner, seit 1967 Professor an der New York University und Mitgründer von „The Performance Group“, führte den Ritualbegriff in die neuere, theoriegeleitete Theaterwissenschaft ein. Ritual und Theater waren aus seiner Sicht Bezeichnungen für zwei gegensätzliche Ausprägungen von performance. Von dieser Grundposition ausgehend gelangte Schechner zu einer später viel kritisierten Differenzierung: Aufführungen, die auf weit reichende Wirkungen angelegt waren, nannte er „Rituale“; dagegen sollten Aufführungen, die vornehmlich Unterhaltungsfunktionen erfüllten, als „Theater“ bezeichnet werden (Schechner 1991, vgl vor allem die dichotomisch angelegte Tabelle auf S. 665). Ethnologische und theaterwissenschaftliche Beiträge zur Ritualforschung haben jedoch gezeigt, dass dieses bipolare Schema nicht haltbar ist. Nicht nur Rituale, sondern auch Theateraufführungen können hoch wirksam sein, indem sie z. B. Erfahrungen ermöglichen, wie sie der Anthropologe Victor Turner seit den 1960er Jahren in Anlehnung an van Genneps Modell der rites de passage als „liminal“ bezeichnet hat: Wer sich in einem liminalen Zustand befindet, fühlt sich vorübergehend von allen regulären sozialen Bindungen, alltäglichen Abläufen und gesellschaftlichen Regeln losgelöst (vgl. bes. Turner 1969). Mit Schechner und Turner trafen sich Theaterpraxis und Ritualtheorie um 1980 in einer vielversprechenden personellen Konstellation: Turner, Sohn einer Schauspielerin des schottischen Nationaltheaters in Glasgow, begann gerade, sich wieder intensiver für Theater zu interessieren. Schechner dagegen hatte sich mit seiner ‚Performance Group’ überworfen und wollte sich stärker auf die theoretische Arbeit verlegen. Der Kontakt zu Turner wirkte befruchtend auf seine Idee einer neuen Fachdisziplin, die an der Schnittstelle von Theaterwissenschaft und Ritualforschung angesiedelt sein sollte: Performance Studies. Es wundert nicht, dass die neue Fachdisziplin die Idee einer transformativen Wirkkraft von Aufführungen in den Kernbestand ihrer theoretischen Prämissen aufnahm. Liminalität war das Zauberwort, das diese Wirkkraft plausibilisieren sollte. Als zusätzliche Volte hat Erika FischerLichte in ihrer „Ästhetik des Performativen“ (2004) vorgeschlagen, ästhetische Erfahrung im Theater grundsätzlich als ein liminales Erleben, d. h. als Schwellenerfahrung im Sinne eines „betwixt and between“ (Turner) zu definieren (Fischer-Lichte 2004, bes. 305314). Das Attribut „ästhetisch“ wäre demnach für Erfahrungen zu

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reservieren, die tatsächlich „zu einer Transformation desjenigen führen“ können, „der die Erfahrung durchlebt“ (Fischer-Lichte 2003, bes. 139). Der Liminalitätsbegriff ist mit Turner, Schechner und Fischer-Lichte zum key term einer transformativen Theaterästhetik avanciert. Arnold von Gennep hatte den Begriff eingeführt, um die mittlere Phase in einem dreigliedrigen Verlaufsmodell von Übergangriten (rites de passage) zu kennzeichnen. Übergangsriten dienen dazu, in Gesellschaften mit voneinander abgegrenzten sozialen Positionen, Gruppen und Lebensphasen einzelnen oder mehreren Individuen den Übergang von einer Position bzw. Gruppe in eine andere oder auch von einer Lebensphase in eine andere zu ermöglichen. Da angesichts der Kontingenz und Dynamik solcher Übergänge dem gesamten sozialen System eine Destabilisierung droht, bedarf es – so van Genneps Theorie – klar strukturierter Rituale, die die potenziell destabilisierenden Passagen regulieren. Allen derartigen Passageriten liegt nach van Gennep dasselbe Strukturschema zugrunde, das sich an Initiationsriten verdeutlichen lässt: Der Initiand wird von seiner angestammten sozialen Position und den mit ihr verbundenen Beziehungen, Regeln und Aufgaben losgelöst (Trennungsphase). Auf diese Weise gerät er in ein Zwischenstadium, das weder Merkmale des vergangenen noch des künftigen Zustands aufweist und teilweise verstörende Erfahrungen ermöglicht (Schwellenphase). Anschließend kehrt er in einen stabilen Zustand zurück und verfügt nun über eine neue soziale Position mit entsprechend veränderten Beziehungen, Regeln und Aufgaben (Wiedereingliederungsphase) (vgl. Gennep 1986). Die Eigenheiten der mittleren, von van Gennep als „liminal“ gekennzeichneten Phase sind paradigmatisch für das, was heute auch in ästhetischen Kontexten unter Liminalität verstanden wird. Solange Liminalität in das Verlaufsmodell eines Übergangsrituals eingebettet ist, liegt der konstruktive, letztlich stabilisierende Charakter des Erfahrungskomplexes auf der Hand. Zwar erkennt auch van Gennep erschreckende und riskante Aspekte des Liminalen: Immerhin geht es um eine Erfahrung des Weder-Noch, in der alte Bindungen aufgelöst, neue jedoch noch nicht geschaffen, sondern erst im Werden begriffen sind. Aber im Modell des Übergangsrituals besteht dann doch Gewissheit, dass auf die liminale Phase der Desorientierung ein „glückliches“ Ende, nämlich die Wiedereingliederung in die Gemeinschaft folgen wird. Allen Ver-

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unsicherungen, die der Initiand durchmachen muss, steht die Perspektive gegenüber, nach Abschluss der rituellen Handlungen einer wieder erstarkten Gemeinschaft anzugehören – meist in höherrangiger Position als zuvor. Ein anderes Bild entsteht, wenn Liminalität aus dem Übergangsritual herausgelöst wird, um sie zum Modell für ästhetische Erfahrung zu machen. Die ritualtypische Sicherheit, dass am Ende der Schwellenerfahrung eine aufgewertete Position in einer restabilisierten Gemeinschaft wartet, ist dann nicht mehr gegeben. Fischer-Lichte betont zum Beispiel, dass Schwellenerfahrungen im Theater keinesfalls in dauerhafte Statusänderungen münden müssen und auch keiner gesellschaftlichen Anerkennung bedürfen. Es kann sich um individuelle Zustände der Verstörung und der Orientierungslosigkeit handeln, bei denen man nicht weiß, wie sie vom Einzelnen am Ende verarbeitet werden. Die Ambivalenz liminaler Erfahrungsmodelle in Theaterdiskursen wird noch deutlicher, wenn man sich, wie es vor allem Schechner getan hat, nicht auf van Genneps Drei-Phasen-Modell, sondern auf die schärfer konturierte Liminalitätstheorie von Turner bezieht. Mit seinen seit den 1960er Jahren erschienenen ritualtheoretischen Studien hat der in Schottland geborene Anthropologe die Renaissance der lange vernachlässigten van Gennep’schen Terminologie erst in Gang gesetzt. Turner fokussierte seine Forschungen auf die liminale Phase von Übergangsritualen und lieferte wichtige neue Einblicke in deren Symbolik und Wirkung. In gesellschaftlicher Hinsicht generieren liminale Zustände seiner Ansicht nach eine Erfahrung von Anti-Struktur. Die Gesellschaftsstruktur wird vorübergehend konterkariert, woraus sich nicht zuletzt politische Perspektiven und subversive Handlungsmöglichkeiten ergeben können. Mit dieser Auffassung von Liminalität gewann Turner bedeutenden Einfluss auf die ethnologische Ritualforschung: Funktionalistische Theorien, die Ritualen einen eindeutigen Zweck zuordnen und sie als kalkulierbare patterns begreifen, verloren an Rückhalt, während sich mehr und mehr die Vorstellung von Ritualen als offenen, transformativen und kontingenten Ereignissen durchsetzte. Darüber hinaus bereitete Turner den Boden für eine breite, die Grenzen der ethnologischen Fachdisziplin überschreitende Rezeption des Liminalitätsbegriffs, indem er betonte, dass liminale Phänomene auch unabhängig von

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Ritualen, etwa im Bereich des Theaters, der Kunst, der Literatur oder der Freizeit angetroffen werden können. Was die einschneidenden Folgen liminaler Zustände für die betroffenen Subjekte anbelangt, lässt Turner keine Missverständnisse aufkommen. Es geht um Risiken, die nur dann eingegangen werden sollten, wenn die Gesellschaft einer Veränderung bedarf. Eine Phase der Anti-Struktur, der Auflösung aller gewohnten Regeln und Bindungen, kann helfen, Blockaden zu lösen und eine verfahrene Lage zu überwinden, aber der Preis dafür ist – neben einer temporären Aufhebung der sozialen Ordnung – die Dissoziation etablierter Strukturen von Subjektivität. Wer in eine liminale Situation gerät, muss damit rechnen, seiner Identität, Rollen und Handlungsroutinen beraubt zu werden. Diesen Ich-Verlust, die Streichung des Selbst im liminalen Zustand, beschreibt Turner in aller Deutlichkeit, indem er über die Teilnehmer von Initiationsritualen konstatiert: „Ich habe bereits einige Indikatoren ihres Schwellendaseins bzw. ihrer Liminalität (sie haben keine Kleidung und keinen Namen) erwähnt, andere sind das Essen bzw. Nichtessen bestimmter Speisen, die Nachlässigkeit bezüglich der persönlichen Erscheinung, das Tragen uniformer Kleidung, manchmal ohne Berücksichtigung des Geschlechts. Auf der Höhe des Übergangs treibt man die Initianden so weit wie möglich in Richtung auf Uniformität, strukturelle Unsichtbarkeit und Anonymität“ (Turner 2009: 38f.).

Diese Krise ist für Turner aber nur eine Seite liminaler Erfahrungen. Auf der anderen Seite stellt er positive Qualitäten in Rechnung, insbesondere im Rekurs auf Mihály Csíkszentmihályis Studien zu kreativen Prozessen. Flow meint bei Csíkszentmihályi die Erfahrung eines Verschmelzens von Handeln und Bewusstsein, d.h. eine meditative Versunkenheit, die nicht in tradierten Kategorien von Subjektivität zu fassen ist. Gleichwohl muss die flowErfahrung nicht mit dem Verlust von agency einhergehen. Das veränderte Subjekt kann im Zustand des flow die Macht über das eigene Handeln behalten: „,Fluß bezeichnet die ganzheitliche Sinneswahrnehmung, die wir haben, wenn wir mit totalem Engagement handeln‘ und ‚ist ein Zustand, in dem nach einer inneren Logik, die kein bewußtes Eingreifen unsererseits erforderlich macht, Handlung auf Handlung folgt [...] Wir erleben

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diesen Zustand als ein einheitliches Fließen von einem Augenblick zum nächsten. In diesem Zustand fühlen wir, daß wir unsere Handlungen absolut unter Kontrolle haben und es keine Trennung zwischen Selbst und Umwelt, Reiz und Reaktion, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gibt‘“ (Csíkszentmihályi zit. n. Turner 2009: 88).

Der auf Gemeinsamkeiten abzielende Vergleich von Theater und Ritual bedeutet eine starke wirkungsästhetische Setzung, weil er die Möglichkeit von Rauscherfahrungen und Grenzüberschreitungen insinuiert. Die genauere Betrachtung einschlägiger Diskurse hat aber gezeigt, dass diese Erfahrungskomplexe unterschiedlich konzipiert werden. Zwar wird fast immer eine Krise des Subjekts einkalkuliert (ohne die die befreiende Wirkung von Transgression offenbar nicht zu haben ist), aber nicht zwangsläufig muss diese Krise in völligen Ichverlust münden. Vielmehr soll Liminalität die Chance eröffnen, Rauschzustände kontrollierbar zu halten. Die Idee des kontrollierten Rauschs ist auch für eine Theaterpraxis, die sich in der Tradition der Avantgarde um lebensverändernde, transformative Wirkungen bemühte, handlungsleitend gewesen. Mit Hermann Nitschs „Orgien Mysterien Theater“ soll im Folgenden ein viel beachtetes Beispiel aus dieser Tradition auf Erfahrungsformen des Rausches näher untersucht werden.

Orgien Mysterien Theater Die wesentlichen Merkmale des „Orgien Mysterien Theater“ lassen sich in einer knappen Skizze zusammenfassen, und damit ergibt sich ein bis heute treffendes Bild, weil Nitsch seit über vierzig Jahren dieselben Grundformen variiert. Erste konzeptionelle Entwürfe datiert er selbst zurück auf das Jahr 1958 (Nitsch 2005: 13), die Aufsehen erregendsten Aufführungen folgten in den 60erund 70er Jahren, doch auch noch in den 80er- und 90er Jahren – mit dem Höhepunkt des „Sechs-Tage-Spiels“ 1998 – und bis in die Gegenwart inszenierte der inzwischen etablierte Künstler nach denselben Mustern mehrtägige Aufführungszyklen. Als Nitsch bei einer Vorlesung an der Wiener Universität im Jahr 2003 von einem Hörer kritisch auf dieses Wiederholungsprinzip angesprochen wurde, verteidigte er sich mit einer rhetorischen Frage: „leidet der eindruck der matthäuspassion dadurch, dass sie wieder-

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holt wird und dass man sie zehnmal hört?“ (ebd.: 45) Hier wie bei anderen Gelegenheiten berief sich Nitsch auf die rituelle Wirksamkeit seiner Performances, die durch häufige Repetition nur an Intensität und Verbindlichkeit gewinnen könne. Ritualähnlichkeit ist in der Tat das auffälligste Kennzeichen des „Orgien Mysterien Theaters“: Im Kern handelt es sich um festliche Aktionen in größerer Gemeinschaft, die aus rituellen und symbolischen Versatzstücken des Christentums, des antiken Dionysoskults und verschiedener paganer Riten komponiert sind. Das festliche Geschehen ist mit ritueller Musik unterlegt und zentriert um den Gedanken des Opfers und des spirituell überhöhten Leidens. Entsprechende Martyriumsszenen können als religiöse Akte, jedoch auch als Tabubruch im Sinne von Blasphemie oder Sadomasochismus gedeutet werden. Intendiert ist ein kollektiver Exzess, der über genau geregelte und in einer Partitur festgelegte theatrale Handlungen erreicht werden soll. Im Mittelpunkt stehen häufig Kreuzigungsszenen: Weißgekleidete oder nackte Akteure werden an Holzkreuze gebunden, aufgerichtet und von anderen Akteuren mit blutähnlichen Flüssigkeiten, Fleischstücken oder Eingeweiden übergossen. Ein weiteres Grundelement ist der Umgang mit Tierkadavern (Lämmer, Schweine, Ziegen, Rinder), die von Akteursgruppen aufgeschlitzt, ausgeweidet, zertrampelt und in unterschiedlicher Weise bewegt werden. Aufgebahrte Kadaver werden in Prozessionen über das Gelände getragen, liegende Kadaver werden umtanzt, umarmt, mit Füßen und Händen durchwühlt. Oft kommt es zu engem Körperkontakt zwischen unbekleideten Akteuren und geöffneten Tierkadavern. Ein drittes Element sind ausgelassene Tänze und Gelage; dazu gehört der gemeinsame Verzehr von Fleisch und Wein in großen Tischgemeinschaften, aber auch Tauziehen, Reigenformationen sowie rhythmisches Zerstampfen von Weintrauben in großen Holzbottichen. Nitsch selbst agiert als deutlich aus der Menge hervorgehobener Zeremonienmeister und wacht über die Einhaltung seiner Partituren (die wichtigsten älteren Partituren sind abgedruckt in Nitsch 1969). Die zahlenden Zuschauer können sich frei über das Gelände bewegen, auf dem gelegentlich mehrere Aktionen zur gleichen Zeit stattfinden, wobei aber meist ein die Blicke fokussierendes Zentrum ausgemacht werden kann. Die von Nitsch vorab instruierten und verkleideten Akteure sind unbezahlte Hospitanten,

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viele von ihnen langjährige Fans oder interessierte Studierende kunstbezogener Fächer. In zahlreichen Vorträgen und Publikationen hat Nitsch den kathartischen Charakter seines Theaters unterstrichen. Zur Präzisierung dieses Anspruchs bedient er sich triebtheoretischer Wendungen, die teils psychoanalytisch, teils an Nietzsche und Schopenhauer orientiert sind. Zentrale Kategorie ist, in frappierender Kontinuität von 1963 bis heute, die „Abreaktion“. Schon im ersten Manifest zum „Orgien Mysterien Theater“, „Das O.M.theater“ aus dem Jahr 1962, wird postuliert: „Das unternehmen des o. m. theaters befreit und erlöst uns von stauungen, welche durch die kunst systematisch, fast unter wissenschaftlicher kontrolle, abreagiert werden. das bisher zeitweilig notwendige hinabtauchen in die unkontrollierbare sphäre der triebe wird jetzt geregelt vollzogen, im sinne einer reinigung der psyche durch anschauung und sichtbarmachung belastender triebpotenzen“ (Nitsch 1969: 43f.).

Und noch 2003 bekennt Nitsch in seiner Wiener Vorlesungsreihe: „ich habe mir als junger mensch – viel früher als 1963 – beeinflusst durch nietzsche und freud eine abreaktionstheorie zurechtgelegt, wo es darum ging, dass ein halbbewusst, halb unbewusster wunsch nach triebdurchbruch vorhanden ist. da ist das normale leben der zivilisation, das uns einengt, das uns zwingt zu verdrängen, und andererseits gibt es die möglichkeiten diese zensuren etwas zu lockern, und diese möglichkeiten hat das theater. ich habe damals von abreaktion gesprochen und bin noch heute bereit es zu tun. ich sehe vieles vielleicht anders, aber ich muss grundsätzlich nicht diese sicht umwerfen. ich würde sagen, das theater ist sehr geprägt vom willen nach abreaktion“ (Nitsch 2005: 14).

Im gestörten Verhältnis des modernen Menschen zum eigenen Triebhaushalt erblickt Nitsch eine fundamentale Zivilisationskrise. Das Theater könne Abhilfe schaffen, indem es ein kontrolliertes Abreagieren aufgestauter Triebenergien im kollektiven Exzess ermögliche. Ob sich das „Orgien Mysterien Theater“ zu exzessiven Abreaktionen tatsächlich eignet, darf allerdings bezweifelt werden. Die Videoaufzeichnungen, die von etlichen NitschPerformances vorliegen, etwa von der dreitägigen „80. Aktion“ im

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Schlosshof von Prinzendorf im Juli 1984 1,geben zu erkennen, wie viel Unsicherheit, Desorientierung und Ratlosigkeit mit der Umsetzung von Nitschs Partituren verbunden war. Immer wieder sieht man Einzelpersonen oder ganze Gruppen von Akteuren, die Hilfe suchend am Rande des Geschehens stehen oder fragend zu anderen Teilnehmern schauen, weil sie nicht wissen, was als nächstes zu tun ist oder wie bestimmte Aktionen korrekt auszuführen sind. Die scheinbar banalen Missverständnisse verweisen auf ein Kernproblem des „Orgien Mysterien Theaters“: Das Konzept setzt auf rituelle Symbole und Handlungsformen, die den meisten Teilnehmern nicht mehr vertraut sein dürften. Wer aber während der Aktion angestrengt über den nächsten Handlungsschritt nachdenken muss und unsicher ist, ob er sich richtig verhält, wird seinen Triebenergien kaum freien Lauf lassen können. Hinzu kommt die deutlich markierte künstlerische Rahmung: Während dem „Orgien Mysterien Theater“ eine in sich geschlossene Handlung, eine dialogische Struktur und weitere Merkmale dramatischen Theaters fehlen, finden sich in ihm viele Details, die an Nitschs Herkunft aus der bildenden Kunst erinnern: Statisten agieren oft vor aufgespannten weißen Leinwänden, so dass sie wie ein lebendiges Relief aus dem Bildhintergrund zu entspringen scheinen. Das Arrangement der einzelnen Szenen erinnert an das Dispositiv einer Ausstellungshalle. Der Meister selbst schüttet im Stil eines action painters Farbe auf Papierbahnen, wobei kräftige und zugleich dynamisch bewegte Farbflächen entstehen. Die Überreste, die von einer solchen Aufführung zurückbleiben – bespritzte Leinwände, verschmierte Papierbahnen, Holzkreuze, Pritschen, Fässer, Opferblöcke und Altartische – könnten direkt in ein Museum für Sakralkunst transferiert werden. Dass Nitsch dennoch den Theaterbegriff für seine Aktionen bemüht, kann mit deren mimetischer Struktur erklärt werden. Zwar wirken die Aktionen beim ersten Hinsehen wie ein Opferritual, ein Schlachtfest oder eine Fressorgie, aber alle dazugehörigen Handlungen werden im Grunde nur vorgespielt. Statt echten Bluts wird rote Farbe verwendet, und die zu schlachtenden Tiere sind schon vorher tot. Tatsächlich geraten die Zuschauer in eine widersprüchliche Konstellation. Einerseits werden sie Zeugen orgiastischer Exzesse, 1

Vgl. Hermann Nitsch: Das Orgien Mysterien Theater. 80. Aktion Prinzendorf/Zaya, 1.-3. Tag. VHS-Video, ©Kasperak/Nitsch.

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anderseits lädt keine dieser überschreitenden Handlungen ernsthaft zum Mitmachen ein. Einerseits dürfen sie sich frei über den Festplatz bewegen, andererseits treffen sie überall auf festgelegte Choreografien, die ihnen eine aktive Teilnahme unangebracht erscheinen lassen. Einerseits bieten ihnen die Akteure ein ausgelassenes Treiben, andererseits besteht kein Zweifel daran, dass sich jeder an eine akribisch ausgearbeitete Partitur gebunden fühlt. Nitsch selbst läuft mit kritischem Blick durch die Menge, jederzeit bereit, korrigierend einzugreifen. An allen Ecken und Enden, so könnte man sagen, schaut die Inszenierung durch. Die für das „Orgien Mysterien Theater“ beschriebene Wahrnehmungssituation macht es dennoch nicht unmöglich, von einer Schwellenerfahrung zu sprechen. Wenn man den Begriff von seinen ritualistischen Konnotationen trennt, trifft er die Position, die dem Publikum vom „Orgien Mysterien Theater“ zugewiesen wird, im Grunde recht präzise: Der Zuschauer befindet sich tatsächlich auf der Schwelle zwischen gegensätzlichen Eindrücken, Haltungen und Handlungsmöglichkeiten. Er wähnt sich auf einem Fest, wird aber zugleich mit verstörenden Bildern konfrontiert. Er kann immersiv im Gebotenen schwelgen, aber genauso auch eine distanzierte Haltung einnehmen, um sich vor den gröbsten visuellen Zumutungen zu schützen. Ein Fluchtimpuls erscheint ebenso naheliegend wie das Bestreben, aktiver am Geschehen teilzunehmen. In diesem Spannungsfeld gegensätzlicher Optionen besteht die liminale Erfahrung nicht im verheißungsvollen Überschreiten einer Grenze, sondern eher in einem Stocken und Festsitzen auf der Schwelle, wo es weder in die eine, noch in die andere Richtung weitergeht. Grenzerfahrung wird zur Beschreibung für einen Stillstand, einen Zustand des Schwankens zwischen Möglichkeiten, die sich jeweils nicht gegen eine andere, gegensätzliche durchzusetzen vermögen. Zu diesem Schwanken gehört eine Gemütslage, die Joseph Vogl in einem Essay aus dem Jahr 2007 mit dem eigenwillig veraltet klingenden Verb „Zaudern“ bezeichnet hat. Wer sich auf der Schwelle wiederfindet, also nicht einfach eine Grenze überschreitet, sondern die Grenze selbst erfährt, gerät ins Zaudern. Was man in solchen Momenten erlebt, ist kein Durchbruch und keine Offenbarung, sondern ein Zögern, ein Verhaftetsein an einem Punkt, der sich weder in der einen noch in der anderen Richtung einfach verlassen lässt. Joseph Vogl hat diese diffuse Sphäre aufscheinen-

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der Optionen und Möglichkeiten, die wir allesamt nicht wirklich ergreifen können, so dass Erfahrungsfülle und Entscheidungsunfähigkeit ineinander verschränkt sind, bereits auf ihre ästhetischen Implikationen untersucht: „Der pragmatische Aspekt des Zauderns liegt also in einer Deaktivierung, seine ästhetische Dimension in der Zäsur und sein Sinn in einer interrogativen Kraft; und es markiert damit eine prekäre Spanne im Anbruch der Tat, eine Zwischenzeit, die andauert, bis die Tat ereignishaft wird und als Ereignis auf die Bühne, in das System der raumzeitlichen Koordinaten hinausgestoßen wird. Es hält das Geschehen bis zu einem Augenblick zurück, an dem dieser Übergang geschieht. Das Zaudern lässt sich damit als Ereignisrückstand im Ereignis verstehen, als latenter, insistierender Vorbehalt in dem, was getan und erlitten wird, was sich manifestiert und tatsächlich passiert“ (Vogl 2007: 39).

Löst man die Idee der ästhetischen Erfahrung als Schwellenerfahrung aus ihrem ritualtheoretischen Hintergrund, so kann sie sich auch auf die von Vogl benannten Momente des Innehaltens und der Unterbrechung beziehen. Rausch ist allerdings etwas anderes.

Rausch Derjenige Philosoph der Moderne, der die Idee des Rausches in aller Entschiedenheit in die Ästhetik und auch in den Theater- (und Tragödien-)diskurs eingeführt hat, ist zweifelsohne Friedrich Nietzsche. Nimmt man Schriften aus verschiedenen Lebensphasen zusammen, dann ergibt sich ein vielschichtiges Bild des Rausches, das mindestens drei durchaus gegensätzliche Bestimmungen enthält. 1. Das Schöne wird nach Nietzsche aus dem Rausch erschaffen und ist zugleich in der Lage, seinen Betrachter in einen Rausch zu versetzen. Hieraus ergibt sich ein enger Zusammenhang zwischen Rausch und Schaffenskraft: „Das Wesentliche am Rausch ist das Gefühl der Kraftsteigerung und Fülle“ (Nietzsche 1988: 116). Nietzsche handelt von einer Dimension des Rausches, die in gegenwärtigen, von Assoziationen der Sucht und der Selbstzerstörung geprägten Debatten nahezu in Vergessenheit geraten ist. Mit Rausch wird (auch) eine Erfahrungsdimension bezeichnet, die die Kräfte des Lebens zu Tun und Ausdruck zu steigern vermag (s. hierzu Menke 2013, bes. 49f.). Diese Art von Rausch zu erreichen,

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die dem Enthusiasmus und der Begeisterung ähnelt, ist bis heute Wunschtraum und Ideal vieler Kunst- und Theaterprojekte. Es geht dabei um einen Begriff von Tätigsein, der den entfremdeten und erschöpfenden Produktionsstrukturen des so genannten Neuen Kapitalismus entgegensteht. Zwar lässt sich ein Rausch nicht kontrollieren, aber er ist auch kein pathischer Zustand reinen Erleidens, sondern versetzt die Teilnehmer in intensive Aktivität. Zu Nietzsches Überzeugungen gehörte es, dass diese spezifische Aktivität, auch wenn sie nicht auf ein Werk oder ein fest umrissenes Ergebnis hinausläuft, alles andere als unproduktiv ist. Daraus ergibt sich ein Hinweis für alle Versuche, rauschhafte Momente in Kunst und Theater aufzufinden: Man muss, etwa im Theater, nicht unbedingt auf Szenen offener Ekstase oder auf exaltierte Publikumsreaktionen warten. Der Rausch kann genauso in einem enthusiastischen, bewusst vollzogenen Handeln erkannt werden, das – ganz gleich ob auf der Akteurs- oder der Publikumsseite – von Lebenskraft und Gestaltungswillen zeugt. 2. Die andere Seite des Rausches wird den gestaltenden Akteuren und ihren Zuschauern hingegen gefährlich. Denn Nietzsche erkennt im Rausch auch eine Befreiung von der Individuation, die man positiv als Öffnung des Einzelnen auf eine – wie auch immer geartete – Gemeinschaft, negativ aber auch als Entsubjektivierung und als Selbstverlust beschreiben kann. Wie die wilden Wesen (Satyrn, Waldmenschen) im Gefolge des Dionysos geraten die Teilnehmer eines Rausches unter dem Einfluss von Bewegung, Tanz, Gewalt und Musik buchstäblich außer sich, sie ignorieren die Verletzlichkeit ihrer Körper und stürzen sich in destruktive Verausgabung. Im selben Maße, in dem der logos an Kraft verliert, werden die Körper rhythmisiert und dynamisiert. Der Infizierte verfällt in eine ekstatische Seinsweise, die expansiv um sich greift, denn immer mehr Menschen werden von der rauschhaften Bewegung erfasst. Sie alle machen die Erfahrung, „wirklich etwas Anderes“ zu werden (Nietzsche 1973: 75): Transformation als objektives Geschehen wie auch als subjektive Gewissheit bildet das Herzstück dionysischer Wirksamkeit. So ist der Rauschzustand nach Nietzsche als ein gegenüber dem Alltag verändertes und veränderndes Sich-Spüren zu charakterisieren, in dem exzessive Emotionalität, Sprachabgewandtheit und gesteigerte Körperlichkeit konvergieren. Nach einer solchen Erfahrung fällt die Rückkehr in den Alltag schwer; sie kann sogar in Depression und Le-

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bensekel münden. Politisch wie ethisch ist der dionysische Zustand ambivalent: In der berauschten Menge ist der Einzelne nicht mehr allein, aber jederzeit dafür anfällig, dem Charisma eines rituellen Anführers zu unterliegen. Den Tanzenden gelingt ein gemeinsamer Rhythmus, aber diese Gemeinsamkeit kann sich auch aggressiv nach außen gegen das vermeintlich Andere wenden. Selbstvergessenheit ist für Nietzsche einerseits eine Entlastung, doch geht sie andererseits mit der Suspendierung ethischer Reflexion einher. Wo keine Sprache mehr ist, können auch keine Einwände oder Grenzen mehr formuliert werden. 3. Der dionysische Rausch darf mit Nietzsches Kunstideal nicht verwechselt werden. Eine allein rauschhafte Kunst entspricht jedenfalls nicht den Postulaten seiner Tragödienschrift – wahrscheinlich hält er sie sogar für unmöglich. Dem Dionysischen wird mit dem Apollinischen das Ideal der Sprache, der Form und der Gestaltung gegenübergestellt. Die Tragödie als höchste denkbare Kunstform zeichnet sich für Nietzsche dadurch aus, dass sie beide Lebens- und Kunstprinzipien, das Dionysische und das Apollinische, in ein ideales Gleichgewicht bringt. Kunst hat das Potenzial, nicht nur einen Rausch herbeizuführen, sondern zugleich das Gegenmittel gegen die dunklen Seiten dieses Rausches bereitzustellen. In der Tragödie sieht Nietzsche dieses Potenzial verwirklicht. Sie wird ihm zum Modell für eine Kunst, die einerseits den dionysischen Zustand mit all seinen Vereinigungschancen herbeiführt, andererseits aber dessen gefährliche Auswüchse zu bändigen weiß. Möglich wird dieser erträglich dosierte Rausch durch eine perfekte Verbindung von dionysischen und apollinischen Momenten. In der „orgiastischen“ Ko-Präsenz von Akteuren und Zuschauern ist die Aufhebung aller Trennungen erreichbar – dieser dionysische Zustand bleibt aber flankiert vom apollinischen Prinzip der Individuation, der Gestaltung und der Schönheit. Die gefährlichen Seiten des Rausches werden dadurch in Schach gehalten, dass der Exzess im „tragischen Mythus“ eine Richtung und im „tragischen Helden“ einen Fokus erhält. Beide Elemente, Mythos und Protagonist, verweisen auf die mimetische Dimension des Tragödientheaters: Das diesem Theater inhärente Moment der mimetischen Darstellung, der Repräsentation und mithin der Evokation einer anderen Welt, verhindert ein grenzenloses, schädliches Sich-Verlieren und Sich-Vergessen im Hier und Jetzt. Im ständigen Verwiesen-Sein auf die andere, höhere Welt

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des Mythos bleibt allen Teilnehmern ein Rest von Distanz zum emotionalen Geschehen erhalten, und auch die dionysische Einsicht in die Absurdität des Daseins wird umgewandelt in „ein erhabenes Gleichniss“, mit dem es sich gerade noch leben lässt (Nietzsche 1993: 129f.).

Rausch im Theater? Der Gegensatz zwischen Dionysischem und Apollinischem ist in vielen Theateraufführungen zu greifen, insofern alle Versuche, überbordende Gefühle, exzessive Handlungen und ausgelassene Stimmung zu erzeugen, im Theater auf ein distanzierendes Dispositiv treffen. Nicht von ungefähr ist das altgriechische Wort für Theater dem Begriff theoria verwandt. Einige Strukturmerkmale eines Theaters, das auf griechische Traditionen zurückgeht, legen dem Publikum einen mehr reflexiven als ekstatischen Zugang zur Aufführung nahe. Die Aufführung wird in der Regel als eine Interaktion zwischen Akteuren und Zuschauern beschrieben. Auf das Zwischen kommt es an: Es bedeutet eine Austauschbeziehung, aber zugleich eine Barriere, denn zwischen Akteuren und Zuschauern bleibt eine unaufhebbare Differenz. Zwar zeigt das Gegenwartstheater, wie aus Zuschauern Akteure werden können, Positionen werden also getauscht, aber es bleibt am Ende doch eine Grenze, denn wo die minimale Distanz fehlt, die es zum Zuschauen braucht, kann es letztlich kein Theater geben. Zur europäischen Theatertradition gehören verschiedene Techniken der Rahmung (Anfang und Ende, außen und innen) sowie Foren des Gesprächs und der Reflexion. Alle diese „Äußerlichkeiten“ des Theaters sind auf der Seite des Apollinischen zu verbuchen, so dass Versuche des Rauschs auf starke Gegenkräfte treffen. Selbst das „Orgien Mysterien Theater“, das gerne als Inbegriff dionysischen Theaters in der Gegenwart gesehen wird, entpuppt sich bei genauerer Betrachtung als apollinisch durchformtes Projekt. Als bildender Künstler ist Nitsch ein Meister der Rahmung: Seine Aktionen, dereinst aus Gemälden im Stil des abstrakten Expressionismus entstanden, hinterlassen Spuren (bemalte Leinwände, befleckte Kostüme, überkommene Kultgegenstände), die sich mühelos musealisieren lassen. Sie haben mit exzessiver Spontaneität nichts zu tun, sondern folgen einer Partitur, um deren Einhaltung sich Nitsch mit akribischer Sorgfalt bemüht. Unter

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diesen Umständen fragt es sich, wer unter den an der Aktion Beteiligten überhaupt so etwas wie eine rauschhafte Erfahrung machen kann. Nitsch selbst wirkt in der Rolle des Zeremonienmeisters professionell und umsichtig, aber keinesfalls emotional involviert. Die instruierten Akteure scheinen sich voll auf die verabredeten Abläufe zu konzentrieren, um die Partitur einzuhalten und nichts Wesentliches falsch zu machen. Und die zahlenden Zuschauer müssen in der Simultaneität verschiedener Aktionen so viele Entscheidungen treffen – Wo sollen sie als nächstes hingehen? Wann wird wo wieder etwas Interessantes geschehen? – dass sie kaum in überbordenden Gefühlen schwelgen können. So zeigt sich, dass das „Orgien Mysterien Theater“ kaum als Beispiel für Rausch im Theater fungieren kann, sondern vielmehr eine andere Regel bekräftigt: Theater als eine Form der gespaltenen Versammlung eignet sich sehr gut, um über Feste, Rituale und Rauschzustände nachzudenken. Im Verhältnis zum Rausch bewährt sich Theater vor allem als ein Reflexionsinstrument. Der Rausch begegnet im Theater zumeist als dargestellter Rausch, als Rauschdarstellung, zu der sich die Zuschauer in ein beobachtendes Verhältnis setzen können. Wenn im Theater Rauscherfahrungen möglich werden, dann am ehesten in einem sehr spezifischen Sinn: Als eine Erfahrung des Schönen, die zugleich Möglichkeiten des Erschaffens und der Reflexion eröffnet.

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Peter Ackermann

Der Rausch der Sprache Überlegungen zum Erwerb des Japanischen

Wie können Überlegungen zum Rausch einen Beitrag zum Erlernen, sowie – heute selbstverständlich – auch zur Partizipation an den kommunikativen Normen einer Sprache leisten, die, bedenkt man die schiere geographische Distanz, uns fast natürlicherweise sehr fern steht? Das Thema Rausch und Sprache ist in zweierlei Hinsicht bedeutsam. Zum einen allgemein: Moderne Sprachfächer dürfen die Frage nach dem Können nicht länger ausklammern; nur Können vermag nachhaltig Vertrauen und Berechenbarkeit herzustellen, die „Möglichkeiten des Anderen“ offen zu halten, und somit den Zugang zu gemeinsam erarbeitetem, neuen Wissen zu eröffnen. Damit sind wir mit der Aufgabe konfrontiert, Wissen und Können auszubalancieren, beidem gleichermassen unsere Aufmerksamkeit zu schenken. Die Frage nach dem Können lenkt nun aber unsere Aufmerksamkeit auf das Motorische, und damit auf den Rausch, das heisst auf die nicht von bewussten Denkschritten gesteuerte, aber auch nicht beliebig-unstrukturierte Produktion von Signalen, deren Schicksal es ist, dass andere sie deuten. Relevant ist die Themenverbindung Rausch und Sprache auch spezifisch, mit Blick auf das Japanische. Hier befinden wir uns nämlich in einem kulturellen Feld, in dem wichtige Schritte der Lebensbewältigung – einschließlich Sprechen und Kommunizieren – bewusst als Abläufe gestaltet und gelehrt werden, die als rauschartig bezeichnet werden können. Das zu solchen Abläufen führende regelhafte Abspielen von komplexen Handlungsmustern, die im Rahmen oft aufwendiger Lernprozesse in den Körper „eingraviert“ werden, garantiert anerkanntes soziales Normverhalten. Rauschhaft sind diese Handlungsmuster vor allem auch insofern, als deren Regeln kaum auf diskutierbaren Selektionsprozessen innerhalb verbotsumzäunter Freiräume beruhen, sondern vielmehr auf der absoluten Korrektheit hochkomplexer Abläufe selber.

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Das Problem: Wissen und Können Es gibt viele Perspektiven auf die Bildungsprozesse, durch die sich der menschliche Körper hochkomplexe Abläufe aneignet, so dass diese schließlich in einem rauschhaften Zustand ablaufen und – wie beim Fahrradfahren oder Klavierspielen – in ihrer Gesamtheit etwas anderes sind als die bloße Addition isolierbarer Elemente. Mir scheint es sinnvoll, wenn diese Abläufe Teil zwischenmenschlichen Austauschs sind, deren Können als Kompetenz zu bezeichnen. Entscheidend dabei ist die internalisierte Fähigkeit, sprachlich und/oder außersprachlich 1 einen Ablauf produzieren zu können, der in seiner Ganzheitlichkeit strukturell einem erwarteten bzw. interpretierbaren Muster entspricht und affektiv akzeptiert wird. Umgekehrt ist Kompetenz auch die Fähigkeit, einen ganzheitlichen Fluss von Abläufen, die ein anderer produziert, affektiv zu erfassen und kognitiv in der eigenen Gedankenwelt zu verorten. Zur Produktions- bzw. Rezeptionsfähigkeit ganzheitlicher Aussageflüsse gibt es sowohl in Europa wie in Japan sehr unterschiedliche Diskurse. Eine systematische Darstellung würde den Rahmen dieses Aufsatzes sprengen, umso mehr als Anregungen zu diesem Topos von unterschiedlichster Seite und aus ganz verschiedenen Disziplinen heraus – manchmal als Zufallsfunde – gewonnen werden können. Hier seien deshalb nur einige wenige genannt, die sich unmittelbar auf die im Folgenden präsentierten Überlegungen ausgewirkt haben. In Bezug auf den Spracherwerb ist etwa der Ansatz von Michael Byram zu nennen. Byram, für seine federführende Rolle im Projekt „Autobiography of Intercultural Encounters“ (Byram et al. 2009) bekannt, bettet den Lernprozess von kommunikativer Kompetenz explizit in eine Bandbreite von Parametern ein, allen voran attitudes (innere Einstellungen), skills (Fähigkeiten) und knowledge (Wissen); entscheidend ist dabei, dass diese Parameter in Echtzeit zum Tragen kommen müssen. Beim Ansatz von Byram wird somit der Baustein „Wissen“ auf sehr ausdrückliche Weise zu einem

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Die verbalen und die nonverbalen Ebenen sind zwei gängige Differenzierungen; nicht übersehen werden sollte aber auch die paralinguale Ebene, d.h. all das, was wir stimmlich produzieren, das aber nicht Sprache selbst ist.

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bloßen Einzelbestandteil von „Kompetenz“ (vgl. Byram 2008; Byram 1997). Aus einem anderen Diskurszusammenhang liefert uns Eugene Gendlin wertvolle Einsichten (vgl. Gendlin 1992; Deloch 2010). Gendlins Grundidee kann in folgender Aussage subsumiert werden: „Language is implicit in the body. When you have a point to make, words come. [...] We open our mouths and expect. [...] If they don’t come, there is not much we can do except try again“ (Gendlin 1992: 194). Damit verortet Gendlin Sprache, wenn nicht direkt im Rausch, so doch, ähnlich wie Schlafen, Appetit oder Tränen, in einer Automatik des „Kommens“, die nur bedingt vom Willen gestaltet oder eingefangen werden kann. Wiederum einen anderen Ansatz verfolgt Jörg Zirfas (2004), wenn das Rauschhafte von Strukturen des Handelns und Sprechens im Alltag unter dem Begriff des Rituals betrachtet wird. Zirfas argumentiert in diesem Zusammenhang, dass „der Alltag ein unbewusstes System von Wiederholungen“ ist und den Menschen zwingt, „seine selbstvergessenen Regeln zu befolgen“ (ebd.: 4). Ein Blick nach Japan selber zeigt, dass Rauschhaftes häufig im Zusammenhang mit der Diskussion um Körperlichkeit von Sprache thematisiert wird. An erster Stelle stehen dabei nicht so sehr Forschungsansätze, als vielmehr die immense Fülle von äußerst detailgenauen Materialien, die Trainings- und Gestaltungsregeln für Sprech- und Handlungsflüsse ausbuchstabieren. In der Regel werden diese Materialien als Instruktionen für reigi, sahô, oder auch manâ („Manieren“) bezeichnet; gemäß des großen japanischen Wörterbuchs Daijirin (1988) bedeutet reigi: „Die Verhaltensnormen, die man als menschliches Wesen befolgen muss, um die Ordnung der Gesellschaft zu wahren und (so) den Austausch mit anderen auf vollendete Weise (zu gestalten)“, und sahô „Die Art und Weise des leiblichen Verhaltens (wörtl. des Aufstehens, Daseins und Sich-herumbewegens), die den Anforderungen eines notwendigen sittlichen Standards genügen, um ,glatt‘ verlaufende zwischenmenschliche Beziehungen und die (Regeln der) Ordnung zu bewahren“. In Begriffen wie reigi, sahô oder manâ (in seiner japanischen Nuance) wird deutlich, in wie grundsätzlicher Weise Kommunikation primär als körperlich verstanden wird, wobei die Sprache als Teilaspekt gesamtkörperlichen Handelns erscheint. Die Vorstellung von der Körperlichkeit der Sprache (kotoba no shintaisei) bildet in Japan aber auch den Kern von zahlreichen ak-

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tuellen Diskursfeldern in der Forschung, von denen hier zwei genannt werden sollen. Zum einen handelt es sich um die Diskurse zur Integration, besonders von Kindern, die von normabweichenden Sozialisationsmustern geprägt sind, wie etwa die Rückkehrerkinder (kikoku shijo), oder Kinder, bei denen Sprache und Emotionalität nicht gekoppelt sind, weil zum Beispiel ein Elternteil nicht die Sprache des sozialen Umfelds spricht oder den emotionalen Gehalt dieser Sprache nicht kennt (vgl. Shimizu/Kojima 2006; Shimizu 2006). Zum andern diskutiert etwa Yokota (2010: 45) die angebliche rauschhafte Bindung des japanischen Sprechers an bestimmte Emotionen wie die Angst vor meiwaku (anderen zur Last zu fallen), oder die schmerzhafte Erfahrung, dass Sprache in ihrer an den Körper gebundenen Gesamtheit nicht direkt zu einer kommunikativen Kompetenz in positivem Sinne, sondern eher zu einer Kompetenz im trial and error im Umgang mit fremdsprachlichen Kontexten, und damit unweigerlich zu Verletzungen führt. Selber habe ich die Körperlichkeit der japanischen Sprache aus dem Blickwinkel eines spezifischen Körperverständnisses beleuchtet, welches zum einen eine sehr präzise, intensive und bewusste Körperwahrnehmung und -betrachtung bewirkt, zum andern das Meistern einer ungeheuren Vielfalt von genau und rauschhaft durchzuführenden Bewegungen (einschließlich Sprache) gerade nicht problematisiert, d.h. keinen Gesichtspunkten von „Rationalität“ (d.h. hier Berechnungen zum Verhältnis von Aufwand und Ertrag) unterwirft. So zeigt etwa ein Vergleich von Verhaltensanweisungsbüchern und deutschen Begriffen wie Freundlichkeit, Höflichkeit oder Rücksicht, unter denen keine präzis strukturierten Bewegungsabläufe verstanden werden müssen, dass diesen im Japanischen klare Anweisungen wie „Blicke hierhin! verbeuge dich im Winkel von 15 Grad! strecke die Finger in dieser Weise! Falte das Papier genau so! Nicke! Knie nieder!“u.ä. gegenüberstehen. Die zeitliche und formale Dichte und Komplexität der geforderten Bewegungen lässt gar nicht zu, dass diese „wissend“ und „denkend“ ausgeführt werden; sie sind nur „könnend“ und damit rauschhaft zu erbringen (vgl. Ackermann 2005, 2010b). Japanische Kommunikationsformen stellen (darauf komme ich unten zurück) an den Lernenden spezifische Anforderungen, indem sie Rauschhaftigkeit in besonders hohem Maße erzwingen. Dabei ist sprachliches und kommunikatives Können – mithin

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Kompetenz – schon deshalb mit einem Rauschzustand verbunden, weil Bewegungen schnell und eingeschliffen ablaufen müssen. Ältere Diskussionen zur Körperlichkeit des Japanischen griffen dabei oft viel zu kurz, weil sie sich nicht am prozessualen Aspekt des Rauschhaft-Motorischen orientierten, sondern sich bloß an isoliert für sich bedeutungstragenden Zeichen (Ikonen) – etwa dem erhobenen Zeigefinger „westlicher Menschen“ oder dem japanischen Kreuzen der Arme mit der Bedeutung „geht nicht!“ – festbissen und das dialektische Verhältnis von Denk- und körperlichen Abläufen außer Acht ließen. Wie soll man sich denn nun in einen „Sprachrausch“ versetzen, der notwendig ist für die produktiven ebenso wie die rezeptiven Vorgänge des Kommunizierens (einschließlich des Lesens!) allgemein, und für die Entwicklung von Kompetenz im Japanischen im Besonderen? Es gibt durchaus Personen, die intuitiv und mit Erfolg den Lernprozess des Japanischen mit Hilfe einer täglichen Flasche Reiswein im Freundeskreis rauschhaft zu optimieren suchen. Da diese Methode gelegentlich aber zu Sachbeschädigungen führt, sei hier vor allem wieder auf Byram verwiesen, der zur Ausbildung von Kompetenz die Wichtigkeit der Selbstbeobachtung in Verbindung mit schriftlich ausgearbeiteter Reflexion über erlebte und beobachtete Kommunikation betont (vgl. Byram et al. 2009). Dadurch schleift sich nach ihm die Gewohnheit ein, Kommunikation als körperlich-räumliches Geschehen wahrzunehmen und in eben dieser Form – nämlich als körperlich-räumliches Geschehen – für sich auch imitierbar zu machen und zu internalisieren. Byram bezeichnet dieses reflektierende Rezipieren als „Autobiography of Intercultural Encounters“, in dem Sinn, als es dabei um den fortlaufenden Nachvollzug des eigenen Denk- und Wahrnehmungsprozesses bei der Anwendung bzw. der Beobachtung von ablaufenden Handlungsmustern geht.

D a s J a pa n i s c h e a l s s p e z i e l l e H e r a u s f o r d e r u n g Ein dialektisches Verhältnis zwischen Wissen und Können herzustellen ist für uns im Japanischen nicht leicht. Zum einen weicht das Japanische strukturell – und deshalb auch mit seinen Anforderungen an unser motorisches Können – von den uns näher stehenden Sprachen erheblich ab, zum andern speist es sich aus einem uns unvertrauten Weltbild. Beides kann dazu verleiten, dem

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Wissen Vorrang zu erteilen und das Können – die Automatisierung, den Rausch – „schleifen“ zu lassen. Der strukturelle Aspekt sei anhand folgenden japanischen Satzes erörtert, den ich in der Erscheinungsform belasse, in der er sich tatsächlich präsentiert. Damit sei auch auf die Aneignung der notwendigen Motorik aufmerksam gemacht, die für den Prozess des Lesens erforderlich ist; einzelne Zeichen für sich wahrzunehmen kann man nicht als „lesen“ bezeichnen.

Verfolgen wir die Struktur dieses Satzes Schritt für Schritt (er stammt aus Bunkachô 1971: 2; es geht inhaltlich um eine Definition von gengo kôdô, „sprachliches Handeln“): „Zwischenmenschliche Beziehungen, sich ihnen anpassend am meisten angemessen seiende Wörter als Objekt herauswählende Schritte, das ist [sprachliches Handeln]. Die japanische Sprache: in [ihr]: ein als Schwierigkeit zu bezeichnendes Etwas existiert; falls wir [von deren Existenz] ausgehen: in diesem sprachlichen Handeln vorhanden seiende Ausdrucksweisenauswahl und diese stützende gesellschaftliche Ansichten mit der eine Verbindung hergestellt ist, das ist [dieses Etwas], so glaube ich.“ Die Bedeutung ist: „Sprachliches Handeln ist wie folgt zu verstehen: Es sind Schritte, welche je nach der Art der zwischenmenschlichen Beziehung die angemessensten Wörter wählen. Falls wir davon ausgehen, dass die japanische Sprache, die sich durch ein derartiges sprachliches Handeln kennzeichnet, schwierig ist, dann, so glaube ich, besteht (diese Schwierigkeit) in der korrekten Wahl von Ausdrücken und in deren Verknüpfung mit den sie stützenden gesellschaftlichen Ansichten.“ Dies zum strukturellen Aspekt des Japanischen. Das Japanische schöpft aber wie erwähnt auch aus einem uns unvertrauten Weltbild; dazu auch ein Beispiel. Müsste ich bei einem Schulfest aufstehen und mich den anderen Eltern vorstellen, würde ich wohl sagen: „(Mein Name ist) XX; mein Sohn YY ist in der 3. Klasse“. Konkret haben an einer japanischen Schule die Eltern sich aber so vorgestellt: „XX, im Bewusstsein der formellen Situation;

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wir empfangen in niedrigerer Stellung Ihre Bemühungen, dass YY in die 3. Klasse gehen darf.“ Beide Beispiele machen deutlich, dass Sprachkompetenz sowohl hinsichtlich der Gedankenorganisation wie hinsichtlich der Wahl von Aussageperspektiven die Fähigkeit bedingt, Sprachhandlungsprozesse mit der oben aufgezeigten Struktur bilden zu können, und dies natürlich ohne Aufsplitterung in einzelne Denkschritte korrekt und flüssig, also auf rauschhafte Weise.

D e r R a u s c h d e r Sp r a c h e – s t r u k t u r e l l e A s p e k t e Kommunikative Prozesse im Japanischen stützen sich sowohl bezüglich ihrer Elemente wie auch ihrer Folgeschritte in sehr hohem Maße auf einzuschleifende Abläufe, die in ihrer Dichte unmöglich „mit dem Kopf“ zu bewältigen sind und rauschhafte Charakteristika aufweisen (vgl. hierbei auch die Diskussion zu kata in Hirota/Ishida/Staudacher 2010). Wir können dabei von einem hohen Grad der Festlegung der Binnen- ebenso wie der Folgeordnung von kommunikativen Handlungsblöcken mit ihrem zwingenden und vorwärtsdrängenden Ablauf sprechen. Sehr auffällig dabei ist die Fokussierung auf den Aspekt junban (Reihenfolge, das Nacheinander der Dinge) bzw. junjo (Reihenfolge, Ordnung) – und damit auch die Tendenz, denjenigen, die von außen in eine japanische Struktur eintreten wollen, immer wieder die ungenügende Beachtung von „Reihenfolge“ vorzuwerfen. Wie im nächsten Abschnitt ausführlicher diskutiert, unterliegen die Folgeschritte einer Kommunikation dem Grundmuster des Empfangens und Gebens, also der Dynamik, die als Grundlage allen funktionierenden Lebens verstanden wird. An dieser Stelle lässt sich auch hinweisen auf die zwingende Bezugnahme zu den Jahreszeiten in Briefen, Dekoration oder Kleidung (wofür es denn auch umfangreiche Nachschlagewerke gibt, um die Korrektheit sicherzustellen), oder auf die Abschnittsmarkierungen im Jahres- und Lebenslauf. Es geht dabei nicht um Persönliches, sondern darum, sich gemeinsam in den Lauf der Dinge „einzuklinken“, um sich so der Energie bewusst zu werden, die bis hierher dank des Zusammenspiels aller Kräfte gewährleistet war, und sie für die weiteren Schritte auf der Zeitachse zu sichern. Der minimalste Ausdruck dieser Ordnung von Folgeschritten auf einer

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Neujahrskarte lautet: „Ich habe dieses Jahr Ihre Fürsorge empfangen – ich bitte Sie im neuen Jahr um weitere Zuwendung“. Handlungsblöcke laufen i.d.R. mit einer festen und elaborierten Struktur von Folgeschritten ab und haben in diesem Sinn durchaus etwas Rauschhaftes. Sie erscheinen etwa als aufwendige Besuchs- und Geschenkrituale und es lässt sich eine Fülle von Instruktionsmaterial einsehen für die Ablaufregeln von Zusammenkünften der verschiedensten Art: Empfangsfeiern, Verabschiedungsfeiern (z.B. vor einer Reise), Firmeneintrittsfeiern, Willkommensfeiern, Beförderungsfeiern, Feiern einer Zusammenkunft, Jahresendefeiern, Neujahrsfeiern, Gründungsfeiern, Dankesfeiern, Feiern zu einem Gebäudeneubau, Feiern zu einem regionalen Anlass und natürlich Hochzeits- und Trauerfeiern. Ein Beispiel zur Regie der Folgeschritte einer Verabschiedungsfeier (Hibiki 2008: 136-138): „Feier zum Abschiednehmen 1. Akt (Eröffnung – aufpassen, dass die Veranstaltung nicht tränenreich wird!) (15 Minuten) Zeremonienmeister: Ich habe Sie sehr lange warten lassen. Wie Sie wissen, geruht Jahrgangsältere-Mitarbeiterin in der Geschäftsabteilung, Tamura Kazuyo, uns wegen ihrer Heirat zu verlassen. Am heutigen Tag haben wir uns gestattet, Sie zusammenkommen zu lassen, um die Abschiedsfeier für Frau Tamura durchzuführen. Also, nun möchte ich die Abschiedsfeier für Frau Tamura beginnen. Es macht uns traurig, in unserer Geschäftsabteilung eine Madonna zu verlieren, doch lasst uns eine prächtige Feier veranstalten. Zuerst findet nun die Grußrede der Vertreterin des Geschäftsführers statt. Wir gestatten uns, eine Rede von Nakamura Yumiko zu bekommen, welche, als sie bei Firmeneintritt noch völlig unbeholfen war und jeden Schritt und jeden Gang sich erklären lassen musste, die unermessliche Fürsorge von Seiten unserer Jahrgangsälteren-Mitarbeiterin Tamura erhalten durfte. Grußrede der Vertreterin der Geschäftsführung Dies war die Grußrede von Nakamura Yumiko. Auch mir sind die verschiedensten Erinnerungen an die Zeit mit JahrgangsältererMitarbeiterin Tamura Kazuyo hochgekommen, doch lasst uns die Feier in fröhlicher Atmosphäre begehen.

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2. Akt (1 Std. 35 Minuten) Szene 1: Die Gläser heben (Zeremonienmeister! aufpassen, nach dem Trunk den richtigen Zeitpunkt zum Klatschen zu bestimmen) Also, auf das Wohl von Jahrgangsälterer-Mitarbeiterin Tamura und ihre Hochzeitsfeier! Für die Trinkrede möchte ich meine Bitte an den Sektionschef unserer Geschäftsabteilung, Tanaka Masao, richten. Herr Sektionschef, ich bitte Sie! Alle stoßen an Vielen Dank. Szene 2: Essen, Unterhaltung (auf keinen Fall unterlassen, die Hauptperson in den Vordergrund zu stellen. Die Veranstaltung nicht einfach ,laufen lassen‘!) Jetzt umringen wir Jahrgangsältere-Mitarbeiterin Tamura für die Zeit des Festmahls. An diesem Tag haben wir viele gute Sachen vorbereitet, die unsere Jahrgangsältere-Mitarbeiterin gerne mag. Ich bitte Sie, nun in fröhlicher Stimmung zu beginnen. Szene 3: Austausch von Geschenken (der Zeremonienmeister führt Regie und sorgt für Klatschen) Wir haben um Jahrgangsältere-Mitarbeiterin Tamura herum eine fröhliche Zeit verbracht, und nun möchten wir die Geschenke unserer Abteilung an Jahrgangsältere-Mitarbeiterin Tamura gerne überreichen. Die Geschenke werden überreicht von der gerade neu eingetretenen Mitarbeiterin Murakami Mieko. Wir hoffen, dass die Geschenke, die wir alle gemeinsam ausgewählt haben, nützlich sein werden für das frisch verheiratete Leben von unserer Jahrgangsälteren-Mitarbeiterin. Bitte nehmen Sie sie entgegen! Die Geschenke werden übergeben 3.Akt (10 Minuten) Zum Schluss möchten wir gerne ein Wort des Grußes bekommen von Jahrgangsälterer-Mitarbeiterin Tamura, die in 3 Monaten eine heitere Hochzeit feiern wird. Jahrgangsältere-Mitarbeiterin, wir bitten Sie! Die Mitarbeiterin, die die Firma verlässt, spricht Worte des Danks Vielen Dank. 4. Akt (,Öffnung‘ – Auseinandergehen) (äußerst wichtig sind muntere Worte, die die fortgehende Person auf heitere Weise verabschieden)

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Nun also, wir gestatten uns hiermit, die Verabschiedungsfeier für Jahrgangsältere-Mitarbeiterin Tamura Kazuyo zu beenden. Wir freuen uns alle darauf, am Tag der Hochzeit die strahlend glänzende Jahrgangsältere-Mitarbeiterin wieder zu sehen!“

Interessant ist – so sei noch angemerkt – wie solche Handlungsblöcke bzw. Handlungsrituale sich stets den neusten Kommunikationstechnologien anpassen, also vom Grundsatz her gerade keinem Wandel unterliegen, sondern, indem sie mit dem Wandel der Dinge mitgehen, prinzipiell konstant bleiben. Anders ausgedrückt: Der Wandel der Dinge ändert grundsätzlich nichts an der Vorstellung einer geometrischen Figur, die einen Ablauf der Dinge erzwingt, welcher rauschhafte Züge trägt. Und so ist es kein Wunder, dass es auch immer mehr Anweisungsmaterial für die korrekte Einhaltung von Folgeschritten interpersonaler Ordnung etwa für Handy und Internet gibt.

D e r R a u s c h d e r Sp r a c h e – a f f e k t i v e A s p e k t e Die Frage, wie weit die Sprach- bzw. Handlungsstruktur mit ihren Regeln zur Abfolge von Denk- und Aussageschritten und der Markierung von Einzelbausteinen innerhalb eines Systems von Bezügen zu einer übergeordneten Kommunikationsabsicht ein bestimmtes Weltbild – ein bestimmtes Verständnis der Beziehung von Dingen zueinander – stützt bzw. ihrerseits von einem bestimmten Weltbild gestützt wird, ist zu komplex, um hier diskutiert werden zu können. Tatsache ist, dass auf der Sprachebene des Japanischen eine ausgeprägt lineare Regelhaftigkeit in der Sequenz von Schritten zu Tage tritt: Alles was ich sage, bestimmt das Nächstfolgende, und alles was ich gesagt habe, wird „scheibchenweise“ mit einem Markierungszeichen versehen, damit es in seinem linearen Ablauf bei der Addition der Einzelpunkte richtig verortet bleibt (z.B. als Thema, als Grund, als Objekt usw.). Die Minimalaussage, die hier dazu getroffen werden kann, ist die, dass eine solche Form von Aussagefluss – rezeptiv – ein genaues Zuhören erfordert, weil das, worauf sich eine u.U. lange Aussage bezieht, als Zielpunkt ganz am Ende der „Addition“ steht, und – produktiv – eine hohe Konzentration erfordert, damit die sequenzielle Anordnung der Bausteinchen ununterbrochen und „rauschhaft“ in dieses Ende hinein verläuft.

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Die Überlegung, wie denn innerhalb einer vorgegebenen Sprachstruktur inhaltliche Entscheidungen getroffen und formal korrekt umgesetzt werden müssen, führt uns zur Frage nach einem spezifischen Weltbild. Dessen Erfassung verlangt von uns im Vorfeld von allem Können erarbeitetes Wissen. Wie in der genannten „Autobiographie Interkultureller Begegnung“ gefordert, müssen wir uns dieses durch exakte Beobachtungen und deren Rückbezug auf Gegebenheiten (ggf. auch historische Gegebenheiten) aneignen, die außerhalb der rauschhaften Prozesse von Produktion und Rezeption in natürlichen Kommunikationssituationen stehen. Dies muss uns zu Überlegungen führen, wie weit wir selber überhaupt in der Lage sind, eine für den fremdkulturellen Kontext formal korrekte (das heißt hier: in einer vom Gegenüber affektiv widerstandslos entgegengenommene) Sprachhandlung durchzuführen. Das Kennenlernen eines Weltbildes kann jedoch nur über Hypothesen erfolgen. Dabei zeigt es sich im Übrigen, wie fundamental Hypothesenbildung für jede Art von Kommunikation tatsächlich ist; hier sei etwa auf die Untersuchungen zu Sprachintonation von Kazuko Matsumoto (Matsumoto 2000; Clark/Haviland 1977) hingewiesen, die von der Prämisse ausgehen, dass Kommunikation auch unter Muttersprachlern nicht auf Wissen vertrauen kann, sondern bloß auf Hoffen, dass man die Signale eines anderen verstanden hat. „The speaker tries,” sagt Matsumoto (2000: 13), „to the best of his ability, to make the structure of his utterance congruent with his knowledge of the listener’s mental world.” Matsumoto nutzt diese Perspektive des „Hoffens“ für ihre Diskussion von Phonologie und Prosodie – zwei entscheidenden Dimensionen von Sprache bei der Frage nach rauschhaft produzierter Kommunikationsästhetik und damit nach Sprachkompetenz überhaupt – und verweist darauf, dass die sinnlich wahrnehmbare Erscheinungsweise eines Satzes von Hypothesen darüber abhängig ist, was der Angesprochene vielleicht schon weiß bzw. wohl noch nicht weiß. Wie könnte denn nun das Weltbild eines Japanischsprechers aussehen? Von welchen Erwartungen müssen wir ausgehen, bevor wir hoffen können, dass unser Sprachfluss in einer Art Rausch möglichst erfolgreich „ins Ziel schießt“? Der Rausch einer Sprache muss sich auf einer Grundkonfiguration aufbauen, gewissermaßen wie ein Wolkenkratzer auf einem

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klar abgemessenen Grundriss. Diese Grundkonfiguration ist im Japanischen, wie anderswo auch, eine internalisierte Vorstellung von der Ordnung der Welt und von der Ordnung, an die ich glaube, um selbst eine erkennbare und anerkannte Position in meiner Umwelt einnehmen zu können. Diese internalisierte Vorstellung von Weltordnung muss allerdings Gültigkeit für eine größere Gruppe von Menschen besitzen; eine rein eigene Welt wäre nicht kommunizierbar. Der hier verwendete Begriff „Weltordnung“ spielt auf die Tatsache an, dass wir es mit Annahmen über die Grundgegebenheiten des Lebens selbst zu tun haben, die über weite Räume hinweg so selbstverständlich sind, dass sie – als Orientierungsgröße für motorisches Handeln – Identitätsbildungsmechanismen von Einzelgruppen überwölben und durchdringen (vgl. dazu auch Chiteki seikatsu kenkyûjo 2006). 2 Für die „Weltordnung“ von Japanischsprechern – so meine Behauptung – darf Berechenbarkeit als Grundkonfiguration für Sprache sehr wörtlich verstanden werden. Ob klassische Anweisungen zum Leben in Form geomantischer Tafeln, Vorstellungen des Flusses von Vitalkraft durch den Körper um den täglichen Stress zu bewältigen, die Grundfigur geregelten Lebens als Individuum wie als Gesellschaftsmitglied, ob Bürostrukturen und Arbeits-Organigramme, ob Schulfeste, Nachbarschaftsgruppen, Transportorganisationen, oder die Ratgeberliteratur für alle Formen für Erfolg: Stets begegnen wir dem Kreismuster, in welchem alles auf alles beziehbar ist, sofern klare Regelungen der Abfolge der einzelnen Glieder eingehalten werden (vgl. die etwas ausführ-

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In einer modernen, vernetzten und pluralistischen Gesellschaft gibt es natürlich keine für alle absolut gültige Weltordnungsvorstellung. Dennoch sprechen im Falle Japans zwei Gesichtspunkte für zumindest eine gewisse Gültigkeit: Erstens die Tatsache, dass die hier beschriebene Weltordnungsvorstellung weitgehend mit „common sense“ gleichgesetzt wird und in keinem Bekenntnis, sondern nüchtern in praktischen Überlegungen wurzelt, zweitens die Tatsache, dass diese Ordnungsvorstellung normativen Charakter besitzt und damit allen individuellen Denk- und Erfahrungsmustern zumindest als (ggf. auch abgelehnter) „ordentlicher“ Bezugspunkt vorgeschrieben ist. Wie unten noch anzuführen sein wird, deutet allerdings einiges darauf hin, dass auch die japanischen Ordnungsvorstellungen sich mit der Veränderung der wirtschaftlichen Strukturen und damit auch der individuellen Lebensläufe und Lebenslaufplanungen in bestimmten Grenzen wandeln.

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lichere Darstellung in Ackermann 2010a). Das würde bedeuten, dass die Grundfiguration des Lebens aus einem kreisförmigen Muster besteht, in welchem ich die Verknüpfung des jeweils vorangehenden Gliedes mit dem nächstfolgenden durch sorgfältige Wahrnehmung und Abgleich deren ebenso wie meiner eigenen Eigenschaften berechnen kann. Die Ordnung der Welt ist, anders ausgedrückt, weder eine mystische noch eine von einem göttlichen Willen abhängige, sondern eine absolut-geometrische Ordnung, und sie erfordert, dass der Mensch, will er berechenbar erscheinen, sich eigenverantwortlich um ihre Einhaltung bemüht. Diese Bemühung schafft die Grundlage für gemeinschaftsorientiertes Verhalten, garantiert anshin (affektive Ausgeglichenheit) und charakterisiert die normative Gestalt der interpersonalen Handlungsmuster im Japanischen. Der geschlossene Kreis – bzw. das kettenartige Zusammenfügen von Elementen, die aufeinander abgestimmt sind – gibt grundsätzlich jedem Individuum, genauso wie jedem Naturphänomen, Existenzsinn und Aufgabe. Nur der Kreis gewährleistet das Funktionieren der Dinge, und das heißt: die Nährung aller Dinge mit Vitalenergie (obzwar scheinbar ein anderes Thema behandelnd, gibt in diesem Zusammenhang der Aufsatz von Gerstner (2010) wichtige Einsichten). Der Kreis ist damit – subjektiv vom japanischen Individuum aus gesehen – eine „logische“ Orientierungsgröße, die zudem auch sichtbar angelegt ist etwa in den Himmelsrichtungen, im Lauf der Sonne, in den Jahres- und Tageszeiten, im Wechsel von männlich und weiblich und auch im menschlichen Leben von der Geburt bis zum Tod und in der Generationenfolge. Die normativen Regeln für jede Art von Handeln, und gerade auch von kommunikativem Handeln, bestehen im Japanischen demnach im Nachvollzug einer geschlossenen Figur aus Empfangen und Weitergeben und bilden so die Grundkonfiguration für Leben schlechthin. 3 Kommunikation ist, anders ge-

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Eine eindrucksvolle Illustration dieses gedanklichen Grundmusters findet sich in der Namensgebung für vier kleine Sprösslinge aus der nach dem Tsunami von März 2011 einzig übrig gebliebenen (aber nicht mehr zu rettenden) Kiefer am Strand von Rikuzen Takata: Nobiru (wachsen, heranwachsen); Taeru (überstehen, standhalten); Inochi (Leben); Tsunagu (verbinden, Vergangenes an Zukünftiges knüpfen).

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sagt, Teil einer „berauschenden“, nie anzuhaltenden Dynamik von Empfangen und Weitergeben. Auf ethischer Ebene darf die Rolle des japanischen Buddhismus bei der Ausprägung dieser Lebenskonfiguration nicht übersehen werden. Die von ihm vertretene schlichte doch eindringliche, persönlich geäußerte, wie durch zahllose Geschichten untermauerte Ermahnung, das Leben nach dem Prinzip zu gestalten „arigatô gozaimasu – onegai shimasu“ („ich danke für das Erhaltene – ich bitte für das Weitere“), also die Wahrnehmung des Ich als Kettenglied zwischen Empfangen und Weitergeben, spielt nach wie vor eine fundamentale Rolle in der affektiven Gestaltung japanischer Kommunikation. 4 Die Wichtigkeit des Bezugs von Empfangen und Weitergeben zeigt sich auf die Frage, was Japanern in Europa am meisten fehle. Oft lautet die Antwort: Der europäische Sprecher signalisiert zu undeutlich, in welchem Bezug ein Sachverhalt zu Sprechendem, Angesprochenem und Besprochenem steht. Zwei Beispiele dazu: Eine Aussage wie: „Er hat es mir gezeigt“ müsste im Japanischen lauten: „oshiete-kure-mashita“ („Er zeigte [es] (oshiete) und gab mir (kure) diese Handlung (wobei die gewählte Verbform ,kure‘ verdeutlicht, dass der Sprechende alters- und positionsmäßig nicht wesentlich höher stand als ich); dies teile ich Ihnen förmlich mit (mashita)“). (Im Zug:) Auch das deutsche: „Mein Name ist Yamada; ich bin Ihr Zugchef bis Ôsaka“ würde im Japanischen eine genauere Verknüpfung zwischen Sprechendem und Angesprochenem erfordern: „shashô wa Yamada desu. Osaka made go-annai shimasu“ („Der Zugchef ist Yamada. Aus niedriger Position übernehme ich respektvoll die Führung für Sie bis Osaka“).

Vor diesem Hintergrund der Verknüpfung von Sachverhalten mit ihrer Position in einer Konstellation von Empfangen und Weitergeben wird in der japanischen Sprachsozialisation höchster Wert gelegt auf Ausdrücke, die eine Beziehung zwischen einem Sach-

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Zum Beispiel steht eine Werbezeitschrift der Vereinigung zur Erhaltung von Bergdörfern unter einem Motto, das Geben und Empfangen untrennbar verknüpft: „jôryû wa karyû o omoi, karyû wa jôuryû ni kansha suru“ („Der Oberlauf eines Flusses denkt an den Unterlauf, der Unterlauf bedankt sich beim Oberlauf“).

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verhalt und einer Person herstellen (taigû hyôgen); über „Sachen“ isoliert zu sprechen, wenn sie mit Personen verbindbar sind, ist befremdend. Die taigû hyôgen strukturieren eine affektive Grundeinstellung vor und liefern so das Grundraster, von dem aus die Kommunikationshandlungen, und damit der Rausch der Sprache, ihren Ausgangspunkt nehmen. Alle Sprachen kennen wohl formale und affektive Zeichen der Bescheidenheit und der Hochachtung. Das Japanische hebt sich aber insofern von den uns vertrauteren Sprachen ab, als diese Zeichen erstens spezifisch den dynamischen Prozess des Entgegennehmens und Weitergebens zum Ausdruck bringen, zweitens exakt vermittelt und in ihrer Anwendung (praktisch ohne Toleranzmarge) kontrolliert werden, drittens nicht durch persönlich vorgenommene formale Entscheidungen geprägt sein dürfen und viertens in allen Teilen und auf allen Ebenen der Aussage formal wirksam sind und sich auf alle Aspekte von Kommunikation beziehen, etwa Rhythmus, Stimmgebung, Blick, Haltung, oder Körperbewegungen wie Gehweise oder Verbeugung. Unterweisungsmaterial dazu kennt denn auch keinen unbestimmten Begriff wie „höflich“, sondern gibt unzweideutige Anweisungen zur Sprach- und Körpergestaltung. 5 Rausch im Japanischen muss demnach auch stets eine Gestalt in Form einer Folge von präzisen Signalen haben, die auf eine Ordnung des Empfangens und Weitergebens Bezug nehmen. Dahinter steht deutlich der Glaube an die Geschlossenheit einer solchen Ordnung als Garant für den Fluss von Leben und Energie. Ein Blick auf die Sanktionsmechanismen in der japanischen Erziehung oder auf typische Diskussionsfelder im Familienkreis zeigt, in wie hohem Grad das korrekte kommunikative Handeln in Anpassung an diese „Weltordnung“ affektiv besetzt ist.

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Solches kann mitunter zu Umkehrungen in der Kommunikationslogik zwischen Deutsch und Japanisch führen, etwa: A (jünger, unerfahrener) erbringt für B (älter, erfahrener) eine Leistung. Im Deutschen sagt der ältere B dann vielleicht zum jüngeren A: „Danke (, dass Sie das für mich getan haben)“. Im Japanischen kann es durchaus sein, dass der jüngere A jedoch zum älteren B sagen muss: „Danke, dass Sie mich dies haben tun lassen“.

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Offene Fragen Der Automatisierung und Internalisierung von ganzen Handlungsabläufen in ihren sprachlichen, körperlichen und zeitlichen Dimensionen kommt in jeder Kommunikation ein hoher und im Japanischen ein spezifischer Stellenwert zu. Dort werden Verstöße gegen die Regelhaftigkeit konkret und im Rahmen eines historisch gewachsenen Weltbilds als Unterbrechung einer Fließbewegung wahrgenommen. Wenn aber Geben und Nehmen nicht mehr „fließen“, bin ich bei der Erfüllung meiner eigenen Verpflichtungen (des Weitergebens) blockiert, und dies kann im Japanischen zu Zorn führen. Dieser bringt zum Ausdruck, dass der „Blockierende“ für seine Umgebung eine nicht zumutbare Belastung darstellt; darauf spielt auch Yokota an (2010: 45) in ihrem zu Beginn genannten Hinweis zur angeblichen japanischen Grundangst, meiwaku zu sein (anderen zur Last zu fallen) – andere warten stets auf mich und sie erwarten stets etwas von mir. Wenn also die Blockade rauschhaften Sprachhandelns durch fehlende Kompetenz im Japanischen zu Zorn führen und entehrend sein kann, wie sollen wir mit solchen Sanktionen umgehen? Eine offene Frage. Können alle Japanischsprecher – Ausländer, aber auch Menschen in Japan selbst –, die für eine erfolgreiche Kommunikation notwendige Kompetenz, d.h. einen in eine bestimmte Richtung fließenden, inhaltlich, formal und sequenziell angemessenen Rausch, überhaupt entwickeln? Beobachten wir deutsche Studenten, die in jüngerem Alter ein Jahr in Japan verbringen. Sie erfassen das Rauschhafte kommunikativen Handelns in Japan oft recht schnell. Das ist unter anderem darauf zurückzuführen, dass dessen Grundzüge – das Prinzip der Selbst- und Fremdverortung und die imitative Übernahmemöglichkeit zahlreicher vorgegebener kommunikativer Handlungsmuster – eine hohe Berechenbarkeit sozialer Interaktion bei geringem Aufwand für individuelle Entscheidungen gewährleisten. Der Mühe für das Erlernen der Grundkonfigurationen steht also die fast sichere persönliche Würde im kommunikativen Kontext gegenüber. Allerdings führt dies beim Austritt aus der japanischen „Welt“ oft zu einem reverse culture shock, denn dann führt die Einhaltung der gelernten Regeln nicht mehr zur gewohnten Anerkennung; der Rausch der Rückkehrerstudenten läuft ins Leere.

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Die für eine erfolgreiche Kommunikation notwendige Kompetenz im Japanischen scheint also durchaus – wenn auch mit schwerwiegenden Folgen für die Rückkehr – entwickelbar zu sein. Jedoch: Was die zurückkehrenden Studenten kaum bedenken, ist die Tatsache, dass das japanische Weltbild eine Folge von Wandlungen und kein statisches ist; man „kann“ nicht ein für allemal Japanisch. Die gelernten Grundfigurationen galten nämlich nur für den Status eben des (männlichen bzw. weiblichen) Austauschstudenten, der/die sich bloß Verhalten bezogen auf eine Stelle im Gefüge aneignete. In der japanischen Wahrnehmung wird aber ein Mensch sehr konkret physisch älter und nimmt in den Konstellationen von Empfangen und Weiterleiten neue Positionen ein. So müssen die Grundkonfigurationen für Handeln inhaltlich, formal und in ihrer Zeitdimension geändert werden; ich kann nicht mehr die Sprache sprechen, die ich als Austauschstudent gelernt habe. Die dabei entstehenden Identitätskrisen bei einem neuerlichen Japanaufenthalt zeigen jedoch, wie wenig wir bisher über Funktionsweise und Gefahren der Wechselwirkung von Ichbildfestigung einerseits und Kompetenz im Sinne eines rauschhaften Bewegungsablaufs dieses Ichs andererseits im Erwerbsprozess einer uns fern stehenden Sprache wissen. Und in Japan selbst? Wie verhalten sich eigentlich da Personen, denen es nicht möglich ist, Kommunikationskontexte mit dem für diese Kultur erforderlichen Maß an Rausch zu bewältigen? Zu dieser Personengruppe gehören etwa Menschen, die wichtige Entwicklungsjahre nicht in Japan verbracht haben, oder bei denen der Sozialisationskontext in Japan ausländisch oder gemischt-kulturell, also durch uneinheitliche Selektionskriterien für kommunikative Signale geprägt ist. Dieses Thema findet in jüngster Zeit in Japan vermehrt Beachtung, weil wahrgenommen wird, dass solche Personen sich mobbing ausgesetzt sehen oder sich zurückziehen. Denn gerade eine für diese Personengruppe notwendigerweise eher intellektuellreflektierende und – mangels Imitationsmöglichkeiten – wenig rauschhafte Verhaltensweise kann in Japan, wo der rasche, korrekte Ablauf von Empfangen und Weitergeben geschätzt wird, als asozial sanktioniert werden. Im Rahmen binnenjapanischer Entwicklungen hat das Rauschhafte kommunikativen Handelns seinen Grundbezug zu einem „Sinn“ heute teilweise verloren. Die Ausrichtung des spre-

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chenden und handelnden Körpers auf das Prinzip Empfangen/Weitergeben ist nämlich von einem Kontext abhängig, der dieses Prinzip durch konkrete Erfahrung als gerecht bestätigt („ich bekomme, weil ich gebe, und so gebe ich, weil ich bekomme“). Solche Erfahrungskontexte sind in Japan jedoch instabil geworden. Die Relevanz etwa von Familienbeziehungen verblasst. Zudem hat der seit den 1990er Jahren weit fortgeschrittene Zusammenbruch langfristig berechenbarer Berufs- und Anstellungsverhältnisse vielen Menschen eine Zukunftsperspektive geraubt, wie etwa Masahiro Yamada in seiner Studie „Gesellschaft der auseinander gehenden Lebensperspektiven“ darlegt (2004). Was sind die Folgen, und was bedeuten diese Folgen für uns in der Begegnung? Sicher: Japanische Betriebe investieren noch immer erstaunlich viel Energie in die Vermittlung von Grundkompetenzen für rauschhafte Sprach- und Handlungsnormen. Was entsteht aber aus diesen Kompetenzen, wenn deren affektive Verankerung nicht mehr gegeben ist? Eine offene Frage. Die Fließformen der kommunikativen Dynamik im Japanischen sind auf Empfangen und Weitergeben, d.h. auf Anschlussfähigkeit ausgerichtet: sie sollen wie die Glieder einer Kette ineinandergreifen. Damit stehen im Prinzip hohen Investitionen an Energie für Beobachtungs-, Abstimmungs- und Ritualverhalten Nachhaltigkeit, interpersonales Vertrauen und Berechenbarkeit gegenüber, was rauschhaft ergebnisorientierte Handlungsstrukturen ermutigt und stützt. Gleichzeitig aber verändert heute die Tendenz zum Rausch in oft verschlossenen Kleingruppen-, Netzund Handywelten die Partizipationsformen mit der Außenwelt, ja das Verständnis von Außenwelt überhaupt. Umso angebrachter ist es demnach, dass wir jetzt die sich wandelnden und nach Neukonstellation suchenden Formen von Rausch ernst nehmen, um uns selbst in unserer Kompetenz weiterzubilden, und um dem Lauf des Generationenflusses in Japan gerecht zu werden. Die Anfangsfrage dieses Aufsatzes lautete: Wie können Überlegungen zum Rausch einen Beitrag zum Erlernen, sowie zur Partizipation an den – zwischen Konstanz von Annahmen zu einer „Weltordnung“ und Anpassung an die Gegenwart fluktuierenden – kommunikativen Normen einer Sprache leisten, die uns sehr fern steht? Im Vorangehenden wurde versucht, zwei Antworten auf diese Fragen zu geben. Zum einen wurde der Begriff des Rausches als

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dienlich angesehen, um auf das Spannungsfeld zwischen Wissen und Können hinzuweisen und bei letzterem die Bedeutung des Motorischen hervorzuheben. Der Begriff der Kompetenz, dem heute ein zentraler Stellenwert im öffentlichen Diskurs zukommt, lässt sich dabei sinnvollerweise in diesem Spannungsfeld verorten. Dies drängt sich spätestens dann auf, wenn wir unsere Erfahrungen nicht bloß als Sprechende, sondern als Angesprochene bedenken und häufig Gelegenheit haben, vorhandenes Wissen, aber fehlendes Können festzustellen. Zum zweiten wurde der Blick spezifisch auf Japan gerichtet und dabei wiederum auf zwei Aspekte aufmerksam gemacht, die uns einem Können näher bringen sollten. Der erste Aspekt betraf die Anerkennung des fundamentalen Stellenwerts von Annahmen zur „Weltordnung“ und damit natürlich auch eines bestimmten Bewusstseins des Ichs als Teil davon. Dieses Ichbewusstsein entwickelt seinerseits die im Kontext dieser „Weltordnung“ gefragten motorischen, d.h. nicht durch ständige Denkschritte „zerhackten“ Fähigkeiten. Der zweite Aspekt betraf den Stellenwert des Rauschhaft-Motorischen in einem Sprachraum, wo eine körperbezogene Wahrnehmung von Kommunikation im Vordergrund steht und eine dichte inhaltliche, formale, rhythmische und sequenzielle Gestaltung leiblichen Handelns sehr bewusst entwickelt, ausgeführt und rezipiert wird.

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Ekstase

Eckhard Roch

Musik und Ekstase: Richard Wagner

Dionysos Eine Schar wilder Frauen braust durch die Berge und Täler des alten Griechenland. Es sind die Mainaden, die mythischen Begleiterinnen des Gottes Dionysos. Mit aufgelöstem Haar, nur spärlich mit einem Tierfell bekleidet, mit Efeu bekränzt und Schlangen umgürtet, unter ekstatischen Verrenkungen den Thyrsos schwingend schlagen sie Milch, Wein und Honig aus den Felsen, säugen junge Tiere oder zerreißen sie und verzehren sie roh. Wer es wagt, ihr nächtliches Treiben zu belauschen, der erleidet ein ähnliches Schicksal: Er wird bei lebendigem Leibe zerstückelt. So oder ähnlich lauten die Beschreibungen einer im 8. Jh. v. Chr. in Griechenland aufkommenden religiös-kulturellen Bewegung, die vor allem Frauen wie eine Art Epidemie erfasst. Sie lassen Besitz und Familie im Stich und ziehen in die Wildnis, um dort ihren Gott Dionysos in geheimen Riten zu verehren. Dionysos ist ein fremder, aus Thrakien stammender Mysterien-Gott, für den im griechischen Pantheon zunächst kein Platz zu sein schien. Aber immer wenn man dem Gott die gebührende Ehre verweigerte, setzte er sich durch machtvolle Taten zur Wehr. Euripides erzählt in seinem Drama „Die Bakchen“ die tragische Geschichte von Pentheus, dem König von Theben, welcher den Gott und das ausgelassene Treiben der Frauen vergeblich zu bekämpfen suchte. Auf den listigen Rat des Dionysos will er als Frau verkleidet eine Feier der Mainaden belauschen. Sie entdecken ihn und Pentheus wird von der Hand seiner eigenen Mutter im ekstatischen Rausch zerrissen. Was ist das für ein merkwürdiges Gebaren, was für ein grausam blutiger Kult, der offenbar alle Schranken der Kultur überwindet und sich in ekstatischem Taumel ergeht? Um diese Frage zu beantworten sind zunächst einige Begriffsklärungen notwendig:

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EKSTASE

1. Ekstasis, e)/kstasij), vom griechischen Verbum e)ci/stasqai (herausstehen) bedeutet so viel wie „Außer sich sein“. Im klassischen Griechisch bezeichnet der Begriff alle Zustände und Handlungen, die das normale Maß überschreiten. So etwa die e)/kstasij manikh/, das „Verrückt-Sein“ oder die e)/kstasij a)/rqrwn, die Verrenkung der Glieder des Körpers (Dörrie 1979: Sp. 226). Der dionysische Kult ist durchweg mit solchen das ausgewogene Maß überschreitenden, manischen Handlungen verbunden. Im 19. Jahrhundert, zur Zeit der Romantik, kam der Begriff „Ekstase“ in Mode, allerdings in einem abgeschwächten, allgemein als „Leidenschaftlichkeit“ verstandenen Sinn. Mit der Ekstase zum Teil synonym wird. 2. Auch der Begriff der mani/a gebraucht. Mania bedeutet Raserei, Wahnsinn, Wut, aber auch die religiöse Begeisterung, modern ausgedrückt bezeichnet auch sie einen veränderten Bewusstseinszustand. Das hatte für den Griechen einen durchaus positiven Sinn. Nach Platon führte die qei/a mani/a, die göttliche Begeisterung (auch e)nqousiasmo/j genannt), zur Wahrheitsfindung (ebd.). 3. Der e)nqousiamo/j, wörtlich das „In Gott Sein“, hat ursprünglich noch nichts zu tun mit den ausschweifenden Orgien, die den Dionysoskult kennzeichnen. Der Enthusiast ist ein von Gott Begeisterter, der in Ekstase gerät, aus sich heraustritt, um das Göttliche in sich einzulassen und auf diese Weise die Wahrheit zu schauen. In ältester Zeit schrieb man die Fähigkeit zum e)nqousiamo/j den Musikern und Sängern zu. So ist beispielsweise Demodokos, der Sänger am Hof der Phaiaken in Homers Odyssee zugleich ein Seher und Wahrsager. 4. Die Orgie, griech. o)/rgia, ist nichts anderes als die Kulthandlung, der Ritus, selbst. Nicht zu verwechseln mit o)rgh/, der heftigen Erregung und Leidenschaft. Erst im Dionysoskult nimmt der Begriff der Orgie und des Orgiastischen die Bedeutung der Sinnlichkeit und Ausschweifung an (Pötscher 1979: Sp. 339). 5. Die Teilnehmer am dionysischen Kult – es sind wie gesagt vor allem Frauen – sind die Mainades (Maina/dej), eingedeutscht die Mänaden, ein Name, der von Mania abgeleitet ist und daher so viel bedeutet wie die Rasenden, Wütenden, die bakchisch Begeisterten. Sie sind die ekstatischen Begleiterinnen des Dionysos. Eine antike Vasendarstellung zeigt eine Mänade in ekstatischer

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Haltung eine Schlange um den Kopf, in der Rechten den Thyrsos, in der Linken einen Panther haltend. Das Wesen der dionysischen Ekstase besteht im Bestreben, das Menschliche auf das Göttliche hin zu transzendieren, im Versuch, sich durch Tanzen und Rasen bis zur völligen Erschöpfung dem Gott hinzugeben. Der Höhepunkt dieses grenzüberschreitenden Tuns, die Zerstückelung des sich in Tiergestalt offenbarenden Gottes, ist ein barbarischer Ritus zur Vereinigung mit der Gottheit. Er stellt das Martyrium des Gottes dar, der dem Mythos zufolge einst von den Titanen zerstückelt wurde, um daraufhin wieder aufzuerstehen. Stellvertretend erleiden ein Bock, aber auch Pentheus oder Orpheus, der berühmte Sänger des Altertums, dieses Schicksal, und zwar nicht als Strafe, sondern als mystische Einheit mit ihrem Gott. Im Gefolge des dionysischen Kultes kam um 700 v. Chr. eine neue, zunächst bestaunte, aber schon bald als barbarisch bekämpfte Musikkultur ins alte Griechenland. Später wurde diese Musik von Konservativen wie Platon als ausschweifend beschrieben und das Ethos ihrer Tonarten als sittenverderbend aus dem Staat verbannt. Eine Analyse der Überlieferung kommt zu dem Ergebnis, dass diese neue, virtuose, aber als sinnlich und verweichlichend empfundene Musik einem Klanggeschlecht angehört haben muss, das man in der Antike to\ xrw=ma bzw. to\ xrw=matiko/n ge/noj (das chromatische Klanggeschlecht) nannte. Im Unterschied zur „normalen“, diatonischen Tonleiter mit der Intervallstruktur Ganzton, Ganzton, Halbton, wird die chromatische Skala durch die Folge Halbton, Halbton, kleine Terz, bestimmt. xrw=ma e)/sxein, „Farbe haben“, ist eine Metapher, die im griechischen Alltagsleben so viel wie einen wechselhaften, unbeherrschten Charakter bezeichnet und in diesem Sinne auf die ethische Wirkung des entsprechenden Klanggeschlechtes übertragen wurde (vgl. Roch 2001: 35). Welch ekstatische Wirkungen man dieser Musik zuschrieb, zeigt am anschaulichsten vielleicht jene Erzählung vom rasenden Jüngling, die bei Boethius überliefert ist. Ein Jüngling war durch eine phrygische Aulosweise „außer sich“ geraten. Pythagoras riet daraufhin, einen dorischen Spondeios, d.h. eine getragene Weise in dorischer Tonart, zu spielen und der junge Mann beruhigte sich sofort (Boethius 1966: 184,10-185,9). Das Dorische und das Phrygische standen sich im alten Griechenland wie zwei gegensätzliche

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Kulturen gegenüber, wie die zwei Prinzipien, die Friedrich Nietzsche in seinem umstrittenen Buch Die Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik auf die Formel des „Apollinischen und Dionysischen“ gebracht hat. Der Gesang und die Gebärdensprache der dionysischen Schwärmer sei für die homerisch-griechische Welt etwas Neues und Unerhörtes gewesen und insbesondere habe ihr die dionysische Musik Schrecken und Grausen erregt, schrieb Nietzsche über diese ekstatische Kultur (Nietzsche 1954: 28).

Der Venusberg Mochte Nietzsche mit dieser gar zu einfachen Formel die historische Wahrheit des Griechentums zwar verfehlt haben, so traf er ein Phänomen seiner eigenen Zeit doch ziemlich genau – die Musik Richard Wagners. In Wagners musikdramatischen Werken stehen sich von Anbeginn zwei entgegengesetzte Welten, zumeist eine rational lichte (apollinische) und eine geheimnisvoll dunkle (dionysische) gegenüber. Schon seiner ersten vollendeten Oper „Die Feen“ liegt dieses, aus dem Umkreis der Feensagen stammende Motiv der „gespaltenen Welt“ (Menschenwelt und Feenwelt) zugrunde. In seiner romantischen Oper „Tannhäuser und der Sängerkrieg auf der Wartburg“ kommt dieser Gegensatz der zwei Welten nicht nur manifest auf die Bühne, sondern es gelingt Wagner auch erstmalig, diese Dramaturgie musikalisch sinnfällig umzusetzen. Wie das Apollinische und Dionysische stehen sich hier die christliche Welt der Wartburgritter und die heidnische Welt des Venusberges gegenüber, repräsentiert durch zwei deutlich unterschiedene musikalische Charaktere, den christlichen Choral der Rompilger und die Musik des Venusberges. Wagners erklärtes Ziel war die Einheit der Künste nach antikem Vorbild, eine Konzeption, die hier im Tannhäuser eine neue Qualität gewinnt. Was dabei jedoch nicht vergessen werden darf, ist die angestrebte Einheit der Musik nicht nur mit der Sprache, sondern auch mit der Tanzkunst, der darstellerischen Bewegung, die sich im gestischen Moment seiner Musik erweist (vgl. Adorno 1974: 24ff.). Die Geste, die vom Normalen abweichende Bewegung, ist eines der äußeren Anzeichen der Ekstase. Die plastischen Künste können davon nur eine Momentaufnahme festhalten. Anders die

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Musik. Die Musik als Zeitkunst scheint zur Darstellung von Bewegung und ihrer ekstatischen Steigerung geradezu prädestiniert. Ein Wort kann gesagt und eventuell auch wiederholt werden. Ein musikalisches Motiv hingegen kann nicht nur wiederholt, sondern zugleich auch sequenziert, d. h. auf melodisch und harmonisch höherer Stufe wiederholt und somit gesteigert werden. Die Takte 220-244 der Tannhäuser-Ouvertüre sollen das bei Wagner immer wiederkehrende Muster solcher Steigerung durch Sequenzierung demonstrieren. Die Steigerung beginnt mit der „Exposition“ des viertaktigen „Venusberg“-Motivs. NB 1 Venusberg-Motiv (T. 220-223)

Schon die melodische Struktur dieses Motivs ist ungewöhnlich. Auf die zweimalige Wiederholung eines eintaktigen Kopfmotivs, dessen gestischen Charakter man wohl als „Lockruf“ bezeichnen könnte, folgt ein punktierter Oktavsprung vom dis''' zum dis'', gewissermaßen eine musikalisch-ekstatische „Verrenkung“, die sich in einer synkopischen, die Taktgrenze überschreitenden Aufwärtsbewegung hektisch fortpflanzt. Von diesem Venusberg-Motiv spaltet sich daraufhin das eintaktige Kopfmotiv ab – wir wollen es wie schon gesagt als „Lockruf“ bezeichnen – welches in aufsteigenden Sekundschritten nicht weniger als achtmal sequenziert wird. NB 2 Lockruf-Motiv

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In den folgenden beiden Takten (T. 238-239) wird dieser Lockruf nochmals verkürzt, gewissermaßen halbiert, um schließlich T. 240 in den lang ausgehaltenen Einzelton cis''' zu münden. Dann stößt sich die Bewegung von diesem cis''' noch einmal ab. NB 3

und erreicht schließlich in energisch synkopierten Schritten ihr Ziel: Das neue Thema, Tannhäusers Preislied auf Frau Venus: NB 4 Sequenz und Preislied (T. 240-246)

Wie entsteht der unbestreitbare Effekt einer solchen, an sich simplen Sequenz? Nun – offenbar durch das raffinierte Zusammenspiel von Spannung und Lösung, die das Wesen dieser Steigerungen ausmacht. Man stelle sich einmal die bloße Aufeinanderfolge von Venusbergmotiv und Preislied vor! Der Effekt wäre dahin. Die Sequenzierung des Lockruf-Motivs hingegen lässt die gesamte Passage wie einen „Durchbruch“ zum Preislied erscheinen. Dieses neue Thema erscheint als die logische Konsequenz der vorangegangenen musikalischen Entwicklung. Und doch ist das Eintreten dieses Themas alles andere als musikalisch logisch. Musikalische Logik beruht in tonaler Musik bekanntlich auf der so genannten Dominantspannung, d.h. dem „Schluss“ von der Dominante auf die Grundtonart, die Tonika, daher auch „Kadenzlogik“ genannt. Und hier liegt nun das musikalisch-logische Problem von Wagners modulierenden, durch verschiedene Tonarten wandernden Sequenzen: Sie setzen diese

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Kadenzlogik außer Kraft! So unbedeutend und kurz das sequenzierte Lockruf-Motiv ist, es könnte doch sofort zum Schluss kommen, d. h. auf seiner Tonika schließen. NB 5 Lockruf-Motiv kadenziert

Stattdessen setzt das Motiv auf erhöhter tonaler Stufe wieder ein. Jede neue Stufe erreicht eine neue Tonart. Immer weiter wird die Lösung, der erwartete musikalisch logische Schluss auf der Tonika, hinausgezögert. Auf diese Weise entsteht eine Spannung, die Sequenz staut ein Potential auf, das sich schließlich auf dem Höhepunkt, dem einsetzenden Preislied, lustvoll entlädt. Der dionysische Hintergrund dieser Steigerungen, die dieses gestische Lockruf-Motiv im Tannhäuser wiederholt aufzubauen hat, wird in Tannhäusers Venusberg-Vision (Tannhäuser, III, 3) unverhohlen benannt: „im Venusberg drangen wir ein!“ Eine Anspielung, welche die Analogie dieser Reizstruktur zum Vorgang des Koitus drastisch semantisiert. Das gesamte Stück hieß im Entwurf ja ursprünglich Der Venusberg, ein Titel, den Wagner aufgrund seiner Doppeldeutigkeit und der daraufhin befürchteten höhnischen Kommentare der Dresdner Ärzteschaft dann doch in Tannhäuser und der Sängerkrieg auf der Wartburg änderte (Wagner 1963: 313). Der erste Akt des Tannhäuser gewährt einen unmittelbaren Einblick in die Zauberwelt des Venusberges, den Wagner mit einer Vielzahl antiker Motive und Anspielungen angefüllt hat. Die erste Szene des 1. Aufzuges stellt das sog. Venusberg-Bacchanal vor: „Weite Grotte“ – schreibt Wagner in der Szenenanweisung – „welche sich im Hintergrunde durch eine Biegung nach rechts wie unabsehbar dahinzieht. Im fernsten sichtbaren Hintergrunde dehnt sich ein bläulicher See aus; in ihm erblickt man die badenden Gestalten von Najaden; auf seinen erhöhten Ufervorsprüngen sind Sirenen gelagert. Im äußersten Vordergrunde links liegt Venus auf einem Lager ausgestreckt, vor ihr halb kniend Tannhäuser, das Haupt in ihrem Schoße. Die ganze Grotte

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ist durch rosiges Licht erleuchtet. Den Mittelgrund nimmt eine Gruppe tanzender Nymphen ein; auf etwas erhöhten Vorsprüngen an den Seiten der Grotte sind liebende Paare gelagert, von denen sich einzelne nach und nach in den Tanz der Nymphen mischen.“ Später kommt: „Ein Zug von Bacchantinnen aus dem Hintergrunde in wildem Tanze dahergebraust, sie durchziehen mit trunkenen Gebärden die Gruppen der Nymphen und liebenden paare, welche durch sie bald zu größerem Ungestüm hingerissen werden. Dem immer wilder werdenden Tanze antwortet wie im Echo der Gesang der Sirenen.“

Was Wagner hier beschreibt, ist eine Liebesgrotte, ein Panorama der sinnlichen Geschlechtsliebe im Reich der Liebesgöttin Venus, welches sich zur bewegten Szene eines rauschhaften Bacchanals steigert. Wagner, dessen dramatische Entwürfe stets von antikmythologischen Vorstellungen geprägt sind, hält sich hier also an den lat. Begriff des Bacchanals, der in Rom ein besonders zügellos begangenes Fest bedeutete. Das so genannte Venusberg-Bacchanal im „Tannhäuser“ ist eine ballettartige Szene, welche in der späteren Pariser Fassung des „Tannhäuser“ zu einer regelrechten Balletteinlage ausgebaut wurde und die eigentliche Ursache des berühmten Pariser Tannhäuser-Skandals (1861) war.

Abb.1 Tizian: Bacchanal (1518)

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Eine solche Szene wie auf diesem Gemälde von Tizian, dürfte Wagner bei seinem Venusberg vorgeschwebt haben. Inmitten dieses sinnlichen Treibens finden wir nun den Minnesänger Tannhäuser in den Armen der Venus liegend. Aber die erotische Idylle ist gestört. Tannhäuser ist der bloßen Sinnlichkeit überdrüssig und sehnt sich nach Freiheit, nach der Natur, dem Läuten der Glocken – ja nach den Wechselfällen des Lebens: aus sinnlicher Wonne sehnt er sich nach Schmerzen. Venus sucht den Geliebten zwar zu beschwichtigen, doch Tannhäuser reißt sich mit dem Ausruf Mein Heil liegt in Maria aus ihrer Umarmung los. Warum Maria? – Maria, das ist der christliche Widerpart zur heidnischen Venus. Die Dramaturgie des Tannhäuser ist gewissermaßen in ein Schema von Gegensätzen eingespannt: Heidentum – Christentum, Venusberg – Wartburg, Venus – Maria, Sinnlichkeit – Geistigkeit oder eben: Dionysisches – Apollinisches.

Der Wechsel zwischen diesen beiden Sphären ist nicht nur ein hochdramatischer, sondern nach Wagners eigener Deutung auch ekstatischer Augenblick: Bei einer Besprechung des „Tannhäuser“ erklärte er dem Tenor Schnorr von Carolsfeld, dem späteren Darsteller des Tristan, „dieses ,Maria!‘ müsse mit solcher Gewalt eintreten, dass aus ihm das sofort geschehende Wunder der Entzauberung vom Venusberg [...] als die nothwendige Erfüllung einer unabweislichen Forderung“ verständlich werde. „Mit diesem Anrufe habe er die Stellung des in erhabenster Extase Entrückten angenommen, und in dieser solle er nun, mit begeistert dem Himmel zugewandtem Blicke, regungslos verbleiben, ja sogar bis zur Anrede durch die später auftretenden Ritter nicht die Stelle wechselnd“ (Wagner 1988: 163).

Ein Hinweis, den manche aktionsversessene Regisseure vielleicht einmal überdenken sollten. Das Musiktheater Wagners ist nicht als Realität, sondern nur als ekstatischer Ausnahmezustand rezipierbar.

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Venus und Maria, Heidentum und Christentum, Sinnlichkeit und Geistigkeit bilden das Spannungsfeld, in dem der Konflikt der Künstlerpersönlichkeit des Tannhäuser, der auch Wagners eigener Konflikt als Künstler ist, entsteht. Aber der bloße Wechsel von der einen in die andere Sphäre bringt keine wirkliche Lösung. Im Kreis der reaktionären Wartburg-Ritter hält es ein Freigeist wie Tannhäuser nicht lange aus. Sein Streit mit den Rittern um das Wesen der Liebe eskaliert. Er gerät „außer sich“, und es kommt zur Katastrophe. In rauschhafter Begeisterung rät Tannhäuser den Rittern und Frauen: Zieht in den Berg der Venus ein! und gibt damit sein dunkles Geheimnis preis. Das Entsetzen der Menge ist groß. Tumult bricht aus. Wagner verfolgt mit dieser Szene in allegorischer Hinsicht einen doppelten Zweck: zunächst einen sozialkritischen, nämlich die Entlarvung der moralischen Verlogenheit seiner eigenen Zeit, wozu ihm die mittelalterliche Rittergesellschaft zum Bilde dient. Dann aber auch einen ästhetisch-kunsttheoretischen: die Kritik der alten verstaubten Oper, repräsentiert durch den steifen Minnesang der Wartburg-Ritter, im Gegensatz zu Wagners neuem, gewissermaßen „ekstatischen Stil“, wie er sich in Tannhäusers Preislied auf Frau Venus repräsentiert. Eine bloße Schwarz-Weiß-Dramaturgie verfolgt Wagner dabei jedoch nicht. Tannhäuser verhält sich zu den beiden Welten Wartburg und Venusberg vielmehr merkwürdig ambivalent. Wagner selbst weist darauf hin, dass „Tannhäuser am Schlusse des Sängerkrieges seinen mit wahnsinniger Ekstase und Vergessen aller Gegenwart an die Venus gerichteten Lobgesang zärtlich schwelgend unmittelbar an Elisabeth richtete“ (Wagner 1963: 319). Ebenso besingt Tannhäusers vermeintlicher Gegenspieler Wolfram von Eschenbach, der Elisabeth ebenfalls liebt, mit seinem berühmten Lied an den Abendstern ja nichts anderes als das Gestirn der Venus! Elisabeth als Venus an den abendlichen Sternhimmel projiziert! In der künstlerischen Projektion kommt das apollinische Element mit dem dionysischen zur Einheit. Wem dieser dionysische Zug von Wagners Kunst jedoch fremd war, wie beispielsweise seinem Dresdner Komponistenkollegen Robert Schumann, der konnte eine solche Musik freilich nicht verstehen und schon gar nicht mögen.

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Nachdem Schumann, der sich selbst mit der Komposition einer Oper bekanntlich sehr schwer tat, die Partitur des Wagnerschen Tannhäuser studiert hatte, schrieb er an Felix Mendelssohn Bartholdy: „Da hat Wagner wieder eine Oper fertig – gewiß ein geistreicher Kerl voll toller Einfälle und keck über die Maßen – [...] – aber er kann wahrhaftig nicht vier Takte schön, kaum gut hintereinander wegschreiben und denken. Eben an der reinen Harmonie, an der vierstimmigen Choralgeschicklichkeit – da fehlt es ihnen allen. Was kann da für die Dauer herauskommen! Und nun liegt die ganze Partitur schön gedruckt vor uns und die Quinten und Oktaven dazu – und ändern und radieren möchte er nun gern – zu spät!“ (Schumann 2006: 94. Schumann an Mendelssohn, 22.10.1845).

Keine vier Takte schön und gut hintereinander schreiben können, Mangel an reiner Harmonie, Oktaven- und Quintparallelen – das alles sind Verstöße gegen die Regeln des strengen musikalischen Satzes – und treffender hätte Schumann kaum beschreiben können, dass dieser „geistreiche Kerl voll toller Einfälle“ eben keine apollinisch maßvolle, sondern dionysisch ekstatische Musik komponiert. Dem dionysischen Element dieser Musik konnte sich allerdings selbst Schumann nicht entziehen. Nachdem er den Tannhäuser in einer Aufführung gehört hatte, musste er gegenüber Mendelssohn seine Kritik doch wenigstens teilweise revidieren: Auf der Bühne stelle sich alles doch ganz anders dar, und er sei von einigen Stellen wirklich ergriffen gewesen (ebd.: 96; Schumann an Mendelssohn, 12.11.1845). Wagners Musik ist eine Ausnahmekunst, eine Musik der raffinierten Wirkungen, nicht des strengen Satzes. Und diese Wirkungen erschließen sich eben nicht unmittelbar aus einer Analyse der Partitur, sondern nur in der lebendigen Rezeption. Das hat Wagner, der große Theoretiker seiner selbst, auch gewusst und theoretisch reflektiert, ja diese Erkenntnis ist vielleicht überhaupt das Geheimnis seines bis heute andauernden Erfolges auf den Bühnen. So schreibt er in seinem Vorwort zu einer ProsaÜbersetzung seiner Operndichtungen: „Das Drama, im Moment seiner wirklichen scenischen Darstellung, erweckt im Zuschauer sofort die intime Theilnahme an einer vorgeführ-

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ten, dem wirklichen Leben […] so treu nachgeahmten Handlung, daß in dieser Theilnahme das sympathische Gefühl des Menschen bereits selbst in den Zustand von Ekstase geräth, wo es jenes verhängnißvolle Warum? vergißt, und somit in höchster Anregung willig sich der Leitung jener neuen Gesetze überläßt, nach welchen die Musik sich so wunderbar verständlich macht und – in einem tiefen Sinne – zugleich einzig richtig jenes Warum? beantwortet“ (Wagner o.J., a: 87/112; offener Brief an einen französischen Freund).

Nicht nur theoretisch hat sich Wagner mit dem Problem der Ekstase in der Kunst beschäftigt, sondern auch allegorisch in seinem zweiten großen Künstlerdrama, den „Meistersingern von Nürnberg“. Die berühmte zweite Szene des 3. Aktes, in welcher Walter von Stolzing begeistert seinen Traum erzählt und unter Sachsens Anleitung sein Preislied in strenger Barform dichtet, gibt ein Lehrstück des Dichtens und Komponierens wie Wagner es verstanden wissen will: „Das grad ist Dichters Werk, daß er sein Träumen deut' und merk'!“ erklärt Hans Sachs. Dichtung ist also „Traumdeutung“. Was aber ist die Musik, wie kommt Stolzing zur Melodie seines Gedichtes? Die Melodie, so lautet die Antwort, ist unmittelbarer Ausdruck des Textes, wenn dieser von innen heraus in richtiger Empfindung vorgetragen wird. Der Dichter-Komponist denkt die Melodie beim Dichten immer schon mit. Die Begeisterung vom Inhalt des Gedichtes gibt ihm die richtige, einzig passende Melodie ein. An dieser Erkenntnis freilich mangelt es dem unglücklichen „Merker“ Sixtus Beckmesser. Er stiehlt Stolzings Preis-Lied, weil er glaubt, dass es vom berühmten Meister Sachs stamme und er damit selbstverständlich den Preis werde erringen können. Auf der Festwiese singt er das Gedicht dann jedoch mit einer völlig unpassenden Melodie, er kann die richtige nicht finden, weil ihm die Begeisterung, der Enthusiasmus fehlt. Was Stolzings „schwer zu behaltende“ Weise melodisch gegenüber dem starren Regelwerk des Meistersangs auszeichnet ist ja ihr neuartiger, ekstatischer Charakter. Wie das Lehrstück der Meistersinger demonstriert, ist Wagners Komponieren, sein Selbstverständnis als Musikdramatiker, ganz auf Ekstase gestellt.

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„Die Musik, welche einzig dadurch zu uns spricht, daß sie den allerallgemeinsten Begriff des an sich dunklen Gefühles in den erdenklichsten Abstufungen mit bestimmtester Deutlichkeit uns belebt, kann an und für sich einzig nach der Kategorie des Erhabenen beurtheilt werden, da sie, sobald sie uns erfüllt, die höchste Extase des Bewußtseins der Schrankenlosigkeit erregt“ (Wagner o.J., b: 78).

Bekannt ist Wagners Deutung von Beethovens Siebenter Symphonie in A-Dur als „Apotheose des Tanzes“. Wagner empfand diese Symphonie als das Heiterste, was je eine Kunst hervorgebracht hat. Folglich kann diese auch nur auf einem ekstatischen Zustand beruhen: Können wir uns den Genius dieses Werkes anders als in begeisterter Entzückung vor uns aufschwebend vorstellen? fragt Wagner. „Hier wird ein Dionysosfest gefeiert, wie nur nach unseren idealsten Annahmen der Grieche es je gefeiert haben kann: laßt uns bis in das Jauchzen, in den Wahnsinn der Wonne gerathen, aber stets verbleiben wir in dem Bereiche erhabener Extase, himmelhoch dem Boden enthoben, auf welchem der Witz sich seine dürftigen Bilder zusammensucht. Denn hier sind wir eben in keiner Maskerade, dem einzigen Amüsement unserer ledernen Fortschrittswelt“ (Wagner o.J., c: 147f.).

Ekstase als Gegenentwurf zur Vernunft! Auch das gesamte musikalische Drama Wagners, das „Kunstwerk der Zukunft“, beruht auf einer solchen fortwährenden Ekstase. Und die alte Frage, warum die Darsteller in der Oper nicht wie normale Menschen sprechen, sondern eben singen – erhält bei Wagner nur durch diesen Zustand der höchsten Erregung ihre Legitimation. Was ist der Schauspieler außer dem Zustande der Ekstase, welcher andererseits das ganze Leben und Trachten des Schauspielers einzig erklären und rechtfertigen soll? fragt er (Wagner o.J., b: 259). Zur rechten Darstellung wird der Schauspieler befähigt sein, „... sobald er im bestimmten Falle vom rechten Geiste sich getrieben fühlt, für seine höchste Wahrhaftigkeit Zeugniß abzulegen.“ Sein Spiel ist keine alberne Maskerade zur Erheiterung des Publikums, sondern „die Ekstase der künstlerischen Selbstentäußerung“ (ebd.: 260). Problematisch bleibt dabei bis heute die entsprechende Körperbewegung, die Gestik der Darsteller. Oft versuchen Regisseure wie Sänger in großen Gesten oder gar dem Singen auf den

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Knien oder anderen unnatürlichen Körperhaltungen das ekstatische Moment darzustellen, was freilich oft eine eher peinliche Verdopplung dessen ist, was die Musik selbst ja viel besser zum Ausdruck bringt. Der vielleicht einzige Künstler, welcher Wagners Erwartungen zu seinen Lebzeiten erfüllte, war Ludwig Schnorr von Carolsfeld, der leider so früh verstorbene kongeniale Darsteller des Tristan. Böse Stimmen behaupteten damals, die großen Ekstasen des Tristan hätten diesen begnadeten Sänger umgebracht. Der wahre Schauspieler – oder wie Wagner ihn zumeist nennt – der Darsteller ist Mime im antiken Sinn, im Dienste des Dramas, dessen Wurzeln ja auch historisch im dionysischen Kult zu suchen sind. Die bakchische Ekstase und der dionysische Enthusiasmos sind es auch, welche den Dichterkomponisten (eine Personalunion, die Wagner für die Antike als selbstverständlich annahm) zur Produktion seiner Werke beflügeln. Dabei ist dieser Künstler durchaus kein einsamer Mensch, sondern wirkt im lebendigen Kreis der kultisch Eingeweihten, für Wagner die auf ihn eingeschworene Schauspielertruppe. Diese Truppe ist zunächst eine Vereinigung von Gleichgesinnten. Sobald aber einer dieser Darsteller sich das Anliegen eines Dramas in besonderer Weise zu eigen macht, d.h. vom Enthusiasmos ergriffen wird, soll er sich zum künstlerischen Gesetzgeber der Gemeinschaft aufschwingen dürfen. „Diktatur des Künstlers“ nennt Wagner diese Situation. Nach Erreichung seiner Absicht hat dieser Diktator jedoch wieder vollkommen in der Genossenschaft aller Künstler aufzugehen (Wagner o.J., d: 167). So Wagners Theorie und so auch seine Idealvorstellung einer künstlerischen Gesellschaft, die er ohne weiteres auf die bürgerliche Gesellschaft seiner Zeit übertragen wollte. Was in der großen Politik freilich Illusion und Utopie bleiben musste, verwirklichte der Enthusiast Wagner in seiner Kunst durchaus. Was er dabei von seinen Darstellern erwartete, nämlich die uneingeschränkte Begeisterungsfähigkeit für das Kunstwerk, das verlangte er natürlich auch von sich selbst. Ganz im Gegensatz zu den noch heute verbreiteten Gerüchten vom angeblich unerträglichen Charakter des Demagogen und Pumpgenies Wagner berichten Zeitzeugen immer wieder von seiner Fähigkeit zum Enthusiasmus und dem Vermögen, auch andere darin mitzureißen.

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Er selbst schildert in seiner Autobiographie die Proben zum Chorfinale von Beethovens „Neunter“, wo er an die dreihundert Sänger auf die ihm „besonders eigenthümliche Weise in wahre Extase zu versetzen“ gesucht habe. Es sei ihm z.B. gelungen, den Bassisten zu beweisen, dass die berühmte Stelle: „Seid umschlungen Millionen“, und namentlich das: „Brüder, über‘m Sternenzelt muß ein guter Vater wohnen“ … NB 6

… auf gewöhnliche Weise gar nicht zu singen sei, sondern nur in höchster Entzückung gleichsam ausgerufen werden könne. Er sei hierfür mit solcher Ekstase vorangegangen, dass er wirklich Alles in einen durchaus ungewohnten Zustand versetzt zu haben glaubte. Und er ließ nicht eher davon ab, als bis er selbst, den man zuvor durch alle Stimmen hindurch gehört hatte, sich nun nicht mehr vernahm, sondern sich wie in dem warmen Tonmeere ertränkt fühlte (Wagner o.J., e: 55). Berühmt wurde Wagners Vorlesung der Meistersinger-Dichtung im Hause Schott am 5. Februar 1862, welche Wagners damaliger Vertrauter, der Komponist Wendelin Weißheimer, als rhetorische Virtuosenleistung pries. Wagners Enthusiasmus habe sich dabei dermaßen gesteigert, dass er schon bald die Namen der handelnden Personen weglassen konnte, weil er durch Stimme und Ausdruck einer jeden Rolle ihren unverwechselbaren Charakter verlieh (Gregor-Dellin 1980: 488). Ein anderes Beispiel wird von den Proben zu Rheingold berichtet. Wagner, der sich bei der Arbeit inmitten seines „Theatervölkchens“ so recht heimisch fühlte, steigerte sich dabei zuweilen bis zum kindlichen Übermut, wenn er – um die Schauspieler bei Laune zu halten – auf der Bühne Purzelbäume schlug oder vom ersten Rang in die Proszeniumsloge hinüberkletterte (Glasenapp 1905a: 462). Als sich die Darstellerinnen der Rheintöchter weigerten, die eigens für sie konstruierten Schwimmapparate zu besteigen, zögerte Wagner nicht lange und machte es ihnen vor (Glasenapp 1905b: 255).

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In seinem Enthusiasmus erwartete Wagner dann aber auch die unbedingte Gefolgschaft aller Mitwirkenden. Auch das ist ein durchaus dionysischer Zug seines Charakters. Der Komponist Peter Cornelius, der ihm den Haushalt hatte führen sollen, hielt die Glut seines „Hexenmeisters“, wie er Wagner nannte, bald nicht mehr aus. In einem Brief an Joseph Standhartner vom Jahre 1865 beschreibt er die Unhaltbarkeit seiner Lage so: „Von dem Moment an, wo ich – nachmittags um 2 Uhr – bei ihm esse – ist an kein Loskommen mehr zu denken, das gelingt nur ausnahmsweise, und das ist ein Zustand, der mich umbringt. Und sagen kann ich ihm das nicht. Es wäre ungerecht, grausam – er versteht es nicht – ahnt nicht, wie mir solches Zusammensein Mark aus der Seele saugt...“ (Cornelius 1904: 25f.; Cornelius an Standhartner, Brief vom 24. Januar 1865).

Wagner verlangt – darin dem Gott Dionysos nicht unähnlich – bedingungslose Gefolgschaft, während er jede vernünftige Kritik empört von sich weist. Er könne überhaupt nur von denen verstanden zu werden hoffen, welche Neigung und Bedürfnis fühlten, ihn zu verstehen, und dies könnten eben nur seine Freunde sein, erklärt er unumwunden in der autobiographischen Schrift „Eine Mitteilung an meine Freunde“ (1849) (Wagner o.J., f: 231). Ein merkwürdiger Widerspruch der Wagnerrezeption hat wohl mit dieser alles absorbierenden Kraft seiner Kunst zu tun: Man muss Wagner entweder bedingungslos folgen oder ihn konsequent ablehnen, ein distanziert-objektives Verhältnis scheint kaum möglich zu sein. Einer seiner Gefolgsleute, die zu bedingungsloser Hingabe bereit waren, war auch der junge Friedrich Nietzsche. Wagner hatte ihn als eine Art Manager und Chefideologen des Unternehmens Bayreuth vorgesehen, und Nietzsche nahm diese Rolle zunächst auch an. „Die Geburt der Tragödie“ und noch die „Vierte Unzeitgemäße Betrachtung“ entstanden in dieser Zeit treuer Gefolgschaft. Erst als Nietzsche bei den ersten Bayreuther Festspielen 1876 klar wurde, dass Wagners Werke kein Mysterienspiel für wenige Auserwählte, sondern ein Riesenspektakel für die große, geldzahlende Menge war, wandte er sich enttäuscht ab. Der einstige Mystagoge Wagner hatte sich für Nietzsche als bloßer Schauspieler entlarvt. Mit einer erstaunlichen Sehergabe ließ Nietzsche ihn 1883 in der Vorrede zu seinem Zarathustra symbolisch als Seiltänzer zu Tode stürzen, just an dem

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Tag, an dem Wagner im Palazzo Vendramin in Venedig gestorben war. In den berühmten „Dionysos-Dithyramben“ setzte er sich dann selbst als neuer Dionysos an Wagners Stelle und glaubte diese auch bei Ariadne (so nannte er insgeheim Cosima Wagner) einnehmen zu dürfen.

Tristan und Isolde Wenn man über Anton Bruckner einmal (zu Unrecht) gesagt hat, er habe ein und dieselbe Symphonie zehnmal komponiert, so trifft das in einem gewissen Sinn auf Wagners dramatische Stoffe sehr wohl zu. Irgendjemand wolle bei ihm immer erlöst sein, bald ein Männlein, bald ein Fräulein, spottete Nietzsche im „Fall Wagner“. Die Erlösung sei sein Problem (Nietzsche 1954: 908). Dabei geht es immer wieder leitmotivartig um den Gegensatz zwischen Geistigkeit und Sinnlichkeit, einen Konflikt, der sich regelmäßig erst im Tode der Helden auflöst. Obwohl Wagner als Komponist dabei eine beispiellose Entwicklung durchläuft und seine dramatischen und musikalischen Mittel ständig erweitert und vervollkommnet, so stellt ein Werk doch den absoluten Höhepunkt seiner ekstatischen Ausdruckskraft dar – „Tristan und Isolde“. Der dramatische Konflikt ist hier – fast bar aller Handlung – auf ein großes Liebespaar konzentriert. Was Wagner durch diese Reduktion gewinnt ist eine ungleich größere musikalische Freiheit gegenüber den dramatischen Erfordernissen des Stückes, als dies beispielsweise im Ring des Nibelungen möglich gewesen war. Er habe sich in Tristan und Isolde musikalisch ausrasen wollen, wie wenn er eine Symphonie geschrieben hätte, erklärt er gegenüber Cosima (Wagner 1976/77a: 185; Eintrag vom 28. September 1878). Ursprünglich hatte es sogar eine „italienische Oper“ für Dom Pedro II., Kaiser von Brasilien, werden sollen (Wagner 1976/77b: 206; Eintrag vom 6. März 1870), jedenfalls ein leicht aufführbares Stück – es wurde aber der „Tristan“ – ein Werk, welches die musikalische Welt verändern sollte wie kaum ein anderes zuvor. Es liegt mir fern, hier eine Würdigung dieses ungeheuren, im wahrsten Sinne des Wortes ekstatischen Werkes auch nur annähernd versuchen zu wollen. Einige Beobachtungen müssen genügen. Wenn wir uns einmal fragen, worin das Ekstatische der Musik denn überhaupt besteht, über welche ekstatischen Ausdrucksmit-

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tel die Musik im einzelnen verfügt, so sind vor allem die gestische Melodik, die steigernden Sequenzen, die Umfärbung von Tonstufen (also die Chromatik), der synkopische Rhythmus, die Verschiebung des Metrums und schließlich die Auflösung der Form zu nennen. Alle diese Merkmale des Ekstatischen lassen sich schon an den ersten Takten des Tristan-Vorspiels beobachten. NB 7: Tristan-Vorspiel

Dreimal wird das Eingangsmotiv, das sog. chromatische Liebesmotiv, sequenziert, von „redenden Pausen“ unterbrochen, wobei es schon beim dritten Male aus dem Takt kommt und somit das Metrum synkopisch verschiebt. Dabei durchläuft das Motiv die gesamte chromatische Skala, also eine Zwölftonreihe vom gis' bis gis''. Diese Folge kleinster musikalischer Distanzen bildet die eigentliche Substanz des gesamten Werkes und ist für sein unverwechselbares Kolorit verantwortlich. Der Halbton mit seiner Leittonspannung erzeugt jenes unendliche Sehnen, welches den Grundgestus dieser Musik ausmacht. Genau besehen besteht das chromatische Liebesmotiv aus zwei gegenläufigen chromatischen Skalen, die sich wie eine absteigende (f-e-dis-d) und eine aufsteigende melodische Linie (gisa-ais-h) zueinander verhalten. Beide Linien beschreiben die Dramaturgie des Stückes zwischen Tagwelt (die aufsteigende) und Nachtwelt (die absteigende Linie). Die alte Zweiweltendramaturgie der Feenmärchen erhält hier im Tristan eine musikalischphilosophische Dimension. Das Motiv ist aber durchaus auch mu-

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sikalisch-kontrapunktisch gedacht, wobei die beiden gegenläufigen chromatischen Skalen metrisch gegeneinander verschoben sind. An ihrem Schnittpunkt steht ein Akkord, welcher Musikgeschichte geschrieben hat: f-h-dis-gis, der so genannte TristanAkkord. Da dieser Akkord im harmonischen Verlauf dieser Passage nicht aufgelöst wird, ist er funktionsharmonisch und genetisch schwer zu erklären, er tritt aus dem tonalen Gefüge gewissermaßen heraus. Obwohl die gesamte Einleitung – rein orthographisch gesehen – in a-moll steht, hat sie kein tonales Zentrum mehr. Wenn es aber kein tonales Zentrum, keine Tonika mehr gibt, so schwindet auch die auf Dominantspannung beruhende musikalische Logik und damit letztendlich die darauf gegründete musikalische Form. Dennoch ist kaum anzunehmen, dass Wagner, welcher harmonischen Spekulationen stets abgeneigt war, hier bewusst eine „Krise der Harmonik“, wie Ernst Kurth die Folgen des „Tristan“ in seinem berühmten Buch benannt hat, herbeiführen wollte. Sein Anliegen scheint vielmehr ein symbolisches gewesen zu sein. In einem Brief an Mathilde Wesendonck vom 3. März 1860 klagt Wagner über sein Gefühl der Heimatlosigkeit in dieser Welt, in der ihm alles fremd sei. Sehnsüchtig blicke er oft nach dem Land Nirvana. Doch Nirvana werde ihm schnell wieder „Tristan“; Mathilde kenne ja die buddhistische Weltentstehungstheorie: „Ein Hauch trübt die Himmelsklarheit: das schwillt an, verdichtet sich, und in undurchdringlicher Massenhaftigkeit steht endlich die ganze Welt wieder vor mir.“ Und dazu fügt Wagner das sog. chromatische Liebesmotiv, d.h. jene aufsteigende chromatische Skala gis-a-ais-h, des Vorspiels. NB 8:

Mit anderen Worten: Die absteigende Linie bedeutet Nirvana, Erlösung im Tod, die aufsteigende die Welt und damit Sehnsucht und Leiden. Richard Strauss war es, welcher als erster erkannte, dass in diesen wenigen Takten somit im Grunde das gesamte musikalisch-dramatische Geschehen des Tristan komprimiert vorliegt, welches dann nur noch ekstatisch entfaltet wird. Kongenial

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EKSTASE

fügte er daher diese ersten Takte mit dem Schluss des Tristan zusammen.

NB 9:

Der Philologe Wagner nimmt damit übrigens schon in den ersten Takten des Tristan-Vorspiels eine interessante Deutung des Namens Tristan, welcher zumeist als „der Traurige“ verstanden wird, vor: lat. tristis heißt bekanntlich nicht nur „traurig“, sondern auch „trübe“. Es ist gerade diese Vorstellung einer Eintrübung, welcher die Chromatik mit ihren historisch gewachsenen Konnotationen des Ekstatischen am besten entsprach. Der berühmte Tristan-Akkord erweist sich in der entscheidenden Szene (1. Aufzug, 5. Szene), in welcher Isolde Tristan den Todestrank reicht, nochmals als äußerst symbolträchtiges Gebilde – nämlich als ein Symbol des Todes. Isolde, welche Tristan heimlich liebt, von diesem aber für seinen Oheim König Marke als Braut geworben wurde, versucht Tristans falsche Ehrsucht zu durchbrechen, ohne dabei selbst ihre wahren Gefühle zeigen zu müssen. Es entspinnt sich ein Dialog gegenseitiger Vorwürfe und Entwertungen, der schließlich bis zum Todesentschluss eskaliert. Isolde reicht Tristan den Todestrank. „Beide, vom Schauer erfasst, blicken sich in höchster Aufregung, doch mit starrer Haltung, unverwandt in die Augen, in deren Ausdruck der Todestrotz bald der Liebesglut weicht ...“ (Regieanweisung). – Todestrotz und Liebesglut. Beides ekstatische Zustände, die unter entgegen gesetztem Vorzeichen auf ein Gleiches hinauslaufen – die Aufgabe der individuellen Existenz. Wie bewusst Wagner sich dieser bloßen Vorzeichenverkehrung in der Beziehung der beiden Protagonisten war, beweist ein Blick auf seine Partitur: NB: 10 Todestrank und Liebestrank

f-h-dis-gis

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f-ces-es-as

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Bekanntlich wurde der Todestrank versehentlich gegen den Liebestrank vertauscht. Das freilich ist ein Requisit der Zauberoper, das Wagner nicht mehr genügt, weshalb er es psychologisch deutet – als Umkippen eines ekstatischen Hasses in eine ebenso ekstatische Liebe. Im entscheidenden Moment der geheimnisvollen Wandlung erklingt der „Tristan-Akkord“ f-ces-es-as über drei Takte hin, um in einem vierten Takt jedoch umgedeutet zu werden nach f-h-dis-gis. So wandelt sich der Todestrank zum Liebestrank – durch enharmonische Verwechslung! Das zerstörerische Spiel gegenseitiger Verneinung und Entwertung des ersten Aufzuges schlägt nun in den Jubel gegenseitiger Liebesbezeugungen um, freilich ein Spiel, das wie jenes zur Eskalation neigt. Als musikalisches Mittel der Ekstase hatten wir schon im Tannhäuser Wagners berühmte Sequenztechnik kennen gelernt. Diese Technik erfährt im Tristan nun eine Steigerung, die kaum noch zu überbieten war. Ja der Tristan gab diesen groß angelegten Steigerungen sogar den Namen – Tristansteigerungen. Diese Tristansteigerungen sind im Grunde nichts anderes als auskomponierte Ekstasen, freie musikalisch-dynamische Spannungsbögen, in denen Wagner sich musikalisch ausrasen konnte. Das Prinzip der modulierenden Sequenz wie wir es aus dem Tannhäuser kennen, bleibt hier durchaus erhalten, nur mit einem Unterschied: Die Steigerung hat kein Ziel mehr. Nachdem sie ihren Höhepunkt erreicht hat, klingt die Erregung sehr schnell ab. Das große Liebesduett im zweiten Aufzug ist kein Durchbruch mehr, sondern ein ständiges Auf und Ab von Spannung und Lösung, Sehnsucht und Ruhe – oder wie Schopenhauer es formuliert hätte: Schmerz und Langeweile. Im „Tristan“ gelangt Wagner unter dem Einfluss Schopenhauers und seiner von diesem Philosophen angeregten Beschäftigung mit dem Buddhismus zu der Erkenntnis, dass auch die höchste Ekstase keine dauerhafte Befriedigung gewährt. Alles Glück sei nur negativer, nicht positiver Natur, konnte Wagner bei Schopenhauer lesen, weshalb es eben keine dauernde Befriedigung und Beglückung sein kann, sondern immer nur von einem Schmerz oder Mangel erlöst, auf welchen entweder ein neuer Schmerz, oder auch „languor“, leeres Sehnen und Langeweile folgen muss (Schopenhauer 1977: 218). Schopenhauers Weg aus diesem Dilemma ist bekannt: Die Verneinung des Willens zum Leben, die Erlösung im Tod. Dieser Weg war es ja

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auch, den Isolde, die große Zauberin im ersten Akt, hatte weisen wollen. Denn der Tod, so sagt der Philosoph, zerbricht nicht den Willen an sich, sondern nur das principium individuationis, welches die Ursache allen Sehnens und Leidens ist. Friedrich Nietzsche, für den von Wagners Werken im Grunde nur der Tristan ernsthaft in Betracht kam, bezog sich auf den Philosophen, wenn er in der Geburt der Tragödie schrieb: „Wenn wir zu diesem Grausen die wonnevolle Verzückung hinzunehmen, die bei demselben Zerbrechen des principii individuationis aus dem innersten Grunde des Menschen, ja der Natur emporsteigt, so tun wir einen Blick in das Wesen des Dionysischen, das uns am nächsten noch durch die Analogie des Rausches gebracht wird“ (Nietzsche 1954, 24).

Dass es auch im zweiten Akt nur um den Tod Tristans und Isoldes gehen kann, ist eindrucksvoll durch die umgestürzte Fackel am Ende der 1. Szene symbolisiert. Nachdem die musikalische Erregung zur Ruhe gekommen ist, baut sich schon bald ein neuer Spannungsbogen auf. Es entsteht ein ständiges Auf und Ab von Spannung und Lösung, Sehnsucht und Ruhe. Graphisch kann man das als homöostatisches, d.h. auf Gleichgewicht der Kräfte angelegtes System, etwa so darstellen: Abb. 2 Homöostatischer Spannungsbogen der „Tristansteigerungen“

Auch psychische Energie kann nicht verloren gehen. Gerade weil die Tristansteigerungen asymmetrisch verlaufen, entsteht ein affektiver Überschuss, der sich rauschhaft auf das Publikum überträgt. Mit keinem anderen Werk gelang es Wagner so wie mit dem „Tristan“, das Publikum in Ekstase zu versetzen. Da die Konvention der Opernhäuser eine unmittelbare Reaktion und Beteiligung am ekstatischen Geschehen, wie sie zum Wesen des Dionysischen eigentlich gehört, jedoch verbietet, so baut sich nun auch im Pub-

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likum ein psychischer Stau auf, der sich in frenetischem Beifall, Pfeifen, Johlen, Stampfen und Toben an den Aktschlüssen entlädt. Erst im dritten Aufzug des Tristan gelingt dem liebenden Paar, was im ersten und zweiten Aufzug durch das Dazwischentreten der Tagwelt immer wieder verhindert worden war – die endgültige Vereinigung in Nacht und Tod. Zwar eilt König Marke ans Lager des siechwunden Tristan, um dem Liebespaar seinen Segen zu geben, nachdem er die Kunde vom Liebestrank erhalten hat, aber er kommt zu spät. Was hätte er ändern können? Tristans Todesentschluss war schon im ersten Akt gefasst und Isolde folgt ihm darin. Diese letzte ekstatische Szene, bekannt und berühmt als „Isoldes Liebestod“, ist ein rein seelischer Vorgang. Dieser kann nicht gezeigt werden und bleibt daher ganz der Musik vorbehalten. Wagner selbst bevorzugte übrigens die Bezeichnung „Isoldes Verklärung“, was den Sachverhalt wohl auch besser trifft. Er habe das Glück, dass nichts mehr zwischen den Liebenden ist, dass alles vergessen wird und den Wunsch, diesen Zustand durch den Tod festzuhalten, darstellen wollen, erklärte Wagner Cosima (Wagner 1976/77a: 236; Eintrag vom 20. November 1878). Als der deutsche Kaiser den Tristan gehört hatte, soll er ausgerufen haben: „Wie muß Wagner damals verliebt gewesen sein!“ Aber war es wirklich nur die Liebe zu Mathilde Wesendonck gewesen, die Wagner ein solches Werk schreiben ließ? Wagner selbst reagierte empört: „In ein Meer von Liebe habe er sich damals versenken wollen beim Tristan, diese unerfüllte Sehnsucht gäbe solch ein Werk ein, nicht die Erfahrung“ (ebd.: 952; Eintrag vom 2. Juni 1882). Mit dem letzten Akkord in H-Dur, den Richard Strauss einmal den am schönsten instrumentierten Akkord der Musikgeschichte genannt hat, kommt das unendliche Sehnen zur Ruhe und verklingt gleichsam im Nichts.

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Literatur Adorno, Theodor W. (1974): Versuch über Wagner. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Boethius, Anicius Manlius Severinus (1966): Institutione musica. In: Friedlein, Gottfried (Hg.): Anicii Manlii Torquati Severini Boetii De institutione musica libri quinque. Frankfurt a.M.: Minerva. Cornelius, Peter (1904): Peter Cornelius an Joseph Standhartner. In: Literarische Werke. Bd. 1 u. 2. Ausgewählte Briefe. Hg. von Carl Maria Cornelius. Bd. 2. Leipzig: Breitkopf & Härtel. Dörrie, Heinrich (1979): Art. „Ekstasis“. In: Ziegler, Konrat/Sontheimer, Walther (Hg.): Der Kleine Pauly. Lexikon der Antike in 5 Bänden. München. Bd. 2, Sp. 226. Glasenapp, Carl Friedrich (1905a): Das Leben Richard Wagners in sechs Büchern dargestellt. Bd. 6. 4. Aufl. Leipzig: Breitkopf & Härtel. Glasenapp, Carl Friedrich (1905b): Das Leben Richard Wagners in sechs Büchern dargestellt. Bd. 5. 4. Aufl. Leipzig: Breitkopf & Härtel. Gregor-Dellin, Martin (1980): Richard Wagner. Sein Leben, sein Werk, sein Jahrhundert. München: Piper. Nietzsche, Friedrich (1954): Der Fall Wagner. In: Nietzsche Werke in drei Bänden. Hg. von Karl Schlechta, Bd. 2. München: Hanser. Nietzsche, Friedrich (1954): Die Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik. In: Nietzsche Werke in drei Bänden. Hg. von Karl Schlechta, Bd. 1. München: Hanser. Pötscher, Walter (1979): Art. „Orgia“. In: Ziegler, Konrat/Sontheimer, Walther (Hg.): Der kleine Pauly. Lexikon der Antike in 5 Bänden. München, Bd. 4, Sp. 339. Roch, Eckhard (2001): Chroma – Color – Farbe. Ursprung und Funktion der Farbmetapher in der antiken Musiktheorie (=Neue Studien zur Musikwissenschaft, Band VII). Mainz/ London u.a. Schopenhauer, Arthur (1977): Die Welt als Wille und Vorstellung. Werke in zehn Bänden. Bd. 1. Zürich: Diogenes. Schumann, Robert (2006): Schumann an Mendelssohn. In: Sousa, Karin (Hg.): Robert Schumann. Schlage nur eine Weltsaite an, Briefe 1828-1855. Frankfurt a.M./Leipzig: Insel Verlag.

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ECKHARD ROCH: MUSIK UND EKSTASE

Wagner, Cosima (1976/77a): Die Tagebücher. Ediert und kommentiert von Martin Gregor-Dellin und Dietrich Mack. München. Bd. 2. Zürich: Piper Verlag. Wagner, Cosima (1976/77b): Die Tagebücher. Ediert und kommentiert von Martin Gregor-Dellin und Dietrich Mack. München. Bd. 1. Zürich: Piper Verlag. Wagner, Richard (1963): Mein Leben. Zweiter Teil (1842-1850). Hg. von Martin Gregor-Dellin. München: Paul List Verlag. Wagner, Richard (1988): Das Braune Buch. Hg. von Joachim Bergfeld. München/Zürich: Piper Verlag. Wagner, Richard (o.J. a): Sämtliche Schriften und Dichtungen. Volksausgabe, Bd. 7. Wagner, Richard (o.J. b): Sämtliche Schriften und Dichtungen. Volksausgabe, Bd. 9. Wagner, Richard (o.J. c): Sämtliche Schriften und Dichtungen. Volksausgabe, Bd. 10. Wagner, Richard (o.J. d): Sämtliche Schriften und Dichtungen. Volksausgabe, Bd. 3. Wagner, Richard (o.J. e): Sämtliche Schriften und Dichtungen. Volksausgabe, Bd. 2. Wagner, Richard (o.J. f): Sämtliche Schriften und Dichtungen. Volksausgabe, Bd. 4.

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Gert Schmidt

Exzesskonsum Die Ekstase der Heckflosse

Der folgende textbegleitete Bilder-Artikel bewegt sich in einem anspruchsvollem Assoziationen-Gelände: Zu tun bekommen wir es mit Sinnlichkeit – sinnlicher Wahrnehmung mit gedanklicher Sinn-Bildung – nicht selten dramatisiert über die SinnUnsinnfrage und schließlich speziell auch mit Spannungslagen moralisch-ethischer Sinn-Gebung! Die nicht ungefährlichen Stichworte, mit denen wir uns im angezeigten Assoziations-Gelände bewegen, sind Exzess und Ekstase. Der gegenständliche Gegenstand unserer Beobachtungsbemühungen sind Automobile – also nicht beliebig und zufällig gestaltete, geformte Konsumgüter, d.h. Blech-Kunststoff-Skulpturen als ökonomische Sachverhalte und als Expression (Zeichen, Signal, Symbol).

Anlauf zum Thema: Gestalt Automobil „Das Maß der Schönheit eines Autos hängt von der Harmonie seiner äußeren Erscheinungsform, nicht von der Zutat an Schnörkeln und Zierrat ab. Der vollendete technische Organismus muß also seine würdige Ergänzung in einer ausgereiften wohlproportionierten Form finden, die in ästhetischem Sinne genauso funktioniert wie der technische Apparat selbst.“ So äußerte sich Walter Gropius anlässlich der Vorstellung seines berühmten Adler-Automobils um 1930.

Auch Jahrzehnte später noch gibt es Automobile, die in ihrem Äußeren den Gestaltungsnormen Gropius’ für Automobile weitgehend entsprechen – sie begnügen sich mit dem Nützlichen als Vorlage für Gestaltung, vorgestellt wird Zweckform als Gebrauchs- und Tauschwert: Form follows Function.

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EKSTASE

Adler 1931

Checker 1978 Das „Checker-Taxi“ – das lange Zeit das Stadtbild von New York City beherrscht hat, aber auch in anderen amerikanischen Großstädten genutzt wurde – entspricht weitgehend den Anforderungen von: Form follows Function. Im Folgenden wird versucht, die Gestaltungsfrage des Automobils zwischen Nutzwertästhetik und expressiver Tauschwertästhetik (als Verwertung von Nutzlosigkeit im Modus von Mode – Verführung – Täuschung und Werbung) etwas systematischer und „basaler“ abzubilden. Das Studium führt dabei von der Wahrnehmung der Doppelnatur des Automobils zur Doppelkultur des Automobils: Das Automobil als „Instrument“, d.h. als Werkzeug – und: Das Automobil als „Expression“ d. h. als Kleidung. Unser Interesse an einer differenzierten Betrachtung der gesellschaftlichen Einbettung des Automobils wird mittels des folgenden Schemas angezeigt:

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GERT SCHMIDT: EXZESSKONSUM

Die dritte Säule der Grafik (Zeigen – Anzeigen – Ästhetik) artikuliert das Thema Automobil als Show-Zeug und führt uns heran an die Stichworte: Exzess, Konsum und Ekstase. Hiermit sind wir dann bei „unseren“ Heckflossen angelangt!

Heckflossen in Natur und Technik Zunächst einige Bildassoziationen zum Stichwort „Heckflossen“:

Verwiesen ist über das Stichwort „Heckflosse“ auf einige höchst unterschiedliche Assoziationsfelder:

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EKSTASE

Die Zoologie höheren Lebewesen kennt Heckflossen sehr verschiedener Ausbildung etwa bei Fischen und bei Vögeln; und Ingenieure sowie Technikhistoriker vermögen beachtliche Formenreihen von Heckflossen bei Flugzeugen, Zeppelinen und Raketen zu identifizieren. Ob mit Blick auf Mauersegler, Wale, Avro Lancaster-Bomber oder verwandtes Fluggerät – die Funktionsbestimmung von Heckflosse ist zunächst einmal recht eng zu fassen: Richtungweisend sind Flossen und deutlich sind sie als Steuerungsinstrumente zu erkennen. Technikpoesie entdeckt Flossen als statische Elemente Bewegung anzeigend – und kontrollierte Bewegung in flüssigem und luftigem Medium erst ermöglichend. Und auch dies ist angeregt: Bewegte Flossen ermöglichen auch dynamische Statik, das Herstellen von starrer Position als gezielte Vorteilsnahme in bewegtem Geschehen (dies gilt etwa für das „Rütteln“ des mäusejagenden Sperbers). Auch aus der Automobilhistorie lässt sich hierzu eindrucksvoll bereits aus früher Zeit berichten: Ein Laurin & KlementRennwagen aus dem Jahre 1907 zeigt deutlich den Versuch, Tailfins technisch-naturwissenschaftlich zu nutzen. Ästhetische Überlegungen dürften noch keine große Rolle gespielt haben, wohl aber die Absicht, gegenüber anderen Rennern durch Flosseneinsatz Vorteil zu gewinnen.

Laurin&Klement 1907

Sunbeam 1929

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GERT SCHMIDT: EXZESSKONSUM

Heckflossen am Automobil: Von „Funktion“ zu „Fiktion“ Angesagt ist mit Heckflossen nun aber ohne Zweifel auch die Chance ästhetischer Anmutung: zu tun haben wir es mit der Anschauung der Eleganz von Bewegung und der Freude an Schönheit der Form. Diese können wir etwa bei teuren familientauglichen Aquarienfischen bewundern oder auch bei nicht-familientauglichen Haien bestaunen. Keine Frage: Heckflossen gehören zu den leichteren Übungen eines Nachvollziehens der gezielten Übernahme von Naturformen in die technische Produktgestaltung – mit Bedeutung weit übers „Technische“ hinaus. Es ist die Imitation von in Natur vorgefundenen Formen ja seit Jahrtausenden schon reiche Quelle menschlicher Erfindungsgabe gewesen; auch Goethe hätte seine eidetisierende Naturwissenschaft über Heck-Flossen-Beobachtungen ein Stück weit vorantreiben können. Die Flossen bei Automobilen, die uns im Folgenden interessieren, sind diesen offensichtlich erst einmal nicht „wesentlich“.

Chevrolet 1957 Man könnte Heckflossen zum einen vergleichen mit der Schnalle auf einem Schuh; oder allgemeiner in der Sprache der Bekleidungsexperten gefasst: Tailfins sind „Applikation“ – freilich zuweilen Applikationen von besonderer „Mächtigkeit“. Tailfins lassen sich aber zum anderen auch als „Entfaltungen“ der Skulptur Automobilkarosserie ansehen.

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Heckflossen sind Behauptungen allgemein ästhetischer Geltung und Distinktions-Attacken. Als ästhetische Projekte sind Heckflossen in beachtliche gesellschaftliche Wahrnehmungsspannungen einbezogen – etwa mit Blick auf den Topos „Ästhetik und Sexualität“. Heckflossen sind vor allem auch Angebote für den Käufer. Wie die Schnallen auf den Schuhen sind „Fins“ wesentlich Elemente der Komodifizierung und der gesteigerten Marktwertigkeit von Automobilen; sie sind auch ökonomische Projekte. Es sind Ästhetik und Ökonomie hier deutlich aufeinander verwiesen. Formen von menschengestalteten Gegenständen sind immer Ausdruck einer Vielfalt von ökonomischen, sozialen und kulturellen Einflussmomenten. Grundlegendes zur sozialen Konstitution von Form hat uns schon Georg Simmel am nur scheinbar entlegenen und artifiziellen Beispiel des „Henkels“ beigebracht. Der sog. Zweck des Henkels gibt lediglich einen höchst (be-)dürftigen Hinweis auf die Begründung seiner Gestalt an den verschiedensten Versionen von Kannen, Tassen und Vasen. Von Georg Simmel bis zu Roland Bach erstreckt sich ein weites Feld literatur- und sozialwissenschaftlicher Gestalt- und Gestaltungsanalyse. Immer wird die Spannung mitgeteilt zwischen Wahrnehmung und Erfahrung von Gestalt und Gestaltungsnormen. Auch Siegfried Giedions Anstrengungen um ein vernunftorientiertes Qualitätsurteil sind nach wie vor anstoßend, wie auch Walter Benjamins Versuch einer kritischen Phänomenologie der „modernen Zeiten“. Faszinierend ist das Beharren der Intellektuellen auf der Gültigkeit eines objektiven Gegenübers von „Notwendigem“ und „Überflüssigem“ (wie dies klassisch etwa von Arnold Schönberg mit Blick auf Avantgardemusik versus Operette formuliert wurde). Vor dem Hintergrund der „wirklichen“ Bewegungen des Ästhetischen auf der Ebene von Konsumkultur erscheinen die Wahrnehmungen und Erregungen der Sachverwalter des Schönen und Wahren – etwa mittels der Formel „Form follows Function“ vorgetragen – allerdings immer wieder als hilflose Gesten von Disziplinierungsversuchen von fast hoffnungslos untalentierten und unwilligen Zöglingen.

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GERT SCHMIDT: EXZESSKONSUM

Notiz zur Geschichte der Heckflosse als Styling: Wie die Heckflosse ans Auto kam Der berühmte „Tatra“ von 1937 zeichnet ein letztes Versuchen der technischen Funktion von Heckflosse im Design einer Autokarosserie zu vermitteln. Der Cadillac von 1948 eröffnet dann die Geschichte der Heckflosse als Styling-Element ohne jeden Anspruch an Funktion (oder auch nur Funktionsassoziation).

LOCKHEED P38

Tatra 1947

Cadillac 1948

Es machte die Geschichte die Runde: Der Chefdesigner von General Motors Harley Earl war inspiriert vom Anblick der doppelschwänzigen Gestaltung, die dem Jagdflugzeug Lockheed Lightning (P 38) ein unverwechselbares Aussehen am Boden und in der Luft gaben. Sofort nach Kriegsende, als es darum ging, die ersten neuen Autorkarosserie-Entwürfe auszuarbeiten, ging Earl daran, die Idee umzusetzen. Die ersten Ansätze von Heckflossen sind bei der General Motors Topmarke Cadillac 1948 zu besichtigen. Es handelt sich hierbei um eine durchaus vorsichtige – fast möchte man sagen zarte – Aufnahme des neuen Stilelements. Noch lässt sich nichts erahnen von dem Triumph der Tailfins in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre. Deutlich angezeigt wird freilich bereits eine für die kommenden Jahre prägende neue „Balancierung“ in der Karosseriegestaltung: Stand bis vor dem 2.

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EKSTASE

Weltkrieg vor allem die Frontpartie als Thema für „herausragende“ Karosseriegestaltung im Zentrum des Interesses, so rückt nun das Heck des Fahrzeuges als fast gleichberechtigte „Ausstellungsfläche“ heraus. Die ersten Versuche in Sachen Heckflossen sind Ausdruck eines insgesamt sich wandelnden Designs nach dem 2. Weltkrieg, einer gestalterisch-künstlerischen Doppelbewegung des „bodyshapings“: zum einen Einziehen der Funktionselemente Kotflügel, Trittbretter und Stoßfänger in die Skulptur und zum anderen neue „freie“ Ausfaltung dieser Skulptur. Zur Illustration im Folgenden ein paar Beispiel-Karossen aus der Früh- bzw. Vorzeit der Heckbeflossung von Automobilen. Wir beobachten: Bescheidene Andeutung – und erste exzessive „Angriffe“ – in der ersten Hälfte der fünfziger Jahre. CHEVROLET 53 BUICK 49

CADILLAC 54

PONTIAC 55 BUICK 54

Entscheidende „Anzeigen und Impulse“ für Exzess und Ekstase der Heckflosse liefern die so genannten Dreamcars der drei großen Automobilhersteller in Detroit: General Motors, Ford und Chrysler, für die Harley Earl und Virgil Exner die Vordenker bzw. Vorbildner sind.

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GERT SCHMIDT: EXZESSKONSUM

Von: Form Follows Function zu: Form Follows Fiction

Harley Earl

Chrysler „Dart“ 1957

Buick „Le Sabre“ 1951

Virgil Exner

Der Buick „Le Sabre“ 1951 ist zur Dreamcar-Ikone geworden. Exners bestes Pferd, der „Chrysler Northman“ ist leider mit der Andrea Doria 1956 im Atlantik versunken. Die TraumwagenFaszination war deutlich „amerikanisch“ – es gab aber auch ein paar europäische Träumer, sogar solche mit Heckflossenträumen, z. B. C. W. Borgwards Projekt eines Heckflossen-Traumwagens. Der „Durchbruch“ der Heckflosse erfolgte in der Massenproduktion 1957 – zunächst mit Exner (Plymouth und Chrysler) als innovativer Radikaler! Harley Earl von General Motors – alarmiert durch Vorabbilder von den kommenden Chrysler-Produkten – schlug dann ab 1958 „gewaltig“ zurück. Zu Ende der fünfziger Jahre übernahm dann General Motors wieder die Design-Führerschaft. Sehen wir uns ein paar der Zeitstil prägenden Heckflossler näher an: Chevrolet 59 als „Impala“ berühmt geworden, Chrysler

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EKSTASE

57, von dem italienischen Karosseriekünstler Ghia mitgestaltet – und Buick 1959, die wohl „stilsicherste“ konsequente Bearbeitung der Heckflosse als Element des Automobildesigns.

Plymouth 1957

Chrysler 1957

Chevrolet 1959

Buick 1959 Ergänzend noch zwei besonders einprägende Nahansichten von Heckflossen der Endfünfzigerjahre: Buick 1958 und Cadillac 1958.

Die Heckflosse des Cadillacs von 1959 repräsentiert in der Geschichte des Automobildesigns dann ohne Frage das „Spitzenprodukt“ der Epoche! Hier wurde die Applikation zum den gesamten Gestalt-Korpus definierenden Element – eine Steigerung erschien nicht mehr möglich!

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GERT SCHMIDT: EXZESSKONSUM

Cadillac 1959

Heckflosse als Exzess und Ekstase Anreichern lässt sich das Studium der Heckflossen-Automobile auch mittels Verweis auf das neuerdings gerne benutzte Konzept der sog. „Cyborgs“. Diese sind als spezifisch elaborierte Verknüpfung oder Synthesis von Handeln und Technik gedacht und speziell Automobile werden in manchen Kulturanalysen als „Cyborgs“ identifiziert. Erweitert könnte man sagen, das Automobil ist gewissermaßen eine „lebende Skulptur“. Die Cyborgs, so könnte man die Metapher aufgreifen und weiter „verdichten“, wollen sich nicht nur von einem Ort zum anderen bewegen, sondern sie wollen auch attraktiv sein und sie wollen letztlich vielleicht sogar „angebetet“ werden! Diese Gedankenführung kann dann überleiten zu massiv religionssoziologischen Assoziationen: Das amerikanische Automobil der endfünfziger Jahre mit seinen „tailfins“ als beweglicher und bewegender häuslicher Schrein.

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Greifen wir dann noch einmal unsere beiden Leitformeln: Exzess und Ekstase auf. Der Terminus Exzessiv benennt eine adjektivische Steigerungsform, die entweder ein extrem hohes („sehr sehr“) oder übersteigertes Maß („zu“) der bezeichneten Eigenschaft ausdrückt. Ekstase (ekstasis): Außer-sich-Sein, Verzückung, Entrückung der Seele von den Eindrücken der Sinne, Steigerung des Bewusstseins über alles Normale hinaus zur erregten, phantasievollen, gefühlsmäßigen Erfassung geistiger Inhalte in einer lebendigen Vision. Die Zustände der Ekstase sind von hoher psychologischer, sozialer, religiöser, ethischer, ästhetischer Bedeutung

LTA-Museum Tina Klitzing 2004 Zwei pointierte Zitate prominenter Autoren mögen den Zusammenhang von Heckflossengestaltung, Automobilkarosserie und Exzess/Ekstase nochmals beleuchten. Angezeigt wird in den beiden Zitaten das sozialphilosophische und gesellschaftstheoretische Spannungsfeld einer Zeitdiagnose der Heckflossen – die Fundierung der Assoziation Exzess zum einen und die Andeutung

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der Referenz Ekstase zum anderen: „Listen, I’d put smokestacks right in the middle of the sons of bitches if I could sell more cares“ (Harley Earl). Und: „Die Ware ist rebellisch geworden und jauchzt, springt, platzt vor Vergnügen” (Walter Benjamin).

Zur gesellschaftsgeschichtlichen Einbettung der „Heckflossen-Epoche“ Die zehn Jahre zwischen 1949 und 1959 können auch gesehen werden als die kurze Zeit einer Wirklichkeit des „American Dream“ in Amerika oder: als kurze Periode eines eingelösten „Versprechens“ immerwährender Prosperitätssteigerung im Lande. Die Heckflossen reflektieren in dieser Sicht auch ein historisches Middleclass-Festival – die Ausbreitung der modernen „Suburbia“ mit den Einkaufmalls und all den Objektivierungen des modernen „Travelling America“ und des „American way of Life“ insgesamt. Der American way of Life, der sehr stark auch mitgetragen wurde durch die Assoziation Automobil, wurde bekanntlich in der 50er und 60er Jahren auch Vorbild für Lebensweltorientierungen und –träume außerhalb der Vereinigten Staaten von Amerika. Dabei ist selbstverständlich festzuhalten: Auch die 50er Jahre sind für viele Millionen Amerikaner „arme“ Jahre gewesen. Und dennoch: Wie selten vorher und auch nicht mehr hinterher werden die 50er Jahre erfahren als Periode der stetigen Steigerung von Wohlstand für immer mehr amerikanische Staatsbürger. Die Eisenhower-Jahre gehen ein in die amerikanische Geschichte als die vielleicht „amerikanischsten“ Jahre für Amerika selbst; es handelt sich hier um die Periode zwischen dem Koreakrieg und dem Vietnamkrieg. Die Automobile der Epoche dokumentieren das kollektive Selbstbewusstsein der Nation nach dem 2. Weltkrieg und darüber hinaus die spezifische Geschichtserfahrung der amerikanischen Kriegsgeneration. Es gibt einen enormen Nachholbedarf an „komfortabler Lebenswelt“ und gewiss auch den Anspruch, als „Sieger“ die Nachkriegszeit mit zu erfahren. Die Leitideen der Formgestaltung setzen die technischen Erfolgsmeldungen um: Düsenjäger und Raketen regen zu ornamentaler Gestaltung des Körpers Automobil an – nicht im Sinne einer Funktionalität, sondern als Fiktion und als Symbol-Skulptur.

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Das Erlebnis Automobil verschiebt sich zunehmend auf die Ebene des „Showzeuges“, d. h. eines Gegenstandes, der vor allem in seiner Qualität als Möbelstück und Schmuck-Gegenstand außerhalb der Wohnung bewundert wird. Wir kennen alle den flotten Spruch: „Das Auto – des Deutschen liebstes Kind“. Für Amerika hat Kurt Hünninghaus 1962 das Thema beinahe in zivilreligiöse Höhen geführt: „Die eigentliche Bedeutung, die dem Automobil in den USA von heute zukommt, liegt jedoch nicht in den wirtschaftlichen Auswirkungen seiner Produktion, sondern in seinem Einfluß auf die geistige Entwicklung der Nation. Das Auto ist das Fahrzeug der Individualisten, geschaffen von einzelnen Männern, die selber Individualisten waren. Nicht von ungefähr sind die USA zum Hort der geistigen und politischen Freiheit geworden. Wer nie über den Palisadenzaun seines Spießbürgerdorfes hinwegsehen durfte, muß glauben, was gewisse Demagogen ihm einflüstern. Wer jedoch sich frei bewegen und ungehindert des Lebens wunderbare Fülle mit eigenen Augen sehen kann, der weiß was Freiheit in geistiger und politischer Hinsicht bedeutet.“

Heckflossen in Europa: Übernahme und Transformation Die Heckflosse als Element von Autodesign und als Mode blieb nicht in Amerika, denn sie reüssierte in erstaunlichem Maße als Stück der Amerikanisierung der Welt. Unbestreitbar sind es amerikanische Karosserieschneider, die in dieser Zeit (wir sprechen von den 50er Jahren) die Formgestaltung des Automobils weltweit dominieren. Die Amerikanisierung der Autokarosse nach dem 2. Weltkrieg ist nicht zu übersehen. Vom kleinen Frua-gestalteten Arabella-Coupé bis hin zum großen Mercedes 220 SE – auf Heckflossen konnten auch in Europa nur wenige Automobilbauer in dieser Zeit verzichten (wobei das expressiv Modische der „fins“ durchaus auch ambivalente Beurteilung und Umsetzung provozierte; bei Mercedes-Benz hießen die Heckflossen ganz bewusst vornehm-zurückhaltend „Peilstege“). Der fabelhafte Siegeszug der Heckflossen von Detroit nach Moskau lässt sich an zahllosen Exemplaren zeigen. Auch Italien und seine Meister-Studios werden von den Heckflossen inspiriert, denn sogar die edlen italienischen Ferraris werden Ende der 50er

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Jahre „beflosst“! Flossen bzw. Flossenansätze zeigen die kleinen und großen Automobile nicht nur in West- und Nord-Europa, sondern auch jene aus osteuropäischer Produktion. Von Skoda über Moskvitch bis hin zu den russischen großen Limousinen SIL und SIS ist der amerikanische Styling-Einfluss nicht zu übersehen.

Zur „weiteren“ kulturhistorischen Einbettung der Heckflosse Die folgenden Abbildungen zeigen deutlich, dass das Heckflossendesign gewissermaßen nicht „freischwebendes“ Gestaltungselement, sondern Ausdruck einer allgemeineren Formgebungskultur gewesen ist, die entsprechend „schwungvolle“ Elemente in Produkten wie Sitzmöbeln, Hüten und Konzerthallen sichtbar gemacht hat. Dabei ist eine Form-Entsprechung zwischen Automobil, Architektur und Kleidermode durchaus nichts Neues. Bereits in den 20er Jahren lassen sich gestalterische Querbeziehungen aufzeigen. Für die 50er Jahre und die Vereinigten Staaten hat z. B. die Kooperation zwischen Eero Saarinen und General Motors erheblichen Zeitgeist-Aussagewert.

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Berlin ‚Haus der Kulturen‘ 50er Jahre mit Chevrolet und Stuttgart „Weissenhof-Siedlung“, 20er Jahre mit Mercedes Noch einmal zusammenfassend: Die Tailfins und die Geschichten um die Tailfins führen in ein Kapitel der Soziologie des Exzesses ein, einer soziologischen Beobachtung und Fragestellung, die sich mit Georg Simmel und Thorsten Veblen „anrühren“ lässt. Es geht hier um den Zusammenhang von gestalterischer Expression, sozialstrukturellen Merkmalen der Gesellschaft und historischsozialkulturellen Sachverhalten. Tailfins können als erstaunlich erfolgreicher Versuch angesehen werden, Exzess – und das meint hier Steigerung und in spezifischer Weise „Sprengung“ von „modisch“ – als Massenkultur durchzusetzen; und die sozioökonomischen Voraussetzungen eines solchen Erfolges lassen sich ja durchaus angeben. Der wirtschaftliche Boom der Zeit nach dem 2. Weltkrieg, die Entfaltung des amerikanischen „Sieges“ in der Welt legitimieren gewissermaßen die besondere individuelle und kollektive Expression, gestatten Extremes und Exzessives als beanspruchte Normalität.

Heckflosse als Kunstwerk Es kann nun nicht mehr verwundern, dass in der hier zu Debatte stehenden Zeitepoche auch Künstler sich des „Exzesses“ Heckflosse angenommen haben. Das rabiateste Kunstwerk in Sachen Heckflossen entsteht nicht in Detroit – nicht einmal als sog. „Dream car“ –, sondern wird in einem Studio der europäischen „Haute Couture“ des Automobilbaus, bei Alfa Romeo in Mailand vorgestellt:

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GERT SCHMIDT: EXZESSKONSUM

Alfa Romeo BAT-Car

Die Heckflosse als Skulptur

Renaissance der Heckflosse? Der Besuch der Automobil-Show in New York 2009 zeigte eine neue Auflage der Bat-Car Serie von Alfa Romeo. Und wenn man genauer hinblickt, könnte man hoffen, dass es der letzte Versuch sein möge!

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Aber auch näher an der Serienproduktion liegende „Concept Cars“ vermitteln 2009 in New York neue gestalterische Versuche um das Thema „Heckflosse“ – hier ein Concept Car von Cadillac. Dieser Cadillac Concept Car von 2009 ist dann zwei Jahre später mit nur geringfügiger Veränderung in Serie gegangen.

Auf der Frankfurter Autoausstellung 2009 ist es dann die Firma Citroen gewesen, die die wohl „rabiateste“ Renaissance von Heckflossengestaltung vorgestellt hat.

Und wer vor dem Hintergrund von Verstädterung, Ölknappheit und „neuer Verkehrsvernunft“ Schlichtheit der Formgestaltung des Automobiles erwartet hatte, dem wird angesichts des BMW Concept Cars von 2009 mit dem Namen „Vision“ bewusst, dass er sich offensichtlich „ver-hofft“ hat.

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GERT SCHMIDT: EXZESSKONSUM

BMW Concept-Car 2009 und Renault Dacia 2009 Es scheint, dass die Heckflosse im Automobildesign noch eine „tolle“ Zukunft vor sich hat!

Zur Fast-Allgegenwart der Heckflosse! Ob Sie diese mögen oder nicht: Heckflossen werden Ihnen auch künftig häufig begegnen:

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Auch – oder gerade – wenn Sie Heckflossen nicht mögen: Seien Sie wachsam, halten Sie Ausschau, denn es könnte sonst Ihre Lebens-Schau schnell zu Ende sein.

Das warnende Bild für die Angler ist von einem zeitgenössischen Münchner Maler, Reimar Bögel, von 2009. Die Heckflossen für eine letzte Reise mit einem Automobil zieren einen Cadillac 1961. Und wenn Sie ein letztes Glück haben, dann fahren Sie noch einmal mit Heckflossen.

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Hans Dickel

Der Nierentisch – Ekstase im Design

In westdeutschen Interieurs der Adenauer-Zeit durfte er nicht fehlen – der Nierentisch. Anders als die übermütigen Heckflossen amerikanischer Straßenkreuzer schwingt der Nierentisch nur vorsichtig aus, denn die deutschen Wohnzimmer der 50er Jahre waren klein. In den schnell errichteten Wohnblocks, die man dringend benötigte, weil ca. 40% aller Häuser durch den Krieg zerstört oder beschädigt waren, musste die Einrichtung genau bedacht werden.

Vor allem eines gelingt dem Nierentisch in dieser beengten Umgebung: nicht anzuecken. Seine Form ist also auch eine Metapher für die Mentalität vieler Menschen dieser Zeit. Kaum ein Möbel kann so wie der Nierentisch die Befindlichkeit und die Sehnsucht jener Jahre zum Ausdruck bringen. Bescheiden in der Höhe und aus einfachen Materialien gefertigt, schwingt er sich zu einer asymmetrischen Form quasi ins Freie. Der Nierentisch tanzt förmlich aus der Reihe, nur wenige Jahre nach den geordneten Aufmärschen und dem Blockwart der NS-Zeit. Er wagt etwas Neues –

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und kehrt doch gleich nach der ersten Kurve wieder zur Mitte zurück. Adrett hält er die Balance zwischen gewagter Dynamik und sicherer Stabilität der Verhältnisse. Es ist die zarteste Form der Ekstase, die man sich denken kann. Die Ordnung, aus der er ausbricht, wird nicht wirklich gefährdet. Eher kokett ragt der Nierentisch aus dem Raster der Quadrate und Rechtecke der Standardmöbel, ohne deren Autorität ernsthaft in Frage zu stellen. Vielmehr avanciert er bald zum Vorzeigestück einer heiteren, modernen Lebenseinstellung.

Der Nierentisch als das Wohnungsrequisit der 50er Jahre steht in der Mitte des bürgerlichen Privatlebens und verdient deshalb in der Geschichte seiner variantenreichen Erscheinungsformen unser besonderes Interesse. So klein er auch sein mag, ist er doch in der Wohnung der Ort größter Öffentlichkeit, nämlich jener Begegnungen bei häuslichen Partys, zu denen man im Schein von Tütenlampen mit Serviettenständern und Salzstangenanbietern den ersten Glanz der Nachkriegszeit aufbieten konnte. Nur in wenigen Designsammlungen haben sich Beispiele dieser Kultur erhalten. Solche Partys erfreuten sich seinerzeit größter Beliebtheit, weil kaum jemand das Geld für Kneipenbesuche hatte. Wer also Gäste empfing, konnte sich mit geschwungenen Tischen, Cocktailgläsern und modern gemusterten Gardinen bei seinen Gästen als ein dem Neuen aufgeschlossener Mensch präsentieren und zeigen,

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dass er mit seinem verspielten Luxus am Wirtschaftswunder teilhatte. Damit die Heiterkeit eine Weile hält, benötigt der Nierentisch indes feste Beine. Seine schräg abgespreizten Stützen sichern, so dünn, grazil sie auch sind, den Halt seiner unregelmäßigen Platte und bieten den Gästen einer Party genügend Beinfreiheit. So konnte man sich trotz der Raumknappheit in einer gut durchgeplanten Einzimmerwohnung gesellig versammeln – und auf Dekotellern beispielsweise die beliebten Hawaiischnittchen genießen.

Die irregulär geformte Tischplatte hat freilich ihre Voraussetzungen in der Geschichte der modernen Kunst: In der organischen Form des Nierentischs lebt die biomorphe Abstraktion der 20er Jahre in domestizierter Weise fort. Amöben und Kleinstlebewesen erscheinen als Motiv schon bei Wassily Kandinsky. Was in HansArp-Plastiken aus der Dada-Zeit noch dreidimensional war, um die Formverwandlung in der Natur zu feiern, wird im Nierentisch verflacht und fixiert zu einem Motiv des Möbeldesigns. Leicht kann man die Vorbilder in jener Traditionslinie der modernen Kunst ausmachen, die nicht der Ratio huldigt wie das Bauhaus, sondern eher dem elan vital Henri Bergsons. Die biomorphe Abstraktion ist mit ihrem Formenreservoir von Designern geplündert

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worden, im Nierentisch verkommt die moderne Kunst, gleichsam platt gedrückt, zum trivialen Zeichen für Modernität.

Man kann es aber auch positiv formulieren, der Nierentisch bietet naturgemäß unendlich viele Varianten seiner Erscheinungsform, also durchaus individuelle Abwandlungen für die bundesdeutschen Wohnzimmer. In seiner Anwendung kommt noch etwas anderes zum Ausdruck: Manche Nierentische scheinen schweben zu können. In ihrer heiteren Leichtigkeit verraten sie etwas von den Träumen jener Jahre, der Überwindung der Schwerkraft, der Erkundung neuer Welten, der Raumfahrt. Ich zitiere aus einer Möbelreklame: „Wir wollen den Zustand überwinden, inmitten an Wänden aufgereihter Möbel wie in einer Wagenburg zu hausen. Das moderne Möbel ist ein räumliches Element, das keine vernachlässigte Rückseite kennt. Als Bestandteil des Raumganzen könnte es irgendwo darin schweben, tatsächlich suchen wir auch das Schwebende, Leichte, Losgelöste“, schreibt Jakob Müller in der Zeitschrift „Möbel und Räume“ im Jahr 1957.

Der Traum vom Fliegen, von der Überwindung der Schwerkraft, ist allenthalben zu erkennen, auch in der Architektur. Eines der

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schönsten Bauwerke dieser Zeit in der BRD, die Nürnberger Akademie der bildenden Künste von Sep Ruf, bietet ein besonders signifikantes Beispiel: Auf ihrer Aula liegt ein feines, dünnes Dach in der Form einer Palette, so leicht, als könnte es davonfliegen. Eine Abwandlung des Nierentischs ist demgemäß der so genannte Palettentisch, der der Kunst noch näher steht, und es erstaunt nicht, dass seine Platten gerne im „Picasso-Stil“ gestaltet wurden. Als Zierrat auf solchen Tischen waren Vasen mit CapriMotiven beliebt, oder auch die so genannte schwangere Luise, aus der sich eine einsame Nelke elegant nach oben windet. Später begegnet auch Jackson Pollocks Action Painting in abgemilderter Form als Schlaufenmuster auf Gardinen, und auch die pastellfarbenen Tapeten dieser Zeit haben die Formangebote der Hochkunst adaptiert.

In seinem Schwung, seiner Orientierung an einem äußeren fernen Punkt, kündigt der Nierentisch etwas an, das die Wohnzimmer der 60er Jahre prägen wird, er zielt auf etwas Unbekanntes: Als dann tatsächlich die ersten Fernsehgeräte in die Wohnzimmer einzogen, standen zunächst noch keine passenden Möbel bereit, man musste mühsam die Stühle und Sofas zurechtrücken. Die Möbelhersteller reagierten jedoch bald und boten nun Couchgarnituren an, auf denen bequem die mediale Verstrahlung empfangen werden konnte. Aus dem Kreis der Familie ist ein Halbkreis geworden – aber das ist ein anderes Thema.

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Gemeinsames Merkmal aller Nierentische ist, dass sie ausschwingen, wenn auch in einer rekursiven Form, die stets zur Mitte zurückkehrt. Ihre „Ekstasen“ bleiben an die statische Funktion des Wohnzimmertischs gebunden. Aber dennoch signalisiert ihre Form die ursprüngliche griechische Bedeutung des Wortes Ekstase, ein Außer-sich-Sein – wenn auch nur ganz vorsichtig.

Die Kunst hat ihrerseits auf die Design-Kultur der 50er Jahre reagiert. Wie sehr diese Wunschwelt der Kleinbürger mitsamt ihren Sehnsuchtszeichen – Pyramiden, Flamingos oder fliegenden Kranichen – aus der schieren Armut stammt, das machen uns die Zeichnungen und Gemälde von Sigmar Polke bewusst. Er verfremdet sie durch Kombination. Indem er das Anspruchsniveau der dekorativen Versatzstücke der bundesdeutschen Wohnkultur in der Darstellung leicht verfehlt und ironisch unterläuft, macht er die kleinbürgerliche Wunschwelt der Nachkriegszeit als solche sichtbar, man spricht hier zu Recht von einer Art „Bewusstseinsrealismus“.

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Abbildungsnachweise Abb. 1: http://farm5.staticflickr.com/4024/4323430472_55dee3e2 ec.jpg Abb. 2: http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/e/ ef/Nierenti.jpg Abb. 3: http://www.artfoto-edition.de/coktailchair.html Abb. 4: http://de.dawanda.com/product/11218142-BlumentischHocker-Nierentisch-50er-Nostalgie-rot Abb. 5: http://prometheus.uni-koeln.de/pandora/image/large/ Image-kgerlangen-44ebcbe9f65c0d1520a39ffb167c1b241940ead Abb.6: http://www.welt.de/multimedia/archive/00281/50erjah re_DW_Lifest_281083a.jpg

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Autorenverzeichnis Alle Autoren sind Mitglieder des Interdisziplinären Zentrums Ästhetische Bildung an der Friedrich-Alexander Universität Erlangen-Nürnberg.

PETER ACKERMANN: Prof. em. für Japanese Studies HANS DICKEL: Prof. für Mittlere und Neuere Kunstgeschichte LEOPOLD KLEPACKI: Akad. Rat für Pädagogik ECKART LIEBAU: Prof. für Pädagogik ECKHARD ROCH: Prof. für Musikwissenschaft GERT SCHMIDT: Prof. em. für Soziologie ANDRÉ STUDT: Akad. Rat für Theater- und Medienwissenschaft MATTHIAS WARSTAT: Prof. für Theaterwissenschaft JÖRG ZIRFAS, Prof. für Pädagogik http://www.iz.aesthetische.bildung.phil.uni-erlangen.de

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Ästhetik und Bildung Günter Gödde, Jörg Zirfas (Hg.) Takt und Taktlosigkeit Über Ordnungen und Unordnungen in Kunst, Kultur und Therapie 2012, 308 Seiten, kart., zahlr. farb. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1855-6

Eckart Liebau, Jörg Zirfas (Hg.) Die Bildung des Geschmacks Über die Kunst der sinnlichen Unterscheidung 2011, 230 Seiten, kart., zahlr. Abb., 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1746-7

Eckart Liebau, Jörg Zirfas (Hg.) Dramen der Moderne Kontingenz und Tragik im Zeitalter der Freiheit 2010, 232 Seiten, kart., zahlr. Abb., 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1436-7

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Ästhetik und Bildung Eckart Liebau, Jörg Zirfas (Hg.) Die Kunst der Schule Über die Kultivierung der Schule durch die Künste 2009, 174 Seiten, kart., 20,80 €, ISBN 978-3-8376-1199-1

Eckart Liebau, Jörg Zirfas (Hg.) Die Sinne und die Künste Perspektiven ästhetischer Bildung 2008, 276 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN 978-3-89942-910-7

Eckart Liebau, Jörg Zirfas (Hg.) Schönheit Traum – Kunst – Bildung 2007, 288 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-89942-831-5

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