Rausch - Trance - Ekstase: Zur Kultur psychischer Ausnahmezustände 9783839431856

Inebriation, trance, ecstasy - when are these `minor flights' welcome as the possibility to escape rationalized eve

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German Pages 264 Year 2016

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Table of contents :
Inhalt
Einleitung: Außergewöhnliche Bewusstseinszustände in der Moderne
Die Zeit des Rauschs
Drogenfreie Zone. Zur Rauschkultur der DDR
Rausch und Konsum psychotroper Substanzen in Kriegssituationen. Eine fragmentarische Bestandsaufnahme aus sozialwissenschaftlicher Perspektive
Rausch, Trance, Ekstase – und das gesellschaftliche Unbewusste
Die rationale Organisation von Entgrenzung. Zur Soziologie des sexuellen Rausches
Dionysische Ekstase in der griechischen Antike
„Manchmal tanze ich auf Dornen!“ Ekstase und Trance im Sufi-Islam
Ayahuasca, schamanische Trance und Santo Daime
Ausnahmezustände. Von der besonnenen Begeisterung zum kommerzialisierten Rausch
Rausch und Ekstase als choreographische KörperSzene
Klang als Brücke zwischen den Welten. Musik und Trance, Musik und Ekstase
Autorinnen und Autoren
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Rausch - Trance - Ekstase: Zur Kultur psychischer Ausnahmezustände
 9783839431856

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Michael Schetsche, Renate-Berenike Schmidt (Hg.) Rausch – Trance – Ekstase

Edition Kulturwissenschaft | Band 78

Michael Schetsche, Renate-Berenike Schmidt (Hg.)

Rausch – Trance – Ekstase Zur Kultur psychischer Ausnahmezustände

Das Publikationsprojekt wurde vom IGPP e.V. (Freiburg im Breisgau) unterstützt.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2016 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld, unter Verwendung des Werkes »Tanztrance 2« von Kytom L. (Freiburg im Breisgau, 2012) Korrektorat & Satz: Kirsten Krebber Printed in Germany Print-ISBN 978-3-8376-3185-2 PDF-ISBN 978-3-8394-3185-6 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Einleitung: Außergewöhnliche Bewusstseinszustände in der Moderne

Michael Schetsche & Renate-Berenike Schmidt | 7 Die Zeit des Rauschs

Robert Feustel | 33 Drogenfreie Zone Zur Rauschkultur der DDR

Ina Schmied-Knittel | 51 Rausch und Konsum psychotroper Substanzen in Kriegssituationen Eine fragmentarische Bestandsaufnahme aus sozialwissenschaftlicher Perspektive

Wolf-Reinhard Kemper | 73 Rausch, Trance, Ekstase – und das gesellschaftliche Unbewusste

Lorenz Böllinger | 93 Die rationale Organisation von Entgrenzung Zur Soziologie des sexuellen Rausches

Thorsten Benkel | 109

Dionysische Ekstase in der griechischen Antike

Susanne Gödde | 131 „Manchmal tanze ich auf Dornen!“ Ekstase und Trance im Sufi-Islam

Jürgen Wasim Frembgen | 157 Ayahuasca, schamanische Trance und Santo Daime

Gerhard Mayer | 177 Ausnahmezustände Von der besonnenen Begeisterung zum kommerzialisierten Rausch

Joseph Imorde | 199 Rausch und Ekstase als choreographische KörperSzene

Sabine Huschka | 217 Klang als Brücke zwischen den Welten Musik und Trance, Musik und Ekstase

Christian Kaden | 239 Autorinnen und Autoren | 261

Einleitung: Außergewöhnliche Bewusstseinszustände in der Moderne M ICHAEL S CHETSCHE & R ENATE -B ERENIKE S CHMIDT 1

Wir beginnen mit starkem Tobak: Anfang März 2016 trat der bekannte Bundestagsabgeordnete Volker Beck von allen seinen parlamentarischen Funktionen zurück. Der Anlass: Bei einer nächtlichen Polizeikontrolle in Berlin wurden bei ihm geringe Mengen einer verbotenen Substanz (wie erst BILD, dann andere Presseorgane meldeten: „Crystal Meth“) gefunden. Der Fall selbst erregte offenbar deshalb besondere öffentliche Aufmerksamkeit, weil der Politiker aus seiner liberalen drogenpolitischen Position nie einen Hehl gemacht hatte. Und der praktischen Seite dieser Grundeinstellung ist Volker Becks politische Karriere nun offenbar zum Opfer gefallen. Mindestens ebenso interessant wie die drogenpolitische Dimension, ist der Kontext, in den die Zeitung „Die Welt“ diesen Fund in ihrer Online-Ausgabe vom 2.3.20152 rückt: Nach einer kurzen Schilderung des Sachverhalts wird über mehrere Absätze hinweg noch einmal jene Kritik rekapituliert, die in der Öffentlichkeit vor einiger Zeit an einer früheren Position Becks in der so genannten Pädophilen-Frage laut geworden war. Recht genüsslich, wie es scheint, werden in fünf Absätzen die vermeintlichen Verfehlungen Becks in der Debatte über Schutzaltersgrenzen im Sexualstrafrecht 3 vor fast dreißig Jah-

1

Herausgeber und Herausgeberin danken Kirsten Krebber für die vorzügliche redaktionelle Betreuung des Bandes.

2

„Grünen-Abgeordneter legt nach Drogenfund alle Ämter nieder“, „Die Welt“, OnlineAusgabe vom 02.03.2016: http://www.welt.de/politik/deutschland/article152851490/ Gruenen-Abgeordneter-legt-nach-Drogenfund-alle-Aemter-nieder.html (Zugriff: 02. 03.2016).

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Was dabei nicht nur „Die Welt“ übersieht: In den siebziger und achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts war die Forderung nach einer niedrigeren Schutzaltersgren-

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ren nochmals ‚aufgewärmt‘. Unabhängig von dem offensichtlichen Versuch, den Grünen-Politiker einmal mehr als Person moralisch zu diskreditieren, scheint uns die generelle Botschaft dieser, nur auf den ersten Blick irritierenden, Kontextualisierung doch eindeutig: Wer für ein liberales Drogenstrafrecht eintritt, ist auch in erotischer Hinsicht ein Libertin und nimmt es mit dem Schutz von Kindern und Jugendlichen vor sexueller Ausbeutung nicht so genau. Etwas drastischer formuliert: Wer Verständnis für Drogennutzer zeigt, hat auch Verständnis für sexuellen Kindesmissbrauch – ist mithin nach Ansicht gutbürgerlicher Medien wie „Die Welt“ (die mit dieser Art denunziatorischer Berichterstattung keineswegs allein stand) moralisch gesehen ein Schuft. An dieser Stelle zeigt sich sehr eindrücklich, und deshalb beginnen wir mit diesem Fall im doppelten Sinne, der moralisierende Kontext, in den Drogenkonsum und eine liberale ‚Rauschpolitik‘ bis heute von deutschen Leitmedien gerückt werden. Was, so fragen wir uns, ist am Konsum bewusstseinsverändernder Substanzen so verwerflich, dass dieser diskursstrategisch in den Kontext schwerer sexualbezogener Straftaten gerückt werden kann?

1. R AUSCH UND R ATIONALITÄT In einem ersten Zugriff beantwortet wir diese Frage mit einer Leitthese, die wir bereits den Autoren und Autorinnen des vorliegenden Bandes mit unserer Einladung zur Mitarbeit vorgelegt hatten: In auf permanente Selbstkontrolle und rationales Handeln der Subjekte abstellenden modernen Gesellschaften liefern (in der Psychologie so genannte) außergewöhnliche Bewusstseinszustände4 einen

ze im jugendbezogenen Sexualstrafrecht eine zwar strittige, aber durchaus legitime kriminalpolitische Diskursposition – nicht zuletzt weil sozialethisch überaus schwer zu entscheiden ist, ab welchem Zeitpunkt Heranwachsenden ein eigenständiges sexuelles Selbstbestimmungsrecht zugestanden werden soll, welches das zentrale Rechtsgut des 13. Abschnitts des Strafgesetzesbuches („Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung“) darstellt. Erst im Rahmen der späteren Debatten über sexuelle Gewalt gegen Kinder ist die Frage einer Absenkung von Schutzaltersgrenzen zu einem sexualpolitischen Tabu geworden, das den Raum für diese neue Form sexueller Denunziation geschaffen hat. 4

Hier sehr generell und ohne die in anderen Kontexten nötige neurowissenschaftliche Differenzierung (vgl. etwa Vaitl 2007, 2012) verstanden als „Zustände, in denen das subjektive Erleben des Individuums sich qualitativ deutlich von dem unterscheidet, was man als ‚normal‘ empfindet [...] Typische Merkmale sind eine veränderte Wahr-

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kulturellen Gegenhorizont im doppelten Sinne. Rausch, Trance und Ekstase5 sind – als individuelle wie als kollektive Erfahrungen – einerseits Ausgangspunkt von Abgrenzungsdiskursen und -praktiken, mittels derer die alltägliche soziale Ordnung hergestellt und abgesichert wird. Andererseits stellen sie für viele Subjekte Ausstiegsstrategien aus dem gut organisierten und kontrollierten Alltagsleben bereit, die individuell und auch kulturell überhöht, gelegentlich sogar mythisiert werden (können). Wenn wir – exemplarisch für einen ganzen sozialhistorischen Diskursstrang – der zwar nicht mehr ganz neuen, aber unseres Erachtens immer noch höchst einleuchtenden Argumentationslinie unseres Kollegen Aldo Legnaro (1996a, 1996b) folgen, ist das heute in Europa kulturell dominierende Verständnis von Rausch und anderen außergewöhnlichen Bewusstseinszuständen letztlich ein Produkt gesellschaftlicher Transformationsprozesse hin zur Moderne und ihrer spezifischen sozialen und ideellen Ordnung. Legnaros (1996b: 68-70) Argumentation beginnt historisch mit dem Prozess der Rationalisierung und den damit einhergehenden psychosozialen Veränderungen in der frühen Neuzeit; hier geht es insbesondere um die Internalisierung von bisher äußerlich erzwungenen Verhaltensweisen sowie die damit einhergehende generelle Verstärkung der Selbstkontrolle und der planenden Berechnung der eigenen Lebensführung – mithin um die Soziogenese des modernen Ich. In der sich dieserart ausbildenden Idee (und Realität) des neuen, später ‚bürgerlich‘ ge-

nehmung der Außenwelt (etwa durch Halluzinationen oder Synästhesien) und des Körperschemas (etwa das Gefühl zu fliegen), doch auch das Denken selbst, die Zeitwahrnehmung und das Bedeutungserleben ändern sich […]“ (Matthiesen 2007: 10). Ein solches, in der Literatur dominierendes Verständnis bleibt allerdings subjektzentriert, blendet mithin die in diesem Band fokussierte kulturwissenschaftliche Perspektive weitgehend aus. 5

Wenn wir der Differenzierung bei Vaitl (2007) folgen, handelt es sich hierbei um vorsätzlich (entweder pharmakologisch oder psychophysiologisch) induzierte Bewusstseinszustände, die von spontan auftretenden Formen, wie etwa der Schlafparalyse, zu unterscheiden sind. Unabhängig von der neurowissenschaftlichen Bedeutung einer solcher Differenzierung ist in unserem Kontext entscheidend, dass nur die vorsätzlich herbeigeführten, damit in gewissen Sinne ‚planbaren‘ Zustände systematischer kultureller Formung und Kontrolle unterworfen werden können. In der wissenschaftlichen Literatur unumstritten ist, dass solche Zustände in allen bekannten menschlichen Kulturen in dieser oder jener Form anzutreffen sind, mithin universelle Phänomene im anthropologischen Sinne darstellen (vgl. Hirschfelder 2007: 196; Legnaro 1996a: 40; Matthiesen 2007: 13-16).

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nannten Sozialcharakters ist für außergewöhnliche Bewusstseinszustände, sei es für den Rausch, für die Trance oder die Ekstase – zumindest in der alltäglichen Lebenswelt6 – kein Platz mehr. „Der zunehmende Zwang zur Affektkontrolle und zur beherrschten Präsentation des Selbst gegenüber der Welt kann nicht ohne Auswirkungen bleiben auf Verhaltensweisen und Erfahrungsmodi, die gerade diese Kontrolle tendenziell außer Kraft setzen. Hierzu zählen alle grenzüberschreitenden Bewußtseinserfahrungen im weitesten Sinne.“ (Ebd.: 69, Herv. von uns) Eine wesentliche Ursache für die Diskreditierung abweichender Bewusstseinszustände, ob sie nun substanzgeneriert sind oder nicht, sieht der Autor in der spezifischen Art und Weise, in der Wirklichkeit in der neuzeitlichen Gesellschaft konstituiert wird: „Die Einstellung gegenüber Rausch und Ekstase im allgemeinen und gegenüber Drogen im besonderen werden nur verständlich, sieht man sie vor dem Hintergrund der generellen Prämissen, die die spezifische Weltsicht, die ‚Weltanschauung‘ einer Kultur ausmachen [...] Die dominante Alltagswirklichkeit der anglo-europäischen Industriegesellschaften ist unekstatisch und nüchtern konstruiert; wenn diese Kultur die Drogenerfahrung tendenziell als eine Erfahrung der wahnhaften Unwirklichkeit abzutun sucht, dann spiegelt dies eine kulturelle Abwehr, die ihren Grund gerade in den beschriebenen Inhalten solcher Erfahrung findet. [...] Rationale Bewältigung der Wirklichkeit gewinnt einen vorher ungeahnten Primat und löst rauschhafte Freude und ekstatisches Einheitsgefühl als Medien der Erkenntnis ab [...] Die Erfahrung bei Haschisch und vor allem bei LSD und Meskalin sind potentiell ich-transzendierender Natur und gefährden den gesellschaftlichen Konsens über Wirklichkeit damit auf eine nachhaltige Weise.“ (Legnaro 1996a: 46-51; vgl. auch König 1996: 10)

Der neue Modus einer (wie wir es nennen) ‚maximal rationalen‘ Konstruktion von Wirklichkeit, zentraler Aspekt des epistemischen Regimes der Moderne, macht eine Veränderung in der kulturellen Interpretation und Bewertung außergewöhnlicher Bewusstseinszustände im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit notwendig. Bezüglich des Alkoholrausches bedeutet dies beispielsweise: „In idealtypischer Abstraktion läßt sich also die Veränderung des Trinkverhaltens beschreiben als Verlagerung eines durch internalisierte Verhaltensvorgaben nur wenig gezü-

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Als auffällige Gegenbewegung kann hier der Spiritismus des 19. Jahrhunderts mit seinen zahllosen Trancemedien angeführt werden; wir können dem hier nicht nachgehen, sondern wollen lediglich auf die erhellende These von Noemi Smolik (2008) hinsichtlich der subversiven Kritik des Spiritismus am Rationalismus der Moderne verweisen.

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gelten Lust-Trinkens im Mittelalter auf ein neuzeitliches psychisches EntspannungsTrinken, das zudem noch der (dem Mittelalter kaum bewussten) Ambivalenz unterliegt, den Rausch, das angebliche Ziel des Trinken, angstvoll zu bewerten.“ (Legnaro 1996b: 73)

Diese Ambivalenz resultiert dabei daraus, dass der Rausch (und anderes mehr) einerseits mit den Anforderung der modernen Gesellschaft an das Individuum unvereinbar ist, er andererseits eine, vorher nicht bekannte oder zumindest nicht in gleicher Weise bedeutsame, Funktion psychischer Entlastung erhält (vgl. hier auch Schütz/Luckmann 2003: 623-624). Spätestens in der industriell geprägten Gesellschaft gilt dann, „dass die Kontrolle eigenen Verhaltens im Sinne nüchterner Berechenbarkeit einen für das gesellschaftliche System funktionalen Wert darstellt. Damit verharrt der Rausch in jener seit dem Beginn der Neuzeit geprägten Ambivalenz, die ihn als verbotene Frucht erscheinen läßt: Mag auch das Naschen erlaubt und sogar notwendig sein, um den stringenten Zwang zur Affektbeherrschung auf Zeit zu lockern, so darf dies doch nur mit dem Bewusstsein der engen lokalen und zeitlichen Begrenzung geschehen: Wer Berauschung zu oft, zu lange und zu intensiv sucht, verfällt einer Ausgrenzung, die nur durch die öffentliche Reue und eine nachfolgende Buße mit dem Versprechen sich zu bessern, aufgehoben werden kann. Eben weil affektiver und motorischer Kontrollverlust an kulturell definierte Grenzen rührt, unterliegt er sozialer Kontrolle.“ (Legnaro 1996b: 72; vgl. Kloppe 2004: 199; König 1996: 9)

Der Alkoholrausch und andere außergewöhnliche Bewusstseinszustände werden damit zu einem kulturellen Gegenhorizont: Ein Versprechen kleiner Alltagsfluchten durch einen temporären Verstoß gegen die Rationalitätsnormen des IchBewusstseins, welcher diese jedoch nicht infrage stellt, sondern letztlich in ihrer generellen Gültigkeit legitimiert und damit auch funktional stabilisiert. Dabei wird der rauschhafte Zustand als solcher jedoch notwendig abgewertet: „Der Rausch ist nicht (mehr) die Gewinnung einer dionysischen, sondern die misslungene Beherrschung einer als rational konzipierten Welt.“ (Legnaro 1996b: 70; vgl. Kloppe 2004: 15) Die Vorstellung, dass Rausch, Trance und Ekstase grundsätzlich problematische7 Bewusstseinszustände seien, erscheint in diesem Ver-

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„Der Rausch als Laster, als Gegenstück zum Idealtypus rationaler Lebensführung, verlangt geradezu nach seiner calvinistischen Verdammung [...] Indem er mit seinem öffentlich auffälligen betrunkenem Verhalten gegen das bürgerliche Ideal und Moral-

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ständnis als eine Besonderheit der westlichen Moderne. Im Gegensatz dazu hätten die, auf diese oder jene Weise vorsätzlich herbeigeführten, außergewöhnlichen Bewusstseinszustände in vielen vormodernen und nichtwestlichen Gesellschaften kulturell fest verankerte positive Bedeutungen, gehörten entweder zum alltäglichen Lebensvollzug oder zu regelmäßig wiederkehrenden religiösen Festund Feiertagen.8 In den westlichen Gesellschaften wird der willkürlich herbeigeführte Kontrollverlust hingegen aufgrund der oben geschilderten Entwicklungen (und wohl auch: funktionalen Notwendigkeiten) primär von seinen individuellen und sozialen Risiken her gesehen und entsprechend in Form von Gefahrendiskursen9 kulturell verhandelt. Die Entstehung dieser Diskurse hängt zwar nicht unmittelbar mit der Säkularisierung als solcher zusammen, teilt aber deren Wurzeln: die Durchsetzung des Ideals eines perfekt selbstkontrollierten Subjekts, dessen Genese Norbert Elias (1969) in seinen zwei Bänden über den „Prozess der Zivilisation“ materialreich beschrieben hat. Man muss nicht allen seiner Thesen folgen, um zu dem Fazit zu kommen, dass spätestens die Einführung der industriellen Arbeitsordnung (mit feiertagsloser Logik, festen Maschinentakten und der Notwendigkeit höchster Arbeitskonzentration) den sachrational auf die Außenwelt und den Vollzug der eigenen Aufgaben in ihr fokussierten Bewusstseinszustand zur einzig akzeptablen ‚geistigen Existenzform‘ der modernen Menschen erhoben hat: „Eine Trendwende gegenüber der Toleranz des Rausches im Mittelalter beginnt sich in den Anfängen des Frühkapitalismus abzuzeichnen und findet seine volle Ausprägung im Zeitalter der Industrialisierung. Der Mensch, der seine Arbeit nicht mehr ausschließlich nach Tages- und Jahresabläufen orientiert, muss sich einer neuen Zeitdisziplin unterwerfen. Maschinelle Produktionstechniken erfordern ökonomische Auslastung der Maschinen, Präzision und Reaktionsschnelligkeit; alles Eigenschaften, die Rationalität, Nüchternheit

prinzip verstößt, wird der Trinker zum gesellschaftlichen Störfaktor“ (Kloppe 2004: 176-177). 8

Einen Überblick hierzu liefern die historischen und interkulturellen Fallstudien in Gros 1997.

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… wie wir sie auch von anderen sozialen Problemen her kennen. Für einen Überblick über die Bedeutung sozialer Probleme für modernen Gesellschaften siehe das Handbuch von Groenemeyer und Albrecht 2012; über die Rolle kultureller Diskurse für deren Entstehung klärt die konstruktionistische Problemtheorie auf (exemplarisch: Schetsche 2014).

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und Sachlichkeit voraussetzen. Die Wahrnehmung des Alkoholproblems findet ihren Anfang im industriellen Arbeitsprozess.“ (Kloppe 2004: 200)

Der von Max Weber so genannte „Geist des Protestantismus“ dürfte schon Jahrhunderte zuvor die hier beschriebene Entwicklung angestoßen haben. 10 An ihrem Ende steht, dem Ideal nach, das jederzeit perfekt selbstkontrollierte und aufmerksam-arbeitsfähige Subjekt. Wie begrenzt die ‚zivilisierende‘ Durchsetzung dieses Ideals im Alltag war, zeigen jedoch die Diskurse über die Gefährdung, namentlich der ‚unteren Schichten der Bevölkerung‘, durch Alkohol und Drogen seit Mitte des 19. Jahrhunderts überdeutlich (vgl. Hirschfelder 2007: 2014). Während substanzgenerierter Rausch, entkleidet von allen religiös-spirituellen Kontexten, Gegenstand nachdrücklicher (letztlich bis heute anhaltender) Diskreditierungsdiskurse wurde, sind Trance und Ekstase eher still und leise aus der kulturellen Wirklichkeit entschwunden.11 Erstere gilt uns heute – außerhalb neospiritueller Bewegungen – eher als Kennzeichen ‚primitiver‘ Kulturen und ihrer ‚unzeitgemäßen‘ Ritualwelten. Letztere verfolgt uns, gedanklich auf leiblich-profane Ausdrucksformen

10 So verortet Legnaro (1996a: 49) das Ende der mittelalterlichen Ekstasepraktiken zeitlich wie strukturell im Kontext des entstehenden Protestantismus: Die Reformation betont „die ‚Vernunft‘ und trägt dadurch zur ‚Entzauberung‘ der Welt wesentlich bei. Folgerichtig steht der Protestantismus dem Rausch in alttestamentarischer Strenge und der Ekstase mit eher hilflosem Unverständnis gegenüber. Am Ende dieses Prozesses von Verwissenschaftlichung, in dessen Verlauf das Deutungsmonopol für die Realität von der Kirche auf die Träger säkularer Rationalität übergeht, wird der Ekstase ihr Status als ‚wirkliche‘ Erfahrung bestritten.“ 11 Deutlich wird dies, wenn man den Literaturstand zu den Themen „Rausch“, „Trance“ und „Ekstase“ vergleicht. Während zum ersten Stichwort, insbesondere im Kontext der Debatten über Rauschdrogen und Drogensucht, eine schier unübersehbare Fülle wissenschaftlicher Literatur zur Verfügung steht, konzentrieren sich die Arbeiten zum zweiten Begriff entweder auf außereuropäische Kulturen oder stammen aus einem eher spirituell-religiösen Kontext; beim dritten Begriff schließlich wird unmittelbar eine starke Fokussierung auf sexuelle (im Gegensatz etwa zu religiöser) Ekstase deutlich, die dann aber textlich eher ein allgemeines, teilweise voyeuristisches Publikumsinteresse bedient, denn wissenschaftliche Fragen aufwirft (als Ausnahmen erwähnt werden müssen hier die Sammelbände von Passie/Belschner 2013 sowie Koebner 2012). Diese Grundtendenz hat sich auch im Aufbau dieser Einleitung niedergeschlagen, in der Rauschdiskurse deutlich stärker in den Vordergrund rücken, als es vor dem Hintergrund des Gesamtthemas des Bandes wünschenswert gewesen wäre.

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reduziert (vgl. Legnaro 1996a: 43-44, 49), das ganze 20. Jahrhundert hindurch, durch Freuds Sexualitätskonzept in seiner Unheimlichkeit fast mythisch überhöht, als geradezu prototypisches Risiko des Kontrollverlusts in der bürgerlichen Gesellschaft. Wenn wir das alles richtig interpretieren, verfügen moderne Gesellschaften nicht nur (wie wir seit Berger und Luckmann wissen) über eine für sie typische Wissensordnung, sondern offenbar auch über eine Art ‚Bewusstseinsordnung‘, die vor-schreibt, in welchem kognitiven und emotionalen Zustand sich das Individuum im Alltag zu befinden hat – nämlich ich-zentriert und selbstkontrolliert, sachrational und außen(welt)geleitet. Nach diesem Verständnis stellen Bewusstseinszustände wie Rausch, Trance und Ekstase (aber auch manch andere mehr) die gesellschaftliche Ordnung in doppelter Weise infrage: Zum ersten verletzen sie die Regeln jener Bewusstseinsordnung, auf der – ob vermeintlich oder nicht, spielt hierbei letztlich keine Rolle – nicht nur alle alltagsweltlichen Verrichtungen, sondern auch unsere Alltagskommunikation axiomatisch12 beruhen. Und zum zweiten, so die kulturelle Befürchtung, erzeugen sie – eben: rauschhaft, tranceförmig, ekstatisch – individuelle Wirklichkeitskonstrukte, die bestenfalls kommuniziert, nicht aber typisiert und erst recht nicht objektiviert werden können13, und die deshalb nicht nur jeden Beitrag zum Prozess der gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit vermissen lassen, sondern dessen kollektives Endprodukt auch durch abweichendes individuelles Erleben in Frage stellen. Vor diesem theoretischen Hintergrund wird zumindest grundsätzlich verständlich, welchen kulturellen Widerstand der Gebrauch psychotroper Substanzen und andere bewusstseinsverändernde Praktiken in der Moderne zu erzeugen in der Lage sind.14

12 Eine Grundannahme der zwischenmenschlichen Kommunikation im Alltag ist die Gleichförmigkeit der Bewusstseinsverläufe aller Beteiligten; in der klassischen soziologischen Handlungstheorie (namentlich bei Weber und Schütz) ist dies die Voraussetzung für jedes ‚deutende Verstehen‘ innerhalb einer Kultur (vgl. Schetsche et al. 2009: 475-478). 13 Was dies theoretisch bedeutete, lässt sich bei Berger und Luckmann (1991: passim) nachlesen; den schnellen Überblick liefert Knoblauch (2005: 141-165). 14 Diesem Verständnis nach wären nichtalltägliche Bewusstseinszustände im Gegensatz dazu in jenen Kulturen wohlgelitten, in denen die gesellschaftliche Konstruktion von Wirklichkeit auch jene Erkenntnisse einschließt, die etwa durch rituelle Trance oder kollektiven Drogengebrauch ihrer Mitglieder gewonnen werden. (Vgl. hierzu die Beiträge von Gödde, Frembgen und Mayer in diesem Band.)

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Ob diese Erklärung ausreicht, wird sich zeigen. Im Mittelpunkt des vorliegenden Bandes steht jedenfalls die Frage, wie Individuum und Gesellschaft zu verschiedenen Zeiten und in unterschiedlichen Kontexten mit außergewöhnlichen Bewusstseinszuständen – legitimen wie illegitimen – umgegangen sind. Dabei geht es nicht nur darum, wie es zur kulturellen Abwertung von Rausch, Trance und Ekstase in der europäischen Moderne gekommen ist und welches mögliche Ausnahmen – etwa in religiösem Kontext – von diesem kulturellen Verdikt waren. Es soll auch gezeigt werden, unter welchen Bedingungen solche Bewusstseinszustände gesellschaftlich akzeptiert und integriert werden können, etwa in welchen kulturellen Nischen sich positive Zuschreibungen und entsprechende Praxisformen entwickelt haben. Dabei werden verschiedene Dichotomien in den Blick geraten, in deren Spannungsfeld sich der kulturelle Umgang mit solchen mentalen Ausnahmezuständen in der westlichen Moderne dialektisch entfaltet hat: Alltag vs. Feiertag, Selbstkontrolle vs. Kontrollverlust, Ritualisierung vs. Grenzüberschreitung, Normierung vs. Normverletzung, Legitimierung vs. Stigmatisierung, Unvernunft vs. Erkenntnisgewinn – und anderes mehr.

2. D IE

GRÜNE

G EFAHR

Exemplarisch verdeutlichen wollen wir einige der genannten Spannungsfelder am kulturellen Umgang mit einem heute – wie schon einmal vor gut hundert Jahren – höchst populären ‚bewusstseinsverändernden‘15 Getränk, dem Absinth. Wermut-Wein ist seit der Antike bekannt, der Absinth in der heute üblichen Zubereitung aber erst seit Beginn des 19. Jahrhunderts. Seinen Siegeszug in Europa begann das grüne Getränk im algerisch-französischen Krieg (1844-1847), wo es zur Prophylaxe verschiedenster Erkrankungen (und wohl auch zur Steigerung der ‚Kampfmoral‘16) den französischen Soldaten regelmäßig in großen

15 Was den Absinth von anderen alkoholischen Getränken unterscheidet, ist sein Gehalt an der psychotropen Substanz Thujon (genau genommen α- und β-Thujone, deren komplexe pharmakologische Wirkungen hier im Detail nicht zu interessieren brauchen), die aus der dem Getränk den Namen gebenden Wermutpflanze (Artemisia absinthium L.) stammt. 16 Der uns vorliegenden Literatur ist nicht zu entnehmen, welche Rolle die psychische Beeinflussung der Soldaten durch Alkohol und Thujon bei der Entscheidung militärischer Stellen für die Ausgabe gerade dieses Getränks spielte. Ob Absinth in diesem Sinne eine Kriegsdroge war, wäre noch zu untersuchen. (Zum Einsatz von Rauschmitteln im Krieg generell siehe den Beitrag von Kemper in diesem Band.)

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Mengen verabreicht wurde (vgl. Lachenmeier et al. 2004: 118). Die Kriegsheimkehrer brachten den Absinth mit in ihre französische Heimat, wo er schnell zu einem ‚Modegetränk‘ wurde, dessen Konsum jahrzehntelang für weite Schichten der Gesellschaft den Übergang vom Arbeitsalltag zum Feierabend symbolisierte – diese Tradition hat sich in der französischen Sprache bis heute in der Form der l’heure verte (die Zeit zwischen 17 und 18 Uhr) niedergeschlagen. Von Frankreich und der französischsprachigen Schweiz aus trat das Getränk seinen Siegeszug durch viele Länder Europas an. Der Absinth wurde dabei nicht zuletzt durch seine Nutzung in Künstlerkreisen populär. Bekannte Absintheure im 19. und 20. Jahrhundert waren, wenn man der einschlägigen Dissertation von Nitsche (2005: 84, 98) folgt, die Schriftsteller Emile Zola, Guillaume Apollinaire, Oscar Wilde, Arthur Rimbaud, Charles Baudelaire, Ernest Hemingway, Edgar Allan Poe, Mark Twain und Victor Hugo oder auch die Maler Vincent van Gogh, Paul Cézanne, Henri Toulouse-Lautrec, Edgar Degas, Paul Gaugin, Eduard Manet, Pablo Picasso und Auguste Renoir. Alles in allem ein überaus illustrer Kreis – der von seiner Zusammensetzung her ebenso belegt wie erklärt, warum das Getränk im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht nur, aber insbesondere im französischsprachigen Europa als Mode-Getränk galt. „Absinth war bereits chic wegen seines hervorstechenden Aussehens und gewagt wegen seiner exotischen Herkunft, wegen seiner faszinierenden Farbnuancen, seiner extremen, beinahe nicht tragbaren Bitterkeit und der Annahme, dass er auf andere Weise nicht erreichbare Ideen hervorrief und zusätzlich Qualitäten als Aphrodisiakum hatte.“ (Nitsche 2005: 183) Der Absinthgenuss als Mittel zur (vermeintlichen) Steigerung des kreativen Potenzials von Künstlern gehört dabei ebenso zum positiven Mythos des Getränks17, wie die (vermeintlich) lebensgefährlichen Folgeschäden des „Nervengifts“ Thujon einen negativen Mythos bilden, der im öffentlichen Gefahrendiskurs seit dem 19. Jahrhunderts gleichzeitig bemüht und bedient wird.

17 Dieser Mythos schlägt sich auch in der Absinthwerbung zur Jahrhundertwende nieder – obwohl es vielleicht zutreffender wäre zu sagen, dass die Werbung der damaligen Zeit jenen Mythos befeuerte. Nitsche (2005: 64) schreibt über die typische Absinthwerbung der damaligen Zeit: „Eine Vereinigung von Erotik, Subtilität der Farben und Schnörkel der Verzierungen legt die Alchimie, die sich zwischen dem Likör und dem Wasser abspielt, nahe und spricht alle Sinne an.“ Zur Mythisierung des Getränks trug außerdem auch die lange Tradition der „Inszenierung des Absinths im Film“ (Radulovic 2010) bei.

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Wie wir noch sehen werden, versuchen aktuelle Absinth-Warnungen argumentativ an diesen mehr als hunderte Jahre alten Gefahrenmythos anzuschließen.18 Beim Exempel Absinth fällt schnell auf, dass sich zeitlich parallel zum kulturellen Siegeszug des Getränks ein zunächst medizinischer und dann öffentlichpolitischer Gefahrendiskurs etablierte, der so erfolgreich war, dass das Getränk für die überwiegende Zeit des 20. Jahrhunderts in den meisten europäischen Staaten (und in den USA) aus den Regalen und Lokalen verbannte wurde. Das gegen den Absinth ausgesprochene Verdikt unterscheidet sich dabei kaum von dem, was wir heute hinsichtlich von Substanzen wie Opium oder Kokain 19 kennen: Absinth galt (und gilt manchen heute noch) als höchst gefährliche Rauschdroge. Der Gefahrendiskurs begann in Frankreich und der Schweiz bereits Mitte des 19. Jahrhunderts (wir beziehen uns im Folgenden primär auf die Darstellungen bei Nitsche 2005: 110-111, 158-160, 171-177 sowie bei Lachenmeier et al. 2004: 119) und führte in verschiedenen Ländern Europas Ende des 19. bzw. Anfang 20. Jahrhundert zu immer strengeren gesetzlichen Regelungen – in vielen Ländern kam es zu Totalverboten.20 In Deutschland, wo der Absinth-Genuss historisch nie eine große Rolle gespielt hatte, startete der Gefahrendiskurs erst am Anfang des 20. Jahrhunderts – zunächst in Gebieten, die nahe an der französischen Grenze lagen und in denen der Absinthkonsum deshalb etwas höher war als im Rest des Reiches. Staatliche Stellen agierten dabei zunächst jedoch eher zurückhaltend; so schrieb der Präsident des Kaiserlichen Gesundheitsamtes im Jahre 1907 in einer Note an das Innenministerium (Dumm 1907, zit. nach Nitsche 2005: 172): „Von bedrohlichen Anzeichen, wonach eine größere Verbreitung oder ein Überhandnehmen des Absinthgenusses im Deutschen Reiche, ausser vielleicht in einigen wenigen westlichen Grenzbezirken, zu befürchten wäre, ist dem Gesundheitsamt nichts bekannt. Für

18 Was sich mit den Befunden zur historischen Entwicklung gänzlich anderer Problemdiskurse, etwa zur Prostitution oder zur Pornographie, deckt (vgl. Schetsche 1990). 19 Allerdings könnten dies auch gemeinsame Merkmale aller gesellschaftlichen Debatten über neuartige ‚Drogen‘ sein; so schrieb René König (1996: 9) über die entsprechend Gefahrendiskurse der frühen Moderne: „Im übrigen war damals die Diskussion über Alkohol, Kaffee und Tabakgenuß, wenig später über Tee und Kakao, in keiner Weise schwächer als heute angesichts anderer psychoaktiver Drogen (wie Opium, Morphium, Kokain und LSD).“ 20 Belgien 1905, Schweiz 1908, Holland 1910, USA 1912, Italien 1913, Frankreich 1914, Deutschland 1923.

18 | M ICHAEL SCHETSCHE & R ENATE -B ERENIKE S CHMIDT das gesamte Reichsgebiet Maßnahmen zur Einschränkung oder Beseitigung des Absinthgenusses zu ergreifen, scheint ein dringendes Bedürfnis nicht vorzuliegen.“

Dies änderte sich erst in der Weimarer Republik, wo man die Risiken des Absinthkonsums offenbar deutlich höher bewertete als noch zur Kaiserzeit. Schließlich setzte sich auch in Deutschland in der Drogenpolitik jener negative AbsinthMythos durch, der in Frankreich und anderen Ländern bereits vor dem Ersten Weltkrieg Oberhand gewonnen hatte: „Jedes negative oder problematische Phänomen der Gesellschaft wurde den Folgen des Absinthgenusses zugeschrieben. Absinth wurde für den wachsenden Alkoholismus, Wahnsinn, Impotenz, Blindheit, Verbrechen und alle anderen Arten von Übeln verantwortlich gemacht.“ (Nitsche 2005: 168; vgl. Lachenmeier et al. 2004: 119)

In Deutschland blieben Herstellung und Verkauf bis zum Jahre 1991 verboten21 – und nach allem, was wir wissen, gab es, wahrscheinlich weil kein Mangel an alkoholischen Alternativen bestand, auch keinen nennenswerten Schwarzmarkt. Erst nachdem das Getränk durch den von einer EU-Richtlinien festgelegten maximalen Thujon-Gehalt hinsichtlich seiner psychoaktiven Wirkungen vermeintlich entschärft22 worden war, wurde es in Deutschland und den meisten anderen EU-Staaten wieder für Herstellung und Verkauf zugelassen. Einige Jahre nach der Änderung der rechtlichen Regelungen und der Wiederfreigabe des Getränks kam es in Deutschland zu einem (kurzen) Versuch, den Gefahrendiskurs des frühen 20. Jahrhunderts zu reanimieren. Die neuen Warnmeldungen nahmen dabei explizit Bezug auf die früheren Debatten und versuchten die damals ‚erfolgreichen‘ Argumente aufzunehmen und in das 21. Jahrhundert hinüberzuretten. Wir können diesen kurzen – und letztlich erfolglosen – Diskreditierungsversuch hier nur anhand einer exemplarischen Problematisierung nachzeichnen23:

21 Das 1923 erlassene Absinth-Gesetz, das sogar die Veröffentlichung von Rezepturen untersagte, wurde 1981 aufgehoben, allerdings schnell durch Rechtsverordnungen faktisch ersetzt. Erst 1991 wurde eine EU-Richtlinie in deutsches Recht umgesetzt, nach der Getränke mit einem Thujon-Anteil von bis zu 35mg/kg zugelassen sind (Bundesgesetzblatt 1991, Teil 1: 2045-2050). 22 Tatsächlich war der Thujon-Gehalt historischer Absinthe lange Zeit unbekannt; neuere Untersuchungen weisen aber darauf hin, dass er nur selten über dem heute gültigen Grenzwert lag (vgl. Nitsche 2005: 134; Lachenmeier et al. 2004: 126). 23 Deutlich moderater argumentieren Hein et al. (2001) in der zentralen Verbandszeitung „Deutsches Ärzteblatt“: Lediglich bei Patienten mit sehr seltenen Erkrankungen (etwa

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In den „Zahnärztlichen Mitteilungen“ des Jahres 2002 malt der „gesundheitspolitische Fachjournalist“ (so die Selbstbezeichnung) Otmar Müller unter der Überschrift „Absinthmissbrauch“24 ein wahres Horrorszenario, was die Auswirkungen des Konsums des nun wieder frei handelbaren Getränks angeht. Schon in der Zusammenfassung am Beginn des Artikels heißt es, ebenso reißerisch wie moralisierend (Müller 2002: 78): „Rein äußerlich komm der Absinth unschuldig daher. Doch der Inhalt ist gefährlich: Es ist das Nervengift Thujon, das den Wermutschnaps so gefährlich macht. Fast 79 Jahre lang war Absinth in Deutschland verboten – jetzt wird er zum Modegetränk [...] Der grüne Wermutschnaps hat es in sich. Deshalb waren fast 70 Jahre – von 1923 bis 1991 – Konsum und Herstellung in Deutschland und vielen anderen europäischen Ländern verboten. Nicht ohne Grund.“

Welches dieser Grund, richtiger die Gründe des Verbots sind, erfahren Leser und Leserinnen dann auf den nächsten Seiten des teilweise geradezu beschwörend wirkenden Artikels: „Massenhafter Konsum hatte im 19. Jahrhundert in ganz Europa zu epidemieartigem Absinthmussbrauch geführt – mit entsprechenden medizinischen Folgeproblemen […] Halluzinationen, epileptiforme Anfälle und Hirnschäden waren drastische Auswirkungen eines exzessiven Konsums des gefährlichen Tröpfchens [...] Klinische Symptome bei chronischem Missbrauch: Haarausfall, Schädigung des Sehnervs, Urämie.“ (Ebd.: 78-79).

Als Beleg, hier nutzt der Beitrag die altbekannte Diskursstrategie der impliziten Verallgemeinerung extremer Einzelfälle (vgl. Schetsche 2014: 130-131), für die Gefährlichkeit des Absinths muss das ‚böse Ende‘ von Künstlern wie Vincent van Gogh herhalten: „Ein prominentes Beispiel der verheerenden Wirkung des grünen Wermutschnapses ist Vincent van Gogh [...] Es gilt als gesichert, dass sich der Impressionist im Absinthrausch ein Ohr abschnitt, bevor er wenig später

vererbter Porphyrie) könne es durch die Thujon-Aufnahme zu schwerwiegenden Störungen kommen. Eine generelle Problematik des Konsums wird hingegen nur historisierend im Kontext starken Alkoholkonsums sowie riskanter Zubereitungsweisen (insbesondere durch mangelhaften Industriealkohol) im 19. Jahrhundert beschrieben. 24 In seinem Beitrag ist durchgängig von „Absinthmissbrauch“ die Rede, ohne das geklärt würde, was denn als ein unbedenklicher Gebrauch des Getränks anzusehen wäre; dadurch wird der Anschein erweckt, als wäre jeder Konsum von Absinth bereits als ein ‚Missbrauch‘ anzusehen (was wahrscheinlich der Intention des Autors entspricht).

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Selbstmord beging.“ (Müller 2002: 78) Als weiteres Opfer wird Ernest Hemingway genannt, der ebenfalls für seinen Absinth-Konsum bekannt war – und über den es, in unmittelbarem Kontext der Beschreibung seiner alkoholischen Vorlieben, recht lakonisch heißt: „Hemingway beging 1961 Selbstmord.“ (Ebd: 79) Die Botschaft ist in beiden Fällen ebenso plakativ wie irreführend: Anhaltender Absinthkonsum führt zum Suizid. Wohl aus diskursstrategischen Gründen wird dann noch ein (biochemisch zweifelhafter25) Vergleich mit einem anderen ‚Gefahrenprodukt‘ ins Spiel gebracht: „In der molekularen Struktur weist Thujon große Ähnlichkeiten zu Tetrahydrocannabinol (THC) auf, dem Wirkstoff der Cannabispflanze. Thujon bindet an den Cannaboidrezeptor des Gehirns.“ (Ebd.: 79) Wir lesen dies als Versuch, den Anti-Absinth-Diskurs anschlussfähig an aktuelle Drogendebatten zu machen: Wer vor Cannabis warnt, sollte auch auf die Absinth-Gefahr hinweisen. Eine besondere Gefährlichkeit erhält das Getränk in der Wahrnehmung des Autors am Beginn des 21. Jahrhunderts schließlich noch dadurch, dass es online angeboten wird.26 So heißt es unter der Zwischenüberschrift „Gefahr aus den Internet“ fast schon süffisant: „Es ist eine altbekannte Weisheit: Spaß macht, was verboten ist. Im Internet lassen sich problemlos Anbieter finden, die den grünen Schnaps mit einer gefährlichen ThujonKonzentration von 100 Milligramm versprechen – dreimal so viel wie die in Deutschland zulässige Höchstgrenze. Gezielt ‚warnen’ die Hersteller im Internet vor den Wirkungen des Wermutkrauts – und stacheln so subtil der Probierlust der überwiegend jungen Konsumenten an.“ (Müller 2002: 80)

Womit auch schon klar ist, wer, wie bei anderen vermeintlich internetgenerierten Problemlagen, die primäre Risikogruppe ist: „Der Kult wird vor allem in der Jugendszene gezielt vorangetrieben.“ (Ebd.) Der Beitrag schließt mit einer der üblichen kulturkritischen Gefahrenprognose, nach der in Zukunft alles nur schlechter werden kann, als es heute ohnehin schon ist: „Es ist nur eine Frage der Zeit,

25 Die in der Öffentlichkeit immer wieder behauptete Einwirkung von Thujon auf die THC-Rezeptoren im menschlichen Nervensystem, welche eine psychoaktive Wirksamkeit ähnlich der von Cannabis-Produkten bedeutet hätte, konnte experimentell nicht nachgewiesen werden (Lachenmeier et al. 2004: 126), gehört mithin wohl in das Reich des negativen Absinth-Mythos. 26 … dem wir angeblich ja schon, so die zeitlich parallelen Diskurse zur Jahrtausendwende, die Porno-Sucht und die sexuelle Verwahrlosung der Jugend ‚verdanken‘ (kritisch hierzu die Beiträge in Schetsche/Schmidt 2010).

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bis die Rückkehr der ‚grünen Fee‘ die alten medizinischen Probleme wieder neu entfacht. Durch das lange Verbot steht die Medizin dem Problem weitgehend ratlos gegenüber.“ (Ebd.) Die Zahnmedizin aber offenbar nicht – uns ist allerdings bis zum Schluss verborgen geblieben, was gerade die „Zahnmedizinischen Mitteilungen“ zum geeigneten Ort für die erneuten Beschwörungen des negativen Absinth-Mythos machen könnte.27 Soweit diese Warnung vor einem geradezu ‚dämonischen Getränk‘. Im Anschluss an eine Theorie der Karriere sozialer Probleme (vgl. Schetsche 2014: 5770) muss man heute, mehr als zehn Jahre später, allerdings konstatieren: Im Gegensatz zu seinem Vorläufer zu Beginn des 20. Jahrhunderts scheiterte der neue Problemdiskurs zum „Absinthmissbrauch“ bereits im Übergang zwischen Fachöffentlichkeit und Massenmedien. Die Gefahrenwahrnehmung verfehlte die öffentliche und damit auch jede politische Anerkennung (vgl. Nitsche 2005: 133), es entstand kein neues soziales Problem und die erhofften gesundheitspolitischen Bekämpfungsmaßnahmen blieben aus. Dass der Gefahrendiskurs in Deutschland so sang- und klanglos scheiterte, lag vielleicht auch daran, dass es früh in der Debatte eine nachdrückliche Entwarnung aus für Öffentlichkeit wie Politik höchst zuverlässiger Quelle gab, nämlich von den für die Lebensmittelüberwachung zuständigen behördlichen Experten. Die im deutschsprachigen Raum wahrscheinlich am häufigsten zitierte aktuellere Arbeit zu möglichen Gefahren des Absinthrausches ist die toxikologische und lebensmittelrechtliche Untersuchung von Lachenmeier et al. (2004), deren zentrale Botschaft eine generelle Entwarnung beinhaltet, die nicht zuletzt auf einer Neuinterpretation der Ausgangsbefunde des medizinischen Gefahrendiskurses einhundert Jahre zuvor beruht: „Chronischer Missbrauch während der Blütezeit des Absinths im 19. und 20. Jahrhundert wird als Ursache für die als Absinthismus bezeichnete Krankheit mit folgenden Symptomen beschrieben: Nach Konsum wird das Wohlbefinden zunächst angeregt, es kommt zu Halluzinationen, denen eine depressive Phase folgt. Im fortgeschrittenen Stadium bilden sich Degenerationserscheinungen aus, die unter Krämpfen mit dem Tod enden können. Lange Zeit wurde Thujon als Ursache des Absinthismus dargestellt. Heute stellt sich diese Sichtweise wesentlich differenzierter dar. Andere Faktoren oder ein Zusammenwirken

27 Es kommt hinzu, dass eine der umfangreichsten wissenschaftlichen Arbeiten zum Thema Absinth im deutschsprachigen Raum die 217 Seiten starke zahnmedizinische Dissertation von Diana Nitsche (2005) ist; der Konnex zwischen Zahnmedizin und Absinthkonsum ist ein für uns momentan unerklärbares Phänomen.

22 | M ICHAEL SCHETSCHE & R ENATE -B ERENIKE S CHMIDT mehrerer Faktoren müssen für den Absinthismus verantwortlich gemacht werden.“ (Lachenmeier et al. 2004: 125; Herv. von uns)

So zeigen, wenn man Lachenmeier et al. (2004) folgt, aktuelle wissenschaftliche Untersuchungen, dass ein Großteil der in historischen Arbeiten beschriebenen ‚verheerenden‘ Wirkungen eher auf die Alkohol-Intoxikation oder eine Lebensmittelverfälschung während des Herstellungsprozesses (etwa durch Kupfersulfat) zurückzuführen waren, denn auf die Wirkung des Thujons, dessen Konzentration in historischen Absinthen überdies lange Zeit überschätzt wurde (ebd.: 126). Das lebensmittelrechtliche Fazit der Autorengruppe: „Nach Ansicht des Bundesinstituts für Risikobewertung ist selbst bei einer deutlichen Überschreitung des gesetzlichen Höchstwertes von 35 mg/kg nicht zu erwarten, dass der Verbraucher gesundheitsschädigende Mengen an Thujon aufnimmt. Wegen des hohen Alkohol-Gehalts wird jedoch vor einem regelmäßigen Konsum größerer Mengen abgeraten.“ (Lachenmeier et al 2004: 126)

Aus dieser Perspektive erscheint ein fehlender oder zu geringer Thujon-Gehalt des Produkts nicht als gesundheitspolitischer Glücksfall, sondern, gegenteilig bewertet, schlicht als Verbrauchertäuschung. Ganz offensichtlich ist die ‚Droge Absinth‘ zu Beginn des 21. Jahrhunderts auf dem ganz normalen (europäischen) Alkoholmarkt angekommen.

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Wir hatten – primär aus theoretischen Gründen – vermutet, dass der Gebrauch psychotroper Substanzen einen Verstoß gegen die Bewusstseins- und Wirklichkeitsordnung moderner Gesellschaften darstellt. Geklärt war damit allerdings noch nicht, wie der kulturelle Widerstand gegen (vermutete) Verletzungen jener Ordnung zustande kommt, wie er sich diskursiv und dispositiv realisiert und welche individuellen und kollektiven Akteure ihn aus welchen Gründen tatsächlich organisieren. Unsere kurze Fallvignette kann auf diese, gesellschaftstheoretisch sehr grundsätzlichen Fragen, verständlicherweise keine erschöpfende Antwort geben. Immerhin lassen sich jedoch – vor dem Hintergrund des oben skizzierten theoretischen Modells – erste Hinweise darauf finden, wie der kulturelle Schutz der Bewusstseins- und Wissensordnung funktionieren könnte: Erstens provoziert jede neue Rauschdroge (genereller würde man sagen: jede neue be-

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wusstseinsverändernde Praxisform) einen neuen kulturellen Gefahrendiskurs28, in dem versucht wird, die Nutzung jener Substanz oder auch Bewusstseinstechnik zu delegitimieren. Je nach den gerade dominierenden kulturellen Rahmenbedingungen stehen dabei mal religiöse, mal moralische, mal wissenschaftliche (etwas medizinische) Argumente im Vordergrund. Solche Diskurse sind insofern stets legitimatorisch (im Sinne von Berger/Luckmann 1991: 98-138), als nicht die strukturellen Gründe für die Unzulässigkeit, Verwerflichkeit usw. der entsprechenden Bewusstseinstechnik bzw. des jeweiligen Substanzkonsums in Feld geführt werden. Gewarnt wird nicht vor einer Beschädigung der (ja höchst abstrakten und argumentativ lebensweltfernen) Bewusstseins- und Wissensordnung, sondern vor jeweils diskursiv konstruierten konkreten (wechselnden) Schäden und Risiken für die Bevölkerung. Zweitens hat jeder dieser Abwehrdiskurse notwendig personale und institutionelle Trägergruppen (im ursprünglichen AntiAbsinth-Diskurs des 19. Jahrhunderts zunächst medizinische Experten, später auch politische Problemnutzer und religiöse Moralunternehmer), bei denen, historisch jeweils ganz konkret, zu fragen wäre, welche Eigeninteressen sie mit ihrem Engagement verfolgen und welche sozialen Ressourcen sie einzubringen vermögen.29 Und drittens schließlich wird aus dem (wir geben zu: rudimentären) Vergleich der beiden Absinth-Diskurse an der letzten und vorletzten Jahrhundertwende klar, dass der Erfolg oder Misserfolg solcher kulturellen Abwehrbewegungen von einer ganze Reihe von Faktoren abhängig ist, die eine prognostische Einschätzung ihrer Erfolgsaussichten alles andere als einfach machen. Deutlich wird anhand des untersuchten Beispiels schnell, dass die Karriere solcher Problematisierungen eher unabhängig von naturwissenschaftlich messbaren ‚Fakten‘ (der Thujongehalt des Absinths war, nach allem, was wir wissen, um 1900 nicht höher als im Jahr 2000) oder den konkreten pharmakologischen Wirkungen der betreffenden Substanz ist; wäre es anders, müssten in Ländern wie Deutschland Cannabis-Produkte erlaubt, zumindest hochprozentige alkoholische Getränke hingegen strengstens verboten sein. Hier scheinen andere Faktoren eine wichtigere Rolle zu spielen: die Handlungsmacht der jeweiligen Akteure, das Ausmaß der medialen Aufmerksamkeit, die Anschlussfähigkeit an bereits erfolg-

28 Wie solche Diskurse strategisch funktionieren, welche Akteure dabei welche Interessen verfolgen und wie ihre Erfolgsaussichten sind, ist in der Soziologie sozialer Probleme seit langem bekannt; verwiesen sei hier exemplarisch auf einen klassischen und einen neueren Band zur „Soziologie des Drogenproblems“: Selling 1989 und Hoffmann 2012. 29 Details zu solchen Akteursgruppen, ihren Ressourcen und Interessen generell finden sich bei Schetsche (2014: 85-107).

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reiche Gefahrendiskurse und sicherlich auch verschiedene kulturelle Rahmenbedingungen.30 Dies alles erklärt allerdings letztlich (noch) nicht, wie es zu, oftmals fast reflexhaft erscheinenden, Abwehrbewegungen gegen die Gefährdung der Bewusstseins- und Wirklichkeitsordnung kommen kann. Jene (ja zunächst einmal theoretisch gedachte) Ordnung kann wohl kaum selbst handeln und sich gegen Angriffe zur Wehr setzen – zumindest würde dies gegen jedes sozialwissenschaftliche Verständnis sozialer Akteure und ihrer Handlungsmacht verstoßen. So braucht es ‚Agenten‘ (hier wissenschaftlich neutral gemeint), die dies für sie übernehmen, gleichsam Wächter der rationalen Wirklichkeit, die es sich zu eigen gemacht haben, die Bewusstseins- und Wirklichkeitsordnung der Moderne, mit ihrem strikten Exklusivitätsanspruch hinsichtlich kollektiver Erkenntnisweisen und Erkenntnisinhalten, zu verteidigen – stets aus hehren Motiven und mit bestem Gewissen, oftmals wie mit Klauen und Zähnen und gelegentlich auch geradezu rauschhaft. Doch selbst wenn es kulturelle Logiken gibt, die sich gleichsam hinter dem Rücken der gesellschaftlichen Akteure realisieren (über solche Invisible-hand-Prozesse wusste bereits der Ökonom Adam Smith im 18. Jahrhundert Bescheid), scheint die diskursive Verteidigung der modernen Bewusstseins- und Wirklichkeitsordnung doch nicht in dieses Feld zu gehören – dazu haben die wissenschaftlichen, massenmedialen und politischen Diskurse zu offensichtlich ihre ganz bewusst handelnden ‚Gestalten‘. Theoretisch und empirisch zu klären wäre hier insbesondere, wie genau das höchste abstrakte Interesse eines Schutzes der gesellschaftlichen Ordnung der beschriebenen Art sich in konkreten Interessen und Aktivitäten kollektiver wie individueller Akteure niederzuschlagen und zu realisieren vermag. Bei unseren bisherigen Überlegungen hatten wir uns letztlich auf kulturelle Gefahrendiskurse konzentriert, in denen es um substanzgenerierte31 außerge-

30 Dies alles sind Typen von Faktoren, die wir aus der konstruktionistischen Problemsoziologie und ihren Versuchen kennen, den Erfolg oder das Scheitern gesellschaftlicher Gefahrendiskurse theoretisch zu verstehen und bestenfalls auch zu prognostizieren (vgl. Dreyer/Schade 1992; Schetsche 2000: 85-99). 31 Eine Sonderrolle nimmt in Europa dabei die Droge Alkohol ein, die im heute dominierenden gesellschaftlichen Diskurs von den üblichen Warnungen nicht gänzlich, aber doch vielfach ausgeschlossen bleibt; hier sind es meist nur bestimmte Gruppen, insbesondere Heranwachsende, deren Trinkverhalten Anlass zu kultureller Sorge liefert. Trinkexzesse in anderen Bevölkerungsgruppen (wie etwa beim Münchner Oktoberfest) hingegen werden in der Öffentlichkeit eher duldsam zur Kenntnis genommen.

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wöhnliche Bewusstseinszustände ging. Dies wirft die Frage auf, in welchem Umfang unsere (skizzenhaften) theoretischen Überlegungen sich auch auf weitere (vermeintliche oder tatsächliche) Verstöße gegen jene Bewusstseins- und Wirklichkeitsordnung übertragen ließen. Rauschzustände anderer Art (wie etwa der rauschhafte Arbeitsalltag der Börsenbroker, die Flow-Erlebnisse im Extremsport oder bei der wissenschaftlichen Textproduktion und vielleicht auch der Liebesrausch junger Menschen) scheinen, zumindest auf den ersten Blick, einer anderen gesellschaftlichen Betrachtungsweise und wohl auch einer anderen, moralisch deutlich weniger scharf schießenden Logik kulturellen Abweisung zu unterliegen. Gleiches gilt wahrscheinlich auch für Formen außergewöhnlicher Bewusstseinszustände, die sowohl alltagssprachlich als auch neurowissenschaftlich32 vom Rausch zu unterscheiden sind. Von den verschiedenen hier öffentlich und fachlich diskutieren kognitiv-emotionalen Zuständen interessieren uns in diesem Band, wie der Titel schon signalisiert, insbesondere zwei: die Trance und die Ekstase. Um die drei in den folgenden Texten fokussierten Bewusstseinszustände hier gleichsam ‚fair‘ zu behandeln, müssten an dieser Stelle zwei weitere Unterkapitel mit entsprechenden Fallvignetten und theoretischen Erwägungen folgen. Darauf müssen wir an dieser Stelle allerdings verzichten – nicht nur, weil (wir hatten bereits weiter oben darauf hingewiesen) der wissenschaftliche Literaturstand zu Trance und Ekstase in mehr als einer Hinsicht deutlich problematischer ist, als der zum in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder detailliert untersuchten (Drogen-)Rausch, sondern auch weil eine solche ‚argumentative Gleichbehandlung‘ das traditionelle Recht einer hinführenden Einleitung auf quantitativ schrankenlose Entfaltung dann doch überreizt hätte. Wir verweisen deshalb an dieser Stelle auf die Darlegungen in den verschiedenen Beiträgen des Bandes:33 Im Anschluss an diese Einleitung rekonstruiert ROBERT FEUSTEL den kulturellen Diskurs über den Rausch im 19. und 20. Jahrhundert. Im Zentrum steht

(Zum Alkoholkonsum als sozialem Problem vgl. den Überblicksartikel von Groenemeyer 2012.) 32 Zur neurowissenschaftlichen Differenzierung vgl. das Standardwerk von Vaitl (2012), das nicht weniger als siebzehn Arten veränderter Bewusstseinszustände detailliert unter die Lupe nimmt. 33 Inhaltlich wie konzeptionell vermissen wir an dieser Stelle Beiträge über „Rausch, Trance, Ekstase im Wiccatum“, über die „Ekstase in der christlichen Mystik“ und über die „Kriminalisierung des Drogenkonsums im 20. Jahrhundert“ sowie eine „rauschhafte Schlussbemerkung“, die vereinbart waren, dann aber unglücklicherweise nicht realisiert werden konnten.

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dabei die Frage, wie Drogenerfahrungen von den Betroffenen, aber auch von ihrem sozialen und gesellschaftlichen Umfeld interpretiert werden. Letztlich geht es um die ganz unterschiedlichen (mal besser, mal schlechter gelingenden) Versuche, dem ‚unvernünftigen‘ Rauschzustand in einer auf der Idee der Vernunft basierenden Kultur, über das individuellen Rauscherleben hinaus, einen intersubjektiven Sinn zu verleihen. Wie solch ein ‚Sinn‘ in einer vom Anspruch her ‚programmatisch vernünftigen‘ (szientistisch-rationalen) Gesellschaft aussehen könnte, untersucht INA SCHMIED-KNITTEL in ihrem Beitrag über Drogenkonsum und Alkoholrausch in der DDR. Der Aufsatz entfaltet und erklärt die, wahrscheinlich nur aus ‚westdeutscher Sicht‘ eigentümlich erscheinende, Dialektik zwischen dem Rausch als einem dem Sozialismus der politischen Ideologie nach ‚wesensfremden Phänomen‘ und der fast selbstverständlichen Akzeptanz einer ‚sozialistischen Trinkund Rauschkultur‘ im Alltag des untergegangenen zweiten deutschen Staates. Eine andere Art der Logik staatlichen Umgangs mit Rauschmitteln analysiert WOLF-REINHARD KEMPER, wenn er über den Einsatz von Drogen, etwa zur Steigerung soldatischer Kampfkraft, in den verschiedensten neuzeitlichen Kriegen berichtet. Der Beitrag zeigt überdeutlich, dass die tendenziell abolitionistische Politik in der Moderne nur eine Seite des Verhältnisses ‚Staat und Drogen‘ darstellt. Auf der anderen, öffentlich gern ignorierten Seite der Medaille, sehen wir uns mit dem systematischen ‚Doping‘ in Kriegszeiten konfrontiert, bei dem häufig genau jene Substanzen zum Einsatz kommen, die in Friedenszeiten, fast um jeden Preis, aus dem Verkehr gezogen werden sollen. Warum staatliche Drogenpolitik derartig widersprüchlich ist, versucht LORENZ BÖLLINGER in seinem Beitrag aus tiefenpsychologischer Sicht zu erklären. Der Fokus liegt in diesem Falle auf der rational kaum nachvollziehbaren Unterscheidung zwischen legalen und illegalen Drogen in der heutigen Zeit. Nach Auffassung des Autors muss das Wirken (kollektiver) tiefenpsychologische Mechanismen angenommen werden, um die Drogenpolitik des 20. Jahrhunderts verstehen zu können. Sie erklären, warum das Drogenstrafrecht bis heute Moralstrafecht geblieben ist, dem selbst mit den besten wissenschaftlichen Argumenten letztlich wohl nicht beizukommen ist. Von der Tiefenpsychologie des Drogenstrafrechts ist es nur ein kleiner theoretischer Schritt zur personalen und kulturellen Bedeutung sexueller Ekstase, die THORSTEN BENKEL in seinem Aufsatz untersucht. Dieser, vermeintlich alltägliche, außergewöhnliche Bewusstseinszustand wird dabei aus einer sozialwissenschaftlichen Warte unter die Lupe genommen – entsprechend werden die empirisch vorfindbaren Formen des Begehrens primär als Folge kultureller Prägungen in der Moderne (etwa durch die in den Medien verbreitete Pornografie) unter-

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sucht. Der ‚sexuelle Rausch‘ erscheint dabei als Grenzüberschreitung im mehrfachen Sinne, der eine ganze Reihe von Konfliktlinien mit der rationalen Kultur der Aufklärung zu erzeugen in der Lage ist. Um solche Verwerfungen zwischen Ekstase und kulturellen Grenzziehungen geht es auch im historischen Beitrag von SUSANNE GÖDDE, in dem die Autorin dionysische Kulte und insbesondere deren Festivitäten in der griechischen Antike untersucht. Sie konfrontiert uns dabei mit einer Welt der spirituell motivierten ‚Ausschweifungen‘, die uns einerseits höchst fremdartig erscheint, uns andererseits aber doch eine ganze Reihe von Anschlussmöglichkeiten an Diskurse der Moderne zu liefern vermag – etwa zum Geschlechterverhältnis oder zu Fragen sozialer Kontrolle. Letztlich hinterlassen die vorgestellten Formen religiöser Ekstase in jener antiken Kultur uns heute hier und da dann aber doch reichlich verblüfft. Auf andere Weise gilt dies wahrscheinlich für die noch heute im Sufi-Islam Vorderasiens vorfindbaren Formen spiritueller Ekstase und Rauschzustände, mit denen uns JÜRGEN WASIM FREMBGEN in seinem Text erlebnisnah konfrontiert. Am stärksten verwundert dabei wahrscheinlich, dass hier das Bild eines Islam gezeichnet wird, das sich in mehr als einer Beziehung von dem unterscheidet, was wir von dieser Weltreligion zu kennen meinen. Der Autor führt uns in eine Tradition dieses Glaubens ein, bei dem etwa der Gebrauch bewusstseinsverändernder Substanzen oder auch ekstatischer Tanzformen zentraler Bestandteil spiritueller Praktiken ist, eine im Westen bis heute kaum bekannte sinnenfrohe Variante des Islam. Um den Einsatz psychotroper Substanzen zu religiösen Zwecken geht es auch im Aufsatz von GERHARD MAYER, der die Nutzung von Ayahuasca und ähnlicher Substanzen in religiösen Gruppierungen Brasiliens schildert. Der Beitrag zeigt, dass die ursprünglich wohl schamanisch genutzten psychotropen Drogen seit Anfang der zwanziger Jahre des letzten Jahrhunderts systematisch in die Ritualpraktiken neureligiöser Bewegungen eingebaut wurden – Bewegungen, die, nicht zuletzt wegen dieser rituell gerahmten und sehr kontrollierten Drogennutzung, einen erheblichen Reiz auf spiritueller Sinnsucher und Sinnsucherinnen aus Europa und den USA ausüben. Hier entsteht aktuell ein Spannungsfeld zwischen freier Religionsausübung und Drogenstrafrecht, das uns in den nächsten Jahren politisch noch nachdrücklich beschäftigen wird Ein Spannungsfeld der anderen Art skizziert JOSEPH IMORDE in seinem Beitrag über die Bedeutung von Rausch und Ekstase in der Bildenden Kunst – dabei geht es weniger um das künstlerische Erleben abweichender Bewusstseinszustände, als vielmehr um die kulturellen Diskurse, die im 18., 19. und 20. Jahrhundert mit verschiedenen Formen ‚drogengestützter‘ Kunstproduktion verbun-

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den waren. Dabei zeigt sich, dass die gesellschaftliche, aber auch die kunstwissenschaftliche Bewertung solcher Praxisformen historisch starken Veränderungen unterlag – die nicht zuletzt vom Zeitgeist der jeweiligen gesamtkulturellen Einordnung des Drogenrausches abhängig waren. Eine andere Form des künstlerischen Rausches und der Ekstase untersucht SABINE HUSCHKA, wenn sie außergewöhnlichen Bewusstseinszuständen im Bühnentanz nachspürt. Anhand einer Reihe von Beispielen wird gezeigt, welche Bedeutung Rausch und Ekstase in den Ausdrucksformen ganz unterschiedlicher Tänzer und Tänzerinnen des 20. und 21. Jahrhunderts performativ bekommen; Ziel ist ein nicht nur dargestellter, sondern im Moment des Tanzes erlebter Aufruhr des bzw. der Körper, von dem die Zuschauer, wenn diese Art der Übertragung gelingt, affiziert und gleichsam auf eine Reise der Entgrenzung mitgenommen werden. Der Band endet mit einem kulturgeschichtlichen Beitrag von CHRISTIAN KADEN zu „Musik und Trance, Musik und Ekstase“. Die vielfältigen Verbindung zwischen außergewöhnlichen Bewusstseinszuständen und der Musik (im Schöpfungsprozess, der Aufführungspraxis sowie in der Rezeption) werden historisch breit untersucht: Von der Antike über verschiedene außereuropäische Kulturen bis hin zur europäischen Klassik spannt sich der Bogen, der nicht nur wissenschaftlich verdeutlicht, welche Bedeutung Rausch und Ekstase für musikalisches Empfinden haben, sondern uns auch sprachlich in unnachahmlicher Weise nahe zu bringen vermag, dass Musik in allen Kulturen der Welt ohne solche exzeptionellen Bewusstseinszustände nicht das wäre, was sie bis heute für uns Menschen ist. Völlig unerwartet ist dies ein ‚Schlussbeitrag‘ noch in einem ganz anderen, wahrlich endgültigen Sinne geworden: Christian Kaden ist im Dezember 2015, kurz nach Fertigstellung seines Textes, verstorben. Mögen seine Thesen über den „Klang als Brücke zwischen den Welten“ auch über die irdische Welt hinaus ihre Gültigkeit behalten. Der Tod von Christian Kaden hat uns tief getroffen. Wir widmen diesen Band seinem Gedenken.

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Die Zeit des Rauschs R OBERT F EUSTEL

1. E INFÜHRUNG „Die Zeit ist tot. Von nun an wird es weder Jahre noch Monate noch Stunden geben; die Zeit ist tot, wir geben ihr das Grabgeleit.“ (Gautier 2003: 486) Mit diesen markigen Worten, eher ausgerufen denn gesprochen, verdichtet Mitte des 19. Jahrhunderts der französische Schriftsteller Théophile Gautier seine Rauscherfahrung. Im berühmten Pariser Hotel Pimodan hatte er, zusammen mit einer Gruppe anderer Intellektueller (etwa Charles Baudelaire, Honoré de Balzac, Gérard de Nerval oder Jean-Joseph Moreau de Tours), Haschisch genommen und sich dessen Effekten hingegeben. Dass der Rausch die Zeit adressiert und aus den Angeln hebt, hatte bereits Thomas De Quincey notiert, der 1822 den vermutlich ersten Rauschroman moderner Prägung veröffentlichte. Die begriffliche Schärfe jedoch, mit der Gautier den Umstand beschreibt, dass die Uhren nicht mehr ticken, ist neu. Vielleicht ist Gautiers Der Club der Haschischesser nicht das erste Zeugnis, aber das wohl klarste, das Rausch und Zeit zusammenbringt. In diesem Text verdichtet sich ein doppelter Ausgangspunkt, eine zweifache Verknüpfung von Rausch und Zeit: Gautier umschreibt einerseits eine ästhetische Eigenzeit des Rauschs, die nicht linear den Uhren folgt. Der Rausch hebt das Zeitmaß aus den Angeln und erlaubt eine unzeitliche oder zeitlose Erkenntnis, die Einsicht in eine Wahrheit jenseits der Chronometer. Diese Deutung einer Drogenerfahrung verdichtet andererseits eine typisch moderne Spur; eine Version, von Drogen ausgelöste Ausnahmezustände mit Sinn anzureichern. Die vermeintliche Stabilität von Raum und Zeit mithilfe pharmakologischer Experimente zu attackieren, entspringt einem Denken, das selbst historisch – also zeitgebunden – ist. Gautier formuliert zugespitzt, dass seit Anfang des 19. Jahrhunderts von Drogen provozierte „altered states“ einer entsprechenden Semantik unterworfen werden. Was auch immer Drogen kulturgeschichtlich ausgelöst, ange-

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stoßen oder hervorgebracht haben: Um die Zeit auszutricksen, braucht es eine epistemische Ordnung, eine „Ordnung der Dinge“ (Foucault 1974), welche die Zeit als linear, stabil und eigentlich unantastbar vorstellt. Es braucht die „homogene und leere Zeit“ (Benjamin 1991) der Moderne, bevor der Rausch genau diese übersteigen oder überschreiten kann. Um dieses Argument zu stützen, wird es zunächst nötig sein, einige klassische Deutungen von Rausch aufzufädeln (1). Dabei wird sich zeigen, dass sich beinahe alle Annäherungen an diesen Überschreitungszustand voneinander unterscheiden. Dafür gibt es logische oder erkenntnistheoretische Gründe (2). Zudem muss Rausch als Signifikant seinen Gegenstand substanziell verfehlen. Erst die Vernunft selbst bringt einen Begriff von Rausch – und damit Rausch selbst – hervor und erschafft ihr Gegenüber, ihr Anderes, ihre Ausnahme. Der Rausch ist also eine Erfindung der Vernunft. Er ist historisch, wandelbar und performativ (3). Der Begriff führt gerade nicht etwas Reales einfach der Sprache zu, sondern formt eine prinzipiell deutungsoffene Reise, eine Drogenerfahrung, einen Ausnahmezustand auf eine bestimmte, moderne Art. Die berauschte Zeitschleife erscheint dann als historisches Diskursfragment und verliert ihren essenziellen Kern.

2. K LASSISCHE E RZÄHLUNGEN Normalerweise heißt es, Rausch als Ausnahmezustand gebe es, solange es Menschen gibt. „Schon in der Steinzeit“, eröffnet der Wikipedia-Artikel zum entsprechenden Eintrag den Abschnitt „Kulturgeschichte“, „wurde […] Alkohol in Form von Met und einer Art Bier gebraut“ (Wikipedia 2015). Will heißen: Solange Menschen die Welt bevölkern, seien berauschte Ausnahmezustände Teil des individuellen und sozialen Lebens. Rausch gleicht also einer anthropologischen Konstante, die zwar unterschiedlich bewertet und gedeutet wurde, selbst jedoch eine Art unveränderliche Basis mitbringt. Von dieser Annahme ausgehend, wurde häufig versucht, dem Rausch eine mehr oder weniger konsistente Definition umzuhängen, ohne dass die Frage nach der doppelten Zeit des Rauschs systematisch gestellt wurde.1 Es zirkulieren also viele Versuche, Rausch aufzuarbeiten, ihn zu kontextualisieren oder zu interpretieren. Medizinische Versionen haben Konjunktur. Aus

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Einige Passagen dieses Beitrags sind in einer älteren Fassung erschienen in: Feustel, Robert (2015): „Ein Trick der Vernunft. Die doppelte Kulturgeschichte des Rauschs“, in: Handbuch psychoaktive Drogen, Wiesbaden: Springer VS.

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diesem Blickwinkel wird er gern als pathologisch beschrieben und an ein Suchtproblem gebunden. Rausch trübe den Verstand, verursache Sozialkosten und sei schwerlich nur ohne Suchtkrankheiten zu haben (vgl. u.a. Nutt et al. 2007: 1048). In anderen medizinischen Annäherungen wird Rausch als „akute Intoxikation mit bewusstseinsbeeinflussenden Drogen“ verhandelt. „Mit steigender Intensität sei eine „zunehmende Bewusstseinseinengung“ zu beobachten (Zetkin/ Schaldach 1999: 1692). Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) stellt schließlich fest, ein „akuter Rausch“ sei ein „Zustandsbild nach Aufnahme einer psychotropen Substanz“, verbunden „mit Störungen von Bewusstseinslage, kognitiven Fähigkeiten, Wahrnehmung, Affekt und Verhalten oder anderer psychophysiologischer Funktionen und Reaktionen. Die Störungen stehen in einem direkten Zusammenhang mit den akuten pharmakologischen Wirkungen der Substanz“ (ICD-10-WHO Version 2011: F19.0, Herv. d. Verf.). Medizinisch scheint die Sache also relativ eindeutig: Rausch ist eine Störung, die mehr oder minder gefährlich ist und als pathologischer Nebenschauplatz die Zeitwahrnehmung irritiert. Für den Bewusstseinsforscher Ronald Siegel stellen sich die Dinge grundsätzlich anders dar: „Das Verlangen nach Rausch ist genauso wenig anormal wie das Verlangen nach Liebe, sozialer Anerkennung, aufregenden Erlebnissen, Macht oder jeder beliebiger anderer erworbenen Motivation. […] Der vierte Trieb, das Verlangen nach Rausch, kann ebenso wenig wie Sex, Hunger und Durst jemals unterdrückt werden.“ (Siegel 1995: 214; vgl. auch McKenna 1999 und Weil 1972)

In dieser Deutung ist Rausch nichts Störendes, und die moderne Medizin hat mit ihrer instrumentellen Vernunft den Kern der Sache grundsätzlich verpasst. Im Brockhaus (1972: 466) schließlich wird Rausch als „aufs höchste gesteigerter, meist als beglückend erlebter emotionaler Zustand“ fixiert. Es ließen sich beinahe unzählige weitere, sehr unterschiedliche Definitionsversuche und Annäherungen finden. Er ist neben Siegels vollständig naturalisiertem „viertem Trieb“ Indikator für „social harms“ (vgl. Nutt et al. 2007) und steht gleichzeitig entweder für die gestörte Einengung oder eine Erweiterung des Bewusstseins. Der Drogenforscher Rudolf Gelpke verschärft mit seiner Sicht auf die nüchterne Wissenschaft die Angelegenheit noch einmal gänzlich. Er vermutet, dass selbst beim Versuch, Rausch wissenschaftlich zu entschlüsseln, verkappte Dichter am Werk seien, die mit „Diplomatenpässen“ bestückt und damit nicht im Fokus der Prohibitionspolitik, jene Territorien erobern, die allen anderen vorenthalten bleiben: „[D]ie Dichter leben incognito – als Forscher.“ (Gelpke 1966/2008:

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69) Forschendes Schreiben über Drogen bzw. Rausch ist dann versteckte Prosa, weil anders dem Gegenstand nicht beizukommen sei. Das bedeutet allerdings, alles Wissen über Rausch als Literatur zu verkaufen und anzunehmen, man kenne bereits sein irrationales, unvernünftiges oder erhellendes Wesen, das nur literarisch, assoziativ und verspielt zu fassen sei. Zudem würde der Hinweis auf den unhintergehbar literarischen Charakter von Rauschdiskursen dazu führen, die vehementen politischen, philosophischen und wissenschaftlichen Debatten als fehlgeleitete Spekulationen zu interpretieren, die sich leider nicht im Klaren darüber seien, dass sie über ein eigentlich ästhetisches Thema reden. Die Positionen sind vielfältig, das Sujet ist umkämpft und dennoch gibt es eine Klammer, die das moderne Denken von Drogenerfahrungen als Rausch zusammenhält. Immer wieder wird Rausch als Herausforderung der Vernunft und der linearen Zeit verhandelt. Der Rausch ist – egal ob als Störung oder Trieb, als Erweiterung, Einengung oder Öffnung des Bewusstseins – immer das Andere des sachlichen, vernünftigen oder logischen Denkens. Nur so können die Uhren stehen bleiben. Rausch und Ratio sind Gegenspieler, die sich wechselseitig herausfordern. Entweder versucht das Denken, den Rausch zu begreifen (und scheitert), oder der Rausch will das Denken erklären (und scheitert genauso). Rauscherfahrungen wird etwa seit dem frühen 19. Jahrhundert immer wieder die Eigenschaft zugeschrieben, abseitige, unvernünftige und dennoch wertvolle Erkenntnisse oder Einsichten zu liefern. Sie zeigen vermeintlich etwas jenseits der Vernunft und eröffnen auf verschiedene Weise den Raum, um das Denken zu denken. Rauschdebatten beinhalten also eine Selbstbespiegelung des Denkens, in der selbst die Zeit nichts mehr gelten will.

3. V ERNÜNFTIGE V ERSUCHE Einstweilen drängt sich also ein methodisches, erkenntnistheoretisches Problem auf. Am Rausch haftet kulturgeschichtlich nicht selten das Versprechen, die sprachlich vermittelte, symbolische Ebene, das instabile Netz sprachlicher Zeichen, das Rationale und damit Raum und Zeit zu durchbrechen und etwas jenseits dieser unvollständigen, wandelbaren Ordnung ins Bewusstsein zu rufen. Abseits medizinischer Engstirnigkeit, Rausch schlicht als Störung zu disqualifizieren, gilt er mitunter als jenes „trojanische Pferd, mit dem die Vernunft (im allgemeinen) nicht fertig würde“ (Derrida 2006: 61). Er hebelt die Vernunft aus und untergräbt ihre Autorität. Anders als der Wahnsinn jedoch, der zumeist im „Monolog der Vernunft“ über ihn, also in einer „Sprache der Psychiatrie“ zum Vorschein kommt (Foucault 1969: 8), hat der Rausch selbst eine Sprache bzw.

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viele geschwätzige Stimmen. Unzählige Prosastücke, theoretische Reflexionen und philosophische Argumentationen reiben sich am Thema. Über Rausch zu sprechen, heißt also zunächst nicht, eine unmögliche „Archäologie [des] Schweigens“ zu versuchen (ebd.). Dennoch verweist jedes Sprechen oder Schreiben über Rausch – ob als dionysische Bedingung der Kunstproduktion (Friedrich Nietzsche), pharmakologische Überschreitung, buchstäblich exzentrische Erfahrung oder als pathologischer Zustand – auf einen konstitutiven Widerspruch. Wann immer vom Rausch gesprochen werden soll, wann immer entsprechende Beschreibungen den Horizont individueller Erfahrungen verlassen und zum versprachlichten Gegenstand gesellschaftlicher Debatten werden, schleicht sich die Vernunft des Schreibens oder Sprechens ein. Der Versuch, Sinn und Bedeutung des Rauschs einzukreisen oder zu fixieren, heißt, ihm (sprachlichen) Sinn angedeihen zu lassen. Das Sprechen über Rausch ist, anders formuliert, immer schon ein Stück weit vernünftig oder rational, weil man im Moment der Versprachlichung „bereits zum Feind und auf die Seite der Ordnung übergetreten [ist,] selbst wenn man in der Ordnung sich gegen die Ordnung auflehnt und sie in ihrem Ursprung in Frage stellt“ (Derrida 2006: 61). Rausch ist also entweder eine basale Erfahrung, über die sich einfach nichts sagen lässt (außer, dass es eine Erfahrung irgendeiner Art war). Oder die Vernunft des Sprechens ist immer schon beteiligt, wenn derselbe Zustand mit Bedeutung versehen werden soll. Wenn vom Rausch als reale Erfahrung bzw. als Erfahrung des Realen die Rede ist, wird vermutlich „niemals zu erklären [sein], was wirklich geschah“ (Thompson 1971/2005: 84). Die Vernunft bedient sich eines Tricks: Mit dem Versuch, über Rausch zu sprechen, setzt sie ihr Anderes ins Werk. Der Rausch ist letztlich eine Erfindung der Vernunft, die erst mit dem Begriff Form annimmt – und damit deutlich jünger als etwa der zitierte Wikipedia-Artikel nahelegt. Darauf wird zurückzukommen sein. Das heißt freilich nicht, dass Drogen eigentlich keinerlei Einfluss haben und alles nur ein Verwirrspiel eines irritierten und eingebildeten Verstands ist. Es wäre absurd, den Umstand zu leugnen, dass bestimmte Veränderungen im Metabolismus den Wahrnehmungsapparat durcheinanderwirbeln und mehr oder weniger deutliche Effekte auslösen. Wenn allerdings deren Bedeutung nicht ein für alle Mal präzisiert werden kann, mehr noch: wenn die Sprache entweder rationalisiert oder versagt, bleibt nur ein viel allgemeineres Phänomen. „Ich finde kein besseres Wort als Erfahrung“, schreibt Jacques Derrida, eine Erfahrung „im Sinne einer Reise, die die Grenze passiert.“ Eine Erfahrung als „Beziehung zum Anderen und die Öffnung gegenüber der Welt im allgemeinen“ (Derrida 1998: 255). Das ist vergleichsweise unspezifisch und lässt nur die leere Hülle einer Drogenerfahrung stabil, einer in gewisser Weise natürlichen Veränderung, die

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allerdings noch nichts bedeuten will. Der Rest sind Vexierspiele der Vernunft, die das Auge positioniert und die für sich genommen bedeutungslose Drogenerfahrung als Rausch hervorbringt. Auch berauschte Zeitschleifen, von denen noch die Rede sein wird, basieren auf einer zumindest versuchsweise vernünftigen Beschreibung, welche die Paradoxie mitbringt, einen (berauschten) Zeitraum als zeitlos zu skizzieren. Aus dieser Perspektive werden die eigenwilligen Verbindungen zweier vermeintlicher Gegenspieler lesbar: Rausch und Vernunft treffen sich immer dann, wenn im Wortsinn bedeutungslosen Drogenerfahrungen ein sprachliches Gewand umgeworfen werden soll. Die uferlosen Debatten zum Rausch und seinen philosophischen oder politischen, künstlerischen oder psychologischen Bedeutungen sind davon gezeichnet, dass eine singuläre, vorsprachliche Erfahrung schwerlich in Worte zu gießen ist. Selbst jene Autoren, die ihn hochleben lassen, gestehen dies mehr oder weniger offen zu. „Alles, was man schulmeisternd darüber vorgebracht, spricht an der Sache [dem Rausch] vorbei“, moniert Ludwig Klages (1922: 50) Anfang des 20. Jahrhunderts. „Aber das sind Worte Mann! Und man konnte das nicht in Worte packen“, versucht Tom Wolf psychedelischintersubjektive Momente der „All-Einheit“ sprachlich einzuholen (Wolf 1968/2009: 180). Auch Timothy Leary, Sprachrohr der psychedelischen 1960erJahre, kommt nicht umhin, den Rausch „in Worten zu beschreiben (die immer lügen)“ (Alpert/Leary 1962/1972: 11). Die autobiographische Romanfigur in Hunter S. Thompsons Fear and Loathing in Las Vegas, Dr. Duke, schnallt sich einen extra zu diesem Zweck angeschafften „hochempfindlichen Kassettenrekorder“ vor den Bauch, um den Rauschzustand aufzuzeichnen, weil er sich der Erinnerung entziehen könnte. Duke vermutet, dass im Gedächtnis allenfalls grobe Spuren hängen bleiben. Als der Rausch, hervorgerufen von einem Mix unterschiedlicher Substanzen, restlos die Oberhand gewinnt, rauscht auch das Tape und hinterlässt nichts Verständliches, wie Thompsons Lektor im Text selbst bemerkt. Wenn der Rausch regiert, bleibt nur Rauschen, und die Sprache verstummt. Es ist also wenig zielführend, den Rausch an sich und seine Einsichten zu debattieren, weil er als „the unspoken thing“ das buchstäblich „unfassbar Reale“ aufruft (vgl. Sarasin 2003: 123), an dem jede Übersetzung in zwangsläufig vernünftige Sprache scheitert. „Man kann das Reale nicht wissen, man kann immer nur wissen, was bereits Diskurs ist.“ (Siegert 2006: 48) Drogenerfahrungen kommen also immer erst zum Vorschein, wenn die Vernunft sie zeichnet. Und das geschieht seit etwa zwei Jahrhunderten zumeist in Form des Rauschs. Alles andere ist Schweigen, Stammeln oder Lallen.

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4. P ASSAGEN DER R AUSCHGESCHICHTE Wenn die Frage also nicht mehr jene nach der Eigentlichkeit des Rauschs ist, sondern die historisch wandelbare Deutung und Bedeutung von Drogenerfahrungen ins Zentrum rückt, dann befinden wir uns im Theater menschengemachter Geschichte. Dann hat der Rausch als Konstrukt, als Idee oder Vorstellung seine historische Zeit, seinen Ausgangspunkt und möglicherweise sein Ende. Die entsprechenden Szenen hängen am Begriff; sie verarbeiten das Reale sprachlich – und verfehlen es permanent. Der Ausgangspunkt des Rauschbegriffs liegt im mittelhochdeutschen rûsch, das zwei Kernbedeutungen mitbringt. Einerseits verweist es auf ein Rauschen der Blätter oder des Windes, also auf eine indifferente akustische Wahrnehmung, wie sie bis in die Gegenwart im Begriff des Rauschens eingeschrieben ist. Andererseits meint rûsch auch eine „rauschende bewegung“ bzw. einen ungestümen „anlauf“ oder „angriff“ (Grimm/Grimm 1893: Bd. 14, Sp. 303; vgl. auch Lexer 1978: 174). Es bezeichnet also ein Bewegungselement und konturiert es als ungestüm und planlos. Oder es wird, wie bei Johann Geiler von Kaysersberg, als Stil der Kriegsführung mit wenig taktischem Gespür verwendet: „wir Tütschen spilen kein ander spil dann der offnen rausch, darum so ligen wir dick under, es weisz jederman unsern anschlag in dem krieg“ (J. G. v. Kayserberg, zit. in Grimm/Grimm 1893: Bd. 14, Sp. 303). Seit dem frühen 16. Jahrhundert macht wohl ein nicht überlieferter Trinkerwitz die Runde, „der die zahllosen abstufenden bezeichnungen für zustände der trunkenheit im deutschen geschaffen hat, sei es, dasz sie an das rauschen im kopfe anknüpft, das sich in gewissen vorgerückten stunden einzustellen pflegt, oder an die geräuschvolle lustigkeit der zecher“ (ebd.; vgl. auch Kiesel/Kluwe 1999). Beide Bedeutungen des mittelhochdeutschen rûsch lassen sich auf die Zecher im Wirtshaus anwenden, auf den Lärm angetrunkener Menschen, die im Überschwang des Alkohols durcheinander reden und ein rauschendes, indifferentes Geplapper hinterlassen. Die Koordinationsprobleme, die Met und Branntwein verursachen und den Heimweg beschwerlich, unkontrolliert und bisweilen stürmisch aussehen lassen, können ebenfalls rauschhaft sein. Was auch immer die Pointe dieses Witzes war bzw. welche konkrete Situation die Sinnverschiebung des Rauschbegriffs im Einzelnen bewirkt haben mag: Seit dem 16. Jahrhundert wird Rausch mit Trunkenheit in Verbindung gebracht. Von nun an kann ein „leichter, schwerer, derber, dichter, dicker, guter, starker [...] rausch“ die Oberhand gewinnen (Grimm/Grimm 1893: Bd. 14, Sp. 303). Weitergehende, tiefere, doppelbödige Codierungen oder Zeitbezüge liegen allerdings nicht im Bedeutungshorizont des Begriffs (vgl. Feustel 2013: Kap. 1).

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Der Rausch der frühen Neuzeit und der Renaissance ist keiner, der direkt mit dem Bewusstsein zu tun hat, egal ob in Form von Einengung, Entwicklung oder Erweiterung. Er beeinträchtigt die Sinnesorgane. Mehr nicht. Mit anderen Worten: Vom frühen 16. bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts findet sich ein Rauschbegriff, der im Unterschied zur modernen Lesart zwei Lücken hat. Zum einen besteht keine semantische Verknüpfung zu Opiaten, zu Kräutern oder Säften mit halluzinogenen oder psychoaktiven Wirkungen, wie sie später bezeichnet werden, obwohl ein reichhaltiges Wissen über Stoffe, Tinkturen und Effekte die Kräuterbücher dieser Zeit füllen (vgl. u.a. Jay 2011). Zum anderen fehlt dem Rauschbegriff jene Dimension, die auf einen lesbaren geistigen Zustand verweist, auf eine Erzählung, deren Inhalt von Belang wäre. Rausch bezeichnet in dieser Erfahrungswelt also keine Veränderung der Wahrnehmung, keine Verschiebung der Zeit, sondern zumeist – um es technisch auszudrücken – Funktionsbeeinträchtigungen einzelner Sinnesorgane, die im schlimmsten Fall als Sünde gelten. Schon in Sebastian Brants 1494 erstmals erschienener Schrift Das Narrenschiff, die im 16. und 17. Jahrhundert viel rezipiert wurde, kommt der Trinker auf das Schiff, weil „vernunfft vnd synn“ zerstört sind, nicht irritiert oder fortgetragen (Brandt 1995: 42). Zedlers berühmtes Universallexikon widmet dem Rausch zwar vier Spalten, dennoch findet sich kein Hinweis auf spezifische Erzählungen, Erlebnisse, Visionen, Wahrnehmungen oder psychoaktive Momente. Im Gegenteil: Rausch und Trunkenheit werden mit Worten wie „Lähmung“, „Schwachheit“ oder „schändliche Sünde“ umschrieben und laufen auf eine Schwäche der Sinne hinaus (Zedler 1752: Bd. 30, 581-582). Nun ist die Frage berechtigt, was in diesem Kontext Drogenerfahrungen bedeuten, die nicht nur die Sinne schwächen, sondern die Wahrnehmung aus dem Ruder laufen lassen. Was ist beispielsweise mit vermeintlichen Hexen und Hexern, deren Verfolgung bekanntlich erst in jenen Zeiten des Aufbruchs in die Moderne beginnt?2 Dass sich in einigen Kreisen Opiate, Bilsenkraut und viele andere Stoffe reger Beliebtheit erfreuten, ist auch den Zeitgenossen des 16. und 17. Jahrhunderts, den Ärzten und Inquisitoren bekannt. Nur hat all das nichts mit Rausch zu tun. Das Wissen der Zeit ist nicht auf die nüchterne Objektivität der Welt, auf eine empirisch zu fassende „wirkliche Wirklichkeit“ eingeschworen. Es spielt viel mehr per se mit Raum und Zeit, mit Analogien und Ähnlichkeiten und – nicht zuletzt – mit der Heiligen Schrift. Im Rahmen einer solchen Ordnung

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„Die Renaissance liegt als Brücke über der Zäsur zwischen Mittelalter und Neuzeit. Es ist nicht die mittelalterliche Hexenlehre, die im 15. Jahrhundert kulminiert – es ist die Hexenlehre der Renaissance, die im 15. Jahrhundert ihren Anfang nimmt und sich bruchlos bis ins 17. Jahrhundert fortentwickelt“ (Neugebauer-Wölk 2003: 334).

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des Wissens gehören Überschreitungserlebnisse, ob mit oder ohne Hilfe von Substanzen, nicht nur einer profanen Welt der Drogenerfahrungen an. Das Streitfeld, das sie tangieren, liegt buchstäblich zwischen Himmel und Hölle; und Drogen stoßen vielleicht etwas an oder lösen es aus. Verantwortlich oder ursächlich sind sie nicht (vgl. zum Denken in Analogien und Ähnlichkeiten Foucault 1974). Raum und Zeit sind in einem zirkulären Kontinuum verfangen. Ein Beispiel: Der spätmittelalterliche Prediger Johann Geiler von Kaysersberg stellt sich in einer späten Schrift die Frage, ob Hexen zum Sabbat fahren. Dabei bemerkt er, dass es kein Widerspruch sei, wenn sie körperlich bzw. materiell bleiben und dennoch an einem anderen Ort sein können.3 Der Raum ist nicht in gleicher Weise konsistent wie das moderne Denken ihn konzipiert. Damit ist auch die Zeit nicht einfach linear. „Durch ihre Verdopplung im Spiegel“, kommentiert Michel Foucault diese Ordnung des Wissens, „hebt die Welt die ihr eigene Distanz auf. Sie siegt dadurch über den Ort, der jedem Ding gegeben ist. Welches sind die ersten Widerspiegelungen, die den Raum durchlaufen? Wo ist die Realität, wo ist das wiedergegebene Bild? Oft ist es unmöglich, das zu sagen, denn die Nachahmung ist eine Art natürliche […] Zwillingshaftigkeit der Dinge“ (Foucault 1974: 49).4 Erst im Kontext einer entfesselten Aufklärung, die ein mehr oder weniger konzises Vernunftdenken mit einer „homogenen und leeren Zeit“ (Benjamin 1991: 701) hervorzubringen glaubt, zeigen sich Rauscherzählungen jenseits des Alkohols erstmals als das Andere der Vernunft, als ihr unvernünftiges Gegenüber. Die Effekte von Drogen aller Art werden zu basalen Sinnestäuschungen, Irritationen und Fehlleistungen eines aus der Bahn geworfenen Gehirns. Besonders im Rückblick auf die Inquisitionspraxis des 16. und 17. Jahrhunderts taucht das Argument auf, Hexenflug und Sabbat, Teufelsbuhlerei und diabolische Monstren seien nichts anderes als vom Rausch hervorgerufene Fehlschlüsse der Verstandeskräfte; tanzende Bilder, die nichts mit der wirklichen Welt zu tun hät-

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„Das ist eine gewisse regel in der matery, das der teuffel kan ein ding von einem ort an das andere tragen, das leiplich ist [...], durch die angeschöpffte strecke, die er hat von got dem allmechtigen. Daher kummet es, wann ein hex uff ein gabel sitzt und salbet die selbig und spricht die wort, die sie sprechen sol, so fert sie dan dahin, wa sie numen wil. Daz hat die gabel nit von ihr selber, die salb thout es auch nit“ (Johann Geiler von Kaysersberg 1516: 36).

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Auch die profane Heiligkeit der Festkultur, die ohne Zweifel von Alkohol und Drogen getragen wurde und mit einer „Umwertung aller Werte“ spielt, attackiert keine lineare, autonom fließende Zeit und hebelt sie aus wie moderne Rauschsequenzen. Wir haben es eher mit einem Moment des Sakralen zu tun, in dem die Ordnung aus den Fugen gerät (vgl. Feustel 2013: 25-70).

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ten (vgl. u.a. Rübel 1756). Wenn die Imaginationen, überhitzt von Drogeneinflüssen, die Rückkoppelung im Wirklichen verlieren, produzieren sie Hirngespinste. Eine solch strikte Gegenüberstellung einer „wirklichen Wirklichkeit“ und berauschter Phantasien überführt das „unfassbar Reale“ auf spezifische Weise in den Bereich des Symbolischen. Und zugleich stabilisiert sich eine immer schon instabile Rationalität, indem sie ihr Gegenüber als Rausch dingfest macht und als Fehler oder Irritation ohne weitere Bedeutung konzipiert. Erst in einer solchen Deutung von Welt und Zeit wird es möglich, im Rausch Zeitschleifen oder unendliche Weiten zu erleben. Im gleichen Atemzug dehnt sich der Begriff Rausch auf alles aus, was durch Substanzen hervorgerufen wird und die Perzeption verschiebt. Was also zuvor nur mit Alkohol und seinen Effekten in Verbindung stand, erweitert nun seinen Bedeutungsraum. Von heute besehen mag dies wenig verwundern, weil wir es gewohnt sind, vom Rausch zu reden und nicht nur Trunkenheit zu meinen. De Quincey dagegen, der mit seinem Buch Confessions of an English Opium Eater (De Quincey 1822/1996) für Aufsehen sorgte, ist über diese Bedeutungsverschiebung am Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch einigermaßen irritiert. Für ihn ist „intoxication“ Trunkenheit, und seine Erlebnisse mit Opium sind grundlegend anders zu beschreiben. Er distanziert sich mit einem ironischen Beispiel von einer offenbar alles umfassenden Rauschrhetorik: „[E]in Medizinstudent in London“, schreibt er, „dessen Tüchtigkeit in seinem Fach mir großen Respekt einflößte, versicherte mir unlängst, daß ein gerade genesener Patient sich an einem Beefsteak berauscht habe“ (ebd.: 81). An dieser Stelle sei angemerkt, dass der Streit um die Bedeutung von Drogenerfahrungen, um Ekstase, Trance, Ausnahmezustände usw. freilich nicht erst im 18. Jahrhundert beginnt. Mit Rausch als „travelling concept“ (Bal 2002) allerdings verschiebt sich der Diskurs, der – und das scheint tatsächlich neu – Drogenerfahrungen und Rationalität in eine fundamentale Opposition zueinander setzt und, als Gegenstück zu jedem vernünftigen Gedanken, die Objektivität von Raum und Zeit nicht gelten lässt. Die kontingente Symbolisierung namens Rausch ordnet seither unbestimmte Erfahrungen mit Drogen einer bestimmten Form von Bedeutung unter und gibt ihnen zugleich einen Namen. Insofern sind die Diskussionen zum Rausch, das heißt die verschiedenen Versionen, das Reale ins Symbolische zu überführen, eine Art Seismograph für den Stand der Dinge. Im 19. Jahrhundert etwa etabliert sich, wie eingangs angedeutet, ein Verständnis des Rauschs entweder als romantische Einsicht in die transzendente Seite des Menschen, die – de facto immer etwas neben der sprachlichen Spur – im Rückblick auf eine inkommensurable Erfahrung behauptet wird (vgl. u.a. Baudelaire 1860/1910; De Quincey 1822/1996; Gautier 2003; Ludlow 1857/2007).

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Oder Rausch macht sich als Modellpsychose einen medizinischen Namen, als künstlich hergestelltes Irresein auf Zeit, das (durch die Hintertür) metaphysische Einsichten in die allgemeine Struktur des Wahnsinns liefert (vgl. Moreau de Tours 1845/1973). Edgar Allan Poe (1938: 649) bringt es auf den Punkt: „Men have called me mad; but the question is not yet settled, whether madness is or is not the loftiest intelligence – whether much that is glorious – whether all that is profound – does not spring from disease of thought – from moods of mind exalted at the expanse of the general intellect.“

Beide Versionen (die romantische und die psychiatrische), mit Rausch als Beschreibung einer Erfahrung des Realen umzugehen, sind sich erstaunlich ähnlich. Jeweils blitzt vermeintlich das Andere des Denkens und der Vernunft auf und wird Gegenstand ganzer Theorien (vgl. Scharbert 2010). Immer bleibt die Zeit stehen oder bewegt sich zirkulär. Eine pathologische Sprache nimmt sich der Drogenerfahrungen an, und am Ende steht der Blick auf eine ganz andere Wirklichkeit, die entweder den Fehler des Wahnsinns oder die metaphysische Wahrheit des Subjekts preiszugeben verspricht. Außer zu ihrer Existenz lässt sich allerdings nicht viel über diese andere Wirklichkeit sagen. Am Ende des 19. Jahrhunderts verschieben sich Funktion und Bedeutung des Rauschs. Er dient weniger dazu, eine andere Ebene – die Wahrheit der Welt, des Subjekts oder Wahns – der Erkenntnis zuzuführen. Vielmehr wird ihm die Rolle zugeschoben, das Individuum selbst aus den verkrusteten Klauen des Logos (Ludwig Klages) zu reißen und einem „Strom des Lebens“ den Vortritt zu gewähren. Das Ideal einer „Ich-Zerstörung“ (Gottfried Benn) taucht in dieser Zeit beharrlich auf, so vielfältig die Debatten zu Rausch und Drogen auch sein mögen. Der Rausch wechselt also die Spur: vom idealisierten Gegenspieler des Denkens (als Transzendenz oder Wahnsinn) zu seinem fließenden und empfindenden Untergrund, den es ans Licht zu holen gilt. Mit ihm kommt ein „ozeanisches Gefühl“ auf, das die Banalität von Vernunft, Ich und Denken vorführt. Eine solche Überschreitungserfahrung lässt die Uhr nicht außen vor. „Wer neunzig Jahre existiert, braucht darum noch keine zwei Minuten gelebt zu haben; und wer jung dahinstirbt, geht deshalb nicht auch der Ewigkeitsaugenblicke verlustig, deren in kürzester Spanne reicher teilhaftig zu werden er etwa begnadet war.“ (Klages 1922: 51)

In einem leicht verschobenen Theorierahmen betritt ein berauschtes, ich-loses Individuum eine Zeitschleife, die erst denkbar wurde, nachdem die aufgeklärte

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Welt, der Zeit ein lineares, geradliniges Gewand verliehen hatte. Und wiederum bleibt, dass es außer über einen zeitlosen „Strom des Lebens“ nichts Verständiges, Sinnhaftes oder Konkretes zu berichten gibt. Die Bedeutung des Rauschs verkapselt sich erneut in formalen Bestimmungen. Der Rest bleibt Sache individueller ästhetischer Erfahrung und entzieht sich konsequent der sprachlichen Verarbeitung. Im gleichen Zeitraum, etwa ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und mit Nachdruck in den ersten beiden Dekaden des 20. Jahrhunderts, wird Rausch als Zustand einem biopolitischen Suchtdiskurs unterstellt (vgl. Wiesemann 2000). Neben die älteren kulturphilosophischen Fragen zum Rausch gesellt sich also seine Problematisierung als Teil des Drogenkonsums, der die gerade erst entdeckte oder erfundene Autonomie des Subjekts bedroht. Bis heute ist diese Spur virulent, und wir können kaum über Rausch reden, ohne umgehend mit einem wirklichen oder vermeintlichen Drogenproblem konfrontiert zu sein. Passend zu dieser politischen und medizinischen Problematisierung von Drogen und Rausch macht ein neuer Begriff die Runde: Rauschgift. Erst in jüngster Zeit ist dieses Kompositum in Zweifel gezogen worden, weil es einen lebensbedrohlichen toxischen Zustand unumwunden mit einer mehr oder weniger planvollen und zunächst nicht unbedingt todesmutigen Berauschung vermengt. Der Giftbegriff selbst ist mehrdeutig und relational,5 hängt die Einordnung als Gift doch immer von der Dosis ab. Zumeist liefert nicht der Stoff den Unterschied zwischen Medikament und Gift, sondern nur die Menge und der Anwendungskontext. Daher ist die polarisierende Bezeichnung Rauschgift schwierig und dennoch stilbildend. Die Pauschalität und Ungenauigkeit des Begriffs macht ihn zwar angreifbar. Als politische Waffe allerdings kann er sich seiner Eignung möglicherweise genau deshalb sicher sein. Mit der Zeit schließlich „haben wir uns angewöhnt, über den Rausch in der Sprache der Sucht zu reden“ (Thiel 1993: 126). Dieses Thema gehört jedoch zur Geschichte des Suchtdiskurses und der Drogenpolitik. In den 1950er-Jahren entwickelt sich – parallel zur politischen Dämonisierung von Drogen und Rausch – eine neue Welle rauschaffiner Debatten, die eineinhalb Jahrzehnte später weite Teile der Populärkultur vor allem in den USA überspült haben wird. Ohne Frage nimmt sie Spuren älterer Rauschdiskurse auf und trägt bekannte Hoffnungen vor sich her. Gleichzeitig gerät sie heftig in die Kritik, schließlich hatte seit den 1920er-Jahren eine rauschfeindliche Verbotspolitik deutlich die Oberhand gewonnen. Dennoch zeigt sich im Hype um LSD-25,

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Das noch bis ins 16. Jahrhundert gängige Femininum „die Gift“ als Geschenk – siehe Mitgift – schwingt beharrlich mit.

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um Meskalin, Peyote und andere psychoaktive Stoffe ein neuerlicher und veränderter Versuch, eine Erfahrung zu versprachlichen und sie zu verstehen. Neben das philosophische und bereits ältere Argument, das Bewusstsein müsse sich mit der Hilfe von Drogen entwickeln oder erweitern, gesellen sich Vorstellungen, die dem psychedelischen Rausch die Funktion zukommen lassen, genetische Codierungen auszulesen und neuronale Potenziale zu erschließen (vgl. u.a. Leary 1982). Auf einmal scheint es möglich, die alten Muster des sozialisierten Ichs, die Maske des Egos und damit die altbekannte Instanz der Erkenntnis (das Subjekt) als unbedeutend zu entlarven. Nun heißt es, der psychedelische Rausch entlocke dem DNS-Code phylogenetische Informationen, die den Menschen irrelevant werden lassen. „Intersubjektivität“ ist das Schlagwort. Tom Wolfe skizziert, wie Sit-Inns der 1960er-Jahre von einem Wissen darüber geprägt sind, dass alle Beteiligten auf der gleichen Wellenlänge unterwegs seien, weit jenseits des Individuums. „All-Einheit“ herrscht, solange der LSD-Rausch seine Wirkung entfaltet. Das Subjekt, das denkende Individuum, scheint Geschichte, von der Dynamik der vom Stoff freigesetzten Informationsflüsse für nichtig erklärt. Im psychedelischen Trip zeigt sich, so die Beschreibungen, eine grundsätzlich andere Existenz, eine neue, von Informationen getragene Lebensform. Genauso wie die Mikrowelt des Gehirns nicht mehr scharf von der Makrowelt des Universums zu trennen ist, lassen sich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nicht einfach unterscheiden. Eine informationstheoretisch unterfütterte Systemzeit hebelt die lineare, nur vernünftige Zeit aus: keine Latenz, kein Verzug, alles im gleichen Augenblick. Wenn der Rausch allerdings vorbei ist, springen die Uhren wieder auf null, alles auf Anfang. Zurück bleibt erneut nur die (formale) Beschreibung all dieser Erfahrungen, ihre blanke Existenz, ohne dass zu erklären wäre, was auf der DNS als phylogenetisches Gedächtnis tatsächlich steht, was die freigesetzten neuronalen Kapazitäten konkret für Veränderungen bewerkstelligen oder was genau die intersubjektiven Momente und das Denken jenseits herkömmlicher Zeitvorstellungen bedeuten mögen. Für all dies scheint jede Sprache unangemessen. Bleibt noch ein Blick auf aktuelle Debatten. Seit sich Ende der 1960er- bzw. Anfang der 1970er-Jahre die revolutionären Hoffnungen, die an Drogen und Rausch hingen, erledigt zu haben scheinen, gibt es eine Vielzahl teils sehr unterschiedlich verstandener Funktionen von Rausch. Eine Tendenz lässt sich vielleicht dennoch herausschälen: Rauscherfahrungen werden zunehmend als Vehikel zur Selbstoptimierung, zur Verbesserung der eigenen Kreativität oder Leistungsfähigkeit verwendet und schreiben sich damit in ein zeitgemäßes Modell ökonomischer Rationalität ein. Sie beschleunigen, aber hebeln die Zeit nicht mehr aus. Anfänge einer solchen Tendenz sind bereits im Kontext der Rave- und

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Technobewegung Ende der 1980er- und Anfang der 1990er-Jahre erkennbar, als die Wochenenden zwar der exzessiven Klubkultur gehörten, diese aber den routinierten Alltag der Arbeitswelt nicht infrage stellten (vgl. u.a. Böpple/Knüfer 1996). Während noch in den 1960er-Jahren eine buchstäblich unbeschreibliche andere Wirklichkeit im Rausch auf ihre Entdeckung wartete, sind es jetzt Momente von Normalität, die geschmeidiger und schöner werden: Kein „drop out“ mehr, wie es Leary mit seiner berühmten Phrase „Turn on, tune in, and drop out“ formuliert hatte. Stattdessen greift ein effizienteres und kreativeres „keep on working“ um sich, das Spaß und Schaffen kombiniert und keinen Ausbruch aus der Gesellschaft über die Partynacht hinaus mehr fordert. Substanz und Supplement harmonieren und fügen sich geschmeidig in den kapitalistischen Status quo ein. Drogen verlieren offenbar ihre Funktion, einen Ausnahmezustand, eine Zeit ohne Zeit auszulösen. Sie fügen sich eher schleichend in die Permanenz eines ökonomischen Ausnahmezustands ein und dienen der Selbstoptimierung. Nicht zufällig dominieren schnell wirkende Drogen wie Crystal Meth oder Amphetamine die letzten Jahre. Neben ein auch weiterhin heftig ideologisiertes Drogenproblem gesellt sich also ein Verständnis von Rausch, das immer näher an eine pharmakologische Kosmetik oder an eine Psychopharmakologie heranrückt und den Unterschied zwischen Medikament und Droge verwässert. Ein illustratives Beispiel liefert der 2011 erschienene Film Ohne Limit von Leslie Dixon. Dem Protagonisten gelingt es dank einer neuartigen Droge, Intelligenz, Erinnerungsvermögen und Konzentrationsfähigkeit zumindest kurzzeitig extrem zu verbessern und vorübergehend eine „perfekte Ausgabe seiner selbst“ zu werden. Er lernt Sprachen nebenher, wird ein mathematisches Genie und registriert – auch empathisch – alles, antizipiert daher Verhaltensweisen und ist immer einen Schritt voraus. Der Preis dafür sind lebensgefährliche Abhängigkeitssymptome. Dixons Film verhandelt zwar nicht Rausch im klassischen Sinn, zeigt aber, was das Ideal einer pharmakologischen Beeinflussung ist: Optimierung, Beschleunigung und Leistungssteigerung.

5. S CHLUSS Im schnellen Durchlauf durch die Rauschgeschichte zeigen sich also sehr unterschiedliche Versionen, eine Erfahrung des Realen zu greifen, ihr Sinn und Verstand zu verleihen. Verleihen ist hier wörtlich zu verstehen: Kein Text, keine Definition, kein Erklärungsversuch kann für sich beanspruchen, auf Dauer gestellt zu sein. Genauer: Es gibt diverse Rauschdiskurse, die mit dem Anderen der

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Vernunft spielen, selbst aber nie wirklich und vollständig unvernünftig sein können – es sei denn, über entsprechende Erfahrungen wird der Mantel eines „spirituellen Schweigens“ gelegt (Dolar 2007: 45). Vielleicht ist es weniger interessant, was Rausch letztlich und tatsächlich ist, was seinen vorsprachlichen Wesenskern ausmachen könnte und ob rauschhafte Erlebnisse das Soziale gefährden, stärken oder unterlaufen. Ein historisierender Blick dagegen, der danach fragt, wie Rausch verstanden, verhandelt, verteufelt, verhaftet oder genutzt wird, liefert andere Einsichten. Damit werden Grenzfiguren und Überschreitungsmomente sichtbar, die einiges darüber erzählen, was als rational, vernünftig oder nüchtern gilt. Genauso wie die Bedeutung des Rauschs erst im zwangsläufig vernünftigen Sprechen Kontur gewinnt, braucht die Vernunft ein Gegenüber, ein Spiegelbild gewissermaßen. Die konkreten Formen der unterschiedlichen Rauschdiskurse verraten also etwas darüber, welches Selbstbild das vernünftige Denken von sich erschafft. Schließlich gibt es viele Kipppunkte und Diffusionen. Wenn etwa an der Börse davon geredet wird, dass der DAX, die Anleger oder im Zweifel beide „im Rausch“ sein können (vgl. boerse.ARD.de 2013; Hoffmann 2013), hilft es wenig, Rausch und Rationalität an unterschiedlichen Ufern zu suchen. Der Rausch beschreibt eine doppelte Zeitdimension: Einerseits lässt sich den historisch unterschiedlichen Versuchen nachspüren, Drogenerfahrungen im Allgemeinen zu symbolisieren, sie einzuordnen und mit ihnen umzugehen. Diese Prozesse ließen sich sicherlich auch in der Steinzeit finden, selbst bei einer vermutlich sehr prekären Quellenlage. Andererseits liefert die vergleichsweise junge Geschichte des Rauschs eine Kartographie des modernen Denkens – als eine Version, Veränderungen im Metabolismus zu (be-)deuten. Weil der Rausch als Trick der Vernunft erst von dieser ins Leben gerufen wurde, ist er auch (nur) Ausdruck eines modernen Denkens. Der Rausch hat seine Zeit, in seiner modernen Gestalt etwa seit dem frühen 19. Jahrhundert. Eingerahmt wird dieses „epistemische Ding“ von einer phantasmatischen Zeitschleife, die „immer einen unmöglichen Blick [enthält], den Blick, der es dem Subjekt ermöglicht, bei seiner eigenen Abwesenheit anwesend zu sein“ (Žižek 2009: 53). Wie lange das „travelling concept“ Rausch noch unsere Vorstellung von Drogenerfahrungen in bestimmte Bahnen lenken wird, ist ungewiss. Pharmakologische Kosmetik und (Selbst-)Optimierung lassen den Verdacht zu, dass es bald um andere Dinge gehen könnte als um Rausch. Weil das Wort noch immer die Bedeutung von Rauschen trägt, also Verwirrung, Lärm usw. heißt, und weil moderne drogengesättigte Ausnahmezustände die Zeit nicht mehr töten, könnte es mittlerweile als veraltetes Lexem gelten. Seine endlose Vervielfachung, seine

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Anwendung auf alles Mögliche (Kaufrausch, Rausch der Aktienkurse, Spielrausch etc.) kündigt möglicherweise an, dass sich seine Kontur verliert.

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Drogenfreie Zone Zur Rauschkultur der DDR I NA S CHMIED -K NITTEL

1. E INLEITUNG Tanzende Menschen auf der Mauer, Fremde, die sich freudetrunken in den Armen liegen – zur Ikonographie des Mauerfalls 1989 gehören nicht zuletzt jene Bilder, in denen sich anschaulich das rauschhafte Erleben der sich damals überstürzenden politischen Ereignisse verdichtet. Auch in der sogenannten Wendezeit, den Montags- und anderen Demonstrationen in Leipzig, Dresden und anderswo, waren eine übersteigerte Emotionalität und euphorische Gefühle in kollektiver Form fester Bestandteil dieser Ära – ein Rausch im wahrsten Sinne des Wortes. Allerdings ein ziemlich nüchterner, wie Kochan (2011: 371) feststellt: „Sowohl in den Erlebnisberichten der Demonstranten als auch in der Fülle der fotografischen Momentaufnahmen ist der sonst so übliche Alkohol komplett abwesend.“ Mit dem „sonst so üblichen Alkohol“ spielt Kochan auf das alkoholzentrierte System der DDR an, womit weniger gemeint ist, dass man es mit einer ständig alkoholisierten DDR-Bevölkerung zu tun hatte, wohl aber mit einer Gesellschaft, in der das Alltagsleben, aber auch wirtschaftliche und nicht zuletzt politische Belange stark um den Alkohol kreisten (Kochan 2011: passim). Entsprechend finden die Trinkgewohnheiten der Ostdeutschen auch die größte Beachtung, wenn es um die allgemeinere Frage nach einer Rauschkultur in der DDR geht. Durchforstet man jedoch die Literatur wird offenkundig, dass das Thema Rausch in den historischen, kulturwissenschaftlichen und sonstigen Abhandlungen über die DDR ein eher kümmerliches Schattendasein fristet. Dabei sind Fragen nach dem Stellenwert und den kulturellen Kontexten des Rauschhaften, etwa vor dem Hintergrund der spezifischen planwirtschaftlichen Bedingungen und weltanschaulichen Diskurse, durchaus lohnenswert und liefern

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neue, respektive andere Perspektiven auf die Alltags- und Gesellschaftsgeschichte der DDR. So kann der Blick auf das Irrationale, auf Entgrenzungen und Grenzüberschreitungen die widersprüchlichen Seiten einer Gesellschaft identifizieren, die zwar eine möglichst umfassende politische, soziale und kulturelle Kontrolle ihrer Mitglieder anstrebte, den inhärenten „Eigensinn“ ihrer Bewohner jedoch leidlich unterschätzte.1 Der vorliegende Beitrag nimmt entsprechende Annäherungen vor und widmet sich jener offensichtlichen Forschungslücke und den dazugehörigen Fragen: Wie hielt es die DDR mit dem Rausch bzw. mit verschiedenen Räuschen? Welche Möglichkeiten gab es, sich zu berauschen, welche Substanzen waren verfügbar? Gab es nicht sogar Bedingungen, unter denen das Rauschhafte geradezu gefördert wurde? Wo galt der Rausch als Bedrohung? Wo als Flucht vor den Verhältnissen? Wie konnte der Rausch im Spannungsfeld von politischökonomischen Rahmenbedingungen und individuellen Spielräumen gelebt werden? Welche gesellschaftlichen Bewertungsmuster existierten?

2. R AUSCH UND S OZIALISMUS Im Marxismus-Leninismus, der politischen Ideologie der DDR, galt Drogenkonsum schlicht als dem Gesellschaftssystem wesensfremde Erscheinung. Unter jener weltanschaulichen Perspektive wurde der Rausch (als schwerwiegendes soziales Problem) schon beizeiten in der sozialistischen Arbeiterbewegung thematisiert. Bereits im 19. Jahrhundert wurde unter dem Label der so genannten Alkoholfrage eine entsprechende Debatte geführt, in deren Mittelpunkt das zum Teil exzessive Trinken der Arbeiterklasse stand (vgl. Hoffrogge 2011; Hübner 1988). Ich erwähne dies deshalb, weil später zentrale Argumente in den weltanschaulichen Bewertungen innerhalb der DDR-Drogenpolitik unmittelbar daran anschließen, etwa die Verknüpfung des Rauschkomplexes mit anderen sozialen Problemerscheinungen des kapitalistischen Systems, wie Armut, Ausbeutung und Kriminalität, aber auch die grundsätzliche Prämisse, wonach Alkoholmissbrauch und Drogenkonsum systemisch überkommene Überreste des Kapitalis-

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Der Begriff des Eigensinns hat sich insbesondere in der Rekonstruktion der Alltagsgeschichte der DDR etabliert und bezieht sich auf das ambivalente Verhältnis von Herrschaft und Gesellschaft, bei dem sich „Eigensinn … als ein Drittes [erweist], als ein Verhalten, das sich nicht der Logik des Entweder-Oder von Herrschaft und Widerstand fügt“ (Lüdtke 1994: 146; vgl. auch Lindenberger 1999).

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mus seien, die im Sozialismus keinen Platz haben bzw. nur durch diesen überwunden werden können. Bereits die historischen Auseinandersetzungen in der sozialistischen Arbeiterbewegung fokussierten in der Regel auf das negative Potenzial des Rauschs und auf die gesellschaftlichen Ursachen individueller Rauschzustände. Demnach besteht in modernen Industriegesellschaften die Funktion rauschhafter Exzesse vor allem in der Betäubung der Massen und in der Flucht vor der Realität der gesellschaftlichen Verhältnisse, namentlich der kapitalistischen Ausbeutung. Dies gilt für die sich im 19. Jahrhundert in der Arbeiterklasse ausbreitende Branntweinepidemie gleichermaßen wie für die spätkapitalistische Allgegenwärtigkeit der Sucht (vgl. Groenemeyer/Laging 2012; Hirschfelder 2007; Spode 1993: 234250). Friedrich Engels (1845 erstmals veröffentlichte) Beschreibung der „Lage der arbeitenden Klasse in England“ kann als paradigmatische Argumentation angeführt werden, wie die Alkoholfrage in Verbindung mit der ‚sozialen Frage‘ gestellt und zugleich in ein politisches Programm überführt wurde. Unter den Bedingungen von Verelendung, körperlich schwerer Arbeit und hygienisch schlechten Lebensbedingungen sei nämlich automatisch die „Notwendigkeit vorhanden, daß unter diesen Umständen eine sehr große Menge der Arbeiter dem Trunk verfallen muß“ (Engels 1969: 170). Entsprechend etablierte sich insbesondere in marxistischer Tradition die Position, dass der starke Alkoholkonsum unter der Arbeiterklasse eine Reaktion auf ihre soziale und ökonomische Lage sei und es deshalb Sache der Arbeiterbewegung sein müsse, gegen den Kapitalismus als Ursache des proletarischen Elends zu kämpfen, statt moralisch gegen das private Kompensationstrinken der einzelnen Arbeiter zu agitieren. Für das Interesse, das proletarische Trinkverhalten zu bekämpfen, gab es noch andere weltanschauliche Motive: Nicht ohne Grund sah die Arbeiterbewegung im Alkohol- und Drogenkonsum auch ein Hindernis im Klassenkampf, indem sie die hemmende Wirkung der Trunksucht hinsichtlich der Einschränkung des theoretischen Reflexionsvermögens und der politischen Handlungsfähigkeit der Arbeiterschaft betonte. Rausch und Revolution, so das Fundament sozialistischer Alkoholkritik, seien demnach unüberwindbare Widersprüche: „Die Revolution fordert Konzentration, Steigerung der Kräfte. Von den Massen, von den Einzelnen. Sie duldet keine orgiastischen Zustände“ (Clara Zetkin, zit. nach Kochan 2011: 372). Gleichwohl konnten sich die Forderungen der Abstinenzbewegung nie durchsetzen (vgl. Groenemeyer/Laging 2012: 234-241; Hübner 1988: passim). Insbesondere Karl Kautsky wendete sich seinerzeit strikt dagegen und betonte die zentrale Rolle der arbeiterlichen Kneipen- und Trinkkultur als zentralen Treffpunkt und Versammlungsort, ohne den die Bewegung nicht überleben kön-

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ne – hier würden Streiks und Revolutionen geplant (Kautsky 1890/91; vgl. Hoffrogge 2011; Hübner 1988). Bekanntermaßen war auch in der DDR eine Abstinenzforderung nur Utopie, gleichwohl wirkten die Appelle der sozialistischen Arbeiterbewegung nach. Insbesondere in den fünfziger Jahren unter Walter Ulbricht (1893-1973; nach Gründung der DDR zunächst stellvertretender Ministerpräsident, später Generalsekretär des ZK der SED und von 1960 bis 1971 Vorsitzender des Staatsrats der DDR) gab es gezielte Versuche, die kulturelle und symbolische Bedeutung des arbeiterlichen Rauschtrinkens zu verändern und eine „nüchterne DDR“ (Kochan 2011: 16) zu propagieren. Dass der reale Umgang mit Alkohol letztlich völlig konträr zur offiziellen Linie von Staatsführung und Partei stand, wird noch ausführlich zu besprechen sein. Das Konzept einer sozialistischen Rauschkultur lässt sich in der Literatur jedenfalls nicht explizit ausmachen. Mögliche Hinweise auf individuelle und kollektive Erregungszustände liefern jedoch historische Systemvergleiche zum Komplex „Rausch und Diktatur“ (vgl. hierzu insbesondere Klimó/Rolf 2006), etwa hinsichtlich der Fragestellung, wie es totalitären Bewegungen und Regimen gelang, massenhaft Enthusiasmus zu erzeugen und für die eigenen Ziele einzusetzen. Denn natürlich sind Rauschzustände nicht nur an Alkohol und andere bewusstseinsverändernde Substanzen geknüpft. Als Bestandteil der sozialistischen Rauschkultur muss beispielsweise auch die Frage nach der Wirksamkeit von kollektiven Entrückungszuständen, wie sie sich etwa im Konzept der „Politischen Religion“ (Voegelin) finden, in Betracht gezogen werden. Wir kennen solche irrationalen Mechanismen der Gefühlsmobilisierung und die entsprechenden Bilder der Verzückung, die emotionalisierte Sprache und den fanatischen Enthusiasmus ebenso aus der politischen Kultur des Faschismus (vgl. Kühberger 2003) wie von den sozialistischen Massenfeiern aus stalinistischer Zeit. Die Analogiebildung hat allerdings vorsichtig zu erfolgen, denn im Unterschied zu den faschistischen Aufmärschen waren die sozialistischen Feiern in der Regel „keine Feste des Rausches und der kollektiven Ekstase, sondern Einschulungen in einen disziplinierten ‚Enthusiasmus‘ […] eine streng geordnete Begeisterung, die sich aller Ekstase enthielt“ (Klimó/Rolf 2003: 888). Das Argument leuchtet sofort ein, wenn man an die DDR-typischen Großveranstaltungen wie Fackelzüge, Maikundgebungen und Militärparaden sowie die dazugehörigen Zeremonien denkt – „Formen also, die nie die emotionalen Reizschwellen wirklich zu überspringen vermochten“ (Hofmann 1999: 50): Aufmärsche, Vorbeimärsche, Tribünen, Arbeiterkampflieder – möglichst im Gleichschritt und Winken auf Befehl. Zumeist waren die eigentlichen Entgrenzungserfahrungen von den offiziel-

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len Festakten separiert und setzten erst im privaten Kontext ein – nicht selten folgte auf das politische Zeremoniell das kollektive Besäufnis. Ob russischer oder polnischer Wodka, tschechisches Bier oder ostdeutscher Schnaps – schlussendlich war die sozialistische Rauschkultur in allererster Linie eine, die mit Alkohol beziehungsweise Spirituosen zu tun hatte.

3. O PIUM

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DDR

Dass die DDR in Sachen Alkohol im internationalen Vergleich weltmeisterlich war, ist eine Sache. Doch wie sah es mit anderen Rauschmitteln aus, speziell mit illegalen Substanzen? Die Liste vorstellbarer Stoffe ist lang: pflanzliche (Heroin, Opiate, Haschisch und Marihuana) und synthetische Rauschmittel (Crystal, Speed, Ecstasy), halluzinogene Substanzen (Tollkirsche, Stechapfel, Pilze), Medikamente und so weiter. Aus der westdeutschen Rauschkultur sind all jene Stoffe kaum wegzudenken, im Gegenteil: Sie stellen (jenseits diverser Versuche politischer und strafrechtlicher Kontrolle) einen Teil der Alltagswirklichkeit dar. Zugespitzt formuliert: „Der illegale Rausch ist gesellschaftliche Realität“ (Kemmesies 2004: 14). Anthropologen und Kulturwissenschaftler gehen davon aus, dass Drogenkonsum und Rausch seit jeher ein allgemein menschliches Phänomen darstellen: „Von den so genannten primitiven bis hin zu den industriellen und postindustriellen Gesellschaften gilt der Gebrauch von psychoaktiven Substanzen als gesichert“ (Tauss 2005: 15) und ist insbesondere in modernen Industriegesellschaften Teil der Identität von Gegenkultur(en) und Avantgarden. Auch in der DDR gab es eine Gegenkultur, deren Bestimmung in ihrer Gesamtheit naturgemäß schwierig ist, da die ‚offizielle Kultur‘ sämtliche institutionalisierten Beziehungen und Bereiche des gesellschaftlichen Lebens dominierte; theoretisch ließen sich also jedwede Akteure, Praktiken und Bewegungen unter das Konzept ‚Gegenkultur‘ fassen, die quer zu den ideologischen Vorgaben der SED standen (vgl. Große 2001). Parallelisiert man die westliche Drogenkultur, so sind bekanntermaßen Beatniks, Hippies und ähnliche Jugendkulturen ebenso

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Der Spruch ist mittlerweile ein geflügeltes Wort und die (unterschiedliche) Verwendung klar belegt: Marx spricht in der Einleitung seiner Schrift Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie von Religion als „Opium des Volkes“. Lenin modifiziert die religionskritisch gemeinte Formel in seiner Schrift Sozialismus und Religion zur Aussage „Die Religion ist das Opium für das Volk“. Und 1996 trägt das Album der Punkrockband Die Toten Hosen den Titel Opium fürs Volk (u.a. mit dem Hit Zehn kleine Jägermeister).

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Teil der Sozialstruktur des Drogenkonsums wie etwa die Kunst- und Künstlerszene. In der sozialwissenschaftlichen Literatur jedenfalls besteht Einigkeit über den Zusammenhang zwischen Subkulturen und dem Entstehen moderner Drogenszenen bzw. ihrem Drogenkonsum (vgl. z.B. Schmid 2003: 94-106). Allerdings unterscheidet sich der Umgang in Ost und West erheblich: Während in der Bundesrepublik der Drogenkonsum verankertes Bindemittel der genannten Gegen- und Subkulturen ist und die Drogenemanzipation als kulturelle Begleiterscheinung der Hippie- und 68er-Bewegung darüber hinaus den Weg in die Mehrheitskultur fand, blieb der Konsum illegaler Drogen in der DDR bis zum Ende ein mehr als randständiges Phänomen und das Land im Grunde genommen eine drogenfreie ‚Zone‘. Natürlich suchten auch in der DDR Teile der Jugend immer wieder nach gegenkulturellen Freiräumen, die – ebenso wie im Westen – zumeist eng mit einzelnen Musikrichtungen verbunden waren. Von einer liberalen Haltung war die politische Führung der DDR jedoch weit entfernt. Rock- und Beatmusik, die so genannten Ost-Hippies, die die Blueser- und Tramperszene ausmachten, sowie in späteren Jahren die Punk- und Gruftiszene mit ihrem Beiklang von Rebellion, Nonkonformismus und individueller Freiheit, galten in den Augen der Staatsführung als konkrete ideologische Bedrohung und unvereinbar mit der sozialistischen Lebensweise: „Verfemt als tückische Waffe kapitalistisch-gegnerischer Psychomanipulation, aber auch aus ästhetischen Vorbehalten heraus als Zeichen moralischer Morbidität einer ‚enthemmten‘ und ‚verrohten‘ Jugend verdammt“ (Rauhut 1993: 9), waren entsprechende Jugendkulturen und ihre subkulturellen Begleiterscheinungen von Anfang an Agitationsgegenstand von Partei- und Staatspolitik. Die Staatssicherheit versuchte, die genannten Szenen so gut es ging zu überwachen, und damit geriet auch die Rauschkultur ins Blickfeld staatlicher Aufmerksamkeit. Entsprechende Hinweise bzw. verfügbare Quellen sind allerdings mehr als spärlich. Michael Rauhut (1993) zitiert in seiner Arbeit über die DDRRockmusik vereinzelte staatliche Unterlagen, aus denen eine polizeiliche Beobachtungs- und Kontrolltätigkeit ebenso ablesbar ist wie eine vermeintliche Drogenszene, wobei sich allerdings die Frage stellt, welche Akteursgruppe die zahlenmäßig stärkere war. So heißt es in einem Brief des Generalstaatsanwalts der DDR an die Jugendabteilung des ZK aus den 1960er-Jahren „Gegenwärtig treffen sich gefährdete Gruppierungen Jugendlicher nicht selten in ‚Partywohnungen‘ und ‚Beatschuppen‘ unkontrolliert und ohne gezielte gesellschaftliche Einwirkung.“ (Rauhut 1993: 236) Und weiter: „Berlin – Annahme dekadenter Lebensweisen in Gruppen junger Menschen, insbesondere Beatanhänger streben an, in ‚Großfamilien‘ und ‚Kommunen‘ zu leben, ohne zu arbeiten. Ausgestal-

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tung von Wohnungen zu so genannten Partykellern.“ (Ebd.: 237) Und unter Bezug auf den Jahreskriminalitätsbericht 1970: „Leipzig – Es gibt Feststellungen, daß Überdosen von Schlafmitteln als Ersatz für Haschischrauchen benutzt werden. – In Bitterfeld versuchte eine Gruppe Jugendlicher an Rauschgift heranzukommen.“ (Ebd.) Schlussendlich können jedoch die wenigen bislang von der DDR-Forschung zum Komplex Drogenkonsum und -kriminalität aufgearbeiteten Quellen ein nennenswertes Drogenproblem in der DDR weder erkennen noch bestätigen. Im Gegenteil: Zumeist wird darauf hingewiesen, dass „der Konsum illegalisierter Drogen in der DDR kaum praktische Relevanz hatte“ (Kappeler et al. 1999: 146).3 Der Eindruck verstärkt sich bei einer Internet- und Literaturrecherche zum Thema. So findet sich im „Online-Magazin für Kriminalitäts- und Rechtsgeschichte“ ein Interview mit einem Kriminaloberrat aus der DDR, der in seiner über 25 Jahre dauernden Dienstzeit „nie ein Verfahren wegen Drogenhandels oder Drogenmissbrauchs zu bearbeiten“ brauchte (Kriminalia.de 2010). Arnold Freiburg (1981) bescheinigt, dass die Rauschgiftkriminalität in der DDR bereits in den 1950er-Jahren eliminiert worden sein dürfte, wobei insbesondere der Bau der Mauer und die restriktiven Grenz- und Zollkontrollen bewirkt haben, dass Drogenkonsum, -handel und -kriminalität nicht zum Kriminalitätsbild in der DDR gehörten. Hier spielten auch die sicherheitsrelevanten Aufgaben der Zollverwaltung der DDR eine Rolle, wie Goll (2011) feststellt. Speziell das Sachgebiet V der Zollfahndung hatte das Ziel, „die Wirksamkeit des Zollfahndungsdienstes bei der Bekämpfung des Schmuggels und des Missbrauchs von Suchtmitteln zu erhöhen, einen umfassenden Schutz der Bevölkerung der DDR vor Bestrebungen und Versuchen zur Einschleusung von Suchtmitteln zu gewährleisten und die missbräuchliche Ausnutzung des Transitverkehrs durch die DDR zum Schmuggel vor Suchtmitteln zu verhindern“ (Goll 2011: 199). Grundsätzlich verweist aber auch dieser Autor darauf, dass über den Suchtmittelmissbrauch in der DDR bislang wenig bekannt ist. Er zitiert aber immerhin folgende

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Gleichwohl gab es seit den 1970er-Jahren auch in der DDR ein dem westdeutschen BtMG vergleichbares „Suchtmittelgesetz“. Dieses enthielt neben Bestimmungen zum Umgang und zur Überwachung von Medikamenten, auch Anordnungen, „die den Verkehr mit bestimmten ‚Suchtmitteln‘, insbesondere mit Cannabis, Heroin und LSD verboten. Diese Bestimmungen waren vor allem darauf ausgerichtet, der Entwicklung der DDR zu einem Transitland für illegalisierte Drogen zu begegnen. Es spiegelte aber auch die Angst der Machthaber vor dem Konsum von bestimmten Drogen wider und bot die Möglichkeit zur Disziplinierung von Einzelnen bzw. der Repression gegen Subkulturen“ (Kappeler et al. 1999: 146).

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Aussage eines leitenden Fahnders, der 1983 in einem Vortrag vor Mitarbeitern der Hauptabteilung IX des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) folgende Anmerkung machte: „Es ist in der Tat so, dass wir in zunehmendem Maße, insbesondere im Transit, mit […] Schmuggel von Suchtmitteln konfrontiert werden. Durch internationale Banden, insbesondere aus dem arabischen Raum im Nahen Osten, aber in zunehmendem Maß auch aus Südostasien und in der letzten Zeit auch aus Afrika wird versucht, Suchtmittel [,] vor allem Haschisch, Marioana [sic!], aber auch Heroin über unser Territorium, insbesondere nach Westberlin zu schmuggeln. Schwerpunkt ist dabei die Nutzung des Flugverkehrs, also das Grenzzollamt Berlin-Schönefeld. Ich kann hier in diesem Kreis sagen, dass wir in den letzten Jahren so im Schnitt 50 Ermittlungsverfahren […] bearbeiten. Ich kann hier auch in diesem Kreis sagen, dass in der Abteilung Zollfahndung der Hauptverwaltung extra ein, bei uns heißt es Sachgebiet, Referat besteht, das also operativ die Aufgabe hat, den Suchtmittelschmuggel zu bekämpfen. Es ist ein Sachgebiet, in dem ausschließlich Offiziere im besonderen Einsatz arbeiten. […] Es gab Fälle, die gibt es laufend wieder, erst vorgestern wieder, da kamen aus Afrika Suchtmittel in Dörrfisch versteckt. Dörrfisch hat die Eigenschaft, besonders angenehm zu riechen, der ganze Korridor stinkt danach. Es gibt im arabischen Raum ein[e] Frucht, Pistazien, das ist so eine Nussart oder Mandelart. Dort hat man sich die idiotische Arbeit gemacht, körbeweise diese Pistazien aus der Schale herauszunehmen und mit Haschisch zu füllen. Wir hatten Fälle, wo man Haschisch zu Kirschen und Weintrauben geformt hat, mit Stempeln versehen, gefärbt und natürlich so ein paar echte Kirschen und Weintrauben oben drauf gesackt. Also mit raffinierten Mitteln und Methoden versucht man, das Kontrollregim[e] zu durchbrechen, […] wobei wir konfrontiert sind, mit solchen Mengen bei Suchtmitteln, bei Haschisch beispielsweise, Haschisch und Marioana [sic!] in der Größenordnung von 1 bis 10 oder 12 Kilo und bei Heroin ebenfalls, bei Heroin im Umfange von 100 Gramm bis zu 1 Kilo.“ (Zit. nach Goll 2011: 200)

Unbeantwortet bleibt die Frage, welches Ziel solche Lieferungen hatten. Es kann aber vermutet werden, dass der Großteil der genannten Drogen für West-Berlin bestimmt war und die DDR lediglich auf ihren Transitstrecken ein echtes Drogenproblem hatte.4 Tatsächlich verhinderte die mangelnde Verfügbarkeit illegaler Drogen in der DDR entsprechende Konsummöglichkeiten und begrenzte das Drogenproblem auf einige wenige Ausnahmen. Dies bestätigen auch einzelne epidemiologische Studien, die unmittelbar nach der Wende entstanden und den Anteil DDR-

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Zum Aspekt des Drogenschmuggels und der Suchtmittelsicherstellung am Flughafen Berlin-Schönefeld vgl. Fechner 2015.

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Jugendlicher mit Drogenerfahrungen auf nicht mehr als zwei Prozent schätzen sowie der DDR-Bevölkerung insgesamt eine relative Drogenunerfahrenheit attestieren (vgl. Kappeler et al. 1999: 27-29 sowie Robert Koch Institut 2009: 152). Solche zu DDR-Zeiten erhobene Daten stammen vom Zentralinstitut für Jugendforschung (ZIJ), das im Kontext gesundheitsbezogener Aspekte zwei Befragungen (1973/74 und 1987) zum Rauschmittelgebrauch unter Jugendlichen und jungen Erwachsenen durchführte (Reißig 1989: 36-40). Sie sollten belegen, dass im „Gegensatz zu vielen kapitalistischen und auch schon einigen sozialistischen Ländern […] die Drogenabhängigkeit unter der Jugend der DDR derzeit keine nennenswerte Rolle [spielt]“ (ebd.: 36). Konkret fiel das Ergebnis aus dem Befragungsjahr 1987 folgendermaßen aus: „Knapp ein Fünftel der Lehrlinge und Berufstätigen und auch der Studenten gibt an, persönlich andere Jugendliche zu kennen, die Versuche unternahmen, sich mit anderen Mitteln als Alkohol, in einen Rausch zu versetzen. Aber lediglich insgesamt 4% der Lehrlinge und Berufstätigen bzw. 3% der Studenten geben eigene Versuche dieser Art zu.“ (Ebd.: 38)

Die Befunde unterscheiden sich nur unwesentlich von den Ergebnissen der ersten Umfrage in den siebziger Jahren. Damals gaben 18% an, von solchen Versuchen bei anderen Jugendlichen zu wissen; 3% berichteten von eigenen Erfahrungen, wobei jeweils Schmerz-, Schlaf- und Beruhigungsmittel an erster Stelle standen, gefolgt vom sogenannten Schnüffeln von Klebstoff, Lösungs- oder Reinigungsmitteln (ebd.: 30-31; vgl. auch Reißig 1991; Reißig 1994). Hauptsächlich der schnüffelbare Fleckentferner „Nuth“ spielte als Ersatzdroge eine gewisse Rolle. Der Schriftsteller Peter Richter hat seine Popularität in literarischer Form in seinem Wenderoman 89/90 festgehalten: „Der Handelsname des Fleckentferners war Nuth. Die Tätigkeit hieß daher: Nuthen. Besonders viele andere Drogen gab es in dem kleinen, abgeschotteten Land ja nicht. Natürlich gab es ein paar Pilzexperten, die sich zu helfen wussten, es gab welche, die in den Dachrinnen ihrer Abbruchhäuser Hanf wachsen ließen, und in Berlin soll es auch ein paar Leute gegeben haben, die an der Nadel hingen und den Stoff aus dem Westen bekamen oder über die Russen, aber das waren extrem, wirklich extrem wenige.“ (Richter 2015: 57)

Die Beschreibung deckt sich mit den wenigen Erfahrungsberichten, die im Web und in öffentlichen Internetforen verfügbar sind. So schildert beispielsweise Michael Kleim (o.J.), welche „mitunter seltsame Blüten“ entsprechende Experimente trieben:

60 | I NA SCHMIED -KNITTEL „Von dem berüchtigtem Cola-Spee-Gesöff [Spee war das DDR-Waschmittel! ISK] abgesehen, wurden unterschiedlichste Substanzen geraucht, u.a. schwarzer Tee oder Muskat. Carondo nannte sich ein Trank, bei dem Cabernet (Rotwein) anstelle des schlichten Wassers durch die Kaffeemaschine geschickt wurde und so einen koffeinhaltigen Glühwein erzeugte – anregend und betäubend zugleich.“

Wie ‚normale‘ Ostberliner Jugendliche mit psychoaktiven Mitteln experimentierten, zeigt auch der Spielfilm Sonnenallee (Deutschland 1999, Regie: Leander Hausmann). Während einer ‚Sturmfrei-Party‘ brauen sich die FDJ-Freunde einen Stechapfeltee, stolpern anschließend völlig berauscht durch die Bude und pinkeln vor den Augen der Grenzschützer vom Balkon. Durchaus realistisch widerspiegelt die Geschichte damit nicht nur das Bedürfnis der DDR-Jugendlichen, jenseits des üblichen Alkoholrauschs auch Erfahrungen mit anderen Drogen zu sammeln, sondern in grundsätzlicher Weise die Existenz nonkonformer jugendkultureller Entwicklung im Sozialismus. Dennoch kann von einem szenebezogenen Gebrauch illegaler Drogen innerhalb der (jugendlichen) DDR-Subkulturen nicht die Rede sein. So zeigt beispielsweise Kochan (2011) für die Subkultur der Blueser, Tramper und Hippies, dass die Rauschgewohnheiten dieser Szene primär in einer nonkonformen Trinkkultur bestand: „Die ostdeutschen Hippies ‚brühten‘ mit Schnaps, Bier und Wein, feierten den alkoholischen Exzess, pichelten auf offener Straße aus der Wermutpulle und schliefen ihren Rausch ungeniert an öffentlichen Orten aus. Damit überschritten sie den Toleranzbereich der ‚werktätigen Stammkultur‘ um Längen, blieben aber im Rahmen der alkoholzentrierten DDR. Nach anderen Drogen wie Cannabis und LSD, die bei ihren Vorbildern zwischen San Francisco und Westberlin zum subkulturellen Inventar gehörten, kam in der ostdeutschen Szene nicht einmal Sehnsucht auf. Hippies, die saufen – das gab es nur in der DDR.“ (Kochan 2011: 344; vgl. auch Rauhut/Kochan 2013 sowie Wurschi 2007)

Festzuhalten bleibt demnach Folgendes (wobei immer im Kopf behalten werden muss, dass die Daten- und Quellenlage äußerst spärlich ist): In der DDR gab es so gut wie keinen Konsum illegaler Drogen; klassische illegale Rauschmittel wie Haschisch, Kokain, Heroin, oder Speed spielten kaum eine Rolle. Was in Einzelfällen vorkam, war Medikamentenmissbrauch und die Nutzung gewisser Ersatzdrogen, wobei solche Experimente in bestimmten Kreisen, etwa spezifischen Jugendkulturen und der alternativen Kunstszene (wozu aber keinerlei Daten verfügbar sind) vermutlich eher anzutreffen waren als in der ‚Normalbevölkerung‘.

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Dass schließlich ein Drogenproblem in der DDR so gut wie nicht auftauchte, hängt in nicht unerheblichem Maße auch mit den politischen, wirtschaftlichen und logistischen Gründen zusammen. So machten wohl allein die deutlich eingeschränkte Reisefreiheit, die strengen Grenzkontrollen und schließlich die ‚uninteressante‘ Währung die DDR für den Drogenhandel offenkundig unattraktiv; demzufolge waren Drogen einfach so gut wie nicht verfügbar und demzufolge fehlte es an Konsummöglichkeiten (Barsch 2009: 108). Barsch (ebd.) weist zudem darauf hin, dass der Alltag in der DDR, speziell der vermeintlich so typische Kollektivismus, auch wenig vereinbar war mit den „individualisierenden Konsumformen und ihrer pharmakologischen Wirkung“ von psychoaktiven Substanzen wie Heroin und Kokain, die anders als die „geselligkeitsfördernden Formen des Alkoholtrinkens“ einen stärkeren Selbstbezug, „ein Innehalten und eine Inspektion des Innenlebens unterstützen“ würden. Und dass von den Leuten auch „wenig danach gesucht wurde, sich über den Konsum psychoaktiver Substanzen symbolisch von anderen oder von der Gesellschaft insgesamt abzugrenzen“ (ebd.). Was Barsch hier nur andeutet, lässt sich meines Erachtens besser verstehen, wenn man ein komplexeres Gefüge zwischen den politischen Maßnahmen der Partei- und Staatsführung einerseits und den sozialisatorischen Nachwirkungen dieser Maßnahmen andererseits in den Blick nimmt. Gemeint ist, dass sich die ‚Drogenlosigkeit‘ der DDR gleichermaßen über die ideologisch-repressive Drogenpolitik der SED auf der einen wie auch über die subjektiven Aneignungsprozesse durch die Bevölkerung auf der anderen Seite begründet; dass also die negative Bewertungshaltung gegenüber (illegalen) Drogen seitens der offiziellen Weltanschauung ihre objektive Wirksamkeit schließlich nur aufgrund eines eigenständig übernommenen drogenfreien Habitus der DDR-Bürger/innen entfalten konnte.5 In eine ähnliche Richtung argumentiert auch Kochan (2011), wenn er die Rauschkultur der Ostdeutschen im Gefüge einer arbeiterlichen Alltagskultur verwurzelt sieht. Jene sozialstrukturelle Prägung der DDR als eine „arbeiterliche Gesellschaft“ (Engler 2002: 199) bezieht sich darauf, dass die Arbeiterklasse zwar nicht unbedingt das politische, wohl aber das soziale, kulturelle und geschmackliche Zepter in der Hand hielt: „Anschauungen, Meinungen, Konventionen, Kleidungs- und Konsumgewohnheiten und nicht zuletzt die Alltagssitten

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Wohlrab-Sahr/Karstein/Schmidt-Lux (2009) beschreiben dieses dialektische Verhältnis am Beispiel der weitgehenden Säkularisierung der DDR-Bevölkerung und zeigen auf, wie die repressive Religionspolitik der SED im Laufe der Jahre durch die Aneignung dieser Politik durch Individuen und Familien forciert wurde.

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richteten sich nach den Normen und Idealen der arbeitenden Klasse.“ (Ebd.: 200) Und die trugen nicht unwesentlich dazu bei, dass aus der DDR eine deutlich alkoholzentrierte Gesellschaft und schließlich ein Branntweinland wurde – Volksdroge Nummer 1 waren schlicht und einfach Schnaps und Bier.6

4. D IE

ALKOHOLZENTRIERTE

G ESELLSCHAFT

Statistisch gesehen trank im Jahre 1988 jeder DDR-Bürger (egal ob Säugling oder Greisin) im Schnitt 143 Liter Bier, 12 Liter Wein oder Sekt und 16 Liter Spirituosen bzw. 23 Flaschen Hochprozentiges (Kluger 2015; vgl. auch Kochan 2005: 29) – ein internationaler Spitzenwert. Die DDR war mit diesem Verbrauch Alkohol-Weltmeister, die Ostdeutschen tranken seit den 1980er-Jahren doppelt so viel Schnaps wie die Menschen in der (damaligen) Bundesrepublik.7 Vorauszusehen war diese Entwicklung nicht – und schon gar nicht geplant. Die offizielle Linie von Partei und Staatsführung sah für den ‚ersten Arbeiterund Bauernstaat‘ vielmehr eine nüchterne Gesellschaft vor und propagierte in der sozialistischen Aufbauphase unter dem Staatsratsvorsitzenden Walter Ulbricht (selbst ein sittenstrenger Antialkoholiker und Verfechter der sozialistischen Abstinenzbewegung) das Bild von einem Land „ohne K“: ohne Kirchen, ohne Kneipen (vgl. Kochan 2011: 16-18). Der ‚neue sozialistische Mensch‘ sollte klar denken und nüchtern handeln. Um dem angestrebten Ideal näher zu kommen, gab es zwar keine Prohibitionsgesetze, wohl aber eine strenge Alkoholkontrollpolitik mit einer Reihe staatlicher Maßnahmen und ideologischer Propaganda in Richtung sozialistische Alkoholkultur. Konkret ging es darum, „die ‚Bewusstseinsbildung‘ der Bevölkerung voranzutreiben und das Denken der Menschen auf Linie zu bringen“ (Kochan 2011: 24). In weltanschaulicher Logik bildeten natürlich der Kapitalismus und die „Profitinteressen der spätkapitalistischen Alkohol- und Vergnügungsindustrie:

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Dem entspricht auch Gundula Barschs (2009: 122) Charakterisierung der DDRDrogenkultur als eine „Monokultur rund um Alkohol“ – und dies ist wohl wesentlicher Grund dafür, weshalb ihre offensichtlich mehrbändig angelegte „Drogengeschichte der DDR“ mit Band 1 „Alkohol – Der Geist aus der Flasche“ endet.

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Die folgende Darstellung folgt weitgehend dem Standardwerk zum Thema: Kochan 2011.

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„ […] die glatte Antithese zur sozialistischen Idee, die Tatkraft statt Müßiggang verlangte, klares Bewusstsein statt Berauschung einforderte und sich als rationales Projekt in der Tradition der Aufklärung sah. Die Alkoholkultur eines Staates, der seine Existenz einer historischen Gesetzmäßigkeit zuschrieb, seine Weltanschauung als wissenschaftlich und seine Werte als nüchterne Einsicht in die Vernunft deklarierte, musste ohne Betäubung, Transzendenz und Ekstase auskommen“ (ebd.: 36).

Ab den sechziger Jahren wurde diese Utopie allerdings ad acta gelegt und die Alkoholpolitik in einen realpolitischen Kurs des kulturvoll gemäßigten Genusses überführt. Die zentrale Frage lautete: Welche Rauschkultur entspricht dem Leben im Sozialismus? Als Antwort wurden volkseigene Speiserestaurants, Milchbars, Klubgaststätten und das kulturvolle, weil rauschärmere Glas Wein propagiert, nicht zuletzt deshalb, weil das alltägliche ‚Schnäpseln‘ der Bevölkerung weiterhin völlig konträr zu den intendierten Idealen stand und die ideologisch begründete Abstinenz-Utopie mit ökonomischen Zwängen kollidierte. Schlussendlich siegten wirtschaftliche Interessen über weltanschauliche Bedenken, denn: „Mit Schnaps ließ sich gutes Geld verdienen.“ (Ebd.: 106) Das Ergebnis war – wie so vieles in der DDR – eine konstitutive Widersprüchlichkeit: „Die DDR-Führung predigte Wasser und verkaufte Schnaps.“ (Ebd.: 121) Und für den gab es auch eine ständig steigende Nachfrage, wenngleich die Wurzeln dieser quer durch alle Bevölkerungsschichten bestehenden Vorliebe nicht (erst) zwingend in den ‚Verhältnissen‘ des DDR-Sozialismus liegen: Sowohl Kochan (2011) als auch Barsch (2009) weisen darauf hin, dass es mehrere Faktoren waren, die die spirituosenzentrierte Trinkkultur in der DDR konstituierten, etwa spezifische Lebensgewohnheiten, Mentalitätsstrukturen und historischkulturelle Prägungen der Ostdeutschen. Zu diesen sozialen Einflussgrößen zählt beispielsweise die bereits angedeutete Dominanz proletarischer Werte und Geschmacksvorlieben (Kochan 2011: 129) und der ‚arbeiterliche‘ Habitus der Bevölkerungsmehrheit, die kaum Kenner- und Distinktionskulte entwickelte und deren Lebensweise „eine einfache und rustikale Trink-Kultur“ (Barsch 2009: 73) bestimmte. Einflussreich war aber auch eine historische Traditionslinie, wonach „die Neigung zu ‚scharfen Sachen‘ bis weit ins 19. Jahrhundert zurückreichte, mithin in der DDR nur eine Tradition fortgesetzt wurde, die östlich der Elbe schon Jahrzehnte vor dem Einzug des Sozialismus gepflegt wurde“ (Kochan 2011: 73). Strukturell vergleichbar mit dem Ursachen und Folgen des Säkularisierungsprozesses bzw. dem religiösen Sonderweg der DDR begann demnach der vermeintliche Sonderweg der DDR-Spirituosenkultur lange vor 1949: „Im Osten des Deutschen Reiches wurde schon im 19. Jahrhundert mehr Branntwein getrunken

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als in den westlichen Provinzen. Die Elbe war schon damals die Demarkationslinie in Sachen Schnaps.“ (Ebd.: 131) Die geografische und kulturelle Nähe zur Sowjetunion und die Imitation der russischen Trink- und Feierkultur kann als ein weiterer Faktor gelten, allerdings vermehrt im regimenahen Partei- und Funktionärsmilieu. Schließlich spielten auch volkswirtschaftliche Rahmenbedingungen eine Rolle, insbesondere was die leichte Verfügbarkeit eines breiten und zudem recht preiswerten Sortiments an Spirituosen betrifft: „Die staatlichen Schnapsfabriken funktionierten besser als die restlichen Zweige der Nahrungs- und Genussmittelindustrie, warfen Gewinn ab und bescherten der Mangelgesellschaft eine ungewohnt üppige Auswahl.“ (Ebd.: 72-73) Das alltägliche Trinkverhalten passte sich diesen Bedingungen an. Es konnte sein, dass der Mangel an Bier mit Schnaps und Likörchen kompensiert wurde, weil diese einfacher zu bekommen waren als andere Alkoholika; davon abgesehen stand es auch um die Weinversorgung und -qualität nicht zum Besten. Grundsätzlich wurde in der DDR viel getrunken, in allen sozialen Milieus und (fast) allen Generationen, in der Freizeit ebenso wie am Arbeitsplatz. Doch der freizügige Umgang mit dem Rauschmittel Alkohol und das quantitativ hervorstechende Trinkverhalten der Ostdeutschen ist nur ein Aspekt der alkoholzentrierten Gesellschaft. Darüber hinaus erfüllten Alkoholika etliche weitere gesellschaftliche Funktionen: „sie dienten ebenso als inoffizielles Zahlungsmittel, als Tauschgegenstand und als Prämie; sie waren Genussmittel, aber auch Arznei, Kalorienlieferant und jederzeit ein passendes Geschenk“ (ebd.: 147). Die im Zeichen des Honecker’schen Realsozialismus stehende Alkoholpolitik der 1970er- und 80er-Jahre forcierte noch einmal die skizzierten Linien der Trinkkultur. Fortan hieß das Prinzip: „Gängelei vermeiden, lukullische Bedürfnisse zulassen, Lockerheit demonstrieren“ (ebd.: 207). Dass damit zugleich eine Politik der Bagatellisierung verbunden war, steht auf einem anderen Blatt. Gleichermaßen verharmlost wie vernachlässigt wurde beispielsweise der in vielen Branchen übliche und weitverbreitete Alkoholgenuss am Arbeitsplatz, nicht zuletzt, weil sich eine allgemein geteilte Akzeptanz durchgesetzt hatten, eine „Profanisierung des Alkoholkonsums und damit die ‚unaufgeregte‘ Integration des Trinkens in den Alltag“ (Barsch 2009: 94). Jener sorgenfreie Umgang passte sich hervorragend in die gesellschaftlichen und sozialen Verhältnisse dieser Zeit ein, namentlich dem unter Honecker typischen „Klima der Sorgenfreiheit“ (Kochan 2011: 179) bzw. dem Aspekt, der in der DDR-Forschung als „Fürsorgediktatur“ (vgl. Jarausch 1998 sowie Pollack 1998) charakterisiert wird: „Nicht das diktatorische System machte seine Bürger mittels Alkohol zu willfährigen, passiven Marionetten, sondern dessen fürsorgliche Belagerung stimmte die Bür-

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ger passiv: Ohne Verantwortung, Entscheidungszwänge und existenzielle Sorgen konnten sie getrost die Flasche öffnen.“ (Kochan 2011: 179-180) Und: „Die konkurrenzarme Kollektivgesellschaft, das verschüttgegangene Leistungsdenken, das Gefühl existenzieller Sorglosigkeit oder auch das langsame, wenig dynamische Leben waren Faktoren, die den Umgang mit Alkohol ihr ganz spezifisches Gepräge gaben.“ (Ebd.: 235) Die DDR-Führung wiederum nahm eine höchst ambivalente Haltung gegenüber dieser Entwicklung ein. Dass quasi überall und ständig gezecht wurde und sich infolgedessen Missbrauch und Suchtverhalten durch alle sozialen Schichten zogen, lief den weltanschaulichen Idealen zuwider. In den offiziellen Verlautbarungen galt das exzessive (Rausch-)Trinken deshalb weiterhin als Übel der kapitalistischen Ausbeutergesellschaft, als etwas, was dem Sozialismus wesensfremd sei. So heißt es beispielsweise in einem im Verlag „Volk und Gesundheit“ publizierten Aufklärungsbuch aus den 1970er-Jahren: „Wirklichen Schutz gegen die Ausbreitung und die Gefahren des Alkoholismus kann nur eine Gesellschaftsordnung bieten, in der der Widerspruch zwischen gesellschaftlicher Produktion und privatkapitalistischer Aneignung aufgehoben ist, in der es kein privates Streben nach Profit zum Nachteil der Volksgesundheit gibt und in der zugleich das soziale Elend der Massen als eine der Hauptursachen des Alkoholismus beseitigt ist.“ (Herber 1971: 30)

Jenseits dieser theoretischen Einlassungen, wonach es einen übermäßigen Alkoholgenuss in der entwickelten sozialistischen Gesellschaft gar nicht geben könne, waren die praktischen Bemühungen, den Alkoholkonsum der Bevölkerung offensiv als soziales Problem zu diskutieren, eher halbherzig bis resignierend. In der angedeuteten weltanschaulichen Logik bewegte sich die staatliche Alkoholpolitik vielmehr in einem ambivalenten Spannungsfeld zwischen Bagatellisierung, Tabuisierung und (rein) ideologischer Kritik. Hinzu kam das spezielle Verhältnis zwischen Staatsführung und Alkohol, etwa die spirituosengestützte Geselligkeit bei politischen, betrieblichen und allen sonstigen gesellschaftlichen Anlässen oder die volkswirtschaftlich lukrativen Einnahmen der Schnapsläden – immerhin, so Groschopp (2011), um die 8 Mrd. Mark der DDR jährlich. Erst in den achtziger Jahren zeigte sich eine gewisse Präsenz des Themenkomplexes Alkoholmissbrauch und Sucht. Fiktive und dokumentarische Formate im DDR-Fernsehen und in der Presse thematisierten den real existierenden Alkoholismus im Sozialismus ebenso, wie einzelne Mediziner und Oppositionelle gegen die Tatenlosigkeit der Politik hinsichtlich der zunehmenden Zahl Suchtkranker angingen (vgl. Kluger 2015). Zwar folgten daraufhin diverse Beschlüsse

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zur Verbesserung der medizinischen Betreuung der Bevölkerung, etwa eine flächendeckende Gewährleistung entsprechender Beratungsstellen, doch wurde deren Arbeit regelmäßig von bürokratischen Hemmnissen und der Angst des Staates begleitet, sich öffentlich und offiziell zum Drogenproblem zu bekennen. Stellt sich die Frage, welche Funktion der viele Schnaps eigentlich hatte. Musste sich die Mehrheit der Bevölkerung den sozialistischen Alltag ‚schön trinken‘? Nutzten die Menschen den Spritrausch für einen begrenzten Ausstieg, war der Alkohol sozusagen Fluchtdroge? Und forcierte nicht sogar der Staat mit seiner überhöhten Alkoholproduktion die Berauschung der Massen?

5. R AUSCH

ALS

G EGENKULTUR ?

Rückblickend wird für den massiven Alkoholkonsum in der DDR vor allem ein Grund gesehen: die Flucht der Bürger vor den politischen und wirtschaftlichen Verhältnissen des real existierenden Sozialismus. Insbesondere aus der Perspektive der These des sogenannten „Diktaturgedächtnisses“ (Sabrow 2009: 18) wird eine entsprechende Lesart favorisiert. Gemeint ist eine bestimmte Vergangenheitsdeutung der Lebensbedingungen in der DDR, die als ‚durchherrschte‘ Unterdrückungsverhältnisse in einem diktatorischen System betrachtet werden – und als ein Alltag, der offensichtlich nur mit Schnaps auszuhalten war.8 Ich kann hier nicht auf die komplexe Aufarbeitungsdebatte um die DDR im konkurrierenden Spannungsfeld zwischen Unrechtsstaat, Nischengesellschaft und Ostalgie eingehen, will aber zumindest darauf hinweisen, dass „der Diskurs der ehemaligen DDR-Bürger über die eigene Identität anderen Regeln gehorcht als der ‚offizielle‘ Diskurs über die Einheit und über die Zeit der deutschen Teilung“ (Sabrow 2009: 13). Das gilt auch für das Thema Alkohol. Die vorangegangenen Ausführungen dürften deutlich gemacht haben, dass wir es mit einer DDR-spezifischen Rauschkultur zu tun haben, die sich grundsätzlich von den Gepflogenheiten der Westdeutschen unterscheidet, nicht nur hinsichtlich der Schnapslastigkeit, sondern vor allem in Anbetracht der seinerzeit unverstellten Offenheit gegenüber dem Trinken an sich: „Alkoholkonsum hatte nichts Anrüchiges, nichts Verdorbenes, nichts Verpöntes, nichts Krankhaftes; im Gegenteil: Er war wie die tagtägliche Energiezufuhr ‚ganz normal‘.“ (Kochan 2011: 238) Und Schnapstrinken hieß auch nicht automatisch Vollrausch, zumal alkoholbedingte Fehltritte in der Bevölkerung durchaus als inakzeptabel und der Voll-

8

Die Lesart findet sich vor allem in westdeutschen Artikeln aus den 80er-Jahren sowie in den Aufarbeitungsdiskursen nach der Wende (paradigmatisch: Brieler 1992).

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rausch als verpönt galten. Schnaps und Likör waren vielmehr universale Getränke für jede Gelegenheit, für den Alltag eben – doch „sie zu trinken hieß nicht, aus dem Alltag auszusteigen“ (Kochan 2011: 141). Das heißt natürlich nicht, dass die DDR-Bürger keinen Grund hatten, frustriert zu sein – im Gegenteil: „die Erfahrung einer konkurrenzarmen Kollektivgesellschaft, ein wenig gefördertes Leistungsdenken, gemeinschaftliche Verantwortungsfreiheit, existentielle Sorglosigkeit und das Leben in einer räumlich begrenzten, dafür an Zeit umso reicheren Welt“, so Kochan (2011: 147-148), bildeten gleichermaßen gesellschaftliche Hintergründe wie allerhand Gelegenheiten für das Trinken. Man darf aber nicht vergessen, dass es die gleichen Umstände waren, aufgrund derer die Mehrzahl der Ostdeutschen lange Zeit gar keinen Anlass gesehen hat, aus den sozialistischen Verhältnissen zu fliehen. Die Annahme, dass die Ostdeutschen vornehmlich aus Verzweiflung und Realitätsflucht zur Flasche gegriffen hätten, greift demnach zu kurz, ist eher Ausdruck westdeutscher Vorurteile und fokussiert zudem nur auf einen Aspekt von Berauschung. Die Suche nach Rausch kann nämlich durchaus andere als rein eskapistische Gründe haben: „Er mag der radikalen Betäubung der Sinne dienen, dem Wunsch nichts mehr zu spüren oder zu vergessen. Oder er hat die Intensivierung des Erlebens zum Ziel.“ (Herschfelder 2007: 196) Soll heißen: Nicht nur die Flucht vor der Wirklichkeit ist ein Trinkmotiv, sondern auch die Lust am Rausch selbst. 9 Enthemmung und Ausschreitung stehen für dieses dionysische Prinzip – das Gegenteil von Ordnung und Disziplin. Das macht den Rausch schließlich potenziell gefährlich, da er unintendierte Folgewirkungen haben kann. Betrunkene Menschen verlieren die Kontrolle und tun oder sagen Dinge, die sie sonst unterlassen. Dass darin auch politischer Zündstoff stecken kann, liegt auf der Hand, insbesondere wenn damit nonkonforme Äußerungen oder Handlungen verbunden sind, die sich gegen die öffentliche Ordnung bzw. staatliche Sicherheit richten oder die unter politisches Strafrecht fallen: unüberlegte Äußerungen gegenüber Vorgesetzten und Funktionären, Affektentladungen gegen die Staatsgewalt, im Rausch versuchte Grenzübertritte oder Zusammenstöße zwischen Menschengruppen und der Polizei.10

9

Abgesehen davon war zumindest bis in die 1970er-Jahre der durchschnittliche Schnapskonsum in der Bundesrepublik höher als im Osten – bezeichnenderweise hat dahinter niemand eine Flucht der Westdeutschen vor den kapitalistischen Verhältnissen vermutet.

10 In der DDR zeigte sich jene politische Sprengkraft beispielsweise bei den Weltfestspielen der Jugend und Studenten 1973 in Ostberlin. Während sie der DDR-Führung dazu dienen sollten, der internationalen Öffentlichkeit das Bild eines weltoffenen

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In bestimmten Toleranzbereichen bot der Alkohol aber zugleich auch genau solche Gelegenheiten, die es dem Einzelnen erlaubten, sich über die gesetzten Grenzen des Alltags hinwegzusetzen, sich von sozialistischen Planerfüllungen, ideologischen Erwartungen und parteipolitischen Zumutungen zu distanzieren (vgl. Barsch 2009: 110) – womöglich wäre es ohne das alkoholzentrierte System nie zur Wende gekommen. Dass diese auch eine Wende in Sachen Alkohol darstellte und sich das Trinkverhalten der Menschen erstmals in eine ‚abstinentere‘ Richtung entwickelte, klingt hingegen wie ein Treppenwitz. Rausch und Revolution – das passt wohl einfach nicht zusammen.

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Staats zu vermitteln und die Verbundenheit der DDR-Jugend mit der SED-Politik zu dokumentieren, nutzten die Jugendlichen die plötzlich gewährte Freizügigkeit lieber für ihre eigenen Zwecke: (Rock-)Musik allerorten, Diskussionen und Feiern bis in die frühen Morgenstunden und natürlich Alkohol. 24.000 Volkspolizisten und 4.000 Stasispitzel werden unter die feiernde Jugend geschickt, um unerwünschte politische Meinungsäußerungen aufzuspüren und vorzubeugen (vgl. Schröder 2003).

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Rausch und Konsum psychotroper Substanzen in Kriegssituationen Eine fragmentarische Bestandsaufnahme aus sozialwissenschaftlicher Perspektive W OLF -R EINHARD K EMPER

Rauscherfahrung als mögliche Transzendenz aus Norm und Alltag ist Teil des sozialen Lebens. Der Rausch als Reise in neuronale Welten, hervorgerufen durch Transmitterkonstellationen, ist Abenteuer wie auch emotionale Grenzerfahrung zu gleichen Teilen. Doch bleibt es ein ewiger Wunsch, auch die Kontrolle über den Rausch zu besitzen? Oder sind Koordination und ein scheinbar qualitativ bewertbarer Einsatz von psychotropen Substanzen schon ausreichend, um über die bis dahin unberechenbare Macht von Rausch zu triumphieren? Psychotrope Wirkungen und Rausch werden nutzbar gemacht. Ob für Freizeitkonsum oder Kunsterleben und -schaffen, als Lebensphilosophie oder soziale Erfahrung. Rausch schafft Perspektivwechsel und Wahrnehmungsveränderungen für Konsumentinnen und Konsumenten. Als Notwendigkeit kann ein psychotroper, substanzgestützter Gebrauch empfunden werden, wenn diesem akut oder temporär eine salutogene Wirkung zugesprochen wird. Kampf, Gefecht und Krieg schaffen für Menschen neuronale Ausnahmesituationen und Grenzerfahrungen, die als Rausch, Trance und Ekstase wahrgenommen werden, für andere werden die Angst und das Erlebte zum Horrortrip und Trigger einer Psychose. Wieder andere sterben an den Folgen des Krieges. Der ‚Flash‘ des Heldenhaften liegt dicht an der Verzweiflung des Besiegtseins. Auch Krieg und der Wille zum Heroischen können zur Droge werden. Mit dem Konsum weiterer psychoaktiver Substanzen kommen zwei Komponenten zusammen, deren Wechselwirkungen oft unvorhersehbar sind. Krieg hinsichtlich seines Nutzens, seiner Gerechtigkeit oder seiner Menschenverachtung zu bewerten, ist an dieser Stelle nicht Inhalt des Aufsatzes, doch die Allianz zwischen

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Krieg und Drogen aufzuzeigen, soll dazu dienen, Krieg aus einer eher ungewöhnlichen Perspektive zu betrachten. Es scheint so, dass Krieg als Ultima Ratio einer politischen Konfrontation, alle Mittel rechtfertigt, die zu einem Sieg führen. Krieg hat immer das Ziel, Gegner, die zuvor zu Feinden erklärt wurden, in ihre Schranken zu verweisen, oder wie Clausewitz es formulierte: „Krieg ist nichts anderes als eine Fortsetzung des politischen Verkehrs mit Einmischung anderer Mittel.“ In allen bisherigen Kriegen waren es immer die Gewinner, die sich das Recht gaben, den Sinn ihres Handelns zu definieren. Der Sieger hatte das Anrecht auf Triumph und Nutzen. Dieses in Aussicht gestellte Anrecht scheint alle Strategien und Konzepte zu rechtfertigen, die einen Erfolg versprechen. Die bisherige Perspektive auf Krieg und Drogen wurde auf die Thematik „Menschen als erfolgreiche Kampfmaschinen mithilfe psychotroper Substanzen“ reduziert. Drogen als Waffe, Drogen als Ware zur Kapitalbeschaffung, Drogen als Pharmakon für Kriegsverwundete und Drogen als persönliches Substitutionsmittel von Akteuren bleiben hinter der plakativen Thematik von Kampfdrogen oft verborgen. * Das Thema Geldbeschaffung für den Waffenkauf durch den Verkauf von Drogen, welches durch die Drogenfunde in Verbindung mit dem Islamischen Staat (IS) wieder in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt ist (eine größere Menge des Amphetaminwirkstoffes Fenetyllin mit dem Handelsnamen „Captagon“ konnte gefunden werden; als Produktionsstätte wird die Stadt Aleppo vermutet, in der in Friedenszeiten die internationale Pharmaindustrie hat produzieren lassen), sollte in diesem Aufsatz keine besondere Position zugeschrieben bekommen, da diese Perspektive zu umfangreich werden würde. Schon der Vietkong, so wie die Mudschaheddin und Taliban in Afghanistan, haben in Nordkorea mit Opium, in Myanmar mit dem hochpotenten Amphetamin „Yaba“ und während des Deutschen Reichs durch Morphium- und Kokainmonopole ihre Kriegskassen aufgefüllt. * Eine große Bedeutung kommt Drogen durch ihre Nutzung als Substitutionssubstanz zu. Als Substitut für die Bewältigung von Erlebtem. Es lässt sich vermuten, dass psychische Belastungen, die durch aktive Teilnahme an Kampfhandlungen, durch Taten im Zusammenhang mit Eroberungen und Erleben von Tod und Vernichtung, temporäre wie auch chronische Folgen für die Psyche vieler beteiligter

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Kämpfer (wie auch Zivilbevölkerungen) hatten und haben. Psychischen Belastungen begegnen Betroffene mit dem Konsum psychotroper Substanzen, von denen sie sich Linderung oder eine Rückkehr in Empfindungs- oder Verhaltensmuster versprechen, die mit dem Leben vor den Kriegstraumatisierungen zu vergleichen sind. Dieses Verhalten scheint seit der Dokumentation von Kriegen Bedeutung zu haben. War es in der Antike der Alkohol in Form von Bier und Wein, wurden es später Spezialitäten, die auf der Basis von Papaver Sumniferum (Schlafmohn) hergestellt wurden. Schon in der „Odyssee“ hat Homer den Soldaten des Odysseus den „Trank des Vergessens“ trinken lassen und auf den Lotophagen nutzten diese die Droge Blauer Lotus, um ihre Gräueltaten zu vergessen. Diese Geschehnisse werden historisch auf die Zeit um 1200 v. Chr. datiert. Aber auch in jüngeren Geschichten der griechischen Antike wird von Arzneien berichtet, deren Ingredienzien aus Wein und Opium bestanden. Diese wirksame Kombination als Analgetikum für Physis wie Psyche wurde im 16. Jahrhundert durch Theophrastus Bombastus von Hohenheim (Paracelsus) auch in unseren Breitengraden bekannt und ist bis heute als Tinctura Opii normata mit einer Betäubungsmittelverschreibung erhältlich (s. dazu auch: Seefelder 1996). 334 v. Chr. war es der makedonische Feldherr Alexander der Große, der auf seinen Feldzügen gegen die Perser, Ägypter und den Völkern des indischen Subkontinents neben seinen Heerstraßen Papaver Sumniferum anbauen ließ, um damit seinen Soldaten eine Möglichkeit zur Behandlung ihrer Leiden zu ermöglichen. Die Herstellung und der Gebrauch von Alkohol haben wohl ihren Ursprung in Mesopotamien zur Zeit der babylonischen Herrschaft. Durch einen koordinierten Getreideanbau und der Aneignung von Kenntnissen der Bierherstellung wurde dieses alkoholische Getränk ein erfolgreiches Produkt, das aus Gründen der höheren Haltbarkeit gegenüber der des Wassers sowie seiner berauschenden Wirkung viele Abnehmer fand. Kämpfern wurde ein vorrangiger Zugang zu Bier gesichert. Der König Hammurabi erließ 1728 v. Chr. die ersten Biergesetze, welche Preis, Qualität und Zugang regelten. Dieses Dokument, in Stein gemeißelt, wurde 1902 in Susa (dem heutigen Irak) gefunden und befindet sich seitdem im Pariser Louvre. Das Herstellungsverfahren fand nur wenige Jahre später Anwendung mit Früchten wie Trauben und Datteln. Wein und dessen Nutzen wurden im gesamten Mittelmeerraum bekannt. Ständige kriegerische Auseinandersetzungen um Land- und Seeterritorien bestimmten über Jahrhunderte hinweg das Leben im mediterranen Raum. Ob Ägypter, Assyrer, Akkadier, Kretaner, Athener oder Perser: Viele Kampfhandlungen fanden auf See oder bei Angriffen auf Hafenstädte statt. Auf den Nachschub von Holz, Öl und Teer für Schiffsrepa-

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raturen hatte sich das Seefahrervolk der Phönizier spezialisiert, doch deren wichtigste Handelsware war der Wein für kämpfende Truppen. Die Phönizier, die aus dem heutigen Libanon stammten, konnten diesen schwunghaften Handel nur leisten, indem sie für keinen der Kontrahenten Partei ergriffen. Sie wurden erst zum Angriffsziel, als sie das Handelszentrum Karthago gründeten und somit zum lohnenswerten Angriffsziel der Römer wurden (s. dazu auch: Gelpke 1995: 33-38; Farber 1981: 270-275). So wie Alexander von Makedonien durch seine Truppen die Verbreitung von Opium gefördert hatte, wurden die Römischen Legionen zu den Urhebern einer Expansion des Weines. Eine Affinität zwischen Kriegern/Soldaten und Alkoholkonsum ist seit jenen Tagen ungebrochen (vgl. Preiser 1981: 304-305). Der Alkohol und seine berauschende Wirkung wurde zum führenden Mittel, um Angst und psychische Belastungen ertragen zu können. Auch germanische Stämme hatten die Wirkung von Alkohol als Rauschmittel in ihre Kultur integriert. In Ermangelung von Getreideüberschüssen und Wein wurde ein Sud aus den Grundstoffen Wasser und Honig zur Herstellung eines psychotropen Getränks verwendet. Auf einem germanischen Bildnis der Westgoten ist eine Göttin abgebildet, wie sie Kämpfern den Trinkbecher kredenzt, so wie es schon zu Zeiten der Mykener Weinkrüge gab, die mit Kampfszenen geschmückt waren. Die Versorgung mit Alkohol und weiteren unentbehrlichen Dingen wurde für Truppen in den darauffolgenden Jahrhunderten perfektioniert. Die Berufsgruppe von truppenbegleitenden Marketenderinnen wurde bis ins 19. Jahrhundert Bestandteil von Truppenbewegungen. Zu Wein und Bier kam seit dem 15. Jahrhundert der Brandwein hinzu. Nach chemischen Experimenten mit Wein zur Goldherstellung war es Mönchen gelungen, den ersten Brandwein zu destillieren. Zuerst wurde das Produkt als Aqua Vitae, Wasser des Lebens, klösterlichen Apotheken zu Verfügung gestellt, doch schon bald erhöhte sich die Nachfrage kontinuierlich. Feldherren wussten um die Vorteile, die von Wein, Bier und Brandwein ausgingen, sodass die Gegenwart von Alkoholhändlern in Heerlagern nicht nur geduldet, sondern mit Nachdruck unterstützt wurde, schon um dem Risiko des Desertierens von Truppenangehörigen Vorschub zu leisten. Schottische Truppenführer ließen vor Schlachten gegen verfeindete Clans und englische Eroberer ihre Freiwilligenarmeen in Festungen kasernieren und versorgten sie mit ausreichend Whiskey und Bier, damit sich unschlüssige Kämpfer oder Gruppen nicht schon vor den Schlachten für einen Rückzug oder ein Entziehen aus der Kampfhandlung entschieden. Im spanisch-englischen Seekrieg (1588) hatten britische Fregatten und spanische Galeonen, neben Waffen und Munition, starke Weine und Rum an Bord, um die Stimmung zu heben und nach einer gewonnenen oder verlorenen Schlacht, die Matrosen und Soldaten zu

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belohnen oder um der Erschöpfung und Unlust entgegenzuwirken. Aus mehreren Armeen und Epochen wird berichtet, dass Soldaten ein Teil des Solds in Alkohol ausgezahlt wurde (u.a. Landsknechten im Dreißigjährigen Krieg; hessischen Soldaten, angeworben von England für den Unabhängigkeitskrieg in Amerika; deutschen Soldaten in ihrem Einsatz für die Sicherung von Tsingtau/China während des Boxaufstands; russischen Soldaten im Zweiten Weltkrieg). Das Verlangen nach Alkohol als unterstützendes Substitut in belastenden Situationen wurde mit der Dauer von Kriegshandlungen größer. Waren es am Anfang eines Krieges die Begeisterung und die Erwartungshaltung auf einen schnellen Sieg, die eine scheinbar grenzenlose Kraft aus einem körpereigenen Neurotransmitter-Cocktail kreierten, wirkte die Realität, je näher die Soldaten, besonders die Freiwilligenheere, den Kampfhandlungen kamen, ernüchternd. Angst vor dem Bevorstehenden verdrängte Begeisterung und Siegessicherheit. Alkohol wurde ein ständiger Begleiter für viele. Wurden Gehöfte, Dörfer oder Ortschaften eingenommen, war es eines der ersten Ziele, die Restbestände von Alkoholika aus Gasthöfen, Läden, Brauereien, Weinlagern und Privatbesitz zu sichern. Rausch war eine immer willkommene Abwechslung zum Töten, Sterben, Leiden und zu einer oft empfundenen Orientierungslosigkeit. Alkohol machte Unerträgliches vorübergehend erträglich. Abbildung 1: Betrunkene Offiziere des ersten, dritten, fünften und achten Husaren-Regiments

Quelle: Holzschnitt Nr. 16/1843 von Adolf Menzel, in Adolf Menzel (1923): Die Soldaten Friedrichs des Großen, Leipzig: E. A. Seemann

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Bis in die Gegenwart hinein hat Alkohol seine Bedeutung für Soldaten behalten. Besonders Bier, das bei kontrolliertem Konsum, etwa in den freien Zeiten außerhalb eines Einsatzes, zur Entspannung und Belastungsreduzierung beiträgt, ist als Droge anerkannt und geduldet. Es ist aber auch vorrangig Alkohol, welcher für Soldaten, die aus ihren Einsatzgebieten zurückgekehrt sind und posttraumatische Belastungsstörungenen haben, (ein Problem, dessen Behandlung von manchen Betroffenen in den ersten Phasen des Auftretens abgelehnt wird, weil das Problem als solches nicht erkannt oder geleugnet wird oder weil das Männlichkeitsbild des Soldaten psychische Einschränkungen nicht zulässt) mit seiner beruhigenden Wirkung als ‚Stütze‘ zur Bewältigung des Alltags bis zu einem Konsum mit Kontrollverlusten genutzt wird. Neben Alkohol sind es auch Cannabisprodukte, Barbiturate, Schlafmittel, Analgetika, Kokain oder Produkte mit opioidem Inhalt (Morphium, Diacetyl Morphin oder Kodein), die ohne eine ärztliche Indikation konsumiert werden. * Eine weitverbreitete psychotrope Droge, die seit den vergangenen 600 Jahren durch den Gebrauch von Soldaten erwähnt werden muss, ist der Tabak, der ‚kleine Rausch‘, welcher durch die Wirkung des Alkaloids Nikotin und weiterer Inhaltsstoffe wie Nicotein, Nicotellin, Nicotoli und Nornicotin ausgelöst wird. Tabak wird als Genuss- und Sozialdroge bezeichnet, deren häufigste Konsumformen das Rauchen, Schnupfen und Kauen darstellen. Unter sozialer Wirkung wird in diesem Fall die Beseitigung eines Deprivationszustandes verstanden. Das Rauchen von Tabak fand erstmals im Logbuch von Christoph Kolumbus am 06. November 1494 durch die Matrosen Rodrigo de Jerez und Luis de la Torre Erwähnung, die bei der Erkundung der Insel Kuba rauchende Indigene beobachtet hatten. Schon bald wurde das Tabakrauchen von europäischen Soldaten und Schiffsbesatzungen, die in Amerika stationiert waren, ausprobiert und übernommen. Die Besatzungsmitglieder waren zum einen Seeleute, doch sie fungierten außerdem als Landetruppen und Festungsmitarbeiter. „Tabakrauch trinken“ (Rauchen) wurde zur Gewohnheit für viele, die begeistert von der eigenwilligen Wirkung waren. Bald sprach man von der „trockenen Trunkenheit“, wenn vom Tabakrauchen die Rede war. Es besteht die Vermutung, dass der Tabak auch als Substitut genutzt wurde, wenn die Alkoholvorräte aufgebraucht waren, denn die Länge einer Reise war nicht abschätzbar und der Stauraum für Proviant war auf jedem Schiff nur begrenzt (vgl. dazu auch Corti 1986). Für die spanischen und portugiesischen Streitkräfte in der ‚Neuen Welt‘ wurde, neben ihrer Zuneigung zu Wein und Cerveza (Bier), der Tabak, der von

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befreundeten oder in friedlicher Koexistenz lebenden Indigenen kultiviert und als Tauschware in den Kolonialstädten verkauft wurde, zur zweitwichtigsten Droge. In den Regionen der heutigen Bundesrepublik Deutschland wurde die Existenz der Droge Tabak um 1560 durch spanische Soldaten bekannt. 1587 berichtet ein Aachener Franziskanermönch seinem Kölner Ordensvorsteher: „Es ist viel spanisch Volk hier, alwo sie schlechte Sitten eynführen, wie da besonderlich sie eyn neue art von ausgelassenheyt demonstrieren, alß da ist dass Ausblasen von rauch. Die Soldatt außm spanischen lant stoltzyren allhiero umher und fressen feuer zambt deme rauch und dass domp vollk obwundert sich schier.“ (Corti 1986: 99)

Mit dem Dreißigjährigen Krieg wurde das „Tabakrauch trinken“ (Rauchen) in allen Regionen der damaligen Kaiser- und Fürstentümer im „Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation“ bekannt, und das ist bis heute so geblieben. Selbst die kritischen Bemerkungen des Schreibers und Urhebers des kritischhistorischen Werks „Simplicianische Schriften“, Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen, der selbst 1638 als freiwilliger Dragoner bei der Verteidigung der Stadt Offenburg am Krieg teilnahm, konnten die Verbreitung des Rauchens nicht aufhalten. Auch Hans Michael Moscherosch stellte 1640 in seinem autobiographischen Werk „Wunderliche und wahrfaftige Geschichte des Philanders von Sittewald“ fest, dass jetzt auch deutsche Landsknechte dem neuen Laster frönen: „Ebenso über das soeben von den Spaniern in Europa eingeführte giftige Tabakkraut, über die Franzosen, die ohne das Tabaksaufen schon nicht mehr leben könnten, zu den nachäffichten Teutschen.“ (Moscherosch 1640: 653)

Zur täglichen Pflichtversorgung von Landsknechten gehörte der Tabak noch nicht, doch durch die kulturelle und internationale Mischung der Soldaten wurde für jeden von ihnen das Rauchen zu einer willkommenen Ergänzung oder Alternative zum Alkohol, wenn dieser mal nicht in greifbarer Nähe war. Nachdem sich der Tabakverbrauch um ein Vielfaches gesteigert hatte, musste auch der Nachschub organisiert werden. Über Spanien, England, Dänemark und Holland wurden Tabakblätter aus Amerika eingeführt und auf deutschem Boden durch die Hansestädte, die sich neutral zu den kriegerischen Auseinandersetzungen verhielten, verkauft. In den vielen Kasernen des 18. Jahrhunderts wurden von den Offizieren und Unteroffizieren Rauchzimmer eingerichtet, zu denen die Mannschaften keinen

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Zutritt hatten. Ihnen wurde aber „die Pfeife“ auf Übungsschanzen und Schießplätzen, weitab von den Kasernen, in den Pausen (Rauchpausen) erlaubt. 1776 stellte der Ansbach-Bayreuther Markgraf Carl Alexander für den englischen König ein Kontingent von drei Grenadierkompanien (ca. 300 Soldaten) zusammen, die sich von Ansbach aus auf den Weg nach Amerika machten. Schon während der ersten Etappe nach Ochsenfurt kam es unter den oft nicht freiwillig angeworbenen jungen Männern zu Fluchtversuchen, denen man mit ausreichend Kost, Tabak und Alkohol entgegenwirken wollte. Der Markgraf selbst besänftigte die aufgebrachten Freiwilligentruppen und begleitete sie bis zur Übergabe an Colonel William Faucitt ins holländische Nimwegen. Von dort aus ging es am 28. März 1777 auf neun Dreimastbarken nach Amerika. Die bis dahin gute Verpflegung, die Carl Alexander nach den Vorfällen in Ochsenfurt garantierte, wurde unter britischem Oberbefehl reduziert, sodass der Markgraf für zusätzlichen Proviant, wie Brandwein und Tabak, die Kosten tragen musste. Damit wurde Tabak erstmalig offizieller Bestandteil der Versorgung von Soldaten, in diesem Fall für jene, die auf dem Weg zu ihrem Einsatz in Philadelphia, Staten Island, New York und Virginia waren. In Frankreich wurde 1791 das Verbot des freien Anbaus, der freien Verarbeitung und des freien Verkaufs von Tabak aufgehoben. Nun hatte jeder Bürger Frankreichs das Recht, selbst Tabak anzubauen und/oder zu verkaufen. Dem, von den Soldaten der Pariser Kommune verpönten, Konsum von Pfeifen- und Schnupftabak, der als Relikt der Feudalherrschaft angesehen wurde, folgte die Genussvariante des Zigarrenrauchens als Ausdruck des Bürgertums. Es war Napoleons Wunsch, dass es den Truppen an nichts fehlen sollte. Deshalb gehörte auch die Abgabepflicht von Rauchtabak und den in Mode kommenden Zigarren zur Aufgabe des Landvolks. Napoleon selbst war ein großer Schnupftabakkonsument. Seit der Verbreitung des Tabaks in Europa waren auch die französischen Soldaten an Tabak gewöhnt und nutzten das Nikotin als Entspannungsdroge in den Kampfpausen. Durch das Napoleonische Heer verbreitete sich der Gebrauch von Zigarren in ganz Europa und wurde neben der Pfeife zur wichtigen Möglichkeit für die beliebte Nikotinzuführung. Durch die Napoleonischen Besatzungstruppen in Preußen wurde die Zigarre so populär, dass bald in jeder Stadt Zigarrendreher oder zumindest Verkaufsstellen für Zigarren vorhanden waren (vgl. dazu auch: Scheuer 1927: 93-95). Das Schnupfen von Tabak hingegen blieb den Offizieren der Armeen vorbehalten. Es war ein Habitus des Adels, der sich seit der Zeit von Katharina von Medici (im 16. Jahrhundert) bis zur Regentschaft von Preußenkönig Friedrich II. erhalten und gefestigt hatte. Da die Offiziere der Truppen aus dem Adelsstand verpflichtet wurden, waren sie es, die dem Schnupftabak seine elitäre Bedeutung

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verliehen. Auch nachdem Männern aus dem bürgerlichen Stand der Zugang zu den Offizierschors ermöglicht wurde, blieb das „Schmalzen“ Statussymbol der Leutnante, Hauptmänner und Majors. Mit dem Krim-Krieg wurde eine weitere Variante des Tabakrauchens unter den Soldaten eingeführt. Schon seit geraumer Zeit hatte sich am Hofe des russischen Zaren die Sitte des Rauchens von Tabak in Seidenpapierhüllen verbreitet. Durch den Krim-Krieg wurde nun der Cigarrito-Konsum, wenn auch unter Verwendung von einfachem Papier, von russischen und türkischen Soldaten übernommen und durch die anderen am Krieg teilnehmenden Truppen in weiteren Ländern bekannt gemacht. Französische Soldaten waren die ersten, die auch damit begannen, kleine Mengen von Tabak in Papier zu rollen und zu rauchen und damit für Frankreich den zweiten Versuch der Einführung von Cigarretes einleiteten. Waren Zigarren und Pfeife noch Konsummöglichkeiten für ausgedehnte Ruhepausen, so wurde die Zigarette die Konsumeinheit, die zwischendurch genutzt werden konnte. Kriege, Schlachten und Gefechte erfolgten in kürzeren Zeiteinheiten, sodass auch die Pausen zugunsten der Mobilität kürzer wurden. Die Kriegsführung des 19. Jahrhunderts legte erstmalig gesteigerten Wert auf schnelle Erfolge mit besagten Auswirkungen auf das gesamte Kampf- und Konsumverhalten. Gerade diese Stellungskriege setzten den Soldaten aller Truppen, egal wie gut ausgebildet sie waren, physisch und psychisch extrem zu. Hunderttausende fielen, viele wurden verwundet, fast alle erkrankten psychisch aufgrund des Erlebten und aufgrund der Belastungen im „Stahlgewitter“, den kontinuierlichen Gefechten mit schwerer Artillerie. Jede Droge, die zur vorübergehenden Linderung beitragen konnte, wurde daher dankend angenommen. Alkohol, Morphium, aber vorrangig Tabak, wurden für die Feuerpausen notwendige psychotrope Stoffe, deren Konsum unumgänglich schien. Bis zum Krieg und in den ersten Kriegsjahren waren viele Soldaten Zigarren- oder Pfeifenraucher, obwohl in Deutschland bis 1914 schon ca. 20.000 Zigarettenmarken registriert waren. Aufgrund der Bedürfnisse und Belastungen wurde den Soldaten und Unteroffizieren täglich eine Ration von 2 Zigarren und 2 Zigaretten oder 35 g Tabak oder 6 g Schnupftabak mit der Verpflegungsration zugeteilt. Zusätzlich war die Möglichkeit des Zukaufs von Marketenderware gegeben (Zigaretten kosteten 2½ Pfennige, später, um 1917, bis zu 12½ Pfennige). Offiziere, die, statt des Tagessolds, ein festes Gehalt erhielten, mussten sich selbst mit Tabak oder Tabakprodukten versorgen. Beschränkte sich der Zigarettenkonsum noch bis in die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg auf einige wenige der deutschen, französischen und spanischen Armeeangehörigen, so blieb die Zigarette als Konsumeinheit bis heute für viele

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Soldaten im 20. und 21. Jahrhundert die Droge, welche als solche nicht wahrgenommen wird, der aber in allen Kriegsgebieten eine hohe Bedeutung zukommt. * Das Opium wurde nach der Verbreitung durch Alexander dem Großen eine bedeutende Medizin im orientalischen Raum. Der Konsum innerhalb der Truppen wurde durch Ärzte kontrolliert. Nach dem Feldzug der Napoleonischen Truppen nach Ägypten (1798-1801) wurden auch Armeen aus dem Orient zu Verbündeten, die sogenannten mohammedanischen Reiter, die, statt mit Alkohol, von ihren Feldärzten (Hakime) bei Bedarf mit Opium behandelt wurden. Das Opium wurde seitdem auch ein häufig angewandtes Medikament in den französischen und anderen verbündeten Armeen, wie zum Beispiel der preußischen, in der das Essen und Rauchen von Opium bald unkontrolliert Anwendung fand. Mit der Herstellung von Morphium aus dem Rohprodukt Opium durch den deutschen Chemiker Friedrich-Wilhelm Sertürner (1820) erhielt das Opium eine neue Qualität, auch für das Militär. Vorrangig wurden Verwundete zur Schmerzbehandlung mit der Droge substituiert. Doch auch die beruhigende und entspannende Wirkung wurde von jenen begrüßt, die traumatisiert das psychische Gleichgewicht verloren hatten. Waren es im amerikanischen Bürgerkrieg noch wenige, die sich zu diesem Zweck die Droge zuführten, folgten in den kommenden Kriegen viele diesem Beispiel. Ob im Ersten Weltkrieg, Zweiten Weltkrieg, Koreakrieg oder Vietnamkrieg – immer mehr Soldaten sahen im Morphium und Diacetylmorphium (Heroin) eine Möglichkeit, der unerträglichen Anspannung und Belastung für kurze Zeit zu entfliehen. Bevorzugtes Ziel von Plünderungen, nach der Eroberung von Städten und feindlichen Lazaretteinrichtungen, waren Apotheken, die nach wirkungsvollen psychotropen Substanzen durchsucht wurden. Aus dem schon 1896 von Felix Hoffmann entwickelten Diacetylmorphin (Heroin) wurde 1960 eine noch wirkungsvollere Spezialität kreiert: Fentanyl. Dieses neue Opioid fand seinen ersten militärischen Einsatz im Vietnamkrieg zur Ruhigstellung von Schwerverletzten; als Droge war es bedeutungslos, da die Herstellung, ohne Hilfsmittel aus einem Labor, sehr schwierig war. Aus Fentanyl wurde im Laufe der Jahre Carfentanyl synthetisiert. Ein Variante, deren Potenz 1.000 Mal höher war als Morphium. Zum militärischen Einsatz kam Carfentanyl in gasförmiger Variante als ‚Waffe‘ erstmals bei der Befreiungsaktion der russischen Spezialeinheiten nach der Geiselnahme von Besuchern im Moskauer Dubrowka-Theater (2002). Die Wirkungskraft dieser Droge, die zum medizinischen Gebrauch nicht zugelassen ist, war so hoch, dass durch ihren Einsatz auch viele der Geiseln ihr Leben verloren.

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* Die Strategie, Drogen in Kriegen als Waffe einzusetzen, ist schon aus der Antike bekannt. Ein Wunsch von Militärstrategen und Politikern ist es wohl, das Monopol über eine Droge zu besitzen, deren einmaliger Konsum zur Abhängigkeit führt. So eine Droge ist nicht existent, sodass man Alternativkonzepte zu entwickeln versuchte. Die Anfänge einer Drogenkriegsführung sind seit den Messenischen Kriegen (740-720 und 660-640 v. Chr.) bekannt. Eine Kriegslist der Griechen war es, ihren Feinden die Chance zu geben, Lager und Festungen einzunehmen, in denen große Mengen reinen Weins deponiert waren. In der folgenden Nacht oder am nächsten Tag wurden dann die vom Weingelage sich noch in einem desolaten Zustand befindlichen Truppen vernichtend geschlagen. Selbst zur Beschaffung neuer Soldaten wurde zur Zeit des Siebenjährigen Krieges (1756-1763) zu einer List gegriffen. Rekrutierung von neuen Soldaten auf Basis der Freiwilligkeit verlief zu jener Zeit wie folgt: Auf einem zentralen Platz in der jeweiligen Stadt oder Ortschaft begann zuerst eine militärische Musikgruppe (Trompeter, Pfeifer und Trommler) mit Marschmelodien, die Aufmerksamkeit der Anwesenden auf sich zu ziehen. Wenn die Ansammlung von Zuschauern eine genügende Anzahl erreicht hatte, demonstrierten zusätzlich erfahrene Grenadiere und Unteroffiziere in Gardeuniformen ihre Fähigkeiten in der Fechtkunst. Die an der Darbietung Interessierten konnten sich an extra aufgebauten Informationstischen bei Werbungsoffizieren über die Vorzüge einer militärischen Laufbahn erkundigen und anwerben lassen. Jene, die noch in ihrem Entschluss wankelmütig waren, wurden in einem nahen Gasthaus bei Bier und Wein nochmals von Werbern mithilfe von heldenhaften Erzählungen und der Aussicht auf Ruhm, Ansehen und Geld zum großen Teil überzeugt. Von Seiten des Militärs wurde bei der Auswahl der zu Werbenden darauf geachtet, dass sie unverheiratet waren, da von verheirateten Männern so mancher nach der Ernüchterung zu desertieren versuchte (was nicht zur Hebung der Moral unter den neuen Rekruten beigesteuert hätte). Eine psychotrope Waffe bei der Handelskolonialisierung von China durch englische Handelskompanien und dem Versuch einer Unterwerfung des Landes war das Opium. War der Genuss dieser Droge im 17. und 18. Jahrhundert den wohlhabenderen Schichten des Volkes vorbehalten, folgte im 19. Jahrhundert die Strategie der Destabilisierung des Landes durch große Mengen indischen Opiums, mit dem ein Großteil der Bevölkerung durch die Rauschwirkung dieser Droge in Abhängigkeit gebracht und handlungsunfähig gemacht wurde. Es folgten im Verlauf der noch bestehenden Wehrhaftigkeit der chinesischen Führung

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der erste Opiumkrieg (1839-1842) und der zweite Opiumkrieg (1856-1860), der mit der Annektierung Hongkongs durch das englische Königshaus endete. Eine Strategie, mit dem Halluzinogen Lysergsäurediethylamid 25 (LSD 25) das Trinkwasser von feindlichen Truppen zu kontaminieren, wurde als Versuchsreihe von amerikanischen Militärforschungseinrichtungen in den 50er- und 60er-Jahren ‚nur‘ als Experiment durchgeführt. Zudem wurden Experimente in der Hoffnung durchgeführt, mit LSD 25 eine Wahrheitsdroge gefunden zu haben, mit der feindliche Spione und Soldaten zum Geheimnisverrat bewegt werden konnten (Thamm 1994: 145). Im weiteren Verlauf der Weltgeschichte waren es der Vietkong und die Truppen Nordvietnams, die im Kampf gegen die südvietnamesischen Truppen und deren amerikanischen Verbündeten Diacetyl Morphin (Heroin) und Cannabis einsetzten. Amerika nahm aktiv an dem Krieg von 1965 bis 1969 teil. Die Aktionsfähigkeit von amerikanischen Truppen im Vietnamkrieg wurde durch diese Drogen, für deren Herstellung in den angrenzenden Nachbarländern Anbau und Verarbeitung organisiert wurden, erheblich geschwächt. Die Regionen wurden als Drogenkriegsgebiet „Goldener Halbmond“ im „War on Drugs“ deklariert. Das hochpotente Diacetyl Morphin (Heroin) aus diesen Gebieten erhielt die Bezeichnung „White China“. Das gleiche Schicksal ereilte sowjetische Truppenverbände, die ab 1980 in Afghanistan die Truppen der Volksrepublik Afghanistan unterstützten. Ein Teil der Führer der gegnerischen Kämpfer hatte ungehinderten Zugang zu Opiumbauern. So wurde konspirativ und verdeckt von der Bevölkerung, die den sowjetischen Soldaten feindlich gegenüberstand, Opium an Mannschaften verteilt, was, wie im Vietnamkrieg, zur Destabilisierung ganzer Truppenteile beitrug. * Ein weiterer, gerade für militärische Zwecke bedeutender Grund für einen Einsatz von psychotropen Drogen war die Idee vom überlegenen Kämpfer. Krieger, Soldaten, Söldner, die durch Drogenkonsum zu unbezwingbaren menschlichen Waffen werden, denen man nur wenig entgegenzusetzen in der Lage war. Eine Legende aus dem frühen Mittelalter, die in Asien und dem Orient über Jahrhunderte Bestandteil von Geschichten war und mit Achtung und Schaudern erzählt wurde, ist die Sage über die verdeckten Einzelkämpfer der Assassinen. Bei den Assassinen (Mörder im Auftrag) handelt es sich um Soldaten eines geheimen Heeres von Ismailiten, die in der Zeit zwischen 1100 bis ca. 1250 n. Chr. durch ihre gezielten (Selbst-) Mordanschläge gegen politische und religiöse Gegner von sich Reden machten. Der Ursprung der Armee von Fidai (Fidai: Ge-

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folgsleute eines Dai/Religiöser Führer) liegt in Persien. Ihr Gründer war Hassan I-Sabach, ein gelehrter Ismailit und geistiger Führer, der nach seiner Flucht aus dem von den Sunniten eingenommenen Kairo (Ägypten), in seine persische Heimatregion Rai zurückkehrte und dort im Elbus-Gebirge die Bergfestung Alamut von dem Volk der Seldschuken erstand. Alamut wurde das Zentrum eines autonomen Ismailiten-Staates, der nach wenigen Jahren aus 19 bewohnten Festungen (u.a. auch Lamasa) bestand. I-Sabachs Vision vom „Freien Staat“ wurde Realität, doch auch seine Feinde wurden zahlreicher, denn die Ismailiten, als Glaubensgruppe der Schiiten, wurden von der überlegenen Religionsgemeinschaft der Sunniten aufgrund ihrer Interpretationsbereitschaft der Lehre des Korans angefeindet und verfolgt. ISabach setzte sich gegen die Überzahl der Sunniten mit gezielten Ermordungen zur Wehr. Ein organisierter Partisanenkrieg gegen seine Feinde begann. Die scheinbar freiwillig handelnden Fidai von Alamut zogen bis in den Irak und nach Syrien, um ihren Feinden habhaft zu werden. Mehrere Quellen, von denen die Berichte des Marco Polo die bekanntesten sind, berichten davon, dass den Alamut-Soldaten für ihre Taten ein Leben im Paradies versprochen wurde. Um eine Vorstellung vom Paradies zu haben, sollen jene jungen Männer unter Einfluss von Drogen mehrere Stunden in einem Garten voller kulinarischer und erotischer Genüsse verbracht haben. Nach dieser Erfahrung, die sie nur einmal machen durften, soll das Verlangen nach dem Paradies so intensiv gewesen sein, dass sie ihren Auftrag, auch wenn für dessen Ausführung viel Zeit benötigt wurde, niemals aus den Augen verloren. Über die Droge, die den jungen Fidai verabreicht wurde, gibt es unterschiedliche Vermutungen. Die Kreuzritter waren der Meinung, dass es sich um ein Wein/Cannabis-Getränk handelte. Dieser Vermutung widerspricht eine Überlieferung, die davon berichtet, dass Hassan I-Sabach seinen Sohn töten ließ, weil dieser den für Anhänger des Islams verbotenen Wein getrunken hatte. Doch Cannabis scheint eine bedeutende Rolle in jener bis heute unbekannten Mixtur zu spielen, da aus Überlieferungen für die Gruppe auch der Name „Haschaschin“, also „die Haschischverehrer“, gebräuchlich war. Hinzu kommt, das ISabach durchaus bekannt war für sein Wissen über Kräuter, Drogen und Medizinzubereitungen. Wenn man den mündlich überlieferten Beschreibungen Glauben schenken darf, soll der Konsument nach Einnahme der Droge in einen kurzen komaartigen Schlaf gefallen und dann mit einem Gefühl von Faszination und emotionaler Hingabe in einem paradiesisch anmutenden Garten wieder erwacht sein. Nach geraumer Zeit wurde er wieder von einer starken Müdigkeit übermannt, schlief ein und wachte nach Stunden benommen, aber überwältigt von dem Erlebten wieder auf. Diese Wirkung lässt Drogenwissenschaftler nicht auf

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ein vorrangig cannabishaltiges Präparat, sondern auf ein primär mit Opium angereichertes Mittel schließen. Der Konsum fand in der Regel durch orale Einnahme statt. Um die Wirkung zu potenzieren, kann zusätzlich davon ausgegangen werden, dass auch Zucker (Honig, Palmenzucker oder Dattelmark) in dem Drogengemisch enthalten war (s. dazu auch Baudelaire 1994: 115-119). In den folgenden Jahren bauten die Assassinen ihren Machtbereich aus. 1102 gründeten sie eine Niederlassung in Aleppo/Syrien und 1132 bezogen Anhänger von I-Sabach unter der Führung seines Nachfolgers Sinan Rashid Aldin die Burg Katmus bei Masvaf in Nachbarschaft der Kreuzritter-Burg „Krak des Chevaliers“ auf einem Berg in der syrischen Ebene. Sinan Rashid Aldin, der in den Erzählungen den Beinamen „Sheich el-Dschebel“ („Der Alte vom Berg“) erhielt, setzte die Taktik des Einsatzes von gezielt mordenden Einzelpersonen fort, und auch der Einsatz der drogenbedingten Paradiesillusionen wird ihm nachgesagt. Das Ende der Ära der Assassinen begann 1256 mit der Eroberung der Bergfestung Alamut durch die Mongolen und Seldschuken. Bis auf einen kleinen Teil der Dokumente, der von Yuwaini, dem Sekretär des Mongolenführers, erbeutet wurde, sind alle weiteren Werke der bis dahin berühmten Bibliothek von den Eroberern vernichtet worden. Wenige Jahre später, um 1250, wurde auch die Burg Katmus von Truppen der Turk-Mongolen, die zum Islam konvertiert waren und sich mit den arabischen Sunniten verbündeten, eingenommen. Damit waren die ismailitischen Sattelitenstaaten und die verdeckte, durch Cannabisprodukte geförderte Kriegsführung Vergangenheit geworden. Viele der Legenden, die sich um die Haschaschin und ihre Taten ragten, konnten bis heute nicht widerlegt, aber auch nicht bestätigt werden. Doch diese Legenden reichen bis in die Gegenwart der arabischen Welt und Europa (als ein Beispiel kann hier der im Jahr 2000 geschriebene historische Roman Baudolino von Umberto Eco erwähnt werden). Die nächsten Berichte über eine Droge, welche die Kämpfer belebt und leistungsstark macht, stammen aus der zweiten Belagerung von Wien (1683) durch türkische Truppen des Kara Mustafa Pascha, der im Auftrag seines Herrschers Sultan Mehmed IV. und mit Unterstützung der Krim-Tataren bis vor die Tore der österreichischen Hauptstadt vordrang. Die Strategie der Zeit war es, dass derjenige, welcher Wien in Besitz hatte, das Tor zu Westeuropa kontrollierte. Nach einer Belagerung von zwei Monaten, die von täglichen Gefechten begleitet wurde, rückten die türkischen Armeen ab und hinterließen eine Droge (und die dazugehörigen Aufbereitungsgeräte), welche bis dahin in Europa unbekannt war: Coffea arabica. Das erste militärisch genutzte Weckamin der Geschichte war Kaffee, der über Wien in ganz Europa bekannt wurde. Das koffeinhaltige chinesische Getränk Tee hatte schon früher durch niederländische Kaufleute Europa

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erreicht (1610), wurde aber hauptsächlich aus medizinischen Gründen für Blasenspülungen verschrieben. Die Militärführungen begannen sich seit dem Ende des 19. Jahrhunderts auf die Suche nach der ultimativen Kampf- und Leistungsdroge zu konzentrieren. In Südamerika wurde von Europäern die besondere Wirkung von Cocablättern auf die Ausdauer der Konsumenten dokumentiert, sodass im 19. Jahrhundert nach mehreren Versuchen, der Wirkstoff der Blätter, das Kokain, separiert werden konnte. Mit dem Kokain schien diese ‚chemische Unterstützung für Soldaten‘ gefunden worden zu sein. Kokain, das 1860 von dem deutschen Chemiker Albert Niemann aus den Cocablättern separiert worden war, war 1883 zu militärischen Zwecken von dem bayrischen Truppenarzt Theodor Aschenbrandt in einem Manöverversuch getestet und für hochwirksam erklärt worden. Im Ersten Weltkrieg waren es zuerst die deutschen Jagdflieger, die das Kokain als Leistungs- und Wachhaltemittel für ihre Einsätze nutzten. Über den Gebrauch in anderen Truppenteilen weiß man wenig, doch lässt die Menge der Kokainproduktion jener Jahre darauf schließen, dass die Droge auch bei anderen Truppenverbänden, vornehmlich bei den Offizieren, Verwendung fand. Die zweite, bis heute andauernde Phase der Entwicklung von militärisch nutzbaren Leistungsdrogen begann 1930 mit der Herstellung von Amphetamin, das zu jener Zeit nicht zu Unrecht den Beinamen „Volkskokain“ erhielt. Es wurde erkannt, dass das Amphetamin, welches zuerst nur zur Behandlung von Asthma gedacht war, Menschen vorübergehend wacher und subjektiv leistungsstärker machte. Cephalotrophes Amin fand wenig Beachtung, bis Chen und Schmidt 1924 die positive Wirkung des Pharmakons auf die Schleimhaut des Nasen-RachenRaums nachwiesen. 1930 wurde zuerst in Amerika in der ärztlichen Behandlung das Ephedrin durch cephalotropes Amin ersetzt. Die Arznei wurde von der im amerikanischen Indianapolis ansässigen Firma Lilly Drug Company produziert. Bei dem Herstellungsverfahren, das der Chemiker Gordon Alles entwickelte, wurde dem Wirkstoff des Präparats der Name Amphetamin gegeben und in den Vereinigten Staaten ab 1932 unter der Produktbezeichnung Benzedrin als Inhalationsmedikament gegen Asthma und in Tablettenform rezeptfrei gehandelt. 1934 wurde auch in Deutschland mit der Erforschung der Wirkungen von Adrenalin und Ephedrin begonnen, in deren Verlauf Hausschild, Dobke, Keil und Temmler das 1-Phenyl-2-methylaminopropan (Methamphetamin) synthetisierten. Untersuchungen ergaben, dass Methamphetamin doppelt so wirksam ist wie das Amphetamin (z.B. Benzedrin), aber dessen Wirkung von dem Konsumenten als milder empfunden wurde. Das Forschungsprojekt erhielt den Arbeitstitel Per-Vitin, Ziel war es, die Zulassung als pharmakologisches Präparat zu erhalten. Diese erfolgte

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1938, sodass die Temmler-Werke mit der Produktion des Pharmakons beginnen konnten. Es erhielt den Handelsnamen Pervitin. Als Indikationen wurden von Seiten des Herstellers u.a. reaktive, melancholische und leicht gehemmte Depressionen, Narkolepsie, Schlafmittelvergiftungen, Entziehungskuren, Hypotonie und Kreislaufkollaps angegeben. Doch bald wurde das Präparat hauptsächlich wegen seiner ermüdungshemmenden Eigenschaften verlangt. 1939 veröffentlichte C. Püllen in der Münchner Medizinische Wochenschrift das Ergebnis seiner 1½-jährigen Beobachtungen und Untersuchungen, die er im Verlauf seiner Pervitin-Forschung an mehreren hundert Patienten vorgenommen hatte. Sein Ziel war es, den stimulierenden Effekt des Präparats auf Großhirn, Kreislauf und das vegetative Nervensystem zu dokumentieren. Abschließend kam er zu dem Ergebnis, dass Pervitin ein hochwirksames Pharmakon ist, aber unter ärztliche Aufsicht gehört, „obgleich wir bei normaler Dosierung niemals irgendwelche Zwischenfälle sahen“. Die Ergebnisse von Püllen wurden am 30. September 1939 von Müller-Bonn in dessen Aufsatz „Pervitin, ein neues Analepticum“ bestätigt, der in der ärztlichen Wochenschrift Die Medizinische Welt veröffentlicht wurde (vgl. Püllen 1939: 1002). Die Ärzte der Deutschen Wehrmacht sahen, informiert durch die positiven Veröffentlichungen in den Fachzeitschriften, in Pervitin ein neues Medikament, das, gezielt eingesetzt, die Leistungen von Luftwaffe, Marine und Heer unterstützen könnte. Bei der Produktion für Wehrmachtszwecke wurde nur noch eine Indikation auf der Verpackung vermerkt: Wachhaltemittel! Die Gebrauchsanweisung empfahl für Tag- und Nachtwachen die Einnahme von ein bis zwei Tabletten, „um Schlaflosigkeit zu erhalten“ (Beipackzettel der Verpackung). Doch auch der Hinweis „Benutzung nur von Fall zu Fall!“ war auf der Tablettenröhre vermerkt. Die Zusammensetzung des Truppen-Speeds bestand aus Methamphetamin, teilweise auch in Verbindung mit Traubenzucker. Die ersten Pervitin-Versuche der Wehrmacht im September 1938 an 90 Offiziersanwärtern fanden an der Militärärztlichen Akademie statt. Es folgten im August freiwillige Selbstversuche von Kradfahrern der 2. Kompanie. Die Versuche wurden auf Befehl von Oberarzt Otto F. Ranke, dem Leiter des Instituts für Allgemeine und Wehrphysiologie, durchgeführt, der schon von Beginn an, die Idee und Umsetzung, das Methamphetamin für militärische Zwecke zu nutzen, förderte. Ranke selbst besichtigte 1939 Truppenteile an der „Westfront“ um sich von der Wirksamkeit des Präparats im Feldeinsatz informieren zu lassen, und musste feststellten, dass die Speed-Tabletten ohne Kontrolle ausgegeben wurden. Die ersten Berichte über die Erfolgssteigerung durch das Medikament stammten von dem Divisionsarzt der 30. Division, der seine Erfahrungen während des Polenfeldzugs sammelte. U-Bootbesatzungen, Bomberpiloten, Laza-

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rettpersonal, Koordinatoren im Führerhauptquartier – alle erhielten von ihren Sanitätern oder Ärzten das Präparat, das in der Lage war, die Zeit des Wachseins zu verlängern und subjektiv das Gefühl von gesteigerter Leistungsfähigkeit zu erzeugen. Doch die Regenerationsphasen der konsumierenden Soldaten wurden länger und ihre Leistung verschlechterte sich zunehmend. Die kontraproduktive Seite des Pervitins zeigte sich (vgl. dazu Kemper 2005). Obwohl Pervitin 1944 trotz aller Warnungen immer noch an allen Fronten und in der Rüstungsindustrie (die deutsche Rüstungsindustrie war in jenem Jahr auf dem Höchststand der Produktion) zum Einsatz kam, waren die Folgen des Konsums nicht zu übersehen. Die Soldaten und Arbeiter brauchten immer längere Regenerationszeiten, um die gesteigerten Leistungsphasen unter Methamphetamin zu verkraften. Das Oberkommando der deutschen Wehrmacht unter der Führung von Hitler, der noch immer nicht den „Endsieg“ infrage stellte, glaubte weiterhin an die Unbesiegbarkeit der „arischen Kämpferseele“, suggerierte dem Volk mit Durchhalteparolen eine nur vorübergehende Stagnation der Siegeswelle und suchte weiter nach der ultimativen Leistungsdroge, die das Pervitin an Effektivität noch übertreffen sollte. Es waren Gefangene des deutschen Konzentrationslagers Sachsenhausen, auf deren gesundheitliche Kosten jene pharmakologischen Experimente im November 1944 durchgeführt wurden. Bei einer „neuerfundenen Energiepille“ (zit. nach Nansen 1949) handelte es sich um ein neues Kombipräparat aus 5 mg. Cocain, 5 mg. Eukodal und 3 mg. Pervitin mit der Bezeichnung „D-IX“. Ziel der Untersuchungen war es, die Belastbarkeitsgrenzen unter Pervitin- oder Kokaineinfluss neu zu definieren und an Menschen zu überprüfen. Erprobt wurde das Kokain/Pervitin-Präparat daraufhin im Kriegseinsatz von Kampfschwimmern der Sondereinheit „Friedenthal“ des Offiziers der WaffenSS Otto Skorzeny, jener Mann, der 1943 den italienischen Diktator Benito Mussolini mit einer Sondereinheit befreite. Doch bevor der Drogencocktail in Großeinsatz kommen konnte, wurde der Krieg durch die Alliierten im Frühjahr 1945 mit dem Sieg über die Deutsche Wehrmacht beendet (vgl. dazu Kemper 2002). Eine erneute militärische Nutzung von Methamphetamin wurde in amerikanischen Truppeneinsätzen der Air Force ermöglicht. Sowohl im Zweiten Golfkrieg (1990-1991), als auch im Kosovokrieg (1998-1999) und im Irakkrieg (2003) wurde dem Flugpersonal der Luftstreitkräfte als „Tagtique Management Tool“ der Zugang zu den Methamphetaminen Dexedrin und Dextroamphetamin ermöglicht und teilweise angeordnet. Als sogenannte „Pep Pills“ oder „Go Pills“ gingen diese in den Militärjargon ein. Aus dem Kosovo- und dem Irakkrieg wurde berichtet, dass, um nach einem Einsatz unter diesen aktivierenden psychotropen Substanzen wieder in den gewohnten Rhythmus zurückzukehren, auch so-

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genannte „No Go Pills“ zur Verfügung gestellt wurden. Es handelte sich um Schlafmittel mit dem Wirkstoffen Zolpidem und Temazepam. Zudem wurde darüber berichtet, dass als ‚Wellness‘-Prophylaxe mit den Pharmaka Ciprofloxacin und Doxycyline Versuche angedacht worden waren. Augenzeugen berichteten dem englischen Fernsehsender BBC in einer Dokumentation, dass diese aktivierenden Drogen, – wie schon bei Truppen im Dritten Reich – zum Teil unkontrolliert ausgegeben wurden und von den Empfängern verlangt wurde, diese auch zu nehmen. Die Folgen waren, wie zu erwarten, Selbstüberschätzung, Konzentrationsschwäche und Halluzinationen, mit einem Resultat, was lapidar wie verharmlosend als „friendly fire“ in die unrühmliche Geschichte der Kriege der Gegenwart eingegangen ist, gemeint sind Bombardements eigener und verbündeter Truppen (ein Risiko, über das schon der deutsche Vizeadmiral Helmut Heye 1941 berichtete und das im Zusammenhang mit unkontrolliertem Methamphetaminkonsum stehen soll, s. dazu Hartmann 1994). In einem Gerichtsverfahren gegen einen Piloten der US-Streitkräfte, der im Afghanistan-Einsatz vier kanadische Soldaten ‚versehendlich‘ mit einer lasergesteuerten 250 kg Bombe tötete, kam der Konsum von Amphetamin zur Sprache und wurde als eine mögliche Ursache behandelt. Nach Aussagen eines Arztes der US Air Force war die Gabe von zehn Milligramm Dexedrin alle vier Stunden angewiesen. Eine unbekannte Zahl von Tabletten wurde an das Personal zur eigenverantwortlichen Einnahme übergeben, diese wurde jedoch nicht kontrolliert. Die Dosierung der Speed-Tabletten wurde nach den Einsätzen in Afghanistan von zehn auf fünf Milligramm geändert und kam in dieser Potenz im Golfkrieg wieder zur Vergabe. Eine anonymisierte Umfrage unter US Air ForceKampfpiloten im Golfkrieg Einsatz („Desert Storm“) durch das Naval Strike and Air Warfare Center im Jahr 1999 kam zu folgendem Ergebnis: „Following Desert Storm an anonymous survey of deployed fighter pilots was completed. 464 surveys were returnd (43%). For Desert Storm: 57% used stimulants at some time (17% routinely, 58% occasionally, 25% only once). Within individual units, usage varied from 3% to 96%, with higher usage in units tasked for sustained combat patrol (CAP) missions. 61% of those who used stimulants reported them essential to mission accomplishment.“ (Naval Strike and Air Warfare Center 2000: 11)

Ab 2003 wurde der Einsatz von „Go Pills“ und „No-Go Pills“ für die Pacific Air Forces neu geregelt, aber nicht eingestellt. *

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PSYCHOTROPER

S UBSTANZEN IN K RIEGSSITUATIONEN

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Die Bundeswehr befürwortet einen Einsatz von Drogen nicht und hat auch keine pharmakologischen Reserven eingelagert, um bei Bedarf auf „Go Pills“ zurückzugreifen. Trotzdem wurden in der Bundeswehr, so wie in weiteren europäischen Armeen, in den vergangenen Jahren immer mehr Vorfälle von Drogenkonsum bekannt, welcher von Soldaten aus eigener Initiative durchgeführt wurde und wird. Ein Phänomen, durch das sich die Streitkräfte nicht von anderen Teilen der Bevölkerung unterscheiden. Konsumiert wird die gesamte Angebotspalette psychotroper Substanzen von Modafinil bis Dopingmittel, von Alkohol bis Kokain, von Cannabisprodukten bis Methamphetamin (Cristal Meth). Bei Auslandseinsätzen ist es nicht selten, dass von Soldatinnen und Soldaten u.a. ein privates Depot an Hypnotika (Schlafmittel) und Analgetika (Schmerzmittel) mitgeführt wird. Schon 1994 hatte sich das Bundesministerium für Verteidigung der Suchtproblematik in der Bundeswehr gestellt. Durch die Veränderung von Konsummustern, Herstellung und Verfügung neuer Drogen und aktuellere Kenntnisse über Suchtverläufe und Behandlungsansätze wurde 2005 vom „Zentrum Innere Führung“ eine Neufassung der Bestimmungen erstellt, welche die Verantwortung für Kommandeurinnen und Kommandeure, Einheitsführerinnen und Einheitsführer und deren Führungsaufgaben aktualisiert und neu regelt (Bundesministerium für Verteidigung 2005). Zudem ist bei Auslandseinsätzen auf die kulturellen Normen des Einsatzlandes zu achten, was gegenwärtig vorrangig den Alkoholkonsum betrifft, dessen moderate Konsummöglichkeit auf den Innenbereich militärischer Liegenschaften reduziert bleibt, ohne dass ein Konsum landesüblicher Substanzen aus sozialstrategischen Überlegungen toleriert wird.

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Rausch, Trance, Ekstase – und das gesellschaftliche Unbewusste L ORENZ B ÖLLINGER

1. M YSTIFIZIERENDER D ROGENKRIEG VERSUS WISSENSCHAFTLICHE D ROGENAUFKLÄRUNG Auch wenn das Cannabisverbot aktuell in relevanten Gegenden des Globus zu bröckeln scheint: Der „Krieg gegen die Drogen“ ist noch längst nicht nahe am Friedensschluss. Zwar haben vier Staaten der USA Cannabis legalisiert, weitere stehen an. In Lateinamerika, Europa und der UNO wird darüber diskutiert. Weiterhin werden täglich Konsumenten und Produzenten von illegalen Drogen strafverfolgt. In Deutschland waren es zum Beispiel im Jahr 2014 etwa 160.000 meist junge Menschen, die deshalb sanktioniert wurden und nun lebensgeschichtlich eingreifende Folgen der Stigmatisierung als Kriminelle zu bewältigen haben. Dabei wird bei nüchterner wissenschaftlicher Betrachtung klar. Nicht die Drogen an sich sind das Problem, sondern zum einen die Bedingungen des gesellschaftlichen Umgangs damit, die Drogenpolitik im weitesten Sinne. Nur ein kurzes Resümee des Standes der Wissenschaft: Mit der Prohibition verzichtet der Staat auf die Kontrolle potenziell gesundheitsgefährdender Substanzen, obwohl er nach Art. 2 Abs. 2 GG eigentlich dazu verpflichtet wäre. Sachgerechter Verbraucher- und Jugendschutz sind unmöglich. Der dadurch erst erzeugte Schwarzmarkt folgt einer destruktiven und dissozialen, staatliche Strukturen unterminierenden Eigenlogik. Zum anderen ist es die individuelle Gebrauchsweise, welche – nicht zuletzt aufgrund der gesellschaftlichen Restriktionen – zum Problem werden kann, aber nicht muss. Illegale Drogen sind bei durchschaubarer Zusammensetzung, vernünftiger Dosierung und hygienischem Gebrauch nicht ge-

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fährlicher als die legalen.1 Sie können – ebenso wie die legalen Drogen – in unschädlicher, positiver Weise konsumiert werden. Vor allem die qua Illegalität unterbleibende Risikoaufklärung und der durch die Kriminalisierung erst hergestellte Schwarzmarkt sowie die entsprechend dissozialen Konsumbedingungen machen Risiko vermeidenden Gebrauch unmöglich. Welch ein Unterschied zwischen dem Junkie, der sich das Wasser für seinen Druck aus der Pfütze oder dem Bahnhofsklo holt, und dem Bundesverfassungsrichter, der seinen Trollinger in der gemütlichen Karlsruher Weinstube genießt. Zwar ist die deutsche Variante des Drogenkriegs im Vergleich zur amerikanischen relativ milde: „Therapie statt Strafe“ als „Zuckerbrot und Peitsche“. Gleichwohl ist sie ebenso gescheitert. Die Nachfrage ist – weil unelastisch – stabil, der Nachschub floriert wegen der wahnwitzigen Profite für die Kartelle, deren Kriege in Lateinamerika Zigtausenden das Leben kosten. Durch Kriminalisierung schafft der Staat illegale Milliarden, die trotz aller Gesetze doch irgendwie reingewaschen werden und in die legale Wirtschaft einsickern. Strafverfolgung hat noch nirgends vermocht, Drogengebrauch und seine nicht zuletzt modeabhängigen Konjunkturen nennenswert zu beeinflussen. Und die Drogenpolitik ist ungerecht und inhuman. Faktisch treffen die gewaltigen Strafrechtsgeschütze gerade nicht die ‚bösen‘ Drogenhändler, sondern zu 80% die Endverbraucher. Die Masse der Inhaftierten besteht – wie sonst auch – aus sozial ohnehin primär Benachteiligten. Und obwohl man Abhängige sozialrechtlich als suchtkrank definiert, sperrt man sie strafrechtlich ein. Drogenabstinenz und Suchtfreiheit lassen sich nicht erzwingen. Rausch, Trance, Ekstase gehören seit Anbeginn zur menschlichen Kultur: eine der urmenschlichen Suche nach ewigem Leben, Lust, Sinn, Spiritualität, Hochgefühl und dergleichen folgende anthropologische Konstante – einschließlich des Risikos von Unkontrollierbarkeit und Abhängigkeit. Wie kommt es nun zu der oben skizzierten Irrationalität der auf spezielle Drogen gerichteten gesellschaftlichen Ausgrenzung in Gestalt einer Zangenbewegung von hochgradiger Strafbewehrung einerseits und degradierender Pathologisierung als „Sucht“ andererseits? Alle psychotropen Rituale, Verhaltensweisen, Drogen sind ambivalent. Sie bergen, wie das Leben überhaupt, Negatives, Risiken und Positives, nämlich Potenziale von Entspannung, Hilfe, Heilung, Genuss, Lust, Ekstase. Aber der potenziell negative Verlauf ist – ebenso wie der positive – absolut nicht universell, zwangsläufig und geradlinig „vom ersten Schuss bis zum Tod in der Bahnhofstoilette.“ Zur Verdeutlichung nur einige exemplarische Befunde: Mindestens ein Drittel der Heroingebraucher werden im Stadium des Jungerwachsenseins, also

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Siehe dazu ausführlich und mit weiteren Nachweisen Böllinger 2015a.

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der maximalen Konfliktbelastung und Identitätsunsicherheit, abhängig. Sie steigen jenseits des Alters von 30–35 Jahren im Maße ihrer irgendwie gearteten sozialen Stabilisierung allmählich ohne irreversible Gesundheitsschäden von selbst aus der Abhängigkeit aus (vgl. Böllinger 2015a). Ein weiteres Drittel kommt nach durchschnittlich 10 Jahren und nach vielen Aufs und Abs von Rückfälligkeit und Kriminalisierung los. Dies geschieht auf vielfältigen, teilweise verschlungenen Pfaden der ambulanten oder stationären Therapie, der Substitutionsbehandlung etc.; 5–10% sind früher tragischer Weise gestorben. Und zwar – wie uns Pharmakologie und Soziologie zeigen – eben nicht an der Droge an sich, sondern an den kriminalisierungsbedingt pathogenen Schwarzmarktbedingungen. Zum Glück ist diese Gruppe seit der bald flächendeckenden, aber immer noch kontroversen Einführung der Substitutionstherapie deutlich kleiner geworden. Erfahrungen in England und der Schweiz beweisen: Die Verabreichung von Heroin an eine bestimmte Teilgruppe kann diese Risiken irreversibler Schädigung noch weiter mindern. Letztlich bleibt beim Heroin, ebenso wie bei Kokain und anderen illegalen sowie den legalen Drogen, durchgängig – das sagt die Soziologie – eine Restgruppe von etwa 5% mit aussichtsloser und selbstdestruktiver Abhängigkeit. Differenzierungen ergeben sich aus der Toxizität: Paradoxerweise hat Opiatabhängigkeit wegen der geringen zellschädigenden Wirkung bei Einnahme der reinen Substanz keine nennenswerte Lebenszeitverkürzung zur Folge. Im Gegensatz dazu schädigt Alkohol mit Sicherheit irreversibel Körperzellen. Viele Psychopharmaka verursachen bei Dauerkonsum irreversible Gesundheitsschäden, und das Rauchen hat die bekannten Risiken. Damit sollen die illegalen Drogen nicht verharmlost werden. Nur: Probleme ergeben sich nicht aus der Droge allein, sondern eben primär aus den subjektiven, persönlichkeitsmäßigen und objektiven gesellschaftlichen Bedingungen ihres Konsums. Auch die erwünschte positive Wirkung von Drogen kann nur erzielt werden, wenn Substanz, Set und Setting einigermaßen passen: die Droge, die subjektive Disposition – z.B. Persönlichkeitsstruktur, Angst- und Erwartungshaltung – und die objektiven Konsumbedingungen. Wie kommt es, dass Politik und öffentliche bzw. veröffentlichte Meinung, Instanzen sozialer Kontrolle, die Systeme von Gesundheits- und Sozialfürsorge so hermetisch, ja phobisch abgeschottet erscheinen gegen Rationalität und Vernunft, gegen die verfügbaren wissenschaftlichen Erkenntnisse, gegen die Verfassungsgebote von Humanität und moralischem und kulturellem Pluralismus? Dafür gibt es sicherlich verschiedene politologische, soziologische und ökonomische Erklärungsansätze. Auszugehen ist zum Beispiel von der symbolischen Bedeutung des Drogenstrafrechts im Hinblick auf die Fabriktugenden der Bürger oder der Funktionalität des definierten Drogenproblems für die Legitimation ei-

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ner ungeheuren Aufrüstung der Strafverfolgungsinstanzen oder die Wahrung der Pfründe ganzer Berufsgruppen. Jedenfalls handelt es sich um eine bestimmte Variante der sozialen Kontrolle des Spektrums individueller und kollektiver Verhaltensweisen und Lebensstile zwischen den Polen Asketismus und Hedonismus. Hingegen erscheint eine ethno-psychoanalytisch und interdisziplinär orientierte Psychoanalyse dazu berufen, diese Phänomene und Funktionalitäten besser zu verstehen, indem sie auf ihre psychosozialen und unbewussten Bedeutungen und Zusammenhänge hin untersucht werden, um die höchst interessante, je spezifische Bedeutung des Drogengebrauchs herauszuarbeiten. Dazu im Folgenden einige Umrisse.

2. D ROGEN –

DAS MYTHISCHE

B ÖSE

Das ‚Böse der Drogen‘ wird von der offiziellen Politik und vom Recht nicht hinterfragt, sondern schlichtweg mit dem ‚Bösen der Strafe‘ vergolten. Die Übelzufügung wird nur mühsam kaschiert von der strafrechtlichen Behandlungsideologie. Es herrscht ein anti-aufklärerischer, herrschaftsfunktionaler Dreiklang: Mystifizierung durch Denkverbote; Mythisierung durch Insistieren auf überkommene Deutungsschablonen; Moralisierung, moralischer Rigorismus durch strafrechtliche Ausgrenzung des ‚Bösen‘. Beginnen wir mit einer Reflexion der Kriegsmetapher: Wer ist eigentlich der böse Feind? Die Drogen? Ihre Hersteller und Dealer? Ihre Gebraucher? Faktisch treffen die gewaltigen Strafrechtsgeschütze ja – wie gesagt – zu vier Fünfteln die Endverbraucher. Zwar sind es allemal Substanzen, die von Menschenhand höchst diesseitig zubereitet, erzeugt und genossen werden. Gleichwohl sind es „die Drogen“, die in andeutungsgeladener Suggestion als zu bekämpfender Ungeist, als jenseitige Feindesmacht perhorresziert werden. Ein zur „Pandemie“, „Drogenpest“ und „Geißel der Menschheit“ stilisiertes Phantom, eine dunkle, ominöse, schrankenlos sich ausdehnende und vernichtende böse Gewalt. Oder: eine Art Partisanenmacht, die sich unsichtbar ausbreitet, den Staat „von innen“ her vergiftet („Rauschgift“), unterwandert, aushöhlt und zerstört wie die „organisierte Drogenkriminalität“. Durch solche Zuschreibungen bekommen die Drogen zugleich – wie der „Spirit“ des Alkohols – etwas sehr Abstraktes, Vergeistigtes, das an das Mythische der „bösen Geister“ und Dämonen gemahnt. Im polaren Gegensatz zum „lieben Gott“, zum „guten Geist“ – symbolisiert nicht zuletzt im Rotwein des

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Abendmahls – sind sie des Teufels, Incubus, die Sünde oder das Böse per se, von dem die „Rauschgiftsüchtigen“ besessen sind. So signalisiert denn auch die heutige Drogenkriminalisierung: Von bestimmten Drogen muss man absolut abstinent bleiben, jedwede Berührung mit diesem „Bösen an sich“ vermeiden. Bereits der „erste Schuss“ zieht Sucht und unwürdigen Tod in der Gosse oder auf der Bahnhofstoilette nach sich. Der Feind schießt immer zuerst! Der „selbstverschuldet Suchtkranke“, also Unmündige, muss wie der „Geisteskranke“ davor geschützt werden, sich der Besessenheit auszuliefern. Dem entsprechen ‚Lösungsvorschläge‘ einer in Freiheitsentziehung zu realisierenden generellen Zwangstherapie: Teufelsaustreibung für alle Fixer! (Katholnigg 1990: 193). Oder Drogentests bei Schülern, Job-Bewerbern und Straßenverkehrsteilnehmern – das Eindringen in die körperliche und psychische Innenwelt, flächendeckend praktiziert in den USA und ansatzweise auch bei uns.

3. D ROGENTABU , D ROGENPHOBIE UND RESULTIERENDE D ROGENMORAL Die illegalen Drogen bekamen durch solche Stilisierung mehr und mehr den Charakter eines universellen und absoluten Unwerts zugeschrieben: Etwas naturgegeben Dämonisches wohnt ihnen inne. Dieses Böse ist nicht hinterfragbar oder begründbar, es ist ebenso unberührbar wie das fraglos Gute, das Göttliche, es ist ein Tabu (vgl. Freud 1912/13: 26-92). Das Drogentabu wird zwar nicht als solches deklariert: In der Moderne hat eine magisch-animistische Religion nichts zu suchen. Ich behaupte aber, dass das Tabu – sozialpsychologisch gesehen – unbewusst noch existiert. Es manifestiert sich auf der bewussten Ebene als „feste Meinung“, geladen mit dem satten Empfinden der fraglosen Gewissheit, ja eines Gewissens. Das unbewusste Tabu hat die Funktion einer sozialintegrierenden Gruppenmoral und der Stilisierung eines Außenfeindes. Die mit dem Tabu verbundene kollektive Verleugnungsund Vermeidungshaltung dient zugleich der Abwehr einer allen Menschen eigenen Urangst vor dem Besessen- und Verschlungen werden. Durch den Prozess der Moralisierung, also der Spaltung in polare und ideale Kategorien von Gut und Böse, wird das Tabu gleichsam für spezifische Kulturen brauchbar gemacht, in entsprechende Normen umgesetzt. Die Furcht vor dem archaischen Bösen, vor dem „vom Höllenschlund verschlungen werden“ erscheint dadurch überwindbar. Die nur scheinbar empirisch-rationale Begründung heißt: Drogen schädigen die „Volksgesundheit“. Oder: „Sie stören das soziale Zusammenleben“ (BVerfG). Damit ist der Tabucharakter nicht wirklich aufge-

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hoben. Das sehe ich dadurch bestätigt, dass der Realität dieser Behauptungen nie systematisch nachgegangen wurde. Statt rationaler Differenzierung haben sich ‚Lager‘ und ‚Fronten‘ gebildet, wurden Zweifler und Dissidenten in die Ecke von Volksverführern und Jugendverderbern gestellt. So konnte die inhumane strafrechtliche Verelendungspolitik legitimiert werden.2 Insofern unterscheidet sich die Tabuisierung der illegalen Drogengebraucher qualitativ von der Ausgrenzung der ‚normalen‘ Kriminellen. Wenn meine Annahme stimmt, dass den kulturspezifischen Moralnormen ein universelles und unbewusstes Tabu zugrunde liegt, dann muss man fragen: Wie kommt es, dass es sich im Zeitalter der Moderne, der wissenschaftlichen Aufklärung auch über die Innenwelt des Menschen, nicht durch Einsicht und Erkenntnis auflösen lässt? Welches sind die Bedingungen der offiziellen Unterwerfung unter das Abstinenzgebot, der anhaltenden Verdrängung der eigentlichen Ängste und Affekte ins Unbewusste? Wie und weshalb werden diese Moralnormen wahrgenommen und befolgt? Die Theorie der moralischen Entwicklung kann hier nicht detailliert nachgezeichnet werden. Reine Zwangsmoralen lassen sich jedenfalls auf Dauer nicht durchsetzen, auch nicht in einer noch so manipulierten Mediendemokratie. Es fehlt nämlich an dem „Für-richtig-und-gerecht halten“ der einsichtsgetragenen Akzeptanz. Mit reiner Über-Ich-Angst ist es nicht getan, Schädlichkeitsmythen sind auf die Dauer nicht gegen die Realität aufrechtzuerhalten. Zumindest kristallisieren sich dann in der Gesellschaft gegensätzliche Teilmoralen und sie vertretende Strömungen und Kräfte heraus, wie z.B. bei Abtreibung (§ 218) und Homosexualität (§ 175 StGB). Es muss tiefer liegende Bereitschaften geben, stark verbreitete und verankerte kollektivpsychische Dispositionen, welche verstehbar machen, dass bestimmte Moralen kontrafaktisch haltbarer sind als andere. Ich meine, es sind jene tabubegründeten und Phobie gestützten Moralen, welche gegen Aufklärung besonders resistent sind. Wir müssen also auf der individual- und sozialpsychologischen Ebene nach den Bedingungen der Tabubildung fragen.

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Nur als Gedanke: Straßenverkehrsunfälle bewirken massenhaft schwerste Schäden: über 6.000 Tote und 100.000 Schwerverletzte pro Jahr. Dass hier nicht genauer geforscht und problematisiert wird, hat auch mit Denkverboten, mit einem Tabu zu tun, hier jedoch interessanterweise mit einem positiven: der ‚Freiheit‘ des Autofahrens.

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4. U NBEWUSSTE G RÜNDE DES D ROGENTABUS

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K ONSEQUENZEN

4.1 Unbewusster Konflikt und die psychische Abwehr Die Zeiten magisch-animistischen Denkens der Naturvölker, denen die Tabus zuzurechnen sind, sind vorbei, so schien es. Inzesttabu, Todestabu, Sexualtabu sind unter dem Einfluss der Aufklärung zerbröckelt. Wie konnte es dann – wenn meine These stimmt – mit Beginn der systematischen globalen Drogenprohibition vor bald 90 Jahren zum derartigen Überleben eines Tabus kommen? Warum sind Tabus offenbar in unterschiedlichem Maße resistent gegen Aufklärung? Tabus sind per definitionem anti-aufklärerisch, eine Erscheinungsform des „Nicht-Hinsehen-Wollens“. Der Mensch unterliegt der Suggestion, dass das Tabu sich selbst rächt. „Wer ein Tabu übertreten hat, der ist dadurch selbst tabu geworden. Gewisse Gefahren, die aus der Verletzung eines Tabus entstehen, können durch Bußhandlungen und Reinigungszeremonien beschworen werden. Als die Quelle des Tabus wird eine eigentümliche Zauberkraft angesehen, die an Personen und Geistern haftet und von ihnen aus durch unbelebte Gegenstände hindurch übertragen werden kann. Personen oder Dinge, die tabu sind, können mit elektrisch geladenen Gegenständen verglichen werden; sie sind der Sitz einer furchtbaren Kraft, welche sich durch Berührung mitteilt und mit unheilvollen Wirkungen entbunden wird, wenn der Organismus, der die Entladung hervorruft, zu schwach ist, ihr zu widerstehen.“ (Freud 1912/13: 284-285)

Genau dies spielt sich in der öffentlichen, medialen und politischen Reaktion auf Drogen ab: die Suggestion, wenn man auch nur einmal mit Drogen oder dem Drogengebraucher in Berührung komme, sei man verloren. Das zeigte sich z.B. in dem hellen Entsetzen von Menschen, die auf dem Rathausplatz von Bremen Zeuge einer demonstrativen öffentlichen Heroinselbstinjektion wurden – einer Demonstration für Gesundheitsräume zum geschützten und hygienischen Heroingebrauch.3 Über eine im Krankenhaus beobachtete Injektion regt man sich nicht auf. Den illegalen Drogen wird eine gefährliche, infektiöse Zauberkraft zugeschrieben. Die wiederbelebte archaische „Furcht vor den Dämonen“ wird auf die Drogen verschoben (Freud 1912/13: 33). Das gleicht der Psychodynamik der Zwangsneurose, wie zuerst Freud sie fasste:

3

Siehe Weser-Kurier vom 26.08.1992: 11: „ekelhaft“, „das dreht einem den Magen um“.

100 | L ORENZ B ÖLLINGER „Das Haupt- und Kernverbot der Neurose ist wie beim Tabu das der Berührung, daher der Name: Berührungsangst. [...] Den Zwangsverboten ist eine großartige Verschiebbarkeit zu eigen, sie dehnen sich auf irgend welchen Wegen des Zusammenhanges von einem Objekt auf das andere aus und machen auch dieses neue Objekt [...] ‚unmöglich‘. Die Unmöglichkeit hat am Ende die ganze Welt mit Beschlag belegt. Die Zwangskranken benehmen sich so, als wären die ‚unmöglichsten‘ Personen und Dinge Träger einer gefährlichen Ansteckung, die bereit ist, sich auf alles Benachbarte durch Kontakt zu übertragen.“ (Freud 1912/13: 37)

Abgesehen von der Selbsteinschränkung durch Verzicht – der geforderten Abstinenz – findet sich auch die magische Buß- und Reinigungsphantasie des Zwangskranken im Strafrecht wieder. Die Blutprobe, der „kalte“ Entzug, die scheinbar wohlmeinende stationäre Langzeittherapie, zumeist verabreicht in der behavioristischen Form erzwungener Abstinenz und psychischer Selbstentblößung, gemahnt an den Waschzwang als das häufigste Symptom der Zwangsneurose. Der entscheidende unbewusste Inhalt des Drogentabus, der Analogie zur Zwangskrankheit folgend, ist die Ambivalenz der Gefühlsregungen. Am Anfang stand nämlich eine „[…] starke Berührungslust mit einem ganz spezialisierten Ziel. Dieser Lust trat alsbald von außen ein Verbot entgegen, gerade diese Berührung nicht auszuführen. [...] Das Verbot erwies sich zwar stärker als der Trieb, der sich in der Berührung äußern wollte. Aber aufheben konnte es den Trieb – die Berührungslust – nicht, sondern nur ihn verdrängen und ins Unbewusste verbannen. Aus dem fortdauernden Konflikt von Verbot und Trieb leitet sich nun alles weitere ab.“ (Freud 1912/13: 39) „Das Verbot verdankt seine Stärke – seinen Zwangscharakter – gerade der Beziehung zu seinem unbewussten Gegenpart, der im Verborgenen ungedämpften Lust. Die Trieblust verschiebt sich beständig, um der Absperrung, in der sie sich befindet, zu entgehen, und sucht Surrogate für das Verbotene – Ersatzobjekte und Ersatzhandlungen – zu gewinnen.“ (Freud 1912/13: 40)

Tabus sind also solche Lustzustände oder Befriedigungsweisen, die unbewusst triebhaft erstrebt sind. Sie werden jedoch zwecks Vermeidung eines bedrohlichen Konflikts verdrängt und mit der fraglosen Vorgabe der Unberührbarkeit moralisch gegenbesetzt. Die unbewusste Phantasie sagt: Wenn ich einen verbotenen Gegenstand berühre, ein bestimmtes Verhalten ausübe, wird etwas Katastrophales passieren. Die absolute Vermeidung, zumindest aber Buße und Rei-

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nigung können mich retten. Ambivalenz bezeichnet also den aus einem befürchteten äußeren Konflikt resultierenden inneren Konflikt, der durch Verdrängung, Verleugnung, Verschiebung, Projektion und Gegenbesetzung gelöst wird. Die Lösung ist jedoch nur scheinbar, denn die so abgewehrte Triebstrebung geht nicht unter. Sie kehrt, wenn auch in den verschiedensten Formen entstellt, verzerrt, ins Gegenteil verkehrt, beim anderen sichtbar, wieder. Und wenn sie beim anderen sichtbar wird, muss sie in dessen Person bekämpft werden. Es muss bestimmte Triebstrebungen geben, die wegen ihres Inhalts verdrängt oder sonst wie abgewehrt werden. Die Übertretung eines Tabuverbots bedeutet – in der kollektiven Phantasie – eine soziale Gefahr, die von allen Mitgliedern der Gesellschaft gestraft oder gesühnt werden muss. Wenn die anderen die Übertretung nicht ahnden würden, müssten sie ja realisieren, dass sie nichts anderes erstreben als der Übeltäter (Freud 1912/13: 44). Dieses Erstrebte aber muss – in der Ambivalenz – die Bedeutung von etwas Katastrophalem haben. Was ist aber das spezifisch Gefährliche? Warum wird ein bestimmtes Verhalten so beneidet und nicht jede andere Lustverwirklichung? Was ist der Inhalt, was das Ziel der Triebstrebung? Wenn es nicht etwas ganz besonders Reizvolles, Lustvolles, Extremes wäre, gäbe es keinen Anlass, andere darum zu beneiden oder den Neid der anderen zu fürchten. Ich sehe zwei abgestufte, durch unsere spezifische Kultur und ihre Medien vergesellschaftete Typen neurotischer Wahrnehmungsverzerrung und überschießender Gefährlichkeitskonstruktionen. 4.2 Konflikte auf der Ebene der Triangulierung Ich gehe zunächst aus von der Annahme Freuds, dass es in den unbewussten Phantasien der Menschen eine enge Beziehung zwischen Sexualität und Drogengenuss gebe. Bewusst oder unbewusst verzichten wir auf lustvolle Wünsche, wenn wir annehmen, dass uns die anderen deren Erfüllung ebenso neiden, wie wir das umgekehrt tun. Mir das Begehrte zu nehmen ist in der unbewussten Phantasie gleichbedeutend mit: es dem anderen wegnehmen. Der Tötungswunsch erzeugt Todesangst. Solche Konflikte werden durch Projektion und Verschiebung bewältigt: Verpönte, ängstigende Impulse werden auf dafür sich eignende Objekte verlagert und in diesen stellvertretend bekämpft. Dabei geht es um die „klassischen“ Tabus, nämlich Inzest und Tötung. Der Zusammenhang wird im Ödipus-Komplex, also idealtypisch auf der entwicklungspsychologischen Ebene der Triangulierung von Mutter-Kind-Vater verdichtet dargestellt. Das Inzesttabu liegt den Sexualtabus zugrunde: Sexualität ist Verschiebungser-

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satz für die verpönte Urphantasie, und die damit einhergehende Rivalität und phantasierte Vatertötung ist scheinbarer Ausgangspunkt jeglicher Aggressivität. Zwar hat die Sexualmoral sich im 20. Jahrhundert scheinbar grundlegend zu großer sexueller Freiheit gewandelt. In der heutigen Modellierung der Sexualitäten (vgl. Lautmann 1984), in der zunehmenden Entsublimierung, Bindungslosigkeit und Varianz der „Neo-Sexualitäten“ zeigt sich aber auch ein begrenzendes, repressives Strukturelement der „neuen“ Sexualmoral (vgl. Marcuse 1968: 76-102): Sexualität wird im Maße ihrer gesellschaftlichen Thematisierung auch konfektioniert, kanalisiert und normiert (vgl. ausführlich Böllinger 2015b: 603-631). Sie wird – so Foucault – zum steuernden „Dispositiv der Macht“ (vgl. Foucault 1977). Die illegalen Drogen werden, so meine These, vom Sexualtabu erfasst. Und zwar weil sie – zumindest in der Phantasie – mit grenzenloser Steigerung der Lust, mit wilder Ekstase, also mit Kontrollverlust verknüpft werden. Dem Moment des Orgasmus, den Sekunden der Ekstase wohnt – gleich der beglückenden, die Realität ausblendenden Drogenwirkung – die nur im Bund mit dem Teufel zu verwirklichende Sehnsucht nach Wiederholung, Steigerung, Unendlichkeit inne: „Verweile doch, du bist so schön!“. Dazu gehört die Phantasie, omnipotent über dieses Hochgefühl und ekstatische Potenzial verfügen zu wollen. Die ewige Suche nach dem absoluten Aphrodisiakum – mindestens ebenso intensiv betrieben wie die Suche nach der chemischen Synthese des Goldes – verweist auf diese Phantasiezusammenhänge. Das taten hochritualisierte Liebes- und Ekstasekulte früherer Zeiten oder Geheimkulte de Sade’scher Manier (ähnlich das ‚Lehrbuch‘ Kamasutra aus dem 4. Jahrhundert). Selbst das inbrünstig-religiöse Erleben der unio mystica mit Gott, Jesus oder der Mutter Gottes verweist noch auf diesen Zusammenhang. Heute muss man sich mit weit weniger spannenden, weil erlaubten, Swinger-Parties oder S/M-Clubs begnügen. Sexuelles Erleben (vgl. auch den Beitrag von Benkel in diesem Band) ist aus heutiger sexualwissenschaftlicher Sicht zum einen – diesseits oder jenseits von Ritualen und gesellschaftlich lizensierten Verhaltensmustern – durchaus ichgerecht formbar, diversifizierbar und bis zu einem gewissen Grade steigerbar, ohne dass man dabei hinsichtlich Triebobjekt und Triebziel von Psychopathologie oder Perversion sprechen könnte. Zum anderen können bestimmte Drogen zu solchem Erleben, seiner Variation und Steigerung beitragen. Sie sind in vielen Kulturen kollektiv oder individuell immer schon auch als Aphrodisiakum genutzt worden. Zumindest in den westlichen Kulturen werden sie – insbesondere der Alkohol – so genutzt, weil sie vorübergehend das aus kulturspezifischen Normen bestehende Über-Ich entlasten und Lustpotenziale freisetzen. Sie haben damit auch sozialintegrative Funktion.

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In diesem Zusammenhang sind auch Faszination und Furcht bezüglich sexueller Perversionen zu verstehen: Bei aller Empörung oder Pathologisierung schwingt doch auch die Sehnsucht nach der absoluten Steigerung und unendlichen Perpetuierung der sexuellen Ekstase mit. Pathologisierung und Bestrafung bedeuten eben auch Verzicht auf die „sauren“, weil unerreichbaren oder mit mythischem Tabu besetzten „Trauben“. Umgekehrt werden – nicht zuletzt im Zeichen von AIDS, vor allem aber unter dem Konsum-, Diversifikations- und Genussimperativ der postmodernen Gesellschaft – Praktiken zum Bestandteil akzeptierter offizieller Sexualmoral, die vorher den Perversionen zugerechnet wurden: z.B. Peep-Shows, Telefonsex. Solche Techniken schalten virtuell das in zwischenmenschlicher Sexualbeziehung allemal schlummernde Ekstasepotenzial aus und verstärken letztlich wieder das Tabu. Sie enthalten aber in der perversen Inszenierung etwas von der zugrundeliegenden Ekstasesehnsucht, welche zugleich durch die Distanz im Setting, die gesellschaftliche Schablonisierung und Klischierung sowie durch besondere Perhorreszierung und Strafverschärfung – zum Beispiel der Pädophilie – wieder begrenzt wird. Sie sind schließlich zugleich Ausdruck und kollektivunbewusste Abwehr gegen als bedrohlich erlebte Prozesse der Individualisierung und Dissoziation. Die von Freud gezogene Analogie der Abwehrmechanismen bei der Zwangskrankheit und bei den Tabus, insbesondere diejenige der Verschiebung, kann man hier bestätigt sehen – ebenso wie die sozialintegrative Funktion von Normierung. Die Warnung vor der Droge beinhaltete immer schon unterschwellig die Mitteilung der Phantasie, unter Drogeneinfluss leichter verführbar zu sein. „Keine Macht den Drogen!“ löst die Phantasie aus „Keine Nacht ohne Drogen!“. Diese an sich bewusstseinsfähige Bedeutung ist in der allgemeinen Drogenphobie praktisch verschwunden. Sie ist verdrängt und durch die spaltende Phantasie ersetzt worden, der Tod drohe direkt von der Droge. Die Sehnsucht und Suche nach sexueller Ekstase wird im Zuge der sich immer weiter verallgemeinernden und verschiebenden Abwehr selbst als Suchtform denunziert und negativ normiert (vgl. Gross 1990). Das „Rauschgifttabu“ knüpft an den biblischen Mythos vom Sündenfall an, an der Symbolik des Genusses des tabuisierten Apfels: Vom Baum der Erkenntnis, d.h. der Innewerdung des Sexuellen, darf nicht gegessen werden. Auch die Alkoholintoxikation von Sodom und Gomorrha enthält diese Metaphorik der todbringenden sexuellen Enthemmung aufgrund berauschender Substanzen, das Ergriffenwerden von diesem Tabu durch schlichtes Ansichtig werden: Augen sind die ersten Sexualorgane. Die regressive Partialtrieb-Erotik der Urethra und des Anus, der Faeces ist noch tabuisierter: Sie schimmert in zwangscharakterli-

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cher Straflust der Strafverfolger ebenso durch wie in der voyeuristischen Betrachtung des in der Gosse fixenden Junkies. Aber die Tabus schwächen sich ab: Die Pornoindustrie und avantgardistische S/M-Szenen sägen fleißig daran – umso mehr müssen die Tabus vorläufig auf die illegalen Drogen verschoben werden. 4.3 Konflikte auf prägenitaler Ebene Die Erklärung der Drogenphobie mit dem – psychoanalytisch so bezeichneten – „ödipalen Konflikt“ reicht nicht aus, um die Intensität der Angst, die Haltbarkeit des Mythos, die Empfänglichkeit für anti-aufklärerische Mystifizierung und abspaltende Moralisierung zu verstehen. Das ist psychogenetisch nur eine sekundäre Bedeutung von Drogen. Davor liegen primäre Konflikte, psychogenetisch noch früher einzuordnende Trieberlebnisse und Traumata, welche das Drogentabu mitbedingen. Die oralen, nasalen, intravenösen, subkutanen oder auch analen Applikationsformen illegaler Drogen verweisen – jenseits ihrer praktischen Funktionalität im Sinne optimaler Drogenwirkung – symbolisch auf präödipales Erleben. Der Apfel im Paradies ist auch Symbol für Gestillt- und Abgestillt werden. Nach dem Urtrauma der Geburt als primärem Gewalt- und Angsterleben und den unvermeidlichen Versagungen bleibt die Sehnsucht nach dem narzisstischen Primärzustand, nach der paradiesisch-absoluten Lust der Wiederverschmelzung mit der Mutter. Sie ist ewiger Bezugspunkt psychischer Regression und ist zugleich ambivalent verknüpft mit der bedrohlichen Angst vor dem Verschlungen werden. Die aus den unvermeidlichen Versagungen, aus Unlust- und Schmerzerfahrung resultierende Enttäuschung bewirkt Wut, Angst und entsprechende primäre Abwehrmechanismen: vor allem halluzinatorische Re-Inszenierung der Wiederverschmelzung (vgl. Stoller 1979). Die Psychoanalytikerin Melanie Klein spricht von der frühkindlichen Aufspaltung des Mutter-Partialobjekts in die „gute“ und die „böse“ Brust. Siehe auch der biblische oder der SchneewittchenApfel. Der Apfel, die Milch, die Droge: Sie haben immer ihre zwei Seiten, das Hochgefühl der Verschmelzung und die narzisstische Kränkung des Ungestillt seins bei Nachlassen der Drogenwirkung, letztlich die Depression der Vernichtung. Die Droge wird zugleich geliebt und gehasst, sie wird zugleich fördernd und – je nach psychischer Disposition – frustrierend bis zerstörend erlebt. Die gesellschaftlich abgespaltene, verleugnete, projizierte, in Ritualen isolierte primäre Destruktivität, die unbewussten Tötungsphantasien spiegeln sich im Diskurs über die „Drogentoten“, im ritualisierten täglichen Zeitungsbericht – ähnlich der Mord- oder Kriegsberichterstattung. Warum gibt es wohl keine eben-

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solchen Berichte über die um ein Vielfaches zahlreicheren Suizid-, Alkohol- und Verkehrstoten? Die gesellschaftliche Drogenphobie dient – wie das Todestabu – auch der Abwehr der Wut über tatsächlich erlebte Abhängigkeit und daraus folgender Angst vor Kontrollverlust, Aggressionsdurchbruch, Wahnsinn (vgl. Freud 1912/13: 47-49). Als Wiederkehr des kollektiv Verdrängten kann man verstehen, dass die Drogenkriminalisierung teilweise tatsächlich eine wahre Hölle von Verelendung und Dissozialität erzeugt hat. Der Film Trainspotting versinnbildlicht das drastisch: im LSD-Rausch verschlungen werden von der Kloschüssel und Eintauchen in die Fäkalien. Nun mag es doch – wie beim Todestabu hinsichtlich der Feinde (vgl. Freud 1912/13: 48) – bei den Verfolgern auch Schuldgefühle für das den Drogengebrauchern zugeteilte Strafübel geben. Diese müssen beständig durch verstärkte Dramatisierung des Drogenübels, durch das Angebot der Behandlung oder durch andere Entschuldigungsrituale gerechtfertigt werden. Jedenfalls finden wir in der gesellschaftlichen Drogenphobie eine ähnliche Kompromissbildung wie bei Neurose, Borderline-Zustand und Psychose: Triebverwirklichung und Abwehr bilden eine Mischung, werden gesellschaftlich epochenspezifisch modelliert und normiert. Gegenstück ist das Hochgefühl des in der psychosexuellen Entwicklung relativ spät auftretenden Orgasmus. Dieser bezieht sich auf Erfahrungsinhalte aus frühesten Formen des Hochgefühls. Ebenso lässt sich der Aggressionstrieb, der sich – bei günstiger Entwicklung – später teilweise mit dem Sexualtrieb legiert, auf die aufgespaltete Matrix von Verschmelzung und Vernichtung zurückführen. Nicht umsonst heißt die Ekstase des Orgasmus ebenso wie das Hochgefühl des Heroin- oder Kokainrausches „der kleine Tod“ (vgl. Elias 1992: 286-302). Im Gefühlserleben und in der Phantasie schließt sich hier ein Zirkel von omnipotentem Hochgefühl als beständig treibender Sehnsucht und der Erfahrung von Endlichkeit der Lust – und des Lebens überhaupt. In diesem Stadium der polaren Gegensätze entstehen Fixierungsstellen in der psychischen Struktur. Auf diese kann unter bestimmten Bedingungen von IchSchwäche (Psychose, Affektsturm, unkontrollierte Drogenwirkung, Gruppendynamik) regrediert werden. Es besteht aber auch die Möglichkeit einer therapeutischen oder genießerischen, hedonistischen, „im Dienste des Ich“ auf psychisches Erleben und Phantasietätigkeit begrenzten Regression auf diese Fixierungsstellen bei normaler Ich-Stärke. Solche Regression kann durch Psychotherapie, Tiefenentspannung, Hypnose etc., aber auch durch wie auch immer ritualisierten oder kontrollierten Drogenkonsum erzeugt und Ich-gerecht gesteuert

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werden. Und zwischen diesen Polen gibt es Übergänge, Schwankungen, Entwicklungen.

5. S CHLUSSBEMERKUNG Der Drogengebrauch kann Ich-gerecht sein, aber auch Symptom für pathologische Abwehr oder den Zusammenbruch der Abwehr sein und Abhängigkeit nach sich ziehen. Auch diese kann aber eine positive Dynamik im Sinne der ReInszenierung und des „Herauswachsens“ ebenso nach sich ziehen wie eine pathologische Selbstdestruktion. Der Verlauf resultiert nicht allein aus der Logik der Droge oder der Pathologie, sondern auch aus dem gesellschaftlichen Umgang damit. Damit wird sich die Psychoanalyse weiter auseinandersetzen müssen. In ihrer Resolution zur Überprüfung und Reform des Drogenstrafrechts haben 122 Strafrechtsprofessorinnen und -professoren dies 2013 getan (vgl. Böllinger 2014: 10-11). Es ist zu hoffen, dass daraus eine aufgeklärtere Kriminalpolitik der drei Gewalten unseres Staates resultiert, welche auch die Erkenntnisse der Psychoanalyse einbezieht. In diesem Kontext wird sich die Psychoanalyse auch mit sinnwidrigen, bis in ihren eigentlichen Kompetenzbereich von Indikation und Therapiedurchführung ragenden normativen Restriktionen auseinandersetzen müssen. Denn § 22 Abs. 2 Ziff. 1a der für die Kassenfinanzierung maßgeblichen Psychotherapie-Richtlinie (Gemeinsamer Bundesausschuss 2011) verbietet bislang sinnwidrig die Behandlung von Drogenabhängigen. Umgekehrt sollte und könnte sie im Sinne der Aufklärung über Unbewusstes einen konstruktiven Beitrag leisten zu einer bewusst gestalteten, vernünftigen gesellschaftlichen und individuellen Kultur von Rausch, Trance und Ekstase.

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L ITERATUR Böllinger, Lorenz (2014): „Professoren fordern Reform des Drogenstrafrechts“, in: Deutsche Richterzeitung 01/2014, S. 10-11. Böllinger, Lorenz (2015a): „Das Scheitern strafrechtlicher Drogenprohibition“, in: Humboldt Forum Recht 3, S. 22-41, http://www.humboldt-forumrecht.de/ Böllinger, Lorenz (2015b): „Soziopsychoanalytische Reflexionen zur gesellschaftlichen Konstruktion von Sexualitäten und neuen Beziehungsformen“, in: Psyche 69 (7), S. 603-631. Elias, Herbert (1992): „Kurze Einführung in die Pharmakopsychologie der Rauschdrogen“, in: Gorm Grimm, Drogen gegen Drogen, Kiel: VerisVerlag, S. 286-302. Foucault, Michel (1977): Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit, Bd. I, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Freud, Sigmund (1912/13): „Totem und Tabu. Einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker“, in: Sigmund Freud, GW IX. Bände 1-17, London 1940-1952: Imago Publishing Co. Gemeinsamer Bundesausschuss (Hg.) (2011): Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses über die Durchführung der Psychotherapie (PsychotherapieRichtlinie), in der Version vom 14.04. 2011, veröffentlicht im Bundesanzeiger Nr. 100 (S. 2424) vom 07.07.2011, in Kraft getreten am 08. Juli 2011. Gross, Werner (1990): Sucht ohne Drogen: Arbeiten, Spielen, Essen, Lieben …, Frankfurt a. M.: Fischer. Katholnigg, Oskar (1990): „Ist die Entkriminalisierung von Betäubungsmittelkonsumenten mit scharfen Maßnahmen zur Eindämmung der Betäubungsmittelnachfrage vereinbar?“, in: Goltdammer’s Archiv für Strafrecht 137: S. 193-200. Lautmann, Rüdiger (1984): Der Zwang zur Tugend. Die gesellschaftliche Kontrolle der Sexualitäten, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Marcuse, Herbert (1968): Der eindimensionale Mensch: Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft, Frankfurt a. M.: dtv (3. Aufl.). Stoller, Robert (1979): Perversion – Die erotische Form von Haß, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. Weser-Kurier, Tageszeitung für Bremen und Niedersachsen vom 26.08.1992: S. 11.

Die rationale Organisation von Entgrenzung Zur Soziologie des sexuellen Rausches T HORSTEN B ENKEL „Allein was sich nicht als Wert austauscht, ist faszinierend: Sexus, Tod, Wahnsinn und Gewalt, deshalb werden diese überall unterdrückt.“ JEAN BAUDRILLARD (1991A: 78)

1. R AUSCHBILDER Ein Keuchen – ein Stöhnen. Undeutliche, aber doch verständliche Laute, ausgehend von zwei ineinander verschränkten Körpern. Bewegungen: mal sanft gleitend, mal ruckartig, oft irgendwie beides zugleich. Andeutungsvolle Blicke. Neugieriges Schauen. Aber auch, und immer wieder: verschlossene Augen. Rhythmus und Takt werden von vermeintlich unkontrollierten Regungen abgelöst, und vice versa. Eine Koordination zweier Leiber spielt sich ab. Haut reibt sich an Haut, Nacktheit ist sicht- und spürbar. Die Nähe ist so groß, dass zwischen den beiden, die hier agieren, kaum mehr voneinander zu unterscheiden ist. Die Maschinerien hinter Atem und Blutkreislauf arbeiten auf Hochtouren. Sonst keusch verborgene Körperpartien sind angespannt, ja angeregt. Die Physis ist im Einsatz. Es geht nicht lange in dieser Intensität zu. Ein Ende ist absehbar. Die Dynamik der Steigerung wird abbrechen, wird abflachen, bald abrupt, bald wie eine verebbende Welle. Und dann ist wieder alles anders. Die Szene, die hier zu sehen, vielmehr: zu denken ist, ist ganz und gar eindeutig. Es geht um Sex. Sexuelles Handeln ist paradox. Kaum etwas scheint aus der Sicht einer undogmatischen, „relativ natürlichen Weltanschauung“ (Scheler 1960: 61) so selbstverständlich zu sein wie das Geschehen zwischen zwei Menschen, die ‚es‘ wollen und tun. Und doch scheint kaum etwas zugleich so tabuisiert zu sein wie die Zurechnung, dass man selbst – eine ganz konkrete Person – bestimmte sexu-

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elle Handlungsformen durchführt oder auch nur präferiert. Solches Wissen ist für gewöhnlich reserviert für den privaten Lebensraum und offenbart sich nicht in Wort und Schrift, sondern im Akt selber; performativ sozusagen. Ganz allgemein kann Sex durchaus besprochen werden, weil die Unterhaltung ins Abstrakte geht, losgelöst von Orten, Zeiten und Biografien. Wird Sex hingegen konkret, sind auch diese Faktoren konkret. Dann geht es um reales Geschehen, reales Begehren – und mitunter um reales Scheitern. Das gibt der Sexualität eine spezifische Rahmung, die sie nur selten verlässt: Sie ist ein Geschehen im Privatissimum des Alltagslebens; obligatorisch zwar, üblich und hinsichtlich bestimmter Ausgestaltungsformen wohl auch ‚typisch‘. Aber so genau wissen, soll man es gar nicht können, denn was im Schlafzimmer (oder anderswo) geschieht, geschieht absichtsvoll außerhalb eines fremden oder gar öffentlichen Zugriffs. Sex wäre, so betrachtet, also eine Routine, die sich im Schatten anderer Üblichkeiten zu verstecken weiß. Das Paradoxon der sexuellen Wirklichkeit besteht auch darin, dass das Verheimlichte einen dialektischen Widerpart in der Enthüllung findet. Sex ist im Gespräch, Sex sells, Sex findet statt – und man weiß, dass er stattfindet. Es sind zwar oft nur Andeutungen, nicht eindeutige Anblicke, die einen Kontext mit sexuellen Konnotationen aufladen; aber schon subtile Hinweise genügen für gewöhnlich, einen Kosmos an Assoziationen zu öffnen. Das lässt sich ebenso gut auf- wie abwerten: Situativ kann die sichtbare oder zumindest unterstellbare Präsenz des Sexuellen ebenso gut störend wie sie belebend wirken kann. Damit ist über die kognitive Anschlussfähigkeit noch nicht viel gesagt. Der Sex der anderen kann, wenn er in irgendeiner Form bezeugt wird, an eigenes Erleben erinnern oder persönliche Wünsche anstacheln. Er kann aber auch verschrecken, nerven oder langweilen. Die Perspektive, die eingenommen wird, wenn solche passiven Positionen gegen aktive getauscht werden, lässt sich aus der Sicht der bloß ‚Konfrontierten‘ nicht ablesen. Die subjektive Fantasietätigkeit spielt jedenfalls eine große Rolle bei der Ausgestaltung eigener sexueller Aktivitäten, und das, obwohl Sex im idealtypischen Erscheinungsbild ein Duett ist. Genauer betrachtet, lässt sich das erotische Zusammenspiel von Alter und Ego sogar als paradigmatischer Ausdruck sozialen Handelns begreifen. Geht es um Sex in einer nicht nur diskursiven, sondern wahrhaft handgreiflichen Form, so agieren diese beiden über ihre Körper mitund füreinander. Sie richten, mit Max Weber (1976: 1) formuliert, je für sich, ihr Handeln an dem Verhalten des/der anderen aus und orientieren sich daran. Anschaulicher als am Beispiel der Sexualität lässt sich das kaum demonstrieren. Empirische Befunde legen nahe, dass Sexualität etwas ist, das sich tatsächlich vor allem innerhalb stabiler und auf eine gewisse Langfristigkeit angelegter

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Paarbeziehungen abspielt (vgl. Schmidt/Matthiesen/Meyerhof 2004). Indes geht der gesellschaftliche Rang, welcher der Sexualität zugesprochen wird, weit über diese eingeschränkte, weil eben in die privaten Lebensräume eingelagerte Interaktionssphäre hinaus. Sexualität haben bzw. sexuell sein, ist längst auch ein kulturell etabliertes Bild. Es gibt Schemata des Sexuellen, die unabhängig von zwischenmenschlichen Begehrenssituationen medial inszeniert werden und als greifbare Unterhaltungskonzepte on- und offline konsumiert werden können. Bekanntlich sind diese Rekonstruktionen oder Interpretationen sexueller Handlungsvielfalt alles andere als authentische Dokumente real existierender Leidenschaft. Vielmehr spiegeln sie Facetten erotischen Körperhandelns häufig auf eine gebündelte und zugespitzte, und allemal aus dem ‚außersexuellen Off‘ gesteuerten Weise. Die Elemente, die in der privat-lebensweltlichen Sexualroutine auftauchen, wirken in sexuell konnotierten Medienbildern oft greller, deutlicher sichtbar und vor allem: isoliert von den sozialen Ausgangskontexten, aus denen heraus Sexualität realiter üblicherweise entsteht. Über die zwiespältige Wirklichkeit massenmedialer Sexualabbildungen ist viel gesagt und geschrieben worden. An dieser Stelle soll vorwiegend interessieren, wie sehr diese Bilder eine Aufwertung der Sexualität über den Weg einer Transzendierung von Alltäglichkeit erreichen. Denn von hier aus, so die These, ergeben sich erst die mittlerweile geradezu unvermeidlichen, beinahe genrehaften Darstellungen vom sexuellen Rausch. 1.1 Die Künste der Unvernunft Eigentlich ist alles ganz einfach: Als körperlich-emotionale Interaktionsform, die im Wesentlichen um die Generierung von (eigenen und fremden) Lustempfindungen kreist, bezieht Sexualität sowohl absichtsvolle Handlungen wie auch die von bewusster Steuerung entkoppelten Lust- und Erregungszustände mit ein. Ist ein Sexualpartner involviert, kommt darüber hinaus eine kommunikative Komponente ins Spiel (vgl. Benkel 2014: 422). Auch alleine kann Lust generiert und somit sexuell agiert werden, ungeklärt muss aber bleiben, ob dabei die Einbildungskraft bereits konstitutiv für eine (para-)soziale Interaktion ist; denn die Wege und Weisen der Lusterzeugung sind beim ‚Solo-Sex‘ vermutlich zu vielschichtig und außerhalb nüchterner Rekonstruierbarkeit angesiedelt, als dass hier verbindliche Aussagen möglich wären. Masturbatorische Handlungen setzen allerdings interessanterweise ein Maß an Körperautonomie voraus, das im Fall der idealtypischen Sexualsituation zu zweit gerade dadurch gewonnen wird, dass es verloren geht. Indem ein anderer Körper mitwirkt, ist das Subjekt gewissermaßen auch Objekt, nämlich Objekt der ‚fremden‘ erotischen Handlungen. Und

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umgekehrt wird der andere Körper zwangsläufig objektiviert, will man selber vorrangig Subjekt sein (also: sich auf die eigene Erregung, auf den eigenen Genuss konzentrieren). Autonomie geht verloren, aber wird dadurch wieder gewonnen, dass der Positionstausch von Subjekt und Objekt die Sexualsituation durchgehend begleitet und zu einem, wenn man so will, Flackern oder Rauschen, ja zu einem reziproken Hin-und-Her der beiden beteiligten Körper wird. Was diesbezüglich bei Jean-Paul Sartre (2001) noch als existenzialistisches Problem firmierte, ist in alltäglichen, lebensweltlichen Sexualsituationen mittlerweile mit weit weniger Fallstricken behaftet. Ein intersubjektives Geben und Nehmen sollte Sex, so der zeitgenössische Erwartungsstandard, schon sein. Alles andere speist sich aus zwei Quellen. Zum einen aus den Wissensbeständen, die gesellschaftlich bezüglich des sexuellen Handelns aufgeschnappt bzw. gezielt abgefragt werden. John H. Gagnon und William Simon (2005) nennen in diesem Zusammenhang drei Dimensionen: cultural-historical, social-intersocial und personal-intrapsychic. Auf und durch diese(n) Bedeutungsebenen wird Wissen vermittelt und es wird erfahren, dass es in einer sexuellen Situation Orientierung gibt – stets in Abhängigkeit vom kulturellen Gesamtkontext und stets im Fluss des sozialen Wandels. Zum anderen, und damit verbunden, hängt die Ausgestaltung der Sexualität von der Aushandlung der Beteiligten ab. Gunter Schmidt (2000: 269) hat dafür den Begriff der Konsens- oder Verhandlungsmoral geprägt. Damit lässt sich die Loslösung erotischer Interessen von kollektiven Wertehandlungen gut umschreiben – ein Prozess, den auch Simon und Gagnon beobachten. Die persönlich-intrapsychische Ebene, d.h. die Sphäre der biografisch erworbenen, somit individuellen Vorlieben und Begierden, übt demnach mittlerweile stärkeres Gewicht auf das Design des sexuellen Zusammenspiels aus als die kulturell-historische, notwendig überindividuelle Wertestruktur. Ein Symptom dieses Prozesses – den Simon (1996) als einen Effekt der „Postmodernisierung“ des Sexuellen begreift – liegt nun in der erstaunlichen Diskurskarriere des Konzeptes Sexueller Rausch. Denn aller historischen Omnipräsenz von Rauschmitteln und -zuständen in der Menschheitsgeschichte zum Trotz, schwebt die nüchterne (Selbst-)Kontrolle eben doch emblematisch wie ein Idealbild über den modernen Lebensweisen der westlichen Industrienationen. Nicht rauschhaftes Sich-Gehen-Lassen, sondern die (zumindest willentlich und effektiv aktivierbare) Vorrangstellung rationaler Kalkulation zeichnet hier ein wahrhaft autonomes, nicht den Affekten und ‚Trieben‘ ausgeliefertes Leben aus. (Max Webers Begutachtung der protestantischen Ethik ist dafür nur ein, aber ein besonders prominentes Beispiel: Wer tüchtig ist und nüchtern haushaltet, gewinnt im Diesseits an Rang und im Jenseits an Glückseligkeit.) Gerade weil der Rausch eher nischenhaft und ohnehin ein nur hier und da zelebrierter Neben-

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schauplatz des Lebens (geworden) ist, kann er zum Vernunftdenken in Kontrast gesetzt werden. Das Spannungsverhältnis zwischen bewusster Grenzziehung und Mäßigung einerseits und grenzüberschreitender Impulsivität andererseits ist vielleicht sogar dafür brauchbar, um dem erreichten zivilisatorischen Niveau hin und wieder einen Spiegel vorzuhalten – ein Spiegel allerdings, der dabei die bisweilen verschütteten, jedoch nicht so leicht ausrottbaren Stadien temporärer Außeralltäglichkeiten nicht nur fokussiert, sondern mitunter sogar anklagt.1 Wo aber die Ausfallerscheinung gedeiht, wächst der Ordnungsimpuls auch. Offensichtlich scheinen rauschhafte Zustände durchaus Vergemeinschaftungspotenziale zu transportieren (vgl. Niekrenz 2011), die – bei aller zugestandenen Flucht aus der Routine – durch ihre gefestigte (und im Übrigen rational gestaltete) Struktur für kontrollierten Kontrollverlust stehen. Ob nun Karneval und Fasching, ob die Kollektivität der Fußballspielrezeption oder des Weinfestes, ob Ausflippen in der Techno-Szene oder tiefe Einkehr in der religiösen Kontemplation – der Rausch öffnet Türen, indem er sonst voraussetzbare Aspekte der Alltagswachheit für eine gewisse Frist suspendiert. Man könnte von den Künsten der Unvernunft sprechen, die sich in Rauschsituationen Bahn brechen. Sexualität spielt in diesem Zusammenhang eine besondere Rolle, denn der sexuelle Rausch ist substanzunabhängig. Kein Getränk, keine Droge forciert sein Entstehen; Stoffe können allenfalls ein bisschen nachhelfen, und auch das gilt nicht pauschal (vgl. Korte 2007). Diese Unabhängigkeit macht den sexuellen Rausch zu einer schwer erreichbaren und vielleicht deshalb besonders ersehnten conditio humana. Womöglich ist der sexuelle Rausch aber nur eine Chimäre – ein Bühnenstück, das die Wirklichkeit zu imitieren scheint, aber in Wahrheit gar kein Vorbild kennt. Die oben beschriebene sexuelle Szene ist nur eine Variante von Abertausenden, die in Literatur, Film, Theater und dergleichen zu finden sind. An eine Überblicksdarstellung, die den Status quo künstlerischer Sexualreferenzen wirklich umfassend festschreiben könnte, wagt sich heute niemand mehr, so vielfältig und multiperspektivisch fallen die entsprechenden Dokumente mittlerweile aus. Schon eine kursorische Recherche lässt inmitten dieser Flut an verschriftlichter Leidenschaft den Verdacht aufkeimen, dass dabei überdurchschnittlich häufig nicht einfach die Usancen sexuellen Handelns, sondern ihre ins

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Anschauungsmaterial hinsichtlich der Implikationen, die dies im kulturgeschichtlichen Zeitverlauf für die Staaten- und, korrespondierend, für die Bewusstseinsbildung hat, findet sich zahlreich im Kontext der Kontroverse über Realität oder Mythos des Zivilisationsprozesses, die zwischen Norbert Elias und Hans-Peter Duerr verlief (vgl. Hinz 2002).

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Rauschhafte geschraubten Erhöhungen dargelegt werden. Das wird beispielsweise im Spielfilmgeschehen evident. Nicht nur, dass der Sex hier mehr als nur gelegentlich mit ‚eindeutiger‘ musikalischer Untermalung verziert wird; nicht nur, dass Kadrierung und Beleuchtung vorteilhafte, d.h.: erotische Blickwinkel einfangen; nicht nur, dass die Darsteller im Zuge ihres Entkleidens dermaßen makellose Körper zeigen, dass längst schon der Einsatz von „Body-Doubles“ durchschaut wurde; es ist vor allem das Gesamtensemble dieser Elemente, das eine deutliche Distanz zum alltagsweltlichen Sexualgeschehen ausbuchstabiert (vgl. z.B. Keesey 2012). 1.2 Minima Pornografia Nicht nur einen, sondern gleich mehrere Schritte weiter geht die Pornografie. Keine Frage, hier wird die – bei Weber so genannte – „sexuelle Rauschorgie“ (1976: 362) aus der Umklammerung der Theorie bzw. aus dem Korsett des Fingierens entlassen. Was an Sex im „Pornotopia“ geschieht, geschieht ‚wirklich‘. Man muss diese Wirklichkeit eben nur mit dem Umstand zusammen denken, dass zwischen Handlung und Handlungsbetrachtung ein zeitlicher, räumlicher und insbesondere sinnlicher Abstand steht. Einerseits ist alles zu sehen – aber andererseits ist es eben nur zu sehen. Auf die Zeiten, als die deutliche Enthüllung nicht nur erotischer, sondern auch genereller körperlicher Geheimnisse kaum irgendwo gelingen wollte, können sich diejenigen, die alt genug sind, heute nur mehr mit Wehmut zurückbesinnen. Die Sexualität jedenfalls hat durch die Pornografie ihr Geheimnis verloren (vgl. Schetsche 2010) und spielt sich mittlerweile amysterisch auf allen möglichen, insbesondere auf virtuellen Bühnen ab. Im quantitativen Vergleich könnte der reale Sex dagegen mittlerweile ins Hintertreffen geraten sein. Und erst die Qualität: So viel Ekstase, so viel überbordende Leidenschaft, so viel Spontanes, zeitgleich Grenzüberschreitendes, und bei all dem so viel Reflexionslosigkeit (ganz offenkundig durch völlige Hingabe legitimiert) wie in pornografischen Bilddarstellungen kann der „gesellschaftliche Jedermann“ (Berger/Luckmann 1992: 16) wohl nur unter äußerst günstigen Bedingungen aufbringen. Genau dies ist die Crux des sexuellen Rausches: Er ist nur als Parodie seiner selbst zu haben. Oder, um Adorno im Sinne einer Minima Pornografia zu paraphrasieren: Wahr ist an der inszenierten Ekstase nichts als ihre Übertreibungen. In der Pornografie gibt es zwar zahlreichen Sparten, die sich einer expliziten All-

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tagsnähe verpflichtet wissen, sprich: die Authentizitätsgarantie abgeben wollen.2 Hier greift aber, wie überall, wenn private Zusammenhänge de-privatisiert und zur potenziellen massenhaft rezipierbaren Unterhaltungsware umformatiert werden, das Problem der immanenten Überwachung. Weil ein dermaßen persönlicher, von Offenbarung, Vertrauensvorschüssen und Verletzlichkeiten geprägter Lebensbereich wie die Sexualität nicht glaubhaft veröffentlicht werden kann, ohne dass eine Drittvariable sich zwischen Akteure und Beobachter schiebt, setzt die so zur Schau gestellte Sexualität also schon das Mitwirken außersexueller Faktoren voraus – etwa die heimlich mitlaufende Kamera des Voyeurs (vgl. Benkel 2010a) oder, was wahrscheinlicher sein dürfte, die Anwesenheit einer Steuerungsinstanz, die an der Transposition der alltagsrealistischen zur pornografischen Sexualität beteiligt ist. Ob diese Rolle nun eine Produktions- und Regie-Instanz oder doch der in Eigenregie von den Darstellern mitgedachte und mitberücksichtigte Wille zur (Sichtbarkeit der) Lust übernimmt, kann dahingestellt bleiben. Entscheidend ist, dass diese Instanz wacht – sie reguliert ad hoc und/oder postkoital, was sehens- und zeigenswert ist, und was nicht. Sie minimiert den Hawthorne-Effekt – das Beeinflusstwerden der Beobachteten durch die Beobachter, mit der Folge sukzessiver, oft unbewusster Verhaltensänderungen – gerade dadurch, dass sie ihn bewusst anstachelt. Die Tatsache, dass den Akteuren ihr Tun anzusehen ist, soll ihnen nicht anzusehen sein. Und sie redigiert, sie korrigiert, sie re-inszeniert, wenn geplante Ziele nicht so ganz erreicht werden. Auch da, wo das bewusst als häuslich und intim ausgeflaggte Sexualgeschehen die üblichen Vertriebswege der Veröffentlichung durchläuft und gleichsam zum Medienprodukt wird, spielen Rausch und Ekstase eine Rolle. Signalartige Prinzipien wie lautes Stöhnen, betont vielsagendes Schauen und explizite Formulierungen, rasant-aktionistische Leiber, überhaupt jede Körpersymbolik, die für das Versinken in der Alltagsvergessenheit steht, sowie das vermeintlich durch die Lustqualität des Geschehens forcierte Eingehen auf exotische Positionen und Praktiken sind Beweise dafür. Denn was auch immer geschieht vor dem

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Dass es diese Sonderbereiche gibt, hängt nicht nur an der semantische Differenz (bzw. Differenzierbarkeit) des Materials gegenüber anderen, ebenso pornografischen Segmenten, sondern wohl auch an den überschüssigen Ausdifferenzierungsgraden des Genres per se. Wohl kaum irgendwo anders sind so viele Kategorien und Verschlagwortungen zu finden wie in den Präsentationsräumen und -kontexten der Pornografie – das ‚Privatvideo eines verliebten Pärchens‘ musste als Etikett also irgendwann auftauchen, um weitere Differenz zu generieren, ohne die Pornoproduktion und -rezeption nicht funktionieren zu wollen scheinen.

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Kamera-Auge: Durchbrochen von Alltags(kon)sequenzen darf es nicht sein. Lustlosigkeit, Erektionsprobleme, ein rasches ‚Hinter sich bringen‘, ein unerotisches Setting – all dies hat in der Welt der Pornografie keinen Platz und wird deshalb mithilfe akribischer Planung und hingebungsvoller Anpassung ausgespart. Diese Lücke füllt der Sexualrausch; er macht wett, was sowieso nicht gezeigt werden soll, weil es dem anvisierten Konsumentenkreis aus eigener lebensweltlicher Erfahrung nur allzu bekannt ist: die Sexualität der unspektakulären Alltagsnähe. Sehr viel deutlicher, und folglich sehr viel weiter davon entfernt, sind Expertenproduktionen. Ihr artifizieller Atelier-Charakter könnte beinahe als spielerische Distanzierung zur sexuellen Üblichkeit gelten, wäre nicht gleichsam das Kompensationsinstrument Ekstase im Spiel. Als wäre die gesamte Welt nur noch dafür da, dass Körper kopulieren, wird jede(r), der als Akteur sichtbar wird, in den Reigen eingebunden – und zwar als ‚Nur-noch-Körper‘, den nichts anderes mehr als der Sex motiviert. Kaum eine pornografische Revue kommt ohne Situationsdarstellungen aus, die ohne Mühen als außeralltäglich und völlig unrealistisch deklarierbar sind. Mitunter wirkt es, als sei diese Transzendierung von Realismus sogar Mittel zum Zweck; etwa dann, wenn der Sex besonders untypisch ausgestaltet wird. (Im Sinne von besonders vielen Akteuren, von besonders deutlich gegen alltägliche Interaktionsmuster verstoßende Umgangsweisen, aber auch hinsichtlich des Einsatzes von außergenitalen Körperregionen, hinsichtlich der Hinzuziehung von atypischen Gegenständen usf.) In solchen Kontexten kann der plakative Rausch, der das Personal antreibt, der aber auch zirkulär das Ziel der Handlung zu sein scheint, gewissermaßen als Bestätigung dafür gelesen werden, dass mehr als die – rauschaverse – Alltäglichkeit erlebt werden kann, sofern dafür gezielt und deutlich kulturelle Schranken fallen. Dass sich diese Situationen in der nüchternen Wirklichkeit nur selten einstellen wollen, ist für manche so enttäuschend, wie es für andere erleichternd ist. 1.3 Kontrolle und Kontrollverlust In der älteren deutschen Wissenssoziologie, vertreten durch Max Scheler, wurzelt die Vorstellung, dass das menschliche Wissen ablenkt, ja entfremdet von der Natur. Denn durch das Wissen entstehen Werte, ohne die der Körper – wie in der Tierwelt – eben ‚nur‘ Körper und damit nur den Antrieben oder einer lediglich „praktischen Intelligenz“ unterworfen wäre. Pragmatische Überlebensstrategie wäre der einzige Motor des Handelns (vgl. Scheler 1988). Werthaltungen heben den Menschen demnach vom tierischen Leben ab. Wäre, angesichts dieser Feststellung, der Rausch also ein vor-wertiger Wert – oder kann man ihn noch ir-

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gendwie mit Wissensbeständen und Vernünftigkeit versöhnen? Eine Antwort darauf wurde bereits in der Aufklärungszeit geliefert. Im Werk von Donatien Alphonse François de Sade, dessen Name berüchtigt ist, dessen Bücher aber vermutlich weniger gelesen werden, als seine Reputation verheißt, blitzt die Idee einer vernünftigen Überschreitung sowohl der Naturausstattung wie auch, im Gleichschritt, der gesellschaftlichen Ordnungsprinzipen immer wieder auf. De Sades Figuren treten performativ den Beweis an, dass ein rational organisierter Exzess rauschhaftes Genießen umso stärker ermöglicht, je sachlicher und berechneter die Planungen ausfallen. Die Methodologie des Lustgewinns steht hier auf zwei Säulen: Kalkulierte Lust an der Überschreitung (in Richtung Inzest, Gewalt, Sünde und dergleichen) verschränkt sich mit einer ganz und gar ‚lasterhaften‘ Haltung bei der ‚Rezeption‘, beim Genuss. Das irrationale, weil emotionalkörperliche Sich-Gehen-Lassen bar planerischer Vernunft gilt bei de Sade als eine unverschämt ‚ordentliche‘ Ordnungswidrigkeit, die brutal bestraft werden muss. So etwa in den 1785 verfassten 120 Tagen von Sodom: Ein Pärchen, Gefangene einer grausamen Clique, die sie und viele Leidensgenossen quält, wagt einen Liebesakt aus Leidenschaft, aus Verzweiflung oder aus Zuneigung, wer weiß – fest steht jedenfalls: aus Motiven, die zu niedrig für die Verzierungskünste ihrer Beherrscher sind, und die daher mit tödlicher Sanktion beantwortet werden.3 Ekstatisches Sexualgeschehen mit de Sade zu assoziieren, heißt also, die List der Vernunft einzuberechnen. Die sexuelle Spielart Sado-Masochismus, für den de Sade und der österreichische Historiker Leopold von Sacher-Masoch Namenspatrone sind4, ist in der gängigen Ausgestaltung, nämlich als grenzbewusste Interaktion (vgl. Wagner 2014), eine Fortführung im Sinne eines kontrollierten Kontrollverlustes. Bestimmte Schritte sind einkalkuliert, vieles ist exakt geplant, anders gesagt: Die Rahmenbedingungen sind sozial ausgehandelt. Der Genuss aber darf authentisch sein – oder, wie man sagen könnte: ich-lastig. Vielleicht zeigt sich darin eine grundsätzliche Tendenz für die weitere Ausdifferenzierung

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Die Verfilmung von Pier Paolo Pasolini (Salò o le 120 Giornate di Sodoma, Italien 1975) verlagert das Kerngeschehen in die Zeit des italienischen Faschismus und macht anschaulich, dass es um eine Umkehrung des Sado-Masochismus geht: Hier schafft Leiden keine Freuden (vgl. Reik 1983) und die Opfer sind ihren Peinigern ausgeliefert. Allenfalls über den Umweg des Märtyrertums wäre solchen Ausnahmezuständen noch ekstatisches Potenzial abzutrotzen (vgl. Weigel 2007).

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Letzterer aufgrund der Novelle Venus im Pelz von 1870, in der einem (autobiografischen) Protagonisten rauschhafte Ausnahmezustände durch Erlebnisse der Erniedrigung und Passivität vermittelt werden.

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sexueller Erlebnisformen: Da die Abweichungen vom Kanon der ‚typischen‘ Varianten spezifischer werden, müssen sie auch stärker theoretisiert werden. Die ‚Architektur‘ des sexuellen Handlungsrahmens braucht demnach immer mehr Ratio und Information (aber auch Konsens), um – über die Einbeziehung der (Resonanz-)Körper – zu Lust und Gewinn zu führen. Sexuelle Exzesse demonstrieren bei de Sade, wozu die Vernunft in der Lage ist. Sozusagen nebenbei beweisen seine Schilderungen übrigens, dass die feinen Unterschiede sexueller Ekstasen sich nicht zwingend in der körperlichen Aktivität niederschlagen müssen, sondern auch schon an den Möglichkeitsbedingungen ansetzen können. Gegenbilder des durchdachten Rausches beim Marquis sind situative Lustgewinne, die ihre Exzessivität allein der Dynamik des Geschehens verdanken. Natürlich hinterlassen auch solche Situationen ihren Widerhall in der Filmwelt. Die Geschichte der Abe Sada, ein Vorkommnis in Tokio im Jahr 1936, ist mehrfach verfilmt worden. Am berühmtesten dürfte Nagisa Oshimas Version sein, die 1976 (die reale Abe Sada lebte damals noch) unter dem Titel Im Reich der Sinne zunächst nicht in die Kinos kam – zumindest nicht in der Fassung, die der Regisseur vorgesehen hatte. Nachdem der Film von der Staatsanwaltschaft zeitweilig beschlagnahmt wurde, war ihm sein Etikett als absonderlich, ja verderblich nicht mehr zu nehmen. Inhaltlich geht es im Wesentlichen um die stetige Steigerung des sexuellen Miteinanders von Abe Sada und ihrem Liebhaber Ishida Kichizō. Die gemeinsame Suche nach rauschhafter Sexualerfahrung führt die Protagonisten in gefährliche, weil lebensbedrohliche Bereiche. Als Höhepunkt bleibt schließlich nur mehr die ultimative, den Akt beendende Handlung: Abe Sada erdrosselt den Geliebten während ihrer körperlich verausgabenden Verkettung und schneidet ihm den Penis ab. Mit dem physiologischen Beweis der gemeinsamen Ekstase in der Tasche wurde die reale Abe Sada gefunden und verhaftet. Nach fünf Jahren Haft hat man sie entlassen. Erst der Skandalerfolg des Films hat die Geschichte außerhalb Japans prominent gemacht und für zahlreiche Nachahmungsfiktionen gesorgt.5 Die so anziehende wie befremdliche Qualität des Sexualrausches liegt hier in der auf die Spitze gebrachten Unbere-

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Der Film lässt sich auch abseits von konkreten Inhaltsähnlichkeiten in die vielschichtige, nach dem Ende der Bahnhofskinos auf Insider-Kreise zusammengeschrumpfte Welt des Exploitations-Films einsortieren, der zu Beginn der 1970er-Jahre florierte und vielsagende Genre-Perlen, wie etwa Sexualrausch (The Toy Box, USA 1971, Ronald Victor Garcia), Sexualterror der entfesselten Vampire (Le Frisson des Vampires, Frankreich 1971, Jean Rollin), Sie tötete in Ekstase (Deutschland/Spanien 1971, Jess Franco) oder Ekstase – Der Prozess gegen die Satansmädchen (Deutschland 1979, Rolf Olsen), hervorgebracht hat.

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chenbarkeit; dabei ist die gezeigte Ekstase (es geht das Gerücht um, der im Film gezeigte Sex sei real gewesen) bereits mimetisch. Es handelt sich um die potenziell wiedererkennbare Rekapitulation eines wirklichen Geschehens, das eben deshalb notorisch wurde, weil es eine unbestreitbar ekstatische Abweichung vom sexuellen Mainstream beinhaltete, die noch heute irritierend wirkt. Für gewöhnlich gilt erotischer Taumel, der derart weit geht, als radikale Grenzüberschreitung – zugleich aber genießt der Kontrollverlust, der sich aus Hingabe und Leidenschaft speist, einen guten Ruf. Offenkundig wird er gelesen als Entrückungserfahrung, welche die Qualität des Geschehens bzw. die Sexualkompetenz der beteiligten Person verbürgt. Am Ende soll dann aber doch, unausgesprochen, Kontrollvernunft ein Abgleiten verhindern. Dies könnte heute das Idealbild sexueller Ekstase sein: Man soll sich verlieren, aber nicht, ohne sich zu erinnern, wie notfalls die Handbremse gezogen werden kann.

2. M ASSVOLLE V ERSCHWENDUNG ? Womöglich sind Rauscherlebnisse und Tranceerfahrungen deshalb positiv konnotiert, weil sie ein Lob des Egoismus transportieren. Denn mit der Ekstase geht für gewöhnlich ein individueller Gewinn einher, keine kollektiven Qualitäten. Im Rausch kann man ganz persönlich anders sein. Turn on, tune in, drop out. Der alternative Bewusstseins- und Erlebniszustand lässt einen etwas fühlen, dass die anderen nur annäherungsweise spüren können; nur dann, wenn sie ‚mitrauschen‘, und selbst dann sind die Erfahrungen niemals ganz gleich. Kein Wunder, dass der Rausch in eruptiver Form institutionell, aber auch mithilfe sozialer Sanktionen so häufig und deutlich abgelehnt und abgewertet wird; er lenkt ab von der Tugend des Gemeinschaftssinns und hinüber in eine zwar nur temporäre, dafür aber nahezu hyper-individualistische Maßlosigkeit. So weit geht es zumindest im schlimmsten Fall, dann, wenn keine Rituale oder werttraditionalen Kontexte mehr den Egoismus zum Gruppenphänomen verbrämen und ihm Kohäsionskräfte abtrotzen können. „Maßvoll Lust suchen“ war dementsprechend die Devise der Gesellschaftsorganisation spätestens ab dem 17. Jahrhundert (Muchembled 2008: 172-173). In jenen Kreisen, die es sich leisten konnten, wurde Freiheit eingefordert, die aber nicht ohne korrespondierende Kontrolle verwirklicht werden sollte. Als Ideal zeichnete sich eine Art fröhliche Tugend ab, die sich entfalten, aber eben nicht zu weit gehen durfte. Ist in diesem Zusammenhang Ekstase überhaupt möglich? Es lohnt sich, dem Begriff definitorisch auf die Schliche zu kommen: Ekstase stammt aus dem Griechischen und steht für einen Zustand der Entäußerung, ein

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„Außer-sich-geraten“, mithin also: eine Grenzüberschreitung. „In der Ekstase werden die intellektuellen Funktionen beiseite geschoben“, verrät ein einschlägiges Lexikon (LoDuca 1969: 185). Das hört sich nicht nach Maß, sondern eher nach einem Zerfließen von Denkschemata an, insbesondere solcher, welche sonst üblicherweise Reflexion und Begrenzung bewirken. Ähnlich eine weitere Wörterbuchdefinition: „die Ekstase […] übersteigt alles Wollen“ (Knoll/Jaeckel o.J.: 83). Anderswo steht zu lesen, dass mit der Ekstase die Verschmelzung mit einem anderen gemeint ist, was durchaus auf transzendentaler Ebene erfolgen könne. Und auch hier findet sich der Hinweis auf eine Auftrennung: „Das Bewußtsein löst sich von der umgebenden Situation.“ (Dressler/Zink 2003: 108)6 Im Fall des sexuellen Rausches kann ekstatisches Erleben nun aber schwerlich vom Medium Körper gelöst werden, ohne zugleich den sexuellen Charakter zu verlieren. Gewiss, es gibt Ausnahmen. Zum einen wird beispielsweise „transzendenter Sex“ propagiert, bei dem der physiologische Aspekt hinter den kognitiven treten soll (vgl. Gillies 1980). Zum anderen gibt es, beispielsweise im Zusammenhang mit sadomasochistischen Settings, Interaktionsformen, die als hochgradig erregend empfunden werden können, ohne dass diese Erregung sich körperlich niederschlägt. Auch dabei ist ein Höhepunkt zu haben – als „KopfOrgasmus“ (Meitzler 2010: 302).7 Ganz überwiegend gilt der sexuelle Rausch aber als über den Körper ‚geerdetes‘ Geschehen. Er wird vor diesem Hintergrund gesucht, von manchen auch gefunden, und unterscheidet sich daher von bloß psychologischen Zuständen. Pauschal lassen sich die Methoden, die das Erreichen einer erotisch induzierten

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Interessanterweise verzeichnet Richard von Krafft-Ebings berühmte, erstmals 1886 erschienene Fallsammlung Psychopathia Sexualis (1997), trotz der buntesten Schilderungen aller möglichen Sexualdevianzen, im Register keinerlei Einträge für sexuelle(n) Rausch, Trance oder Ekstase.

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Ein Beispiel aus eigener empirischer Forschung (vgl. Benkel 2010b): Ein Mann lässt sich von einer Domina in einem bordellartigen Betrieb in einen engen Käfig sperren. Die Domina schließt ihn auf seinen Wunsch hin ein und verlässt das Zimmer für mehrere Stunden. Der Ablauf ist, schon aufgrund der Absicherung und der Bestimmung des Preises, vorab genau skizziert worden – und doch: Während der Situation erregen die Hilflosigkeit und der Reiz der ‚Gefahr‘ (wird sie wiederkommen?) ihn so sehr, dass es zum „Kopf-Orgasmus“ kommt. Wenn die Domina ihn nach einem (in groben Zügen) verabredeten Zeitraum wieder ‚entlässt‘, hat ihr Kunde ein sexuelles Erlebnis hinter sich, das er wesentlich intensiver erlebt und genießt, als ‚normalen‘ Geschlechtsverkehr – obwohl er während des gesamten Zeitraums keinerlei Zeichen körperlicher Erregung zeigt.

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Trance bewirken, allerdings nicht bestimmen. Laut antiker Überlieferung haben Frauen gegenüber Männern von vornherein einen Vorteil, da sie neunfach stärkere Lust empfinden können (vgl. Devereux 1981: 91). Zugleich ist die Kulturgeschichte der abendländischen Sexualität stark davon geprägt, dass den Männern weitaus größere Erlebnisprivilegien zugestanden wurden als den Frauen. Der Junggeselle beispielsweise, berichtet Émile Durkheim, hat aufgrund der Zukunftsunsicherheit, die seinen Status begleitet, die Option, sich sexuell auszuprobieren; denn wen und wann er heiratet, steht zunächst noch nicht fest. Junggesellinnen hingegen müssen sich aufsparen. Dieser Zustand der „sexuellen Anomie“ werde, so Durkheim (1973: 312), irgendwann durch die Ehe aufgelöst, weil die erotischen Impulse dann eine Kanalisierung erfahren. Im Anschluss an diese Überlegung ließe sich schlussfolgern, dass die Heirat, oder heute: die feste Intimpartnerschaft, auf kompensatorische Weise eine Beschränkung der sexuellen Bewegungsfreiheit just dadurch bewirkt, dass die Sexualität innerhalb der Beziehung nicht nur ausgelebt werden darf, sondern ausgelebt werden soll. Aus alltagsweltlicher Sicht scheint das verführerisch plausibel, denn so werden erotische ‚Triebe‘ eben nicht unterdrückt, sondern lediglich in ordentliche Bahnen gelenkt. Die notwendigen Zutaten sind allemal vorhanden: (üblicherweise) zwei Leiber, zwischen ihnen: Zuneigung, Vertrauen, Solidarität, und alles umrahmt von einer gesellschaftlich anerkannten Form des Zusammenseins. Nun kann der Rausch kommen, nun darf er kommen. Bekanntlich vertragen sich Ordnungsmechanismen aber nicht besonders gut mit Entgrenzung, Situationsverlust und dem Abrücken von intellektuellen Vorbehalten. Georges Bataille, Spezialist für diesen Diskurs, schreibt zwar: „Die intime Welt verhält sich zur realen wie das Unmaß zum Maß, wie der Wahnsinn zur Vernunft, wie der Rausch zur Klarheit.“ (Bataille 1985: 88) Diese intime Welt kann aber nicht mehr ohne Weiteres im Bannkreis des Eheverhältnisses gefunden werden. Als „Rahmen der erlaubten Sexualität“ scheint er von jener „Übertretungsgewalt“ denkbar weit entfernt, die Bataille als durchaus positive Qualität der Erotik identifiziert. Im Gegenteil: „Berechnung, Erwartung und Gewinn“ unterminieren, dass die Ehe auch als organisierter Zugang zur Anstößigkeit begriffen und erlebt werden könne. Nicht einmal der Aspekt der „Wiederholung“, also: der Routine, müsse prinzipiell ein Gegensatz sein, und doch schwächt die offiziell geduldete Beziehung de facto rauschhafte Intensitäten ab – sie installiert „Unschuld“ und „Gefahrlosigkeit“ in einem Kontext, der dies nicht verdient (Bataille 1974: 106-109). Bataille kalkuliert Überschreitungen ein; Räuschen und Exzessen steht sein Denken nah. Doch wie lassen sich solche Qualitäten noch realisieren in einer Welt, die einerseits Verhältnisse verharmlost und damit andererseits das Anstö-

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ßige und Alternative geschickt in anerkannte Ordnungskonstellationen einzubinden weiß? Das Unerwünschte, das verschämt Verschwiegene – in Batailles Worten: das Verfemte (la part maudite) – ist zwar einerseits ein Stachel im Fleisch der Ordnung, andererseits ist es aber sowieso mit dieser Ordnung bzw. mit dem „System“ (Bataille) verknüpft, weil das Imago der Unordnung notwendig ist, um Systemgrenzen ausmessen zu können. So betrachtet, können Exzesse kaum je wirklichen Widerstand setzen, ohne sich instrumentalisierbar zu machen. Die Pornografie steckt in genau dieser Falle fest: Sie ist prinzipiell abweichend und anders als die meiste außerpornografische Sexualität, zugleich aber in dieser Form voll und ganz integriert in Gestalt eines ergänzenden ‚Angebotes‘, das sich aufwandlos abrufen lässt. Unruhe und wirkliche Überschreitung sind hier nicht zu erwarten, zumindest nicht im Mainstream. Nochmals Bataille: Da „soziale Homogenität eine labile, durch Gewaltakte und überhaupt durch innere Konflikte jederzeit störbare Form [ist]“, müsse sie „ununterbrochen gegen alle Elemente der sozialen Unruhe geschützt werden“ (Bataille 1978: 12). Unruhe stiften jedoch weder kalkulierbare Exzessquellen wie die von Durkheim konstatierte Junggesellenfreiheit, noch andere in der Jugend- oder in sonst einer Kultur apostrophierbaren Fluchten aus der Alltäglichkeit. Bataille schwebt, als wirkliche Belebung, keine – am Schluss gar rationalistisch motivierte – Akkumulation eines Gewinns vor, sondern die Verschwendung von Energien auf exzessive Weise. Er fordert, mit anderen Worten, Verlusterscheinungen, nicht Lustgewinn. Sinngemäß könne der Ordnung der Dinge nur ein absichtsvolles Vergeuden Ohrfeigen versetzen. Die Ekstase gehört durchaus in diesen Kontext. Tod, Rausch und Lust sind für Bataille einerseits selbst Produkte des kulturellen und sozialen Wandels, die ständig diskursiv verfeinert und erweitert werden. Andererseits handelt es sich trotz aller Finessen, die diese verheimlichten und verdrängten faits sociaux auf sich vereinen, um Umwege und Verknotungen, die der aufgeklärten Rationalität Stiche versetzen. Für die Ideologie der Energieansammlung, d.h. für die Ideologie des angesehenen, sozial akzeptierten Haushaltens mit Ressourcen, um die es Bataille in seiner Anti-Ökonomie vor allem geht, sind diese Heterogenitäten der Ausgangspunkt von sozialen Widerhaken, die wegen ihrer Diskontinuität und Zweckentfremdung Faszination ausüben und Aufmerksamkeit bündeln. Wirklich in Gang gesetzt werden Grenzüberschreitungen indes nur dann (und um diese Wirklichkeit geht es Bataille ausdrücklich), wenn ein Exzess im Raum steht, in dessen Verlauf Energie vergeudet und Verschwendung zelebriert wird, bei dem Menschenkörper sich verausgaben, geopfert werden und sich selbst bewusst opfern – wenn also ein mächtiges Umsonst aufmarschiert, das neue Erlebnis- und

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Erkenntnisformen schenkt und die Ekstase zur inneren Erfahrung macht (vgl. Bataille 1999). Auch wenn die Verästelungen von Verschwendung und Exzessivität in Batailles Werk an dieser Stelle nicht näher rekonstruiert werden können (vgl. dazu Benkel 2011), sollte die Andeutung auf die Potenziale der Selbstverschwendung doch herauskristallisieren, dass sein Programm in direkter Opposition zur Lust nach Maß ist, wie man sie schon in vor- und schließlich in aufklärerischen Zeiten propagiert findet.8 Ihre Spuren hinterlässt die maßvolle Lust nach wie vor, heute vielleicht – maskiert und sublimiert – auf besonders nachhaltige Weise. Immerhin, diese subtile Präsenz auch in scheinbar vollbefreiten Zeiten (sie wird beispielsweise als „Tyrannei der Lust“ bezeichnet; vgl. Guillebaud 1999) forciert erfrischende Positionen wie eben die von Bataille. Gedacht als spezifisch (anti)ökonomischer Diskurs, kommt dieser theoretisch sogar ohne das Körperfundament aus, dass in actu meistens aber doch im Zentrum rauschhaften Lustgewinns steht. Und zugegeben: Wie schon bei de Sade, unterliegt auch Batailles Denken einem sozusagen ‚logistischen‘ Problem philosophischer Wortmeldungen zur recht irdischen Sphäre der Erotik: Es mangelt ihr an Empirizität. Batailles Verausgabungs-Nichtlogik ist nur sehr bedingt als Manual geeignet. Wie sowohl de Sade als auch Bataille angedacht haben, ist die soziale Welt nicht lediglich das Vehikel intersubjektiv gemachter Triebregungen, die ganz gegenwärtig oder vielleicht unterschwellig-atavistisch in Bewusstseinen lauern. Kultur ‚schlägt‘ Natur, weil Natur nur mehr als Kulturdiskurs zu haben ist; die Harmonie des unbefleckten Dahinlebens gibt es nicht mehr. In der Alltagssemantik ist öfter mal zu vernehmen, dass sich Personen ‚ihren Trieben‘ hingegeben haben. Auch wenn solche Formulierungen zeitweilig sogar den wissenschaftlichen Diskurs geprägt haben, ist ein Triebmodell, das als biologischmedizinisch begründetes Bollwerk gegen die oben erwähnte Mäßigungsideologie dienen könnte, heutzutage nicht mehr diskutabel. Gleichwohl wird daran geglaubt. Im Rahmen von Feldforschung zur Sozialstruktur in Rotlichtvierteln gab ein Prostitutionskunde in einem narrativen Interview zu Protokoll, dass er als Mann evolutionspsychologisch „Jäger“ sei und daher gar nicht anders könne, als seiner Programmierung zu folgen und ständig Sex mit verschiedenen Frauen zu haben (vgl. Augello 2010: 247). Überhaupt muss die Theorie der buchstäblichen

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Eine andere Verknüpfung von Geschlechtsleben und (ökonomischer) Verschwendung bringt Werner Sombart 1922 in seiner Studie über Luxus und Kapitalismus (1984) zur Sprache: Verschwenderischer Luxus sei Ausdruck des Wunsches vermögender Damen (oder solcher mit entsprechenden Beziehungen), qualitative Geschmacksnachweise öffentlichkeitswirksam zur Schau zu stellen.

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‚Triebfeder‘ häufig herhalten, um das größere Luststreben von Männern gegenüber Frauen zu ‚erklären‘ – nicht nur, wie so oft, unter Missachtung von Homosexualitäten und verschiedenen Zwischenstufen (LGBTI*), sondern auch, wenn es denn stimmt, üblicherweise inklusive völliger Ignoranz gegen die größere weibliche Lustbefähigung. Wenn Lust das ist, wonach man strebt, wenn man Lust sexuell generiert – bei Nietzsche in Also sprach Zarathustra heißt es: „alle Lust will Ewigkeit“, sie soll also nicht mehr enden, wenn sie begonnen hat9 –, dann müsste nicht Maß, sondern Exzess den Alltag bestimmen. Dann wäre die Kernfrage der Soziologie: „Wie ist gesellschaftliche Ordnung möglich?“ a priori falsch gestellt. Dann wäre, kurz gesprochen, das mediale Pornotopia der Spiegel der ‚wirklichen Wirklichkeit‘. Doch genau das ist augenscheinlich nicht der Fall. Weder scheinen sich die meisten Menschen in einer Spirale des Lustgewinns zu verstricken, in der sie vor lauter Rausch nicht mehr für die Profanität des Alltags empfänglich sind, noch wird danach aktiv gestrebt. Nur wenige verschreiben sich dem sexuellen Rausch in diesem Sinne – im Sinne einer körperlich und kognitiv betriebenen Safari, bei der das Großwild ‚Ekstase‘ gejagt und nicht erlegt, sondern erlebt werden soll.10 Als Realisierung durchbrechender Triebbestrebungen, und damit als Verwirklichung eines „Naturkonzeptes“, kann dies, wie gesagt, nicht beschrieben werden. Mithilfe der Soziologie der Sexualität lässt sich erkennen, dass die Vorstellung vom Trieb, der sich permanent ‚auszuwirken‘ droht und der folglich eingezäunt werden muss, ein deterministisches und überdies objektivierendes Modell darstellt. Anstelle von Triebtheorien muss mittlerweile eher von Motivationskonzepten ausgegangen werden (vgl. Weeks 1989). Das bedeutet: Sexuelle Lust und erst recht sexueller Rausch sind keineswegs etwas, wohin die ‚menschliche Natur‘ einen sowieso lenkt. Triebtheorien vermitteln, dass jenseits des Strebens

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Am Rande: Begierde verlangt nur bedingt nach Befriedigung, denn wenn die Befriedigung kommt, ist die Begierde wieder vorbei. Sie verlangt (nach Bauman 1998: 20) vielmehr nach weiterem Begehren; siehe dazu das folgende Zitat von Luhmann.

10 Solche wenig subtilen Jagden werden für gewöhnlich hedonistischen Kreisen oder Zirkeln zugeschrieben, die, grob gesagt, pornografische Handlungsprinzipien in die Alltagsrealität zu importieren versuchen. Hier ist näher zu unterscheiden zwischen einer empirieabstinenten Besorgnis- und Moralpädagogik, die „sexuelle Verwahrlosung“ anprangert (dazu kritisch: Schetsche/Schmidt 2010) und freiwillig adaptierten Praxen, die das Sexuelle mehr oder weniger erfolgreich in Lebenskontexte integrieren (vgl. etwa das Konzept der „phallischen Frau“, Villa 2012: 61-62). Siehe dazu generell die Tendenzen zur „Pornografisierung der Gesellschaft“ laut Schuegraf/Tillmann 2012.

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nach Lustgewinn ein Motiv steht, das als solches durchschaut ist. Tatsächlich aber ist Sexualität (in Anlehnung an Luhmann 1986: 130) eine Situation, in der sich die Beteiligten weder gegenseitig noch jeweils für sich selbst genau einschätzen können. Vielleicht ist die Situation selbst das, worauf die Situation zuläuft. In Luhmanns Worten (ebd.: 132): „Es handelt sich um ein Erleben, in dem die Körper als Körper zählen und ihr Begehren als Begehren des Begehrens.“

3. R AUSCHKORRESPONDENZEN Eigentlich lässt sich der sexuelle Rausch nicht von anderen Rauschzuständen lösen – insbesondere nicht von jenen, die gleichsam intensiv Körper und Geist in Anspruch nehmen, und das trifft vermutlich auf die meisten Trance- und Ekstaseformen zu. So binden beispielweise orgiastische Komponenten im Vollzug religiöser Praktiken transzendente Entrückungspotenziale mit körperlichen zusammen (vgl. etwa Maffesoli 1986); beides erscheint irgendwie so intensiv sinnlich, dass die rauschhafte Steigerungsdynamik da, wo sie gelingt, buchstäblich ins Übersinnliche lenkt. Dieses Ergreifen des Übersinnlichen grenzt Rausch und Ekstase deutlich von anderen Formen intensiver, aber eben doch ‚diesseitiger‘, weil vorwiegend nur körperlicher Ausnahmesituationen ab. Solche Situationen gelten folglich als bruchlos alltagstauglich – etwa Lachen oder Weinen, die Helmuth Plessner mit guten Gründen als Momente des ‚Hervortretens‘ des Körpers versteht. In bestimmten Situationen brechen die Konstruktionen, die kulturell errichtet wurden, um das Leben (und den Körper) von den reinen Naturbedürfnissen zu entfernen, kurz ein, und Menschen lachen oder weinen. Durch dieses Ventil wird verhindert, dass eben diese Konstruktionen (die dem Menschen laut Plessner eine „exzentrische Positionalität“ verleihen), zusammenbrechen und – das wäre die Konsequenz – das Humane vom Tierischen im Menschen übermannt wird. Die Nähe zwischen Mensch und Tier scheint übrigens ein weiterer potenzieller Rauschkontext zu sein, auf den hier nur verwiesen werden kann. In Die fröhliche Wissenschaft nennt Nietzsche den Menschen „das wahnwitzige Tier“. Man darf hier wohl im Sinne Nietzsches von einem Wesen ausgehen, das sich an seinem Gleich- und doch Anderssein geradezu berauscht. Immanuel Kant wiederum schreibt über Rauschmittel: „Im Zustande der Betrunkenheit ist der Mensch nur wie ein Tier, nicht als Mensch, zu behandeln.“ (Kant 1968: 560)11 Wie dem auch sei: Ob der Rausch nun ein übersinnliches (und da-

11 Wie anders fällt dagegen die Perspektive von Walter Benjamin aus: Haschisch, so sein Beispiel, sei eine lebendige Erfahrung, die zugleich aus dem „Bannkreis des Rau-

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mit: ‚übermenschliches‘) Geschehen und Erleben oder, wie bei Kant, eine Rückstufung auf parahumane Zustände mit sich bringt, steht genau genommen überhaupt nicht fest. Zutreffende Feststellungen von außen sind nicht zu haben. Das macht es auch schwierig, Personen und ihren Körpern mittels Rauschhermeneutik näher zu kommen. Was drinnen passiert, verraten die „Sprachen des Körpers“ (Klossowski et al. 1979) nur bedingt; und welcher Sinn bei außeralltäglichen Zuständen mitschwingt (wenn überhaupt), ist erst recht unklar. Ist der Rausch das Ziel intentionaler Handlungen – oder führt die Handlung unabsichtlich zum Rausch? Auf die Sexualität angewendet, müsste die Frage wohl lauten: Sind die „ozeanischen Gefühle“ (Freud 2000: 197), die der Orgasmus mit sich bringt, die Absicht, die hinter dem körperstrategischen Handeln von Akteuren mit, für und gegeneinander steckt, oder handelt es sich um eine kaum kontrollierbare, nicht zwingend notwendige Begleiterscheinung? Und wäre der ‚Höhepunkt‘, wie landläufig gesagt wird, identisch zu setzen mit Ekstase? Um einen Ausnahmezustand im engeren Sinne handelt es sich dabei nicht. Aber offenkundig geht es um ein Empfinden, das für eine kurze Frist auf eine andere Welterlebnisebene hebt. Damit lässt sich eine Brücke von einem Erfahrungsextrem in ein anderes schlagen; wenigstens metaphorisch macht das Sinn. La petite mort wird der Orgasmus in Frankreich sinnbildlich genannt; die Formulierung hätte von Bataille stammen können. „Die Simulation ist die Ekstase des Realen“, hat Jean Baudrillard notiert. Die Notiz ist platziert inmitten unsystematischer Überlegungen zu „subtilen Formen der Radikalisierung verborgener Qualitäten“ und zum „Aufstieg zu den Extremen“; es geht um Unmoral, Leidenschaft und verführerischen Schwindel (Baudrillard 1991b: 7-9). Die ekstatische Substanz, auf die Baudrillard anzuspielen scheint, ist medial vermittelt. Mit dem Einfluss der Massenmedien auf die von ihnen abhängig gewordene Welt liegt eine weitere Korrespondenz vor. Nach Baudrillard ist mittlerweile eine „Agonie des Realen“ zu verzeichnen (Baudrillard 1978), was im Kern die Abschwächung der wahren Wirklichkeit angesichts medialer Ersatzangebote meint. Im Fernsehen und auf der Kinoleinwand wird intensiver geliebt und schöner gestorben als in der Tristesse der Alltäglichkeit. Was die Pornografie in diesem Zusammenhang leistet, ist letztlich wohl nur als Zuspitzung der immanent in den Usancen des routinierten Handelns schon ein-

sches“ heraustreten lasse – die Substanz sei folglich ein Mittel für den „Freiheitskampf“ der Vernunft! (Benjamin 1981: 9-10) Auf der anderen Seite steht bei Benjamin dagegen das ästhetische Experiment: Wahre entgrenzende Mobilisierung liefere der Surrealismus, denn mit ihm lassen sich die „Kräfte des Rausches für die Revolution gewinnen“ (Benjamin 1966: 212).

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gepflanzten Rauschpotenzials zu verstehen. Nachahmendes Simulieren als Manöver der Zuspitzung eines Vorbildes ist eine Devise, die Baudrillard in allen Medien-Welten wirken sieht. Was sexuelle Entgrenzung betrifft, so lässt sich nicht bestreiten: So sehr nach Entrückung und Ekstase wie im zeitgenössischen Roman, im Spielfilm oder mittlerweile im Internet-Clip sehen die meisten erotischen Annäherungen nicht aus. Dass solche Bilder und Geschichten zum Vorbild werden, kann nicht überraschen. Möglicherweise besteht der Geist des sexuellen Rausches darin, einem Phantom nachzujagen, dessen Maske nicht abgenommen werden kann, weil sich nichts darunter verbirgt.

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Dionysische Ekstase in der griechischen Antike 1 S USANNE G ÖDDE

1. E INFÜHRUNG Aus sich selbst Heraustreten oder von einer fremden Macht Besessensein, ein anderer Werden oder anderswo Sein – das sind Zustände, die von jeher sowohl mit dem Verlust der Kontrolle als auch mit der Erweiterung des Bewusstseins, mit Krankheit, aber auch mit außerordentlicher Empfänglichkeit, mit menschlicher Ohnmacht und ebenso mit der Fähigkeit, die menschlichen Grenzen zu überschreiten, verbunden werden. Der Ekstatiker, der nach der Rückkehr zu sich selbst von fremdartigen Erlebnissen zu berichten weiß – von einem Losgelöstsein aus den Grenzen des Körpers, von einer visionären, prophetischen Schau oder einer besonderen Nähe zu Gott bis hin zur Vereinigung mit ihm –, dieser Grenzgänger und von den Göttern Privilegierte wird von seiner Umgebung entweder mit Ehrfurcht und Bewunderung bedacht oder aber zum Hysteriker oder Fanatiker erklärt und den von der Gesellschaft marginalisierten Bereichen der Krankheit und des Wahnsinns zugewiesen. Wenn religiöse Transzendenz oder göttliche Macht in Form von Besessenheit und Entfremdung in das profane Leben einbricht, sind also einmütige Reaktionen ausgeschlossen. Stattdessen herrschen Ambivalenz – die Mischung aus

1

Es handelt sich bei diesem Text um die leicht überarbeitete und gekürzte Fassung von: „Seligkeit und Gewalt. Die dionysische Ekstase in der griechische Antike“, in: Thomas Koebner (Hg.), Ekstase [Reihe Projektionen. Studien zu Natur, Kultur und Film, Bd. 6], München 2012: S. 10-34. Ich danke der Edition text und kritik für die Genehmigung des Wiederabdrucks. Kürzungen wurden vor allem im Abschnitt 3.3 vorgenommen; die Literaturhinweise wurden ergänzt.

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Anziehung und Abstoßung –, Verwirrung der Kategorien, Unsicherheit der Grenzen auch in der Beschreibung und Deutung des Phänomens vor. Wenn Kulturen und Religionen die Ekstase als eine Form des Andersseins ‚erfinden‘, wenn sie sie, gewissermaßen offiziell und kalendarisch festgelegt, bereitstellen und legitimieren, mit Blick auf das dem Menschen zugestandene Bedürfnis, dem Normalen, dem Alltag entfliehen zu können, dann lassen sie sich auf Experimente mit dem Ich ein, dann setzen sie – zumindest temporär – dessen Grenzen aufs Spiel und erproben Modelle von Entgrenzung, Ichverlust und Auflösung.

2. E INE

KLEINE T YPOLOGIE DER DIONYSISCHEN E KSTASE

Für ein solches Experiment mit den Grenzen der eigenen Person steht in der griechischen Antike der Gott Dionysos ein. Zwar können auch andere Götter Wahnsinn auslösen (Henrichs 1994: 37)2 – aber die beseligende und zudem kalendarisch festgelegte Ekstase ist dem Kult dieses Gottes vorbehalten. Die populäre Formel „Wein, Weib und Gesang“ verweist auf zentrale Komponenten dionysischer Entgrenzungen, doch ist das Phänomen damit bei Weitem nicht angemessen erfasst. So wird in der religionswissenschaftlichen Forschung immer wieder betont, dass die ekstatische Erfahrung, die im Kult des Dionysos zu finden war, ganz ohne Alkoholgenuss auskam, Ekstase und gewöhnliche Festesfreude also strikt voneinander zu trennen seien. An die Stelle des Weins traten in der Ekstase schnelle, zum Rhythmus der Musik sich vollziehende Tanzbewegungen, das „Schweifen“ durch Bergwälder sowie der schnelle, bis an die Grenzen der physischen Möglichkeiten reichende Lauf (vgl. Eur. Ba. 136-137). In der Bildersprache der antiken Vasenmalerei wird der Verlust der aufrechten Haltung und der Kontrolle durch die heftigen Vorwärts- und Rückwärtsbewegungen des Kopfes der Tänzerinnen angezeigt, bisweilen verbunden mit einem entrückten Blick in die Ferne, offenbar als Zeichen des Herausgetretenseins aus sich selbst, der ekstasis (Textbeispiele sowie Vergleiche mit „religiöser Hysterie“ und sakralen Tänzen in Britisch-Kolumbien und Marokko bei Dodds 1970: 144). Die Literatur kennt für die extreme Beweglichkeit der ekstatischen Frauen eine Reihe von Vokabeln, darunter besonders prominent das „Schwärmen“ (bakcheuein), das der Gott selbst als Dionysos Bakch(e)ios im Namen trägt und das auch der wichtigsten literarischen Quelle für die dionysische Ekstase, den Bakchen (oder Bakchantinnen) des Euripides, ihren Titel gegeben hat. Es ist wichtig

2

Etwa Hera, Aphrodite oder Ares.

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zu betonen, dass „schwärmen“ hier eine Bewegungsform bezeichnet und nicht lediglich eine Haltung der Verehrung. Und auch ein weiterer zentraler Terminus im Kontext dionysischer Ekstase, die mania, der Wahnsinn, leitet sich von einem Bewegungsverb her: mainesthai bedeutet „rasen“, außer Rand und Band sein, einem starken Affekt körperlich Ausdruck verleihen, und es ist von Fall zu Fall zu fragen, ob das deutsche Wort „Wahnsinn“ hierfür tatsächlich die einzig richtige Übersetzung ist. (Dass Platon im 4. Jh. v. Chr. den „Wahnsinn“ als „göttlich“ adeln wird, soll noch zur Sprache kommen.) Neben dem in den Nacken geworfenen Kopf und damit der Aufgabe von Stabilität und Balance ist unter dem Aspekt der Bewegung schließlich auch der Wirbel, die Drehung um die eigene Achse zu nennen. Ein eindrucksvolles Beispiel hierfür bietet die sogenannte Dresdener Mänade aus dem 4. Jh. v. Chr. Unerlässliches Accessoire der rasenden Frauen, so dokumentieren es Bildkunst und Literatur, ist der Thyrsosstab, ein mit Efeu oder Weinlaub umwundener Fenchelstängel, auf dem ein Pinienzapfen befestigt war. Diesen Thyrsosstab schwingen die Frauen während des Tanzens und verwenden ihn, je nach Situation, als Waffe der Abwehr, etwa gegen sexuell zudringliche Satyrn (häufig auf Vasenbildern), oder des Angriffs, etwa gegen unschuldige Opfer (vgl. den ersten Botenbericht der Bakchen, V. 733). Gewalt scheint auch auf im zur Typologie der dionysischen Ekstase gehörenden „Rohfleischessen“, der ômophagie, bei der angeblich wilde Tiere gefangen, zerrissen und roh gegessen wurden – so zumindest wollen es die Bilder und die literarischen Texte suggerieren (vgl. Eur. Ba. 139). Augenzeugen- oder gar Erfahrungsberichte besitzen wir freilich nicht, doch begegnet der Begriff ômophagion immerhin auch in einer hellenistischen Inschrift, die organisatorische Details der dionysischen Einweihung regelt. 3 Zum nächtlichen Tanz der „Mänaden“ – so der gebräuchlichste Terminus technicus für die Anhängerinnen des Dionysos, ebenfalls abgeleitet von mania4 – gehört ebenso unabdingbar eine wilde und rhythmische Musik, erzeugt vor allem von der Pauke (tympanon), der schrillen, durchdringenden Flöte (dem aulos, vergleichbar der heutigen Oboe) und den Handschlaginstrumenten (krotala). Zur Instrumentalmusik und dem Gesang traten Lärm und Kultrufe hinzu, die die Gruppe der Schwärmenden und Feiernden anstachelten oder dem Gott galten. Der „Lärmende“, Bromios – so heißt Dionysos mit einem anderen Beinamen,

3

Viele Forscher halten das Rohfleischessen für ein rein literarisches Motiv oder vermuten hinter dem Text der Inschrift ein ‚normales‘ Tieropfer (s. etwa Henrichs 1978: 151; Bremmer 1984: 274-275).

4

Zur Terminologie von mania, mainas, ekstasis, bakcheuein vgl. Schlesier (2011: 178189).

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ebenfalls in seiner Funktion als Ekstasegott. Die Schlussstrophe aus der Parodos von Euripides’ Bakchen (Euripides 1968: V. 152-163) mag etwas von diesem entrückten Jubel vermitteln: „Auf ihr Bakchen, Auf ihr Bakchen, Des goldfließenden Tmolos.5 Stolz, Singt den Dionysos Bei dumpfdröhnender Pauken Ton! Bakchisch jauchzend, mit euoi umjubelt den Gott nun in Phrygischen Rufen und Freudengetön, wenn Flötenspiel, schönklingendes, das heilige, die heiligen Weisen erdröhnen läßt, passend für die, die ins Gebirg, ins Gebirg schweifen!“6

Soweit die Selbstaufforderung des Chors asiatischer Dionysos-Anhängerinnen, der hier das Ritual der Oreibasie, den ekstatischen Lauf durch die Berge (oros = Berg; bainein = gehen), imaginiert. Die verschlungene Syntax des Originals, die durch Wortwiederholungen (Polyptota), Alliterationen und onomatopoetische Wortverwendungen erzielte Intensivierung und Ritualisierung, im Deutschen zum Teil nicht nachzumachen, versucht, das entgrenzende Erlebnis der Bakchantinnen sprachlich nachzubilden. Die Strophe schließt mit einem Kommentar, der die Bewegung der Bakche mit den schnellfüßigen Sprüngen eines Fohlens vergleicht – eine der vielen Verwandlungen, die Dionysos auslöst, nicht selten, wie hier, zum Animalischen hin.

3. D EUTUNGSPROBLEME : K ULTPRAXIS UND MYTHOLOGISCHE B EARBEITUNG Doch welchen Platz hat diese aus literarischen Quellen und Bildzeugnissen zusammengesetzte Szene dionysischen Schwärmens in der griechischen Kultur und Gesellschaft genau? Wann und wo spielte sich dieses Geschehen ab, wer nahm daran teil und zu welchem Zweck? Und vor allem: Wie ist uns all das überliefert

5 6

Eine asiatische Stadt. Zitate der Bakchen beziehen sich im Folgenden auf diese Übersetzung von Oskar Werner (Euripides 1968), die gelegentlich modifiziert wird; angegeben wird jeweils die Verszahl.

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und wie zuverlässig? All diese Fragen sind keineswegs eindeutig zu beantworten. Jeder Versuch einer historischen Rekonstruktion der Dionysischen Ekstase ist unweigerlich mit einer Vielzahl höchst diverser und zum Teil sehr unvollständiger Quellen konfrontiert. Die Informationen, die wir über Dionysos und seine Kulte besitzen, stammen zu einem großen Teil von Dichtern und Künstlern, zu einem geringeren von Geschichtsschreibern, Philosophen und Kulturhistorikern oder den sogenannten Sammelschriftstellern. Niemand überliefert eine geschlossene, religionshistorisch oder soziologisch interessierte Bestandsaufnahme, die das Phänomen isolieren und gewissermaßen wissenschaftlich objektivieren würde, sondern immer haben wir es mit perspektivischen und interessegeleiteten Darstellungen zu tun, vor allem aber mit unvollständigen und beiläufigen Erwähnungen – denn die antiken Autoren konnten die prinzipielle Kenntnis dionysischer Praxis bei ihrem Publikum voraussetzen, Bedarf für weitschweifige Erklärungen bestand nicht.7 3.1 Die Anlässe: Oreibasie und Lenäen Jenseits der Notwendigkeit, jede einzelne Quelle spezifisch zu kontextualisieren, zwischen epigraphischem, ikonographischem und literarischem Material, soweit das möglich ist, zu unterscheiden, gibt es auf dem Feld der Dionysischen Ekstase eine Reihe bisher ungelöster Probleme. Dazu gehört etwa der genaue Ort der Ekstase-Rituale – denn das Schwärmen und Tanzen für Dionysos war keineswegs der spontanen Stimmung beliebiger Bürger anheimgestellt, sondern wurde durch den Kultkalender der jeweiligen Polis reguliert. Deshalb ist es auch falsch, wie es lange Zeit üblich war (vgl. Dodds 1970: 143), von einer „Massenhysterie“ zu sprechen oder das Rasen der Bakchantinnen mit den mittelalterlichen Veitstänzen und ähnlichen Epidemien zu vergleichen. Weder erfasste die dionysische Begeisterung die gesamte Polis, geschweige denn ganz Griechenland, noch ist sie Ausdruck einer gesellschaftlichen oder ökonomischen Krise (Bremmer 1984: 273).8 Die bereits erwähnte Oreibasie, das nächtliche Rasen in den Bergen, war ein im 2-Jahres-Rhythmus stattfindendes Ereignis, über das wir leider wenig

7

Bremmer (1984: 275-282) bietet eine plausible und anschauliche, wenn auch nicht vollständig durch Quellen gestützte, Rekonstruktion und Phänomenologie des gesamten Ablaufs der Oreibasie.

8

Dass der dionysische Tanz nach der Prophezeiung des Chors in Euripides’ Bakchen „das ganze Land“ (V. 114) erfassen wird, ist eine poetische Hyperbolie, dem Auftreten des Dionysos und seinem Programm entsprechend. Richtig ist es allenfalls für die Stadt Theben, zumal für die sie vertretende Königsfamilie.

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Quellen besitzen. Immerhin haben wir Grund zu der Annahme, dass sie in klassischer Zeit nur an ausgewählten Orten überhaupt stattfand, vermutlich in Theben und ganz sicher auf dem Parnass bei Delphi, wohin auch von Athen eine Gesandtschaft von Frauen ausgesandt wurde, nicht aber in Athen selbst. Der Religionshistoriker Robert Parker konstatiert resigniert, dass wir nicht wüssten, ob an diesen Ritualen 30 oder 30.000 Frauen teilgenommen hätten (Parker 2005: 312), doch scheint nach Meinung der meisten Forscher die erste Zahl weitaus plausibler zu sein. Es war vermutlich eine überschaubar große Gruppe von Frauen, die hier, möglicherweise stellvertretend für die Polis, den Gott Dionysos in den Bergen feierte.9 Doch sah vielleicht auch der Athener Festkalender ein Fest für die ekstatische Feier des Dionysos vor. Die jährlich zu seinen Ehren Ende Januar/Anfang Februar stattfindenden Lenäen, an denen – wie an den Großen Dionysien – auch Theaterstücke, insbesondere Komödien, aufgeführt wurden, lassen sich auf das Wort lênai zurückführen, ein weiterer Terminus für rasende Frauen – neben Mänaden und Bakchantinnen –, und kommen daher für Ekstase-Rituale ebenfalls in Frage.10 Wenig Anlass gibt es allerdings, die Ekstase mit dem berühmten Theaterfest zu Ehren des Dionysos, den Großen Dionysien, zu verbinden, das relativ gut erforscht ist und zu dessen Programmpunkten zwar eine Prozession, vermutlich aber kein ekstatischer Umzug gehörte. Freilich ist es verführerisch, eine Brücke zu schlagen von Dionysos, dem Gott des Theaters und der Maske und damit der Verwandlung, zu jenem Gott, der die Menschen mittels der Ekstase sich selbst entfremdet. Doch ist der ,Identitätsverlust‘ des Schauspielers oder des Zuschauers wohl gering zu veranschlagen im Vergleich mit der oben beschriebenen Ekstase von in den Bergen tanzenden und von Dionysos besessenen Frauen, die im Rahmen des Theaterfestes keinen Platz hat – es sei denn in der Orchestra selbst und damit innerhalb der Fiktion der Dramen (vgl. Gödde 2012). Einen weiteren Anlass für dionysische Ekstase mögen die sogenannten bakchi-

9

Aus anderen Kontexten sind sogenannte „heilige Kollegien“ (der Begriff ist modern) überliefert (vgl. Bremmer 1984: 282), die aus etwa 12 oder 15 Frauen bestanden, die eigens für den Vollzug bestimmter Rituale gewählt wurden, doch haben wir für die bakchische Oreibasie keinerlei Gewissheit, wer genau berechtigt war, an ihr teilzunehmen.

10 Lange Zeit wurden einige der eindrucksvollsten archäologischen Zeugnisse zur dionysischen Ekstase mit diesem Fest in Verbindung gebracht und hießen daher „Lenäenvasen“: Dargestellt ist eine Gruppe von Frauen, die um eine an einem Pfeiler befestigte Dionysosmaske herumtanzen. Zur Problematik der Zuweisung dieser Darstellungen zum Fest der Lenäen: Peirce 1998.

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schen (oder auch orphisch-bakchischen) Mysterien geliefert haben, die weiter unten in einem eigenen Abschnitt (siehe 3.3) behandelt werden. 3.2 Dionysos und die Frauen: erotische Ekstase? Als eine ebenfalls offene Frage ist die Geschlechtsspezifik der dionysischen Ekstase zu nennen. Zunächst spricht das Gros der Zeugnisse dafür, dass das Ritual der Oreibasie nahezu ausschließlich von Frauen vollzogen wurde. Der Begriff der Mänade ist im Griechischen festgelegt auf das weibliche Geschlecht, es gibt keine männlichen Mänaden. Die männlichen Satyrn hingegen, die auf den Vasenbildern als Gegenspieler der Mänaden begegnen und diese durch ihre sexuelle Lust provozieren, haben kein Pendant im tatsächlichen Kult. 11 So wurde lange Zeit der sogenannte ‚Mänadismus‘ unhinterfragt als eine „chose féminine“ (Gernet 1968: 72) behandelt,12 was auch in soziologischen Erklärungen eine Entsprechung fand. Frauen, so nahm man an, sollten im freien Schweifen in den Bergen und im ausgelassenen Tanz eine Kompensation finden für ihre ansonsten eingeschränkten Bewegungsmöglichkeiten (Bremmer 1984: 285-286). Bedenkt man allerdings den Umstand, dass dieses Ritual nur alle zwei Jahre stattfand, so entbehrt diese Erklärung durchaus nicht eines gewissen Zynismus. Ebenso findet sich das Argument, dass Frauen aufgrund ihres geringeren Ansehens durch ein derart exzentrisches und angeblich rufschädigendes Ritual weniger zu verlieren hatten und daher zur alleinigen Klientel dionysischer Ekstasekulte zählten (Bremmer 2014). Und schließlich fügte es sich in bestehende Geschlechterstereotype bedenkenlos ein, wenn moderne Forscher den weiblichen dionysischen Wahnsinn als eine Form der (primitiven) Hysterie und der mentalen Krankheit betrachteten (Dodds 1970: 39-41, 143-146). All diese zuletzt genannten Versuche einer soziologischen Einordnung sowie einer Pathologisierung des dionysischen Wahnsinns berühren das Problem einer – sei es antiken, sei es modernen – ideologischen, ausgrenzenden und tendenziösen Deutung der antiken Ekstase, wie sie vielleicht bereits im möglicherweise pejorativen Begriff der Mänade und des Wahnsinns enthalten sein mag. Die For-

11 Gelegentlich wird allerdings in der Forschung das Auftreten verkleideter Satyrn bei Dionysosfesten angenommen (vgl. etwa Burkert: 2011, 256; Seaford 2006: 88; Platon könnte zu dieser Auffassung Anlass gegeben haben: Nomoi 7, 815; dazu Seaford 2006: 57). 12 Da der Begriff ‚Mänadismus‘ die Ekstase allzu ausschließlich auf eine weibliche Praxis reduziert, hat Anne-Françoise Jaccottet (1998: 16) vorgeschlagen, diesen Terminus durch „Bacchismus“ zu ersetzen (vgl. Schlesier 2011: 191, Anm. 50).

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schungsmeinung vom dionysischen Wahnsinn als „mental illness“ kann jedoch inzwischen als überholt gelten. Die These aber, dass insbesondere Feste, die den Frauen vorbehalten waren, wie etwa das Demeterfest der Thesmophorien und eben auch die dionysische Oreibasie, durch eine gewisse Inversion, eine Opposition zur alltäglichen – und entsprechend männlich konnotierten – Ordnung der Polis, ja durch das Moment eines disruptiven Ausbruchs aus dieser Ordnung gekennzeichnet seien (Bremmer 1984: 267; Gould 1980: 51), steht weiter im Raum und bedarf genauerer Prüfung. Vor allem aber bleibt umstritten, welche Rolle die Männer im dionysischen Ritual spielen. Denn es lassen sich durchaus einzelne, allerdings vor allem literarische, Quellen anführen, die eine männliche Teilnahme suggerieren (pace Henrichs 1984a), besonders prominent die Fälle des Teiresias und des Kadmos in Euripides’ Bakchen, die sich von der – allerdings politisch motivierten – Teilnahme am Tanz in den Bergen nicht zuletzt eine wundersame Verjüngung versprechen. Das „erotische Fluidum“ (Renate Schlesier), das viele dionysische Szenen in Bild- und Textzeugnissen bestimmt, mag nicht allein dem als anwesend gedachten männlichen Gott gelten, sondern möglicherweise auch sterblichen Männern.13 Zwar findet sich gerade die Unterstellung sexueller Ausschweifung und Promiskuität unter den Argumenten der literarischen und historischen Dionysos-Gegner (etwa des Pentheus in den Bakchen oder des römischen Senats im Jahre 186 v. Chr.), doch ist dies freilich weder ein Beweis für noch gegen die Faktizität sexueller Praxis bei der dionysischen Ekstase. Es zeigt lediglich, dass eine männlich dominierte politische Ordnung sich durch die weiblich konnotierte – potenziell sexuelle – Ausschweifung bedroht fühlte (vgl. etwa zu den [gender-] politischen Dimensionen des römischen Bacchanalien-Skandals: Takács 2000; Riedl 2012). Die privilegierte Rolle der Frauen – übrigens vor allem der erfahrenen, verheirateten Frauen – bleibt unumstritten, doch scheint die Geschlechtertrennung nicht ganz so strikt gewesen zu sein, wie häufig angenommen.

13 Diese Möglichkeit wird in mehreren Aufsätzen von Renate Schlesier diskutiert, insbesondere in Schlesier 1993 und 2011: 189-192. Jan Bremmer (1984: 282-283) und andere sehen im rituellen Schwärmen der Frauen zu Ehren des Dionysos ein Nachwirken älterer Pubertätsweihen und eine Vorbereitung der Hochzeit – allerdings spricht dagegen, dass die Teilnahme am dionysischen Ritual häufig gerade den verheirateten Frauen vorbehalten war. Dass eine sexuelle Verbindung mit Dionysos keine abnorme Vorstellung war, zeigt die rituelle Hochzeit mit dem Gott, die während der Anthesterien inszeniert wurde.

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3.3 Dionysos als Mysteriengott: Ekstase und Zerreißung? Eine weitere, bisher nicht angesprochene und in der Forschung ebenfalls viel diskutierte Bedeutung des Ekstaserituals ist zu erwägen, die dieses jenseits von bloßer Ausgelassenheit und einem karnevalesken „Saturday Night Fever avant la lettre“ (Bremmer 1984: 186) verortet. In jüngerer Zeit wird immer häufiger angenommen, dass die Ekstase auch ein zentraler Bestandteil der dionysischen (oder bakchischen oder orphisch-bakchischen) Mysterien gewesen sein könnte, einem Einweihungskult, der – anders als dies bei den bekannteren Eleusinischen Mysterien der Fall war – von umherziehenden Priestern vollzogen wurde und der für viele Teile des antiken Griechenlands, wiederum aber nicht für Athen, belegt ist. Es ist durch Ritualtexte auf Goldplättchen, die den Toten gleich Totenpässen mit ins Grab gegeben wurden, gut bezeugt, dass die Einweihung in diese Mysterien als Antizipation und Garantie eines glücklichen Jenseits galt, dass sie dem Toten den Weg zu den seligen Orten der Unterwelt wies, wo er, durch Dionysos ‚gelöst‘, ein gottgleiches und heiliges Dasein führen werde (Schlesier 2001; Graf/Iles Johnston 2007). Weniger leicht zu belegen ist, ob dieser selige Status, der nahezu einer Wiedergeburt als Gott gleichkommt, den Initianden tatsächlich durch die Ekstase vermittelt wurde – die dann in der Tat jenseits aller soziologischen und alltagspsychologischen Erklärungen einen weiterreichenden religiösen, nämlich eschatologischen, Sinn hätte. Der Dionysos, der als Patron der bakchischen Mysterien gilt, hat eine andere Genealogie als derjenige, den wir aus Euripides’ Bakchen und dem größeren Teil der klassischen antiken Literatur kennen. Dieser Dionysos, der vor allem in Texten aus dem Umkreis der sogenannten Orphiker bekannt ist, ist das inzestuöse Kind der Persephone und ihres Vaters Zeus und dadurch nicht zuletzt der Unterwelt zugeordnet – der vorsokratische Philosoph Heraklit identifiziert ihn in einem Fragment (Nr. 15) gar mit dem Unterweltsgott Hades (vgl. Wildberg 2011). Der für die Orphiker relevante Mythos von Dionysos, dessen komplette Version uns allerdings erst in der Spätantike vorliegt (Edmonds 1999; Henrichs 2011), erzählt von seiner Zerreißung und Einverleibung durch die Titanen, die von Zeus zur Strafe verbrannt wurden, woraufhin aus ihrer Asche der Mensch entstanden sei. Dionysos, dessen Herz vor dem kannibalischen Akt der Titanen bewahrt wurde, soll von Athena (oder, je nach Quelle, von anderen Gottheiten wie Rhea/Demeter oder Apollon; vgl. Graf/Iles Johnston 2007: 76-77) wieder zusammengesetzt worden sein. In dieser Variante der Dionysos-Überlieferung wird der Gott zum leidenden und sterbenden Gott (vgl. Schlesier 2003), was ihn nun die entscheidende Grenze zwischen den unsterblichen Göttern und den sterblichen Menschen überschreiten lässt und ihn zum Mysteriengott prädesti-

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niert. Die enge Verbindung mit dem Tod ließ Dionysos zu einem Modellfall menschlicher Sterblichkeit werden. Auch der den Eleusinischen Mysterien zugrundeliegende Mythos erzählt vom – zumindest symbolischen – Sterben (der Persephone) und von der Trauer (der Demeter) – zwei Aspekte, von denen das ‚Leben‘ der anderen, olympischen Götter in der Regel unberührt ist. Es wird in der Forschung vehement diskutiert, wie der ‚orphische‘ Dionysos (häufig auch als Dionysos Zagreus tituliert, vgl. Graf/Iles Johnston 2007; Henrichs 2011) die bakchische Ekstase und die meist als orphisch-bakchisch bezeichneten Mysterien, die in ihren Ritualen möglicherweise auf den sterbenden Dionysos als Prototyp der Initiation Bezug nehmen, sich genau zueinander verhalten. Sind der Ekstasegott Dionysos, den wir als Sohn der Semele kennen, und der Mysteriengott Dionysos, der Sohn der Persephone, ein und derselbe Gott? Wurde das Ekstaseritual etwa doch nicht allein von Hausfrauen, die des Alltags müde waren, vollzogen, sondern von Initianden, denen die ambivalente Erfahrung aus Schmerz und Lust, Erschöpfung und Beseligung als Erlebnis eines rituellen Todes und Antizipation eines glücklichen Jenseits galt? Es gibt antike Quellen, die diese Verbindung nahelegen, insbesondere die Bakchen des Euripides, die das dionysische Rasen ganz deutlich als eine ‚Einweihung‘ erscheinen lassen – eine Einweihung, die Dionysos, wie er im Prolog verkündet, bereits in ganz Asien vollzogen habe, und zwar tanzend (V. 21), während der Chor in der Parodos das Bergritual als eine „Heiligung des Lebens“ bewertet, die in einem „Wissen um der Götter Weihen“ resultiert (V. 73-75) – Wendungen, die deutlich über eine karnevaleske Auszeit hinausweisen. Und auch Platons berühmter Katalog von Wahnsinnsgöttern (mehr dazu unten) klassifiziert den von Dionysos ausgelösten Wahnsinn als telestikê, ein Wort, das sich übersetzen lässt mit „zur Einweihung gehörig“. Inwiefern die kalendarisch festgelegte ekstatische Oreibasie der thebanischen oder delphischen Frauen tatsächlich zugleich den Charakter einer Einweihung hatte und Mysterien und Ekstase somit zusammen gehörten, lässt sich kaum eindeutig beantworten; träfe dies zu, dann wäre die Einweihung nur einer kleineren Gruppe von Teilnehmern vorbehalten gewesen.14 Euripides mag in seiner Tragödie zwei dionysische Rituale, die Oreibasie und die Einweihung in die Mysterien, aus dramaturgischen Gründen miteinander amalgamiert haben. Gut vorstellbar ist jedenfalls, dass jenseits der Oreibasie, nämlich in den von wandernden Priestern an einzelnen Initianden vorgenommenen bakchischen Einweihungsritualen, auch der ekstatische Tanz eine Rolle gespielt hat. Zwar enthalten die in Gräbern gefundenen Goldplättchen, unsere wichtigsten Zeugnis-

14 Jedenfalls, wenn die oben in Anm. 8 formulierte Vermutung richtig ist.

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se für Einweihungen in bakchische Mysterien, keine eindeutigen Hinweise auf Tanz und Ekstase, doch lässt sich möglicherweise der vielfache Bezug auf das ‚Gelöstsein‘ durch Dionysos so verstehen.15 Der Umstand, dass der dionysische Sparagmos, die Zerreißung eines Opfertiers zum Zweck der ômophagie (oder eines menschlichen Opfers, wie des Pentheus in Euripides’ Bakchen) beziehungsweise des Gottes selbst, in beiden Kontexten, dem der Oreibasie und dem der orphischen Dionysos-Mythologie, begegnet, hat in der Rezeption und Deutung der dionysischen Ekstase durchaus Verwirrung gestiftet. Doch während die literarisch und ikonographisch belegte Zerreißung wilder Tiere im bakchischen Dionysosritual Ausdruck einer ekstatischen Selbstvergessenheit und einer durch den Rausch induzierten Gewalt ist, dürfte die Zerreißung des Gottes selbst durch die Titanen unabhängig von Ekstasezuständen sein. Die Amalgamierung beider Momente, nach der die mythische Zerreißung des Dionysos durch die Titanen als sakramentales ‚Opfer‘ des Gottes vorzustellen ist und der im bakchischen Wahnsinn Zerrissene zum Stellvertreter dieses Gottes wird, hat sich wohl nicht zuletzt in Nietzsches Konstruktion des Dionysischen, und in seiner Nachfolge bei Erwin Rohde und den Cambridge Ritualists, manifestiert und wirkt bis heute in der Forschung nach (siehe etwa Dodds 1970: 148-149; kritisch dazu: Henrichs 1984b: 211, 221-230). Wenn Nietzsche schließlich in der Geburt der Tragödie reklamiert, dass der dionysische Rausch die Zerreißung des principii individuationis bewirke, führt er eine weitere Bedeutungsebene des Motivs ein. 3.4 Mythische Abwehr und kultische Akzeptanz Eine Differenzierung der Quellen ist nicht allein hinsichtlich unterschiedlicher Überlieferungsstränge und unterschiedlicher Dionysosbilder erforderlich, sondern auch mit Blick auf mögliche Divergenzen zwischen Kultpraxis und mythologischer, und das heißt literarischer und künstlerischer, Tradition, zwischen historisch rekonstruierbaren Verhaltensformen und der diese überformenden Imagination. Gerade am Fall des Dionysos lässt sich anschaulich demonstrieren, wie

15 Zur Verbindung von Ekstase und Einweihung siehe auch Gödde (2012: 52-53). Die Vorstellung einer Einweihung, die mit kollektivem Tanz einhergeht, suggerieren auch die Frösche des Aristophanes. Schlesier (2011: 193) sieht im dionysischen Mysterienkult „den rituellen Rahmen zur Erzeugung der bakchischen Ekstase“ und Bremmer (2014: 74 mit Anm. 110) zitiert eine Stelle bei Philodem (OF 655 Bernabé), in der ein im orphischen Kult tätiger Priester die Einweihung unter anderem mittels eines Tambourins vollzieht, was auf ekstatischen Tanz verweise.

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Kultpraxis und mythologische Bearbeitung miteinander verschränkt beziehungsweise komplementär zueinander konzipiert sind, wie die Ängste und die Phantasmen in das Imaginäre der Mythologie projiziert werden, während der scheinbar so ‚gefährliche‘ Gott integrativer und unhinterfragter Bestandteil der alltäglichen polytheistischen Praxis ist. Wie eingangs angedeutet, finden sich auch hier Zeugnisse des Widerstands und der Ablehnung neben solchen der Sublimierung. So begegnet in der mythologischen Überlieferung zu diesem Gott immer wieder das Erzählschema des sogenannten theómachos, des ‚Gotteskämpfers‘ (der gegen den Gott und nicht, wie im Falle des heutigen religiösen Fundamentalismus, ‚für‘ diesen kämpft), der den ekstatischen Kult als Bedrohung der Ordnung ansieht und sich der Verehrung des Dionysos verweigert. Aufgezwungener Wahnsinn und dessen gewaltsame Folgen, bis hin zur Zerreißung der eigenen Kinder, sind die Strafe, die dann vom Gott droht (vgl. Versnel 1990; Gödde 2011: 101-103; Borgeaud 2011). Nichts davon ist aus der historischen Realität überliefert. Aus keiner griechischen Polis ist der Kult des Dionysos während vieler Jahrhunderte tatsächlich ausgegrenzt worden, nie hat, soweit wir wissen, jemals ein vom dionysischen Wahnsinn Ergriffener tatsächlich sein Kind getötet. All dies gehört zur literarischen und künstlerischen Verhandlung, ja Dramatisierung des Phänomens Ekstase. Heißt dies also, dass die antiken Gesellschaften die dionysische Ekstase ohne jeden Widerstand in ihre religiöse Praxis integrieren konnten, in ihr keinerlei Gefahr sahen, sie als selbstverständlichen Teil der Verehrung des Gottes Dionysos anerkannten? Die Antwort dürfte positiv ausfallen. Lediglich aus dem Rom des Jahres 186 v. Chr. werden uns zwei Zeugnisse, ein Bericht des Livius sowie ein Senatsbeschluss überliefert, nach denen eine friedliche Koexistenz zwischen der Staatsmacht und den Bacchanalien unmöglich gewesen sein und der Kult verboten worden sein soll (vgl. Livius 39, 8-19; Pailler 1988; Cancik-Lindemaier 1996; Takács 2000; Riedl 2012). Nicht jedoch in Griechenland! Ein weiteres, vom Historiker Herodot überliefertes Zeugnis einer Ausgrenzung dionysischer Ekstase-Riten (Hdt. 4, 78-80) dokumentiert, wie außerhalb Griechenlands, bei den im eurasischen Grenzgebiet lebenden Skythen, ein Anhänger des Kultes verspottet und am Ende gar enthauptet wurde, weil er ausländische, das heißt in diesem Fall griechische, Gebräuche angenommen habe. Nach Auffassung der Skythen, so Herodot, gäbe es keine Götter, die die Menschen rasend machten. Ob Herodot mit dieser Erzählung auch griechische Skepsis gegenüber der rituellen Ekstase verarbeitet und auf die Fremden projiziert, bleibt dahingestellt. Eine solche Abwehr ist innerhalb der griechischen Mythologie insbesondere vom thebanischen König Pentheus bezeugt, dessen Kampf gegen Dionysos und seinen Ekstasekult Euripides in den Bakchen dramatisiert – doch dieser Konflikt ist Ge-

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genstand einer literarischen Bearbeitung, und er hat, soweit wir das wissen, keinerlei Entsprechungen in der historischen Realität. Diese Schere zwischen dem Kult, der sich aus den Quellen nur sehr unvollständig rekonstruieren lässt, und dem weitaus besser belegten ‚Mythos‘, insbesondere den Zeugnissen der Tragödien und Vasenbilder, gilt es bei der Darstellung der dionysischen Ekstase zu berücksichtigen. Dass die dionysische Raserei ein historisches Phänomen war, dokumentiert – neben den beiden erwähnten Zeugnissen einer Gegnerschaft gegen den Kult (Herodot und Livius) – auch eine um 275 v. Chr. verfasste Inschrift aus dem kleinasiatischen Milet, die einen Einblick in die Organisation dionysischer Gruppen (sogenannter Thiasoi, dazu Jaccottet 2003) erlaubt, diese als Import aus Theben erscheinen lässt und das Schwärmen der Frauen in den Kontext einer Einweihung stellt (Henrichs 1978: 123-135). Ein weiteres potenziell dokumentarisches Zeugnis stammt von dem Moralphilosophen und ‚Buntschriftsteller‘ Plutarch (2. Jh. n. Chr.), der von einer Gruppe dionysischer Frauen berichtet, die von ihren Ritualen aus den Bergen zurückkehrten und von den einheimischen Frauen erschöpft auf dem Marktplatz von Amphissa vorgefunden wurden (Plut. Mul. virt. 13, 249 EF; Henrichs 1978: 136-137) – ein Bericht, der Niederschlag in einem bekannten Gemälde von Lawrence Alma-Tadema gefunden hat (The Women of Amphissa, 1887). Während die milesische Inschrift vor allem einen bürokratischen Blick auf die wilde Praxis wirft, zeigt Plutarch nur den Nachklang der Ekstase, die Erschöpfung als blassen Abglanz göttlicher Entrücktheit. Beide Zeugnisse sind jedoch frei von Polemik oder Pathologisierung. Die moderne Adaption des viktorianischen Malers deutet im Kontrast zwischen den Zuschauerinnen und den am Boden kauernden Verwirrten, auf die geheimnisvolle Erfahrung, die beide Gruppen voneinander unterscheidet. Insbesondere die Leopardenfelle, auf die die Frauen gebettet sind, verraten etwas von der Grenzüberschreitung, die die von Dionysos verzückten Frauen gerade hinter sich gebracht haben. Nachdem bisher der Versuch unternommen wurde, die dionysische Ekstase der Antike in ihrem sozialen und kultischen Kontext zu verankern, soll nun ein Blick auf drei Texte geworfen werden, die auf ebenso analytische wie poetische Weise dazu beitragen, das Verständnis des dionysischen Wahnsinns und seiner kulturellen Verhandlung zu erweitern.

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4. D IONYSOS

IN

L ITERATUR UND P HILOSOPHIE

4.1 Innerer Aufruhr – mania und mainesthai bei Homer Dionysos spielt in den Homerischen Epen keine signifikante Rolle, sein Name begegnet an genau zwei Stellen in jedem Epos (Ilias 6, 130; 14, 325; Odyssee 11, 325; 24, 74), und er gehört nicht zu jenem Götterapparat, der die Geschicke der Troiakämpfer oder das des heimkehrenden Odysseus lenkt. Ebenso wie Demeter ist er damit zumindest in diesem kanonischen Text aus der Familie der Olympier ausgeschlossen, und es scheint bezeichnend, dass ausgerechnet die beiden Mysteriengötter, also die Götter, die fähig sind, in einem existenziellen Sinne Menschliches, nämlich Tod und Trauer, zu erfahren, ex negativo eine Sonderstellung erhalten. Von den vier homerischen Textstellen ist eine für die Frage nach der Bedeutung des dionysischen Wahnsinns relevant (Il. 6, 130; siehe auch Henrichs 1994: 41-47; Schlesier 2011: 176-178): Diomedes, der auf dem Schlachtfeld Glaukos gegenübersteht, aber nicht weiß, ob dieser ein Gott ist, bittet ihn, seine Identität zu enthüllen, denn einem Kampf mit einem Gott möchte er sich nicht stellen. Dieser Grundsatz wird durch ein mythologisches Exempel untermauert: die Geschichte von der Verfolgung des Gottes Dionysos und seiner Ammen (die hier an die Stelle der später üblichen weiblichen Dionysos-Begleiterinnen treten) durch den thrakischen König Lykurg und die spätere Bestrafung des „Gotteskämpfers“ (theomachos, vgl. Il. 6, 141) in Form einer Blendung durch Zeus – wobei auffällig ist, dass nicht Dionysos selbst, wie etwa in den Bakchen, seinen Feind straft. Dionysos, der in dieser Passage das nicht weiter erklärte und scheinbar selbstverständliche Beiwort mainómenos – „der Rasende“ – erhält (V. 130), flieht vor Lykurg in den Schoß der Meeresgöttin Thetis, und seine Angst wird auffällig breit geschildert: „Dionysos aber, flüchtend, / Tauchte in die Woge des Meers, und Thetis nahm ihn auf in ihrem Bausch, den Erschrockenen, denn ein starkes Zittern ergriff ihn vor dem Drohen / Des Mannes.“ (V. 135-137; Übers. Schadewaldt). Dionysos’ Rasen, das hier ausschließlich von Angst bestimmt ist und nicht von religiöser Verzückung, antizipiert terminologisch den kultischen Wahnsinn, in den er in späteren Texten seine Anhänger(innen) versetzt. Diese Analogie lässt sich in zwei Richtungen erklären: Entweder wird ein Wesenszug des Gottes von seinen Anhängern im Kult imitiert, sodass der Gott zum Rollenmodell wird, oder das Verhalten der Kultteilnehmer wird umgekehrt auf den Gott projiziert (Henrichs 1994: 44-45).

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Interessant für die genauere Evaluierung des dionysischen Wahnsinns ist jedoch insbesondere der sonstige Gebrauch des Verbums mainesthai beziehungsweise des von ihm abgeleiteten Partizips mainomenos sowie des Substantivs mainás, Mänade, in der Ilias. Während in der Forschung weitgehend Einigkeit besteht, dass das Beiwort mainómenos in Ilias 6 in einem kultischen Sinn verwendet wird (Henrichs 1994: 43, Anm. 44) – darauf verweisen vor allem die erwähnten „Opfergeräte“ (thystla; ein Wort, das mit Thyrsos in Zusammenhang zu stehen scheint), die die Ammen zu Boden fallen lassen –, wird das Verbum mainesthai an allen anderen Stellen in der Ilias in einem weiteren, nicht auf den Kult bezogenen Sinn gebraucht: Nämlich zum einen zur Charakterisierung kriegerischer Wut – so von Ares, Zeus, Achill, Hektor und Diomedes –, zum anderen von einer Figur, in diesem Falle Andromache, die sich in großer Angst oder Trauer um ihren Ehemann Hektor befindet und daher mit einer „Rasenden“ (6, 389) oder einer „Mänade“ (22, 460) verglichen wird, wobei der Vergleich beide Male auf ihre schnelle Bewegung, ihr Losstürmen als dem äußeren Ausdruck der inneren Befindlichkeit abzielt. Dass aber neben einer körperlichen Verhaltensweise, der schnellen Bewegung, zugleich ein geistiger Zustand bezeichnet wird, macht die Etymologie von mainesthai deutlich, nach der das Wort auf dieselbe Wurzel zurückzuführen ist wie die Begriffe menos („Energie“, bei Homer v.a. „Kampfkraft bzw. -trieb“), mimnêskein („erinnern“) und mantis („der Seher“). Walter Burkert übersetzt das Konzept als „Steigerung der selbsterlebten geistigen Kraft“, und Albert Henrichs spricht von „einer extremen Realisierung der vitalen Potenz und der geballten emotiven Energie“ (beide Zitate bei Henrichs 1994: 43). Beide Paraphrasen mögen eine allzu deutliche Tendenz zum Positiven aufweisen, wenn man bedenkt, dass die Ilias-Stellen insgesamt mit mania gerade auch die destruktive Energie und den negativen Affekt der Angst bezeichnen. Dass dieselbe ekstatische Gewalt, die im Krieg Zerstörung bewirkt, auch im Zustand der Trauer den Körper der Betroffenen ergreift, verwundert eigentlich nicht. Beseligung scheint jedoch von dieser Auffassung der mania weit entfernt zu sein.16

16 Diese finden wir freilich im den homerischen Epen sprachlich nah verwandten Homerischen Hymnos an Demeter, der die Göttin in dem ersehnten Moment der Wiedervereinigung mit ihrer Tochter Persephone, also im Moment der größten Freude, ebenfalls mit einer Mänade vergleicht: Homerischer Hymnos an Demeter, V. 386. Der körperliche Akt des dionysischen Rasens kann also sowohl Ausdruck sehr positiver als auch sehr negativer Emotionen sein.

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4.2 Doppelter Wahnsinn – Euripides, Bakchen Die 405 v. Chr. zur Aufführung gebrachten Bakchen des Euripides sind die wichtigste Quelle sowohl für die phänomenologische Rekonstruktion des dionysischen Wahnsinns als auch für dessen kritische Analyse. Sie zeigen die Gegnerschaft eines mythischen Königs, Pentheus, gegen einen Kult, der angeblich die Ordnung der Polis untergräbt, und die Strafe, die ein grausamer Dionysos denen angedeihen lässt, die sich seinem Kult verweigern, sei es aus Unglauben wie im Falle der Kadmos-Töchter und Schwestern der Semele, sei es aus moralischen Gründen wie im Falle des Pentheus. Weil hier die für die polytheistische Religion des antiken Griechenland unverhältnismäßig rigorose Autokratie eines Gottes vorgeführt wird, wurde das Drama in der Forschung gar als Beispiel eines Henotheismus avant la lettre gelesen, also als Hinweis auf die deutliche Vormachtstellung eines einzigen Gottes in einer zugleich polytheistischen Gesellschaft (Versnel 1990: 156-213). Die Bakchen des Euripides zeigen aber vor allem – und das ist für jeden Interpreten eine Herausforderung –, dass derjenige Wahn, den Dionysos seinen Gegnern sendet und der sie in den Untergang treiben soll, auf den ersten Blick dieselben äußeren Symptome aufweist wie die dionysische Seligkeit, die der Gott seinen Anhängerinnen, hier dem asiatischen Chor, vermittelt. Euripides führt also die Gegner des Dionysos-Kultes im Kostüm seiner Anhänger vor, und durch diese Ununterscheidbarkeit treibt er ein abgründiges Verwirrspiel mit dem Publikum. Doch im Falle der thebanischen Frauen, die Opfer einer unfreiwilligen Ekstase sind, explodiert das Gewaltpotenzial, das auch der rituell legitimierten dionysischen Begeisterung inhärent ist, und die Grenze zum Mord wird überschritten. Die Diskussion, ob dies ein frommes Lehrstück sei, das den Gehorsam gegenüber den Göttern predigt (so Radke 2003), oder eine aufgeklärte Kritik an religiösem Irrationalismus (Winnnington-Ingram 1948; Schmidt 1989) oder gar eine Demonstration göttlicher Potenz jenseits von Gut und Böse (Segal 1982), reißt nicht ab. Wie bereits oben angedeutet, vermittelt das Einzugslied der lydischen Bakchantinnen ein relativ plastisches Bild dionysischer Kultpraxis, die nach den Worten des Chors aufgrund bestimmter körperlich-sinnlicher (vielleicht auch geistiger) Erfahrungen zur Einweihung führt. Doch auch die Infiltration und Aggression der rituellen Dynamik kommt zur Sprache, wenn Dionysos seine Anhängerinnen am Ende des Prologs aufruft, mit ihren dröhnenden Pauken das thebanische Königshaus zu umkreisen (V. 60), das sich so den hämmernden Rhythmen kaum wird entziehen können. In ähnlicher Absicht fordert der Chor Theben auf, sich das Haupt mit Efeu zu bekränzen und sich mit allerlei Ranken

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und Zweigen zu schmücken (V. 106-110) – die so häufig als befreiend wahrgenommene dionysische Ausgelassenheit droht der Stadt zur Fessel zu werden. Wir wissen, dass es Dionysos ist, der diese Schlinge um den Hals seiner Gegner wirft – doch vorstellbar wird zugleich, dass auch ohne die Absicht eines Gottes ein solch verführerisches und zugleich bedrohliches Geschehen auf scheinbar Unwillige und Unbetroffene gleich einer Ansteckung übergreift. Der bevorstehende Tanz wird „das ganze Land“ erfassen, so heißt es noch scheinbar verheißungsvoll in der Parodos (V. 114), doch wenn später der Bote berichten wird, dass er im Kithairon Zeuge wurde, wie „der ganze Berg bakchisch raste“ (V. 726), so lässt diese die Menschen überwältigende Erschütterung der Natur nichts Gutes hoffen. Was bei dem Versuch einer Rekonstruktion der historischen Oreibasie als unwahrscheinlich galt, die Agitation der Masse, wird hier in der Perversion des Rituals durch die sprachlichen Bilder suggeriert. Auch spielt Euripides ganz bewusst mit dem Gegensatz zwischen der häuslichen Tätigkeit der Frauen und der wilden Bergwelt (V. 117-119): „Frauenvolks Haufe, vom / Webstuhl fort, von den Spindeln fort / Gescheucht von Dionysos!“ Dass auch die immer wieder als seligmachend deklarierte dionysische Ekstase der Eingeweihten mit Kontrollverlust und Gewalt – zumindest gegen Tiere – einhergeht und keineswegs ein sanftes Erlebnis ist, wird deutlich, wenn der Chor von der „Lust“, „in rasendem Laufe (zu) stürz(en)“ singt und von dem Durst nach dem „Blut des getöteten Böckleins“, das „den Genuss des Verzehrs von rohem Fleisch“ verspricht (V. 135-139). Auch erzeugen diese Verse der Parodos den Eindruck einer bedrohlichen Verfolgung der Frauen durch Dionysos selbst, der sie, eine Fackel schwingend, „in die Irre treibt“ und „durch sein Schreien aufschreckt“ (V. 148-149) – dieses Bild erinnert durchaus an die zitierte homerische Szene und scheint auch die Angst im Zentrum des dionysischen Rituals zu verorten. Doch für die asiatischen Frauen handelt es sich um eine „süße, eine lustvolle Mühe“ (V. 66-67). Wie gefährlich die in den Bergen lagernden thebanischen Frauen – und zwar gegen ihre eigene Absicht – sind, demonstriert der erste Botenbericht, der Pentheus und dem Publikum das hinterszenische Geschehen als eine Orgie plötzlich ausbrechender Gewalt vor Augen führt. Das Schema, das Euripides verwendet, um die dionysische Ambivalenz zu markieren, ist die Opposition von idyllischer und wilder Natur. Die unfreiwilligen Mänaden werden zunächst als Teil der – durchaus dionysisch konnotierten – Natur gezeigt: Sie betten ihren Kopf auf Laub und Zweige, halten junge Tiere auf dem Arm, die sie säugen, und sind in der Lage, mit ihren Thyrsosstäben oder den bloßen Händen Milch und Honig aus dem Boden hervorquellen zu lassen. Doch durch die geringste Provokation der sie verfolgenden Wächter verwandeln sich die scheinbar so harmlosen Frau-

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en in gewalttätige Kriegerinnen von unbändiger Körperkraft. Das Brüllen der Rinder, das sie zuvor aus dem Schlaf geweckt hatte (V. 691), scheint ein Vorbote dieser Verwandlung ins Animalische zu sein. Die Späher entgehen durch Flucht einer Zerreißung, die nun die Tiere trifft: blutige Gliedmaßen von Kälbern, Rindern und Stieren werden durch die Luft gewirbelt (V. 734-747). Dann dehnt sich der ‚Krieg‘ (V. 752) auch auf die umliegenden Dörfer aus. Schon längst befinden wir uns in einem phantasmatischen Szenario, Übermenschliches geschieht, und als der Bote von der Unverwundbarkeit der Frauen berichtet (V. 761), kann er dies nur noch auf die Macht eines gewaltigen Gottes zurückführen, den in die Stadt aufzunehmen, äußerst ratsam erscheint (V. 769-770). Und diese Gewalt ist wiederum nur ein Vorbote einer noch grausameren Destruktion. Im zweiten Botenbericht erfahren wir schließlich von der eigentlichen Strafe des Dionysos, die er an Agaue und Pentheus vollzieht, indem er die Mutter in blindem Wahn ihren Sohn – den sie für einen Löwen hält – töten und seine Glieder in Stücke reißen lässt. Nun zeigt der dionysische Wahnsinn endgültig seine Fratze: „Die aber“, so heißt es von Agaue, „Schaum vorm Mund, die Augen hin und her / Wild rollend, nicht vernünftig, wie’s Vernunft heischt, war / Von Bakchios besessen (...)“ (V. 1122-1124). Weder ‚des Gottes voll‘ (entheos) ist Agaue in diesem Moment, noch wird ihr eine befreiende und entgrenzende ekstasis zugesprochen, sondern Dionysos ‚hat sie im Griff‘, hält sie unerbittlich fest (katechein, im Zitat übersetzt mit „besessen“) und macht sie zu seinem Instrument. Euripides reizt in dieser Tragödie die fragliche Grenze zwischen Vernunft und Wahn bis zum Äußersten aus, indem er den scheinbar Vernünftigen (Pentheus) als verblendet und die scheinbar Entrückten (die Bakchantinnen des Chors) immer wieder auch als weise zeigt. Die vordergründige Lesart des Dramas empfiehlt den Wahnsinn der asiatischen Frauen als den rechten, den ungefährlichen und sogar beseligenden Weg. Doch je stärker die Tragödie den Wahnsinn der Thebaner als den ‚falschen‘, mörderischen entlarvt und je mehr sie sich dafür derselben Bilder und Motive bedient wie für die Beschreibung der eingeweihten Bakchantinnen, desto stärker mag der Zuschauer oder Leser auch die Segnungen des angeblich ‚richtigen‘ Wahnsinns als unheimlich empfinden, denn bisweilen scheint zwischen beiden Formen nur ein gradueller Unterschied zu bestehen. Eine Deutung, die das Stück auf eine Haltung pro oder contra Dionysos festlegen wollte, wäre sicher allzu gewaltsam (vgl. Segal 1982: 375; Henrichs 1986). Doch kann Euripides’ subtile Konstellation gewiss dazu beitragen, dass der Zuschauer an der vermeintlich klaren Grenze zwischen Wahnsinn und Vernunft irre zu werden droht.

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4.3 Sublimierter Wahnsinn – Platon, Phaidros Ein kurzer Blick auf Platons berühmte Klassifizierung der vier Formen des Wahnsinns mag als Ausblick dienen. Es wurde eingangs angesprochen, dass die Geschichte des Wahnsinns nicht zu denken ist ohne seine ambivalente Bewertung, den schmalen Grat zwischen Faszination und Abkehr. Die vorliegende Darstellung ist davon ausgegangen, dass die fragliche Ekstasepraxis aus dem Kult des Dionysos in der antiken Gesellschaft akzeptiert war, positiv konnotiert wurde und – anders als es viele moderne Forscher lange Zeit sehen wollten – nicht als pathologisch oder die soziale Ordnung bedrohend diffamiert wurde. Das Rasen in den Bergen zu Ehren des Dionysos, so meine Annahme, war ein fester und anerkannter Bestandteil des Kultkalenders – wobei der spezifische Ablauf der Feste von Polis zu Polis variierte. Lediglich aufgrund der stärkeren zeitlichen und geographischen Limitierung, möglicherweise auch aufgrund eines exquisiten Status als Mysterieneinweihung und natürlich mit Blick auf den ritualisierten Kontrollverlust, handelt es sich bei dieser Praxis um einen Ausnahmezustand, nicht jedoch weil sie als minderwertig oder als Zeichen von Hysterie oder bloßer Freizeitunterhaltung galt. Gleichwohl betreiben Bildkunst und Literatur, insbesondere die Tragödie, eine gewisse Dämonisierung und Dramatisierung der Ekstase, indem sie die ‚Gewalt‘ der kultischen Raserei, die wohl vor allem eine – als lustvoll empfundene? – Gewalt gegen den eigenen Körper war, der einer physischen Erschöpfung ausgesetzt wurde, hin zur Gewalt gegen Lebewesen, gegen Tiere und sogar Menschen, ja häufig gegen die eigenen Kinder, steigern. Wir befinden uns hier auf einer Ebene der literarisch-mythologischen Reflexion und Kommentierung der kultischen Praxis, von der schwer zu sagen ist, ob es sich um konkrete Religionskritik oder um eine allgemeinere Verhandlung anthropologischer Fragen handelt. Mit Platon jedenfalls setzt eine Adelung und Auratisierung des Wahnsinns, der mania, ein, die man bei einem Philosophen, der sich immer wieder der Besonnenheit und der Vernunft verschrieben hat, am allerwenigsten erwarten mag. Die Nachwirkungen dieser Neubewertung oder doch Überpointierung der „Segnungen“ des Wahnsinns (so die Überschrift des dritten Kapitels in Dodds 1970) sind – auch für Dionysos – immens, doch eigentlich ging es Platon nicht um eine Rehabilitierung ausgerechnet dieses Gottes, dessen Künste, vor allem das Theater, er mit aller Macht bekämpfte (Schlesier 2006). Nachdem im Dialog Phaidros eine Rede des Lysias verlesen wurde, die von der Liebe abrät, weil sei abhängig, vernunftlos und rasend mache, wird in der Folge durch Sokrates das Ansehen des Eros gerettet, der bekanntlich für Platon

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das Medium ist, durch das der Jüngling über den schönen Körper zur schönen Idee und somit zur höchsten Erkenntnis des Wahren und Guten geführt werden kann. Zu diesem Zweck wird – ganz platonisch – eine profane von einer göttlichen mania unterschieden und konstatiert, dass uns durch den göttlichen Wahnsinn die höchsten aller Güter zuteilwerden (244 a). Als Beispiele hierfür führt Sokrates zunächst die auf göttlicher Inspiration beruhende Wahrsagekunst der Propheten an, deren Wissen im Rausch empfangen werde. An zweiter Stelle (244 d/e) spricht er von einem befreienden und von Leid und Not heilenden Rausch, der sich durch religiöse Riten vollziehe, dessen genaue Kontextualisierung aber zunächst etwas vage bleibt. (Erst an einer späteren Stelle, 265 a, wird explizit gesagt, dass es sich hier um den dionysischen Wahnsinn handelt.) Die dritte Besessenheit, so Sokrates, komme von den Musen: Dass der Dichter in völliger Abhängigkeit von diesen und ohne eigenes Können dichtet, hatte Platon auf ironisch-despektierliche Weise bereits in seinem frühen Dialog Ion vorgeführt, in dem er den Dichter zugleich als eine göttliche Figur erhöht und in seiner poetischen Selbständigkeit abwertet (vgl. Weineck 1998/2002; Vöhler 2004; Schlesier 2006).17 Und schließlich, so wird die Aufzählung der Formen des göttlichen Wahnsinns fortgeführt, sei zu prüfen – und es wird sich wortgewaltig bestätigen –, ob nicht auch der Wahn der Liebenden, die vierte Form des Rausches, anders als es die Rede des Lysias suggeriert hatte, diesen zum Guten gereiche. Die folgenden Ausführungen über den Aufschwung der Seele zum überhimmlischen Ort der Ideen, der ausgelöst wird durch den Anblick des schönen Geliebten, gehören zum Mitreißendsten, aber auch zum Anschaulichsten, was je über die Ekstasen der Liebe geschrieben wurde (250 e-252 b; Platon 1990: 8895): Da ist von einem Schauer die Rede, von Fieberfrost, Schweiß und ungewohnter Hitze, von einem inneren Gären und Jucken, aber vor allem von einer wahrhaften Levitation, einer Erhebung, die durch das Schmelzen einer zuvor bestehenden Verhärtung in der Seele bewirkt wird. Der veränderte Zustand der Seele, die nun Federn und Flügel austreibt, wird zunächst ganz körperlich, durch den Strom von Wärme und Feuchtigkeit erklärt, den der Anblick eines schönen Knaben auslöst. Die Abwesenheit des Schönen jedoch, die Sehnsucht nach ihm, führt zu einem inneren Schmerz wie von tausend Stacheln und zu einer schlimmen Liebesraserei. Das entscheidende Moment, dass den Liebenden von der

17 Auch Dionysos (bzw. der Wein) konnte(n) nach antiker Auffassung Dichter inspirieren (vgl. Archilochos fr. 120 West); zum durch Dionysos vermittelten dichterischen Wahnsinn vgl. auch Aristophanes, Die Frösche V. 816-817, 1259; Wolken 519-520 u.ö. Dionysos wird gelegentlich in enger Verbindung mit den Musen genannt: z.B. Aischylos Fr. 60; Soph. Ant. 965.

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schmerzhaften Liebesqual zur beseligenden und rauschhaften Erhebung führt, ist die Erinnerung an die wahren Schönheiten des Himmels, die die Seele vor ihrer Einkörperung gesehen hat, und so ist dieser von Platon konzeptionalisierte Liebesrausch in der Tat eine Entkörperung, ein Heraustreten der Seele aus dem Körper und in letzter Konsequenz – trotz aller physischen Symptome, in die Platon ihn uns übersetzt – eine spirituelle Erfahrung. Später, als Sokrates und Phaidros bereits mit einem neuen Thema, nämlich der rechten Organisation einer Rede, befasst sind, finden die vier Wahnsinnsformen – als Beispiel einer rhetorisch-philosophischen Dihairesis, der analytischen ‚Zerteilung‘ eines Begriffs – erneut Erwähnung (265 a). Diesmal werden sie explizit den vier Göttern zugeordnet: die Begeisterung der Propheten dem Apollon, die der ‚Weihen‘ (telestikê) dem Dionysos, die dichterische den Musen und die der Liebe Aphrodite und Eros – wobei die letztere, der Liebesrausch, den anderen dreien nach Platon qualitativ eindeutig überlegen ist. In den kargen Erläuterungen, die Platons Sokrates in der früheren Textpassage (244 d/e) dem dionysischen Rausch gewidmet hatte, begegnet ein Aspekt, der gegenüber allen bisher besprochenen Quellen neu ist: Dem dionysischen Wahnsinn wird nun weder in erster Linie eine beseligende und entgrenzende noch eine zerstörerische Wirkung nachgesagt, sondern eine heilende und lösende, also therapeutische (vgl. Graf 2010; stark psychologisierend: Dodds 1970: 48-52). Objekt dieser Heilung sind Leid, Not, aber auch alte Flüche – und es hat ganz den Anschein, als dächte Platon hier an herumziehende Wanderprediger, die, vermutlich gegen Geld, Weihen und Riten vollzogen und ihren Kunden dafür die Befreiung von ihrer physischen oder moralischen Pein versprachen. Diese Praxis mag sich mit den ebenfalls von Wanderpriestern vollzogenen Einweihungen in die orphisch-bakchischen Mysterien berühren, und es hat den Anschein, als sei in beiden Fällen – bei der Einweihung in den Kult und bei der Heilung – die Ekstase das entscheidende Medium gewesen.18 Platon scheint also das aus anderer Perspektive riskante, zum Teil gewaltsame dionysische Ekstaseritual zu funktionalisieren und so vielleicht auch zu verharmlosen. An dieser Stelle, im Phaidros, steht nicht zur Debatte, ob das Rasen in den Bergen schädlich sein könne oder aber Ausdruck eines gestörten Bewusstsein, sondern hier wird der Wahnsinn, in gleichsam homöopathischer Manier, zum positiven, nämlich beruhigenden, Gegengift gegen psychische Irritationen.

18 Vgl. Pindar, der in der 3. Pythischen Ode von einem „kathartischen Wahnsinn“ spricht (Pyth. 3, 139), sowie Platon (Nomoi 815 cd), der ebenfalls bakchische Tänze mit Katharsis in Verbindung bringt; dazu Dodds (1970: Kap. 3, Anm. 87, S. 199).

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Dabei wird ein Konzept zentral, dass uns auch in anderen Quellen zu Dionysos und seiner Ekstase begegnet: das des Lösens, der lysis. Die Initianden, denen die oben erwähnten Goldplättchen im Jenseits eine Stimme verleihen, sprechen davon, dass Dionysos sie ‚gelöst‘ habe. Das wird gelegentlich auf eine ‚Erlösung‘ aus dem irdischen Leben oder aber auf eine ‚Vergebung‘ alter Schuld bezogen. Doch könnte es nicht auch auf eine befreiende ekstatische Erfahrung anspielen? Das Lösen der Haare und der Kleider etwa – vergleichbar dem des Gürtels als Hinweis auf einen erotisch-sexuellen Akt – begegnet auch in Euripides’ Bakchen als Indiz der beginnenden Ekstase (V. 695-97). In auffälliger Häufung, nämlich gleich dreimal, finden sich in der Reisebeschreibung des Pausanias Hinweise auf eine Statue des Dionysos mit dem Beinamen Lysios, der Lösende (2,2,6: Korinth; 2,7,5: Sikyon; 9,16,6: Theben). In Korinth und Sikyon ist dieser Statue eine zweite gegenübergestellt, die Dionysos Bakchios, also den Rasenden oder Raserei Auslösenden, zeigt (vgl. Henrichs 1994: 58 mit Anm. 105; Graf 2010: 177-180). Das Verhältnis der beiden zueinander wird meist frei nach Platon gedeutet: Dionysos Bakchios, so wird angenommen, sei der Gott, der den (gefährlichen) Wahnsinn auslöst; Lysios derjenige, der die Menschen davon wieder befreit. Für Platon scheint letzteres die eigentliche Funktion des Dionysos zu sein, während ein nicht-heilendes, möglicherweise zweckfreies Rasen oder eben eine Ekstase, die außerordentliche, vielleicht auf das Jenseits verweisende Erfahrungen vermittelt, von ihm vollständig ignoriert wird. Unsere Quellen verraten uns nicht, was sich genau hinter den zwei DionysosBildern verbirgt, die die Bewohner von Korinth und Sikyon aufstellten und die die meisten modernen Forscher als Opposition deuten. Handelte es sich auch damals schon um einen Akt der Domestizierung, um den Versuch, den ungemütlichen und unkontrollierbaren Dionysos gegen sich selber auszuspielen? Wer Angst vor der Ekstase und dem mit ihr einhergehenden Verlust der Kontrolle hat, der mag vielleicht nach einem solchen Gegengift suchen. Macht man sich hingegen klar, dass die Ekstase eben gerade keine mentale Störung, kein substantieller Wahnsinn ist, sondern ein im Rahmen eines Rituals, durch bestimmte Körpertechniken künstlich erzeugter Zustand, der seine natürliche Begrenzung mit dem Ende des Rituals findet, dann ist die ‚Lösung‘ – im Sinne einer zeitlichen Begrenzung wie auch im Sinne einer emotionalen und psychischen Erleichterung – ein integraler Bestandteil des dionysischen Ekstase-Rituals und nicht sein Gegensatz.

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L ITERATUR a)

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„Manchmal tanze ich auf Dornen!“ Ekstase und Trance im Sufi-Islam J ÜRGEN W ASIM F REMBGEN

1. E INFÜHRUNG In den muslimischen Kulturen zwischen Nordafrika, dem Nahen und Mittleren Osten, Zentralasien sowie Süd- und Südostasien finden sich Phänomene mystischer Ergriffenheit, Verzückung, Ekstase, Trance und Heilung von Besessenheit insbesondere an sakralen Orten eines volkstümlichen, von der Sufi-Tradition durchdrungenen Islams. Zu dieser von Pluralität und Hybridität bestimmten Dimension eines gelebten „Islam von unten“ gehören sowohl Spiritualität als auch religiöse Alltagspraxis. Das weite Spektrum des Sufi-Islams, dessen Wesenskern aus der Verinnerlichung und der Transformation des Selbst besteht 1, umfasst in seiner sozialen Realität viele Erscheinungsformen gefühlsbetonter Religiosität, bei denen die pragmatische Aneignung von Heil und Segenskraft im Vordergrund steht. Sie entfalten ihre Wirksamkeit in lokalen Kontexten und werden fast ausschließlich mündlich tradiert. Islamische Mystiker – die Sufis – erfahren auf ihrem spirituellen Weg außergewöhnliche veränderte Bewusstseinszustände (ahwāl, Sing. hāl), die individuell oder kollektiv erlebt werden. Von dem charismatischen wundertätigen Lal Shahbaz Qalandar (1178-1274), dem „Meister der Berauschten“ und populärsten Hei-

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In den Orden oder Bruderschaften der Sufis begleitet der Meister seinen Schüler auf einem inneren Weg der Gotteserfahrung, der über verschiedenste Stationen asketischer und moralischer Disziplin führt. Durch diesen Prozess wird das Selbst des Adepten geläutert und auf das „Entwerden“ in Gott vorbereitet, die letzte Stufe mystischen Verschmelzens mit dem Höchsten (unio mystica), auf der das Ich-Bewusstsein schließlich völlig aufgehoben wird.

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ligen Pakistans, ist der folgende Vers überliefert (Inam Mohammad 1978: 11): „Erfüllt von der Liebe zum göttlichen Freund tanze ich durchs Feuer, manchmal winde ich mich im Staub, manchmal tanze ich auf Dornen.“ Solche Zustände einer Übermächtigung durch die religiöse Wirklichkeit gelten als Geschenke und Gnadenerweise Gottes. Sie werden „gefunden“ (wajd), wie der anonyme Autor eines mittelalterlichen Handbuches zur islamischen Mystik schreibt (Gramlich 1993: 134-137). Sie „bemächtigen“ sich – so heißt es weiter – der Gliedmaßen und Sinnesorgane des Findenden. Die indigene Beschreibung dieser Phänomene, die aus der diesseitigen Sphäre der Rationalität herausführen, bedient sich immer des Passivischen: Der Betreffende wird „berührt“, „getroffen“, „ergriffen“, „gepackt“, „geritten“ und „überwältigt“. So heißt es von vielen islamischen Mystikern, dass sie in Ekstase,2 nachdem sie den „Duft des Einsseins“ einatmeten, im jenseitigen „Meer der göttlichen Einheit“ „ertrinken“ und „entwerden“ (vgl. Schimmel 1985: 212; Schipperges 1972: 86). Zustände dieser Art, die den Menschen existenziell verwandeln und ihn körperlich ergreifen,3 werden nicht nur Sufis teilhaftig, sondern auch viele andere Muslime, die im Kontext eines gefühlsbetonten, von Hingabe geprägten Volksislams an ekstatischen Riten teilnehmen. Die Schreine der „Gottesfreunde“, wie die Sufi-Heiligen genannt werden, sind die sakralen Orte par excellence, um derartige Ausnahmezustände außerhalb des Rahmens etablierter Gesetzesreligion zu erfahren (Frembgen 2015: 87). Am Beispiel von drei kurzen Fallstudien aus Zentralasien, Pakistan und Marokko möchte ich im Hauptteil dieses Beitrages zeigen, wie sich religiöse Ergrif-

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Unter dem Begriff „Ekstase“ möchte ich hier – wie in der ethnologischen Religionsforschung üblich – zunächst allgemein sämtliche Arten des Nichtrationalen verstehen. Im Weiteren wird in den Studien zum Sufismus im Kontext verinnerlichter spiritueller Zustände bei Sufis (etwa im Zuge der Riten des Gottgedenkens) meist von „Ekstase“ gesprochen, während der Begriff „Trance“ eher im Kontext heftig ausagierter volksreligiöser Riten des Tanzes und der Besessenheit zur Anwendung kommt (vgl. Babès 2000: 24).

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Im adab al-mulūk heißt es entsprechend: „Es gehört zur Wirklichkeit der Verzückung, dass sie den Verzückten nicht in dem Zustand, [der Eigenschaft] und der Verfassung zurücklässt, die ihm vor seiner Verzückung eigen waren. Denn die Verzückung verwandelt. Wenn immer eine Verzückung jemanden nicht ändert und nicht von seinem Zustand [zur] Zunahme … in den äußeren Werken des Gehorsams führt, dann ist das keine Wirklichkeit, da die Verzückung das Innerste wandelt und die Glieder infolge der Überwältigung des Innersten Werke des Gehorsams und gute Taten [vollbringen lässt]“ (Gramlich 1993: 30).

„M ANCHMAL TANZE ICH AUF DORNEN!“

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fenheit einerseits zu Erfülltheit steigern und durch eine Überdehnung der Sinne Zustände von Ekstase und Trance hervorrufen kann, und andererseits zu „Besessenheit“ führen kann, die im Rahmen peripherer Kulte therapiert wird. Zustände dieser Art haben Ausnahmecharakter, so bemerkt Jürg Zutt (1972: 11) treffend: „Das Ergreifende erhebt sich wie eine Woge aus dem endlos weiten Meer unserer alltäglichen Welt des Selbstverständlichen, die uns umgibt und die uns trägt.“ Sakraldrogen, wie Haschisch und Opium, werden bei manchen rituellen Ekstasen verwendet, um Pforten der Wahrnehmung zu öffnen und den Betreffenden in einen körperlosen, visionären Zustand zu versetzen, der zu einer tieferen Erkenntnis des göttlichen Wesens führt, doch sind Musik und die Rezitation von Koranversen und Poesie in der Regel gängigere Methoden, um in veränderte Wachbewusstseinszustände zu gelangen.

2. E KSTATISCHES S UFI -G OTTGEDENKEN UND SCHAMANISCHER H EILRITUS BEI DEN T URKMENEN Z ENTRALASIENS Das rituelle, in Heiligenschreinen, Moscheen und Konventen durchgeführte Gottgedenken (dhikr) gehört zu den wichtigsten Andachtsformen der Sufis. Durch die stete Wiederholung bestimmter magischer, machtverleihender Formeln, die sich je nach Sufi-Bruderschaften voneinander unterscheiden, wird das Selbst im Gedenken an Gott schrittweise aufgelöst. So entsteht durch Fokussierung der Aufmerksamkeit eine unmittelbare Gottesnähe. Im dhikr erfahren Mystiker die göttliche Macht unmittelbar emotional und körperlich – sie werden durch Gott ergriffen und begegnen ihm (Frembgen 2008b: 157). Neben dem stillen, im Herzen oder in der Seele gesprochenen dhikr gibt es bei manchen SufiGruppen laut rhythmisierte Formeln, die ekstatisch intoniert werden. Stoßartig hervorgebrachte Worte führen zu Überwachheit und Überstimulierung, einer Art input overload, wie etwa bei den Rifa‘i-Sufis, deren Bruderschaft von SüdostEuropa bis nach Indien verbreitet ist. Nach der Rezitation des ersten Teils der Glaubensformel, lā ilāha illā llah, werden sie durch göttliche Kraft zu karamat (Wundertaten) ermächtigt und verletzen sich im Zustand ritueller Ekstase und Raserei mit eisernen Spießen und anderen Waffen.4 Ähnlich ekstatischen Charakter hat der „Säge-dhikr“, den die Sufis der zentralasiatischen Yasawiyya-

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Vgl. Pinto 2013 (mit Bezug auf Rituale im syrischen Aleppo). Zu weiteren außergewöhnlichen Formen der Ekstase bei Sufis der Rifa’iyya, Sa’diyya sowie nordafrikanischen Orden, siehe Frembgen (2008b: 176-183).

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Bruderschaft praktizieren.5 Dabei folgt auf die Formel huwā-haq („Er ist die Wahrheit“) die wie das Geräusch einer Säge hervorgebrachte Anrufung huwā-hu („Er ist Er“, d.h. alles). Wenngleich die im 12. Jahrhundert von Hodja Ahmad Yasawi (gest. 1166) gegründete Yasawiyya ihr Zentrum im südlichen Kasachstan und nördlichen Usbekistan hat, so wurde diese ekstatische Form des Gottgedenkens im Laufe der Islamisierung der Nomadenvölker im 13. und 14. Jahrhundert auch weiter in den Westen Zentralasiens bis zu den Turkmenen hin verbreitet (Bennigsen/Wimbush 1986: 61, 101, 104; Demidov 1988: 42-45; Sultanova 2014: 29, 39). Noch bis in die 1930er-Jahre, so berichtet V. N. Basilov (1984: 230-232; vgl. Demidov 1988: 57, 87-93), führten die Turkmenen des Ata-Stammes ein stark vom Schamanismus geprägtes dhikr-Ritual (turkmenisch zikir pily) durch.

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Dieser „Säge-dhikr“ wird der Überlieferung nach zu Ehren des Propheten Zacharias durchgeführt, der den Märtyrertod starb: Er verbarg sich vor seinen Feinden in einem hohlen Baum, dessen Höhlung rasch zusammenwuchs. „Von außen sah man nur einen Zipfel seines Hemdes, worüber eine verräterische Elster die sich nähernden Feinde in Kenntnis setzte. Die Feinde schickten sich an, den Baum zusammen mit dem Zacharias durchzusägen. Solange der Prophet lebendig war, exklamierte er und sang verschiedene Gedichte, die Gott lobpreisten. Diese Gedichte und Exklamationen wurden später angeblich auch während des zikr abgehalten, das zu Ehren des Märtyrertodes von Zacharias veranstaltet wurde. Der kennzeichnende Refrain huw-huu, den die meisten Teilnehmer am zikr wiederholen, würde den Laut der Säge imitieren, die den Propheten tötete“ (Demidov 1988: 88). In volkstümlichen islamischen Legenden über Zacharias heißt es weiter, dass der Baum schließlich abgesägt und der Prophet in zwei Hälften zerteilt wurde.

„M ANCHMAL TANZE ICH AUF DORNEN!“

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Abbildung 1: Grab des Heiligen Chopan Ata am Rand der iranischen Turkmenensteppe

Foto: J. W. Frembgen

Als Träger heiliger Würde werden die Ata, die in kleinen Gruppen vornehmlich im Südwesten des turkmenischen Kernlandes siedeln, von den großen Stämmen der Yomut- und Tekke-Turkmenen besonders verehrt. Ihnen wird die Gabe zugesprochen, durch die Kräfte ihres eponymen Vorfahren, des legendenumwobenen Sufi-Heiligen Gözli-Ata, der seinerseits ein Schüler von Hodja Ahmad Yasawi war, Kranke heilen zu können.6 Unter den Turkmenen praktizierten nur Männer aus der Gruppe der Ata das Gottgedenken in seiner laut vernehmlichen Form im Rahmen eines Ritus, in dessen Verlauf von Geistern oder Dämonen Besessene geheilt wurden. Der dhikr fand entweder an den Schreinen der Sufi-

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Zu dem Begriff atā und der Beziehung zu Hodja Ahmad Yasawi schreibt Demidov: „Atā wurden die Nachfolger Hodja Ahmads in Yasi (der heutigen Stadt Turkestan im südlichen Kasachstan, Anm. d. Verf.), aber auch viele sufische Persönlichkeiten und Anhänger seiner Schule, darunter die mit der turkmenischen Umgebung verbundenen Mystiker Hakīm Atā, Sa’īd Atā, Gözli Atā u.a. genannt. Es ist übrigens nicht auszuschließen, dass auch Hodja Ahmad gewisse indirekte Kontakte zu den Turkmenen besaß“ (1988: 45). Zu Gözli Ata vgl. Demidov (1988: 54-60).

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Heiligen statt oder in der Steppe in einer großen Jurte. Handelte es sich um ein solches Wohnzelt, so wurden die Dachfilze entfernt, damit schaulustige Männer und Frauen dem Ritual beiwohnen konnten. Der dhikr begann entweder am Morgen oder am Abend mit der Segensgewährung durch den Nachkommen einer lokalen Heiligenfamilie und konnte mit Unterbrechungen mehrere Tage, ja Wochen dauern. Die wichtigsten Offizianten des Rituals waren der Sufi-Scheich (häufig zwei oder mehrere), der sich in einen Zustand der Trance versetzte, sowie ein Rezitator, der heilige Verse verschiedener Sufi-Dichter vortrug. Beide mussten aus der Gruppe der Ata stammen. Zu denjenigen, die das Gottgedenken durchführten, durften auch Mitglieder anderer Turkmenen-Stämme gehören. Die ständige Rezitation der Verse und die gutturalen, sägeartigen Anrufungen Gottes durch die in einem Kreis um den Scheich stehenden, sich rhythmisch bewegenden dhikr-Teilnehmer erregten diesen schließlich in einem Maße, dass er in einen Trancezustand „fiel“ (turkmenisch yikylmak: „fallen“). Basilov beschreibt, wie sich der Scheich ekstatisch zu bewegen begann und seinen Kopf gegen das Scherengitter der Jurte schlug. Er verweist auf Augenzeugen, die berichteten, dass ein korpulenter Scheich mit Leichtigkeit über das Scherengitter, das die Wände des Rundzeltes bildet, in den kuppelförmigen Dachkranz gestiegen sei, ein anderer sprang in die Höhe und lief „wie eine Fliege“ entlang des vertikalen Scherengitters. Während des dhikr schlug der Scheich den Kranken – ob Mann, Frau oder Kind – mit der Hand ins Gesicht oder auf den Rücken, presste ihren Kopf zusammen, peitschte sie oder warf sie gegen die Gitterstäbe, um den männlichen oder weiblichen Geist auszutreiben. Er weissagte die Zukunft, indem er Fragen beantwortete, die ihm zugerufen wurden. Er wusste, wer von den Anwesenden seine religiösen Waschungen versäumt hatte, und trieb den Betreffenden umgehend davon. In diesem Ausnahmezustand habe der Scheich kein Schmerzempfinden gehabt, er ließ sich vom Dachkranz auf den Boden fallen, warf sich ins Herdfeuer oder goss sich kochendes Teewasser aus dem Samowar über seinen Körper (Basilov 1984: 231). Er vermochte auch, barfüßig über glühende Kohlen zu laufen und über eine niedrige Jurte (chatma) zu springen (Demidov 1988: 91). Bei einem anderen schamanischen Ritus nahe dem Grab von Gözli-Ata im heutigen südlichen Turkmenistan, das Basilov schildert (1984: 231), soll der Scheich ein dem Wahnsinn verfallenes Mädchen geheilt haben, indem er die Krankheit verursachenden Geister, bei denen es sich um ungläubige jinn handelte, auf folgende Weise tötete: Während der Rezitator heilige Verse vortrug, begann der Scheich nach den rot glühenden Kohlen eines Feuers zu greifen. Das Mädchen, dessen Hände und Füße zusammengebunden waren, lag vor ihm – drei Schmetterlinge gaukelten über seinem Kopf. Als der Scheich mit seinen Hand-

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flächen über die Kohlen strich, fiel einer der Schmetterlinge tot zu Boden. Der Scheich rieb ein zweites Mal über die glühenden Kohlen und der zweite Schmetterling lag bewegungslos da. So geschah es auch beim dritten. Das Mädchen soll in diesem Fall durch die Heilkraft Gözli-Atas, die der Scheich weitergab, umgehend gesund geworden sein. Allerdings heißt es, dass Scheichs in anderen Fällen auch die Kräfte von „gläubigen muslimischen“ Hilfsgeistern nutzten, die ihnen untertan waren (Basilov 1984: 232). Die rituelle Praxis dieser Heiler aus dem Stamm der Ata, bei denen es sich nicht nur um Männer, sondern auch um Frauen handeln konnte, wird heute insbesondere bei den Turkmenen im Nordosten des Iran von dem purkhān genannten Schamanen und Geisterseher weitergeführt, der sich durch das Spiel auf der Langhalslaute dutār und das Singen sufischer Litaneien und Verse in einen Trancezustand versetzt (Alimardanian 2013; vgl. Basilov 1984: 233, 237). Sufisch geprägte ekstatische dhikr sind andererseits bis heute gängiger Bestandteil turkmenischer Hochzeitsriten (Sultanova 2014: 95). Im Heil-dhikr der Ata erscheint der schamanische Part des Scheichs prägnanter als die durch Versvortrag und Gottgedenken bestimmten rituellen Elemente des Sufismus.

3. T RANCE -T ANZ AM S CHREIN DES S UFI -H EILIGEN L AL S HAHBAZ Q ALANDAR IN P AKISTAN Neben den eingangs zitierten Worten „Manchmal tanze ich auf Dornen!“ ist von Lal Shahbaz, zu Deutsch dem „roten Königsfalken“, auch die Verszeile überliefert: „Ich weiß nichts außer Liebe, Rausch und Ekstase“ (Frembgen 2011). Eines seiner lyrischen Gedichte endet mit der Zeile: „Ich trage ein Geheimnis in meinem Herzen, das mich zwingt zu tanzen.“ (Frembgen 2012: 84-85) Dieses von Gott geschenkte Geheimnis bezieht sich offenbar auf ein existenzielles esoterisches Wissen über das Unsagbare. Der Wirbeltanz war Ausdruck seiner glühenden Gottesliebe und seiner mystischen Vereinigung mit dem Göttlichen. Als Exponent der asketischen Qalandar-Bewegung, dessen Anhänger sich seit dem frühen 13. Jahrhundert mit ihrer Lebensweise nicht nur gegen herrschende soziale Konventionen, sondern auch gegen den Schrift-Islam und die Gelehrsamkeit der Sufis etablierter Bruderschaften wendeten, propagierte der Heilige eine ausgesprochene Rauschmystik. Sufis, Derwische und Fakire der Qalandariyya suchen daher bis heute die unmittelbare Erfahrung des Göttlichen in Rausch und Ekstase. Solche Bewusstseinszustände gehören vornehmlich zu den religiösen Ausdrucksformen eines ‚informellen‘ und ‚populären‘ Sufi-Islam, der in Pakistan an den Heiligenschreinen gelebt wird.

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Das Grabmal von Lal Shahbaz Qalandar in Sehwan Sharif, einer Kleinstadt am Indus in der pakistanischen Provinz Sindh, gilt als einer der wichtigsten sakralen Orte in Südasien für die „getanzte Religion“ des dhamāl, einer Ritualpraxis, die charakterisiert wird durch mastī-o-qalandarī – „ekstatische Verzückung“ und „Qalandartum“.7 Dhamāl bedeutet so viel wie „wild“, „ausgelassen“ und „übererregt“. Dieser ekstatische Tanz der Hingabe an Gott, den Propheten, an Lal Shahbaz Qalandar und weitere schiitische Heilige geht ursprünglich wohl auf das Ritual einer mystischen Vereinigung mit der hinduistischen Rauschgottheit Shiva zurück, der in vorislamischer Zeit in Sehwan Sharif verehrt wurde. Er ist in komplexe sozio-religiöse Kontexte eingebunden, wobei zwischen drei verschiedenen Typen der Performanz mit jeweils eigenen ästhetischen Stilen unterschieden werden kann. Die in die Qalandariyya-Bruderschaft initiierten Derwische folgen im Drehtanz zu den Schlägen der Kesselpauken mimetisch dem Vorbild ihres verehrten Lal Shahbaz. Für sie ist der Tanz eine Form des Gebets. Das gleiche gilt für die ‚habituellen‘ Tänzer, die sich ganz dieser rituellen Praxis verschrieben haben. Ekstase und Rausch sind ihre wesentlichen Formen der Erfahrung, wobei sie ihren außergewöhnlichen spirituellen Zustand (hāl) häufig durch den Gebrauch von Cannabis-Sakraldrogen intensivieren. In ihrem Tanz zum hypnotisch repetitiven Sound der Fasstrommeln spielen Schnelligkeit der Bewegungen und Virtuosität eine wichtige Rolle, um ihre Trance zu meistern. Derwische und habituelle Tänzer (dhamālīs) zeichnet in diesem Sinne ein höherer Grad der Entrückung im Vergleich zur Mehrheit der Laienanhänger aus. Letztere tanzen mit eher stereotypen und ritualisierten Bewegungen, doch in einer feiernden, ausgelassenen Stimmung, die sich zu einem orgiastischen Reigen steigern kann. Für sie ist dhamāl Opfergabe an den Qalandar, von dem sie sich die Erfüllung ihrer Wünsche erhoffen. Um einen Eindruck von der Intensität des Trancetanzes zu geben, möchte ich im Folgenden einige Passagen aus ethnographischen Erzählberichten zitieren, die aufgrund meiner Erfahrungen an pakistanischen Heiligenschreinen entstanden. Zunächst werden Performer aus dem Kreis der Pilger am Grabmal von Lal Shahbaz Qalandar vorgestellt: „Die Tanzenden im Hof sind nicht nach Geschlechtern getrennt. Die meisten Tänzer sind allerdings Männer. In Gruppen von etwa zwanzig bis vierzig Personen bewegen sie sich in unterschiedlicher Intensität, aber weitgehend synchron und eng beieinander, die Gesichter

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Der Ausdruck „danced religion“ ist dem Werk von I. M. Lewis (1989) entlehnt. Im vorliegenden Kapitel stütze ich mich vor allem auf meinen längeren Aufsatz zum Trancetanz dhamāl (Frembgen 2012), sofern nicht auf andere Quellen verwiesen wird.

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zum Grab des Qalandar gerichtet, mit erhobenen, abgewinkelten Armen. Manche stampfen rhythmisch mit den Füßen, andere heben sie nur wenig an, wieder andere trippeln mit kurzen Schritten vor und zurück. Einige werfen ihren Kopf ekstatisch hin und her, viele lassen ihn dem Takt der dhol-Trommel folgend kreisen. Mir kommt die Formulierung „gezügelte Zügellosigkeit“ in den Sinn, die ich in einem ethnologischen Fachbuch gelesen hatte.8 Doch sind einige Tänzer dabei, die sich geradezu wild, rasend und fiebrig gebärden, sie brechen die Ordnung auf durch ihre abrupten Sprünge in die Luft. Dazwischen schwarzgekleidete, kahl rasierte Derwische, die ihr Blashorn hoch in die Luft recken oder auch ihre hölzernen Keulen, mit denen sie bei der Zubereitung von Rauschmitteln im Mörser Hanf zerstoßen.“ (Frembgen 2008a: 54)

Noch rauschhafter erschien die Trance einer jungen Frau, die ich im Oktober 2003 während des jährlichen Heiligenfestes in Sehwan Sharif beobachten konnte: „ […] mehrere Frauen (tanzen) mit weiten, ausladenden Bewegungen ihrer Arme, sich drehend, kreisend, andere impulsiv und wild. Dem Rhythmus der dhol folgend tanzen sie vor und zurück und von rechts nach links, biegen und schwingen ihren Körper mit weichen, anmutigen Bewegungen. Sie wenden sich mit Leidenschaft dem Qalandar zu, ohne Rücksicht auf das sonst geltende gesellschaftlich angemessene Verhalten in der Öffentlichkeit. Ich beobachte eine junge Frau in taubenblauem Gewand, die auf dem Boden sitzt. Die zusammengelegten Hände hält sie in Richtung Heiligengrab in einer Geste des Bittens. Dann löst sie ihr geflochtenes Haar und beginnt mit dem Kopf zu kreisen, sich langsam steigernd, beugt ihren Oberkörper nach vorne, stützt ihre Arme auf dem Boden ab und wirbelt schließlich, wobei ihre rückenlangen Haare wie ein Ventilator rotieren. Dann kniet sie sich hin und wirbelt weiter in Raserei, keucht, schreit, kreischt, „kehrt“ mit ihrem Haar den Boden des Hofes. Ihr Tanz scheint wirklich eine Opfergabe an den Qalandar zu sein. Auf dem Höhepunkt der Trance, anscheinend völlig außer sich, springt sie abrupt hoch, will mit dem Kopf auf den Boden aufschlagen und kann gerade noch zurückgehalten werden. Mit einem Mal fällt sie kataleptisch zu Boden, schweißüberströmt, bleibt minutenlang schwer atmend liegen und wird schließlich von einer Frau und einem Mann völlig ermattet weggeführt.“ (Frembgen 2008a: 57)

Am Schrein von Shah Jamal in Lahore wird im kollektiven Ritual des Trancetanzes neben dem Lokalheiligen auch dem großen Lal Shahbaz Qalandar ge-

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Damit greife ich eine Formulierung des Kulturanthropologen W. E. Mühlmann (1972: 73) auf, die dieser im Kontext schamanischer Séancen und kollektiver Ekstasen anwendete.

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huldigt. Im Fall des im Folgenden beschriebenen dhamāl treten ausschließlich erfahrene, ‚habituelle‘ Tänzer auf, von denen einige mit Messingschellen besetzte Manschetten um ihre Waden gebunden hatten, wie sie sonst von professionellen Tänzerinnen getragen werden. Abbildung 2: Trancetänzer in Sehwan Sharif

Foto: Aly Bossin „Die Trommelrhythmen verdichteten sich, wurden komplexer, um sich schließlich zu einem peitschenden Sound zu steigern – darauf reagierten die Tänzer mit immer ekstatischeren Bewegungen, Drehungen und Sprüngen. Manche liefen auf der Stelle und hüpften im Rhythmus der Trommeln, andere bewegten ihre Schultern ruckartig vor und zurück oder wirbelten mit dem Kopf, die Arme dabei eng an den Körper angelegt. Dann wieder rhythmische Muster, deren Struktur klarer und einfacher erschien – Stampfen mit den Füßen und Trippelschritte vor und zurück. […] Je geübter und erfahrener die Tänzer, desto mehr suchen sie die Nähe zu Pappus dhol, instinktiv auf ihren Sound reagierend. […] Nasir bewegte sich in seiner Trance mit höchster Eleganz, manchmal in einer gebückten Haltung der Ehrfurcht; fasziniert beobachtete ich,

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wie er sich unmittelbar vor der Trommel des Meisters platzierte, seine Arme nach oben gestreckt und mit dem Kopf wirbelnd, wie er sich sinnlich an das Instrument schmiegte wie an den Körper einer Frau. Nun drehte er sich herum, wandte der dhol seinen Rücken zu, immer noch wie in einer innigen Umarmung, und es schien, als ob er sie hinter sich herlocken wollte. Als sich Pappu tatsächlich mit Trippelschritten in die Mitte des Tanzkreises bewegte, drängte, ja trieb er Nasir mit der Trommel, die er unablässig schlug, vor sich her; die Schritte der beiden steigerten sich zu einem ekstatischen Lauf, während die übrigen Tänzer wie selbstverständlich einen äußeren Kreis bildeten. Hinter Pappu folgte Arif Sain, durchdringend in sein Horn blasend. Dann wieder veränderte sich die Choreographie, denn Pappu eilte mit seiner dhol die Außenlinie entlang, sämtliche Trancetänzer folgten ihm. Dabei deklamierte er ‚Allah-i mast, Maula-i mast – berauschter Allah, berauschter Maula Ali‘, eine hymnische Anrufung, die Tänzer und Zuschauer mit ‚mast Qalandar – berauschter Qalandar‘ beantworteten. Nun begann sich Pappu mit seiner dhol um die eigene Achse zu drehen, kreiste unablässig trommelnd mit ihr über die gesamte Tanzfläche, schleuderte sie um sich, wobei ihr die Tänzer behände auswichen […].“ (Frembgen 2010: 90-91)

Sämtliche Protagonisten des dhamāl, der immer barfuß getanzt wird, fühlen sich nach ihren eigenen Aussagen miteinander vereint durch die tief empfundene Liebe zu Gott und den Heiligen. Die Kraft dieser Liebe führt zu einer rauschhaften Wahrnehmung und Erfahrung der Gegenwart des Qalandar-Heiligen durch einen ‚flow‘ ekstatischer Verzückung und Freude mit erotischen Konnotationen. Abbildung 3: Gruppe von professionellen Trancetänzern in Sehwan Sharif

Foto: J. W. Frembgen

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Im Tanz erleben die Akteure eine „enge Verbindung zwischen ihrem Herzen und Gott“, eine „Reinigung ihrer Seele“ und „Auflösung ihres Ichs“ sowie ein „Öffnen der Tore des Paradieses“ (Frembgen 2012: 88). Die hymnischen Anrufungen, die Tanz und Trommelspiel begleiten, gelten als Gnadengaben der Heiligen der Qalandariyya (Selsing 2010: 56-57). Sie stellen einen zentralen Aspekt des dhamāl dar. Es ist wichtig hervorzuheben, dass zu den drei genannten Gruppen von Akteuren sowohl Männer als auch Frauen gehören, obwohl erstere deutlich in der Mehrheit sind. Im Hinblick auf den hāl, den Trancezustand beim Tanz, ist abschließend festzustellen, dass dieser trotz unterschiedlicher Ausdrucksformen in der Performativität der Akteure durchaus authentisch erscheint. Als körperliche und geistige Erfahrung ist dhamāl sowohl außergewöhnliches Erlebnis als auch typisch, habituell und nach tradierten Mustern strukturiert. Diejenigen, die regelmäßig in hāl gehen, beschreiben dies als ein „Sinken“ oder „Eintauchen in den Ozean der Liebe“, sie spüren die energetische Gegenwart Lal Shahbaz Qalandars als Duft oder Wärme. Auf diese Weise erfahren die Trancetänzer eine Transformation ihres Selbst, ihnen wird Segens- und Heilkraft übertragen, sie werden innerlich gereinigt und durch die Nähe des Göttlichen ermächtigt.

4. H EILUNG VON B ESESSENHEIT IM T RANCE -K ULT DER G NAWA IN M AROKKO Während das ekstatische Gottgedenken bei den Turkmenen und der rauschhafte Tanz an Sufi-Schreinen in Pakistan von Trance-Zuständen bestimmt werden, die durch unmittelbare mystische Erfahrungen der Vereinigung mit Gott und der Begegnung mit Heiligen hervorgerufen sind, gibt es Formen einer „Besessenheitstrance“, in deren Zentrum die Intrusion durch kapriziöse und dämonische Geister steht. Letztere sind im muslimischen Kulturraum Teil mystischer Kollektivvorstellungen. Für Menschen, die an sie glauben, entsprechen sie einer sozialen Realität und sind keineswegs Illusionen, sondern allgegenwärtig. „Geister sind typische Übergangsexistenzen zwischen den geordneten Welten der Götter und Menschen“, wie Klaus E. Müller bemerkt (2004: 94). Dem Volksglauben entsprechend verursachen Geister Krankheiten, geistige Verwirrung und Leiden, deren Ursachen auf den „bösen Blick“, Praktiken der Schadensmagie und allgemein auf unheilvolle Kräfte aus der Welt des Unsichtbaren zurückgeführt werden. Trance erscheint in diesem Kontext als somatische Ausdrucksform von Besessenheit durch Geistwesen, die im Rahmen komplexer Riten therapiert wird.

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Wie I. M. Lewis (1989) in seiner komparativen soziologischen Untersuchung zur Besessenheitserfahrung gezeigt hat, sind solche universal auftretenden Formen ekstatischer Religiosität besonders unter marginalisierten Gruppen verbreitet. Sie werden im Rahmen peripherer Therapiekulte behandelt, in Marokko beispielsweise von der Sufi-Bruderschaft der Gnawa, die ursprünglich von Nachfahren schwarzafrikanischer Sklaven begründet wurde (zum Folgenden siehe Hell 2002; Müller 2014; Rausch 2000; Welte 1990).9 Dieser aus Westafrika stammende Kult wurde schließlich in die berberische Heiligenverehrung Marokkos integriert. Als ihr legendärer Ahnherr wird Sidi Bilal verehrt, ein freigelassener schwarzer Sklave, den der Prophet Muhammad zu seinem Gebetsrufer ernannte. Der Überlieferung nach heilte er die Prophetentochter Fatima von ihrer Melancholie (Müller 2014: 170). Die Ritualgemeinschaft der Gnawa steht zudem unter dem besonderen Schutz des mächtigen Sufi-Heiligen Abdul Qadir Jilani (1088-1166), der nicht nur den größten Sufi-Orden der muslimischen Welt, die Qadiriyya, gründete, sondern auch weithin als Nothelfer der Armen und Schwachen, besonders der Frauen, verehrt wird (Babès 2000: 21-22). Eine essenzielle Rolle bei der Ausrichtung des Trancerituals, der hadra – „Gegenwart der Geister“ oder līla – „Nacht“, spielt ein Ensemble aus Musikern und Akrobaten, deren Oberhaupt, der m’āllim, die dreisaitige gembrī-Laute spielt. Die Basslaute wird nach den Überzeugungen der Kultteilnehmer von einem Geist bewohnt, der die anderen Geistwesen herbeizwingt. Sie ist also eine Stimme des Unsichtbaren. Neben dem m’āllim gibt es einen männlichen oder weiblichen Kultleiter (m’qaddem), der als Medium der Geister fungiert und diese szenisch darstellt, sowie acht bis zehn weitere Musiker und Tänzer, die singen und vornehmlich die für den Sound der Gnawa-Musik so charakteristischen Eisenklappern (qarqaba, krakeb) spielen. Die Musiker tragen eine spezifische Ritualkleidung – manchmal bunt oder aber im Süden Marokkos auch nur weiß – mit gehäkelten Wollmützchen, an denen eine lange Quaste befestigt ist, die im Tanz bei den rasenden Drehungen des Kopfes die Rotationsbewegung mit unterstützt. Ihre Musikinstrumente sind mit Kaurischneckengehäusen geschmückt. Trance-induzierend wirken insbesondere das Trommeln, das rhythmische Händeklatschen und die repetitiven Anrufungen an die Heiligen. Die Akteure des Besessenheitskultes stammen aus sozial heterogenen Gruppen. Zu den Medien gehören überwiegend Frauen und nur wenige Männer. Vielfach handelt es sich um geschiedene oder verstoßene Frauen, die Männer stehen häufig außerhalb des bürgerlichen Lebens, manche von ihnen verspüren eine

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Für weitere Angaben und die kritische Durchsicht dieses Kapitels danke ich meinem Kollegen und Freund Mohcine Ait Ramdan, M.A.

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Neigung, als Transvestiten aufzutreten, sind homo- und bisexuell oder intersexuell. Ihr Leidensdruck führt dazu, dass ihrem Tranceverhalten Suchtcharakter eignet. Aufgrund ihrer Vertrautheit mit der Geisterwelt werden einige von ihnen im Laufe der Zeit zu Wahrsagern und Heilern, die über eigene Schutzgeister gebieten. Gegenstand einer nächtlichen hadra, an denen über die genannten Akteure hinaus, auch zahlreiche Gäste und zufällige Zuschauer teilnehmen, sind dramaturgisch aufgebaute Geisterbeschwörungen. Zum rituellen Ablauf gehören zunächst der feierliche Einzug der Musiker, die Anrufung Gottes und des Propheten, ein Tieropfer (meist Schaf oder Ziege) dann spezielle musikalische Rhythmen zu pantomimischen Szenen und spektakulären Tanzdarbietungen – zum Beispiel Feuer- und Wassertänze, das gemeinsame Festessen, die Weihung von Kultobjekten durch Räuchern und schließlich nach Mitternacht bis zum frühen Morgen das Erscheinen der Besessenheitsgeister (Sg. melk, Pl. mlūk; Arab. jinn). Abbildung 4: Weihe der Opferziege zu Beginn einer hadra in Marrakesch

Foto: J. W. Frembgen

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In diesem sakralen Hauptteil der hadra geht es darum, die Krankheit verursachenden ungläubigen Geister zu ehren, zu besänftigen und im Sinne einer working relationship einen Ausgleich mit ihnen zu finden. Die hadra besteht aus einem Wechsel der szenischen Darstellung des jeweiligen Geistes, der durch die Farbe der Kleidung, einen spezifischen Duft und weitere Accessoires kenntlich gemacht wird, und rasendem Trancetanz. In Marrakesch handelt es sich um sieben Gruppen von mlūk, die jeweils verschiedene Energien verkörpern und sich auf unterschiedliche Weise in der Trance manifestieren. Da unser Augenmerk thematisch auf den veränderten Bewusstseinszuständen im Gnawa-Kult liegt, hier zunächst die Schilderung einer kontrollierten Trance (hāl), die mein Freund Stephan Müller in Marrakesch beobachtete. Der m’qaddem tritt auf, als der Rhythmus des „Nebelhaften“ angestimmt wird, eines schwarzen „Sohnes des Sudan“, der zu den „Söhnen des Waldes“ gehört, einer Kategorie von besonders wilden und schwer zu bändigenden Geistern: „Plötzlich steht Ahmed in der Mitte des Raumes. Bis jetzt hat er ruhig an der Seite der Musiker gesessen. In der Hand trägt er zwei große Schlachtermesser. Mit schnellen, energetischen Schritten drängt er sich durch das Getümmel nach vorne, hält die Messer über das Weihrauchgefäß, verbeugt sich in die vier Himmelsrichtungen. Dann beginnt er zu tanzen, die Messer in beiden Händen haltend: ‚Sohn des Waldes, willkommen Hüter des Eingangs des Waldes, willkommen Meister der Türen zum Sudan, willkommen Beschützer der Gnaoua, willkommen‘ Die Atmosphäre im Raum verändert sich, die Präsenz von etwas Größerem, von etwas, was uns Menschen übersteigt, wird spürbar. Mimoun, der Herr des Eisens, ist da. Der Tanz Mimouns wird immer intensiver, er dreht sich im Kreis, wild mit den Messern fuchtelnd, mit feurigem Blick. Und dann beginnt er mit einer unglaublichen Heftigkeit zu schneiden, an Armen, Beinen, Zunge, ohne sich auch nur im Geringsten zu verletzen. Allmählich setzen die Qarqabat aus und Mimoun tanzt alleine, nur noch der Klang der Guembri und seine Schritte sind hörbar, bis sich die Musik und der Tanz in der Stille auflösen.“ (Müller 2014: 161-162)

Nach dem rasenden Messertanz, den der Kultleiter selbst steuert, drückt dieser einigen Anwesenden die Klingen an Kopf, Nacken und andere Körperstellen, um heilende Energien zu übertragen. Beim Erscheinen der Besessenheitsgeister, wenn die Medien ihren Körper einem melk als Gefäß zur Verfügung stellen, kommt es zu Formen der Trance, bei denen Frauen und Männer diesem Zustand ausgeliefert sind (Welte 1990: 181). Frank Maurice Welte, der den Gnawa-Kult

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in Meknes im Rahmen teilnehmender Beobachtung systematisch erforscht hat, stellt fest, dass die höchste Intensität der Trance während der letzten Liedgruppe (mhalla) der hadra erreicht wird, die Lalla ‘A’isha geweiht ist, dem wichtigsten weiblichen Geist innerhalb des marokkanischen Geisterkosmos. Über diesen rasenden Trancezustand schreibt er: „Der Trance sehr förderlich ist das Löschen des Lichts, das diese mhalla fordert. Die Dunkelheit bietet den Tanzenden zusätzliche Intimität, die sonst nur aus dem Schließen der Augen besteht. Äußert sich die Trance der Tanzenden sonst durch Tanzbewegungen und Katalepsien, stöhnen und schreien die Tanzenden bei der mhalla Lalla ‘A’ishas zusätzlich mit äußerster Hingabe. Werden am Ende des Rhythmus die Lichter wieder entzündet, sieht man die Tanzenden in kataleptischen Zuckungen auf dem Boden liegen.“ (Welte 1990: 182)

Das Stöhnen weist deutlich auf die erotischen Komponenten eines tiefen Tranceerlebnisses hin, die ebenso Teil ähnlicher ekstatischer Riten im Mittleren Osten und in Südasien sind. Der menschliche Körper, den der Geist heimsucht, gebärdet sich wild und tanzt so lange frenetisch, bis der melk (Geist) schließlich befriedigt ist und ihn nach dem kataleptischen Zusammenbruch verlässt (Rausch 2000: 190). Die negative Energie ist entwichen und der Adept kann sich wieder regenerieren. Das innere Chaos ist wieder in eine wenn auch labile Ordnung gebracht worden.

5. C ONCLUSIO Die drei Fallbeispiele aus dem Lebensraum der Turkmenen, aus Pakistan und Marokko haben gezeigt, welche unterschiedlichen Formen ekstatischer Begegnung mit dem Göttlichen, den Kräften der Sufi-Heiligen und der Geisterwelt in muslimischen Kulturen vorkommen. Es handelt sich um Tranceerlebnisse, die wesentliche Bestandteile von Ritualen darstellen. Dabei kommt es einerseits zu körperlichen Veränderungen, etwa erhöhtem Pulsschlag, beschleunigter Atmung, Schweißausbrüchen, Zittern und Zuckungen, und andererseits zu psychologischen Erlebnisaspekten, nämlich dem Eintritt in eine andere Wirklichkeit mit Gefühlen des Wohlbefindens und der Euphorie (Goodman 2003: 206-207). Transzendentale Erfahrungen der beschriebenen Art, die von den Akteuren in Zuständen der Verzückung, Ekstase und Trance erlebt werden, gehören zum weiten Spektrum eines populären theologiefernen Sufi-Islams, der dank seiner ihm eigenen Fähigkeit zur Anpassung, eine Fülle lokaler volksreligiöser Prakti-

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ken überprägt und damit sinnstiftend in sein Glaubenssystem integriert hat (vgl. Lewis 1989: 93). Ekstase und Trance führen aus der gewöhnlichen Alltagswelt mit ihrer zweckorientierten Rationalität und ihrem logozentrischen Geist hinaus in Sphären des Unsichtbaren, in eine spirituelle Welt der Geheimnisse, die nur durch den Glauben wahrnehmbar und verstehbar ist. Angesichts der gegenwärtig hegemonialen, an einem „einseitig materialistischen Erfahrungsverständnis orientierten Weltanschauung“ (Müller 2004: 106), der „wahren Religion der Moderne“ (Babès 2000: 16), die sich ebenso über den muslimischen Kulturraum verbreitet hat, verhalten sich ihre Adepten also höchst unvernünftig, da sie Ausnahmezustände und Grenzerfahrungen suchen und nicht etwa vermeiden. Als Teilnehmer des turkmenischen rituellen Gottgedenkens, des pakistanischen Trancetanzes und der marokkanischen Besessenheitstrance verlassen sie ihr ‚Normalbewusstsein‘ und gleiten hinüber in eine Welt, die nicht durch das analytische, cartesianische Begriffsdenken bestimmt wird, sondern charismatischemotionale Facetten des Religiösen erfahrbar werden lässt bis hin zu einer erotischen unio mystica. Solche veränderten Bewusstseinszustände ekstatischen Erlebens und Erscheinungsformen des „mysterium tremendum“ (Rudolf Otto) werden allerdings von den ‚aufgeklärten‘ Anhängern des normativen Schrift-Islams sowie reformistischer und islamistischer Bewegungen als „unislamisch“ und „abergläubisch“ diskreditiert und existieren daher heute in muslimischen Gesellschaften lediglich im Rahmen peripherer Kulte. Frauen, Männer und Angehörige des „Dritten Geschlechts“ (Transsexuelle, Hermaphroditen, Transvestiten usw.), die in solche „synkretistisch“ geprägten Kultgemeinschaften eingebunden sind, werden auf diese Weise ausgegrenzt.

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Ayahuasca, schamanische Trance und Santo Daime G ERHARD M AYER

1. E INLEITUNG : AYAHUASCA – ‚Z AUBERTRANK ‘ DER S CHAMANEN ? Nicht Enthemmung und unermessliche Kräfte sind es, die dieser ‚Zaubertrank‘ verleihen soll; nicht ein römisches Heer soll auf seinem Eroberungszug durch Gallien damit aufgehalten werden – der Trank soll zu Visionen, Erkenntnis, Heilung und Zugang zu ‚anderen Welten‘ verhelfen. Dieser psychoaktive „Zaubertrank(s) der Schamanen“ (Rätsch 1998: 7) ist in unserem Kulturkreis hauptsächlich unter dem Namen Ayahuasca bekannt,1 trägt jedoch auch verschiedene andere Bezeichnungen wie z.B. Yajé, Daime und Hoasca (ebd.). Er ermöglicht ungeahnte Visionen, deren Schilderung und phänomenologische Nähe zu paranormalen Wahrnehmungen (z.B. Gorman 2011; Luke 2012) die Phantasie auch schon der Forscher des 19. und frühen 20. Jahrhunderts beflügelten. Der kolumbianische Pharmakologe Rafael Zerda Bayón isolierte 1905 eine kristalline Substanz aus dem Gebräu, die er gemäß den ihr zugeschriebenen Eigenschaften, nämlich Hellsichtigkeit zu befördern, Telepatina (= Telepathin) nannte (ReichelDolmatoff 1972: 85).2 Keine Frage, dass diese halluzinogene Droge eine erhebliche Faszination auf die psychedelische subkulturelle Strömung der 1960er-Jahre ausübte, welche in den 1990er-Jahren eine Renaissance erfuhr.

1

Der Name entstammt der Quechua-Sprachfamilie und bedeutet „Liane der (toten) Geister“ (Shanon 2002: 13).

2

Siehe Steven Beyers Blog, auf dem er sich auch mit dem „Telepathy Meme“ beschäftigt und interessante Informationen liefert (http://www.singingtotheplants.com/2009/ 02/telepathy-meme-again/).

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Auch aus verschiedenen wissenschaftlichen Perspektiven erwuchs ein reges Interesse an Ayahuasca. Für Ethnologen, Ethno-Pharmakologen, Neurowissenschaftler, Anthropologen, Religionswissenschaftler und Bewusstseinsforscher ergab sich ein spannendes Forschungsfeld. Als wichtiges Hilfsmittel der Schamanen prägen der Trank und die durch ihn erhaltenen Visionen die Kultur und Kosmologie indigener Gruppen im oberen Amazonasgebiet. 3 Er wird zu Heilzwecken, zur göttlichen Führung, zur Divination, zur Hexerei und auch zu profanen Zwecken verwendet (Dobkin de Rios 1984: 37-47). Die spezifische Art der von ihm ausgelösten Visionen schlägt sich in bestimmten Formen, Mustern und Symbolen nieder, die man auf Textilien und Töpferwaren, aber auch in der Gesichts- und Körperbemalung der Shipibo-Conibo, zweier indigener Ethnien im peruanischen Amazonasgebiet, finden kann (Adelaars/Rätsch/Ebeling 2006: 98122). Ein bedeutsames Thema also für ethnologische Studien zum ‚AmazonasSchamanismus‘. Für Ethnobotaniker, Ethnopharmakologen und Ethnomediziner sind es die Eigenschaften, Wirkungen und Anwendungen der verwendeten Pflanzen, die den Trank für die Forschung interessant machen und ihn aus der Menge anderer pflanzlicher Heilmittel im ethnomedizinischen Kontext hervorheben. Geschichten von Wunderheilungen werden vor allem in der Esoterikszene kolportiert, wozu auch filmische Dokumentationen wie die sehr populär gewordene Produktion Unterwegs in die nächste Dimension (Clemens Kuby 2002) beitrugen. Dort ist eine Ayahuasca-Heilungssitzung bei dem Schamanen Don Agustin im peruanischen Amazonasgebiet zu sehen. Neben vielen angereisten Personen ohne ernsthafte körperliche Beschwerden wird eine Frau mit Leberkrebs im fortgeschrittenen Stadium vorgestellt, der die westliche Schulmedizin nur noch eine geringe Lebenserwartung zugesprochen hatte. Ein Jahr nach der AyahuascaZeremonie und der Behandlung durch den Schamanen sei sie krebsfrei gewesen. Im Film wird Don Agustin mit der Aussage zitiert, dass jede Krankheit mit Hilfe von Ayahuasca geheilt werden könne. Dadurch werden überzogene Erwartungen geweckt, denn wenn in einem solchen Zusammenhang von ‚Heilung‘ gesprochen wird, muss sich das nicht zwangsläufig auf die körperliche Ebene beziehen, sondern kann den psychischen Umgang mit der Krankheit betreffen.4

3

Zur Verbreitung von Ayahuasca im indigenen Kontext siehe Ott (1994: 18).

4

Vgl. Brabec de Mori (2014: 215-216). Inzwischen wurden Falluntersuchungen zur Wirksamkeit der Ayahuasca-Therapie bei Krebserkrankungen durchgeführt. Einige Indizien sprechen für eine tumorhemmende Wirkung (Schenberg 2013; Topping 1998). Siehe auch Gorman (2011) für zwei Berichte von positiven Verläufen von Krebserkrankungen im Kontext von Ayahuasca-Ritualen, wobei hier allerdings der

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Ayahuasca blieb nicht auf den Amazonasraum begrenzt. Über die sogenannten Ayahuasca-Religionen – die erste, Santo Daime, wurde 1920 gegründet – gelangte Ayahuasca in die urbanen Räume und wurde schließlich auch in andere Länder ‚exportiert‘. Solche neuen religiösen Gruppierungen finden das Interesse von Religionswissenschaftlern. Für Künstler und Schriftsteller boten AyahuascaErfahrungen ein großes Potenzial an schöpferischen Anregungen (z.B. Adelaars/ Rätsch/Müller-Ebeling 2006: 152-166; Burroughs/Ginsberg 1975; Calavia Saéz 2014: xxii; Luna/White 2000; Narby/Kounen/Ravalec 2010). Manche Anthropologen, ‚Psychonauten‘ und Bewusstseinsforscher schließlich glauben darin den Schlüssel zum Wissen um die Natur des Kosmos und des (menschlichen) Bewusstseins zu finden (z.B. McKenna 1989; Narby 2001). Der Anthropologe Jeremy Narby (2001) etwa ist der Ansicht, dass indigene Schamanen mittels des Ayahuasca (und ganz allgemein durch Halluzinogene) in ihren Visionen Erkenntnisse über molekulare Strukturen erlangen, die dann in entsprechenden Mythen symbolisiert werden. So soll der Mythos der ‚kosmischen Schlange‘ auf intuitives indigenes Wissen um die Doppelhelix-Struktur des DNS-Moleküls zurückzuführen sein. Diese Spekulation führt zwangsläufig zu der Vermutung, dass solches Wissen – und damit auch der indigene Ayahuasca-Gebrauch – ‚uralt‘ seien, entsprechend der Mythen um die kosmische Schlange. Das deckt sich mit einer westlichen Konzeption von ‚primitiven Kulturen‘ als Bewahrer uralten Wissens, die nach heutigem ethnologischen Erkenntnisstand nicht mehr haltbar (Brabec de Mori 2011; Calavia Saéz 2014), aber für viele ‚Westler‘ äußerst attraktiv ist (Fotiou 2014). Brabec de Mori stellt die plausible These auf, dass sich die Ayahuasca-Nutzung durch die indigene Bevölkerung im Amazonasgebiet erst vor etwa 300 Jahren durch Migration von indigenen Heilern (médicos) ausbreitete.5 Dieses kritische Zurechtrücken populärer Vorstellungen über das Ayahuasca-basierte ‚uralte indigene Wissen‘ könnte man als ein irrelevantes akademisches Detail vernachlässigen, doch würde damit, so der Autor, der ‚westlichen‘ Popularisierung des Ayahuasca-Gebrauchs ein zentrales Argument entzo-

Trank nicht selbst als Medizin, sondern in anderen Funktionen (z.B. als Diagnostikum und als Mittel zum Finden einer geeigneten Pflanzenmedizin) eingesetzt wurde. 5

Der Autor kommt zu folgendem Schluss: „In essence I would like to point out that western Amazonian medicina is a complex phenomenon, covering social and cultural as well as ecological and philosophical issues. Communication with plants, animals, human beings, and spiritual entities is probably ‚old‘ and developed over a long period of time. It would be premature to attempt any precise estimates. During this time span, new elements always have been implemented and integrated without hesitation, ayahuasca being but one“ (Brabec de Mori 2011: 43).

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gen. Ein simplifizierendes Verständnis führe zu verschiedenen ethischen Problemlagen – ein Punkt, auf den noch einzugehen sein wird.

2. AYAHUASCA –

PHARMAKOLOGISCHE , PSYCHOPHYSIOLOGISCHE UND KOGNITIONSWISSENSCHAFTLICHE ASPEKTE

Ayahuasca besteht aus wässrigen Auszügen oder Abkochungen von Teilen der Liane Banisteriopsis caapi (und verwandten Arten), denen ein oder mehrere pflanzliche Additive beigefügt werden. Laut Ott (1994: 24) lassen sich die vielfältigen Additive in drei Gruppen unterteilen, die unterschiedliche Zwecke des Ayahuasca-Gebrauchs widerspiegeln: 1) nicht-psychoaktive und möglicherweise therapeutische Additive, 2) Stimulantien und 3) entheogene oder visionäre Drogen. Während man über die pharmakologischen Wirkungen der ersten Gruppe bislang wenig weiß, sind es in der zweiten Gruppe oft koffeinhaltige Pflanzen, die die beruhigenden und einschläfernden Wirkungen des Ayahuascas aufheben sollen. Aus der Perspektive der Urbanisierung und Globalisierung sind die Additive der dritten Gruppe am bedeutsamsten; und unter ihnen wiederum sind die DMT-haltigen Pflanzen6 die wichtigsten, etwa die Blätter des Chacruna-Baumes (Psychotria viridis).7 Wesentlich für die besondere psychoaktive Wirkung ist dabei die Kombination der in der Liane enthaltenen Harman-Alkaloide und des DMTs der zugegebenen Pflanze.8 Die von Ayahuasca ausgelösten Halluzinationen und Visionen bilden einen ganz eigenen Erfahrungskosmos. Der israelische Kognitionspsychologe Benny Shanon hat über zehn Jahre hinweg dessen Phänomenologie untersucht und die Ergebnisse in einem brillanten Buch publiziert (Shanon 2002; vgl. dazu auch Harner 1973c). Neben umfangreichen eigenen Erfahrungen mit Ayahuasca bestand seine Datengrundlage aus 178 Interviews mit Ayahuasca-Nutzern, die zu-

6 7

DMT = N,N-Dimethyltryptamin (ein halluzinogenes Tryptamin-Alkaloid). Ott (1994) liefert einen guten Überblick zur Zusammensetzung und den verschiedenen Verwendungszusammenhängen von Ayahuasca. Zur Herstellung siehe S. 21-23.

8

Da DMT bei Einnahme über den Mund durch das Enzym Monoaminooxydase (MAO) abgebaut wird und seine stark halluzinogene Wirkung nicht entfalten kann, bedarf es einer Substanz, die den Abbau verlangsamt, eines so genannten MAO-Hemmers. Harman-Alkaloide, wie etwa das in der Banisteriopsis-Liane enthaltene Harmalin, funktionieren als MAO-Hemmer, und erst die Kombination dieser beiden Alkaloide ermöglicht länger anhaltende halluzinogene Erfahrungen.

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sammen auf Erfahrungen aus 2.500 Sitzungen zurückblicken konnten. Shanon stellt die Phänomenologie der Ayahuasca-Erfahrungen unter verschiedenen inhaltlichen und strukturellen Aspekten dar.9 So entsteht ein prototypisches Bild solcher Erfahrungen, wobei der Autor betont, dass es keine zwei identischen Ayahuasca-Erfahrungen gibt. Zu Beginn einer Ayahuasca-Erfahrung stehen intensive Geschmacks- und Körperempfindungen im Vordergrund: Der Trank schmeckt für die meisten scheußlich. Wenn dessen Wirkung spürbar wird, kommt es in der Regel bald zu Übelkeitsempfindungen, die oft zu Erbrechen führen. Dies wird als ein Reinigungsprozess verstanden, der den Körper und das Bewusstsein auf die Ayahuasca-Erfahrung einstimmt. Den überwältigenden, unangenehmen und auch Angst erzeugenden Empfindungen folgt ein Zustand, in dem der Geist offen ist für Visionen und sich „moments of exhilaration and great wonderment“ ergeben können (Shanon 2002: 57). Eine dritte Phase des Ayahuasca-Rausches ist meist etwas weniger spektakulär und von Gelassenheit, Heiterkeit und Glücksempfinden geprägt (ebd.: 58). Die Welt wird dabei in vielerlei Hinsicht vollkommen verändert wahrgenommen. Sie erscheint schöner, bedeutungsvoller, verzauberter und heiliger als im normalen Bewusstseinszustand. Dies gilt oft auch für die Selbstwahrnehmung, wobei der Ayahuasca-Trinker den Eindruck gewinnen mag, dass er auf sein ‚wahres Selbst‘, auf die Essenz seines Selbst stößt und den Schleier der Entfremdung wegzureißen vermag (ebd.: 62). Die bei Shanon umfassend dargestellten verschiedenen Dimensionen und inhaltlichen Details der Wahrnehmungsveränderungen können hier aus Platzgründen nicht referiert werden. Wichtig ist jedoch, dass es nicht nur um eine ‚Schau‘ geht, um eine Art von verrücktem, surrealem ‚Kopfkino‘, sondern dass Gedanken, Reflexionen und Einsichten wichtige Elemente der Ayahuasca-Erfahrung darstellen. Shanon nennt verschiedene Lebensbereiche, die Gegenstand solcher kognitiver Prozesse in der Ayahuasca-Erfahrung sein können: 1) persönliche Belange und Selbsterkenntnis, 2) philosophische Themen, 3) Erkenntnisse über die Natur (Chemie, Biologie, Physik), 4) Psychologie, 5) medizinische Themen, Themen der Gesundheit/Krankheit, 6) ethische und existenzielle Fragestellun-

9

Wer einen optischen Eindruck von Ayahuasca-Visionen erhalten möchte, dem sei der Spielfilm Blueberry und der Fluch der Dämonen (2004) empfohlen. Dessen niederländischer Regisseur Jan Kounen reist selbst regelmäßig in das Amazonasgebiet, um an Ayahuasca-Sitzungen teilzunehmen (Narby/Kounen/Ravalec 2010), und hat eine filmische Computerumsetzung solcher Visionen in den Film integriert. Solche Szenen sind auch Teil seiner Dokumentation D’autres mondes (2004) zum AmazonasSchamanismus und dem Gebrauch entheogener Pflanzen.

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gen, 7) Sozialsphäre, 8) Ästhetik, 9) linguistische und semantische Themen, 10) Esoterik und paranormale Phänomene, 11) Theologie, Religion und Spiritualität und schließlich 12) das Wesen von Ayahuasca selbst (ebd.: 162-179). Er führt dazu zusammenfassend aus: „Taken together, the ideas and insights that Ayahuasca induces seem to cohere into one consistent, unified picture – one that may be characterized as dynamic idealistic monism. Specifically, people partaking of the brew feel that there is an aspect or level of reality that is non-material and that this defines the essence or foundation of all Existence. Furthermore, it is appreciated that all things are interconnected, and that in their totality they constitute one harmonious whole. With this, drinkers appreciate that there is sense and reason to everything and that all reality is invested with great, heretofore unappreciated, meaningfulness. This world-view is also inherently spiritual and it often induces profound religious feelings. Consequently, people at times radically change both their perspective on life and their actual conduct.“ (Ebd.: 179)

Als Kognitionspsychologe faszinierte Shanon besonders, dass es in der Ayahuasca-Erfahrung kognitive Universalien zu geben scheint. Der interkulturelle Vergleich der Berichte über Ayahuasca-Erfahrungen zeigte eine verblüffende Identität von teilweise sehr spezifischen Inhalten (z.B. Schlangen, Jaguare, Paläste, Städte). Die von den meisten Ayahuasca-Trinkern präferierten spiritualistischen oder paranormalen Erklärungsversuche akzeptiert er aus der Perspektive eines wissenschaftlichen Psychologen nicht; biologisch-reduktionistische Erklärungen (die Universalität der Visionen sei direkt auf die gemeinsame neuroanatomische Struktur und der darauf basierenden Gehirnaktivität begründet) erscheinen ihm als unzulänglich; und auch die Erklärung, die Visionen seien auf das ‚Aufsteigen‘ unbewusster Gedächtnis- oder Bewusstseinsinhalte unter dem Einfluss der Droge zurückzuführen (Umgehung des ‚inneren Zensors‘, Reduktion der Filterfunktion des ‚Alltagsbewusstseins‘) findet er wenig überzeugend. Der auf den ersten Blick treffendste theoretische Ansatz aus dem Bereich der wissenschaftlichen Psychologie liegt für ihn in der Konzeption der Archetypen und des kollektiven Unbewussten von C. G. Jung (1976). Allerdings bemängelt Shanon die unzureichende theoretische Fundierung und Klarheit dieser Konzepte und weist auch auf inhaltliche Unterschiede zwischen den Jungschen Archetypen und den Universalien der Ayahuasca-Erfahrung hin, wenngleich auf einer Mikro-Ebene der Analyse auch einige Gemeinsamkeiten festzustellen sind (Shanon 2002: 391). Der Autor lehnt sowohl eine (tiefen-)psychologische als auch eine platonische Deutung (Platos Ideenlehre) der Universalien ab und plädiert für

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eine dritte Möglichkeit, sie nämlich als Ausdruck der menschlichen Schöpferkraft zu verstehen (ebd.: 396).10

3. AYAHUASCA - RITUALE UND - GEBRAUCH IM INDIGENEN K ONTEXT Dem Ayahuasca wird eine klärende und öffnende Wirkung zugesprochen. Klärend in dem Sinn, dass es dem Trinker – und das ist zunächst einmal der Schamane (vegetalista, curandero, ayahuascero) – den Schleier beseitigt, der ihm den Blick auf die wahre Natur der Dinge behindert; und öffnend, indem es ihm den Zugang zur ‚Welt der Geister‘, zu einer ‚anderen Realitätsebene‘ ermöglicht (Horner 2012; Losonczy/Mesturini Cappo 2014). Die Anthropologin Marlene Dopkin de Rios (1984) benennt drei Hauptzwecke der Verwendung halluzinogener Substanzen im oberen Amazonasgebiet: zur Verbindung mit dem Übernatürlichen, im Kontext mit der Behandlung von Krankheiten sowie zum Vergnügen und zur sozialen Interaktion (ebd.: 45). Im magisch-religiösen Bereich wird Ayahuasca zur Kontaktaufnahme mit dem Bereich der (Pflanzen-)Geister, zum Erlangen eines persönlichen Schutzgeistes und zur göttlichen Führung genutzt. Außerdem dient es als Schamanenpflanze zur Ausbildung eines künftigen Schamanen.11 Im Bereich der Divination nennt die Autorin Weissagungen und Vorhersagen als Zweck und im Bereich der Hexerei, das Erzeugen von Krankheiten bei einem anderen mittels geistiger oder physischer Mittel sowie der eigene

10 Shanon (2002: 398-399) führt weiter dazu aus: „Creation is, of course, a standard cognitive-psychological notion. Yet, the creative accomplishments discussed here are far from being standard. First, the creative power at hand is extraordinary. Second, while unbounded it is subject to constraints: there are some specific contents that are more likely to be created than others. These […] do not reflect the life history, knowledge, or concerns of the individual drinker and they even seem not to be specific to members of any particular cultural group. Thus, it appears that human beings, while not storing in their memories ideas of these specific semantic contents, are built in such a fashion as to be likely to imagine them.“ 11 Vgl. auch Luna (1984). Ayahuasca wird dabei als ‚Pflanzenlehrer‘ angesehen. Der schon erwähnte Schamane, Don Agustin, erklärt dazu: „I have very little schooling, and ayahuasca has been my university. I have been able to begin to recognize the energies not only of ayahuasca, but also of other plants that have their elementals, their spirits […] Ayahuasca is a plant that can make one see and feel the spirits and can teach one about true spiritual magic“ (zit. nach Horner 2012: 9).

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Schutz vor Böswilligkeiten anderer (vgl. dazu Harner 1973b). Im Kontext der Behandlung von Krankheiten dient Ayahuasca vor allem diagnostischen Zwecken: In Visionen werden sowohl die krankheitsverursachenden Strukturen und Agenten als auch die für die Behandlung geeigneten Therapeutika gesehen. Schließlich kann Ayahuasca auch lustvolle und aphrodisische Zustände erzeugen und wird dementsprechend genutzt; außerdem soll es die sozialen Interaktionen zwischen Männern erleichtern (Dobkin de Rios 1984: 45). Wer in welchem Kontext und zu welchem Zweck an Ayahuasca-Ritualen teilnimmt, ist im indigenen Kontext nicht einheitlich geregelt. Zwar handelt es sich um eine Schamanenpflanze und die Schamanen sind Experten im Umgang mit diesem Trank, doch gibt es auch Gemeinschaften, in denen andere männliche Stammesmitglieder ihn regelmäßig oder zu besonderen Anlässen zu sich nehmen (vgl. Harner 1973a: 5; Kensinger 1973: 10; Reichel-Dolmatoff 1972: 86). Die Ayahuasca-Rituale werden in der Regel nachts abgehalten.12 Oft werden zur Vorbereitung Diäten, Fasten und sexuelle Enthaltsamkeit angeordnet, wobei dies insbesondere für die Schamanen gilt (Harner 1973b: 18-20; Rosenbohm 1991: 123, 127). Ein wichtiges Element in Ayahuasca-Heilungsritualen sind die sog. Icaros, Heilgesänge der Schamanen, die sie während ihrer Ausbildung gelernt haben und denen eine schützende, heilende und die Wirkungen des Ayahuasca modifizierende Funktion zugeschrieben wird (Labate/Pacheco 2010: 15, Fußnote 1; Luna 1992; Siskind 1973; Weiss 1973). Sie werden während der Rituale, aber auch schon bei der Zubereitung des Ayahuasca von den Schamanen gesungen. Neben den völlig auf den indigenen Kontext bezogenen Ritualen gibt es Heilungssitzungen, die durch indigene (teilweise urbanisierte) Schamanen im Umfeld von Städten vorgenommen werden. Bei solchen Ritualen sind sich die teilnehmenden Personen, zumeist Patienten, fremd. Alle Beteiligten trinken dabei Ayahuacsca (vgl. Dobkin der Rios 1984: 67-76). Aus solchen Formen von Heilsitzungen erwuchs auch das, was inzwischen den sog. Ayahuasca-Tourismus prägt. Durch ethnologische, populärwissenschaftliche und subkulturelle Publikationen und inzwischen unzähligen entsprechenden Webseiten im Internet informiert und neugierig geworden, machen sich seit den 1990er-Jahren viele Menschen aus anderen Ländern auf den Weg in das Amazonasgebiet, um an Ayahuasca-Ritualen teilzunehmen. Dies geschieht aus unterschiedlichen Motiven,

12 Reichel-Dolmatoff (1972) beschreibt detailliert den typischen Ablauf eines festlichen Rituals anlässlich eines Bündnisses zweier Sippengemeinschaften sowie die mythologische Einbettung bei einigen indigenen Stämmen.

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wobei der Wunsch nach spirituellen Erfahrungen, Heilung (im weitesten Sinne) und Selbsterfahrung die wichtigsten sein dürften (vgl. Fotiou 2014).

4. AYAHUASCA -R ELIGIONEN

IN

B RASILIEN

4.1 Ursprünge Nachdem der Ayahuasca-Gebrauch seinen Weg in das Umfeld der Städte fand, führte dies zu neuen Formen der Nutzung. Der schon erwähnte AyahuascaTourismus betrifft eine vergleichsweise rezente Variante. Schon im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts hingegen wurde durch den Kontakt von Kautschukzapfern zu indigenen Ayahuasceros eine Entwicklung angestoßen, die Elemente schamanischer Ayahuasca-Rituale in synkretistischer Weise mit verschiedenen religiösen Elementen anderer Provenienz verschmolz. Die erste sog. AyahuascaReligion trägt den Namen Santo Daime. Sie wurde um 1930 von Raimundo Irineu Serra in Rio Branco, der Hauptstadt des westlichsten brasilianischen Bundesstaates Acre initiiert.13 Mestre Irineu, wie der Religionsgründer von den Anhängern genannt wird, hatte, so behauptete er, in Ayahuasca-Visionen Kontakt zu einer geistigen Entität, die er später als „Maria der unbefleckten Empfängnis“ und auch als „Königin des Waldes“ identifizierte. Über sie empfing er den Auftrag zur Religionsgründung sowie spirituelle Botschaften zur Organisation und Durchführung von Zeremonien. In Auditionen (akustischen Eingebungen) wurden ihm kleine Melodien und Texte zugetragen. Diese wurden als hinos („Hymnen“) zu einem wichtigen Bestandteil der religiösen Zeremonien (Cemin 2010; Labate/Pacheco 2010). Elemente verschiedenster Herkunft – aus dem Volkskatholizismus, dem kardecianischen Spiritismus, afro-brasilianischen Religionen und dem indigenen Schamanismus, um nur die wichtigsten zu nennen – gingen in die Lehre ein (Labate/Pacheco 2011: 72). Zentrales Element ist die Verwendung des namengebenden Daime (Ayahuasca) als eines Sakraments, das die Gläubigen in den Zeremonien zu sich nehmen. Neben dem Santo Daime entstanden weitere Ayahuasca-Religionen, deren wichtigste Vertreter die von Mestre Gabriel (José Gabriel de Costa) gegründete União de Vegetal und die von Daniel Pereira de Mattos als eine Abspaltung von Santo Daime initiierte Barquinha sind. War die Ausübung dieser Religionen geografisch in den ersten Jahrzehnten auf den brasilianischen Bundesstaat Acre beschränkt, so breitete sie

13 Zur Geschichte des Santo Daime siehe Adelaars/Rätsch/Müller-Ebeling (2006: 231237); Balzer (2003: 50-56) und Labate/MacRae/Goulart (2010).

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sich seit den 1980er-Jahren zunächst in Brasilien aus, um dann auch weit über dessen Grenzen hinaus ihren Niederschlag zu finden (Labate/Jungaberle 2011: passim). Die verschiedenen Formen der Ayahuasca-Religionen unterscheiden sich in vielen Aspekten (Ritualistik, thematische Schwerpunktsetzungen, integrierte religiöse und spirituelle Elemente u.a.), doch ist ihnen die zentrale Funktion des Daime als eines Sakraments gemeinsam.14 Die folgende Schilderung einer Santo-Daime-Zeremonie, trabalho (= Arbeit) genannt, basiert auf einer teilnehmenden Beobachtung im Jahr 2011 in der Nähe von Curitiba/Brasilien durch den Autor. 4.2 Eine Santo-Daime-Zeremonie An einem Dienstagabend wurden wir, die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der 6th Journey of Altered States of Consciousness, größtenteils Wissenschaftler, die eine in diesem Zeitraum stattfindende internationale Konferenz im brasilianischen Curitiba besuchten, mit einem Bus zur Kirche Céu do Paraná15 gebracht, die ca. 30-40 Kilometer westlich der Großstadt in einem wenig besiedelten kleinen Tal liegt. Am Ziel angekommen, stiegen wir auf einem unbefestigten, steilen Weg zum Ritualgebäude hoch, einem Zentralbau aus weiß gestrichenem Holz, der in den Wänden Fenster und in der Mitte einen Baumstamm als zentralen Pfeiler besitzt. Die Decke des Raumes ist mit bunten Fähnchen und reflektierenden Fransen geschmückt. An den Wänden befinden sich verschiedene Bilder mit christlich-esoterischen Motiven sowie ein großes Bild des Kirchengründers Mestre Irinéu. An der Säule in der Mitte ist eine sternförmige Tischfläche (mesa) angebracht, auf der sich Ritualgegenstände befinden. Außenherum sind in mehreren Kreisen weiße Kunststoffstühle gereiht. Etwa um neun Uhr kamen einige Mitglieder der Gemeinde (Daimistas), doch blieben es vergleichsweise wenige (ca. 20), da am Tag zuvor schon eine Zeremonie im regulären Zyklus gefeiert worden war.16 Sie waren in typisch einheitlichem Weiß bekleidet. Der jüngste Teilnehmer war ein ca. 10 Jahre alter Junge, der mit seiner Mutter gekommen war; der älteste dürfte aus unseren Reihen ge-

14 Siehe Ayahuasca, Ritual and Religion in Brazil von Labate/MacRae (2010) zu verschiedenen Aspekten der Ayahuasca-Religionen. 15 Ceú do Paraná heißt übersetzt „Himmel von Paraná“. Mit ceú werden typischerweise die Kirchen bzw. Zeremonienorte der Santo-Daime-Gemeinden bezeichnet. 16 Immer am 15. und am 30. eines Monats finden solche trabalhos de concentração statt. Daneben gibt es noch weitere Zeremonien an bestimmten Feiertagen oder zu besonderen Anlässen.

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wesen sein, ein 79-jähriger US-amerikanischer Forscher. Die Sängerinnen, Sänger und Gitarristen sowie der Ritualleiter waren direkt um die Säule herum platziert, im ersten Stuhlkreis saßen Daimistas, im zweiten wir Besucher sowie weitere Mitglieder der Gemeinde und schließlich einige von ihnen noch in einer dritten Reihe – Frauen und Männer getrennt jeweils in einer Kreishälfte. Außerhalb der Stuhlreihen befanden sich zwei Helfer. Nach zwei Gebeten wurde das Daime (Ayahuasca) ausgegeben. Dazu stellten sich Männer und Frauen getrennt in zwei Reihen an, und der Trank wurde in Gläsern ausgeschenkt. Die meisten bekreuzigten sich dabei wie bei dem Empfangen der Hostie in einer katholischen Kirche. Danach nahm man wieder Platz und es folgte eine Phase der Stille. Als die bewusstseinsverändernde Wirkung des Daime einsetzte, begannen die Musiker und Sänger, Hinos zu singen. Die Wirkung des Daime war überwältigend: Mein ganzes mentales System wurde ‚durchgeschüttelt‘ und schien zeitweise völlig außer Kontrolle zu geraten. Die Hinos klangen in ihrer Schlichtheit sehr schön und übten einen starken Einfluss aus. Ich verspürte einerseits den Wunsch, mitzusingen und an der Zeremonie in ihrer intendierten Form teilzunehmen, doch wollte ich mich manchmal auch nur zurücklehnen und dem inneren Geschehen folgen, das heißt hier: vor allem dem mentalen Geschehen, weil die Körperwahrnehmung nicht mehr in der gewohnten Art und Weise funktioniert. So hatte ich zwischendurch das Gefühl, dass die beiden Hände, die das Büchlein mit den Liedtexten hielten, nicht zu mir gehören. Doch jede kleine Bewegung holte mich in meinen Körper und in den Raum zurück – ein beruhigender Umstand, weil er ein Instrument der Kontrolle darstellte. Eine innere Instanz blieb während der ganzen Zeit bei klarem IchBewusstsein. In meiner Wissenschaftlerrolle als teilnehmender Beobachter schaute ich regelmäßig in die Runde, um zu sehen, wie sich die Gemeindemitglieder und die Besucher verhalten, um die vergangene Zeit zu prüfen, um zu schauen, wie lange etwa welche Effekte andauern. Die Gemeindemitglieder schienen fast durchgängig konzentriert und gut in ihrem Element zu sein, auch der kleine Junge; den meisten von uns Besuchern hingegen sah man zunehmend an, dass uns der Trank zusetzte. Nachdem ich die zu erwartende Übelkeit durchstanden hatte, konnte ich mich wieder stärker auf das Singen und auf das mentale Geschehen konzentrieren. Für mich selbst entstand ein großes Wohlgefühl schon alleine dadurch, dass ich die durch das körperliche Unwohlsein ausgelöste Krise überwunden hatte. Sowohl die Helfer als auch die Musiker nehmen Daime, wenn auch in einer geringeren Dosis. Das Einnehmen des Tranks ist für alle Teilnehmer obligatorisch, da nach Ansicht der Daimistas jemand ohne dessen schützende Funktion

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Schaden durch die während der Zeremonie auftretenden ‚Energien‘ und ‚Vibrationen‘ erleiden könnte. In der Nachbesprechung am darauffolgenden Tag hörten wir vom Ritualleiter, dass wir eine Kurzform des Rituals erlebt hätten, bei der nur hinos gesungen worden waren, die dem Aspekt der Liebe gewidmet sind. Üblicherweise dauern die Zeremonien doppelt so lange, etwa fünf bis sechs Stunden, und sie können auch anderen Themen gewidmet sein, z.B. der „Gerechtigkeit“. An einer SantoMichael-Zeremonie etwa dürften nur erfahrene Mitglieder teilnehmen, da die freigesetzten ‚Energien‘ so stark werden könnten, dass viele paranormale Phänomene zutage träten („all the phenomena you parapsychologists investigate“). Wie meine eigenen Erlebnisse nur an der Oberfläche dessen gekratzt haben, was an Ayahuasca-Erfahrungen möglich ist, so stellt auch die oben beschriebene Zeremonie nur einen kleinen Ausschnitt des komplexen rituellen und symbolischen Systems von Santo Daime dar. Für eine umfassendere Darstellung sei auf Cemin (2010) verwiesen.17 Sie beschreibt detailliert einzelne Elemente wie etwa den Prozess der Herstellung des Daime, der in einem ritualisierten Setting (feitio) stattfindet, die Funktion und Abfolge der hinos und die verschiedenen Formen der Zeremonien, den bailado („Tanz“), bei dem sich die daimistas während des Singens in Tanzschritten bewegen, die trabalho de concentração, (‚Konzentration‘), die durch lange Phasen des stillen Sitzens gekennzeichnet ist, sowie die missa („Messe“), die ein Ritual zu Ehren der Toten darstellt. Neben solchen rituellen und an die Kirchengemeinde gebundenen Formen sind noch Heilungsrituale zu nennen, die an den Formen des indigenen Schamanismus orientiert sind, sowie der Gebrauch von Daime im privaten Bereich, etwa als Therapeutikum, z.B. für Schwangere während der Geburt, aber auch als Talisman.

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ÄNGSTE

Seit einigen Jahrzehnten findet eine Globalisierung oder Internationalisierung des Ayahuasca-Komplexes statt (Labate/Jungaberle 2011; Tupper 2008, 2009). Die Motive für eine intensivere praktische Beschäftigung mit dem Entheogen auch außerhalb der Grenzen Brasiliens und des oberen Amazonasgebiets kann man nach Adelaars/Rätsch/Müller-Ebeling (1998: 33) vier Bereichen zuordnen: dem religiösen, dem therapeutischen, dem experimentellen und dem Freizeitbzw. Erholungsbereich. In jedem dieser Bereiche sind mit der Einnahme von Ayahuasca (teilweise sehr große) Versprechungen verbunden, die die Nutzer de-

17 Siehe auch Groisman (2013) für die Beschreibung einer Santo Daime-Zeremonie.

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ren Schattenseiten nur zu leicht übersehen lassen. Die bedeutsamste negative Auswirkung ist sicher in dem florierenden Ayahuasca-Tourismus im Bereich des westlichen Amazonasgebiets zu sehen. Zwar bringt er Teilen der einheimischen Bevölkerung ökonomische Vorteile, doch zerstört er auch gewachsene indigene Strukturen der therapeutischen Versorgung, erzeugt Neid und erhöht die Ungleichheit in der Bevölkerung.18 Manch einer der indigenen Schamanen wird durch das ‚westliche Geld‘ korrumpiert, manch einer der ‚Westler‘ tappt in die ‚Ego-Falle‘, weil er sich durch den Kontakt zu indigenen Schamanen und ggf. einer schamanischen Initiation geadelt und als etwas Besonderes fühlt, und schließlich kann noch die durch das Entheogen ausgelöste Neigung zu Omnipotenz-Gefühlen Probleme generieren (Adelaars/Rätsch/Müller-Ebeling 2006: 258263). Narby/Kounen/Ravalec (2010: 66, passim) sprechen das Problem unangemessener Idealisierungen, Hoffnungen (z.B. auf Heilung) und Projektionen an wie auch die Gefahr der Abhängigkeit von Schamanen, die die durch das Ayahuasca ausgelöste Offenheit ausnutzen könnten.19 So wird seit einigen Jahren verstärkt von sexuellem Missbrauch an Teilnehmerinnen der AyahuascaZeremonien durch native Schamanen und Schamanenhelfer berichtet (Peluso 2014). Die letztgenannten Punkte sind Teil des klassischen Gefahren- und Problemdiskurses zum Drogengebrauch und zu religiösen Sekten, wie er moderne Gesellschaften westlicher Prägung kennzeichnet und durch die subkulturellen Bewegungen der 1960er- und 1970er-Jahre stark befeuert worden war.20 Der Ayahuasca-Gebrauch ist zu einem relevanten Gegenstand der Drogenpolitik geworden. Bei privater, individueller Nutzung herrscht insofern Klarheit, als der DMThaltige Trank in vielen Staaten unter das Betäubungsmittelgesetz fällt und der unberechtigte Umgang damit strafbar ist. Juristisch weniger eindeutig ist der Ayahuasca-Konsum als Element der Religionsausübung, wie es bei den Ayahuasca-Religionen der Fall ist. Hier zeigt sich eine Normenkollision zwischen

18 Zu den kritischen Aspekten des Ayahuasca-Tourismus siehe Barbira Freedman (2014: 140-142); Brabec de Mori (2014); Dobkin de Rios/Rumrill (2006); Fotiou (2014); Losonczy/Mesturini Cappo (2014); Ott (2011: 109-111) und Tupper (2009). 19 Allerdings ist auch die Wechselseitigkeit des Austauschs zu berücksichtigen. So spielen nicht-indigene Teilnehmer von Ayahuasca-Ritualen und insgesamt die Kontakte zwischen indigenen Schamanen und Nicht-Indigenen durchaus eine bedeutsame Rolle für die indigene Identität und Politik (vgl. Virtanen 2014). 20 Zur Wissenssoziologie sozialer Probleme allgemein siehe Schetsche (2000). Zum Drogenproblem siehe Groenemeyer (2012). Eine gute Darstellung zur Behandlung der Sektenthematik bietet Willms (2012).

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dem Grundrecht auf Religionsfreiheit und dem Betäubungsmittelgesetz, die in den einzelnen Staaten unterschiedlich aufgelöst wird.21 In Brasilien wurde eine Lösung gefunden, die seit Ende 2006 Gültigkeit besitzt und die Verwendung von Ayahuasca im Rahmen religiöser Gruppen legalisiert (MacRae 2010). Eine von der brasilianischen Rauschgiftbehörde eingesetzte Arbeitsgruppe sollte die 1985 vorgenommene Zuordnung von Ayahuasca in die Liste der verbotenen Substanzen prüfen. Dies geschah zunächst auf Druck der religiösen Gruppierungen, die die drohende Illegalität ihrer Religionsausübung verhindern wollten. In den öffentlichen Medien herrschte ein erwartungsgemäß voreingenommenes Bild vor: „The followers of these religions are frequently represented in the press and by the police, as people whose alleged religious convictions are more excuses for drug use.“ (Ebd.: 191) Nach einer zweijährigen Forschungs- und Prüfungsphase empfahl diese erste Arbeitsgruppe die Löschung von Ayahuasca aus der Liste der verbotenen Substanzen. Die Ayahuasca-Religionen würden nämlich grundlegende durch das Christentum geprägte Werte westlicher Gesellschaften (Disziplin, Freigiebigkeit, Gemeinsinn etc.) stützen und zu einem wünschenswerten Sozialleben konstruktiv beitragen (ebd.: 196). Dieser Beschluss wurde wiederholt infrage gestellt, doch durch erneut eingesetzte wissenschaftliche Arbeitsgruppen jeweils beibehalten. Im Zusammenhang mit diesen intensiven Prüfungen wurde eine beträchtliche Anzahl biomedizinischer, psychologischer, sozialwissenschaftlicher und anthropologischer Studien zur Wirkung und therapeutischen Nutzung (z.B. zur Behandlung von Drogenabhängigen) von Ayahuasca durchgeführt (vgl. Labate/Cavnar 2014; Labate/Rose/Santos 2009). Vor allem von der União de Vegetal (s.o.), die eine eigene wissenschaftliche Kommission eingerichtet hat, wurden solche Forschungsvorhaben gefördert (Labate/Pacheco 2010: 21-25; Labate/Rose/Santos 2009: 56-58). Mit dieser Maßnahme sollen die Seriosität dieser religiösen Gruppierung(en) und der mögliche Nutzen des Daime demonstriert und damit auch der Legalisierungsprozess befördert werden. Interessanterweise kam Kritik an bestehenden Regelungen bzw. am Missbrauch des Ayahuasca nicht immer nur von außen, sondern auch durch Anhänger von Ayahuasca-Religionen selbst, worin sich die Rivalität zwischen einzelnen religiösen Ayahuasca-Gruppen bzw. -Richtungen widerspiegelte (MacRae 2010: 196-201). Wie nicht unüblich bei Minoritäten, deren soziale Anerkennung prekär ist, findet man hier starke Abgrenzungsbemühungen, wodurch die ‚richtige‘ Lehre von der ‚falschen‘ oder verwässerten, der ‚richtige‘ Gebrauch des

21 Vgl. Labate/Jungaberle (Hg.) (2011: 263-400), dort befasst sich eine ganze Reihe von Beiträgen mit der juristischen Situation in verschiedenen Ländern.

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Ayahuasca vom Missbrauch geschieden werden sollen. Unter letzterem werden Formen der Kommerzialisierung subsumiert, die beispielsweise durch den Export des Entheogens, aber auch durch den Ayahuasca-Tourismus entstehen können. Daraus entstand der Wunsch einzelner Gruppen nach staatlicher Kontrolle des Ayahuasca-Gebrauchs, dem bislang allerdings nicht stattgegeben wurde. In diesem Punkt zeigt sich, wie wenig solche Gruppen mit den revolutionären Idealen der Drogennutzer der Hippie-Ära gemein haben – zumindest oberflächlich gesehen. Soares (2010: 70) bemerkt dazu: „From a certain perspective, Daime stands for the opposite of the underlying motives of the experiences with hallucinogens in the 1960s and 1970s: back then the ideal that was assumed […] had to do with ‘liberation‘ – liberation from the repressive restrictions and culture, inoculated by education and introjected as guilt feelings and persecutory phantoms, restrictions to the flow of spontaneous and authentic passions, to desire, to the uninhibited movements of the body. The liberation promised by Daime involves freedom from sensual torments, the exorcism of the body’s impulses, the neutralization of the desire that enslaves us to secular existence, its fetishes and illusions.“22

Es ist allerdings wichtig, auf die teilweise beträchtlichen Unterschiede zwischen einzelnen Gruppen hinzuweisen, was der Autor explizit tut. Michael Utsch hingegen, Leiter des Referats „Psychologische Aspekte neuer Religiosität, Krankheit und Heilung, Lebenshilfemarkt, Sondergemeinschaften“ der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen, sieht ein grundlegendes Problem im Rausch an sich, im Kontrollverlust: „Wo die Würde des Menschen bedroht ist, da hört die Religionsfreiheit auf. Und ein Kontrollverlust unter Drogen führt zum Verlust der Menschenwürde. […] Es gibt in dieser Gesellschaft eine Sehnsucht nach spirituellen Erlebnissen, und die sind garantiert, wenn halluzinogene Drogen ins Spiel kommen. Die Deutung dieser Erlebnisse übernimmt dann diese Gruppe und gewinnt so Einfluss auf Neugierige.“ (Utsch, zit. nach Nickoleit 2003: o. P.)

Kontrolle und Kontrollverlust – in verdichteter Weise treten in der Auseinandersetzung mit den Ayahuasca-Religionen Aspekte dieser (Erlebens-)Dimension zutage. Institutionalisierung von religiösen Praktiken an sich entspringt dem Stre-

22 Darin mag auch das Potenzial liegen, das Ayahuasca für die Therapie von Substanzabhängigkeiten zugeschrieben wird (vgl. verschiedene Beiträge in Labate/Cavnar 2014).

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ben nach Kontrolle und festen Strukturen. Bei den Ayahuasca-Religionen bedeutet es Kontrolle über Praktiken des intendierten Kontrollverlustes durch die Bereitstellung eines festen Ritualgefüges und spirituellen Deutungssystems. Mittels Abgrenzungsbestrebungen gegenüber ‚missbräuchlichem‘ und nicht-institutionalisiertem Ayahuasca-Gebrauch versuchen sie, auf sozialer Ebene Kontrolle zu gewinnen. In Positionen, wie Utsch sie äußert, wird eine Kontrolle über den Kontrollverlust aufgrund gesteigerter Manipulationsmöglichkeit negativ bewertet, weswegen der Kontrollverlust an sich abzulehnen sei.23 Dass es sich bei den erlebten Visionen um – medizinisch gesprochen – Pseudo-Halluzinationen handelt, dass also das Bewusstsein um die eigene Identität und der ‚diesseitigen Realität‘ erhalten bleibt, stört bei einer solchen Bewertung. 24 Veränderte Bewusstseinszustände sollen nicht differenziert betrachtet werden, denn Rausch bleibt Rausch und in dieser Simplifizierung stets ein bedrohlicher Kontrollverlust. Um allerdings die Faszination (und damit auch den Erfolg) des AyahuascaKomplexes zu verstehen, die im indigenen Setting wie im urbanen Umfeld gefunden wird, die Psychonauten, Mitglieder von Ayahuasca-Religionen, Kognitionswissenschaftler, Kreative, Kranke und individuelle Transzendentaltouristen gleichermaßen suchen und erleben, bedarf es einer solchen differenzierten Betrachtung (vgl. Calavia Saéz 2014). Wie Calavia Saéz vermutet, könnte ein wichtiger Aspekt der besonderen Qualität des Rauscherlebnisses der AyahuascaErfahrung gerade im Hinblick auf die Kontrollmöglichkeiten liegen. Die Wirkung liege in der Mitte zwischen nur leicht veränderten Bewusstseinszuständen und tiefen, weniger kontrollierbaren und deshalb auch gefährlicheren Rauschzuständen:

23 Inwieweit hier die Angst vor einem Kontrollverlust über die Anhänger der traditionellen christlichen Kirchen ein zentrales Motiv darstellt, sei dahingestellt. Die von ihm konstatierte Sehnsucht nach spirituellen Erlebnissen kann von dieser Seite aus offenbar nicht hinreichend befriedigt werden. 24 Dementsprechend können Teilnehmerinnen an touristisch organisierten AyahuascaSitzungen auch unter Ayahuasca-Einfluss Versuche sexueller Belästigung als solche erkennen, sich zu wehren versuchen und darüber berichten – im Unterschied etwa zur Situation nach der Verabreichung von sog. K.-o.-Tropfen (Peluso 2014: 238-245). Das Problem liegt hier klar im Macht- und Vertrauensmissbrauch durch idealisierte Personen in einer hierarchischen Beziehung, wie man es auch aus dem Bereich der christlichen Kirchen, pädagogischer Anstalten oder dem Feld der Psychotherapie kennt.

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„Ayahuasca appears to offer the perfect median; or, to say it in another way, it is the perfect embodiment of ambiguity. Ayahuasca allows a distinct perception of the other world without losing consciousness of this one. Perhaps for this reason, Ayahuasca, better than other substances, supports the hypothesis that another reality can be found just behind the apparent world: Ayahuasca allows a point-by-point comparison.“ (Calavia Saéz 2014: xxixxii)

Welchen ontologischen Status der Einzelne jeweils der in der AyahuascaErfahrung erlebten ‚anderen Realität‘ beimisst, ist für die Beurteilung des Gesamtphänomens in mancher Hinsicht unerheblich. Offenbar und subjektiv erlebbar wird dabei, dass die Welt nicht so ist, wie sie zu sein scheint, dass andere Erfahrungsebenen neben der der Alltagsrealität existieren, die einen hohen Grad an sinnhafter Weltdeutung anbieten. Ob diese religiös/spirituell gedeutet oder in erster Linie als ein faszinierender Einblick in die Funktionsweisen unseres kognitiven Apparates verstanden werden – es bleibt die Erkenntnis, dass die Welt nicht so ist, wie sie im Alltagsbewusstsein scheinen mag und dass unser Wahrnehmungsapparat nicht ein schlichtes Abbild von der ‚Welt da draußen‘ liefert. Dies wird in der Ayahuasca-Erfahrung unmittelbar evident.

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Ausnahmezustände Von der besonnenen Begeisterung zum kommerzialisierten Rausch J OSEPH I MORDE

1. B EGEISTERUNG In der Lexikographie des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts wurde der (kreative) Ausnahmezustand nicht selten unter den Lemmata Begeisterung, Enthusiasmus und Schwärmerei abgehandelt und dabei versucht, die sich teils überschneidenden Begriffe auch in Bezug auf die bildenden Künste voneinander zu unterscheiden und in neuer Weise zu klassifizieren. Während die Schwärmerei durchwegs negativ bewertet wurde, weil sie nur „auf einem dunklen Gefühl beruhe“ (Eberhard 1795: 143), das aufgrund seiner sinnlichen Stärke behaglich erscheinen könne, „aber den ruhigen Gang der kalten Vernunft“ hemme, zeichnete sich die Begeisterung, so etwa für Johann August Eberhard, dadurch aus, dass darin „die blendenden Bilder der Einbildungskraft“ den ruhigen Gang des Denkens kurzzeitig zu übersteigen vermochten. Ein Hauptunterschied zwischen Begeisterung und Enthusiasmus war wiederum, dass sich das „erstere Wort, vermöge seiner Abstammung von Geist, mehr auf die oberen Seelenkräfte, auf das Vorstellungs- und Denkvermögen, Enthusiasmus hingegen mehr auf die unteren Seelenkräfte, auf das Gefühls- und Begehrungsvermögen“ richte (Anonym 1837: 274). Enthusiasmus – das war die Meinung – zielte mehr auf Dauer, Begeisterung stellte sich plötzlich ein und ging vorüber, gehörte dem Moment an, war also Zustand des Augenblicks, der im höchsten Grad die Ideen „durch eine geistvolle, leidenschaftliche Unordnung“ in ganz anderer Weise hervorbringen und ordnen konnte als die kalte, ruhige Vernunft. Der große Künstler, so glaubte Eberhard, müsse „ein Enthusiast für seine Kunst seyn, und wenn er arbeitet, muß er sich begeistert fühlen“. Als Beispiel wurde der Maler Raffael Sanzio bemüht,

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denn „Raphael liebte die Mahlerey mit Enthusiasmus, und arbeitete mit Begeisterung“ (Eberhard 1795: 143; auch bei LeBrun 1804: 163).1 Im Rheinischen Conversations-Lexicon oder encyclopädischen Handwörterbuch für gebildete Stände von 1832 war es dann nicht mehr der Maler Raffael, sondern der Bildhauer Michelangelo, der für das Außer-Sich-Sein während des Schaffensaktes als Beispiel zu dienen hatte. Einmal in Begeisterung verfallen, könne sich der Künstler – so hieß es dort zuerst noch allgemein – nur seiner Empfindung überlassen. „Alles, was er auszudrücken hat, liegt in seiner Phantasie deutlich vor ihm. […] Seine Feder oder sein Pinsel, seine Hand oder sein Mund, sind nicht schnell genug, das darzustellen, was ihm dargeboten wird.“ (Anonym 1822: 244) Diese Überwältigung durch die inneren Bilder, durch die Ideen, dränge den Künstler geradezu rauschhaft zur Umsetzung. So „ […] sah einmal Jemand dem Michel Angelo zu, als er an einem Marmorbild arbeitete. In dem Blick des Künstlers war etwas Wildes, der Hammer stürzte in seiner starken Faust mit Macht auf den Meißel, und die abgeschlagenen Stücke Marmor flogen weit durch die Luft. Man hätte denken sollen, daß der ganze Block auf jeden Schlag hätte in Stücken gehen sollen. Damals war dieser große Künstler in der Begeisterung. Er sah das Bild, welches er darstellen wollte, schon in dem Marmorblock; ungeduldig, es heraus zu bringen, schlug er kühn die überflüssigen Theile weg, und war sicher, nichts von dem Bilde, das er sah, wegzuhauen, so feurig und so sicher ist jeder Künstler, dem die Begeisterung ein Bild in die Phantasie gemalt hat.“ (Anonym 1824: 244)2

Das war einem Fieber gleich, so meinte zumindest Carl Lemcke: „nicht bloss der Geist ist in seiner höchsten Anspannung, auch die Hand bekommt durch die Begeisterung gleichsam geistiges Gefühl“ (Lemcke 1867: 248). Der ergriffene Mensch wurde dergestalt „über die Schranken seines ich“ (Eckardt 1864: 87) hinausgehoben. Mit außerordentlicher Aufmerksamkeit raffte die Seele ihre ganze Kraft auf einen einzigen Gegenstand zusammen, „unter Hinwegweisung aller fremdartigen Empfindungen und Ideen“ (Anonym 1803: 499). In solch einer Erregung trat „die künstlerische Kraftentfaltung in ihrer Unbewusstheit am auffallensten hervor“ (Lemcke 1973: 274). Allerdings war das im beginnenden 19. Jahrhundert – also in einer Zeit, in der den deutschen gebildeten Kreisen schon lange Shaftesburys Letter Concerning Enthusiasm (aus dem Jahr 1707) in der Landessprache zugestellt worden war

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Dagegen argumentiert Scheidler (1841: 85). Offenbar genommen aus Sulzer (1792: 354), der die Anekdote weniger ausschmückt. Wieder aufgenommen bei Lemcke (1873: 274).

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und auch die Platonischen Dialoge zum Enthusiasmus endlich in Übersetzung vorlagen (Vöhler 2004: 196-197) – nicht mehr so zu verstehen, als könne man die Begeisterung, wie es noch die ‚Vorzeit‘ getan hatte, irgendwelchen überirdischen Mächten zuschreiben. Denn, so meinte Friedrich Ludewig Bouterweck, war in der neueren Zeit aus dem religiösen Begriff Begeisterung ein psychologischer geworden und in besonderer Beziehung auf die Poesie und die übrigen schönen Künste auch ein ästhetischer (Bouterweck 1822: 343). Eben in den Wirkungen einer produktiven Begeisterung könne man das Genie und vorzüglich das ästhetische Kunstgenie erkennen, doch solle man – so Bouterweck – sich keinen falschen Begriff von den Begeisterungszuständen großer Künstler machen. Keinesfalls dürfe man die mit Ekstasen verwechseln, da diese doch etwas für schwache Köpfe und mittelmäßige Talente seien, eben etwas für Schwärmer; „an der Begeisterung wahrhaft großer Künstler“ habe „die Vernunft eben so vielen Antheil, als das Gefühl und die Phantasie“ (ebd.: 344). Den Theoretikern der Begeisterung ging es zu Beginn des 19. Jahrhunderts mehrheitlich darum, das Außer-Sich-Sein von religiösen Inhalten abzulösen, um es besser an die Ideale klassischer Kunst zu binden, an edle Einfalt und stille Größe. Wer bei Betrachtung des Apollo im Belvedere nicht mehr fühle, „als bei den Bildern, womit neue Künstler den Gärten des Großen eine Zierde zu geben sich vergeblich bemühen“ (Anonym 1824: 244), der war für die Sache der säkularisierten Schönheit nicht zu retten. Begeisterung hatte nichts Ausschweifendes, sondern waltete auf der Grundlage größter Ruhe und Klarheit. Bei genossenem Kontrollverlust drohte die Begeisterung in „Partei-Enthusiasmus“ abzugleiten oder gar zur Schwärmerei, zum Fanatismus zu verkommen und da hatte man dann Beschränktheit, Einseitigkeit, Stupidität zu gewärtigen (Solger 1829: 124). Das Wunderbare war eben das sich in der Begeisterung einstellende Gleichgewicht, ein sich nur in einzelnen Momenten manifestierendes Equilibrium „einer bewußtlosen Kraft, welche gleichsam instinktmäßig bildet und gestaltet, und des Bewußtseins, welches die Idee beim Bilden vorhält“ (T 1827: 747). „Nicht in verschiedenen Augenblicken, sondern in demselben Augenblicke zugleich trunken und nüchtern zu seyn“, das war um 1800, „das Geheimniß der wahren Poesie“ (Schelling 1928: 417). Eine solche Begeisterung galt als „erste Bedingniss der Hervorbringung des Schönen“ (Krause 1837: 50). Der Künstler – so die Vorstellung – brauchte, um sein Werk zu erzeugen, einen „erhöheten oder entzündeten Gemüthszustande (exaltatio s. inflammatio animi)“, ohne aber dabei die nötige Besonnenheit „zu einer regelmäßigen Gestaltung des sich darbietenden Stoffes“ zu verlieren (Anonym 1821: 75). Das hatte diverse seelische Implikationen, aber auch – für die verschiedenen Künste – unterscheidbare zeitliche Ebenen. Natürlich konnte ein Bild „nur Empfängniß Eines Moments seyn“ (Fi-

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cker 1840: 124; zit. nach Fernow 1806: 267), doch brauchte die Durch- oder Ausführung dann Geduld, weil dem Produzieren eine technische Seite anhaftete und sich dummerweise – um mit Hegel zu sprechen – „gegen das Handwerksmäßige hinstreckte“; das vor allem bei der Architektur und Skulptur, ähnlich auch bei der Malerei und Musik, nicht so sehr bei der Schriftstellerei und Poesie (Hegel 1835: 37).3 Bei dieser äußeren Arbeit besonders der bildenden Künste brauchte es jenen auf Dauer gestellten Enthusiasmus, von dem schon die Rede war, eine Wandlung des Ausnahmezustands ins Praktische, Geduldige, Dauernde. Nach dem Sturm musste die Stille eintreten, damit die ruhige Seele auf das, was „im Anfalle der Begeisterung hervorgebracht“ worden war, wieder zurücksehen konnte, um es darauf zu untersuchen, ob das Feuer nicht die von der Vernunft vorgezeichneten Grenzen überschritten habe (Weise 1821: 24-25).4 Es ging da nicht um permanente Wut und blindes Lärmen, sondern um beschauliche Betrachtung (Bürger 1825: 131), um Besonnenheit (ebd.: 132) und Selbstbeschränkung,5 also um die ordentliche Arbeit an der Vollendung nicht nur des Werkes, sondern möglicherweise auch seiner selbst. Fehlte dieser nachhaltige Enthusiasmus, sank der Künstler „sogleich zum Techniker herab“ (Lommatzsch (1835: 233). Nur der „begeisterte Künstler“ schuf „Neues, nie Dagewesenes“, der geistlose wiederholte und kopierte sich selbst oder andere (Erdmann 1863: 11). Eingebildete Begeisterung brachte Zwerge hervor, die sich lächerlicherweise für Rie-

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Siehe Blumenberg (1986: 140): „Wer vom Blitz getroffen ist – und sei es nur vom Blitz der Inspiration – kann darüber nicht auch noch Protokoll führen bzw. glaubt sicher es nicht zu können, ohne seiner Präsumtion widersprechen zu müssen.“

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Nach Sulzer (1792: 309-323): X. Entwicklung des Begriffs vom Genie, hier: 319. Dazu eine Stelle der Lyceums-Fragmente von Friedrich Schlegel aus dem Jahr 1797. Schlegel (2011: 11-12): „[37] […] So lange der Künstler erfindet und begeistert ist, befindet er sich für die Mitteilung wenigsten in einem illiberalen Zustande. Er wird dann alles sagen wollen; welches eine falsche Tendenz junger Genies, oder ein richtiges Vorurteil alter Stümper ist. Dadurch verkennt er den Wert und die Würde der Selbstbeschränkung, die doch für den Künstler wie für den Menschen das Erste und das Letzte, das Notwendigste und das Höchste ist.“ Aber 12: „ […] man muß mit der Selbstbeschränkung nicht zu sehr eilen, und erst der Selbstschöpfung, der Erfindung und Begeisterung Raum lassen, bis sie fertig ist. Drittens: man muß die Selbstbeschränkung nicht übertreiben.“

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sen dünkten, obwohl sie nur auf Stelzen gingen (Anonym 1780b: 190). 6 Ein übermäßiger Antrieb war deshalb zu vermeiden, weil da Gefahren lauerten. Wer mit „zu vieler Hitze“ arbeitete, musste die größten Fehler begehen (Weise 1821: 26). Gegen solche Mängel wurde „Kunstbildung“ ins Feld geführt, eben ein Wissen um die antike Tradition, die der Künstler seinem Überschwang als leise Mahnerin an die Seite stellen konnte. Kunstbildung regelte und läuterte die Begeisterung, verhütete ein Überfluten des Enthusiasmus und schützte damit schließlich auch vor der Schwärmerei (Anonym 1827: 123). Ausbildung und Begeisterung ins rechte Verhältnis zu setzen, galt vor allem in den bildenden Künsten als eigentliche Aufgabe. Die tiefe Glut der Produktion brauchte Übung und Technik, um wahrhaftige Meisterwerke hervorzubringen. Oft genug war Begeisterung reichlich vorhanden, doch fehlte es an Übung, hin und wieder sah man aber auch die größte technische Begabung, ohne dass diese auch nur von einem Funken von Enthusiasmus befeuert wurde. Diese Erkenntnis konnte mit deutlichen Meinungen unterstrichen werden: „Wie stümpert oft der gottbegeistere Giotto, dessen Ausdruck der seliger Geister zu sein pflegt, und wie geht oft der große Michel Angelo ganz und gar in kühner Bravour auf, die man bewundert, aber die auch kalt läßt. Nur wenige gibt es, nur einer ist es,“ – so konnte Emil August Schaden 1845 in Florenz schreiben – „der, aber auch nur auf einzelnen Höhepunkten seiner Erscheinungen, Alles hat, Salbung und Gewandtheit vereinigt: dieser Eine ist Raphael.“ (Thiersch 1853: 154-155)

Für jene, die sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts mit der Begeisterung beschäftigten und zum Nonplusultra des Kunstschaffens stilisierten, war allerdings auch klar, dass eine solch kreative Begeisterung nicht durch „künstliche Erregungsmittel“ (Anonym 1821: 76) bewirkt werden könne. Künstlerischer Enthusiasmus ließ sich nicht erzwingen. Dem Gedankenmangel durch gleichgewichtsaufhebende Aufwallungen abzuhelfen, durch „Sturm und Drang, durch Thränen und Verzuckungen, oder durch andre Wirkungen“ (T 1827: 748), etwa den „guten Dienst der Champagnerflasche“ (Hegel 1835: 36), kam nicht in Frage, war für die meisten der falsche Weg, denn es galt den Bereich des hehren, aber doch kontrollierten Außer-Sich-Seins vor Profanierungen zu schützen. Streng zu unterscheiden waren dabei der echte vom unechten Enthusiasmus, also die bloß affektierte teils durch geistige Getränke oder durch Krankheit forcierte, von dem

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Dort die Unterscheidung zwischen einer eingebildeten und einer wahren, aber ausschweifenden Begeisterung. Siehe Bouterweck (1806: 225) und Kottmeier (1820: 126).

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durch und durch gesunden Ausnahmezustand (Anonym 1838: 146). Doch wo hörte das Gesunde auf und wo begann das Übertriebene und Krankhafte (vgl. Schubert 1840: 1998-1999)? Konnte zum Beispiel der mäßige Genuss des Weins noch hingehen, um sich zumindest ein wenig einzustimmen (Kottmeier 1820: 126)? Oder durfte man auch mehr zu sich nehmen, weil doch von berühmten Dichtern erzählt werden konnte, „daß sie sich gern durch Champagner oder auch, wie die Muselmänner, durch Opium begeisterten, wenn sie dichten wollten“ (Krug 1839: 53-54)? Neben den vielen Feinden der Berauschung (siehe Loeben 1817: 64-65), gab es auch einige wenige, die für den gemäßigten Gebrauch künstlicher Mittel eintraten, so etwa der Mediziner Johann Heinrich Rahn, der schon 1790 davon hatte sprechen können, dass die Kraft und Wirkung des Weins, des Opiums und anderer Gifte dazu förderlich sein könne, „den Enthusiasmus, und die Entzückungen, oder Ekstasen zu erwecken“ (Rahn 1790: 207). Aristoteles und Lukrez wurden als Zeugen für den Umstand aufgerufen, dass es große Geister gegeben habe, die durch „Anfälle von einem gewissen hitzigen Fieber“ zu den besten Versen, Gedichten und Büchern angeregt worden seien (ebd.: 207). Das aber natürlich nur da, wo – und dies in Parenthese – Wein angebaut und getrunken wurde. Wahre Künstler kannten „keine vom Bier begeisterte Muse.“ Bierländer produzierten weniger kühn fliegende Dichter als Weinländer (Rösch 1838: 287) und deshalb konnte man den geistigen Verfall der Griechen größtenteils dem Umstande zuschreiben, dass ihnen von den „Türken die Reben ausgerissen“ worden waren (ebd.: 289; zit. nach Hoffmann 1726: 669670). Kein Zweifel, die Begeisterung ließ sich durch „physische Mittel“ bewirken und erhöhen (Reinbeck 1817: 12). Wein war hilfreich für die „Excitation des Nervensystems“ und die „Belebung und Anspornung psychischer Thätigkeit“ (Rösch 1838: 288). Wer so etwas sagte, redete natürlich nicht zuerst vom gemeinen Trunkenbold (Röschlaub 1800: 205), sondern hatte begabtere Köpfe vor Augen, denen der Rausch eine möglicherweise sonst nicht so leicht zu erreichende Sphäre aufschloss. Doch war das bezogen auf künstlerische Schöpfungen zulässig oder führte das allein zu „Windbeuteleien“ (Carus 1808: 270)? Durfte der besonnenen Vernunft Gewalt angetan werden?

2. R AUSCH Immanuel Kant lehnte in seiner erstmals 1798 erschienenen „Anthropologie“ den Genuss „berauschender Geniesmittel“ zur Erregung oder Besänftigung der Einbildungskraft als „widernatürlich und gekünstelt“ ab (Kant 1820: 71-72; sie-

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he Kupfer 1996b: 265). Doch gab es auch andere Stimmen. So stand der Dichter Novalis dem durch Drogen induzierten Ausnahmezustand bekanntermaßen positiv gegenüber. Er unterschied in einem seiner Fragmente zwischen einem Rausch aus Stärke und einem aus Schwäche. Während beim ersteren sich Besonnenheit und Begeisterung noch die Waage hielten, zeichnete sich der Rausch aus Schwäche, zum Beispiel bewirkt durch Wein oder narkotische Gifte, dadurch aus, dass er viel lebhaftere und durchdringendere Sensationen ermöglichte. Zwar wurde dem Denkorgan in diesen Zuständen etwas entzogen, nämlich eine regulierende und kontrollierende Kraft, doch erst dieser Entzug öffnete und sensibilisierte die Wahrnehmung für das Neue, das Andere, das heißt für den Zustand der Ausnahme: „Je besonnener, desto unsinnlicher“ (Novalis 1993: 245) hieß es bei Novalis und das hatte programmatische Bedeutung und kennzeichnete nichts weniger als einen kulturhistorischen Wandel im Umgang mit dem Außer-Sich-Sein. Die damit angesprochenen Rauschzustände, denen sich der Dichter unter Nutzung von Opiaten selbst häufiger hingab, halfen, sich gegen den Andrang der Welt zu immunisieren und ermöglichten dem Subjekt zudem die „Entgrenzung“ der eigenen Sinnlichkeit zu kultivieren (Gerigk 1999: 237; siehe Gurke 2001: 127). Waren Begeisterung und Vernunft zuvor auch deshalb so eng miteinander verbunden worden, um die kreativen Zustände der Dichter und bildenden Künstler disziplinierend auf die Naturnachahmung festzulegen und damit das begeisterte Schaffen von den religiösen Verzückungen der „Schwärmer“ zu unterscheiden, begann man sich nach 1800 für die Ausweitung der Bereiche sinnlicher Erfahrung auszusprechen und nach anderen transzendenten Erlebnissen Ausschau zu halten. Auch das war eine der Folgen jener von Bouterweck konstatierten Wende von der Religion hin zur Psychologie und Ästhetik (Bouterweck 1822: 343). Die modische Zunahme der „dithyrambischen Trunkenheit“ (Rosenkranz 1840: 186) in der Kunst hatte viele Gründe, war aber sicher auch Symptom des Widerstandes7 gegen die zu aufgeklärten Schaffensvorstellungen eines Rationalismus zuerst französischer Provenienz (Eichendorff 1847: 20-31). Während man in Deutschland etwa mit Blick auf die Nazarener versuchte, diese neue Verhältnisbestimmung von äußerer Wahrnehmungsverengung und innerer Sensationsweitung, diesen um sich greifenden Hang zur individualisierten Erfahrung psycho-physischer Ausnahmezustände, konfessionell zu erklären und kritisch einzuordnen (Steffens 1841: 394)8, wurden in der Lexikographie unter anderem

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Der Begriff Gegenaufklärung bei Kupfer (1996b: 11). Steffens (1841: 396): „Es war nicht die Zeit, die eine dauernde Schöpfung hervorrief, nur der Rausch, der dieser voranging, und auf eine Epoche hindeutete, die noch nicht

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religionshistorische Erklärungen populär, die sich im Rückgriff auf antike Autoren darum bemühten, das Dionysische innerhalb der Kultur und des Kunstschaffens zu rehabilitieren (Nork 1843: 194), nämlich als produktive Überschreitung, oder gar als „Taumel“, als einen Zustand der sinnlichen oder seelischen „erregtheit oder entzückung, bei der man wie berauscht seiner sinne nicht mehr oder nicht ganz mächtig ist“ (Grimm/Grimm, zit. nach Kiesel/Kluwe 1999: 3). Ins Produktive und Praktische gewendet, hieß dies nichts anderes, als dass es dem Künstler nun nicht nur gestattet, sondern geradezu aufgegeben war, sich von den Erscheinungen der äußeren Welt loszumachen und sich im Durchleben womöglich künstlich erzeugter Rauschzustände seiner kreativen Phantasie hinzugeben, um die selbst geschaffenen Vorstellungsinhalte als neue, andere, aber nichts desto weniger wirkliche Gegenstände der äußeren Welt wieder vor Augen zu stellen (Kleine 2001: 456). Im Verlauf des 19. Jahrhunderts drängte ein immer anspruchsvoller werdendes bürgerliches Publikum auf das Erlebnis „künstlicher Paradiese“ (Kittler 2000: 170). Ganze Abteilungen avantgardistischer Kreise sprachen nun „mit leuchtendem Auge über die unerhörte Erfahrung, die ihnen durch Rauschmittel zuteil“ geworden war (Kupfer 1996a: 39-40). Innerhalb der aufkommenden ästhetischen Debatten bedienten die aus Drogenexperimenten hervorgehenden Texte der Pariser Bohème diese hohen Erwartungen an Selbstüberschreitung ebenso, wie später Friederich Nietzsches theoretische Überlegungen zu apollinischem Traum und dionysischem Rausch, die bekanntermaßen Richard Wagners wirkmächtige Opern in eine neue kultur- und religionshistorische Perspektive zu stellen versuchten. Damit es Kunst gebe – so Nietzsche –, „damit es irgendein ästhetisches Thun und Schauen“ gebe, sei der Rausch als physiologische Vorbedingung unumgänglich – „Der Rausch muss erst die Erregbarkeit der ganzen Maschine gesteigert haben: eher kommt es zu keiner Kunst. Alle noch so verschieden bedingten Arten des Rausches haben dazu die Kraft […]“ (Nietzsche 1980: 6, 116; siehe Georg 2014: 20). Richard Wagner war nicht mehr begeistert im „klassischen“ Sinne, er berauschte sich auch nicht mit Alkohol, um zu komponieren, er geriet – nach Zeugnis von Wendelin Weißberger – „in Brunst“ (Weißheimer 1898: 100), das heißt in einen ekstatischerotischen Schaffensrausch, den zu stören als Sakrileg galt. Diese Form des „dionysischen Künstlerthums“ (Nietzsche 1980: 10, 583) war Ausdruck der durch die Romantik ausgelösten Wende hin zum „modernen Mystizismus“, um es mit Max Nordau zu sagen (Nordau 1892-1893: I, 266).

erschienen ist. Der echte Katholik konnte, mit diesen Neophyten einer unreifen Begeisterung kaum zufrieden sein. Viele wurden katholisch aus durchgeführter Protestation gegen den Protestantismus, als eine Art Hyper-Protestanten.“

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Allerdings hatte Bogumil Goltz bereits 1862 in seinem Buch Hinter den Feigenblättern die zunehmende Neigung des 19. Jahrhunderts zur Wirklichkeitsferne und Sensationsnähe, diese neue Lust an der Irrationalität und am ekstatischen Ausnahmezustand – diese „Renaissance des Dionysischen“ (Kupfer 1996b: 25) – von einer mechanisch-energetischen Seite her betrachten können und dabei den Rausch als anthropologische Konstante zu definieren versucht. Der Hang zu Berauschungen und Reizmitteln sei ein Grundtrieb des menschlichen Seins. Aufreizungen der Lebenskraft gehörten nach Goltz zur „elementaren Oekonomie der Natur9 und waren in allen Lebensvariationen zu finden. Flutende Kraft zeitigte notwendigerweise Verausgabung, abebbende Energie rief nach Stimulanzien. Wo sich bei den Leuten des Volkes ein „Ueberschuß der Lebenskraft, der Phantasie, des sogenannten Lebensmagnetismus“ angesammelt habe, müsse sich dieses Plus – so Goltz – auch wieder entladen: „als eine durch Civilisation abgeschwächte Berserkerwuth, als Tobsucht im Hause; als Renommage und Zank im Wirtshause; als sonst ein Exceß“ (Goltz 1862: 140). „Wer nicht zu den sinnlichen Berauschungsmitteln greift, bei dem lassen sich leicht die geistigen und übersinnlichen ausfindig machen; aber auf Potenzirung, auf Rausch, auf Lebensschwelgerei und Luxus kommt’s bei allen Menschen hinaus, die nicht absolut indolent, phlegmatisch und blödsinnig sind. […] Wer Künstler, Dichter und Denker, wer Diplomat oder kaufmännischer Spekulant ist, wird wissen, daß überall, wo etwas mit Erfolg und Witz, mit Lust und Satisfaction entrirt, erfunden und produzirt werden soll: ein Rausch, eine Illusion, eine Begeisterung, ein Luxus des Geistes, wie des Lebens im Spiel sein muß; daß der Mensch mit absolut nüchternem Verstande und ohne jede Lebenssteigerung: nichts Außerordentliches zu vollbringen vermag.“ (Goltz 1862: 142)

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Goltz (1862: 138): „Der Trieb zu einer Aufreizung der Lebenskraft gehört der elementaren Oekonomie der Natur. Schon das junge Thier steigert das Spielen gern bis zum sogenannten Tolliren. Man kann diese Thatsache jeden Augenblick an Kindern in Erfahrung bringen. Sie versetzen sich gern durch Scherz und Lustigkeit in einen Rausch, der bis zu solchen Tollheiten führt, die man mit der Ruhe korrigiren muß. – Die Prozesse der Seele und des Geistes bewegen sich ganz so, wie das physische Leben in Ebbe und Fluth. – Nicht nur in jeder Woche und in jedem Monat, sondern an jedem Tage fühlt der gesunde Mensch, zumal in der Jugend, eine bemerkliche Steigerung und dann wieder eine Minderung seines Muthes, wie seiner Lebenskraft. Nicht selten treibt uns dann das Gefühl der Ebbe zu seinem künstlichen Stimulus, zu berauschenden Getränken und zur lärmenden Lustigkeit.“

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Dem wäre möglicherweise mit Blick zurück in die Kulturgeschichte des Rausches Recht zu geben. Tatsächlich hatte der hehre, durch Besonnenheit temperierte Begriff der Begeisterung spätestens ab der Mitte des 19. Jahrhunderts ausgedient, weil seine disziplinierende Funktion ganz offensichtlich nicht mehr den Vorstellungen der Künstler genügte und ebenso wenig den Wünschen des Publikums entsprach. Es ging nun um etwas anderes, um die planmäßige Deregulierung der Sinnlichkeit,10 das heißt um die Loslösung der Wahrnehmung von einer rein materialistischen Wirklichkeitsvorstellung und damit um die Überwindung der „Diktatur der Vernunft“ (Kupfer 1996a: 40).

3. ABSTUMPFUNG Diese Dynamik hin zu einer permanenten Steigerung inneren Erlebens, eine Dynamik im Übrigen, die das Kunstsystem der Moderne in nachhaltiger Weise mitprägen sollte, musste ihre eigenen Probleme entwickeln. Bei zu starker Auseinandersetzung mit den künstlerischen Produkten inszenierter Rauschzustände drohte dem Publikum Abstumpfung, das meinte schon Friedrich Schlegel: „Durch jeden Genuß werden die Begierden nur heftiger; mit jeder Gewährung steigen die Forderungen immer höher, und die Hoffnung einer endlichen Befriedigung entfernt sich immer weiter. Das Neue wird alt, das Seltene gemein, und die Stachel des Reizenden werden stumpf.“ (Schlegel 1823: 33-34)

Diese Warnung Schlegels hatte darin etwas Prophetisches, als der schöpferische Nachweis der Originalität und des Individuellen irgendwann nur noch dadurch zu beglaubigen war, dass der Künstler seinem Werk die Form des Neuen, des bisher Ungesehenen, des Provokanten beigab. Der sich dergestalt institutionalisierende Protest gegen althergebrachte ästhetische Regelsysteme, gegen den Alltag mit seiner Langeweile, überhaupt gegen die „bürgerliche“ Kultur forderte von den Avantgarden des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts die kontinuierliche Arbeit am Ausnahmezustand und das gerne unter zur Hilfenahme berauschender Mittel.11 Kunst war nicht mehr auf mühelosen Genuss und harmlose Erfrischung gerichtet, hatte nichts mehr mit edler Einfalt und stiller Größe gemein, sondern forderte rauschhafte Zustände und mit diesen die Überbietung des Gegebenen, Wirklichen und Bekannten, forderte den Schock, den Skandal, das

10 Um hier ein Wort Arthur Rimbauds (1990: 25) zu paraphrasieren. 11 Beispiele des Alkoholkonsums bei Fath (1999: 15-18).

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Spektakel. Diese progressive Dynamik des künstlerischen Schaffens fügte sich reibungslos in die Waren- und Aufmerksamkeitsökonomie des 19. Jahrhunderts ein, ja war Ergebnis der auf Überbietung hin angelegten Warenzirkulation. Der Erfolg eines Künstlers wurde nun anhand der Neuigkeit, Originalität und Traditionslosigkeit seiner Werke bestimmt. Während die akademische Kunst die Tradition pflegte und sich in eklektischen Geschichtsreferaten erging, entstand in den Künstlerzirkeln der Metropolen eine Kultur des Eskapismus, der Überreizung, Berauschung, Nervosität, auf deren krankmachende Wirkung immer wieder hingewiesen werden konnte, so etwa von dem Neurologe Wilhelm Erb: „Die moderne Litteratur beschäftigt sich vorwiegend mit den bedenklichsten Problemen, die alle Leidenschaften aufwühlen, die Sinnlichkeit und Genusssucht, die Verachtung aller ethischen Grundsätze und aller Ideale fördern; sie bringt pathologische Gestalten, psychopathisch-sexuelle, revolutionäre und andere Probleme vor den Geist des Lesers; unser Ohr wird von einer in grossen Dosen verabreichten aufdringlichen und lärmenden Musik erregt und überreizt, die Theater nehmen alle Sinne mit ihren aufregenden Darstellungen gefangen; auch die bildenden Künste wenden sich mit Vorliebe dem Abstossenden, Hässlichen und Aufregenden zu und scheuen sich nicht, auch das Grässlichste, was die Wirklichkeit bietet, in abstossender Realität vor unser Auge zu stellen.“ (Erb 1894: 20)

Diese Einschätzung wurde von dem Nervenarzt Otto Binswanger unterstützt, der 1896 glaubte, behaupten zu können, daß sich „die ‚la Boheme‘ fast ausschließlich aus neuropathisch belasteten Menschen“ rekrutiere. Für die überreizten Zustände der Kulturschaffenden seien unter anderem regellose Lebensführung wie geistige Überanstrengung verantwortlich zu machen (Binswanger 1896: 56). Oswald Bumke wiederholte 1912 noch einmal die Gründe für das enge Verhältnis von Kultur und Krankheit – „in der Kunst eine Wahl der Objekte, eine Steigerung der Technik und der Ausdrucksmittel, die sie nicht mehr als wohltätige Entspannung wirken läßt, in der Erholung und im Genuß die unglückliche Formel Überreizter, welche die natürlichen Warnungszeichen der Ermüdung überhören und sie nach neuen, unzweckmäßigen Reizmitteln greifen läßt“ (Bumke 1912: 96). Was diese kulturkritischen Diagnosen unter anderem belegten, war das Aufgehen eines ehemals idealistischen Kunstschaffens in das aufgeheizte Marktgetriebe kapitalistischer Verwertungsketten. In diesen wurde die Herstellung des Neuen zur notwendigen Grundbedingung des Erfolgs. Es entwickelte sich eine „Tradition des Antitraditionalismus“ (Kemp 1996: 29), in der nicht nur den Werken der kreative Ausnahmezustand eingeschrieben sein musste, sondern auch die Künstler als Beglaubigung ihrer Authentizität ein nonkonformistisches

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Leben zu leben hatten. Die norm-nichtende Kunst wurde im 20. Jahrhundert zum Normalfall und die permanenten Grenzüberschreitungen der vielen sich als radikal oder gar revolutionär verstehenden Avantgardisten zum modischen Anzeiger einer kommerzialisierten Modernität.12 Wie meinte Hermann Lübbe einmal: „Je reiner sich die technisch-wissenschaftliche Zivilisation in ihrer Eigengesetzlichkeit durchsetzt, desto stärker wird der reaktive Wunsch, ihrer Immanenz durch Selbstverpflichtung auf Ziele zu entkommen, die ihr transzendent sind“ (Lübbe 1988: 156). Allerdings wäre heute von der „Gewöhnlichkeit des Außergewöhnlichen“ (Emslander 2012: 11) zu sprechen und dabei die Tatsache zu unterstreichen, dass der inszenierte Ausnahmezustand mittlerweile zu einem unverzichtbaren Bestandteil nicht nur der Kunst, sondern vor allem auch der Populärkultur geworden ist.

L ITERATUR Anonym (1780a): „Begeisterung“ (überhaupt), in: Deutsche Encyclopädie oder Allgemeines Real-Wörterbuch aller Künste und Wissenschaften von einer Gesellschaft Gelehrten. Dritter Band. Bar-Blaß, Frankfurt a. M.: Varrentrapp Sohn & Wenner, S. 183-186. Anonym (1780b): „Begeisterung“ (in Absicht auf schöne Wissenschaften und Künste), in: Deutsche Encyclopädie oder Allgemeines Real-Wörterbuch aller Künste und Wissenschaften von einer Gesellschaft Gelehrten. Dritter Band. Bar-Blaß, Frankfurt a. M.: Varrentrapp Sohn & Wenner, S. 186-191. Anonym (1803): „Begeisterung. Anthropologie, Seelenlehre“, in: Neues philosophisches allgemeines Real-Lexikon oder Wörterbuch der gesammten philosophischen Wissenschaften. Erster Band, Erfurt: F. L. B. Rudolphi, S. 496503. Anonym (1821): „Begeisterung des Künstlers“, in: Wilhelm Traugott Krug, Handbuch der Philosophie und der philosophischen Literatur. In zwei Bänden. Zweiter Band, Leipzig: Brockhaus, S. 75-76. Anonym (1824): „Begeisterung, Enthusiasmus“, in: Neues ConversationsLexicon oder encyclopädisches Handwörterbuch für gebildete Stände. Herausgegeben von einer Gesellschaft rheinländischer Gelehrten. In zwölf Bändern. Zweiter Band. B-Bz, Köln, Bonn: Comptoir für Kunst und Literatur, S. 243-245.

12 Schmidt-Wulffen (1997: 278): „Provokation ist nur noch modisches Signal für Modernität. […] Ein entscheidendes Movens der Avantgardebewegung.“

A USNAHMEZUSTÄNDE

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Anonym (1827): „Kunstbildung“, in: Rheinisches Conversations-Lexicon oder encyclopädisches Handwörterbuch für gebildete Stände. Herausgegeben von einer Gesellschaft rheinländischer Gelehrten. In zwölf Bänden. Siebenter Band. K-M, Köln, Bonn: Comptoir für Kunst und Literatur, S. 123. Anonym (1832): „Begeisterung“, in: Rheinisches Conversations-Lexicon oder encyclopädisches Handwörterbuch für gebildete Stände. Herausgegeben von der Gesellschaft rheinländischer Gelehrten. In zwölf Bänden, Köln: Louis Bruère, S. 374-376. Anonym (1837): „Enthusiasmus. Begeisterung. Schwärmerei“, in: Synonymisches Handwörterbuch der deutschen Sprache oder kurzgefaßte, alphabetisch geordnete Erklärung der vorzüglichsten sinnverwandten Wörter der deutschen Sprache. Für Gebildete aller Stände bearbeitet von Joh. Bap. Mayer, k. b. Professor am Gymnasium zu Kempten, Kempten: Tobias Dannheimer, S. 273-274. Anonym (1838): „Begeisterung“, in: Wilhelm Traugott Krug, Allgemeines Handwörterbuch der philosophischen Wissenschaften, nebst ihrer Literatur und Geschichte. Fünfter Band als Supplement zur zweiten, verbesserten und vermehrten Auflage. Erste Abtheilung A bis L, Leipzig: Brockhaus, S. 146. Anonym (1868): „Enthusiasmus“, in: Allgemeine Realencyklopädie, oder Conversationslexikon für alle Stände. Dritte, gänzlich umgearbeitete und sehr vermehrte Auflage. In zwölf Bänden. Fünfter Band. Eisenlohr-Franyova, Regensburg: Georg Joseph Manz, S. 281-282. Beck, Carl (1855): „Enthusiasmus“, in: Real-Encyklopädie für protestantische Theologie und Kirche. In Verbindung mit vielen protestantischen Theologen und Gelehrten herausgegeben von Dr. Herzog, […]. Vierter Band. Encyklopädie bis Gemeinde, kirchliche, Stuttgart, Hamburg: Rudolf Besser, S. 72-75. Blumenberg, Hans (1986): „Wirklichkeiten in denen wir leben“. Aufsätze und eine Rede, Stuttgart: Reclam. Bouterweck, Friedrich Ludewig (1806): Aesthetik. Zweiter Theil Theorie der schönen Künste, Leipzig: Gottfried Martini. Bouterweck, Friedrich Ludewig (1822): „Begeisterung“, in: Allgemeine Encyclopädie der Wissenschaften und Künste in alphabetischer Folge von genannten Schriftstellern bearbeitet und herausgegeben von J. S. Ersch und J. G. Gruber Professoren zu Halle. Achter Theil mit Kupfern und Charten, BasBendorf, Leipzig: Johann Friedrich Gleditsch, S. 343-344. Binswanger, Otto (1896): Die Pathologie und Therapie der Neurasthenie. Vorlesungen für Studierende und Aerzte, Jena: Gustav Fischer.

212 | J OSEPH I MORDE

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A USNAHMEZUSTÄNDE

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A USNAHMEZUSTÄNDE

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Rausch und Ekstase als choreographische KörperSzene S ABINE H USCHKA „When we get our mass in motion, we rise above the constant call of gravity toward the swinging, circling invitation of centrifugal force. Dancers ride and play these forces.“ (STEVE PAXTON 1988: 38)

1. „K UNST -B ERAUSCHTHEIT “: ÄSTHETISCHE K RÄFTE DES I N -E RSCHEINUNG -B RINGENS Rausch und Ekstase nehmen im Bühnentanz einen Phänomenbereich ein, der sich körperlich ausagiert und in Szene setzt. Wahrnehmbar gemacht, treten spezifische Körperzustände auf, die ästhetische Intensitäten eines Außer-Sich-Seins ausspielen und – so spiegeln es verschiedene ästhetische Reflexionen – diese zu zeigen wissen. Geradezu euphorisiert schreibt Stéphane Mallarmé 1893 nach einem Besuch des Schleiertanzes von Loïe Fuller in den Pariser Folies-Bergère: „Die Verzauberin erschafft die Umgebung, zieht sie aus sich hervor und staut sie in sich zurück, kurz und bündig; sie drückt sie aus mit einem Knisterschweigen von Chinakrepp. [...] Nun hat das Ballett die Atmosphäre wieder oder Nichts, ein Windstoß, kaum erfasst und schon zerstoben, der Moment einer Beschwörung des Ortes. Die Bühne in Freiheit, der Fiktion preisgegeben, dem Wurf eines Schleiers nebst Attitüden und Geste entströmt, wird das hochreine Ergebnis. Ursprünglich oder außer dieser Verwendung impliziert das Verfahren, als Erfindung, ohne die Ausübung, eine weibliche Berauschtheit und damit zugleich eine technische Leistung. In dem ungeheuren Bad der Stoffe verzückt sich leuchtend kalt die Verbildlicherin manch eines Themas des Kreisens, auf das ein weithin ge-

218 | S ABINE HUSCHKA dehntes Grundmuster hinauswill, Riesenblüte und -falter, ein Branden ganz von klarer, elementarer Ordnung. Die Kunst sprudelt nebenbei hervor, souverän: aus dem Leben, das unpersönlichen eurythmischen Flächen übertragen wird, ebenso aus dem Gefühl ihrer Übertreibung, was die Darstellende betrifft: und vom harmonischen Delirium.“ (Mallarmé 1998: 181-183)

Mallarmé widerfährt eine ästhetische Erfahrung, die der Wahrnehmung eines künstlerischen Ereignisses geschuldet ist und ihm einen unbekannten und zugleich visionierten Denkraum über die ästhetische Kraft der Kunst eröffnet: Im Tanz von Loïe Fuller inmitten seines Farbenspiels aus Licht auf weit um den Körper gespannten Stoffbahnen „sprudelt“ Kunst hervor, „souverän: aus dem Leben [...] aus dem Gefühl ihrer Übertreibung“. Jener, den Anfang der Moderne markierende Tanz von Loïe Fuller1 kommt in den Augen Mallarmés einer „Kunst-Berauschtheit“ gleich, die im Zusammenklang von „weiblicher Berauschtheit“ und technischer Innovation, die Kraft der Kunst evident werden lässt. Mallarmé attestiert dem Bühnenauftritt von Fuller eine visionäre Kraft, die sich der ästhetischen Entgrenzung des tanzenden Körpers verdankt. Umspielt von farbig erleuchteten Stoffbahnen erweitert sich der vom Körper initiierte Bewegungsraum bis an jene wahrnehmungsästhetische Grenze, an der das Körperliche der Bewegung zugunsten eines reinen Bewegungsspiels aus Lichtformationen ganz in den Hintergrund tritt. Damit eignet dem Tanz von Fuller eine wahrnehmungsästhetische Intensität, die eine Bewegungserscheinung aus dem Körper förmlich heraustretend in Szene setzt. Der tanzende Körper transformiert zu einer leuchtenden Formenschrift, die – kaum wird diese erkennbar – verschwindet. Jene im farbigen Lichtspiel körperlicher Energie evozierte Bewegungsschrift veranschaulicht in den Augen Mallarmés ein poetologisches Konzept reiner Ästhetik. Jacques Rancière führt in einer seiner vierzehn Abhandlungen über Aisthesis (2013) die ästhetische Denkfigur der „Kunst-Berauschtheit“ von Mallarmé weiter und schreibt dem „Lichttanz“ von Loïe Fuller das ästhetische Vermögen zu, ein Erscheinen in Erscheinung zu bringen, da hier „ein Körper

1

Loïe Fuller (1862-1928) wurde von der künstlerischen Avantgarde der Jahrhundertwende (u.a. von Stéphane Mallarmé, Georges Rodenbach, Julius Meier-Graefe) begeistert rezipiert und gilt als Fée de l'Électricité. Mit einer innovativen Bühnentechnik, dem Einsatz von Licht und Farbe, deren Spiegelvorrichtung für Bühnenzwecke (1899) sich Fuller ebenso patentieren ließ wie ihre Zuschneidetechnik kunstvoller Kostüme aus luftig leichten Seidentüchern, entwickelte sie ihre Tanzästhetik. Fuller gilt hiernach als Protagonistin moderner Licht- und Bühnentechnik (vgl. Lista 1994).

R AUSCH UND E KSTASE

ALS CHOREOGRAPHISCHE

K ÖRPER S ZENE

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selbst den Raum seiner Erscheinung erzeugt“ (Rancière 2013: 134). Konkretisiert findet sich eine choreographische Befreiung der Bewegung: „Die Kunst-Berauschtheit besteht darin, die Darstellung des Erscheinens nachzuahmen, anstatt die Erscheinung von Personen darzustellen, denen diese oder jene Geschichte passiert, oder die dieses oder jenes Gefühl empfinden. [...] Der Körper abstrahiert von sich selbst, er versteckt seine eigene Form in der Entfaltung der Schleier, die eher das Auffliegen als den Vogel, eher das Wirbeln als die Welle, eher das Erblühen als die Blume nachzeichnen. Was von jedem Ding nachgeahmt wird, ist das Ereignis seines Erscheinens.“ (Rancière 2013: 135, 137)

Da der tanzende Körper von Fuller selbst, wie schon Georges Rodenbach 1896 pointierte, „unauffindbar“ ist und gerade dadurch bezaubert, entwickelt dieser Tanz mit seinen Erscheinungen eines unsichtbar Bewegten eine wahrnehmungsästhetische Intensität, die sich dem transmedialen Geflecht von Körper, Bewegung, Stoffbahn und Licht verdankt. Ästhetisch wie kulturell ruft Fullers Tanz bei ihren Zeitgenossen eine Faszination für ‚reine‘ Bewegungserscheinungen wach. Mit Fullers Auftritten einer ästhetisch transformierenden Bewegungskraft des Körpers konkretisiert sich eine geradezu berauschende Kraft der Kunst: Transformierende Bewegungs-Schrift-Bilder machen als stofflicher Lichttanz das ästhetische Potenzial der Entgrenzung wahrnehmbar. Das Innere des Bewegungswirbels steter Verwandlung markiert ein abwesender Körper, der eine von ihm ausgesendete Bewegungskraft außerhalb seiner selbst in Szene setzt. Rausch manifestiert sich hier in einer ästhetischen Konzeption, die gerade nicht dem bewegungsästhetischen Raum des Körperlichen zugehört und sein Spiel mit Kräften zeigt. Choreographiert wird ein Akt der Übertragung energetischer Körperkräfte im Medium von Stoffbahnen und Licht. Damit betritt mit Fullers Tanz ein wahrnehmungsästhetischer Bewegungsrausch die Bühne, der an die Kraft des Ästhetischen appelliert, Erscheinungen transformierender Bewegungsbildung als choreographische Szene der Übertragung und damit der Entgrenzung aufrufen zu können. Rausch entfaltet seine Kraft im Ästhetischen und gibt sich selbst als Kraft des Ästhetischen zu erkennen. Gerade für die aufbrechende Moderne des Bühnentanzes werden Rausch und Ekstase als ästhetische Strategien bedeutsam. Auf ihrer Suche nach den Ursprüngen und Kräften körperlicher Bewegung, den Prinzipien eines natürlich und expressiv verwurzelten Sich-Bewegens, entstehen choreographische Formationen, die ein vielfältiges Spiel mit Kräften entfalten. Bewegungstechnisch und kompositorisch entwickeln sich Strategien der energetischen Initiation und Entgrenzung des Körpers. Adaptiert werden hierzu kulturelle und ästhetische Kör-

220 | S ABINE HUSCHKA

perbilder, die – aus den Archiven der Kunst erinnert – als exaltierte Körperposen und bacchantische Gebärden tänzerisch nachgestellt und choreographisch bearbeitet werden (vgl. Brandstetter 1995: 182-206). Neben ihren ästhetischen Bewegungsmodellen des Mänadischen und ihrer Überbietung etwa ins Groteske gilt die tänzerische Auseinandersetzung Bewegungsexperimenten der Entgrenzung, die etwa durch Drehen und Kreisen gezielt Erfahrungshorizonte von Rausch und Ekstase zu evozieren suchen. Dabei erfahren Rausch und Ekstase markante Prägungen, die ästhetische Konzeptionen der Darstellung austarieren, Erfahrungsräume erschließen und sich in Strategien der Transformation, Entgrenzung und Überschreitung artikulieren, um die Kraft des Ästhetischen als glückhafte Erfüllung im Schönen (vgl. Nietzsche 1988: 111-153) oder als Momente des Widerständigen von Kunst zu erwirken. Kurz: Rausch und Ekstase werden als Dispositive der Bühnentanzkunst eingesetzt, mit denen Strategien der Intensitätssteigerung wie auch die Erzeugung von Affekträumen im Widerhall der Zuschauer verfolgt werden.

2. R AUSCH UND E KSTASE

ALS ÄSTHETISCHE

S TRATEGIE

Die Figurationen von Rausch und Ekstase lassen sich als Kräfte des Ästhetischen beschreiben, Ausnahmezustände anzuzetteln.2 Interessanterweise lassen sich diese im Bühnentanz nicht ausschließlich mit dem Phänomenbereich von Bewegungen identifizieren. Figurationen von Rausch und Ekstase fungieren vielmehr als ästhetische Konzeptionen des Choreographischen, um wahrnehmungsästhetisch Entgrenzungen und Überschreitungen des Körpers im transmedialen Geflecht der Darstellung in Szene zu setzen. Aufgerufen werden hierzu verschiedene Darstellungs- und Erfahrungskonnexe, die auf die Erzeugung von Intensitäten drängen und doch – wie ich zeigen möchte – divergente ästhetische Strategien und Politiken verfolgen. Wenn damit hier der Versuch unternommen wird, Rausch und Ekstase als Bereiche einer ausgestellten Körperlichkeit und ästhetisierten Erfahrung zu verhandeln, so tauchen unweigerlich Fragen nach der Spezifik ihres ästhetischen Erlebnishorizontes auf. Doch anstatt diese im Sinne vollzogener Trancetechniken zu thematisieren 3 gilt mein Interesse jenen ästhetischen

2

Dabei muss darauf hingewiesen werden, dass weder Rausch noch Ekstase zum Kanon ästhetischer Grundbegriffe zählen, sondern im weitesten Sinne religiösen, spirituellen und kulturellen Praktiken angehören.

3

Sicherlich ließen sich für eine Reflektion über das Verhältnis von Rausch und Tanz auch jene Techniken bedenken, die eine Berauschtheit des Körperlichen, wie es etwa

R AUSCH UND E KSTASE

ALS CHOREOGRAPHISCHE

K ÖRPER S ZENE

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Techniken, die Rausch und Ekstase als Strategien einsetzen, um Formen der Entgrenzung zu erarbeiten. Ausgeleuchtet werden im Weiteren körperästhetische und choreographische Zugänge zu Rausch und Ekstase in ihren ästhetischen Differenzen, Szenen der Überschreitung zu produzieren. Tatsächlich äußern sich Rausch und Ekstase im Tanz gemäß ihres gemeinsamen etymologischen Begriffsfeldes als Praktiken des Außer-Sich-Seins und Außer-Sich-Geratens und damit als Verfahren, eine körperszenische Überschreitung und Entgrenzung zu erzeugen.4 Rausch und Ekstase gelten dem Bühnentanz gewissermaßen als Techniken und Zustandsmomente, die geradezu einen Ermöglichungsgrund – und vielleicht sogar ein Versprechen – tragen, Grenzüberschreitungen erwirken zu können. Hierzu gehören Verfahren, Ort und Raum des Körpers expansiv in die Bewegung eingehen zu lassen, ein Spiel zwischen Bewegen und Bewegt-Werden zu eröffnen, wie auch jene, für den Ort der Bühne eine Öffnung hin für die Sinne der Zuschauer zu erzielen. Mit Rausch und Ekstase gehen demnach spezifische ästhetische Figurationen von Tanz als Kunst einher, die das tänzerische Subjekt als Sich-Bewegenden und das Tanzgeschehen als mit den Zuschauern ästhetisch geteilten Raum entwerfen. Diese doppelte Funktion deutet auf eine interessante Differenz zwischen der ästhetischen Figur des Rausches und der ästhetischen Figur der Ekstase im Bühnentanz hin. Denn die rituelle und kulturelle Verwobenheit von Rausch und Ekstase als miteinander verschränkte Praktiken weist zugleich eine markante qualitative Differenz beider Praktiken aus. Gegenüber dem Rauschhaften ist allein das Ekstatische dem Bereich einer religiös-spiritueller Erfahrung zugehörig und markiert eine Transzendenz-Erfahrung (vgl. Köpping 1997).5 Mit Blick auf die

im Trancetanz praktiziert wird, bewirken (vgl. Natale 1993). Ich möchte mich dennoch hier auf Rausch als ästhetische Strategie der Transgression konzentrieren. 4

Analytisch treffen sich Rausch und Ekstase in der Figur des Außer-Sich-Seins und markieren beide die Erzeugung spezifischer Zustände.

5

Trotz der rituellen und kulturellen Verschränkung von Rausch und Ekstase sollte nicht ihre kulturgeschichtliche Divergenz vergessen werden: Die Ekstase vermag aus einer rauschhaften Praxis oder einem Erleben hervorgehen, mündet aber in ein mystisches Verschmelzungs- und Vereinigungserleben. So stellt Klaus-Peter Köpping in dem Lemma Ekstase einen umsichtigen und interkulturell reflektierten Definitionsrahmen von Ekstase vor, wonach: „Ekstase [...] im weitesten Wortsinne als ein Außersichsein verstanden werden [soll], als Prozeß wie als Zustand, als Attitüde wie als Enderlebnis, das sowohl ein Innen wie ein Außen umschließt, ein Subjekt wie ein Objekt, kurz: als die Aufgabe des Selbstbewußtseins auf der Suche nach Vereinigung mit und Erfahrung von transzendentalen Mächten, als eine religiöse Form der Selbstvergessenheit,

222 | S ABINE HUSCHKA

Tanzästhetik und Bewegungsmotivik der Ausdruckstänzerin Mary Wigman (1886-1973) wird diese Differenz darstellungspolitisch besonders eindringlich: Mary Wigman zelebriert die Tanzkunst als mystische Feier, die das Subjekt als Absolutem der Tanzkunst erhebt. Das Ekstatische zeigt sich als transzendentaler Raum einer mystisch verankerten modernen Tanzkunst. Erkennbar wird eine Scheidung des Ekstatischen als qualitative Verschiebung vom Rauschhaften.

3. E INE

METHODOLOGISCHE

S KIZZE

Körperlich und choreographisch treten Rausch und Ekstase durch zwei ineinander verschränkte Räume des Ästhetischen in Erscheinung, um diese gewissermaßen beidseitig zu evozieren und auffällig zu machen. So gilt das bewegungsund körpertechnische Spiel den transgressiven Kräften des Körpers und deren ästhetischen Strategien und Versprechen, die Grenzen des Körpers und Begrenztheit des Körperlichen im transmedialen Geflecht ihres szenischen Erscheinens zu überschreiten und das Blickregime der Bühne zu unterlaufen. Als Kunstform scheint der Tanz auf Grund seiner Materialität besonders geeignet, Rauschphänomene zu erzeugen, und doch ist er gänzlich ungeeignet, diese selbst zu zeigen. So markieren Rausch und Ekstase im Kunsthorizont von Tanz keinen Erfahrungsbereich, der einer individuellen, körperlich-psychischen Intensitätssphäre zugehörig ist, sondern verweist und operiert mit ihnen als ästhetische Kräfte, die den Körper als szenisch-choreographische Konzeption betreffen. Warum Choreographen und Tänzer Intensitätssphären von Rausch und Ekstase ästhetisch aufrufen, lässt sich daher mit Blick auf den Körper allein nicht beantworten. Gleichwohl das Körperliche das Potenzial trägt, sich als Rauschaktion zu zeigen, vermag diese nicht, Rausch zu zeigen. Rausch und Ekstase finden als körperliche Aktion und Wahrnehmungssphäre eine Artikulation, die ein Erleben anzeigt. Doch entziehen sie sich einer Repräsentationslogik, nach der körperliche Gebärden oder Bewegungsmuster essenziell einen Rückschluss auf ihren Erfahrungsbereich oder Erlebnishorizont erlauben. Über das Verhältnis von Rausch und Ekstase im Bühnentanz zu reflektieren, bedeutet daher paradoxer Weise sich einem ver-stellten Phänomenbereich zu nähern, der mit Zuständen und Intensitäten der Trance und der Entrückung spielt und sie als Schein zu spezifischen ästhetischen Strategien formt (vgl. Menke 2013: 51). Im Folgenden werden die ästhetischen Konnexe von Rausch, Ekstase

ungeachtet der Tatsache, ob dies durch meditative Techniken erreicht oder als durch Besessenheit verursacht verstanden wird“ (Köpping 1997: 553).

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und Tanz daher nicht im Sinne einer verhandelten Bewusstseinserweiterung betrachtet, die – wie es sonst für Rausch und seinen kulturellen Diskursen charakteristisch ist – im Konnex einer Drogenerfahrung oder eines wie immer auch gearteten Drogenkonsums steht (vgl. Feustel 2013). Befragt werden vielmehr ihre ästhetischen Konzeptionen, die in Beziehung zu kulturellen, phänomenologischen und philosophischen Figuren des Außer-Sich-Seins nicht allein ein Versprechen glückhafter Erfüllung mitführen, sondern zugleich Kräfte der Verstörung und Destruktion aufrufen.

4. D ER T ANZ ALS E KSTASE UND DAS K ÜNSTLER -S UBJEKT IM R AUSCH : M ARY W IGMAN „Damit es Kunst giebt, damit es irgend ein ästhetisches Thun und Schauen giebt, dazu ist eine physiologische Vorbedingung unumgänglich: der Rausch.“ (NIETZSCHE 1988: 116)

Die gezielte Rückbindung der Tanzkunst an das Rituelle und die kultischen Ursprünge des Theaters markieren für den Ausdruckstanz einen zentralen ästhetischen Horizont. So beginnt das Tänzerische für Mary Wigman6 mit einem Rauscherlebnis, das ihr in der Bewegungsfigur des Drehens und Kreisens widerfährt. Jener aufgerufene Rausch beginnt und endet mit dem Fall des Körpers:

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Mary Wigman gilt als eine der wichtigsten Protagonistinnen des deutschen Ausdruckstanzes. In ihrer materialistischen Ästhetik, in der sich die Kraft und Wucht des Körpers präsentiert, seine ungehemmten Dynamiken und libidinösen Energien, kommt dem Bewegungsmotiv des Drehens und Kreisens eine besondere Bedeutung zu. Phänomenologisch und kulturgeschichtlich ist dem Drehen ein ekstatisches Erfahrungsmoment zu eigen, der Wigman, an die Stelle der Musik, als inspirierende Quelle ihres Tanzes gilt. Mit ihrer existenziell verankerten und einer zunehmend mystifizierten Tanzästhetik spricht Wigman vornehmlich ein Publikum der bürgerlichen Mittelschicht an. Gebildet-konservativ bis gemäßigt liberal spiegelt der Pressespiegel ihrer Auftritte in den späten 20er- und 30er-Jahren (Berliner Börsen Courier, Die Deutsche Allgemeine Zeitung, Vossische, Germanica) eine Begeisterung wider, die einer völkisch deutsch-nationalen Orientierung folgt. Die linksliberale Presse ist demgegenüber äußerst kritisch (vgl. Huschka 2012).

224 | S ABINE HUSCHKA „ [...] kreisend und drehend in spiralischem Auf und Ab, ohne Anfang, ohne Ende – zärtliches Wiegen, greifende Arme, leidvoll und wonnevoll – in selbstzerstörischer Lust wieder sich steigernd, anschwellend und abschwellend, zurückflutend – höher und schneller, immer noch schneller – der Wirbel hat mich erfaßt, die Wasser steigen. Der Strudel reißt mich in die Tiefe. Noch höher, noch schneller, gejagt, gepeitscht, gehetzt. – [...] Ein Ruck geht durch den Körper, ihn im Augenblick der rasendsten Umdrehung zum Stillstand zwingend, hochaufgereckt, auf die Fußspitzen gehoben, die Arme hinaufgeworfen, sich an einen nicht vorhandenen Halt klammernd. Atemverhaltene Pause, eine Ewigkeit lang, die doch nur Sekunden dauert. Und dann das plötzliche Sich-Loslassen und der Sturz des entspannten Körpers in die Tiefe. Lebendig nur noch ein Gefühl: das der Körperlosigkeit. Und ein Wunsch: nie mehr aufstehen zu müssen, so liegenbleiben zu dürfen bis in alle Ewigkeit.“ (Wigman 1986c: 39)

Die Prosa Drehmonotonie reflektiert das 1926 gleichnamige choreographierte Tanzstück von Mary Wigman. Beschrieben wird eine choreographische Struktur der Bewegungsmotive Schreiten, Rasen, Drehen, Stillstand und Sturz, die in einem Gefühl der Körperlosigkeit münden. Die Schreibszene umspielt die Faszination für einen körperlosen Gefühlszustand, in dem all jene dramatisch gesteigerten Kräfte des Körpers abgebrochen werden, um eine Transzendenzerfahrung zu erzeugen. Mittels einer aus dem spirituellen Kontext entliehenen Bewegungsund Trancefigur des Drehens um die eigene Achse schält sich das Bild eines körperlich enthobenen Erlebnisses heraus: ein Hineinfallen in einen transzendenten Zustand. Doch markiert die angelegte choreographische Ordnung jener, einer rituell-spirituellen Körperpraxis entlehnten Bewegungsfigur des Drehens, eine ästhetische Figuration, die der spirituellen Praxis wesentlich unähnlich ist. Drehen und Kreisen sind eingelassen in eine dramatische Struktur einer steten Beschleunigung, deren dramatisierende Klimax auf den Abbruch der Bewegung zielt. Das Bewegungsbild und mit ihm die körperliche Bewegungserscheinung bricht zu Boden. Schon in der ersten Szene entfaltet die Choreographie ein spezifisches Gefühlsspektrum – ‚zärtlich, leidvoll, wonnevoll‘–, aus dem sich eine gleichsam fanatische Aufladung des Körpers entspinnt: immer schneller, „gejagt, gepeitscht, gehetzt“ (Wigman 1986c: 39) laden sich Körper und Raum zu einem rasenden Zustand auf. Der erzeugte Bewegungszustand gilt dem Dionysischen und gleicht dem gleichförmig-ruhigen Bewegungsritual der Derwischtänze, die Wigman zitiert, in keinster Weise. Entgegen der meditativen Praktik der tanzenden Sufi-Mönche7, die auf dem gleichförmigen Drehen am Platz – eine Hand

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Vgl. hierzu auch den Beitrag von Frembgen in diesem Band.

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nach oben, eine zur Erde gewandt – ohne Veränderung von Geschwindigkeit oder ihrer Richtung im Gegen-Sonnen basieren,8 choreographiert Wigman eine dramatisch-abgebrochene Bewegungsszene. Der „Ruck“, der „durch den Körper“ geht, lässt eine Geste der Angst und des Schmerzes erscheinen, unter der der Körper „sich an einen nicht vorhandenen Halt klammernd“ (ebd.) in die Tiefe stürzt. Entgegen der rituellen Praxis der Derwischtänze choreographiert Wigman einen pathisch affizierten Tanzkörper, der eine Transzendenz ersehnt. Dramatisiert findet sich eine Todesszene, vor deren Hintergrund eine Suche nach Transzendierung in einen anderen – ewigen – Zustand körperszenisch figuriert ist.

5. D AS T ANZERLEBNIS Die choreographische Arbeit von Mary Wigman kennzeichnete seit ihrem Beginn in den 1910er-Jahren eine tänzerische Auseinandersetzung mit rauschhaften Bewegungsexperimenten, die von einer ästhetischen Suche nach dem Empfindungsgrund des Tanzens flankiert ist. Im Kontext der Lebensphilosophie von u.a. Ludwig Klages entwickelt Wigman ein prägendes Narrativ „Das Tanzerlebnis“ (Wigman 1986a), dessen Motivik in zahlreichen Texten von Wigman, ihrer Prosa, fachspezifischen Aufsätzen und pädagogischen Schriften zum ästhetischen Leitbild und philosophisch-choreographischen Denkraum ihrer Arbeit avanciert. Autobiographisch verankert erzählt Wigman von einem spezifischen Bewegungserlebnis, auf das ihre Berufung zur Tänzerin gründet: 9 Verlassen und „verzweifelt“ beginnt sie – allein in ihrem Zimmer – sich zu bewegen und entdeckt im Tanzen einen Zustand, der den psychisch und seelisch empfundenen Schmerz zu überwinden vermag. Das leidvolle Gefühl der Einsamkeit weicht einem unsagbaren Glück, das ihren Körper durchströmt. Angelegt findet sich eine choreographische Szene der psycho-physischen Überschreitung von Schmerz und Leid, die im Bild des Enthoben-Seins mündet. Als Gründungsszene Wigmans solistischer Tanzkarriere inszeniert, fungiert das ‚Erlebnis‘ als zentrale ästhetische Figur ihrer choreographischen und päda-

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Die Derwischtänze werden bis heute in dem Mevlana-Rumi-Orden ausgeübt. Die Tanzpraktik eines gleichförmigen Drehens am Platz sucht eine Transformation des Körpers zu erzielen. Langsam um die eigene Achse sich drehend, wird er zum Medium spiritueller Energie und fällt dabei niemals zu Boden.

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In dem Film Mary Wigman 1886-1973. When Fire dances between two Poles (1991) erzählt Wigman diese autobiographische Szene ihrer ersten Tanzbegegnung.

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gogischen Praxis (vgl. Huschka 2012: 178-197). Das ‚Tanzerlebnis‘ gewinnt gleichsam eine mythische Bedeutungsfülle, denn es verweist auf eine existenzielle Verbindung des Tanzes mit dem Leben und einer Befreiung des Subjekts. Hierzu identifiziert Wigman das glückvolle Erleben eines überwundenen Schmerzes nicht mit einer Empfindung, sondern veranschlagt ein ausdruckstheoretisches Urbild-Abbild-Verhältnis. Das erfahrene Glücksgefühl zeigt den „Urgrund eines noch ungeteilten Lebensgefühls“ (Wigman 1986a: 154) an, das kein Empfindungsspektrum physische Intensitäten markiert, sondern ein „voll erfülltes Sein“, das Wigman als „innere Geladenheit“ (ebd.: 155) fasst. Entworfen findet sich ein Bild der Ekstase, das mit religiösem Sprachduktus zur ästhetischen Aufgabe des Tanzenden wird: „Wie sich das Tanzerlebnis dem einzelnen offenbart, mag sein Geheimnis bleiben. Gültige Aussage ist allein die tänzerische Tat. Das Gestalt gewordene Abbild legt Zeugnis ab für das im Erlebnis empfangene Urbild.“ (Ebd.: 156)

6. F IGURATIONEN

DES

P ATHETISCHEN

Wigman verfolgt eine choreographische Suche nach diesem Urbild, dem Grund der Bewegung, und verschafft ihm einen ästhetischen Ausdrucksraum des Pathischen, der – wie im Folgenden deutlich werden soll – mit phantasmatischen Projektionen eines gereinigten Körpers auf der Basis religiös-politischer Implikationen der Ergriffenheit arbeitet. Schon ihre frühen Solo-Zyklen Ekstatische Tänze (1917) (mit den Einzeltänzen u.a. Götzendienst, Opfer, Der Derwisch, Der Tempeltanz), Maskentänze (1916-18) (Der Tod, Die Qual, Der Wahn, Der Schrei) wie auch später die Choreographien Hexentanz I + II (1914, 1926), Totentanz I + II (1921, 1926) und Drehmonotonie (1926) setzen thematisch eine Suche nach Transzendenz in Szene. Mittels einer variierenden Bewegungsmotivik von Drehen und Kreisen entwickelt Wigman eine Repräsentationslogik des Leids und Erleidens, um in Akten der symbolischen Verschmelzung und Überwindung zelebriert zu werden. Das ästhetische Ziel markiert eine Feier der religiösen Vergemeinschaftung des Körpers. „DAS DREHEN In der Mitte des Raumes dreht sie sich mit Schritten, die klein, schnell sind, um sich selbst. Schneller werden die Schritte, höher die Streckung auf den Spitzen, stärker die Spannung des Körpers. Rasend im Schwung dreht sie sich um den eigenen Mittelpunkt. Plötzlich geschieht das Seltsame: sie hebt sich über den Boden, steht still in der Luft, ruhige Schwebe.

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Wohl weiß sie, daß sie weiter dreht, aber sie fühlt die Bewegung nicht mehr. Gehoben, ganz leicht, schwebt sie die große Seligkeit tragend.“ (Wigman 1986a: 281)

Das Drehen, Teil der fünfteiligen Prosa Die Tänzerin (Die Füsse, Das Drehen, Der Sprung, Der Kreis, Der Raum), führt erneut ein Bild der Körperlosigkeit vor, in der das Empfinden einer Transzendenzerfahrung weicht. Der Körper erscheint in einem Zustand, der sich in den Raum ergießt: Innen- und Außenraum fallen in eins und manifestieren ein Bild der Schwebe. Das Bewegungsmotiv aber, das einen dionysischen Rauschzustand, eine Verschmelzung mit Raum zitiert, betäubt den Körper und repräsentiert einen emotionalen Zustand der reinen Auflösung. Dabei wird der Tanz, wie Alexander Schwan aufgezeigt hat, in seiner ästhetischen Gestalt „soteriologisch aufgeladen“. „Nichts Geringeres als das Theologoumenon der Erlösung ist das Ziel ihres Tanzes“ (Schwan 2009: 218). Auch in der Drehmonotonie, jenem für Wigman „Ahnherr[n] aller späteren Tänze“ (Wigman 1986c: 37) wird jener Zustand der Gefühlslosigkeit aufgerufen, um sich als absolute und reine Bewegung zu repräsentieren. Hierin erhält das Ekstatische seine ästhetische Funktion: Der Körper erscheint choreographisch in einem religiösen Transzendenzzustand, dessen gleichsam „ozeanisches“ Gefühl ohne spürende Körperlichkeit als Bild eines „unbewußten Einheitserlebnis“ (Wigman 1986a: 161) vor Augen tritt. „An denselben Fleck gebannt und sich einspinnend in die Monotonie der Drehbewegung, sich allmählich an sie verlierend, bis die Umdrehungen sich vom eigenen Körper zu lösen schienen und der Umraum zu kreisen begann. Nicht mehr selbst sich bewegend, sondern bewegt werdend, selbst Mitte, selbst ruhender Pol im Wirbel der Rotationen.“ (Wigman 1986c: 39)

Der choreographierte Körper zeigt ein Bild reiner Bewegung: leer und transzendiert. Aus diesem Spannungsfeld erhält das prägende ästhetische Diktum – „Ohne Ekstase kein Tanz! Ohne Form kein Tanz!“ (Wigman 1933: o. P.) – seinen Sinn. Vor dem Hintergrund einer rituellen Tanzpraxis stilisiert Wigman das Drehen zum Tanzkult und choreographiert überwältigende Gesten des Schmerzes, des Todes, deren ersehnte Erlösung sich in Bildern der Transzendenz projiziert. Wigman erschafft einen Repräsentationsraum des Leidens und des Pathischen, der ein soteriologisches10 Bild der Körperlosigkeit aufruft. Die choreographierten Körper zeigen sich im Duktus des Pathischen als Bildwerdungen reiner Bewegung, visualisiert und lesbar im Gefüge waltender Macht.

10 Von Soteriologie = theologische Lehre vom Erlösungswerk Christi.

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Wigman verwandelt das dem Drehen kulturanthropologisch eignende ekstatische Erfahrungsmoment zu einer ästhetischen Strategie, um als Inspirationsquelle zu fungieren, die dem Tänzer ausdruckstheoretisch Impressionen emotionaler Erregungszustände zuspielen soll. Gestalthaft aber treten diese erst als choreographierte Bilder des Pathischen hervor. So rahmt Wigman ihre choreographierten Drehsequenzen mit Gesten der Beschwörung, elegischen Gängen und Handhaltungen, die weihevolle Handlungen und Bilder eines geleiteten Körpers in Szene setzen. Den Bühnenraum regieren expressive Gebärden, später geordnete Massenskulpturen geometrisch strukturierter Gruppenarrangements. Darstellungsästhetisch setzt Wigman eine ‚Tanztheologie‘ ins Werk, deren Repräsentationsraum der Transzendenz des Körpers und der Gestik der Macht gilt. Das Künstler-Subjekt bildet deren absolute Instanz. Von der Idee des Tanzes als heilige und religiöse Kunst geradezu besessen, entwirft sich Mary Wigman – Ikone des Ausdruckstanzes – als Priesterin einer neuen Tanzkunst. Mit religiösem Pathos und rituell adaptierten Bewegungsmotiven ruft sie ein mystisches Selbstbildnis ihres Künstler-Subjekts auf. Eingesetzt wird ein ästhetischer Rausch, der im wörtlichen Sinne um die Figur der Tänzerin kreist. Die politische Brisanz dieser Ästhetik wird letztlich in Wigmans Selbststilisierung und ihrem Selbstverständnis als Pädagogin sichtbar. Wigmans Tanzästhetik dramatisiert Expressionen von Sturz und Aufgabe, Demut und Glück, Opferung und heiliger Feier, Todesrufe und Lebenszeichen. Ausgestellt finden sich Pathosformeln, die ihre Geste des Politischen im Bild eines gereinigten Körpers und eines absolutistischen Konzepts der tänzerischen Idee finden, „Einheit von Ausdruck und Funktion, durchleuchtete Körperlichkeit, beseelte Form“ (Wigman 1933) zu sein. Der choreographierte Körper agiert als religiöses Medium: aus ihm spricht die Sprache göttlicher Offenbarung. „Sie [die Tänzerin] ist Gefäß, das sich am lebendigen Inhalt immer wieder von neuem erhitzt und durchglüht, bis die gegenseitige Einschmelzung restlos vollzogen ist und von nun an nur noch die Einheit des künstlerischen Geschehens zu uns spricht“ (Wigman 1933). Tanz wird zur „absoluten Kunst“, denn er ist dort, „wo das Wissen um die Dinge aufhört, wo nur das Erlebnis Gesetz ist, dort beginnt der Tanz“ (Wigman 1986a: 157). Wigmans choreographischer und bewegungspädagogischer Zugriff sucht in der Figur der Ekstase, ein transzendierendes Erlebnis zu erzeugen, mit dem eine pathische Aufladung des Körpers in Szene gesetzt wird.

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7. D IE E RMÄCHTIGUNG ENTMÄCHTIGTER K ÖRPER R AUSCH : ZEITGENÖSSISCHE P ERSPEKTIVEN

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IM

Wie sehr der Körper im Rauschhaften selbst ein fragiler Ort und durchwebter Raum übermächtiger Bewegungskräfte werden kann (vgl. Philipp 2013), markiert für den Bühnentanz eine ästhetische Figuration, mit der ein AusgeliefertSein an fremde Kräfte die Szene des Körperlichen betritt. Während Wigman die im Rausch eintretende Bemächtigung des Körpers und dessen drohender Kontrollverlust als ekstatische Transzendenzerfahrung des Pathischen ausweist, verhandeln zeitgenössische ChoreographInnen, wie etwa Meg Stuart, Anouk van Dijk oder Doris Uhlich, den Rausch bewegungs- und körpertechnisch als ein Kräftefeld eines im Eigenen aufgerufenen, waltenden und hereinbrechenden Fremden. Tanztechnisch erarbeitet,11 werden auf der Basis somatischer Zugänge wie dem Body-Mind-Centering12, der Release Technik und Kontakt-Improvisation und ihrem Prinzip von Alignment (‚gelöste‘ Aufrichtung des Körpers) über Spannungslösung, Dezentrierung und einem ‚Durchlässig-Werden‘ für Bewegung, ,Energie-Felder‘ im Körper erfahrbar, die mittels spezifischer Imaginationstechniken und der Evozierung psychischer Zustände intensitätssteigernd einsetzbar werden. Die TänzerInnen lernen gewissermaßen ganz und gar in Bewegung zu kommen und für die Bewegung ‚durchlässig‘ zu werden,13 um potenziell, wie es der Gründer der Kontaktimprovisation Steve Paxton erträumte, „den Planeten verlassen zu können“ (Paxton 1988: 39). Die Trainingsmethoden zielen auf einen ausgerichteten, aktiv-passiven und passiv-aktiven Körpergebrauch, mit dem der Körper in einen multidimensionalen Energieaustausch mit seiner Umgebung eintritt. Ihre disparaten Verfahren der Sensibilisierung, Wahrnehmungs-

11 Unter den genannten Choreographinnen nimmt Anouk van Dijk eine Sonderstellung ein, da sie eine eigene Tanztechnik entwickelt hat. Vgl. die Analyse ihrer Countertechnik in: Diehl/Lampert (2011: 60-95). 12 BMC wurde ab den 1970er-Jahren von der amerikanischen Tänzerin Bonnie Bainbridge Cohen entwickelt und findet als Grundlage improvisatorischer Techniken im Zeitgenössischen Tanz ebenso Anwendung wie im therapeutischen Bereich (vgl. Cohen 1993). 13 Die Prinzipien der Release-Technik zielen, auf ein „,Loslassen‘ im Sinne eines SichÖffnens für andere Möglichkeiten – und für die Frage, wie sich diese neuen Möglichkeiten anschließend realisieren lassen. […] Es geht also nicht nur um ein Loslassenvon, sondern vor allem um eine Loslassen-für: Energie, die blockiert war zu öffnen, damit sie neu genutzt werden kann.“ (Gabriele Wittmann, zit. nach Diehl/Lampert 2011: 290.)

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schulung und Imaginationstechniken ermöglichen gerade über eine Reduzierung des muskulären Kraftaufwands im Sich-Bewegen einen sich verflüssigenden Bewegungsduktus, dem eine qualitative Steigerung dynamisierender Prozesse zu eigen ist. Die Techniken zielen geradezu auf eine Entgrenzung und situative Öffnung des Körpers, womit sich eine Aktivierung von Energiezuständen einstellt, die außerordentliche Bewegungsereignisse und eine koordinative Expansion des Körperlichen erzeugen.14 Choreographisch in interagierende Exaltationen überführt, wie im Theaterabend Rausch (2012) von Anouk van Dijk und Falk Richter, oder choreographisch als Zustandsmomentum der Störung eingesetzt, wie es Meg Stuarts Choreographien ihrer Company Damaged Goods zu eigen ist, oder Bühne und Körper in ein körperszenisches Beben versetzend, mit dessen ekstatischem Moment sich die aktuellen Stücken von Doris Uhlich auseinandersetzen: Körper und Szene geben sich in einem choreographischen Feld der Übersteuerung und Überreizung preis. (Poly)rhythmische Eskalationen von Atem und Physis erfassen den Raum des Körpers und lassen ihn als Medium fremder Kräfte – zitternd, zuckend und im Bouncing (federnde schnelle Pendel- und Rüttelbewegung) umfangen – erscheinen. Aus dem Körperlichen entfalten und entspinnen jene Tanzästhetiken ein qualitatives Spektrum unwillkürlich wirkender oder repetitiv komponierter Bewegungen, die durch die stete Initiierung impulsiver Vorgänge, Körper, Raum und Umgebung in einen Wahrnehmungszustand des Bewegt-Werdens versetzen. Der Raum von Körper und Bühne wird von nervösen, sich verflüssigenden, monoton rhythmisierenden, beschleunigenden oder verschleppenden Impulsen durchzogen, die die Bühne zum Ort des Ausgesetzt-Seins wandeln, gleichsam einer geweblichen Falte von Bewegungsräuschen. Die Körper erscheinen mal durchstoßen von Bewegungen, mal werden sie rasend an den Grad kompletter Erschöpfung gedrängt, erbebend vibrierend, zuckend, und mal werden sie gleichsam somnanbul aus ihrer Performance entlassen. Das Choreographische initiiert geradezu eine Übermannung des Körperlichen, tatsächlich sich erschöpfender von Bewegung durchzogener Körper. Szenisch wird ein Fremd-Sein im

14 All diese unterschiedlichen Bewegungstechniken kommen – grob gesprochen – in einer spezifischen Wahrnehmungsschulung von propriozeptiven, organischen und vegetativen Vorgängen überein und trainieren eine gesteigerte Aufmerksamkeit gegenüber den vielfältigen Mikroprozessen im eigenen Körper. Die Techniken versuchen eine Sensibilisierung des Körpers für verschiedene Spannungs- und Energiezustände zu erwirken, erarbeitet durch physische, mentale und imaginative Zugänge, die verschiedenste Spürmodalitäten im Körper aktivieren und dabei mitunter auf ein Reservoir an Imaginationstechniken zurückgreifen (vgl. Huschka 2013).

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eigenen Haus, das, um eine Formulierung von Siegmund Freud zu verwenden, bekanntlich jeglicher Selbstbewegung beiwohnt (vgl. Waldenfels 2002) und doch im derart ausgestellten Rausch das Fremde als Befremdung im eigenen Körper zum Bewegungsprinzip erhebt. Die Bewegungen reichen in kein Körperzentrum zurück und geben kein Subjekt preis oder ein Körpersubjekt zu erkennen. Grund und Quelle des Sich-Bewegens suchen sich in Zustände reinen Bewegens zu verflüssigen. Geschaffen werden körperszenische Orte des Unbehausten.

8. M EG S TUART /D AMAGED G OODS : V IOLET (2011) „ [...] physische Zustände, die man nicht kontrollieren kann, Zittern, Fieber, Schwitzen, Ticks, Bewegungen, die wir nicht verbergen können. […] Oftmals gebe ich den Tänzern die Aufgabe, sich vorzustellen, daß der Körper, mit dem sie sich bewegen, nicht ihr eigener ist. Somit treibe ich sie bis an die Grenze des Kontrollverlusts, […]. Das Ergebnis ist ein höchst virtuoses, aus der Kontrolle geraten.“ (STUART IN KÄSTNER 2007: 3115

Angewurzelt an einem Ort bewegen sich fünf TänzerInnen wie irre und kommen doch nicht von der Stelle. Zu Beginn von Violet starren sie gleichmäßig aufgereiht, dem Publikum frontal gegenüber, in die Zuschauertribüne. Mechanische Bewegungen setzen sich in Gang. Stupide in beharrender Wiederholung schwillt allmählich ein Sog anstürmender Bewegungsimpulse an, der den siebzigminütigen Abend bis zur Erschöpfung treiben wird.16 Den Anfang aber setzt ein grelles Licht, das für wenige Sekunden nur hochvoltig in den Zuschauerraum stößt. Kurzzeitig erblindet, erahnt man hinter der kaltweißen Lichtwand die Tänzer.

15 Tanztechnisch erarbeitet Stuart ihre Stücke auf der Basis verschiedener Bewegungssysteme und ihrer Wahrnehmungsschulungen. Selbst in Kontaktimprovisation und Movement Research an der New Yorker Tish School for the Arts ausgebildet, informieren die Prinzipien Release und Alignment Stuarts Zugang zum Körper. 16 Die analytischen Beobachtungen basieren auf meinem Besuch einer Aufführung von Violet am 02.03.2012 im Berliner Radialsystem.

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Sie selbst stehen vor einer pechschwarzen Plastikwand, deren Latexglanz später den einzig hellen Lichtreiz der Bühne bildet. Die Störung hat bereits Einzug gehalten. Nerven und Wahrnehmung sind gespannt und so erblickt der Zuschauer in der neutralisierten Körperszene aus mechanischen Bewegungsfigurationen einen Reflex von etwas, das als gewaltige Kraft in diesen Körpern hausen muss. Die Wahrnehmung überspannt, lauert man auf etwas, das kommen wird: eine hereinbrechende Gewalt monströser und gespenstischer Impulse, die sich allmählich in nervlich zerborstenden und vibrierenden Körperszenen ausbreitet. Dabei werden der offenen Freilegung von Energie im Sinne des Release massive Hemmnisse entgegengestellt. Den TänzerInnen entfahren Bewegungen, die sich als leere Gesten mit einer brachialen Gestikulation um den Körper ranken: vibrierende, pendelnde und schleudernde Armbewegungen. Doch sie selbst stehen wie Pfähle eingerammt im Bühnenraum. Mimik und Organbereich werden in Mitleidenschaft gezogen. Die Bühne beherrscht unter ohrenbetäubender Akustik ein zuckendes Rattern gegenläufiger Kräfte: Zittern, Rasen, Keuchen und Wegknicken aus einem innerlich aufgebauten Widerstand. Lange Zeit werden sich die Tänzer räumlich eingefasst in dieser gesetzten Widerläufigkeit von schleudernden und beharrenden Kräften bewegen, Bewegungen, die als ein Fremdes durch sie hinaus brechen. Ästhetisch arbeitet Stuart poröse, zerborstene und nervöse Gestalten heraus, deren Bewegungswucht aus gleichsam fremden Nestern des Körpers konvulsivisch und reizbar austreten. Bewegungen einer apathischen Mechanik wechseln sich mit psychotischen Exaltationen des Körperlichen ab, ohne die Körper als Subjekte auszuweisen, die sich aus sich bewegen. Eine fremde Macht hält diese zuckenden Leiber zugleich zusammen und markiert eine leere Instanz, die dem Subjekt unzugänglich ist. Die TänzerInnen fallen geradezu von Zustand zu Zustand und scheinen sich außerhalb ihrer Selbst zu bewegen. Violet demonstriert im Gegenläufigen von örtlicher Arretierung und rasenden Bewegungsimpulsen einen energetischen Widerstandsraum, eine Selbsttätigkeit von Dysfunktionen, deren Kräfte die Körper starr und rasend machen und den Ort der Bühne zum Bersten aufladen, gespenstisch verdunkelt. Meg Stuart bezeichnet Violet als eine „abstrakte“ Arbeit, doch könnte diese Choreographie konkreter nicht sein. Violet entfaltet im Rausch sich gleichsam unwillkürlich entladener Bewegungskräfte eine Theatralität, die Intensitäten eines nervlich-energetisch durchströmten Körpers zu einem choreographischen Setting der Überreizung formt. Violet baut einen energetischen Wall überreizter Körper auf, die den Grad sinnlicher Reize überschreiten: akustisch bis an die Schmerzgrenze geführt, grassiert die LiveKomposition von Brendan Dougherty aus Elektronik und Percussion über der Szene, auf der die TänzerInnen bis an den Rand physischer Erschöpfung getrie-

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ben werden. Dieser Rausch harrt im abgedunkelten Raum, einer geradezu aphotischen (lichtlosen) Zone aus. Am Ende des Abends werden die TänzerInnen schweißüberströmt an der Rampe stehen. Als Zuschauer verlässt man das Theater verstört. Körperlich einer rauschhaften Sinneskraft ausgesetzt, macht sich Erschöpfung breit.

9. ANOUK VAN D IJK /F ALK R ICHTER : R AUSCH (2012) Obwohl die niederländische Choreographin Anouk van Dijk mit vergleichbaren bewegungstechnischen Prinzipien arbeitet, ist Rausch in der gleichnamigen Tanztheaterproduktion in Zusammenarbeit mit dem Autor und Regisseur Falk Richter am Düsseldorfer Schauspielhaus thematisch gerahmt. Ein gemischtes Ensemble von zwölf Tänzern und Schauspielern entblättert die psychopathischen Strukturen unserer technologischen Lebenswelt und Beziehungslogiken, in der Liebe und Sexualität zum Sehnsuchtsort eines absoluten Glücksrausches geworden sind. Eingewoben in ein narratives Geflecht monologisch-dialogischer Reflexionen über die gesellschaftliche Disposition von Beziehungen, die ökonomisch von Finanzmärkten, Psychotherapien, der Occupy Bewegung und Facebook unterspült sind, legt die choreographische Struktur des knapp zweistündigen Abends einen energetischen Teppich aus gehetzten, desorientierten, fallenden und massiv konfrontativen Körperaktionen aus. Auch hier wohnt der Szene eine extrem laute Musik bei, deren elektronische Atmosphäre und Rhythmik von Ben Frost, das Erzittern und die Zuckungen der Tänzer dynamisch strukturiert.17 Rausch bildet dabei das Sujet, einen Sehnsuchtsort glückvoller Erfüllung zu markieren, ein Aufgehen in der Welt, der in seiner Abständigkeit vorgeführt wird. Die Tänzer bilden ein von Kräften der Anziehung und Abstoßung interagierendes Bewegungsnetz, in dem sie aufeinander oder auf die wenigen Möbel der Bühne stoßen, die aus einem Wartesaal einer jeden Praxis, ob Arzt, Therapeut oder Anwalt stammen könnten, sich über die Sitzmöbel schmeißen, robben, springen oder auf ihnen zusammensacken. Sie tauchen hinab in den Boden, suchen hängend Halt aneinander oder ergehen sich in physischen Eskalationen gegenseitiger Bedrängnis und Abwehr. Rausch zeigt sich in Beziehungswelten psychotischer Zustände, in Therapiesitzungen, Zerstörungsphantasien und dem Phantasma, einer Realität ausgesetzt zu sein, die doch mit jeder Bewegung zuund aufeinander, selbst geschaffen wird. Nur am Ende des Abends ergeht sich

17 Für die Analyse habe ich eine Aufzeichnung der Aufführung vom 14.4.2012 am Düsseldorfer Schauspielhaus benutzt.

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das Stück in einer rauschhaften, sich langsam abdunkelnden Szenerie kreisender, sich um die eigene Achse drehender Körper, über denen ein Teppich von aus der Ferne hallender Stimmen und Trommeln liegt.

10. D ORIS U HLICH : B EBENDE K ÖRPER EKSTATISCHEN M IT -S EINS

ALS

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Wenn Rausch spezifische Bewusstseinszustände adressiert, so vermag der Bühnentanz diese als körperliche Zustandsmomente auszustellen, um sie choreographisch zu reflektieren oder auszuspielen. Letzterem hat sich die Arbeit der österreichischen Choreographin und Tänzerin Doris Uhlich verschrieben. Mit ihren aktuellen Arbeiten Universal Dancer (2014), Ravemachine/Skizze (2015) und Boom Bodies (2016)18 begibt sie sich auf die Spuren der Rave- und TechnoKultur, deren hochfrequentierende Beats und Soundcollagen zur energetischen Reizmaschine tänzerischer Bewegungen werden.19 Schon das Bühnensetting von Boom Bodies (2016) lehnt sich mit einem anwesenden DJ ästhetisch an die Technokultur an, um im akustischen Wechselspiel mit den TänzerInnen, untersetzt mit ihren Schreien, eine körperszenische Durchflutung ekstatischer Bewegungen anzulegen. Doch sind es, anders als in den Arbeiten von Meg Stuart oder Anouk van Dijk, primär repetitive Bewegungsmuster des Schwingens, Bouncen, leichten Vibrierens und Pendelns, mit denen acht TänzerInnen nicht den Drehschwindel aufrufen, sondern ein ekstatisches Motiv des gleichsam Hinabsinkens in die pulsierende Organizität des Körpers vorführen. Die steten Wiederholungen breiten eine Atmosphäre der Verselbstständigung aus, die über ständige Motivwechsel an die Schwelle eines ekstatischen Erlebens heranreicht. Die TänzerInnen scheinen sich im Laufe des 60-minütigen Stücks förmlich in den Wahrnehmungsraum ihrer Körper versunken auszubreiten, ihre Blicke abwesend von der Rhythmik ihrer Körper verschluckt. Das techno-physische Zusammenspiel von Musik und Bewegung markiert gleichsam den choreographischen Initiationskern eines ekstatisch ausgestellten Mit-Seins in Bewegung. Während Uhlich für ihr Solo Universal Dancer noch eine kunstvoll konstruierte Vibrationsmaschine als Mechanismus der Energieübertragung bebend, rüttelnder Bewegungen

18 Meine Beobachtungen basieren auf einer Aufzeichnung der Premiere am 8.1.2016 am Tanzquartier Wien. 19 Über die stilistische Variabilität und kulturelle Herausbildung des Techno gibt die musikwissenschaftliche Abschlussarbeit von Dennis Mathei (2012) detailliert Auskunft.

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einsetzte, vernetzen sich die TänzerInnen nun zu Boom Bodies, rhythmisch loser Cluster. Die stete Verwandlung ihrer Motive und Intensitäten suchen eine AnRührung der Zuschauer zu erwirken, eine im Aufruhr ihrer Körper energetische Zustandsübertragung, mit der die Bühne zur Maschine der Affizierung wird. Das ästhetische Interesse für rauschhafte Zustände und einer Produktion ekstatischer Momente scheint im Tanz- und Performance-Bereich seit der Jahrtausendwende erneut virulent zu werden. Doch anders als zu Beginn des 20. Jahrhunderts präsentieren sich Körper und Szene primär als ein chaotisches Geschehen aus Zuständen eines Un-behaust-Seins, durchflutet von destruktiven Kräften und eingebunden in technologische Netzstrukturen und kommunikative Hemmnisse. Das Rauschhafte zeigt sich im Prall gegen Grenzen – einer gezielt evozierten physischen Anstrengung und Verausgabung: aufbegehrend und von einer Sehnsucht nach Ekstase getrieben und doch für glückhafte Überschreitungen nur zögerlich empfänglich. Das Vertrauen in Utopien energetisierender Bewegungsräusche ist gewichen, gleichwohl an dem Wissen um die ästhetischen Kräfte des Körperlichen festgehalten wird.

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Klang als Brücke zwischen den Welten Musik und Trance, Musik und Ekstase1 C HRISTIAN K ADEN †

1. Z UGÄNGE Überblickt man die Kulturen der Welt, auch nur in Umrissen, erscheinen Musik und Alterierte Bewusstseinszustände (Altered States of Consciousness, ASC) in so enger Verknüpfung, dass man durchaus von einem Universale sprechen möchte. Umso irritierender ist, dass trotz zahlreicher Einzelstudien weder die Musikwissenschaft noch die allgemeine Kulturgeschichtsschreibung diesen Problemkreis sozialtheoretisch tiefergehend analysiert haben (siehe die Bibliographien bei Brandl 1993 und Taschler 2007). Unterbelichtet bleibt vor allem die kosmologische Rolle von Trancen, Ekstasen und der mit ihnen verbundenen Musikformen. Aber auch die phänomenale Vielfalt entsprechender psychischer Transformationen wird oft nur unzureichend gewürdigt. So handelt die bis heute Leitbild gebende Monographie von Mircea Eliade (1975) generalisierend von „Ekstasetechnik“ im Singular. Und erst die ihrerseits beispielhafte Studie von Gilbert Rouget (1985) konnte existenzielle Unterschiede zwischen Trancen und Ekstasen überhaupt geltend machen und die beiden Basiskategorien in eine Struktur binärer Oppositionen bringen. Das führt zwar zu Vereinfachungen und Schematismen (vgl. dagegen Walsh 1992: 263ff.); vermutlich wird man neben Trancen und Ekstasen in ‚reiner‘ Gestalt auch Übergangs- und Mischformen, ja

1

Anmerkung des Herausgebers und der Herausgeberin: Im Dezember 2015 ist Christian Kaden, für alle völlig unerwartet, verstorben. Wir geben seinen Beitrag nach der letzten Fassung des Autors von eigener Hand wieder. Unser Dank gilt Christin Grohn-Menard, die die im Manuskript noch fehlenden Abbildungen im Nachlass des Autors identifizieren konnte.

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sogar ganz anders dimensionierte Begrifflichkeiten wie den Flow (Aellig 2004; Csikszentmihályi 1998) zu berücksichtigen haben. Angesichts des nach wie vor sehr freihändigen Gebrauchs der einschlägigen Vokabeln – mit „Trance“ wird neuerdings sogar eine Sparte der Popmusik assoziiert –, ist es indes hilfreich, auf Rougets Ansatz zurückzugreifen. Essenziell erscheint es zunächst, für Trancen und Ekstasen jeweils auseinanderstrebende klanglich-rituelle Milieus zu postulieren (Rouget 1985: 11). Trancen finden, nicht immer, aber ausgesprochen häufig, in lärmintensiven Umgebungen statt, mit der Tendenz zu einer Überstimulierung des menschlichen Sensoriums. Die Teilnehmer des Zeremoniells rufen, schreien und singen durcheinander; Musikinstrumente produzieren extreme Schallamplituden, wenn nicht Lautstärken jenseits der Schmerzschwelle. Das lässt die Partizipanten außer sich geraten, und der wachsenden Erregung folgt ein krisenhafter Kipp in den neuen Bewusstseinszustand, oft unter Zuckungen oder Symptomen, die einem epileptischen Anfall ähneln. Demgegenüber sind Ekstasen, wie sie uns in indischen oder ostasiatischen Meditationstechniken begegnen, in Ruhe eingebettet (ebd.). Klang und Stille definieren sich aneinander; ersterer wächst aus dem Nullzustand gleichsam heraus. So benötigen die Sänger des Dhrupad (Trance 1 1995: CD, Nr. 3; Text, S. 49ff.; Deepak 2005), einer altindischen Hymnenpraxis, mehrere Minuten, ehe sie in ihr Tonsystem hineinfinden; enorm lange Haltetöne vermitteln den Eindruck eines ununterbrochenen Durchatmens. Und erst nach einer längeren Phase solcher „Einstimmung“ (Knepler 1977: 71ff., 584) werden Gebets-Texte artikuliert, die dem Rigveda, der ältesten spirituellen Poesie Indiens, entstammen. Dann auch treten die Musiker emotional aus sich heraus, geraten in Begeisterung – ohne indes den Duktus der Bewusstseinsfokussierung aufzugeben. Trancen und Ekstasen haben ihre je eigene rituelle Ökologie – und ihre Klangökologie. Ein zweiter Aspekt ist nicht minder wichtig. Er betrifft das Verhältnis von Trance bzw. Ekstase zu Gedächtnisleistungen (Rouget 1985: 11). Charakteristisch für Trancen ist, dass der, der sich ihnen aussetzt, keine Erinnerung an den Zustand der Alteration bewahrt. Amnesie erscheint sogar als Kriterium von Trance. Sibirische Schamanen kehren von ihren Weltreisen zurück: benommen, kaum ansprechbar, vor sich hin dämmernd (vgl. Eliade 1975; Diószegi/Hoppál 1978). Solange sie im Ober- oder Unterirdischen weilten, konnten sie noch durch Gesten, Gebärden oder unartikulierte Rufe ihre Erlebnisse dem Ritualpublikum mitteilen. Sobald sie jedoch ins Ebenerdige wiedereintauchen, übermannt sie der Schlaf, der im Extremfall mehrere Tage dauert. Beim Erwachen dann wissen sie nicht mehr das Geringste von den Ereignissen auf ihrem Geisterwege. Schon antike Autoren fanden dafür eine treffsichere Beschreibung. Behnk (2009: 82-83)

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führt aus, dass jenen Frauen, die dem Weingott Dionysos mit phallischen Tänzen huldigten, Schlangen im Haar trugen und nötigenfalls im Winter, barfuss, den Olymp bestiegen (Vogel 1966: 46-47), „Besinnungslosigkeit“ und „Raserei“ bescheinigt wurden, im Geistigen wie im Handeln (Euripides 1999). Dionysische Rituale waren, bevor sie im Theater rationalisiert und gebändigt wurden, im Wesentlichen ‚wilde‘ Trance-Veranstaltungen (Kaden 2004: 74ff.). Ekstasen leisten absolut Gegenteiliges. Sie implizieren nicht Bewusstlosigkeit im zerebralen Sinne, sondern eine Fokussierung des Denkens und Erlebens: indem sie zwar den Wahrnehmungshorizont verengen, im Einzelnen jedoch verschärfen wie durch einen Zoom. Kon-Zentration ist ihre Sinngebung. Wirft man erneut einen Blick auf das griechisch-römische Altertum, könnte es leicht sein, dass die Musen solcher Ekstasis verpflichtet waren: schöne Weisen singend, schöne Dichtungen, geleitet (und kontrolliert) von einem Anführer, dem Gott Apoll, der in Delphi die dunkle Wahrsagerin Pythia abgelöst hatte und selbst mit Prophezeiungen auftrat, hell, klar, durchsichtig (Kerényi 1966: Bd. 1, 83ff.; Vollmer 1979: 57).2 Empirisch-praktisch übrigens dürften die Musen nicht a priori Gottheiten gewesen sein, sondern attische Mädchen, die erst beim Singen und Tanzen (griech. melpein) zu Göttinnen wurden (Koller 1963: 17-18, 27, 36ff.). Dies nämlich, das ist ein Drittes, gibt Trancen wie Ekstasen ihre kosmologische Bestimmung: Sie bewirken keine Alterierung des Bewusstseins schlechterdings, vielmehr, wo es ihnen ernst ist, einen Identitätswandel. Und sie leiten die Akteure aus einer Welt in eine andere. Von dort aus gehen die in Trance/Ekstase Befindlichen mit ihrem alltäglichen sozialen Umfeld ein „neues Bündnis“ ein (Kaden 2004: 52-53; Pinto 1991) ein. Sie vermitteln der sogenannten ersten Welt Botschaften, Zuversicht, Kraft, nicht minder aber auch kritische Impulse. Die Welt des empirisch Irdischen wird mit der Welt des ANDEREN in einen Dialog gebracht, in ein Verhältnis der Kompensation und der ausgleichenden Rückkop-

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Die hier suggerierte Dualität von Musen und Mänaden, die stark an Friedrich Nietzsches Entgegensetzung von Apollinischem und Dionysischem erinnert, kann sich auf eine These des Plutarch (1./2. Jh. n. Chr.) berufen, der die beiden Gottheiten samt ihren Gefolgsleuten als einander ergänzend sieht, in einem Verhältnis der Komplementarität. Angeregt ist diese Deutung, die mit der Doppelherrschaft der Götter korrespondiert: Apoll im Sommer, Dionysos im Winter, aber auch mit dem Doppelgipfel des Parnass, durch ein Relief am Apollon-Tempel in Delphi, das beide Parteiungen als gleichgewichtig gegenüberstellt (Plutarch, Über das E in Delphi: 389c; vgl. Jochen Schmidt 2012: 91ff.). In Platons Schriften werden übrigens fallweise auch die Dichter in die Nähe von Wahnsinn und Besessenheit gebracht (Phaidros: 245a), ja als Wahrsager begriffen, die in Bewusstlosigkeit über sich hinaus wachsen (Ion: 534b).

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pelung (Kaden 2006). So besteht der Kosmos der Kaluli im Regenwald von Papua Neuguinea aus einer Welt des Menschlichen im Halbdunkel des Dschungels und einer Welt der Vögel auf den Baumwipfeln (Feld 1982). Wer stirbt, verwandelt sich in ein gefiedertes Wesen, das mit seinem Schrei die auf der Erde Zurückbleibenden an ihre sozialen Verpflichtungen erinnert. Aber auch lebendige Menschen können zum Vogel oder zumindest wie ein Vogel werden, indem sie den Verstorbenen auf seinem Weg ins Licht begleiten: mit dem Gesang der Totenklage, die in der direkten Vergegenwärtigung, ja Verkörperung von Vogellauten durch den Klagesänger gipfelt (Kaden 1993: 28ff.). Die Verwandlung zum Vogel erfolgt dabei wenig spektakulär, aber durch eine deutliche Veränderung der Vokalisation, kraft einer Klang-Mutation, einem Außer-sich-Sein in der Musik. An anderer Stelle, bei nächtlichen Zeremonien in den Langhäusern, treten Tänzer in Vogelgewandung auf und berichten den versammelten Männern von der Einsamkeit der Ahnen, die auf den Bäumen sitzen. Das führt die empirischen Väter an ihre Affektgrenze: Sie weinen, schluchzen und artikulieren neuerlich ekstatische Vogelrufe (ebd.: 32). Der Kontakt zwischen den Ahnen, den Vogelwesen und den Menschen auf Erden, ist komplementär, wechselseitig. Wo das EINE sich zuträgt, ereignet sich auch das ANDERE. Beide formieren ein Ganzes, indem sie sich ergänzen. Diese Zwei-Welten-Struktur nun (die sich fallweise auch zu einem DreierModell von Himmel, Erde und Unterwelt auswächst) liefert die plausibelste Begründung, warum ‚irdisches‘ Verhalten Entgrenzungen sucht und DaseinsÜberschreitungen. Die EINE Welt wird nicht nur bestätigt, sondern vor allem auch korrigiert durch die jeweils ANDERE. Dualität verbürgt eine Art kosmologischer Ethik – und ist eine Instanz kosmologischer Regelung. Für jene mentalen Strategien, die Claude Lévi-Strauss (1968) unter dem indigenen Prinzip des „Wilden Denkens“ versammelte, gilt das explizit. Aber auch monistische Gesellschaften, wie die der industriellen Moderne, praktizieren, ohne es weltanschaulich zuzugeben, nicht selten ihre Sehnsucht nach ANDERS-Werden. Wo „Gott tot“ ist, sakralisieren sie ihre Führer (etwa Hitler oder Stalin). Eine völlig neue Welt finden sie in Club- und Diskoszenen (Vogt 2005: 88ff.). Das ICH kann hier seine zweite Seele entfalten, nicht selten auch eine Schattenseite. Zuflucht schließlich bietet, um noch dies zu nennen, die Kunst, die vorgeblich ihre eigenen Daseinsgesetze hat (Eggebrecht 1995: 206). In naturnahen Kulturen wird über duale Kosmologien sogar der Tod im Leben gegenwärtig. Wer Gottheiten, Ahnen aufsucht, sich ihnen anverwandelt – und doch auch zum Ebenerdigen wiederkehrt, begeht die zweite Welt, ohne nur in diese transportiert zu werden. Die Passage (Gennep 2005) ist erlebbar, bleibt lebendig. Und sie ist reversibel; über Trancen oder Ekstasen organisiert sich ein Hin und ein Zurück.

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Das Vehikel nun für diese Fahrten zwischen den Welten, und vor allen für die Hinwendung zum ANDEREN, können Drogen sein, in zahllosen Kulturen indes auch und sogar wesentlich die Musik (Kaden 2012). Klänge erbauen die Brücke zwischen den ‚Da-Seinen‘. Und durch spezielle Eigenschaften markieren sie die Wegführung. Für Trancen, wie angedeutet (vgl. Brandl 1993: 607-608), haben die großen Lautstärken eine gesteigerte Bedeutung: z.B. von Trommeln, die ganz nahe bei den Körpern der Trance-Tänzer gehalten werden. Auch Frequenzen unterhalb der Hörschwelle werden erzeugt, Fühl-Frequenzen. Sie fahren spürbar in den Leib. Direkt hinein in die Ohren – ein tibetischer Brauch – bläst man Sterbenden mit Knochentrompeten, auf dass die Seele sich vom Leib löse und der Eintritt in einen neuen Lebenskreislauf, der Sprung durch eine kosmische Lücke (bardo), möglich werde (Fremantle/Trungpa 1989: 59ff.). Allgegenwärtig sind in Trancemusiken peitschende rasche Tempi, die über lange Strecken monoton wiederholt werden – oder aber kontinuierlich sich steigern, gleichsam bis zur Grenze des Musizier-Möglichen. Dem Europäer erscheinen sie als nichtssagend und langweilig. Das ist nicht einmal eine grundfalsche Diagnose. Denn es geht, wie bei abnormen Lautstärken, um die Labilisierung von eingeübten Bezugssystemen menschlicher Wahrnehmung. Monotonie generiert gleichsam eine informationelle Krise: Redundanz über alle Maßen torpediert jede zügige Informationsverarbeitung. Ähnlich die immerwährende Steigerung. Sie trägt fortgesetzt Neues vor und doch auch Gleiches. Als kumulativer Prozess schaukelt sie sich auf bis zum kritischen, das System zerstörenden Überschwingen (Kaden 2004: 28ff.). Vergleichbares gilt auf den ersten Blick sogar für Ekstasen, in denen große Ruhezonen durchgehalten werden. Als Konzentrations- und Meditationsübung indes wird bei ihnen wesentlich auch mit tonalen Oszillationen hantiert. MikroIntervalle: Vierteltöne, ggf. sogar kleinere Distanzen, schaffen Schattierungen, die sich eben noch hören lassen. Dass sie dem indischen und dem arabischen Tonsystem (Oesch 1984/87; Touma 1996) eingeschrieben sind, kündet ganz und gar nicht von reduzierter Apperzeptionsschärfe ihrer Kulturträger, sondern im Gegenteil: von einer Bewusstseinsorientierung auf Feinheiten und Allerfeinstes. Und wo dann nach fortdauernder Umspielung eines fixen Tons (das heißt: dessen systemischer Vermeidung) dieser dann doch sich stabilisiert: in voller Klarheit, dort fallen das maximal Erwartete und das total Überraschende fast in eins. Die geistigen und seelischen Erlebnisse von Trance und Ekstase sind buchstäblich eingebettet in kalkuliert eingesetzte Klangeigenschaften. Im Selbstlauf allerdings ereignen sich die Bewusstseinsveränderungen nicht. Über Jahre habe ich Studenten einschlägige Tonbeispiele vorgeführt; ASC anheimgefallen sind sie nicht. Wer Trance will, wer Ekstase will, muss dafür Moti-

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ve haben (Rouget 1977). Und er muss eingeführt sein: im Sich-Fallen-Lassen, in der Fokussierung auf momentan Wesentliches. Dies macht auch verständlich, warum Trance- und Ekstase-Rituale in der Regel eine komplexe soziale Organisation haben. Für bestimmte Kulturen, wie den sibirischen Schamanismus, ist es zwar charakteristisch, dass diejenigen, die in Alteriertheit übergehen, auch sich selbst dazu anregen (Brandl 1993: 602): Der Naturpriester singt und trommelt sich mit eigener Kraft in Trance – wobei die Rhythmen so einfach sind, dass sie dem Eindämmern des Bewusstseins standhalten. Auch Ekstatiker arbeiten vielfach mit Selbstinduktion; die Nonne Hildegard von Bingen (1098-1179) wurde so zur Komponistin einfacher Lieder, die sie in ihre visionären Erlebnisse hinein geleiteten – oder aus diesen hervorwuchsen (Stühlmeyer 2003). Oft jedoch liegen die Dinge komplizierter. Es gibt eigens spezialisierte Musiker, die Trance- oder Ekstasemusiken hervorbringen, ohne ihrerseits in Trance oder Ekstase zu geraten. Mehr sogar: Erst wenn sie sich den Klängen gegenüber als ‚immun‘ erweisen, beweisen sie ihre Professionalität (vgl. Pinto 1991: 191192). Diesem Phänomen einer rituellen Kontrolle werden wir noch gesondert nachgehen. Aber auch mit der Fremdinduktion von alterierten Zuständen bei den personalen Medien: Tänzern, die spirituelle Wesenheiten verkörpern, Individuen, die weissagen etc., gelangt der Prozess ritueller Kommunikation noch nicht an sein Ende. Vielfach gibt es zusätzliche ‚Publika‘, an die, mittels der Musik, aber auch seitens der Medien in corpore, Kraftzustände und spirituelle Erfahrungen weitergegeben werden (ebd.: 196). Oft sogar sind es die Zuschauer, welche dem Zeremoniell spezielle Bedeutung zuschreiben. Was die in Trance Befindlichen ausagieren, aber nicht im Gedächtnis speichern, erfährt durch sie Interpretation und Erinnerung. Schamanistische Praktiken beispielsweise bei den Karo Batak auf Sumatra, innerhalb derer eine spirituell hoch angesehene Frau, die sogenannte Guru Sibaso, durch ein ganzes Ensemble von Gongs, Flöten, Saiteninstrumenten in Trance getrieben wird, wären ein bloßes Spektakel, könnten nicht die bei ‚normalem‘ Verstand Befindlichen daraus Prophezeiungen entnehmen: hinsichtlich des Wohlergehens des Clans, der Fruchtbarkeit des Viehs, des Wachstums auf den Feldern (Simon 1987). In der Summe: Trance- und Ekstaserituale erfassen mit ihren Passagen ganze soziale Gruppen, deren Mitglieder aus den Veranstaltungen ein je spezifisches kulturelles Kapital ziehen:

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Die, die in Trance fallen, erleben einen physischen Wandel mit bereits deskriptiv erfassbaren Energieausschüttungen (Taschler 2007: 83). Ex post facto, wenn das primäre Bewusstsein wiedererlangt ist, äußert sich dies durch Glücksempfindungen. Zugleich wird evident, dass Menschen sehr wohl aus ihrer Haut fahren können und ihr genuines Ich, ganz besonders körperlich, zu alterieren vermögen – und zu relativieren. Auch der Ekstatiker erfährt eine Veränderung seiner psycho-physischen Lage: allerdings vollbewusst. Und er gelangt, in der Fokussierung seines Sensoriums, zu neuen Horizonten der Existenz. Aktiv am Ritual beteiligt sind die rituellen Publika. Ihre Beobachtungen, Spekulationen und Deutungen verleihen den Vorgängen eigentlichen Sinn. Sie vergesellschaften für die Gruppe, was der in Alteration Befindliche individuell vollzieht. Und durch Körperberührung mit den Medien, besonders bei Trance-Tänzen, können sie deren Kräfte ‚anzapfen‘. Wenn es gut geht, werden sie ohne Bewusstseinsveränderungen des kosmischen Energieaustausches teilhaftig. Die Musiker schließlich partizipieren weder an den Bewusstseinsveränderungen noch den dabei flüssig werdenden Energieschüben. Aber sie kontrollieren das Ganze mit hellwachem Verstand. Sozial werden sie dafür, vor allem in indigenen Gesellschaften, eher gering geachtet. Oft aber gleicht sich dies für sie aus durch den Bezug von Spenden seitens der Teilnehmer des Zeremoniells. Keiner – so kann man pauschal sagen – kommt in den Ritualen ganz und gar zu kurz; eine präzise Funktionsteilung sorgt dafür, dass alle ihren Gewinn haben. In und mit den Passagen wird die Ritualgemeinschaft, mehr als nur metaphorisch, neu durchblutet.

2. F ALLSTUDIEN 2.1 Frauen als Gottheiten: Candomblé Der Kult des Candomblé, der vor allem in Nordostbrasilien, in der Region von Bahia, praktiziert wird, zählt zu den weltweit bekanntesten Possessions-Ritualen. Getragen von den Nachfahren afrikanischer Arbeitssklaven, bildet es eine Melange aus Glaubensvorstellungen der westafrikanischen Yoruba sowie aus christlich-katholischen Brauchtümern. Die Bezeichnung „Possession“ ist dabei nur eine höfliche Übersetzung dessen, was in älteren ethnographischen Quellen als „Besessenheit“ figuriert. Die eine wie die andere Begrifflichkeit jedoch befindet sich in einer substanziellen Schieflage. Denn der Inhalt der Candomblé-Sessions

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besteht nicht etwa darin, dass sogenannte Medien – meist handelt es sich um in Trance befindliche Frauen – von Göttern und Geistern überwältigt und ‚besetzt‘ werden. Es geht darum, dass die Medien selbst einen göttlichen Status erlangen, die Gottheiten in sich verkörpern – und denen, die ihnen bei dieser Passage zuschauen, kraftvoll, mit neuen Kräften begegnen können (Pinto 1991: 196). Candomblé ist also, entgegen den Klischeevorstellungen kritisch-eifernder Feministinnen, ausdrücklich kein Beispiel für die Unterjochung von Frauen in ‚schwarzen‘ Kulturen, sondern für deren spirituelle Dominanz. Die religiösen Traditionen des Candomblé greifen, wie gesagt, vornehmlich zurück auf das Pantheon der Yoruba-Gottheiten (Pinto 1991: 167). Diese jedoch werden systematisch parallelisiert mit christlichen Heiligen (ebd.: 169). Und selbst Jesus Christus taucht in doppelter Gestalt auf: als Nosso Sr. do bonfim sowie als Yoruba-Gott Oxalá (ebd.). Ähnliches widerfährt der Jungfrau Maria (N. Sra. da Conceição), durch die Kontamination mit der Meeresgöttin Yemanjá (ebd.). Allerdings herrschen insgesamt die westafrikanischen Farben vor: in den Kostümen der Medien, die in Trance fallen, vor allem aber in den Gesängen und den unüberhörbaren Trommelrhythmen, die mit ihrem Gestus den einzelnen Göttern, den orixás, zugeordnet werden. „Der langsame, auf dem 3. Elementarpuls ‚stockende‘ Rhythmus [der Schlagformel Ibi]“ etwa, „gibt klar den Charakter des alten und sich gebückt bewegenden Oxalá wider“ (siehe Abbildung 1a): Abbildung 1a: Schlagformel Ibi

Quelle: Pinto 1991, S. 185

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Abbildung 1b: Rhythmus Aluja

Quelle: Pinto 1991, S. 182

Xangô, der Gott des Blitzes und des Feuers, vermittelt in seinem Rhythmus Aluja durch vielfältige Synkopierungen das Klangbild der Raserei (siehe Abbildung 1b). An diesen Zeitgestalten auch orientieren sich die Tanzbewegungen der Medien, die im Allgemeinen eine längere Initiationszeit verbracht haben (Pinto 1991: 162-163), um sich der für sie passenden Gottheit seelisch anzunähern. In Trance kommen sie, idealiter, erst dann, wenn der entsprechende Gott sich rhythmisch zu erkennen gibt. Die Veranstaltungen selbst finden regelmäßig statt, oft im Wochenzyklus. Raum bieten spezielle Candomblé-Häuser, die jeweils über ein eigenes terreiro verfügen (Kaden 2004: 53; nach Kasper 1988: 90). Verschiedene Abteilungen gibt es im Inneren der Häuser. Neben dem zentralen Ort der Versammlungen sind es kleine Zimmer, in denen sich die Medien auf ihre Tänze vorbereiten. Dort auch werden sie an- bzw. umgekleidet – und, wenn das Ritual vorüber ist, von erfahrenen Frauen sanft aus der Trance zurückgeholt. Umgeben ist das Ganze von einem Garten mit heiligen Sträuchern und Bäumen. Der Platz der Begegnung mit den Göttern ist, auch, ein locus amoenus. Die Dramaturgie der Rituale selbst besitzt zwei Teile (Kaden 2004: 55ff.). In einem ersten Akt werden die Gottheiten mit speziellen Gesängen angerufen – und eingeladen, am Fest teilzunehmen. Semiotisch betrachtet, ist dies eine Phase, in der Zeichenhaftigkeit vorwaltet; die heiligen Gäste werden denotiert, ima-

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giniert, ideell vorgebildet. Bereits hier können (erste) Medien in Trance eintauchen. Unbedingt geschieht dies im zweiten Teil, in dem die Gottheiten nicht mehr bezeichnet, sondern körperlich manifest werden: in den Tänzerinnen. Es geht um das Geben (dar rum) und das Nehmen (tomar rum) von Musik – und von Energien (ebd.: 56-57; Pinto 1991: 174). Namentlich diese Manifestationen können Zuschauer oder Beobachter doppelsinnig lesen. Einerseits sollen die Trance-Tänzerinnen ein jeweils guter cavalo sein (Pinto 1991: 163), ein gutes Pferd, das der orixá, in durchaus sexueller Konnotation, reitet. Andererseits wird eben dadurch die Distanz zwischen Mensch und Gott aufgehoben. Die Gerittenen werden selbst zum Reiter, werden eins mit der Gottheit, sodass sie deren Kraft nicht nur empfangen, sondern selbstbestimmt weitergeben können. Übrigens ist es nichts anderes als konsequent, dass Frauen dann ihrerseits als männliche Wesen agieren (vgl. Pinto 1991: Abbildung auf S. 159). Die Weitergabe der Energie selbst erfolgt durch freihändiges Umhergehen der in Trance Befindlichen (ebd.: 196); der rituelle Tanz wird suspendiert. Zuschauer strömen ihnen entgegen, um Umarmungen zu empfangen. Im Grenzfall führen diese dazu, dass auch Nicht-Initiierte ihre Sinne verlieren und zu Boden gehen (ebd.: 195). Die große Kraft der Götter wird der Gemeinde transfundiert. Es läge nun nahe, diesen Vorgang als Kommunikationskette zu beschreiben: von den orixás ausgehend, hin zu den Medien und von diesen zum Publikum. Solche Linearität jedoch ist dem Candomblé ausgesprochen fremd. Denn auch Götter können von Zeit zu Zeit schlapp werden und die Energie kann ihnen ausgehen; deckungsgleich äußert sich dies bei den Tänzerinnen, sobald sie Ermüdung zeigen. Hier nun greift eine Instanz ein, die gegensteuert: Es sind die Trommeln. Sie können als eine Art Batterien begriffen werden, zur Speicherung von Kräften – welche bei Bedarf den Medien durch forciertes Tempo, forcierte Lautstärke etc. zugespielt werden. Faktisch geschieht das zwar durch die Musiker. Spirituell indes haben diese eine nur geringe Bedeutung: Weder fallen sie in Trance noch gehören sie eigentlich zum Bezirk der Eingeweihten. Sie sind Handwerker, die Klang aus klangfähigem Material herausschlagen. Heilig dagegen sind die Instrumente, die wir als Gegenstände fassen würden. De facto erscheinen sie im Candomblé als Lebewesen (Pinto 1991: 179), die sprechen können, auf einen eigenen Namen getauft werden – und gefüttert mit dem Blut tierischer Schlachtopfer. Diese Einsichten erzwingen ein neues Kommunikationsmodell. Spirituell vermittelt Candomblé zwischen zwei Welt-Sphären. Die eine ist die alltägliche, in der das Publikum verharrt, aber auch der trancefrei trommelnde Musiker. Die andere ist die Welt der Kraft, der Power, der axé (ebd.). Diese reicht explizit hinauf ins Überirdische, wo die orixás wohnen. Sie ragt aber auch herunter ins

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Ebenerdige: durch die Medien – und durch die Trommeln, die sich mit Händen greifen lassen. Die tatsächlich wirksame Interaktion findet statt durch eine Energiezirkulation zwischen den orixás im Idealzustand, den Medien als deren cavalo bzw. als reale Inkorporation der Gottheiten, schließlich den Trommeln, die ihrerseits Kraft spenden. Über die Medien (als orixás) wird die axé dann auch in die Alltagswelt abgeleitet. Musik ist doppelt direktioniert: Unter ihrer Beiwohnung bewegen sich Menschen „nach oben“, hin zu den Energiequellen. Mit ihrer Hilfe aber auch, namentlich durch das „Nachladen“ ermüdeter Tänzer mit axé, werden Kraftflüsse „nach unten“ hin möglich und wahrscheinlich. Wer ihr zuhört, hört nicht allein zu, sondern empfängt Stärkung, verlässliche Stärkung. Sie kommt nicht aus dem Irrlauf des Innerweltlichen, sondern von außen, aus einer Sphäre des von Menschen Unbeschädigten. Ohne die zweite Welt wäre die erste haltlos, um es mit Fichte zu sagen: ohne „Gegenhalt“. 2.2 Spirituelle Erotik der Sufis: Qawwali Der Islam, als religiöses Gebäude, ist nicht besonders musikfreundlich. Von den Theologen des Koran wird diese eher skeptisch betrachtet: als lawh, d.h. „Unterhaltung, Ablenkung und Spiel“ (Braune 1996: 1205), in Verbindung mit höfischem Tanz, Gesang (gina) und erotischer Verführung. Die Koranrezitation (tağwid) oder auch der Ruf des Muezzins (adan), die von europäischen Reisenden des ausgehenden Mittelalters ausdrücklich als musica empfunden wurden (Kaden 1989: 57), besetzen allein durch ihre spezielle Terminologie ein abgetrenntes, geheiligtes Gebiet. Eine markante Ausnahme bilden die Rituale der Sufis3, die Tänze, Gesänge und Instrumentalmusik in überraschender Opulenz entfalten – und die sogar von Liebe reden: der Liebe des Gläubigen zu Allah, mit dem der Sufi im Inneren seines Herzens sich zu vermählen sucht, durch konzentrierte Hinwendung zu Gott, unter fortgesetzter (stiller oder lauter) Aussprechung des Gottesnamens (dhikr; vgl. Schimmel 2000). Der Sufismus, entstanden im 9. Jh. n. Chr., mit Ordensstrukturen ausgelegt seit dem 12. Jh. (Schimmel 1995), wird also getragen von einer sinnenbetonten Preisung Allahs: Gotteslob in ‚erigiertem‘ Affekt. Schon die Pilger, die über Jahrhunderte das Heilige Land aufsuchten, bestaunten die Drehtänze der Mevlevi-Derwische (vgl. Kaden 1989: 53ff.; Öztürk 2002). Bis heute vollzieht man sufistische Trancerituale in Nord-

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Vgl. hierzu auch den Beitrag von Frembgen in diesem Band.

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afrika.4 Die am meisten ausgeklügelten Performanzen indes finden sich in den lang dauernden Séancen des Qawwali, der sich dem persisch-indischen und ganz besonders dem pakistanischen Kulturkreis zuordnet (Burckhardt Qureshi 1986). Die einschlägigen Zeremonien werden an den Begräbnisstätten (= Schreinen) sufistischer Heiliger veranstaltet (ebd.: 1ff.), die von einer kleinen Ansiedlung gläubiger Muslime umgeben sind und denen die Anwesenheit eines Sheikhs ihre Prominenz verleiht. Zu den feierlichen Sitzungen versammeln sich die unterschiedlichen Sufis in einem Raum (ebd.: 113), an dessen Front das Grab des Heiligen loziert ist, streng ausgerichtet nach Mekka (Kaden 2004: 61). Seitlich davon, aber in nur geringer Entfernung, nimmt der Sheikh Platz. Um ihn herum gruppieren sich andere geistliche Führer und die Sufigemeinde, wobei die Distanz zur Tomba den geistlichen Rang des Einzelnen spiegelt. Dieser ergibt sich aus der je abgestuften Fähigkeit, in Ekstase zu geraten, aber auch aus der Finanzkraft der Teilnehmer, welche sich in monetären Spenden äußert. In gewissem Sinne kann sogar diese materielle Potenz eine mangelnde spirituelle Beteiligung aufwiegen. Zu geistlich höheren Würden gelangt der, der im Laufe der Séance ordentlich in Erregung kommt – oder aber ausreichend Geld abliefert – oder das eine mit dem anderen zu kombinieren weiß. Die Musiker selbst (Burckhardt Qureshi 1986: 3; Kaden 2004: 61) halten sich exakt gegenüber der Tomba auf, in der am wenigsten von Sakralität durchfluteten Raumzone. Zugleich können sie von dort aus das gesamte Geschehen überblicken – und den Ablauf der Aktionen steuern. Denn wie angedeutet, ist das Ziel jedes einzelnen Sufis, sich mit Allah glaubensmächtig zu vermählen; sonderbar mutet es an, dass auch und gerade Männer als Braut des Allerhöchsten verstanden sein möchten. Die nötige Anstachelung der Sinne, über spirituelle Liebeslyrik, hochgradig modulante Vokalisationen, perpetuiertes Schlagwerk und die schwül anmutenden Klänge eines Harmoniums (Sources musicales 1992: CD, Nr. 19), muss sich folglich individuell ereignen. Die Musiker haben nicht nur ganz allgemein zu spielen und zu singen. Je mehr die Gruppe der Sufis

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Bei einem Besuch im marokkanischen Fes 1993 konnte ich die Alltagsnähe einschlägiger Zeremonien beobachten. Im Erdgeschoss eines Hauses, mitten im Gewirr der Gassen des Basars, wurde ein Trance-Tanz aufgeführt: Öffnete man die Tür – sie war unverschlossen –, konnten die Klänge der Rahmentrommeln nach außen dringen, aber auch taumelnde Gestalten sichtbar werden, welche sich wie türkisch-persische Derwische bewegten, nur deutlich weniger kunstvoll und auch ohne kostbare Festgewänder. Das Ganze fand um die Mittagszeit statt, und potenziell coram publico. Ich erfuhr, dass auch in den Berberdörfern Trancerituale nicht im Verborgenen, sondern vielfach auf öffentlichen Plätzen stattfänden: Mystik jenseits des Geheimbündlerischen.

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in Bewegung gerät (Burckhardt Qureshi 1986: 145ff.) – seelische Exaltation äußert sich darin, dass die zunächst Sitzenden sich erheben, wenn nicht aufspringen, sodann zu weinen beginnen oder begeisterte Rufe ausstoßen – , desto dringlicher wird für den verantwortlichen Sänger die Entscheidung, wessen alterierten Zustand er noch zu steigern oder zumindest zu stabilisieren habe. Im speziellen dienen dazu Reizworte wie die Nennung des Gottesnamens, die Wiederholung wirkungsintensiver Strophen oder semantischer Topoi sowie die Intensivierung des vokalen Ausdrucks und nachhaltige Tempoverschiebungen (ebd.: 19ff.). Unter dem Strich: Der Musiker/die Musiker müssen die Schar der Sufis mit einem Adlerauge beobachten. Denn wenn es ihnen gelingt, einen der „Aufgeregten“ bis zum Opfergang zu treiben, haben sie just davon einen nicht-spirituellen Nutzen (Kaden 2004: 64-65). Geldspenden gelangen regelmäßig in die Hände des Sheikhs. Nicht dieser bedankt sich dafür, sondern umgekehrt der Opfernde für die Annahme seiner Gabe. Vom Sheikh dann gehen die Spenden an die Musiker. Sie sind indes keine Entlohnung durch den Sufi, der musikalisch außer sich gebracht wurde, vielmehr ein Geschenk des geistlichen Oberhaupts – das dieser im Grenzfall auch verweigern kann. Eine Geldwaschanlage, die professionelles Musizieren ‚nach Tarif‘ verhindert bzw. spirituell veredelt. Überhaupt liegt es im Belieben des Sheikhs, die Leistungen der Musiker zu sanktionieren – positiv oder aber negativ, sofern diese ihre Klänge an die falschen Sufis adressieren. Es scheint dafür eine implizite Bedien-Ordnung zu geben; Burckhardt Qureshi (1986: 224; vgl. Kaden 2004: 62) hat sie rekonstruiert, durch die Vergabe von Rangplätzen (siehe Abbildung 2): Abbildung 2: Rangplätze im Ritualkontext

Quelle: C. Kaden (nach einer Grafik von Regula Burckhardt Qureshi)

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Das System erstreckt sich über zwei Ebenen. Die eine Dimension differenziert nach der Prominenz der Gläubigen: an der Spitze der Sheikh, ihm folgend hochrangige Sufis, am Ende gewöhnliche Gläubige. Die zweite Ebene ist den Beobachtungen der Musiker direkt zugänglich: Sie skaliert Grade der Erregung, die Qureshi mit den Stufen „Neutral“, „Beginnende Erregung“, „Intensive Erregung“ und „Ekstase“ kennzeichnet. Für den Musikservice resultiert daraus eine Doppelbindung: zwischen der Förderung momentaner geistlicher Alteriertheit und der Privilegierung vorab definierter Inhaber von Rangplätzen. Prioritär oder gänzlich individuell zumusiziert wird auf jeder Erregungsstufe den sozial Ranghöheren, auch wenn diese weniger nahe an die Ekstase herangekommen sein sollten als andere Sufis. Gleichwohl mag es geschehen, dass auch sozial und spirituell Niederrangige musikalisch versorgt werden, sofern sie besonders starke emotionale Responsen zeigen. Systemisch ist die Service-Ordnung daraufhin angelegt, dass die Struktur der Glaubens-Gemeinde so bleibt, wie sie ist und dass namentlich Finanzkräftige ihren hohen Status stabil halten. Nur im Ausnahmefall lässt die Ordnung es geschehen, dass über die Maßen emotionalisierte ‚Underdogs‘ zu Ekstase und Opferung gelangen – und damit in den Augen des Sheikh wie der Gruppe über das Maß des gesellschaftlich Gewöhnlichen hinauswachsen. Die Musiker haben demnach heikle Probleme zu bewältigen. Sie müssen die soziale Hierarchie der Sufis ganz allgemein kennen und dieser gerecht werden, mehr oder weniger zwiespältig. Sie sind ferner gehalten, akute seelische Erregungen maßstabsgetreu einzuschätzen, zu verstärken oder abzuschwächen (wobei musikalisch nicht stabilisierte Ekstasen den betroffenen Gläubigen kollabieren lassen können). Last but not least stehen ihre Dienstleistungen unter dem Verdikt des Sheiks, der all ihre Anstrengungen nötigenfalls suspendiert. Wer in europäischen Breiten die Musik des Qawwali als süffige Klangkulisse rezipiert – mittlerweile haben manche Sänger und Gesänge bereits die Charts erobert (Nusrat forever 1999) –, versteht also nichts, aber auch gar nichts vom Wesen dieser Sache. Letztlich geht es darum, mittels Musik einen Zugang zu Allah, zum ANDEREN, zu eröffnen – oder auch, infolge sozialer Barrieren, zu behindern. Anders als beim Candomblé, in dem eine Art Demokratie unter den orixás/Medien herrscht: entweder werden sie alle gleichermaßen von den Trommeln stimuliert oder einer nach dem anderen, ist die spirituelle Kommunikation der Sufis grundsätzlich asymmetrisch. Weder verkörpert sich Gott in den Gläubigen – was in einer monotheistischen Religion ohnedies undenkbar wäre –, noch haben alle Sufis vergleichbare Chancen, in das Hochzeitsgemach Allahs einzutreten. Musik verbindet die Welt des Irdischen und des Himmlischen. Aber die Brücke hinüber ist markiert durch soziale Verkehrseinschränkungen.

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2.3 Geist und Geister der Romantik: Robert Schumanns musikalische Poetik Dass die europäische Kulturgeschichte eigene Überlieferungen von Trance und Ekstase ausprägte, wurde angedeutet. Die Tradition reicht von den Dionysoskulten der Antike bis zu jenen Frauen aus Tarent, die den Biss der Spinne Tarantula durch einen Heiltanz in Trance, die Tarantella auskurierten – und dem alles wissenden Pater Athanasius Kircher (1662: Caput 4; vgl. Rouget 1985) eine ganze Theorie psychischer Exaltation abrangen. Bedenken sollte man zugleich jene geistigen Ströme, die von den Sehern und Mystikern des späteren Mittelalters zu den Magnetiseuren der Aufklärungszeit hinüber fließen – und die ausgerechnet im wissenschaftszentrierten 19. Jh. einen erheblichen Anklang fanden. Einer, der von den magnetischen Effekten der Musik fest überzeugt war und mit einem Pendel, dem sogenannten Psychometer, sogar entsprechende Messungen anzustellen versuchte, war Robert Schumann (vgl. Kaden 2009: 21). Seine Vision von zwei Welten, die wechselweise aufeinander einwirken, bedeutete nicht, sich einer Ausflucht aus der alltäglichen Prosa zu versichern (aber Eggebrecht 1995: 203ff.). Die Sphäre der Poesie, der Dichtung, der Musik, sollte unmittelbar, magisch-magnetisch hineinragen in die Kargheit des „normalen“ Lebens (Knepler 1961: Bd. 2, 788). Ihre Mission war es, das empirische Dasein zu verzaubern, zu verbessern, zu verschönern, ja in gewissem Sinne umzuwälzen. Ein soziales Modell schuf sich Schumann mit einem Personenkreis, den er „die Davidsbündler“ nannte (Jansen 1883; Kaden 2009: 24ff.). Diese waren zunächst keine bloßen Phantasiegestalten, sondern Leibhaftige, Lebendige, sodass sie sich unter anderem zu gemeinsamem Bierumtrunk eigneten. Gleichzeitig aber wurde ihnen, meist durch Schumann selbst, eine ideale Charakteristik zugeordnet. Der Davidsbund bestand aus blutvollen Menschen, die zugleich als Geistwesen existierten, mithin ‚unwirklich‘. Eine Verdoppelung des Daseins, nicht nur im Sphärischen, sondern im Individuellen, mit maximaler Konkretion. Ich habe dies als Generierung multipler Kontingenz beschrieben (Kaden 2009: 25; vgl. Luhmann 1987: 148ff.), nicht etwa als deren Reduktion oder Bändigung – in der die soziologische Theorie, die Aufgabe von Kunst und Ritualität sehen möchte (Luhmann 1995; Soeffner 1995). Schumanns ästhetische Ziele sind mitnichten gerichtet auf kleinbürgerliche Behaglichkeit in einem Bezirk des Biedermeierlichen. Sie setzen Risiken, existenzielle Risiken. Und der Musiker Schumann – vielleicht ein Motiv für sein Verrücktwerden – setzt sich ihnen aus. Bemerkenswert ist, dass diese Risikobereitschaft ganz unmittelbar Schumanns Kompositionsweise und seinen Stil bestimmt. Die originellsten seiner Werke, die den 1830er-Jahren entstammen, wurden offenbar in einer „Traum-

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welt am Clavier“ konzipiert (Brief Schumanns an Clara Wieck vom 10. Oktober 1839; siehe Weissweiler 1984: 735), nicht selten inspiriert von geistigen Getränken. Wichtiger noch: Der Komponist verleitet seine Zuhörer, beim Umgang mit den Stücken, außer sich zu geraten. So in der bescheiden anmutenden Nr. 11 aus dem Zyklus der „Kinderszenen“. „Fast zu ernst“ lautet der Titel; und kein Pianist sollte, bei Strafe der Banalisierung, es ‚eindeutig‘ spielen, so wie es notiert zu sein scheint. Es ist vielmehr zwiefach zu fassen: so und auch anders. Da es mit einem sehr kurzen Auftakt beginnt, liegt es nahe, die in den Spitzentönen markierte Oberstimme ihrerseits auftaktig zu gliedern (siehe Abbildung 3). Gleichzeitig ist der Auftakt des Beginns zu kurz, als dass er sich nicht ebenso als Abtakt lesen und hören ließe. Erstklassige Interpreten wie Martha Argerich bringen es fertig, zwischen diesen beiden logisch einander ausschließenden Strukturen, durch eine unmerkliche Verschiebung der Akzentgabe, hin und her zu springen. Es entstehen Kippfiguren, doppeldeutige Gestalten, die eine fixierte Wahrnehmung nicht befördern, sondern aus der Spur werfen (vgl. Deutsch 1999: passim). Eine Trance- bzw. Ekstasetechnik, wie wir sie punktgenau aus noneuropäischen Musiken kennen. Exakt diese Technik auch wird für Schumann zum Fundament seiner Grammatik in den frühen Werken, bis etwa zu op. 20. „Eine recht ordentlich wilde Liebe“ läge in den „Kreisleriana“ (op. 16), schreibt er an Clara Wieck am 3. August 1838 (Geck 2010: 109). Abbildung 3: Robert Schumann, Kinderszenen op. 15, Nr. 11 „Fast zu ernst“

Quelle: C. Kaden

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Abbildung 4: Robert Schumann, Kinderszenen op. 15, Nr. 1 „Von fremden Ländern und Menschen“

Quelle: C. Kaden

De facto benennt er damit, ohne es zu wissen, die Regularität jenes Wilden Denkens, die das EINE zum ANDEREN fügt. Schon im „Carnaval“ (op. 9) begegnet ein Marsch, der im ¾-Metrum geht. Wie dies? Indem man nicht stets den linken Fuß akzentuiert, wie militärischer Brauch es gebietet, sondern abwechselnd, einmal den linken, einmal den rechten. Und selbst eine kleine Melodie, wie die Nr. 1 der Kinderszenen, erzählend „Von fremden Ländern und Menschen“ (siehe Abbildung 4), bleibt blässlich, wenn man sie nur als Melodie und Oberstimme hört. Das Salz in der Suppe bieten verborgene, aber sehr wohl auffindbare Mittelstimmen, deren eine sogar den Namen BACH intoniert. Die Beispiele ließen sich multiplizieren. Die menschlichen Sinne zu befreien aus ihren Klischeebildern, ihren trügerischen Eindeutigkeiten; ihnen die Kraft und den Mut zur Alternative zuzuführen; den Fluss zwischen dem So und auch Anders in Bewegung zu wissen; im kompositorisch Fixierten doch auch das Unvorhersehbare zu feiern, ex improviso: Dies dürfte die Essenz sein der oft gescholtenen romantischen Poesie. Wer sie sich erschließt und verinnerlicht, gewinnt eine kostbare Lebenstechnik: das Dasein als solches relativ zu setzen.

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3. AUSBLICK Trancen, Ekstasen, Rauschzustände werden in den Kulturen, die mit ihnen zu schaffen haben, oft misstrauisch bewertet. Vieles an ihnen ist nicht geheuer: die extrem exzitierenden oder aber extrem sedierenden Klanggebilde; der Übergang zu befremdlichen, ‚unanständigen‘ Körperlichkeiten; schließlich sprachliche Äußerungen, wie das Zungenreden, die unverständlich sind, aber gebieterisch nach Deutung rufen. Ob hier der Teufel am Werk sei oder aber ein Göttliches, Heiliges, bleibt vielfach offen. Immerhin ist der Apostel Paulus, am Beginn der Überlieferungskette, vergleichsweise tolerant gegenüber den Alterierungen der Seele, toleranter zumindest als mancher seiner Nachfolger. Im 1. Brief an die Korinther, Kapitel 14, wertet er die Glossolalie als Zwiesprache mit Gott „im Geiste“ und in unmittelbarer Ansprache – obwohl man das Gebet „mit dem Sinn“, in Alltagsrede, nicht vernachlässigen solle. Auch im Römerbrief (8, 26) steht zu lesen, dass, wenn wir nicht recht zu beten wüssten, der Geist „unserer Schwachheit“ aufhelfe „mit unaussprechlichem Seufzen“. Ähnlich unterscheidet Augustinus das Gotteslob cum verbis und sine verbis (Kaden 2006: 34). Letzteres kam vom genuin weltlichen Jubilus (McKinnon 1995: Sp. 923-924) über das Alleluia in zentrale Bereiche der Messliturgie (Ekenberg 1987: passim), und zwar an jene Stellen, an denen der Mönchschor und die Engel gemeinsam ihren Gesang anstimmen. Die Verwurzelung des Jubilus in einer archaisch-rituellen Jodelpraxis (u.a. in iubili pastorales) – mithin die Nähe zu Trance und Ekstase – scheint dabei wahrscheinlich (Wiora 1949: 361). Lediglich der Tanz wurde von den Kirchenherren des Mittelalters abgewertet, wenn nicht verdammt (Jungmann 2002). Dass er in vielen Einzelfällen dennoch auch die Schwelle der Dome und Kathedralen überschritt, oder zumindest unmittelbar vor ihren Toren, mit geistlichem Einschlag sogar, zelebriert wurde, wäre von der Forschung weitgehend noch zu entdecken (Kaden 1999: 335ff.). Was Menschen offenbar immer wieder anzieht, wozu es allerdings des Trainings und der Motivation bedarf, ist die Befreiung aus dem Gefängnis ihres Körpers – und ihres empirischen Ichs. Dessen Vervielfältigung: im Widerspiel von Mensch und Naturgeist, Mensch und Totem, Mensch und Gott – muss nicht zu einer schizoiden Disposition führen. Es kann in der Stabilisierung von MehrfachIdentitäten, systemisch, das Selbst stärken. Dass die Jugendkulturen unserer Tage nicht selten, und auch ohne ethnologisches Wissen, eine „Neotribalisierung“ anstreben (Maffesoli 1988), ja eine Wiederkehr der Riten und eine „Wiederverzauberung der Welt“ (Berman 1985), sollte nicht als Rückfall in die Barbarei gescholten werden. Die Zeugnisse der Geschichte wissen es anders. Noch einmal

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sage ich: Es könnte Sinn stiften, wenn wir die Kunst der Selbstrelativierung erlernten – nichts anderes vielleicht als eine höhere Form der Selbstbescheidung.

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Schmidt, Jochen (2012): Nietzsche-Kommentar. Die Geburt der Tragödie, Berlin: de Gruyter. Simon, Artur (1987): Gendang Karo. Trance- und Tanzmusik der Karo-Batak (Kommentar zur gleichnamigen Schallplatte der Museum Collection Berlin, MC 13), Berlin: Museum für Völkerkunde. Soeffner, Hans Georg (1995): Die Ordnung der Rituale, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Sources Musicales (1992): UNESCO Collection, D 8100, Ivry-sur-Seine: Auvidis. Stühlmeyer, Barbara (2003): Die Gesänge der Hildegard von Bingen, Hildesheim: Olms. Taschler, Anita (2007): Ekstase und Trance in der Musik (Magisterarbeit), Graz: Karl-Franzens-Universität. Touma, Habib Hassan (1996): The Music of the Arabs, Portland Oregon: Amadeus. Trance 1 (1995): CD 4000, Ellipsis Arts, Text von David Lewiston, Roslyn, New York: Ellipsis Arts. Vogel, Martin (1966): Apollinisch und Dionysisch. Geschichte eines genialen Irrtums, Regensburg: Bosse. Vogt, Sabine (2005): Clubräume – Freiräume. Musikalische Lebensentwürfe in den Jugendkulturen Berlins, Kassel: Bärenreiter. Vollmer, Wilhelm (1979): Dr. Vollmer’s Wörterbuch der Mythologie, Stuttgart: Hoffmann’sche Verlagsbuchhandlung (Neudruck Leipzig: Zentralantiquariat der DDR). Walsh, Roger N. (1992): Der Geist des Schamanismus, Olten: Walter. Weissweiler, Eva (Hg.) (1984): Clara und Robert Schumann. Briefwechsel, Frankfurt a. M.: Stroemfeld/Roter Stern. Wiora, Walter (1949): „Alpenmusik“, in: Friedrich Blume (Hg.), Die Musik in Geschichte und Gegenwart, Bd. 1, Kassel: Bärenreiter, Sp. 359-370.

Autorinnen und Autoren

Benkel, Thorsten, Dr. phil., Akademischer Rat für Soziologie an der Philosophischen Fakultät der Universität Passau; geb. in Kaiserslautern, Studium der Soziologie, Philosophie, Psychologie und Literaturwissenschaft. Promotion in Frankfurt am Main. Arbeitsschwerpunkte: Wissenssoziologie, Mikrosoziologie, empirische Sozialforschung, Soziologie der Sexualität und des Rechts. Böllinger, Lorenz, Prof. em. Dr. jur., Dipl.-Psych., bis 2009 Professor für Strafrecht und Kriminologie, Fachbereich Jura, Universität Bremen. Im Zweitberuf Psychologischer Psychotherapeut und Psychoanalytiker. Arbeitsschwerpunkte: Sexual-, Gewalt- und Drogenstrafrecht, Terrorismus, Behandlung von Straftätern. Feustel, Robert, Dr. phil., studierte Politikwissenschaft in Leipzig und Madrid, wurde 2012 mit einer Arbeit zum Thema „Grenzgänge. Kulturen des Rauschs seit der Renaissance“ promoviert. Er arbeitet zur politischen Theorie sowie zu wissenschafts- und kulturgeschichtlichen Themen. Frembgen, Jürgen Wasim, Dr. phil. habil. M.A., Ethnologe, Islamwissenschaftler und Autor; apl. Professor am Institut für den Nahen und Mittleren Osten, Ludwig-Maximilians-Universität München. Hauptkonservator am Museum Fünf Kontinente in München. Arbeitsschwerpunkte: Islam (besonders Sufismus und Volksreligion), Materielle Kultur, Anthropologie des Körpers, Ethnographie Pakistans. Gödde, Susanne, Prof. Dr., Griechische Philologie und Religionswissenschaft, von 2008 bis 2016 an der Ludwigs-Maximilians-Universität München und seit Oktober 2016 an der Freien Universität Berlin, Institut für Religionswissenschaft. Arbeitsschwerpunkte: Griechische Mythologie und Religion, Griechische Tragödie, Theorien des Opfers, Nachleben der Antike.

262 | A UTORINNEN UND AUTOREN

Huschka, Sabine, PD Dr. phil., leitet das DFG-Forschungsprojekt „Transgressionen. Energetisierung von Körper und Szene“ am Hochschulübergreifenden Zentrum Tanz der Universität der Künste Berlin. Arbeitsschwerpunkte: Kultur und Ästhetik des Choreographischen, Figuren künstlerischen Wissens, Tanzund Performance Theorie, Historiographie des Bühnentanzes sowie Ästhesiologie von Bewegung, Körper, Tanz. Imorde, Joseph, Prof. Dr. phil., Kunsthistoriker und Verleger; Lehrstuhl für Kunstgeschichte an der Universität Siegen. Arbeitsschwerpunkte: Barocke Kunst, Geschichte der Kunstgeschichte, Kulturgeschichte. Kaden, Christian (1946-2015), Dr. phil., Musikwissenschaftler und Ethnologe; bis zu seiner Emeritierung Professor für Musikwissenschaft an der HumboldtUniversität zu Berlin. Kemper, Wolf-Reinhard, Dr. phil., Sozialwissenschaftler und Kriminologe; lehrt hauptamtlich Sozialwissenschaften am Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik der Leuphana Universität Lüneburg. Mayer, Gerhard, Dr. phil., Psychologe; seit 1996 wissenschaftlicher Mitarbeiter am IGPP. Arbeitsschwerpunkte: Kulturwissenschaftliche Fragestellungen aus dem Bereich der Anomalistik, Schamanismus, magische Handlungspraktiken und -beliefs, biografische Integration außergewöhnlicher Erfahrungen. Schetsche, Michael, Dr. rer. pol., Soziologe und Politologe; apl. Prof. am Institut für Soziologie der Albert-Ludwigs-Universität und Forschungskoordinator am IGPP Freiburg. Arbeitsschwerpunkte: Wissens- und Mediensoziologie, Kulturanthropologie, qualitative Forschungsmethoden. Schmidt, Renate-Berenike, PD Dr. phil., Erziehungswissenschaftlerin und Sozialisationsforscherin; arbeitet in der Gymnasiallehrerausbildung an der AlbertLudwigs-Universität Freiburg und als Wissenschaftsautorin. Arbeitsschwerpunkte: Sexualpädagogik, Sozialisationsforschung, pädagogische Ethik. Schmied-Knittel, Ina, Dr. phil., Politologin und Soziologin; Projektleiterin am IGPP Freiburg. Arbeitsschwerpunkte: Wissenssoziologie, Kultursoziologie, Religionssoziologie, Diskursanalyse.

Edition Kulturwissenschaft Michael Gamper, Ruth Mayer (Hg.) Kurz & Knapp Zur Mediengeschichte kleiner Formen vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart April 2017, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3556-0

Gabriele Brandstetter, Maren Butte, Kirsten Maar (Hg.) Topographien des Flüchtigen: Choreographie als Verfahren März 2017, ca. 340 Seiten, kart., ca. 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2943-9

Nikola Langreiter, Klara Löffler (Hg.) Selber machen Diskurse und Praktiken des »Do it yourself« Februar 2017, ca. 350 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3350-4

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Edition Kulturwissenschaft Markus May, Michael Baumann, Robert Baumgartner, Tobias Eder (Hg.) Die Welt von »Game of Thrones« Kulturwissenschaftliche Perspektiven auf George R.R. Martins »A Song of Ice and Fire« Oktober 2016, 400 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3700-7

Christiane Lewe, Tim Othold, Nicolas Oxen (Hg.) Müll Interdisziplinäre Perspektiven auf das Übrig-Gebliebene September 2016, 254 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3327-6

Elisabeth Mixa, Sarah Miriam Pritz, Markus Tumeltshammer, Monica Greco (Hg.) Un-Wohl-Gefühle Eine Kulturanalyse gegenwärtiger Befindlichkeiten Januar 2016, 282 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2630-8

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