Beratung von Opfern rechter und rassistischer Gewalt: Herausforderungen Sozialer Arbeit zwischen individueller Hilfe und politischer Intervention 9783839438664

How can those affected by right-wing and racist violence in Germany be supported? Gesa Köbberling utilises results from

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German Pages 412 Year 2018

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Table of contents :
Inhalt
Dank
1. Einführung
2 Rechte und rassistische Gewalt – Begriffe und Forschungsstand
3 Soziale Arbeit an der Schnittstelle zwischen Individuum und Gesellschaft oder die Frage nach dem Politischen in der Sozialen Arbeit
4 Individuelle Subjektivität und Gesellschaft – Grundbegriffe der Kritischen Psychologie
5 Methodologische Überlegungen und methodisches Vorgehen
6 Fallanalyse I: Herr Mbenza in Grunden – von Alltagsrassismus und Gewalt
7 Fallanalyse II: Oliver und das Jugendzentrum Pferdestall in Niebrau – Alternative Jugendliche in Bedrängnis
8 Erweiterte Datengrundlage – Eine Übersicht
9 Die subjektive Bedeutung der Gewalt
10 Gesellschaftliche Dimensionen in der einzelfallbezogenen Beratung – Spannungsfelder und Herausforderungen in der Praxis
11 Die Praxis der lokalen Intervention als Brücke zwischen Einzelfall und Gesellschaftsveränderung
12 Zusammenfassung und Ausblick
Literatur
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Beratung von Opfern rechter und rassistischer Gewalt: Herausforderungen Sozialer Arbeit zwischen individueller Hilfe und politischer Intervention
 9783839438664

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Gesa Köbberling Beratung von Opfern rechter und rassistischer Gewalt

Kultur und soziale Praxis

Gesa Köbberling (Dr. phil.), geb. 1977, ist Professorin für Soziale Arbeit an der Evangelischen Hochschule Freiburg mit dem Schwerpunkt Gestaltung des Zusammenlebens in der Migrationsgesellschaft. Sie lehrt und forscht zu Migration, Rassismus und Rechtsextremismus.

Gesa Köbberling

Beratung von Opfern rechter und rassistischer Gewalt Herausforderungen Sozialer Arbeit zwischen individueller Hilfe und politischer Intervention

Dissertation, Freie Universität Berlin 2016 Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Hans-Böckler-Stiftung

© 2018 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Umschlag: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-3866-0 PDF-ISBN 978-3-8394-3866-4 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Dank

Zum Gelingen dieser Arbeit haben viele Menschen beigetragen. Besonders möchte ich mich bei den Ratsuchenden und den Berater_innen der Opferberatungsstellen bedanken, die mit großer Offenheit über ihre Erfahrungen und Praxis gesprochen haben. Ihre Berichte haben mich immer wieder berührt, ihr Vertrauen weiß ich sehr zu schätzen. Von Morus Markard habe ich seit Beginn meines Studiums an der FU Berlin unglaublich viel gelernt. Ich danke ihm ganz herzlich für die zuverlässige und zugewandte Begleitung auf dem langen und nicht ganz geradlinigen Weg bis zum Abschluss der Promotion. Ulrike Urban-Stahl möchte ich ebenfalls sehr herzlich für ihre Begleitung dieser Promotion, ihre wertvollen Anregungen und Nachfragen und ihr unterstützendes Engagement danken. Sehr viele Menschen haben zu unterschiedlichen Zeiten Teile dieser Arbeit gelesen, kommentiert, mit mir diskutiert, Rechtschreibung korrigiert und bei der Formatierung geholfen: Arbeitsgruppen und Freundschaften aus dem Arbeitszusammenhang der Kritischen Psychologie und das Kolloquium im Arbeitsbereich Sozialpädagogik an der FU Berlin, die Mikro-AG Rassismus in der Hans-Böckler-Stiftung, die Bürogemeinschaft in der Taborstraße, meine Wohngemeinschaft und Freund_innen, über die ich unglaublich froh bin. Die Hans-Böckler-Stiftung hat die Promotion durch ein Stipendium finanziell ermöglicht und ideell unterstützt. Ich habe das große Glück, ein ermutigendes, interessiertes und praktisch unterstützendes familiäres Netz im Rücken zu haben. Dazu gehören meine Mutter Almut, die die Promotion nicht mehr erlebt hat, aber in meinen Gedanken immer dabei war, mein Vater Matthias und meine Schwester Wiebke, aber auch der erweiterte Kreis der Freund_innen-Familie oder Familien-Freund_innen. Auch über diese erweiterte Familie bin ich sehr froh! Das Promovieren mit Kindern erfordert viel Unterstützung, die ich von verschiedener Seite erhalten habe. Hier möchte ich vor allem Günther und Luise herzlich danken. Schließlich danke ich Timm, Kaja und Sonia, dass sie die ganze Zeit dabei waren und sind.

1 Einführung

Zu Beginn der Arbeit an der vorliegenden Dissertation, im Frühjahr 2011, war rechte und rassistische Gewalt kein dringliches Thema öffentlicher Debatten. In einigen Bundesländern – z.B. in Brandenburg, das Ende der 1990er und Anfang der 2000er Jahre als Schwerpunkt rechter und rassistischer Gewalt galt – schienen die Intensität und Quantität der Gewalt tatsächlich zurückzugehen. Mit der Enttarnung des Terrornetzwerkes NSU, das zwischen 2000 und 2007 mindestens zehn Menschen getötet und über zwanzig durch Sprengstoff- und Nagelbombenanschlag in Köln z.T. schwer verletzt hatte, wurde Zweierlei deutlich: Dass erstens die nach wie vor bestehende Gewaltbereitschaft rechtsextremer Netzwerke unterschätzt worden war und dass zweitens die deutschen Behörden bei der Aufklärung und der Einordnung der Taten weitestgehend versagt hatten. Konjunkturen der öffentlichen Wahrnehmung von rechter und rassistischer Gewalt lassen sich in Deutschland seit Mitte der 1980er Jahre beobachten. In der Bundesrepublik wurde 1986 erstmals über Angriffe auf Unterkünfte von Asylbewerber_innen berichtet. Für das Jahr 1987 meldeten die Bundeskriminalämter 200 Straftaten gegen Migrant_innen, 1988 waren es 251 und 1989 269 (Morgenstern 2002: 351). Anfang der 1990er Jahre, kurz nach der Vereinigung der beiden deutschen Staaten, eskalierte die rassistisch motivierte Gewalt. Brandanschläge, so z.B. in Mölln 1992, und tagelang andauernde Ausschreitungen, wie im September 1991 in Hoyerswerda und im August 1992 in Rostock, stellten einen neuen Höhepunkt rechter und rassistischer Gewalt dar und wurden zum bestimmenden Medienthema. Ein Ende rechter und rassistischer Gewalt ist nicht in Sicht. Mit 1.485 Fällen im Jahr 2015 und 1.698 im Jahr 2016 hat das Bundeskriminalamt mehr rechte Gewalttaten gezählt als je zuvor (vgl. Jansen im Tagesspiegel vom 24.4.2017). Diese Arbeit beschäftigt sich mit Möglichkeiten wirksamer Unterstützung von Betroffenen rechter und rassistischer Gewalt durch professionelle Beratungsangebote. Untersucht werden Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt (im Folgenden OBS für Opferberatungsstellen), die seit Ende der 1990er Jahre aus sozialen Bewegungen heraus entstanden sind und sich in den

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folgenden Jahren mit einem spezifischen Profil professionalisiert haben. Ihr Beratungs- und Unterstützungsangebot zeichnet sich durch die Verbindung von subjektbezogenen und gesellschaftlichen Aspekten in Problemanalyse, Handlungsstrategie und Zielsetzung aus. Ziel dieser Arbeit ist es, Handlungsansätze aufzuzeigen, mit denen Betroffene rechter und rassistischer Gewalt unterstützt werden können. Am Beispiel der OBS sollen zudem Möglichkeitsräume einer Sozialen Arbeit mit gesellschaftskritischem Anspruch ausgelotet werden.

1.1

E NTSTEHUNGSHINTERGRUND UND INSTITUTIONELLE R AHMENBEDINGUNGEN DER B ERATUNGSSTELLEN

1.1.1

Das Handlungsfeld der Opferberatungsstellen

Die OBS richten ihr Angebot an Menschen, die aus rassistischen oder sozialdarwinistischen Motiven, aufgrund ihrer sexuellen Orientierung oder ihres Engagements ‚gegen rechts‘ verletzt wurden. Die OBS sehen ihr Handlungsfeld auf verschiedenen Wirkebenen, deren Zusammenspiel die Spezifik rechter Gewalt bestimme. So ziele die Botschaft rechter Gewalttaten sowohl auf eine Makroebene als auch auf eine Mikroebene. Auf der Makroebene werde die Geltung universeller Menschenrechte infrage gestellt und ein Angriff auf offene und heterogene Gesellschaften verübt. Die Mikroebene berühre die individuellen Folgen der Gewalt für die direkt Betroffenen in ihren jeweiligen Lebenszusammenhängen und mit ihren spezifischen Ressourcen und Schwierigkeiten. Rechte Gewalt habe oft nicht nur Folgen für die direkt Betroffenen, sondern könne als Botschaftstat gesamte Betroffenengruppen (z.B. Migrant_innen, alternative Jugendliche oder Jüd_innen) erreichen (AG Qualitätsstandards 2014: 9). Die Unterstützung von direkt Betroffenen müsse das Zusammenspiel dieser Ebenen als Charakteristikum rechter Gewalt berücksichtigen.1 Ausgehend von diesen Überlegungen verorten die OBS ihr Handlungsfeld in mehreren Säulen: Kerntätigkeit ist die individuelle Beratung und Unterstützung von Gewaltbetroffenen. Diese umfasst die psychosoziale Krisenintervention, Beratung und Stabilisierung, Begleitung sowie die Unterstützung bei einer etwaigen Anzeigenstellung oder im Verlauf von Ermittlungs- und Strafverfahren. Sie umfasst außerdem die Be-

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An dieser Stelle soll das Handlungsfeld überblicksartig charakterisiert werden. Eine detailliertere Darstellung des Profils der OBS findet sich in den Qualitätsstandards der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt (AG Qualitätsstandards 2014). Im empirischen Teil dieser Arbeit wird die Arbeitsweise der OBS anhand von Fallschilderungen illustriert.

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gleitung und Hilfestellung in weiteren, für die Bewältigung relevanten, alltagsweltlichen Problemstellungen und – bei Bedarf – die Vermittlung zu anderen Beratungsstellen. Auch Recherchen und Beratung zur weiteren Bedrohungssituation gehören zu dieser ersten Säule des Handlungsfeldes. Bei Bedarf unterstützen die Berater_innen die Betroffenen auch in Bezug auf Öffentlichkeitsarbeit und im Umgang mit Medienvertreter_innen (ebd.: 14-15). Die zweite Säule des Tätigkeitsfeldes umfasst die lokale Intervention. Hier adressieren die OBS den lokalen Kontext einer rechten Gewalttat, um die Situation der Betroffenen zu verbessern. Dazu gehören Gespräche mit Vertreter_innen von Verwaltung und Behörden, die Unterstützung der Betroffenen bei der Vertretung ihrer Interessen und Anliegen im Gemeinwesen, die Hilfeleistung bei Vernetzung und Artikulation von Betroffenen, fallbezogene Öffentlichkeitsarbeit und Recherchen zu lokalen rechten Strukturen (ebd.: 15-16). Öffentlichkeitsarbeit und Dokumentation stellen die dritte Säule dar. Die OBS führen auf der Grundlage eigener Fallrecherchen Chronologien, in denen Gewaltfälle dokumentiert werden. „Ziel des Monitoring ist es, das tatsächliche Ausmaß rechter Gewalt darzustellen, es gesellschaftlich diskutierbar zu machen und Gegenmaßnahmen zu befördern.“ (Ebd.: 15) Über das Monitoring hinaus betreiben die OBS Öffentlichkeitsarbeit durch die Veröffentlichung von Pressemitteilungen (zu Fallzahlen, lokalen Entwicklungen und fallbezogen, z.B. im Kontext von Gerichtsverfahren), durch thematische Publikationen (Newsletter, Broschüren, Bücher, Ausstellungen), Organisation von Pressekonferenzen, Interviews oder Hintergrundgespräche mit Journalist_innen, ggf. die Vermittlung von Gesprächspartner_innen und die Teilnahme an Podiumsdiskussionen, Informations- oder Fachveranstaltungen. 1.1.2

Rassistische Mobilisierung bis Anfang der 1990er Jahre

Das Profil der OBS mit seiner Verbindung individuumsbezogener und politischer Dimensionen in Problemverständnis und Handlungskonzept hat sich unter spezifischen Bedingungen als professionelles2 Arbeitsfeld herausgebildet. Die Entstehung der OBS ist untrennbar verbunden mit den oben genannten Konjunkturen rechter und rassistischer Gewalt in Deutschland sowie den politischen Auseinandersetzungen um angemessene Reaktionen auf diese. Die Ausschreitungen Anfang der 1990er Jahre,

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Von ‚professionell‘ wird hier in Abgrenzung zu ‚ehrenamtlicher‘ Tätigkeit oder den Aktivitäten sozialer Bewegungen gesprochen. Wenn also im Folgenden von einer Professionalisierung der Opferberatungsstellen die Rede ist, ist deren Übergang von unbezahlter politischer zu bezahlter Arbeit gemeint und nicht die Entwicklung des Berufs zu einer Profession, wie es in der Professionalisierungsdebatte in der Sozialen Arbeit diskutiert wird (Dewe/Otto 2011a; Dewe/Otto 2011b; Müller, B. 2012).

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insbesondere in Rostock-Lichtenhagen, sind ein Schlüsselereignis für den gesellschaftlichen Umgang mit rechter und rassistischer Gewalt in Deutschland und wesentlicher Hintergrund für die Entstehung der OBS. Die Eskalation der Gewalt unmittelbar nach der Maueröffnung 1989 knüpfte an politische Entwicklungen in beiden deutschen Staaten mit ihren jeweiligen Migrationspolitiken und spezifischen Rassismen an.3 So sind die Ereignisse im Kontext der schon vor 1989 in der Bundesrepublik begonnenen Asyldebatte zu verstehen, die auf die Einschränkung des Rechts auf Asyl zielte (vgl. Prenzel 2012). Über Jahre waren insbesondere von der CDU/CSUFraktion des Bundestages Zuwanderung als Belastung diskutiert und zahlreiche Einschränkungen des Einwanderungs- und Asylrechts durchgesetzt worden.4 Reimer (2011: 239-247) führt aus, dass der in den 1980er Jahren einsetzende Zuwanderungsdiskurs den von der Koalition aus CDU und FDP forcierten neoliberalen gesellschaftlichen Umbau ideologisch begleitete.5 Die mit diesem Umbau verbundenen sozialen Zumutungen für die Bevölkerung, die sich mit der Wiedervereinigung drastisch zu verschärfen drohten, bearbeitete die Regierung Kohl durch rechtspopulistische Kampagnen, in denen soziale Widersprüche ethnisierend umgedeutet und eine gemeinsame ‚deutsche Identität‘ und ‚deutsche Interessen‘ beschworen wurden. Die steigende Zahl von Asylsuchenden wurde als zentrale Gefahr für den Wohlstand der Bevölkerung, die deutsche ‚Identität‘ und ‚Kultur‘ und als Gefahr für die innere Sicherheit thematisiert. Die Asyldebatte, in der die Unionsparteien Mehrheiten für eine Grundgesetzänderung gewinnen wollten, gegen die sich jedoch SPD und Grüne, Kirchen und Gewerkschaften, stellten, wurde hochemotional geführt. Politiker_innen

3

Für das Verständnis der Eskalation rassistischer Gewalt Anfang der 1990er Jahre wäre ein weiteres Ausholen lohnenswert, um die Mobilisierung von gewalttätigem Rassismus sowohl in die Geschichte der Migration in der DDR als auch in der Bundesrepublik einzuordnen. Dies würde aber den Rahmen dieser Einleitung sprengen. Zu Migration und Rassismus in der DDR gibt es bislang nur wenig Forschung. Zu nennen sind hier Waibel (2012), Zwengel (2011) und Mende (2013). Auch die Entwicklung rechtsextremer Bewegungen in beiden deutschen Staaten vor der Wiedervereinigung ist als Hintergrund der Eskalation der Gewalt zu nennen, kann hier aber nicht ausgeführt werden.

4

Zum Verlauf der Diskussionen im Bundestag, den verwendeten (rassistischen) diskursiven

5

Unter dem neoliberalen Umbau versteht Reimer den Umbau des Verhältnisses von Staat,

Figuren und den durchgesetzten Gesetzesänderungen siehe Morgenstern (2002). Markt und Zivilgesellschaft: Im neoliberalen Projekt komme dem Staat die Funktion zu, dem Markt zu dienen, statt ihn einzugrenzen. Es werde auf Eigenverantwortung des Einzelnen statt auf Absicherung gegenüber Risiken gesetzt. Elitenbildung werde offen legitimiert statt abgebaut.

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der Regierungsparteien und Medien nutzten Bilder von ‚Flut‘ und ‚Überschwemmung‘; Migration wurde als ‚hereinströmendes‘ soziales Elend und als nicht zu bewältigende Belastung dargestellt. Schmidt (2002) vertritt die These, dass die Eskalation der Gewalt in RostockLichtenhagen von den politischen Entscheidungsträger_innen bewusst in Kauf genommen worden war. Für diese These spricht, dass sich die Ausschreitungen über Wochen angekündigt hatten. Die zentrale Aufnahmestelle war maßlos überbelegt, so dass ankommende Asylbewerber_innen gezwungen waren, auf den Grünanlagen zu kampieren. Politiker_innen haben es in dieser Situation versäumt, durch konkrete Maßnahmen die Lage zu verbessern. Damit wurde eine Situation geschaffen, die rassistische Ressentiments bestätigte (Prenzel 2012: 15-17). Die Eskalation der Gewalt wurde von den Regierungsparteien wiederum als Zeichen der Überforderung der Bevölkerung gedeutet und diese als Argument für eine notwendige Asylrechtsänderung instrumentalisiert. Die rassistische Mobilisierung der deutschen Gesellschaft seit den 1980ern war umkämpft. Innerhalb der schwarz-gelben Regierung gab es durchgängig Konflikte zwischen dem national-konservativen Kurs der CDU (insbesondere von Innenminister Hans-Peter Friedrich) und dem liberalen Regierungspartner. SPD und Grüne stellten sich gegen die rechtspopulistische Ausrichtung der Debatte und gegen die geplante Grundgesetzänderung – bis der Widerstand der SPD 1992 kippte und die Abgeordneten der Grundgesetzänderung zustimmten. Auch außerparlamentarisch wurden in den 1980ern Migration und Rassismus zentrale Themen: In den Gewerkschaften und Kirchen mobilisierte sich breiter Widerspruch gegen die geplante Grundgesetzänderung und die alltägliche rassistische Gewalt. Migration und Rassismus, Asylpolitik und Neonazis wurden auch zu Themen der Bewegungslinken. So gründete sich 1988 in Berlin die Antirassistische Initiative (ARI) mit dem Ziel, „den Blick nicht nur auf die zunehmenden gewalttätigen Übergriffe auf Flüchtlinge und ImmigrantInnen [zu] lenken, sondern auch Rassismus und Diskriminierungen auf allen gesellschaftlichen Ebenen sichtbar [zu] machen und [zu] bekämpfen. Das Schweigen gegenüber dem alltäglichen Rassismus und faschistischer Gewalt versuchen wir zu brechen, indem wir zu einer Gegenöffentlichkeit beitragen.“ (ARI o.J.)

Die ARI gründete ein antirassistisches Telefon und gibt seit 1991 die ZAG – antirassistische Zeitschrift heraus. Aus der autonomen und Hausbesetzer_innenbewegung vor allem in Westberlin gründeten sich in den 1980er Jahren so genannte Antifa-Gruppen6, die zunächst das

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‚Antifa‘ steht für antifaschistisch bzw. antifaschistische Aktion und ist eine Bezeichnung für politische Gruppen, die sich vorrangig gegen Nationalismus, Rassismus und rechtsextreme Mobilisierung wenden.

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Ziel verfolgten, eigene Projekte und Strukturen gegen Angriffe von Neonazis zu schützen. Als Reaktion auf die zunehmenden rassistischen Übergriffe in Berlin und die offenkundige Gleichgültigkeit der Mehrheitsbevölkerung (inklusive der autonomen Linken) gründete sich 1989 in Berlin die Antifasist Gençlik als Migrant_innenselbstorganisation (ak wantok 2014). Seit Anfang der 1990er Jahre entstanden im gesamten Bundesgebiet Antifa-Gruppen. In Ostdeutschland hatten sich nach dem Zusammenbruch der DDR neue Möglichkeiten für alternative Kultur und Politik eröffnet. In vielen ostdeutschen Städten und in Berlin wurden Anfang der 1990er Jahre Häuser besetzt, in denen links-alternative, autonome Jugend-, Wohn- und Kulturprojekte entstanden. Angriffe von Neonazis waren hier an der Tagesordnung. Angesichts der Berichte über die beginnenden Pogrome in Hoyerswerda im September 1991 fuhren spontan Flüchtlingsunterstützer_innen und autonome antifaschistische und antirassistische Aktivist_innen nach Hoyerswerda, um die Angegriffenen zu unterstützen (vgl. ARI 1991). Die Ausschreitungen verhinderten sie in Hoyerswerda und an anderen Orten nicht, wie Aktivist_innen antirassistischer und antifaschistischer Bewegungen später selbstkritisch reflektierten. 1.1.3

Staatliche Reaktionen auf rechte und rassistische Gewalt und die Entstehung von Opferberatungsstellen

Bundesprogramm AgAG und die Konsolidierung rechter Strukturen und Alltagskultur Die Eskalation rassistischer Gewalt machte eine staatliche Reaktion notwendig. Seit 1992 hat jede Bundesregierung ein Programm gegen Rechtsextremismus aufgelegt. Diese Programme werde ich im Folgenden darstellen, da sie wesentlich für den institutionellen Rahmen der OBS sind: Seit 2001 beziehen sie den Großteil ihrer finanziellen Mittel aus den jeweiligen Bundesprogrammen. Im Dezember 1991 stellte Angela Merkel als damalige Bundesministerin für Frauen und Jugend das Aktionsprogramm gegen Aggression und Gewalt (AgAG) vor, welches 1992 in Kraft trat (vgl. Reimer 2011: 283). Das AgAG zielte auf den Ausbau von Jugendhilfestrukturen in den neuen Bundesländern. „Gewaltbereite und gewalttätige Jugendliche [sollten] in Maßnahmen der Jugendhilfe“ eingebunden werden (AgAG, Bd. 1, Vorwort, 11, zitiert nach Reimer 2011: 287). 50 Millionen DM wurden für den Aufbau freier Träger und 20 Millionen DM „für eine zielgruppenorientierte Förderung vorgesehen, um den extremistischen, fremdenfeindlichen und gewalttätigen Ausschreitungen junger Menschen zu begegnen.“ (Erste Pressekonferenz des BMFJ zum AgAG am 10.12.1991, zitiert nach Reimer 2011: 283) Mit dem Programm wurde rassistische Gewalt als Problem der ehemaligen DDR festgeschrieben. Zudem wurde die Eskalation rassistischer Gewalt aus dem Zusammenhang staatlicher Politik und medialer Diskurse im Rahmen des rechtspopulistischen Neoliberalismus gerissen und als Jugendproblem markiert. Entsprechend setzte das Programm

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auf Jugendhilfemaßnahmen, die sich in Form von offener Jugendarbeit und FußballFanprojekten insbesondere an ‚gefährdete‘ Jugendliche richten sollte. Dass politische Entscheidungen, die das neoliberale Projekt begleitet hatten, Gewalt (mit-)verursacht haben könnte, blieb ausgeklammert. Stattdessen sollte – sozusagen isoliert – ‚extremistisches‘ und gewaltbereites Verhalten verhindert werden. Opferberatungsprojekte ohne staatliche Förderung Vor dem Hintergrund des massiven und gewalttätigen Rassismus und der gestiegenen Bedrohung durch Neonazis in den 1990er Jahren wurde, wie bereits oben angesprochen, die Unterstützung von Betroffenen zu einem Thema der Bewegungslinken. Die seit 1988 bestehende ARI in Berlin betrieb ein antirassistisches Telefon. Hier sollten Menschen, die von rassistischer Gewalt, Diskriminierung sowie von ausländerrechtlichen Einschränkungen betroffen waren, unterstützt werden, z.B. durch die Vermittlung von Anwält_innen. Die Dokumentation der gemeldeten Fälle und die begleitende Öffentlichkeitsarbeit waren weitere Ziele des antirassistischen Telefons. So unterstützte die ARI zum Beispiel nach dem Mord an Amadeu Antonio im November 1991 dessen hinterbliebene Lebensgefährtin und deren gemeinsamen Sohn und begleitete die langwierigen Gerichtsverfahren gegen die Täter und Polizeibeamt_innen, die während der Tat nicht eingegriffen hatten (vgl. ARI 1992). Auch in anderen Städten richteten antirassistische Aktivist_innen Telefone oder Anlaufstellen für Betroffene von rassistischer Gewalt, Diskriminierung und staatlichem Rassismus ein.7 Im März 1998 wurde die Opferperspektive in Brandenburg gegründet. Das Projekt formulierte auf einer Pressekonferenz seine Zielsetzungen, (1) Opfer rechter Gewalt zu beraten und zu unterstützen, (2) einen „solidarischen Gegenpol [...] in der Zivilgesellschaft [zu fördern], der sich auf die Seite der Opfer schlägt“ und (3) rechte Angriffe zu dokumentieren, „um das Ausmaß der Gewalt deutlich zu machen und der Tendenz der politischen Verharmlosung entgegen zu wirken.“ (Jaschke/Wendel 2013: 220) An anderer Stelle wird auch die Unterstützung „einer demokratisch orientierten Jugendszene, die der rechtsextremistisch orientierten Jugendkultur eine emanzipatorische Alternative entgegensetzt“ (Gruppe Opferperspektive 1999: 55), als Zielstellung beschrieben. Wesentlicher Ausgangspunkt des Projekts war die Kritik an der Täterzentrierung des Offizialdiskurses. Insbesondere die kritische Auseinandersetzung mit der aus den

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Unter staatlichem Rassismus verstanden die Initiativen ausländerrechtliche Regelungen und Maßnahmen (z.B. der Polizei), die faktisch eine rassistische Diskriminierung darstellen.

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Mitteln des AgAG finanzierten akzeptierenden Jugendarbeit8 war für die Entwicklung der OBS zentral.9 Die Opferperspektive formulierte Problemanalysen zur Entwicklung von Neonazi-Strukturen in Brandenburg sowie zu rechter und rassistischer Gewalt im Kontext des Kampfes um Hegemonie: Der Lifestyle der Neonazis setze sich jugendkulturell immer stärker durch, während Alternativen mehr und mehr zurück gedrängt würden. Der Gewalt komme „bei der Durchsetzung und Aufrechterhaltung rechter Hegemonie eine zentrale Rolle [zu]. Durch Drohung mit Gewalt und gezielten Angriffen wird versucht, Jugendliche, die sich dem rechten Diskurs nicht anpassen, zu verdrängen.“ (Ebd.: 48) Durch die Kombination von kultureller Dominanz und gezielter Einschüchterung entstehe in den ländlichen Regionen Brandenburgs eine rechte Hegemonie. Möglich sei dies, weil Rechtsextreme mit der Gleichgültigkeit oder sogar (heimlichen) Zustimmung der Mehrheit der Bevölkerung rechnen könnten. „Niemand scheint sich für die in Bedrängnis geratenen Jugendlichen einzusetzen. Sie werden als links(-extrem) abgestempelt.“ (Ebd.: 49) Rassistische Gewalt wird hier als gesteigerte Form des alltäglichen Rassismus beschrieben. Das Projekt Opferperspektive entstand aus der Umlandgruppe von Berliner antifaschistischen Aktivist_innen, die aufgrund der permanenten Bedrohung durch Neonazis den Aufbau, Erhalt und die Vernetzung alternativer und linker (subkultureller) Projekte in Brandenburg unterstützte. Im Gegensatz zur Berliner ARI, die Teil antirassistischer und migrationspolitischer Bewegungen war, ist der Hintergrund der Opferperspektive die antifaschistische Bewegung der späten 1980er und 1990er Jahre. In den frühen programmatischen Papieren der Opferperspektive wird deutlich, dass konzeptionell einerseits an die Diskussionen, Strategien und Deutungen der antifaschistischen Bewegung in den 1990er Jahren angeknüpft, andererseits aber für eine

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Das sozialarbeiterische Konzept wurde Ende der 1980er von Franz Josef Krafeld an der Universität Bremen entwickelt. Es sieht vor, dass Sozialarbeitende auf rechtsextreme Jugendcliquen (und andere schwer erreichbare Gruppen wie Drogenabhängige) zugehen und die Klient_innen „dort abholen, wo sie stehen“ (vgl. Krafeld 1992, 1996).

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Vgl. auch Jaschke/Wendel (2013). Als exemplarisch für den gescheiterten Versuch, der Etablierung einer gewaltbereiten Neonaziszene mit (falsch verstandener) akzeptierender Jugendarbeit zu begegnen, gilt die Stadt Guben. Hier hatten schon 1987 und 1989 gewalttätige Ausschreitungen gegen Vertragsarbeiter_innen, die v.a. aus Mosambik kamen, stattgefunden. Anfang der 1990er Jahre nahm die rechtsextreme Szene an Größe und Organisierungsgrad zu. Darauf reagierte die Stadt mit dem intensiven Einsatz von Sozialarbeit: In jeweils drei Einrichtungen städtischer und freier Träger arbeiteten insgesamt 36 Mitarbeiter_innen. Ein eingesetzter Runder Tisch Jugend setzte auf Dialog mit den Jugendlichen und lud bewusst explizit rechtsextreme Gruppierungen ein. Im Februar 1999 wurde der Asylbewerber Farid Guendoul von jungen Neonazis zu Tode gehetzt. Ein Teil der Täter gehörte zum Stammpublikum der Jugendeinrichtungen (vgl. Jaschke 2001).

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teilweise Umorientierung geworben wurde. So betont Wendel (2001b) die Notwendigkeit, dass sich die Antifa nicht nur mit organisierten Nazistrukturen auseinandersetzen könne, sondern auch die Veränderung von Alltagskultur und die Rolle unorganisierter rechter Cliquen in den Blick nehmen müsse. Die Unterstützung von Betroffenen rechter und rassistischer Gewalt wird als Weg gesehen, den Zusammenhang von Gewalt und ihrem gesellschaftlichen Kontext genauer zu erfassen (Wendel 2001a; Gruppe Opferperspektive 1999: 53-55). Damit sollte auch bewusst die in den 1990er Jahren entstandene Trennung zwischen antirassistischer und antifaschistischer Bewegung und die tendenzielle Selbstbezogenheit von linker Subkultur und Antifa überwunden werden (vgl. Jaschke/Wendel 2013: 218). Mit dem vorgeschlagenen Konzept der Opferperspektive wurde zudem eine Perspektive vertreten, die sich explizit von der in Antifa-Zusammenhängen der 1990er Jahre vertretenen Parole ‚Antifa heißt Angriff‘ und der dahinterstehenden Position, der Präsenz von Neonazis mit militanter Organisierung und Gegengewalt zu begegnen, absetzte (ebd.: 222). Stattdessen warb die Opferperspektive in ihren frühen Texten dafür, als antifaschistische Aktivist_innen aus der „manchmal selbstgewählten Isolation“ (Wendel 2001b) zu treten und bewusst Bündnisse im lokalen Kontext einzugehen, sobald zumindest der kleinste gemeinsame Nenner, die Ablehnung von Gewalt und Neonazis, gegeben sei. Auch die Strategie, explizit rechtsstaatliche Mittel zu nutzen und die Konfrontation mit Strafverfolgungsbehörden, z.B. über die Anerkennung von Fallzahlen, zu führen, setzte sie von der Antifa-Bewegung ab und wurde von dieser durchaus kritisch betrachtet. Die Opferperspektive definierte sich explizit als politisches Projekt und nicht als Konzept der Sozialen Arbeit, zu der die Aktivist_innen ein deutlich distanziertes Verhältnis hatten. Entsprechend richteten sich die ersten Publikationen, in denen für diesen Ansatz geworben wurde, an die antirassistische und insbesondere antifaschistische Bewegung der späten 1990er. Lokale Gruppen sollten gefunden werden, um das Prinzip Opferperspektive als politisches Projekt für ihre Arbeit zu übernehmen. Zugleich wurde deutlich, dass eine kontinuierliche Unterstützungsarbeit und systematische Dokumentation ohne finanzielle Ausstattung nicht dauerhaft realisierbar ist.

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Professionalisierung von Opferberatungsstellen im CIVITAS-Programm

Im September 1998 übernahm die Koalition aus SPD und Bündnis 90/Die Grünen mit Gerhard Schröder (SPD) als Kanzler die Regierung. Die Regierungsparteien hielten in ihrem Koalitionsvertrag fest, dass die politische Auseinandersetzung mit dem Rechtsextremismus und seine Bekämpfung eine vordringliche Aufgabe sei (vgl. Reimer 2011: 291). Aber erst als im Sommer 2000 ein antisemitischer Anschlag auf die Besucher_innen einer Synagoge in Düsseldorf bundesweit Empörung auslöste, rief Schröder zum ‚Aufstand der Anständigen‘ auf und leitete konkrete Maßnahmen zur Einrichtung eines neuen Aktionsprogrammes ein. Alle Fraktionen brachten Entwürfe ein, auf deren Grundlage SPD, Bündnis 90/Die Grünen, FDP und PDS einen Kompromiss ausarbeiteten, der schließlich gegen die Stimmen der CDU/CSU-Fraktion verabschiedet wurde. Zum Aktionsprogramm Jugend für Toleranz und Demokratie – gegen Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus gehörten die Teilprogramme ENTIMON – gemeinsam gegen Gewalt und Rechtsextremismus, XENOS – Leben und Arbeiten in Vielfalt und CIVITAS – initiativ gegen Rechtsextremismus in den neuen Bundesländern (vgl. BMFSFJ 2003: 4). Der ausgerufene ‚Aufstand der Anständigen‘ mit dem plötzlich breiten medialen Interesse an Rassismus und Rechtsextremismus im Sommer 2000 begleitete die migrationspolitische Linie der rot-grünen Regierung, wie sie sich in der Green-Card-Initiative von Bundeskanzler Schröder im Frühjahr 2000 sowie in der Änderung des Staatsangehörigkeitsrechts und der vorangegangenen Debatte Anfang 1999 zeigte. Dabei ging es um eine Modernisierung und Befreiung der Zuwanderungspolitik vom jahrelang gepflegten völkischen Nationalismus, der im globalisierten Kapitalismus hinderlich geworden war. Das Recht auf Schutz für Geflüchtete wurde jetzt ökonomischen Interessen untergeordnet (vgl. Butterwegge 2003). Die neue Regierungskoalition initiierte neue Handlungsansätze gegen Rassismus und Rechtsextremismus. Das Konzept der Opferperspektive wurde in dieser Situation offensiv und erfolgreich in die Gestaltung eines neuen Bundesprogramms gegen Rechtsextremismus, das Programm CIVITAS, eingebracht, das die Finanzierung von OBS in allen ostdeutschen Bundesländern absicherte. Opferberatungsstellen im CIVITAS-Programm Im CIVITAS-Programm verschob sich die Probleminterpretation und Bearbeitungsstrategie im Vergleich zum Bundesprogramm der Vorgängerregierung. Erklärtes Ziel des Programms war es, „eine demokratische, gemeinwesenorientierte Kultur der Ideologie der Ungleichwertigkeit von Menschen, die sich in Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus aus-

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drückt, entgegenzusetzen. Dabei stehen die Anerkennung, der Schutz und der Respekt gegenüber ethnischen, kulturellen und sozialen Minderheiten sowie die Perspektive der Opfer rechtsextremer Gewalt im Zentrum des Programms.“ (BMFSFJ 2003: 5)

Aufgenommen wurde damit die Kritik an der Reduktion des Problems auf jugendliche Gewalttäter_innen. Es wurde zum Gegenstand gemacht, dass fremdenfeindliche, rechtsextreme und antisemitische Einstellungen in weiten Teilen der Bevölkerung verankert sind. Im Gegensatz zur bisherigen Förderlogik wurde nun ein zivilgesellschaftlicher Ansatz herausgestellt. Dies hieß, Rechtsextremismus als Problem der politischen Kultur und insbesondere der zu schwach entwickelten demokratischen Zivilgesellschaft in den ostdeutschen Bundesländern zu verstehen. Neben den OBS wurden in allen ostdeutschen Bundesländern Mobile Beratungsteams (MBT) gefördert, die „da, wo Probleme auftreten, Kommunen und lokale Initiativen beim Umgang mit Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus unterstützen“ sollten (ebd.: 7). Mit der Einrichtung von Netzwerkstellen (NWS) sollte „die Zusammenarbeit lokaler Akteure im Gemeinwesen“ unterstützt werden (ebd.: 9). Die Bundesregierung stellte für das CIVITAS-Programm im Jahr 2001 zunächst für ein Jahr 10 Millionen DM zur Verfügung. Im Jahr 2002 verdoppelte sich der Etat. Das Programm wurde bis 2006 festgeschrieben, wobei die Mittel aus dem Bundeshaushalt schrittweise heruntergesetzt wurden, um über eine Ko-Finanzierung der Länder diese in die Verantwortung zu nehmen. Kritik an der Problemlösung im CIVITAS-Programm In das CIVITAS-Programm ging die von Sozialen Bewegungen formulierte Kritik am gesellschaftlichen Umgang mit Rassismus, Rechtsextremismus und Antisemitismus deutlich ein. Akteur_innen aus Initiativen und bestehenden Projekten waren an der Programmgestaltung und der Formulierung der Leitlinien beteiligt. Die Kräfteverhältnisse hatten sich so verschoben, dass eine neue Problembeschreibung hegemonial wurde. Elemente der alten Problembeschreibung gingen allerdings nicht verloren, sondern bestanden mit niedrigerem Stellenwert fort: So ist das Extremismusmodell, welches für die Ausrichtung des Vorgängerprogramms AgAG zentral war, nicht verschwunden, sondern in seiner Relevanz zurückgedrängt und in spezifischer Weise interpretiert worden. Während die CDU/CSU-Fraktion noch immer die explizite Bekämpfung von Rechts- und Linksextremismus und mehr repressive Möglichkeiten insbesondere im Jugend- und Versammlungsrecht forderte, wurde die Auffassung mehrheitsfähig, dass zwar jeder Extremismus zu verurteilen, der Rechtsextremismus aber ein „besonders gravierendes, ein spezifisches Problem“ sei, dem die Gesellschaft zu begegnen habe (Sebastian Edathy in der Plenarsitzung des Bundestages, zitiert nach Reimer 2011: 292). Die CDU/CSU stimmte aus diesem Grund gegen den Programmentwurf.

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Auch wenn der zivilgesellschaftliche Ansatz im Gegensatz zur Jugend- und Täterzentrierung im Vorgängerprogramm neue, erweiterte Handlungsansätze gegen Rassismus und rechte Gewalt ermöglichte, blieb seine Umsetzung im CIVITASProgramm gebrochen und z.T. hinter den Möglichkeiten zurück. So setzte sich gegenüber dem programmatischen Perspektivwechsel praktisch der Jugendfokus in den Diskussionen und Handlungsansätzen (zum Beispiel in Bezug auf Bildungsarbeit) immer wieder durch (Reimer 2011: 295). Das Problem des Rassismus und Rechtsextremismus wurde zwar nicht mehr ausschließlich bei jugendlichen Gewalttäter_innen verortet, sondern auch in der Zivilgesellschaft, die aufgerufen wurde, Zivilcourage zu zeigen und gegen Rassismus und Gewalt aktiv zu werden. Zugleich ermöglichte die spezifische Rezeption des zivilgesellschaftlichen Ansatzes aber auch, staatliches Handeln aus der Problembeschreibung auszuklammern und z.B. die Politik der Flüchtlingsabwehr aus dem Fokus zu rücken.10 Position gegen Rechtsextremismus zu beziehen, wurde als Aufforderung zu bürgerschaftlichem Engagement formuliert, während die Zusammenhänge von Ökonomie, staatlichem Handeln und Rassismus ausgeklammert wurden. Mit der Beschränkung des CIVITAS-Programms auf Ostdeutschland wurde zudem ein Problemverständnis transportiert, demzufolge es dort ein spezielles Problem mit der Zivilgesellschaft gebe, die aufgrund der DDR-Geschichte unterentwickelt sei. Rassismus und Rechtextremismus galten somit als ostdeutsches Problem. Die Ursachen des Problems wurden im DDR-Staat gesehen und damit in die Vergangenheit verlagert und jenseits aktueller gesellschaftlicher Verhältnisse verortet. Aus linken Bewegungen heraus wurde zudem problematisiert, dass sich auch im CIVITAS-Programm der Fokus auf Gewalt wiederfinde. Dies bezog sich insbesondere auf die Arbeit der OBS. Der Gewaltfokus ermögliche, so die Kritik, den Rassismus der Neonazis von den alltäglichen Formen des Rassismus zu trennen und mache letztere dadurch unsichtbar. Zudem wurde kritisiert, dass auch im CIVITASProgramm (und von den OBS) mit dem Begriff des ‚Rechtsextremismus‘ gearbeitet werde. Damit werde erneut der Fokus auf Neonazis gelegt, statt sich mit Rassismus auseinanderzusetzen. Immer wieder wurde auch die Frage aufgeworfen, inwiefern politisches Engagement durch die staatliche Finanzierung von Projekten, in denen Aktivist_innen nun ihr berufliches Auskommen fänden, ‚gezähmt‘ werde.11

10 Diese Fokussetzung war Gegenstand von Auseinandersetzungen. So wurde 2002 ein von einer OBS veröffentlichtes Plakat, das sich unter dem Titel Asylsuchende in Thüringen – Das kalte Herz Deutschlands mit der Lage von Flüchtlingen in einer Gemeinde befasste, von der Landesregierung als grober Verstoß gegen die CIVITAS-Richtlinien bezeichnet (vgl. Christoph Seils, Berliner Zeitung vom 23.1.2003). 11 Eine ausführliche Auseinandersetzung mit den widersprüchlichen Effekten der staatlichen Förderung von Projekten ‚gegen rechts‘ durch CIVITAS und nachfolgende Programme findet sich bei Burschel/Schubert/Wiegel (2013).

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Herausbildung eines professionalisierten Profils der Opferberatungsstellen Unter dem CIVITAS-Programm entstanden in allen ostdeutschen Bundesländern Beratungsstellen für Betroffene rechter und rassistischer Gewalt, die entweder eigene kleine Träger gründeten oder sich an bestehende Träger12 angliederten. Im CIVITASProgramm verankert war die Vernetzung zwischen den OBS in den Bundesländern. Dies ermöglichte die gemeinsame konzeptionelle Weiterentwicklung anhand reflektierter praktischer Erfahrungen sowie die Qualifizierung der Mitarbeiter_innen in Bezug auf die Erfordernisse des neuen Praxisfeldes. So wird in der ersten gemeinsamen Konzeptbeschreibung der OBS berichtet: „Die durch das Bundesprogramm CIVITAS geförderten Opferberatungsprojekte haben mit ihrem Beratungsansatz konzeptionelles Neuland betreten. Um die Beratungstätigkeit ständig reflektieren zu können, wurde mit Beginn der Arbeit eine die gesamte Projektlaufzeit begleitende Fortbildungsreihe konzipiert. Neben einem Kanon von inhaltlichen Seminarmodulen, die sich an den praktischen Erfordernissen der spezifischen Beratungsarbeit orientierten, diente die Fortbildungsreihe dem strukturierten Austausch der Praxiserfahrungen der einzelnen Projekte.“ (Koordinator der OBS 2003: 5)

So fanden in den Jahren der CIVITAS-Förderung (2001-2006) maßgebliche Prozesse der Profilbildung in den Beratungsstellen statt, die u.a. in der eben zitierten Selbstdarstellung zum Ausdruck kommen. Es gab zudem Qualifizierungsprozesse der Mitarbeiter_innen für dieses Arbeitsfeld mit neuem, professionellen Anspruch und Prozesse der Professionalisierung der Organisationsstrukturen. Diese Maßnahmen waren intern z.T. heftig umstritten und wurden als Entfremdung vom politischen Selbstverständnis problematisiert.13 Die einzelnen OBS in den Bundesländern haben die Entwicklung ihrer Organisationen im Einzelnen unterschiedlich gestaltet. In allen OBS ist aber grundsätzlich ein Spannungsfeld aufrechterhalten worden, das sich wie folgt umreißen lässt: Die OBS verstehen sich (a) als konstitutiv verbunden mit antirassistischen und antifaschistischen politischen Bewegungen, sie bieten (b) den Gewaltbetroffenen Unterstützung an, die professionellen Ansprüchen genügen soll und sie haben (c) als staatlich finanzierte Einrichtungen gesellschaftliche Aufträge, die politisch umkämpft sind.

12 Beispielsweise an die Regionalen Arbeitsstellen für Bildung, Integration und Demokratie (RAA). 13 Hörmann (2002) beschreibt die Prozesse der Organisationsentwicklung und die damit verbundenen Konflikte in Bezug auf feministische Projekte. Die Parallelen zu Diskussionen und Erfahrungen in Frauenprojekten werden in dieser Arbeit an verschiedenen Stellen aufgegriffen.

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Veränderungen der institutionellen Rahmenbedingungen durch wechselnde politische Konstellationen Die Entwicklungsbedingungen der OBS verschoben sich auch in den folgenden Jahren durch veränderte politische Kräfteverhältnisse. Bei den vorgezogenen Bundestagswahlen 2005 ging die CDU/CSU als stärkste Kraft hervor und bildete mit der SPD eine große Koalition. Das CIVITAS-Programm lief noch bis Ende 2006. Die weitere Gestaltung staatlicher Maßnahmen gegen Rechtsextremismus wurde zu einem hart umkämpften Feld, in dem das CDU-geführte Ministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ), die betroffenen Projekte, die Opposition von Bündnis 90/Die Grünen und der Linken sowie Fachpolitiker_innen der SPD über Monate miteinander rangen (ausführlich dazu Reimer 2011: 298). Vielfalt tut gut. und kompetent. für Demokratie In dem schließlich verabschiedeten Bundesprogramm Vielfalt tut gut. Jugend für Vielfalt, Toleranz und Demokratie, welches ab Januar 2007 mit 19 Millionen Euro jährlich bundesweit lokale Aktionspläne und Modellprojekte fördern sollte, war eine Weiterförderung der Strukturprojekte, also der OBS, der MBTs und der NWS, nicht vorgesehen. Erst Ende 2006 wurde – nach intensiven Kämpfen – eine Ergänzung des Programmes in Aussicht gestellt: Das Programm kompetent. für Demokratie – Beratungsnetzwerke gegen Rechtsextremismus mit einer jährlichen Ausstattung von fünf Millionen Euro sollte Modellprojekte sowie landesweite Beratungsnetzwerke fördern. In letztere wurde die Förderung der OBS, der MBTs und der NWS aufgenommen. Die Weiterförderung und Verstetigung der bestehenden Beratungsprojekte wurde zwar gegen den Willen der CDU durchgesetzt. In der Ausgestaltung des Programms konnte jedoch das von der CDU geführte Ministerium deutliche Akzente setzen. Es forcierte durch die Einbindung der Beratungsprojekte in landesweite Beratungsnetzwerke die Anbindung an staatliche Stellen: Die Beratungsnetzwerke unterstanden nun der Leitung einer Landeskoordinierungsstelle, die in der Regel aus der öffentlichen Verwaltung besetzt wurde und für die Vergabe der Bundesmittel und die Koordinierung der Tätigkeiten der in den Beratungsnetzwerken vertretenen Institutionen zuständig war. Damit stieg die Abhängigkeit der OBS vom politischen Willen der jeweiligen Bundesländer, die nun komplett über die Förderung entschieden, während unter CIVITAS die Projekte Mittel von Bund und Ländern unabhängig voneinander eingeworben hatten.14 Es wurde eine bundesweite Zentralstelle eingerichtet, die Tätigkeitsberichte von den Landesnetzwerken anforderte und die Öffentlichkeitsarbeit sowie die Qualifizierung von Mitarbeiter_innen zentral steuerte. Dass die Programmgestaltung auf eine Verstaatlichung der Beratungsstrukturen zielte, zeigte sich

14 Tatsächlich nutzten Länder diesen neuen Spielraum und entschieden in einzelnen Fällen gegen die Weiterförderung bestehender Projekte.

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auch an der personellen Zusammensetzung der Beratungsnetzwerke in den Bundesländern, in denen meist staatliche Institutionen großes Gewicht hatten. So gehörten in den meisten Fällen Ministerien, Präventionsrat, Polizei, der Landesjugendring, der Landessportbund und nicht selten auch der Verfassungsschutz zu den Mitgliedern.15 Projekte, die staatliches Handeln kritisierten, waren nur selten vertreten.16 Dies steht im Gegensatz zum zivilgesellschaftlichen Ansatz des Vorgängerprogramms und kollidierte mit der Arbeitsweise der OBS, die die Notwendigkeit einer von staatlichen Stellen unabhängigen Unterstützungsstruktur für Betroffene rechter und rassistischer Gewalt und eines unabhängigen zivilgesellschaftlichen Monitorings betonten. Während das CIVITAS-Programm auf die ostdeutschen Bundesländer beschränkt war, wurde das neue Bundesprogramm auf das gesamte Bundesgebiet ausgeweitet, ohne jedoch die Förderhöhe entsprechend anzupassen. Damit steht das Programm insgesamt für eine Schwächung der bestehenden Strukturprojekte in Ostdeutschland, während der Aufbau ähnlicher Strukturen in Westdeutschland mit den zur Verfügung stehenden Mitteln – und bei deutlich geringerer Bereitschaft dieser Bundesländer, sich gegen Rechtsextremismus zu engagieren – nicht möglich war (ebd.: 306). Die westdeutschen Bundesländer konzentrierten sich beim Aufbau von Beratungsnetzwerken auf mobile Beratung gegen Rechtsextremismus, Jugendarbeit und Prävention, während das Handlungsfeld der Opferberatung zunächst kaum Beachtung fand. Der geringe Stellenwert der OBS im Bundesprogramm kompetent. für Demokratie zeigte sich auch daran, dass in den Vernetzungs- und Fortbildungsangeboten der Zentralstelle explizit Themen aus dem Bereich der Opferberatung nicht verhandelt wurden und in der Evaluierung des Programms die Evaluierung der OBS zunächst nicht vorgesehen war (vgl. Bohn/Klein/Schaffranke 2009). Die bestehenden OBS in den ostdeutschen Bundesländern (und erste, schlecht ausgestattete Einrichtungen in den westdeutschen) standen vor der Herausforderung, begonnene Profilbildungs- und Qualitätsentwicklungsprozesse weiterzuführen, während sich die institutionellen Rahmenbedingungen in den Bundesländern (durch das unterschiedliche Engagement für oder gegen die Beratungsstellen) stark auseinander entwickelten.

15 Das Beratungsnetzwerk Sachsen gibt beispielsweise als Mitglieder an: Sozialministerium, Innenministerium Polizei, Innenministerium Verfassungsschutz, Justizministerium, Kultusministerium, Landespräventionsrat Geschäftsstelle, Programm ‚Weltoffenes Sachsen‘, Landeszentrale für politische Bildung, Kulturbüro Sachsen e.V., Opferberatung der RAA Sachsen e.V., Netzwerk Tolerantes Sachsen, Kinder- und Jugendring Sachsen, Landessportbund, Landesfeuerwehrverband 16 In der Regel kommen andere Akteure wie Gruppen und Organisationen von Migrant_innen oder informelle (Jugend-)Netzwerke gar nicht in den Blick, um als Mitglieder der Beratungsnetzwerke eingeladen zu werden. In anderen Fällen wurden kritische Akteure gezielt wieder ausgeladen: Die Antifaschistische Informations-, Dokumentations- und Archivstelle (AIDA) in Bayern wurde 2009 offiziell aus dem Beratungsnetzwerk ausgeschlossen.

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Das Extremismusmodell als zentrale Linie des Bundesprogramms unter der Koalition aus CDU und FDP Nach der Regierungsübernahme der Koalition von CDU/CSU und FDP 2009 wurde Kristina Schröder die verantwortliche Ministerin für die Bundesprogramme gegen Rechtsextremismus. Sie behielt die bereits eingeschlagene Linie in der Gestaltung der Programme – Verstaatlichung, Rückkehr zum Fokus auf Jugend und Gewalt und Schwächung des zivilgesellschaftlichen Ansatzes – bei, wertete aber ‚Extremismusbekämpfung‘ als dominante Handlungsrichtlinie auf. Schon kurz nach ihrem Amtsantritt betonte Schröder, dass die Extremismusbekämpfung für sie zu den vordringlichen Aufgaben zähle, und kündigte an, die Bundesprogramme auf Linksextremismus und Islamismus auszuweiten. In den folgenden Monaten initiierte sie wiederholt mediale Diskurse, in denen als wesentliches gesellschaftliches Problem die Gewalt von ‚Linksextremisten‘ und ‚Islamisten‘ benannt wurde. So machte Schröder im April 2010 in einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ihren Standpunkt zum wiederholten Mal deutlich, dass „linksextreme Gewalt [...] viel zu lange verharmlost“ worden sei, und benannte dann konkrete Träger für die Ausweitung der Maßnahmen gegen Rassismus auf Linksextremismus und Islamismus (Schröder 2010). Verbunden war diese Fokusverschiebung mit Angriffen auf bestehende, im Bundesprogramm geförderte, Strukturen und Initiativen: Sie kündigte an, die Projekte, die ihr Haus fördere, dahingehend zu überprüfen, ob sie auf dem Boden der freiheitlichen demokratischen Grundordnung stünden. Dabei berief sie sich darauf, dass der Verfassungsschutz Antifa-Gruppen in Hinblick auf ihre linksextremistische Ideologie und Gewaltbereitschaft problematisiere. Mitte des Jahres 2010 wurde mit der Initiative Demokratie stärken ein zusätzliches Bundesprogramm ins Leben gerufen und durch das BMFSFJ umgesetzt, mit dem Präventionskonzepte gegen Linksextremismus und islamistischen Extremismus entwickelt und gefördert werden sollten. Ab Januar 2011 wurden die bestehenden Bundesprogramme gegen Rechtsextremismus unter dem Namen Toleranz fördern – Kompetenz stärken zusammengefasst. Die Vergabe von Fördermitteln wurde in allen Bereichen an die Unterzeichnung einer so genannten ‚Demokratieerklärung‘ gebunden, mit der sich die Träger zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland bekennen und bestätigen mussten, eine den Zielen des Grundgesetzes förderliche Arbeit zu leisten. Zudem wurden die Träger verpflichtet, im Rahmen ihrer Möglichkeiten dafür Sorge zu tragen, dass auch alle in ihre Projekte einbezogenen Partner sich zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung bekennen (BMFSFJ 2011b). Gegen die Durchsetzung des Extremismusmodells und insbesondere gegen die Einführung der ‚Demokratiererklärung‘ organisierte sich ein breiter Widerstand auf parlamentarischer sowie zivilgesellschaftlicher Ebene. Zivilgesellschaftliche Initiati-

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ven und Akteure17 problematisierten den mit der ‚Extremismusklausel‘ transportierten „Generalverdacht und Bekenntniszwang“ (vgl. Bochentin o.J.: 6). Oppositionspolitiker_innen sowie DGB-Chef Sommer kritisierten Schröder schon kurz nach ihrer Übernahme des Ressorts scharf, durch die Fokussierung auf Linksextremismus den Rechtsextremismus zu verharmlosen (vgl. Bechtold 2010). Trotz der massiv geäußerten Kritik hielt Schröder an der umstrittenen Klausel fest. Die Wiederbelebung des Extremismusmodells im Offizialdiskurs hatte für die OBS in den Bundesländern unterschiedliche Konsequenzen: Manche Länder, wie z.B. Berlin, positionierten sich kritisch zur Linie der Bundesregierung und stellten sich deutlich hinter ihre Projekte. Andere Landesregierungen, wie z.B. Sachsen, setzten die Vorgaben aus dem Bundesprogramm nicht nur um, sondern weiteten die Anwendung der ‚Demokratieerklärung‘ und die damit verbundenen direkten und indirekten Angriffe auf Projekte und Initiativen gegen Rassismus und Rechtsextremismus aktiv aus. In den ab 2011 geltenden Leitlinien zum Programmbereich Förderung und Unterstützung qualitätsorientierter Beratungsleistungen in den landesweiten Beratungsnetzwerken (BMFSFJ 2011a), unter den die OBS fallen, wurde als Ziel formuliert, die Qualität der Beratungsleistungen in den landesweiten Beratungsnetzwerken auszubauen und „Qualitätskriterien für die Beratungsprozesse“ zu formulieren (ebd.: 7). Dafür stellte das Bundesprogramm das Angebot einer modularen Weiterbildung der Berater_innen zu Verfügung. Außerdem sollte das Programm die Systematisierung und Standardisierung von Kommunikations- und Dokumentationsprozessen in den Beratungsnetzwerken unterstützen, um zu bundesweit gültigen Standards der mobilen Beratung zu kommen. Dafür erhielt die Landeskoordinierungsstelle eine vom Bundesprogramm finanzierte Beraterin. Auch wurden Kosten für ein Testierungs- bzw. Zertifizierungsverfahren aus den Mitteln des Bundesprogramms gezahlt (ebd.: 9). In den Leitlinien fällt auf, dass die Inhalte der Beratungsarbeit an keiner Stelle benannt werden. Sie stellten zudem einen weiteren Ausbau der Steuerung von oben und Kontrolle der Landesnetzwerke durch das Bundesprogramm dar. Nicht zuletzt fanden die OBS in den Leitlinien kaum Erwähnung. In der Gestaltung des Wei-

17 Den Auftakt für den zivilgesellschaftlichen Widerstand gegen die ‚Extremismusklausel‘ gab das Alternative Kultur- und Bildungszentrum Sächsische Schweiz (AKuBiZ). Dieses nahm am 9. November den Sächsischen Förderpreis bei der Verleihung in der Dresdener Frauenkirche nicht an, da sie dies zur Unterzeichnung einer ‚Extremismusklausel‘ verpflichtet hätte, die die sächsische Landesregierung nach dem Vorbild der Bundesregierung eingeführt hatte. Für den Verein wurden Spenden gesammelt, um den abgelehnten Preis zu kompensieren. Eine wesentliche Plattform für die Kritik war und ist die Bundesarbeitsgemeinschaft Demokratieentwicklung, auf deren Homepage die Auseinandersetzung um die Klausel umfassend dokumentiert ist (Bundesarbeitsgemeinschaft Demokratieentwicklung 2011).

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terbildungsprogramms und den Maßnahmen zur Qualitätsentwicklung wurde das Arbeitsfeld der OBS nicht berücksichtigt, ihre Arbeit fiel komplett aus dem Fokus der Programmentwicklung.18 Verankerung und Ausweitung von Opferberatung im Programm Demokratie leben Im August 2013 legte der Untersuchungsausschuss zum NSU im Bundestag seinen Abschlussbericht vor und formulierte auf der Grundlage seiner Analyse des umfassenden Versagens staatlicher Behörden im Umgang mit dem NSU umfangreiche Empfehlungen für den Bereich der Polizei, der Justiz und der Verfassungsschutzbehörden (Deutscher Bundestag 17. Wahlperiode 2013: 861-865). Darüber hinaus wurde die Notwendigkeit einer kontinuierlichen Unterstützung von Initiativen zur Demokratieförderung als gemeinsame Schlussfolgerung aller am Untersuchungsausschuss beteiligten Fraktionen formuliert (ebd.: 865). Dabei wurde explizit die Erweiterung der Bundesförderung angemahnt und die Bedeutung der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt hervorgehoben: In den bislang zeitlich befristeten Bundesprogrammen seien „innerhalb der letzten zehn Jahre professionelle, effektive und positiv evaluierte Beratungsstrukturen entstanden – insbesondere durch die Mobilen Beratungsteams und die spezialisierten Opferberatungsstellen für Betroffene von PMK-Rechts Gewalttaten. In den vergangenen Jahren hat sich gezeigt, dass die professionelle Unterstützung von Betroffenen rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt – wie sie durch die Opferberatungsstellen in freier Trägerschaft geleistet wird – unverzichtbar ist.“ (Ebd.: 866)

Nach der Bundestagswahl 2013 übernahm im neuen Kabinett der großen Koalition Manuela Schwesig (SPD) das BMFSFJ. Sie kündigte schon kurz nach der Amtsübernahme die Abschaffung der ‚Extremismusklausel‘ an und stellte ihr besonderes Engagement für die Bekämpfung des Rechtsextremismus heraus. Im Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung wurde die Umsetzung der Empfehlungen des NSUUntersuchungsausschusses als wesentlicher „Eckpfeiler unserer Bemühungen zur Bekämpfung des Rechtsextremismus“ festgehalten und erklärt: „Die Auseinandersetzung mit und die Überwindung von Antisemitismus, Rassismus, Rechtsextremismus und anderer Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit ist eine Aufgabe

18 Die bestehenden OBS – nach wie vor so gut wie ausschließlich in den ostdeutschen Bundesländern – bemühten sich demgegenüber um eine eigenständige Formulierung von Qualitätsstandards und konnten dafür schließlich auch Ressourcen aus der Programmevaluation, mit der das DJI betraut war, gewinnen.

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von Bund, Ländern und Kommunen sowie der Zivilgesellschaft gleichermaßen. Die bestehenden Programme werden langfristig finanziell sichergestellt und […] weiterentwickelt sowie neue Strukturformen entsprechend des Abschlussberichtes des Untersuchungsausschusses des Deutschen Bundestags zur NSU etabliert. Die Haushaltsmittel stocken wir auf.“ (Bundesregierung 2013: 108)

Zum 1.1.2015 trat das neue Bundesprogramm Demokratie leben – aktiv gegen Rechtsextremismus, Gewalt und Menschenfeindlichkeit mit insgesamt fünf Programmbereichen und einer Fördersumme von 40,5 Millionen Euro für das Jahr 2015 in Kraft. Im Programmbereich der Demokratiezentren sollten in allen sechzehn Bundesländern die Einrichtung und Entwicklung von Opfer-, Ausstiegs- und mobiler Beratung gefördert werden, wofür jährlich 400.000 Euro pro Bundesland vorgesehen waren. In den Leitlinien des Programmbereichs wurde die Bereitstellung von spezialisierten Opferberatungsangeboten nun wieder explizit aufgeführt und beschrieben (BMFSFJ 2015: 910). Die Einrichtung von OBS auch in den westdeutschen Bundesländern war mit dem Programm nun politisch explizit gewollt.19 Tatsächlich haben sich in den letzten Jahren auch in westdeutschen Bundesländern Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt gegründet – z.T. (noch) unter prekärer finanzieller Ausstattung. Neben der notwendigen finanziellen Ausstattung erfordert die Etablierung einer Beratung eine fachlich ausgewiesene Gestaltung des Angebotes. Die ostdeutschen OBS haben mit ihrem Ansatz Neuland betreten und aus der Praxis heraus ein spezifisches Profil entwickelt. Diese Erfahrungen, die in der über zehnjährigen Praxis gesammelt wurden, gilt es, für die weitere Etablierung und fachliche Weiterentwicklung zu nutzen. Dafür will die vorliegende Arbeit einen Beitrag leisten.

1.2

D IE V ERBINDUNG INDIVIDUELLER UND D IMENSIONEN IN DER B ERATUNG ALS F ORSCHUNGSGEGENSTAND

1.2.1

Forschungsstand: Evaluation der Bundesprogramme

POLITISCHER

Die Evaluierung des Bundesprogramms CIVITAS bescheinigte den OBS, dass ihr Ansatz dem Problemfeld angemessen sei (vgl. Rommelspacher/Polat/Wilpert 2003)

19 Notwendig für den flächendeckenden Aufbau von Beratungsangeboten ist dabei nicht nur der politische Wille der Bundesregierung, sondern auch die Bereitschaft der Bundesländer, finanziell Verantwortung zu übernehmen, da die vom Bundesprogramm bereitgestellten Mittel nicht ausreichend sind, um eine bundesweite Abdeckung von mobiler, Opfer- und Ausstiegsberatung zu finanzieren.

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und bewertete auch die praktische Ausführung im Wesentlichen positiv (vgl. Vossen 2003; Lynen von Berg/Palloks/Steil 2004). So sei das Konzept der OBS „ein innovativer Ansatz, der sich in der Praxis bewährt hat“ (Vossen 2003: 267). Dabei wird auch die konzeptionelle Verbindung von individuumsbezogener Beratungsarbeit und Intervention in das gesellschaftliche Umfeld insgesamt positiv bewertet. Praktisch sei dieser Ansatz aber mit Problemen verbunden. So empfiehlt Vossen (ebd.) zu überprüfen, ob der Anspruch, politisch wirksam zu werden, eine „Überdehnung des Konzeptes“ darstelle. Um eine Überforderung der Berater_innen zu vermeiden, sei es ratsam, statt globaler Fernziele (Veränderung des kommunalen politischen Klimas) realisierbare Teilziele zu formulieren. Als ein Ergebnis der wissenschaftlichen Begleitung formuliert Vossen zudem, dass die hohe politische Identifikation der in sozialen Bewegungen verankerten Berater_innen zu einer besonders hohen Arbeitsmotivation und Hinwendung zu den Opfern im Sinne des Konzeptes führe. Mit dieser Hinwendung bestehe aber „die Gefahr der ‚Überbemutterung‘ der Klienten und die Gefahr zu großer Nähe bzw. mangelnder Distanz zur Klientel.“ (Ebd.: 205) Damit verbunden sei die Gefahr, Abhängigkeitsverhältnisse zwischen Klient_innen und Berater_innen herzustellen. In der Praxis würden mögliche Spannungsfelder, wie die Möglichkeit der Entmündigung von Ratsuchenden durch überfürsorgliche Unterstützung oder die Gefahr, potenzielle Klient_innen durch den aufsuchenden Ansatz zu bedrängen und in die Opferrolle zu drängen, von den Berater_innen reflektiert und praktisch ausbalanciert (ebd.: 200). Grundsätzlich sei aber eine klare Trennung zwischen politischem Engagement und Beratungstätigkeit sowie der Ausbau eines fachlichen Methodenrepertoires für eine professionelle Beratungsarbeit ratsam. Das Verhältnis zwischen politischer Zielsetzung und individuumsbezogener Einzelfallbetreuung wird auch in den kommunalen Kontextanalysen als Teil der wissenschaftlichen Begleitung des CIVITAS-Programms verhandelt (Lynen von Berg/Palloks/Steil 2004). So wird als Herausforderung für die Praxis formuliert, „die klientenzentrierte zu einer politischen Perspektive in Beziehung [zu] setzen. Wird eine Synthese gesucht […] oder will man sich auf einzelfallbezogene Beratung und Betreuung beschränken? Ist es überhaupt sinnvoll, die Beratungsarbeit mit einer politischen Interventionsperspektive zu verknüpfen? Dies sind offene Fragen, und es ließen sich durchaus beide konzeptionellen Entscheidungen begründen. Die Voraussetzung aber ist, dass man sich diesem konzeptionellen Problem stellt.“ (Ebd.: 148)

Die OBS haben die konzeptionelle Verbindung zwischen individuumsbezogener Beratung und politischer Veränderungsperspektive bis heute beibehalten. Inwieweit sie sich dem von der Evaluation identifizierten „konzeptionellen Problem“ (Vossen) praktisch gestellt haben, ist später allerdings nicht mehr Gegenstand systematischer (externer) Evaluation gewesen. Wie bereits erwähnt, sind die OBS im CIVITAS-

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Nachfolgeprogramm kompetent zunächst nicht in den Evaluierungsprozess einbezogen worden. Einen Beitrag zur Reflektion der Praxis der OBS haben einzelne Qualifizierungsarbeiten (z.B. Bolick 2010) geliefert. Schließlich ist es gelungen, z.T. unterstützt durch die wissenschaftliche Begleitung des Bundesprogramms Toleranz fördern – Kompetenz stärken20, in einem partizipativen Prozess gemeinsame Qualitätsstandards der OBS zu formulieren (AG Qualitätsstandards 2014). Eine kurze Beschreibung der von den OBS bereitgestellten Leistungen findet sich auch in den Ergebnissen der wissenschaftlichen Begleitung der Beratungsnetzwerke (Bischoff/König 2014). Eine solche Leistungsbeschreibung ist eine wertvolle Grundlage, um die zentralen Charakteristika des sich in der Praxis bewährten Profils zu sichern und fachlich einzuordnen, z.B. als zielgruppenspezifische Konkretisierung und Erweiterung von Standards allgemeiner Opferhilfe (ebd.: 67). Eine vertiefende Reflexion des bereits in den Evaluationen des CIVITAS-Programms beschriebenen Spannungsfeldes zwischen Einzelfallbetreuung und politischer Intervention und der seitdem vollzogenen Weiterentwicklung der Praxis unter diesem Aspekt ist allerdings damit nicht geleistet worden. Der Bedarf an einer solchen Reflexion besteht nach wie vor und wird durch den bereits begonnenen Prozess der Ausweitung des Beratungsansatzes in die westdeutschen Bundesländer unterstrichen. 1.2.2

Fragestellung und Ausblick auf den Forschungsgang

Die dieser Arbeit zugrunde liegende Fragestellung lässt sich nun dahingehend konkretisieren, dass die Verbindung zwischen individuellen und gesellschaftlichen Aspekten in Problembeschreibung und Handlungskonzept der OBS als spannungsreiche Verbindung in den Blick genommen wird. Die von den OBS verfolgte Doppelstrategie wurde in den Evaluationen zwar als grundsätzlich angemessen beschrieben, aber zugleich wurde auf die praktischen Probleme in der Umsetzung hingewiesen. Vor diesem Hintergrund werden folgende Forschungsfragen formuliert: •





Wie wird die Praxis der OBS im Spannungsfeld von individuellen und gesellschaftlichen Dimensionen in Bezug auf die Bewältigung von Gewalterfahrungen hilfreich? Welche Herausforderungen und Praxisprobleme ergeben sich aus dem Spannungsfeld von individuellen und gesellschaftlichen Dimensionen in diesem Arbeitsfeld? Wie gehen Berater_innen und Ratsuchende mit diesen Problemen um?

20 Die wissenschaftliche Begleitung haben das Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik (ISS) und Camino – Werkstatt für Fortbildung, Praxisbegleitung und Forschung im sozialen Bereich gGmbH (Bohn/Klein/Schaffranke 2009) sowie das Deutsche Jugendinstitut (Bischoff/König 2014) übernommen.

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Gefragt wird damit nach Möglichkeitsräumen einer Praxis, die das Spannungsfeld von individuumsbezogenen und politischen Aspekten bewusst aufrechterhält und in spezifischer Weise gestaltet. Für die Bearbeitung meiner Fragestellung habe ich einen Forschungszugang gewählt, der sich als subjektwissenschaftliche Praxisforschung beschreiben lässt und Elemente der sozialpädagogischen Nutzungsforschung (Oelerich 2005, Oelerich/Schaarschuch 2013) aufnimmt. Unter dem Stichwort ‚Praxisforschung‘ werden sehr unterschiedliche Untersuchungen realisiert. Als deren verbindendes Moment beschreibt Heiner (1988: 7) die Erforschung beruflichen Handelns durch Wissenschaftler_innen in enger Kooperation mit Praktiker_innen mit dem Ziel, Praxis zu verstehen und „zur Veränderung der Praxis sozialer Arbeit“ beizutragen.21 Mit dem subjektwissenschaftlichen Zugang wähle ich eine Perspektive, die der Handlungs- und Aktionsforschung in vielen Elementen ähnlich ist, die sich aber durch die explizite Bestimmung der begrifflichen Grundlagen von dieser unterscheidet.22 Der subjektwissenschaftliche Zugang zielt darauf, Forschung als Reflexions- und Lernprozess zu organisieren, der sowohl die Theorie als auch die Praxis einbezieht. Die Organisation des Forschungsprozesses als theoriegeleitete Praxisreflexion soll, über eine idealtypische Beschreibung des Beratungsansatzes hinausgehend, ermöglichen, die konkrete Gestaltung von Praxis so zu rekonstruieren, dass sich deren Möglichkeiten und Grenzen beschreiben und Praxisprobleme auf den Begriff bringen lassen. Vanessa Lux und ich haben an anderer Stelle ausgeführt (Köbberling/Lux 2007a; 2007b), dass die Benennung von Praxisproblemen immer wieder zum Problem in der Praxis- und Evaluationsforschung wird, da die Praxisreflexion durch den Kontrollcharakter von Evaluationen unterlaufen wird. Ausgangspunkt für subjektwissenschaftliche Praxisforschung ist das Interesse an der Lösung von Praxisproblemen durch die Thematisierung von Schwierigkeiten und Widersprüchen in der Praxis, die

21 Zugänge, die als Praxisforschung bezeichnet werden, unterscheiden sich allerdings erheblich hinsichtlich des Grades der Beteiligung der Praktiker_innen, der Art der Kooperation mit der Praxis, des Stellenwerts, den die Veränderung der Praxis einnimmt und der eingesetzten Methoden. Praxisforschung umfasst ein breites Spektrum zwischen betriebswissenschaftlich inspirierter Evaluations- und Wirkungsforschung und Zugängen der aus den Diskussionen der Studierendenbewegung um die praktische Relevanz der vorfindlichen Wissenschaft hervorgegangenen Handlungs- oder Aktionsforschung (vgl. Munsch 2012: 11771179). 22 Zur Auseinandersetzung mit der Handlungs- und Aktionsforschung aus kritisch-psychologischer Sicht siehe Schneider (1980) sowie Markard (1991: 82-103).

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sich damit von evaluativen Zugängen, die auf die Bewertung von Praxis zielen, abgrenzt.23 Die Entwicklung einer gemeinsamen Forschungsfrage aus der Perspektive von Theorie und Praxis gleichermaßen war daher ein – der eigentlichen Untersuchung vorgelagerter – erster Forschungsschritt der vorliegenden Arbeit. Die Konkretisierung des Forschungsinteresses habe ich als dialogischen Prozess gestaltet, in dem nicht nur die als Kooperationspartner_innen gewonnenen Berater_innen einbezogen waren, sondern in dem ich auch selbst wechselnde Positionen einnahm: So wandte ich mich mit einem groben, aus der Theorie entwickelten Forschungsanliegen an eine OBS, um in einer Hospitation Einblick in das Feld zu gewinnen.24 Ziel war es, in dieser Zeit die Arbeitsweise kennen zu lernen und durch Beobachtung und Gespräche mit den Berater_innen konkrete Handlungsproblematiken als Ausgangspunkt der Forschung zu bestimmen. Schließlich nahm ich das Angebot einer als Elternzeitvertretung befristeten Stelle als Beraterin an. Vor dem Hintergrund der eigenen Praxiserfahrung, der Durchsicht von Selbstdarstellungen, konzeptionellen Papieren etc. und im Dialog mit anderen Berater_innen der OBS konkretisierte ich die Fragestellung des Forschungsvorhabens wie dargelegt. Die hier angesprochene Gestaltung und Begründung eines partizipativen Forschungsrahmens werde ich in der Darlegung meines methodischen Vorgehens in Kapitel 5 aufgreifen. In den kommenden Kapiteln werde ich zunächst den Forschungsstand darlegen und das Forschungsfeld theoretisch erschließen.

23 Die Realisierung eines solchen offenen Reflexionsprozesses ist praktisch jedoch auch hier erschwert, wie in Kapitel 5 ausgeführt wird. 24 Als Einstieg in ein Praxisforschungsprojekt schlägt auch Munsch eine Hospitation vor: „Insbesondere wenn es sich um eine enge Zusammenarbeit handelt, ist eine Hospitation geeignet, um sowohl das Konzept und die Handlungsansätze als auch die Mitarbeiter_innen kennen zu lernen.“ (Munsch 2012: 1184)

2 Rechte und rassistische Gewalt – Begriffe und Forschungsstand

Die Deutung des Problems ‚rechte und rassistische Gewalt‘, so wurde in der Einleitung deutlich, war und ist politisch hoch umstritten. Die für die Beschreibung des Beratungsgegenstandes genutzten Begriffe stehen damit immer im Kontext politischer Auseinandersetzungen in konkreten historischen Situationen. Neben der Frage der inhaltlich mit Begriffen verbundenen Erklärungsmöglichkeiten und -grenzen hat die Wahl der Begrifflichkeiten für die OBS zudem politisch-strategische Relevanz in Hinblick auf ihre Positionierung und Darstellung gegenüber potenziellen Betroffenengruppen sowie in Hinblick auf das Monitoring von Fällen und die damit verbundenen Auseinandersetzungen mit dem Erfassungssystem der Polizei. Die in diesem Zusammenhang geführten Diskussionen der OBS können an dieser Stelle nicht ausgeführt werden. Im Folgenden sollen die zur Beschreibung des Beratungsgegenstandes ‚rechte und rassistische Gewalt‘ verwendeten Begriffe und der diesbezügliche Forschungsstand abgesteckt werden.

2.1

R ECHTSEXTREMISMUS

2.1.1

Ein umstrittener Begriff

Der Begriff ‚Rechtsextremismus‘, der in den in Kapitel 1 dargestellten Programmen verwendet wird, ist politisch umkämpft, wird unterschiedlich gefüllt und z.T. synonym mit den Begriffen ‚Rechtsradikalismus‘, ‚(Neo)Faschismus‘ und ‚(Neo-)Nazismus‘ verwendet. Der amtliche Rechtsextremismusbegriff, mit dem das Bundesamt für Verfassungsschutz arbeitet, ist Teil eines Achsenmodells zur Einordnung potenziell verfassungsfeindlicher Akteur_innen rechts und links einer demokratischen Mitte. Nationalismus, Rassismus, Antisemitismus und ein autoritäres Staatsverständnis werden

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als Merkmale des Rechtsextremismus zur Abgrenzung gegenüber dem Linksextremismus genannt. Im Zentrum der Definition steht aber das Verhältnis zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung (fdGO) (vgl. Verfassungsschutz Brandenburg o.J.). Diese Arbeitsdefinition der Verfassungsschutzbehörden ist für das Verständnis der Bedeutung und Entstehung rechtsextremer Orientierungen und Organisationen in der gesellschaftlichen Wirklichkeit nicht geeignet (vgl. Stöss 2010: 14). Obwohl in der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Phänomen ‚Rechtsextremismus‘ die Begriffsdefinition über das ‚Extremismusmodell‘ weitgehend abgelehnt wird,1 spielt das Modell, wie im letzten Kapitel dargestellt, in der politischen Debatte eine wesentliche Rolle. Auch in der wissenschaftlichen Bearbeitung des Feldes hat sich trotz der genannten Kritik der Begriff ‚Rechtsextremismus‘ als Oberbegriff etabliert. Hier werden, in Abgrenzung zur amtlichen Definition, nicht nur das ablehnende Verhältnis zum Rechtsstaat, sondern die ideologischen Merkmale, die verschiedene Strömungen und Organisationen sowie Orientierungen verbinden, in den Mittelpunkt gestellt. Eine weitgehend anerkannte Definition hat Jaschke vorgelegt. Rechtsextremismus ist demnach zu verstehen als „Gesamtheit von Einstellungen, Verhaltensweisen und Aktionen, organisiert oder nicht, die von der rassisch oder ethnisch bedingten sozialen Ungleichheit der Menschen ausgehen, nach ethnischer Homogenität von Völkern verlangen und das Gleichheitsgebot der MenschenrechtsDeklaration ablehnen, die den Vorrang der Gemeinschaft vor dem Individuum betonen, von der Unterordnung des Bürgers unter die Staatsräson ausgehen und die den Wertepluralismus einer liberalen Demokratie ablehnen und Demokratisierung rückgängig machen wollen.“ (Jaschke 2001: 31)

Stöss (2000: 21-22) betont, dass zwischen rechtsextremen Handlungen und rechtsextremen Einstellungen zu unterscheiden ist. Als rechtsextreme Handlungen nennt er Wahlverhalten, Mitgliedschaften in Parteien und Gruppierungen (wie z.B. Kameradschaften), die zielgerichtete Ausübung von Gewalt und Terror, aber auch Protestverhalten, welches nicht expliziten politischen Zielen zuzuordnen sei. In dieser Arbeit geht es insbesondere um die Analyse der Auswirkungen physischer Gewalt. Bei den Täter_innen handelt es sich in vielen Fällen um Neonazis, die, nach Jaschke, eine spezifische Gruppe im weitgefächerten Spektrum des Rechtsextremismus ausmachen: „Als Neonazis gelten jene zumeist männlichen Aktivisten des rechtsextremen Spektrums, die sich offen in die Tradition des Nationalsozialismus

1

Vertreten wird das Modell insbesondere von Backes und Jesse (z.B. 2005). Zur Kritik am Extremismusmodell siehe Forum für kritische Rechtsextremismusforschung (2011).

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stellen – ideologisch-programmatisch und/oder über Symbolik und Gruppenverhalten.“ (Jaschke 2001: 37) Salzborn hebt insbesondere die Gewaltaffinität des Spektrums hervor: „Während rechtsextreme Parteien ihre Ziele (nicht ausschließlich, aber auch) auf parlamentarischem Weg verfolgen, orientieren sich die neonazistischen Gruppierungen im außerparlamentarischen Bereich auf die Durchsetzung ihrer Ziele mit Gewalt und Terror – getreu des historischen Vorbildes aus den 1920er Jahren […]. Gemeinsam ist diesen Gruppen, dass sie einen positiven Bezug auf den Nationalsozialismus formulieren, die NS-Zeit verherrlichen und ihr Ziel in der Wiedererrichtung einer den Nationalsozialismus kopierenden politischen Ordnung besteht.“ (Salzborn 2014: 45)

Die Gewalttaten, um die es in dieser Arbeit geht, werden allerdings längst nicht ausschließlich von Neonazis im beschriebenen Sinne verübt, sondern lassen sich verschiedenen Spektren des weiten Feldes des Rechtsextremismus zuordnen. Mit dem Begriff ‚rechte Gewalt‘ wähle ich daher einen explizit weiten Begriff, der kennzeichnen soll, dass sich die Gewaltausübung nicht auf organisierte Rechtsextremist_innen, beschränkt. 2.1.2

Forschungsfelder

Ein wesentlicher Strang in der Rechtsextremismusforschung ist die (politologische, soziologische und sozialpsychologische) Einstellungsforschung, die nach der Verbreitung der als rechtsextrem identifizierten Ideologiemomente in der Gesellschaft fragt. Hier sind die Studien von Decker und Kolleg_innen (Decker/Brähler 2006; Decker 2012; Decker und Kolleg_innen 2008) sowie die Bielefelder Langzeitstudie unter der Leitung von Wilhelm Heitmeyer (Heitmeyer 2002-2011), in der rechtsextreme Einstellungen unter dem Begriff der ‚Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit‘ zusammengefasst werden, zu nennen. Mit diesen Studien wird – im Gegensatz zur kritisierten Polarisierung zwischen einer auf dem Boden der fdGO stehenden ‚Mitte‘ und dem die Verfassung bedrohenden Rechtsextremismus – die Verankerung rechtsextremer Ideologiemomente in den Denkweisen der gesamten Bevölkerung in den Blick genommen. Mit Bezug auf die genannten Studien verweisen auch die OBS auf rechtsextreme Einstellungen in der Mitte der Gesellschaft und begründen damit die konzeptionelle Verbindung von einzelfallbezogener Unterstützung und Intervention in den gesellschaftlichen Kontext der Tat.2 Mit der Einstellungsforschung wird die

2

So argumentiert bspw. Wendel (2001a; b), dass rechte und rassistische Gewalt möglich werden, weil die Täter_innen mit ihren Einstellungen auf die Zustimmung der breiten Bevölkerung zählen können. Die Verankerung rechtsextremer Einstellungen in der Mitte der Gesellschaft führe zudem zu einer Verschärfung der subjektiven Folgen der Gewalt für die

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Verbindung zwischen der einzelnen rechtsextremen Gewalttat und den gesellschaftlichen Verhältnissen jedoch nur unzureichend erfasst, argumentieren Reimer (2011: 147-206) sowie Attia (2013). Attia (ebd.: 4-8) hebt die unzureichende theoretische Fundierung der Bielefelder Langzeitstudie hervor. Die Items zur Abfrage von rassistischen, fremdenfeindlichen, sexistischen, antisemitischen und antiziganistischen Einstellungen seien konstruiert worden, ohne den Forschungsstand in der Rassismusforschung zur Kenntnis zu nehmen, wodurch die Konstruktion der Items auf problematischen Vorannahmen über den Gegenstand beruhe. Die anhand dieser Items erhobene Ausprägung ‚menschenfeindlicher‘ Einstellungen werde dann in Zusammenhang mit Desintegration und Politikversagen gebracht, ohne diesen Zusammenhang zu begründen. Reimer (2011: 159) stellt, u.a. unter Bezugnahme auf Markard (1984), die Ungeklärtheit des Konzeptes der Einstellung in den oben genannten Studien heraus. Entgegen der Intention des Einstellungskonzeptes, das Subjektive im Verhältnis zum gesellschaftlich-sozialen Kontext zu erfassen, werde durch die messtheoretische Operationalisierung des Konzeptes von genau diesem Zusammenhang abstrahiert. Für die konzeptionelle Profilierung der OBS war die Abgrenzung von Forschungsperspektiven, die Rechtsextremismus als Jugend- und Gewaltproblem verhandeln, zentral. Dazu gehören die Ansätze, die Rechtsextremismus sozialisationstheoretisch erklären und damit die Ursachen rechter Gewalt in die biografische Vergangenheit der Täter_innen verlagern.3 Aber auch der von Heitmeyer (1988; Heitmeyer/Müller 1995) hergestellte Zusammenhang zwischen rechtsextremer Gewalt und gesellschaftlichen Desintegrationsprozessen ist kritisiert worden.4 Heitmeyer beschreibt die tiefgreifende Verunsicherung jugendlicher ‚Modernisierungsverlierer‘ aus unterprivilegierten und zerrütteten Familien als Ursache rechter Gewalt. Der Zusammenhang zwischen rechtsextremen Handlungen und ökonomischer Benachteiligung sowie fehlender Einbindung in feste familiäre, Arbeits- und Wertestrukturen habe sich empirisch nicht bestätigt, kritisiert dagegen Butterwegge (2001: 26-27). Rechtsextreme Gewalttäter_innen kämen vielmehr aus allen sozialen Milieus. Der Fokus der Forschung auf die Ängste der Täter_innen und die Deutung der Gewalt als

Betroffenen, da diese auch nach der Tat kaum Unterstützung erfahren und erneute Diskriminierungserfahrungen machen. 3

So waren in den 1990er Jahren die u.a. von Pfeiffer formulierten Thesen populär, mit denen der (vermeintlich) in den ostdeutschen Bundesländern stärker ausgeprägte Rechtsextremismus als Folge autoritärer Erziehung in der DDR erklärt wurde (vgl. Reimer 2011: 191).

4

Allerdings trifft die geäußerte Kritik an Heitmeyer nur teilweise zu. So behauptet Heitmeyer nicht, dass rechtsextreme Gewalt ausschließlich von ökonomisch benachteiligten Jugendlichen ausgeht, sondern will untersuchen, wie der Zusammenhang zwischen der sozialen Lage der untersuchten Arbeiterjugendlichen und rechtsextremer Gewalt beschaffen ist (vgl. Reimer 2011: 200).

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Jugendphänomen abstrahiere von dem politischen Gehalt der Taten und komme einer wissenschaftlichen Entlastung der Täter_innen gleich (vgl. auch Dierbach 2010). Statt die Frage nach dem Zusammenhang zwischen ökonomischen Bedingungen und rechtsextremem Denken und Handeln grundsätzlich als ‚Täterentlastung‘ zurückzuweisen, geht Reimer (2011: 230-280) der Frage nach, wie in unterschiedlichen Lebenslagen rechtsextreme Denk- und Handlungsangebote subjektiv funktional werden können. Sie vermeidet damit eine deterministische Auslegung des Zusammenhangs zwischen ökonomischen Bedingungen, gesellschaftlichen Diskursen, prekarisierten Lebenslagen und individuellen Denk- und Handlungsweisen. Rommelspacher (2006) analysiert vor dem Hintergrund ihrer dominanztheoretischen Perspektive auf Rechtsextremismus und Rassismus die subjektiven Gründe für den Ein- und Ausstieg aus rechtsextremen Zusammenhängen anhand von Interviews und Biografien von Aussteiger_innen. Sie verbindet so die individuumsbezogene Analyse von Handlungsgründen mit der gesellschaftstheoretischen Analyse rechtsextremer Ideologie, deren Verankerung in der gesamten Gesellschaft sowie in rechten Gruppierungen und Milieus. Die Erforschung von rechtsextremen Organisations- und Handlungsformen ist ein weiterer Strang der Rechtsextremismusforschung. Gegenüber der ursprünglichen Fokussierung auf rechtsextreme Parteien hat sich hier das Forschungsfeld erheblich erweitert. Einen Überblick über die verschiedenen Aspekte gibt der Sammelband Strategien der extremen Rechten (Braun/Geisler/Gerster 2009). Von Bedeutung ist hier insbesondere das Verständnis von Rechtsextremismus als heterogene Bewegung, die auf verschiedenen Ebenen in Erscheinung tritt: Dazu gehören die ideologisch fundierte offene Gewaltpraxis ebenso wie der Einzug rechtsextremer Parteien in die Parlamente. Rechtsextremismus tritt in Form von Demonstrationen und rechten Aufmärschen als politische Bewegung in Erscheinung, aber auch als subkulturelles Angebot (mit entsprechender Musik, Kleidung, Fanzusammenhängen und anderen Freizeitangeboten etc.) für Jugendliche und als strategische Unterwanderung sozialer Infrastruktur. Neben militärisch, hierarchisch organisierten rechtsextremen Zusammenhängen werden lose, unorganisierte, aber gewaltbereite Gruppen beschrieben. Im letzten Kapitel wurde herausgearbeitet, dass die ‚zivilgesellschaftliche Wende‘ einen wesentlichen Perspektivwechsel im gesellschaftlichen Diskurs über das Problemfeld ‚Rechtsextremismus‘ mit sich brachte, der für die OBS zentral ist. Die Auseinandersetzung mit Rechtsextremismus in seinen vielfältigen Erscheinungs- und Organisationsformen wird von den OBS als Kampf um Hegemonie zwischen jeweils durchaus heterogenen rechtsextremen und demokratischen Kräften begriffen. Borstel (2009) nutzt den Begriff der ‚Geländegewinne‘ für die Frage, inwieweit rechtsextreme Kräfte auf welchen Ebenen (Wahlerfolge, Organisationen und Netzwerke, Jugend- und Alltagskultur, Einstellungen in der Bevölkerung) Einfluss gewinnen konnten oder zurückgedrängt wurden. Der Fokus auf die räumlichen Dimensionen von

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Rechtsextremismus und die lokalen Bedingungen für rechtsextreme Hegemoniebestrebungen ist als Forschungsperspektive für die Arbeit der OBS daher von besonderer Bedeutung.5 Wesentlich für das Problemverständnis der OBS ist die Studie von Döring (2008), die den medialen Diskurs über ‚national befreite Zonen‘ und ‚Angstzonen‘6 als Folge rechter Gewalt sowie die Entstehung von rechtsdominierten Orten/‚Angstzonen‘ in vier lokalen Kontexten analysiert. Bürk nutzt den Begriff der ‚Stadtkultur‘ für die Analyse des „sozialräumlichen Konfliktes um Präsenz, Teilnahme und Ausschluss in der Stadt“ (Bürk 2012: 19) im Kontext rechtsradikaler Präsenz in ostdeutschen Städten. Welche Stärke rechtsextreme Bewegungen in den untersuchten Städten entwickeln konnten, hängt, so Bürk, maßgeblich damit zusammen, inwieweit sich in den Städten mit ihren jeweiligen sozial-strukturellen, historischen und geografischen Besonderheiten eine demokratische Stadtkultur entwickeln konnte. Zur Entwicklung einer solchen Stadtkultur tragen lokale, zivilgesellschaftliche Initiativen und Projekte gegen Rechtsextremismus eine wesentliche Rolle (ebd.: 333-357). Auch Quent und Schulz untersuchen in einer jüngeren Studie Rechtsextremismus in lokalen Kontexten. Die Studie zielt anhand von Fallanalysen auf die Identifizierung von Faktoren, die zur Stärke oder Schwäche „des organisierten und jugendlichen Rechtsextremismus“ (Quent/Schulz 2015: 21) in lokalen Kontexten beiträgt. Die Autoren gehen von der Annahme aus, dass es von den lokalen Bedingungen abhängt, ob rechtsextremes Handeln legitim oder nützlich erscheint. Sie kommen zu dem Schluss, dass die „lokale politische Kultur […] einer der zentralen Faktoren ist, der die Stärke des organisierten Rechtsextremismus beeinflusst.“ (Ebd.: 279) Sie können zeigen, dass entschiedenes kommunales Handeln ‚gegen rechts‘ und zivilgesellschaftliches Engagement in der Lage sind, rechtsextreme ‚Geländegewinne‘ erfolgreich zurückzudrängen (ebd.: 299). 7 Auch Schellenberg (2014) fragt nach dem Zusammenhang zwischen gesellschaftlichen Reaktionen auf rechtsextreme Ereignisse und der Stärke rechtsextremer Ideologie. Sie nimmt zum Ausgangspunkt ihrer Fallanalyse einen Vorfall rechter Gewalt8 und untersucht die Reaktionen von 1. Polizei und Staatsschutz, 2. der lokalen Politik,

5

Mit dieser Perspektive wurden seit den frühen 2000er Jahren vor allem aus der Praxis heraus, insbesondere vom Zentrum demokratische Kultur, Kommunalanalysen angefertigt, die aber als wissenschaftliche Forschungsperspektive relativ unbeachtet blieben.

6

Die Begriffe und Überlegungen zur Dominanz von Rechtsextremen an konkreten Orten

7

Untersucht wurden u.a. die Städte Jena und Saalfeld, die in den 1990er Jahren als Hoch-

werden auch bei Schulze und Weber (2011) zusammengefasst. burgen rechtsextremer Bewegungen galten, aber seitdem den Einfluss rechtsextremer Bewegungen deutlich zurückdrängen konnten. 8

Als Ereignis wurden Ausschreitungen gegen Migrant_innen in der sächsischen Kleinstadt Mügeln im Sommer 2007 gewählt.

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3. der regionalen Politik, 4. der Bundespolitik, 5. der radikalen Rechten und 6. den Medien auf das Ereignis. Sie überschreitet damit den Fokus auf lokale Reaktionen und nimmt das Zusammenspiel zwischen lokaler und überregionaler Ebene und zwischen verschiedenen Akteur_innen und Perspektiven in den Blick. Schellenberg kann zeigen, dass die lokale Politik und die Ermittlungsbehörden aktiv dagegen agierten, die ausgeübte Gewalt als rassistische zu kennzeichnen. Dies habe dazu geführt, dass rechtsextreme Gruppen deutlichen Einfluss auf die Thematisierung des Falles nehmen konnten und „rechtsradikale und rassistische Gesinnung im lokalen und zum Teil auch regionalen Raum dominant“ (ebd.: 309) wurde.9 Das Zusammenwirken von rechter und rassistischer Gewalt und die gesellschaftlichen Reaktionen auf diese ist für den Ansatz der OBS ein zentraler Blickwinkel. Quent und Schellenbach zeigen in ihren Arbeiten die Bedeutung gesellschaftlicher Reaktionen für den Einfluss rechtsextremer Deutungs- und Handlungsmacht in lokalen Kontexten. Als Erweiterung dieser Perspektive frage ich in dieser Arbeit nach der Bedeutung gesellschaftlicher Reaktionen für die Bewältigung der Gewalt durch die Betroffenen. 2.1.3

Subjektive Folgen rechter Gewalt für die Betroffenen

Zur Spezifik der Folgen rechter und rassistischer Gewalt für die Betroffenen gibt es in Deutschland bislang nur wenig Forschung. Eine Ausnahme bildet die Studie Opfer rechtsextremer Gewalt des Bielefelder Forschungsverbundes Desintegrationsprozesse (Strobl/Lobermeier/Böttger 2003; Böttger und Kolleg_innen 2003; Böttger/Lobermeier/Strobl 2006; Böttger/Lobermeier/Plachta 2014).10 Die Studie fragt nach den interaktiven Prozessen, durch die Individuen zu Opfern werden, und nach der Bewältigung der Tat durch die Betroffenen. Einen besonderen Schwerpunkt legen die Autor_innen auf die Bedeutung der Reaktionen sozialer Kontrollinstanzen, insbesondere der Polizei. Mit dieser Schwerpunktsetzung knüpfen sie an Strobl (1998) an, der Opfererfahrungen und deren soziale Folgen bei ethnischen Minderheiten untersucht hat. Strobl zufolge lassen sich Opfererfahrungen als Verletzung intersubjektiv geteilter Normen11 verstehen. Wesentlich für die Verarbeitung der Viktimisierung sei, dass 9

Schellenberg stellt eine Diskrepanz in der Verhandlung des Falls auf lokaler Ebene und den in der Bundespolitik vertretenen ‚Normsetzungen‘ fest. Dass der lokale und regionale Umgang mit der Gewalttat davon relativ unberührt blieb, führt Schellenberg u.a. auf die Kurzlebigkeit der Debatten auf Bundesebene zurück sowie auf die diskursive Dominanz des Extremismusmodells, welches dazu führt, dass Rassismus nur in Verbindung mit Rechtsextremismus verhandelt wird.

10 2003 wurden zunächst Zwischenergebnisse veröffentlicht, die vollständigen Ergebnisse im Jahr 2014. 11 Diese können eine strafrechtliche Entsprechung haben, müssen aber nicht notwendigerweise juristisch definiert sein.

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sich Betroffene der Gültigkeit der verletzten Norm versichern könnten. Die Reaktionen des Umfeldes auf die Tat seien daher ein wesentlicher Einflussfaktor auf die Schwere der Viktimisierungsfolgen. Der Polizei, die oft eine der ersten Instanzen ist, mit der Betroffene nach einer Gewalttat Kontakt haben, und die als gesellschaftliche Kontrollinstanz eine besondere Bedeutung für die Aufrechterhaltung geteilter Normen und die Sanktionierung von Normverstößen hat, komme hier eine herausragende Rolle zu. Strobl stellt in seiner Studie allerdings fest, dass Opfer, die ethnischen Minderheiten angehören, in besonderem Maße von dem Problem betroffen sind, dass die Polizei mit ihnen nicht kooperiert. Statt der erhofften Wiederherstellung der durch die Straftat verletzten Normen erlebten die Betroffenen oft, dass Polizeibeamt_innen ihren Anliegen mit Gleichgültigkeit oder Unverständnis begegnen. Strobl zufolge erleben dies die Betroffenen leicht als Wiederholung bzw. Vertiefung der Opfererfahrung, und er bezeichnet dies als ‚sekundäre Viktimisierung‘. Die Erfahrung sekundärer Viktimisierung durch die Polizei könne dazu führen, dass Betroffene das Vertrauen in die Schutzfunktion (rechts-)staatlicher Instanzen verlören. Einen solchen Verlust des Systemvertrauens bezeichnet Strobl als alarmierende Folge der Erfahrung primärer und sekundärer Viktimisierung von ethnischen Minderheiten. Böttger und Kolleg_innen (2014: 113) beschreiben die Reaktionen von Unbeteiligten und gesellschaftlichen Kontrollinstanzen ebenfalls als wesentlich für die Folgen einer Opfererfahrung. Problematisch sei für die Betroffenen, wenn Zeug_innen der Tat nicht unterstützend eingriffen, wenn ihre Gewalterfahrung nicht ernst genommen, der spezifische politische oder vorurteilsgeleitete Tathintergrund verharmlost, zurückgewiesen oder relativiert werde. So sei von den Befragten berichtet worden, dass Zeug_innen der im öffentlichen Raum stattfindenden Taten nicht unterstützend eingegriffen hätten, und diese Gleichgültigkeit hätten die Betroffenen als großes Problem wahrgenommen. Die Autor_innen beschreiben weiter, dass sich Betroffene in ihrem Umfeld mit der Gewalterfahrung nicht ernst genommen fühlen. Insbesondere werde der spezifische politische oder vorurteilsgeleitete Tathintergrund verharmlost, zurückgewiesen oder relativiert. Der Kontakt mit der Polizei sei von der Mehrzahl der Befragten nicht als unterstützend wahrgenommen worden. Die Befragten hätten ein „distanziertes, den Opfern gegenüber eher gleichgültiges und insgesamt wenig engagiertes Verhalten der Polizistinnen und Polizisten“ (ebd.: 115) beklagt.12 Die erhebliche Bedeutung, die Instanzen sozialer Kontrolle, insbesondere der Polizei, für die Bewältigung der Tat zukomme, habe sich durch die Interviews bestätigt, so die Autor_innen. Die Autor_innen beschreiben, dass die Befragten die Gewalterfahrung unterschiedlich gut und mit unterschiedlichen Strategien bewältigen. Sie schildern, dass

12 Aufgrund der differenzierten Schilderungen des polizeilichen Verhaltens in den Interviews gehen die Autor_innen davon aus, dass diese Einschätzung nicht aus einer pauschalen Ablehnung der Polizei als Institution resultierte.

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sich alle Befragten in den Interviews mit den Gründen der Tat und der Frage nach einer eigenen Mitschuld auseinander setzen. Dabei drücken manche der Befragten ihr Unverständnis über die Tat aus und betonen die Unmenschlichkeit der Gewaltausübung. Andere, so die Autor_innen, geben sich selbst die Schuld, obwohl es aus Sicht der Autor_innen keine Anhaltspunkte für eine (Mit-)Schuld des Opfers gebe (ebd.: 93-94). Die Autor_innen beschreiben die Vermeidung bestimmter Orte als Prävention erneuter Angriffe als ambivalente Strategie, die von den Befragten in unterschiedlicher Weise genutzt werde. Sie stellen einerseits das Bemühen um die Vermeidung von als gefährlich bewerteten Orten fest, die aber ungenügend bleiben müsse, weil die Gefahr rechter Angriffe nicht auf konkrete Orte beschränkt sei. Ein Teil der Befragten habe sich entschieden, in eine andere Stadt zu ziehen und schildere da ein höheres Sicherheitsgefühl, während in anderen Fällen eine Vermeidung bedrohlicher Situationen nicht möglich sei, da der Täter in unmittelbarer Nachbarschaft der Betroffenen wohne. Alle Interviewpartner_innen berichteten von sozialen Tatfolgen, zu denen „Kontaktabbruch, Kommunikationsprobleme, Wohnortwechsel, Isolation, Vereinsamung sowie ein geradezu krankhaftes Misstrauen gegenüber anderen Menschen“ gezählt werden (ebd.: 102). Aber nicht nur sozialer Rückzug und Vermeidung seien als Bewältigungsstrategie deutlich geworden, sondern auch „politisches Engagement gegen Rechts. Dies machte es mehreren von rechtsextremer Gewalt Betroffenen möglich, sich intensiv mit dem Thema Rechtsextremismus und mit der eigenen Situation auseinanderzusetzen“ (ebd.: 126). In der Studie habe sich auch bestätigt, dass die Schwere der Tatfolgen nicht allein mit der Schwere der Tat zusammenhänge. Die sehr unterschiedlichen Folgen der Gewalt führen die Autor_innen auf die jeweils vorhandenen „persönlichkeitsstabilisierenden Ressourcen“, bzw. „auf die jeweils individuell ausgeprägte ‚Vulnerabilität‘ der Betroffenen […] [zurück], die die zur Verfügung stehende Kompetenz des Einzelnen kennzeichnet, mit den erfahrenen Verletzungen subjektiv umzugehen.“ (Ebd.: 94)13 Auch der Erfolg der beschriebenen Umgangsstrategien sei von Person zu Person – abhängig von mehreren „psychischen und sozialen Faktoren seitens des Betroffenen und seiner Lebenssituation“ – sehr unterschiedlich (ebd.: 129). Als Ergebnis ihrer Untersuchung formulieren Böttger und Kolleg_innen, dass der „Aspekt des Migrationshintergrundes von Opfern rechter Gewalt, die nicht in Deutschland geboren wurden“ eine wesentliche Bedeutung für die Schwere der Folgen der Gewalt habe (ebd.: 166). Für diese werde die Gewalterfahrung oft als eines unter vielen kritischen

13 Die Frage, worin diese Kompetenzen der Bewältigung im Einzelnen bestehen und welche Faktoren dafür verantwortlich sind, dass mehr oder weniger Kompetenzen zu Verfügung stehen, bleibt in diesen Aussagen unbeantwortet. Der Zusammenhang zwischen ‚Vulnerabilität‘ und Bewältigungskompetenz erscheint hier tautologisch.

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Ereignissen wahrgenommen, und ein Verlust des Systemvertrauens als Folge der Gewalt sei in besonders hohem Maße zu beobachten. Positiv auf die Bewältigung habe sich die Wahrnehmung von Unterstützung, insbesondere durch spezialisierte Opferberatungsstellen, erwiesen (ebd. 124; 131; 165). Eine Analyse, wie im Einzelnen die individuellen Bewältigungsmöglichkeiten mit individuellen, biografischen Dimensionen und den jeweiligen Lebenssituationen der Betroffenen, dem Charakter der Tat und dem spezifischen Tathintergrund zusammenhängen, nehmen die Autor_innen in ihrer Studie allerdings nicht vor. Auch thematisieren sich nicht, wie die Unterstützung der OBS für die Betroffenen in ihrem jeweiligen Bewältigungsprozess hilfreich wird. Diesen Fragen gehe ich in der vorliegenden Arbeit nach.

2.2

R ASSISMUS

Rassismus ist zentrales Element im Rechtsextremismus, geht aber über diesen hinaus. Die Tendenz im deutschen (akademischen sowie politischen) Diskurs, Rassismus und Rechtsextremismus gleichzusetzen oder Rassismus und Rechtsextremismus als unterschiedliche Perspektiven auf den gleichen Gegenstand zu begreifen, führt zu einem unterkomplexen Verständnis von Rassismus. Dieser Arbeit liegt ein Begriff von Rassismus zugrunde, den Rommelspacher zusammenfasst „als ein System von Diskursen und Praxen, die historisch entwickelte und aktuelle Machtverhältnisse legitimieren und reproduzieren.“ (Rommelspacher 2009: 29)14 Von rassistischen Diskursen und Praxen wird gesprochen, wenn – erstens – anhand der Linien Ethnizität, Nation, race oder Kultur Unterschiede zwischen Gruppen biologisch konstruiert oder als feste und unveränderliche kulturelle Eigenschaften angenommen werden. Die so konstruierte Gruppe der ‚Anderen‘ wird – zweitens – homogenisiert, d.h. die Gruppenzugehörigkeit wird zum bestimmenden Moment gemacht und scharf abgetrennt von der eigenen Gruppe (Polarisierung). Als ‚rassistisch‘ gilt diese Differenzierung und Polarisierung – drittens – dann, wenn sie die Funktion hat, Gruppen in eine hierarchische Ordnung zu bringen, Machtverhältnisse zu legitimieren und abzusichern (ebd.: 29). Im Folgenden sollen die für meine

14 Meines Erachtens wird mit der von Rommelspacher formulierten Definition der Forschungsstand der – nach wie vor jungen – Rassismustheorie in Deutschland wiedergegeben. Eine der ersten richtungsweisenden Arbeiten veröffentlichten Kalpaka und Räthzel (1986). Zentraler Bezugspunkt für die Entwicklung rassismuskritischer Theorie waren insbesondere die Arbeiten von Hall (1989b; 1994; 2004; 2013). Einen Überblick über das Feld rassismuskritischer Theorie und Forschung in Deutschland geben Melter und Mecheril (2009), darin insbesondere Mecheril und Melter (2009) sowie Scharathow (2014).

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Fragestellung zentralen Aspekte des inzwischen umfänglichen Forschungsfeldes herausgehoben werden. 2.2.1

Rassismus als Ideologie

Miles (1989) und Hall (1989a) verstehen Rassismus als Ideologie, welche in konkreten historischen Situationen entsteht und die sich verändert. Die Kategorien rassistischer Unterscheidung sind keine immer schon dagewesene biologische Realität. Vielmehr werden biologische Merkmale mit Bedeutung versehen, um soziale Beziehungen zu strukturieren. Diese Herstellung rassistischer Unterscheidungen wird ‚Rassenkonstruktion‘ oder – in Anlehnung an den englischen Begriff – ‚Rassialisierung‘ genannt (Miles 1989: 356-357). Sie ist zudem mit der Abwertung der konstruierten Gruppe verbunden, legitimiert Machtverhältnisse und bringt sie selbst hervor. So wird die Entstehung des modernen Rassismus in den Zusammenhang mit der Notwendigkeit der Legitimation kolonialer und imperialistischer Ausbeutung bei gleichzeitiger Proklamation allgemeiner Menschenrechte gestellt (Rommelspacher 2009: 25-26; Hund 2007). Die Konstruktion und ‚wissenschaftliche‘ Untermauerung der These, es gebe biologische Unterschiede zwischen Menschen, legitimierte Hierarchisierung, Abwertung und Gewalt. Alltägliche Praktiken der Polarisierung und Entmenschlichung, z.B. im Umgang mit Sklav_innen, machten die Differenz und Hierarchie ‚wirklich‘ und erfahrbar. Rassismus ist umfassend und besteht aus „Mustern struktureller Beziehungen, herrschaftlicher Abhängigkeiten, kultureller Werte, ideologischer Rechtfertigungen und wechselseitigen Handelns.“ (Hund 2007: 28) Als ‚Legitimationslegende‘ (Rommelspacher 2009: 26) begründet Rassismus gesellschaftliche Machtverhältnisse, sichert sie ab und bringt sie selbst wieder hervor. Rassismus als Ideologie beruht auf Diskursen und Praxen, die gesellschaftliche (Macht-)Verhältnisse als ‚natürlich‘ plausibilisieren und die als ‚Sinngebungsinstanz‘ funktionieren (Miles 1989: 360). Dies geschieht in vielfältigen und z.T. inkonsistenten Diskursen und Theorien in Wissenschaft, Kultur und in der Alltagspraxis. Die rassistische Strukturierung von gesellschaftlichen Machtverhältnissen und deren ideologische Absicherung sind umkämpft und wandelbar. Omi und Winant (1994) formulieren als eine Ausgangsfrage für die Entwicklung des in der Rassismusforschung der USA paradigmatischen Konzeptes der ‚racial formation‘, warum trotz der allgemeinen Ächtung von Rassismus nach dem Zweiten Weltkrieg sowie nach der Bürgerrechtsbewegung die gesellschaftliche Wirklichkeit in den USA wesentlich durch die Kategorie ‚race‘ strukturiert ist. Mit dem Konzept der ‚racial formation‘ beschreiben die Autoren, bezogen auf die US-amerikanische Gesellschaft, „the sociohistorical process by which racial categories are created, inhabited, transformed, and destroyed.“ (Ebd.: 55) Balibar(1990) prägte den Begriff des ‚Rassismus ohne Rassen‘, um das Fortleben rassistischer Unterscheidung und Platzzuweisung

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auch ohne den expliziten Bezug auf ein biologisches Verständnis von Rassen in den Diskursen über Migration und Kultur deutlich zu machen.15 So sind neben dem kolonialen Rassismus – der in veränderter Form weiterhin virulent ist – neue rassistische Diskurse und Praxen im Zusammenhang mit Migration und sozialer Ungleichheit getreten und wirkmächtig geworden, die sich zum Teil nicht mehr explizit auf das Konstrukt der ‚Rasse‘ beziehen (ebd.). Mecheril (2003; 2004: 14-15) zufolge treten an seine Stelle die Begriffe Kultur, Religion, Immigration, Ethnizität oder Nationalität, deren Bedeutungen in der Konstruktion von Zugehörigkeit und Differenz verschwimmen. Er schlägt daher zur Benennung der Differenzlinie den Begriff der ‚natio-ethno-kulturellen Zugehörigkeit‘ vor, mit der ‚Migrationsandere‘ konstruiert werden. 2.2.2

Rassismus als gesellschaftliches Verhältnis und individuelles Denken, Handeln und Fühlen

Rassismus tritt als gesellschaftliches Verhältnis auf verschiedenen Ebenen in Erscheinung: als ökonomische und politische Segregation, verankert in institutionellen Abläufen, Gesetzen und gesellschaftlichen Organisationsweisen, als soziale Segregation und kulturell tradierte und verinnerlichte Bilder und individuelle diskriminierende Praxen. Intentionale und explizite Formen von Rassismus werden begleitet von impliziten Formen des institutionellen Rassismus und alltäglichen Äußerungen und Praxen, die ungewollt die Wirkung rassistischer Hierarchisierung und ‚Platzzuweisung‘ entfalten (vgl. Rommelspacher 2009: 30-32). Es stellt sich die Frage, wie sich mit einem solch umfassenden Rassismusverständnis das Verhältnis zwischen gesellschaftlichen Strukturen und Diskursen und individuellem Denken, Handeln und Fühlen begreifen lässt. In psychologischer Forschungstradition wird Rassismus als ‚Einstellung‘ (s.o.) oder ‚Vorurteil‘16 konzipiert bzw. als Konflikt zwischen Gruppen betrachtet. Gegenüber individualpsychologischen Untersuchungen, die Vorurteile z.B. als Effekt autoritärer Erziehung erklären oder eine natürliche Abwehr gegenüber Fremden annehmen, erklären sozialpsychologische Theorien die Entstehung von Ressentiments aus der sozialen Interaktion zwischen Gruppen. Mit der ‚Theorie des realistischen Gruppenkonflikts‘ (Sherif 1961) wird die Entstehung feindlicher Einstellungen zwischen Gruppen als Ergebnis der (im Versuchsaufbau hergestellten) Konkurrenz zwischen

15 Die Wandelbarkeit von Diskursen und Praxen der Differenzierung und Hierarchisierung nimmt insbesondere auch Hall in seinen Arbeiten (1989b; 1994; 2004; 2013) in den Blick. 16 Nach Allport wird ein ethnisches Vorurteil verstanden als „Antipathie, die sich auf eine fehlerhafte und starre Verallgemeinerung gründet. Sie kann ausgedrückt oder auch nur gefühlt werden. Sie kann sich gegen eine Gruppe als Ganzes richten oder gegen ein Individuum, weil es Mitglied einer solchen Gruppe ist“ (Allport 1971: 23).

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diesen Gruppen erklärt. Übergeordnete gemeinsame Ziele können demnach zum Abbau der Ressentiments beitragen. Tajfel (1982) formuliert demgegenüber Prozesse der sozialen Kategorisierung, des sozialen Vergleichs, der Identifizierung mit der Eigengruppe und das Bestreben, eine positive Identität herzustellen17, als wesentliche Prozesse zwischen Gruppen, die auch unabhängig vom Vorhandensein einer objektiven Konkurrenzsituation zum Aufbau von Vorurteilen beitragen (vgl. Kessler/Mummendey 2007). Diese Theorien nehmen zwar in den Blick, unter welchen sozialen Bedingungen Vorurteile begünstigt werden und beschreiben soziale Prozesse der Konstruktion rassistischer Unterscheidung, Zuordnung und Hierarchisierung. Diese werden aber nicht systematisch ins Verhältnis zu historisch-konkreten gesellschaftlichen Zusammenhängen gestellt. Um allgemeine psychologische Theorien zu formulieren, werden die Ressentiments nicht inhaltlich bestimmt. So wählte Sherif (1961) bewusst eine möglichst homogene Zusammensetzung der Gruppen in seiner Untersuchungsanordnung.18 Die Ebene gesellschaftlicher Bedeutungen ist damit explizit ausgeklammert und rassistisches Denken, Handeln und Fühlen auf individueller Ebene nicht in den Zusammenhang mit der gesellschaftlichen Funktion rassischer Unterscheidungen gestellt. Demgegenüber sind rassistische Denk- und Handlungsweisen für Osterkamp „nicht Sache der persönlichen Einstellung einzelner Individuen, sondern in der Organisation des gesellschaftlichen Miteinander verortet […] welche die Angehörigen der eigenen Gruppe systematisch gegenüber den Nicht-Dazugehörigen privilegieren.“ (Osterkamp 1996: 201)

Für Osterkamp sind Angehörige der privilegierten Wir-Gruppe zwangsläufig verstrickt in die rassistische Selbstermächtigung gegenüber den ‚Anderen‘. Im Rahmen dieses Rassismusverständnisses besteht allerdings keine Möglichkeit mehr, die Unterschiede individueller Praxen innerhalb der (rassistischen) gesellschaftlichen Diskurse und Strukturen wahrzunehmen. Die Organisation von offen rassistischen Demonstrationen durch PEGIDA, die Interpretation von Schulkonflikten als typisches Macho-Gehabe muslimischer Jungen und das Unterzeichnen eines Mietvertrages für eine Wohnung, während Bewerber_innen mit Migrationshintergrund abgelehnt worden waren, wird gleichermaßen als Einrichten in bestehenden Verhältnissen verstanden. Auch Rommelspacher (2002; 2006: 132-135; 2009) nimmt mit dem Konzept der ‚Dominanzkultur‘ die nicht-intentionale individuelle Involviertheit in rassistische

17 Die vier Konzepte werden als ‚Social categorization‘, ‚social comparison‘, ‚social identity‘ und ‚positive distinctiveness‘ bezeichnet. 18 Er führte seine Forschung in einem Ferienlager mit weißen, männlichen Kindern mit vergleichbarem sozio-ökonomischen Hintergrund durch.

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Verhältnisse in den Blick und beschreibt die Funktionalität der Reproduktion rassistischer Unterscheidungen zur Sicherung von relativen Machtpositionen. Allerdings geht Rommelspacher nicht von einem deterministischen Zusammenhang aus. Mit dem Konzept der Dominanzkultur betont sie, dass Menschen nicht nur in Bezug auf die anhand rassistischer Kategorien organisierten gesellschaftlichen Machtverhältnisse unterschiedlich positioniert sind, sondern dass die jeweils den Einzelnen verfügbaren gesellschaftlichen Ressourcen individueller Handlungsspielräume auch durch Geschlechterverhältnisse, ökonomische Verhältnisse etc. strukturiert sind. Individuelles Handeln beziehe sich auf in sich widersprüchliche gesellschaftliche Strukturen und Bedeutungen, die zudem historisch umkämpft und veränderbar seien (Rommelspacher 2006: 132-135). Scharathow (2014) hebt in der Charakterisierung des von ihr verwendeten Rassismusbegriffs hervor, dass Rassismus als gesellschaftliches Verhältnis von den Subjekten vorgefunden wird und sie sich in der Allgegenwärtigkeit rassistischer Diskurse und Strukturen bewegen, dass sich Subjekte aber zugleich zu den gesellschaftlichen Verhältnissen verhalten können. „Rassistische Wissensbestände stehen immer auch in Konkurrenz zu anderen, gegenläufigen sozialen Wissensbeständen. Subjekte sind zwar in rassistische Strukturen und Diskurse eingebunden, die ihre Erfahrungen, ihr Denken, ihr Deuten und Handeln nicht unberührt lassen. Sie können sich jedoch zu diesen Diskursen und Verhältnissen im Rahmen ihrer je spezifischen Möglichkeiten auch widerständig verhalten und verändernd auf sie einwirken – wenngleich ihnen u.a. aufgrund der sozialen Positionierungen im gesellschaftlichen Machtgefüge mitunter sehr unterschiedlich große Spielräume von Handlungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen.“ (Ebd.: 49)

Damit ist auch das dieser Arbeit zugrunde liegende Verständnis des Vermittlungszusammenhangs von individuellem Denken, Handeln und Fühlen und gesellschaftlichen Verhältnissen angesprochen, welches in Kapitel 4 ausgeführt wird. 2.2.3

Rassismuserfahrungen

In dieser Arbeit geht es um die Unterstützung von Betroffenen rassistischer Gewalt und damit um Rassismuserfahrungen von Menschen, die in rassistischen Verhältnissen als ‚Migrationsandere‘ (Mecheril 2004: 15) konstruiert werden.19 Manifestation und Folgen von Rassismus sollen aus der Perspektive der negativ Betroffenen in den Blick genommen werden. Mecheril (2003: 69-71) formuliert Dimensionen für die

19 Erfahrungen mit Rassismus machen letztlich alle in dieser Gesellschaft; sowohl jene, die negativ von Rassismus betroffen sind, als auch jene, die in rassistischen Verhältnissen privilegiert positioniert sind.

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analytische Unterscheidung verschiedener Arten von Rassismuserfahrungen: Rassismus kann in manifester, massiver oder subtiler Form erfahren werden, auf individueller Ebene oder als institutionelle Diskriminierung. Rassismuserfahrungen können direkt kommunikativ, medial oder auch imaginativ, z.B. durch die antizipierte Befürchtung einer Konfrontation mit Rassismus, vermittelt sein. Rassismus kann sowohl direkt persönlich erfahren werden als auch identifikativ über Erlebnisse nahestehender Personen, die z.B. aufgrund entsprechender natio-ethno-kultureller Zugehörigkeit als Stellvertretende für die eigene Person wahrgenommen werden oder auch als kategoriale Erfahrung aufgrund des Wissens um Rassismen, die gegen die eigene Gruppe gerichtet sind. Pionierarbeit für die Beschreibung von Manifestationen und Folgen von Rassismus aus Perspektive der negativ Betroffenen hat Essed (1991) mit ihrer Arbeit über Alltagsrassismus in den USA und den Niederlanden geleistet. Für Deutschland hatte der Sammelband Farbe bekennen als Dokumentation von Berichten Schwarzer Frauen über ihre Lebensrealität wesentliche Bedeutung (Oguntoye 1986). In der deutschen sozialwissenschaftlichen Forschung beschrieb zuerst Mecheril (1997) Rassismuserfahrungen von „anderen Deutschen“, später folgte eine Arbeit über „natioethno-kulturelle (Mehrfach-)Zugehörigkeit“ (Mecheril 2003). Terkessidis (2004) rekonstruiert das Wissen von Migrant_innen zweiter Generation über Rassismus in Deutschland und beschreibt „die Banalität des Rassismus“. Kilomba (2008) analysiert vor dem Hintergrund postkolonialer Theorie und Psychoanalyse Episoden alltäglicher Rassismuserfahrungen Schwarzer Frauen als traumatische Erinnerung an koloniale Unterdrückung. Mit Rassismuserfahrungen von Jugendlichen beschäftigt sich Scharathow (2014). Velho (2015) untersucht Konsequenzen alltäglicher Rassismuserfahrungen für das Selbst- und Weltverhältnis der Betroffenen. Die genannten Forschungsarbeiten beschäftigen sich mit alltäglichen Konfrontationen und subtilen Formen von Rassismus. Ich werde in dieser Arbeit dagegen Gewalt als manifeste Form von Rassismus untersuchen. In der Forschung wird problematisiert, dass ein Verständnis von Rassismus dominant sei, welches Rassismus mit (neonazistischer) Gewalt gleichsetze. Diese Reduktion im gesellschaftlichen Diskurs, mit der Rassismus jenseits der gesellschaftlichen Normalität verordnet werde, erschwere jedoch die Artikulation der vielfältigen Rassismuserfahrungen durch die Betroffenen (Terkessidis 2004: 114). So kann auch dieser Arbeit kritisch angelastet werden, dass sie durch den Fokus auf gewaltförmigen Rassismus ein verkürztes Bild von Rassismus fördere. Wie im Weiteren ausgeführt wird, ist aber die Erfahrung rassistischer Gewalt nur richtig zu verstehen, wenn der Zusammenhang bzw. das Zusammenspiel der verschiedenen oben genannten Arten von Rassismuserfahrungen vom Standpunkt der Betroffenen in die Analyse einbezogen werden.

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Als Sammelbegriff für rassistische, antisemitische, homophobe und behindertenfeindliche Gewalt hat sich im angelsächsischen Raum der Begriff hate crime etabliert und findet zunehmend im internationalen Kontext Verbreitung. 2.3.1

Die Entwicklung des Konzeptes hate crime

Der Begriff hate crime wurde ab Ende der 1980er Jahre in den USA als Bezeichnung für Angriffe auf Schwarze und andere ethnische und religiöse Minderheiten (insbesondere Jüd_innen und jüdische Einrichtungen) eingeführt (Jenness 2007: 144). Bürgerrechtsbewegungen hatten schon vorher Gewalt gegen Minderheiten (Frauen, Schwule und Lesben, Schwarze) thematisiert. In den 1960er Jahren lag der Fokus der schwarzen Bürgerrechtsbewegung jedoch vor allem auf struktureller und ökonomischer Diskriminierung. Interpersonelle Gewalt wurde als deren Folge angesehen, die mit Beseitigung der strukturellen Ungleichheit verschwinden würde. Ab Ende der 1970er Jahre wurde demgegenüber der Gewalt selbst eine wesentliche Rolle bei der Aufrechterhaltung struktureller Ungleichheit zugeschrieben. Vor dem Hintergrund eines Anstiegs rassistischer und antisemitischer Gewalt bei gleichzeitigen Erfolgen in der Bekämpfung von Diskriminierung wurde Gewalt nun von Teilen der Bürgerrechtsbewegung zentral thematisiert. Aus der schwarzen Bürgerrechts- sowie der Frauen- und Schwulen/Lesbenbewegung entstanden Anti-Gewaltprojekte (Grattet/Jenness 2004: 25). Erfolgreich wurde die Anti-hate-crime-Bewegung „through a fusion of the strategies, discourses, and goals of preexisting rights movements on both the political right and left.“ (Jenness 2007: 144) So wurden die liberal geprägten Bürgerrechts-, Frauen-, Schwulen- und Lesbenbewegungen in ihren Forderungen nach einer stärkeren Berücksichtigung der Perspektive von Gewaltopfern in Strafprozessen sowie in der Gesellschaft durch die traditionell konservativ geprägte Opferrechtsbewegung unterstützt (ebd.). Aus dieser Koalition heraus wurde das Konzept hate crime mit der Forderung verbunden, Vorfälle systematischer zu erfassen und sie als Taten mit besonderer Qualität und schwerwiegenderen Folgen auch juristisch zu berücksichtigen. Die Etablierung der juristischen Kategorie hate crime wurde maßgeblich von der Anti Defamation League (ADL), einer Nichtregierungsorganisation, die ihre Aufgabe vor allem in der Bekämpfung von Antisemitismus sieht, vorangetrieben.20 Die ADL entwarf ein Modell für ein hate-crime-Gesetz, das in den

20 Die Nichtregierungsorganisation wurde 1913 gegründet „to stop the defamation of the Jewish people and to secure justice and fair treatment to all." Sie beschreibt ihre Aufgaben wie folgt: „ADL fights anti-Semitism and all forms of bigotry, defends democratic ideals and protects civil rights for all.“ (ADL o.J.). Das Southern Powerty Law Center (SPLC), wel-

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Folgejahren die tatsächliche Formulierung und Verabschiedung von hate-crime-Gesetzen in zahlreichen Bundesstaaten maßgeblich prägte. Hate-crime-Gesetze, die eine systematische Dokumentation von hate crimes sowie höhere Strafen für die Täter_innen festlegten, setzten sich in den Bundesstaaten und auf föderaler Ebene erstaunlich schnell durch. Trotz erbitterter Auseinandersetzungen um die grundsätzliche Vereinbarkeit einer solchen Gesetzgebung mit der Verfassung waren bis zur Jahrtausendwende in fast allen Bundesstaaten sowie auf föderaler Ebene hate-crime-Gesetzgebungen etabliert.21 Im Bundesgesetz ist hate crime definiert als „kriminelle Tat gegen Personen, Eigentum oder die Gesellschaft, die ganz oder teilweise von den Vorurteilen des Täters gegen die Rasse, Religion, Behinderung, sexuelle Orientierung oder Ethnizität/nationale Herkunft motiviert ist.“ (US Department of Justice, zitiert nach und übersetzt von Coester 2008: 23)

In Großbritannien etablierte sich das Konzept hate crime unter anderen gesellschaftspolitischen Bedingungen. Wesentlicher Hintergrund war hier die gesellschaftliche Diskussion um institutionellen Rassismus in Polizei und Justizbehörden, die durch den Mord an Stephen Lawrence ausgelöst wurde. Lawrence war 1993 in London von weißen Jugendlichen zu Tode getreten worden. Die Familie des Getöteten und eine Unterstützungskampagne skandalisierten die mangelhafte Arbeit von Polizei- und Justizbehörden und erreichten, dass eine unabhängige Kommission zur Aufarbeitung des Falles gegründet wurde. Die Stephen Lawrence Inquiry unter der Leitung von Sir William MacPherson stellte in ihrem Abschlussbericht strukturelles Versagen von Polizei und Justizbehörden fest, welches auf der Kombination von individuellem Fehlverhalten von Führungspersonen und institutionellem Rassismus beruhe (Hall 2005: 51–53). Eine von vielen Empfehlungen im Abschlussbericht waren Richtlinien für die polizeiliche Erfassung von hate crimes. Britische Polizeibehörden arbeiten heute mit folgender Definition von hate crimes:

ches insbesondere für die offensive und strategische Prozessführung zur Bekämpfung extrem rassistischer und rechter Akteur_innen bekannt ist, ist eine weitere Institution, die zentral zur Etablierung des hate-crime-Konzeptes beigetragen hat. 21 Zentrale Auseinandersetzungen wurden um die Merkmale geführt, die in die Gesetzgebung aufgenommen werden sollten. So werden heute nicht in allen Bundesstaaten z.B. homophobe oder behindertenfeindliche Angriffe als hate crimes erfasst. Die Kontroversen im Zusammenhang mit der Einführung von hate-crime-Gesetzen werden von Gerstenfeld (2010: 11–82) sowie von Grattet und Jenness (Jenness 1999; Grattet/Jenness 2001; Jenness 2007) rekonstruiert. Eine einflussreiche kritische Position zu hate-crime-Gesetzen wurde von Jacobs und Potter (1997) formuliert.

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„A hate incident is defined as: Any incident, which may or may not constitute a criminal offence, which is perceived by the victim or any other person, as being motivated by prejudice or hate. A hate crime is defined as: Any hate incident, which constitutes a criminal offence, perceived by the victim or any person, as being motivated by prejudice or hate.“ (Chakraborti/Garland 2009a: 8)

Die Auseinandersetzung mit institutionellem Rassismus in der Polizei führte dazu, dass die Wahrnehmung der Betroffenen für die Einordnung zentral gesetzt und mit der Unterscheidung zwischen incident und crime eine sehr viel breitere Definition gewählt wurde als in den USA. Allerdings ist die zitierte offizielle Definition in Großbritannien auf der Ebene der polizeilichen Ersterfassung und nicht auf Ebene der juristischen Strafzumessung angesiedelt.22 2.3.2

Sozialwissenschaftliche Untersuchungen

Die von Polizei und Gesetzgebung formulierten offiziellen Definitionen sind auf die Anwendbarkeit im strafrechtlichen Kontext gerichtet. Akademische Definitionen bemühen sich demgegenüber um eine Bestimmung des Inhalts des Konstruktes hate crime und des sozialen Phänomens, welches als hate crime beschrieben wird (ebd.: 2009a). Auch Petrosino (2003) hebt hervor, dass für ein Verständnis der gesellschaftlichen Realität von hate crimes notwendig ist, den Rahmen der juristischen Definitionen zu verlassen und den historischen Kontext der Organisation von Machtverhältnissen in den Blick zu nehmen.23 Gruppen, die von hate crimes, wie sie in der USamerikanischen Rechtsprechung definiert sind, betroffen sind, blicken auf eine lange Geschichte der Diskriminierung, Marginalisierung und Gewalt zurück. Hate crimes sind, wie Bowling (1993) zuerst formulierte, nicht als feste und eindeutige Ereignisse

22 So werden in der britischen Polizeistatistik mehr als zehn Mal so viele rassistische hate crimes dokumentiert als in den USA. Während in Großbritannien eine intensivere Auseinandersetzung mit dem Zusammenhang zwischen Vorurteilen der Täter_innen und der Tat im Gerichtsprozess stattfindet, wird im US-Kontext schon früher ausgewählt, was überhaupt als hate crime erfasst wird (Hall 2005: 18–19). Dies hat wiederum zur Folge, dass die Dokumentation von hate crimes hier in hohem Maße vom Problembewusstsein und der Arbeitskultur in den Polizeieinheiten abhängt (vgl. Bell 2003). 23 Sie argumentiert, dass sich die Bewertung von hate crimes je nach gesellschaftlichem Kontext ändert und stellt aktuelle Fälle, die als hate crimes bewertet werden, in Zusammenhang mit historischen Ereignissen, in denen ähnliche Formen der Gewalt und Diskriminierung aufgrund von rassialisierter Hautfarbe oder Herkunft stattfanden, aber nicht als Kriminalität bewertet wurden.

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zu verstehen, sondern als Prozess. Hate crimes – Bowling bezieht sich auf rassistische hate crimes – bekommen demnach ihre Bedeutung über die soziale und historische Vorgeschichte des Rassismus, der Kolonialgeschichte und der Sklaverei. Hate crimes als Prozess in konkreten gesellschaftlichen Verhältnissen zu begreifen, beinhaltet auch, so Bowling weiter, die Involviertheit weiterer Akteur_innen neben den direkten Täter_innen und Opfern in Bezug auf das Zustandekommen, den Verlauf und die Folgen der Tat zu berücksichtigen. So spiele das direkte soziale Umfeld von Täter_innen und Opfern eine wesentliche Rolle, wichtig seien aber auch „the roles of the police and other state agents such as social workers and public housing managers. For those cases that come to be defined as crimes and for which a prosecution is initiated, criminal justice professionals [...] play their part. These actors intervene in the process of racial [...] victimization in ways which have potential for escalation as well as amelioration of its effects.“ (Ebd.)

Als Charakteristikum von hate crimes wird benannt, dass sie nicht auf das individuelle Opfer zielen, sondern auf die Gruppenzugehörigkeiten, die als ‚anders‘ oder ‚nicht dazugehörig‘ definiert werden. Sie werden daher auch als Botschaftstaten beschrieben, welche nicht nur die direkt Betroffenen erreichen, sondern die gesamte Gruppe der Betroffenen. In Anschluss an Bowling formuliert Perry: „It does not occur in a cultural or social vacuum, nor is it ‚over‘ when the perpetrator moves on. For this reason we must define hate crime […] as a socially situated, dynamic process involving context and actors, structure and agency.“ (Perry 2001: 8-9) Hate crimes seien nicht nur als Folge gesellschaftlicher Machtverhältnisse zu sehen, die sich in der Gewalt gegen gesellschaftliche Minderheiten spiegeln. Sie seien zugleich als Praxen zu verstehen, in denen die Minderheiten als solche hergestellt und sichtbar gemacht werden. Durch die Gewalt würden Unterscheidungen zwischen ‚wir‘ und ‚die anderen‘ und die damit verbundenen Über- und Unterordnungen inszeniert, in die Praxis gesetzt und auf individueller Ebene verinnerlicht (ebd.:8-10). Perry schlägt folgende Definition vor: „Hate crime […] involves acts of violence and intimidation, usually directed towards already stigmatized and marginalized groups. As such, it is a mechanism of power and oppression, intended to reaffirm the precarious hierarchies that characterize a given social order. It attempts to re-create simultaneously the threatened (real or imagined) hegemony of the perpetrator´s group and the 'appropriate' subordinate identity of the victim's group. It is a means of marking both the Self and the Other in such a way as to re-establish their 'proper' relative positions, as given and reproduced by broader ideologies and patterns of social and political inequality.“ (Ebd.: 10)

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Dieses Begriffsverständnis gilt für die sozialwissenschaftliche hate-crime-Forschung als richtungsweisend. Es lieferte erstmals, so Chakraborti „much-needed theoretical substance to the more operationally-oriented frameworks.“ (Chakraborti 2015:15) Mit dem so umrissenen Verständnis wird das Verhältnis von individueller Tat und gesellschaftlichem Kontext zentral gesetzt. Zu Recht problematisiert aber Iganski (2008: 41) an Perrys Argumentation, dass sie mit ihrer poststrukturalistischen Perspektive zwar die enge Verbindung zwischen Struktur und Handeln betont, dabei aber Gefahr läuft, das Verhältnis zwischen gesellschaftlicher Struktur und individuellem Handeln deterministisch zu interpretieren. Iganski plädiert demgegenüber dafür, die konkreten sozialen Situationen, in denen hate crimes stattfinden, in den Blick zu nehmen, denn die Betonung des gesellschaftlichen Hintergrunds von hate crimes allein reiche nicht aus, um ein Verständnis der „lived reality of ‚hate crime‘ as experienced by victims and offenders“ (ebd.: 19) zu ermöglichen. Geklärt werden müsse demnach, wie in den konkreten Gewaltsituationen welche historisch spezifischen und auf die jeweilige Tatkonstellation bezogenen Diskurse und Strukturen für die Verübung und die Wirkung der Gewalt relevant werden. Dabei werde deutlich, dass hinter der Verübung von hate crimes meist gemischte Motive stünden und die Bekräftigung vorfindlicher Machtstrukturen nicht notwendig die vordringliche und explizite Intention der Täter_innen sei (ebd.). Eine der wenigen qualitativen Untersuchungen hat Pinderhughes (1993) mit einer Fallstudie im New Yorker Stadtteil Southern Brooklyn vorgelegt. Er arbeitet heraus, dass die Beteiligung der ‚weißen‘ Jugendlichen an rassistischer Gewalt mit mehreren Dimensionen zusammenhängt: „(1) structural economic conditions; (2) the societal racial climate and ideology; (3) the history of neighborhood race relations and the community's racial ideology; (4) participation in neighborhood-based peer groups.“ (Ebd.: 489). Die Jugendlichen in Pinderhughes Studie kamen aus Arbeiterhaushalten und hatten eine schlechte Schulbildung. Durch ökonomische Strukturveränderungen waren diese Jugendlichen mit prekären Zukunftsperspektiven konfrontiert. Zur Deutung ihrer Situation griffen sie auf neokonservative Diskurse zurück, die in Debatten über Bürgerrechte, affirmative action und Diskriminierung sowie über Gewalt in Städten in den vergangenen Jahren an Hegemonie gewonnen hatten. In diesen Debatten wurde behauptet, dass ethnische Minderheiten eine höhere Gewaltbereitschaft besäßen, und affirmative action wurde als Diskriminierung von Weißen interpretiert. Die Jugendlichen lebten zudem in einer bislang ethnisch homogenen Nachbarschaft, in der der Zuzug von Minderheiten bekämpft wurde. „ Though community members frown on delinquent activities, there is evidence of tacit support for the role these young people play in keeping unwanted minorities out of their neighborhoods“ (ebd.), so dass die Jugendlichen für ihre Taten Unterstützung erwarten oder zumindest keine negativen Konsequenzen im sozialen Umfeld befürchten mussten. Die wichtigste Motivation der Jugendlichen, sich an rassistischen Angriffen zu beteiligen, war, so Pinderhughes (ebd.: 490), dass sie dadurch als Teil ihrer Peergroup ein

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positives Selbstbild, das Gefühl von Zugehörigkeit und Solidarität in ihrer Gruppe und eine klare Bestimmung ihrer Identität als ethnisierte Identität gewinnen konnten. Das Auftreten rassistischer Gewalt lässt sich, so Pinderhughes (ebd.: 491), also nur aus dem Zusammenspiel verschiedener Faktoren verstehen. Auch Iganski (2008) stellt das Auftreten von hate crimes in London in den Kontext von ökonomischer Abstiegsangst der Täter_innen, der Deutung eigener Perspektivlosigkeit und Marginalität im Kontrast zum gesellschaftlichen Aufstieg von bisher marginalisierten gesellschaftlichen Minderheiten und zu Veränderungen der Zusammensetzung von bisher ‚weißen‘ Stadtteilen. Blee (2005; 2007) analysiert rassistische Gewalt, die von explizit rassistischen Gruppen wie dem Ku-Klux-Klan verübt wird. Sie kommt zu dem Ergebnis, dass diese oft nicht in erster Linie durch rassistische Zielsetzungen motiviert ist. Die Täter_innen beschreiben ihre Taten, wie das Verbrennen von Kreuzen oder körperliche Angriffe, vielmehr als Gemeinschaftsaktionen, Bestärkung der eigenen Gruppenzugehörigkeit oder Loyalitätsbeweis innerhalb der Gruppe. Blee arbeitet heraus, dass bspw. weibliche Ku-Klux-Klan-Mitglieder ihre Beteiligung an Fackelaufmärschen weniger als Ausdruck von Hass und explizitem Rassismus erlebt hatten, sondern als Momente der Herstellung von Gruppenidentität.24 Botschaft der brennenden Kreuze war die Stärkung eines ‚Wir-Gefühls‘ in Abgrenzung zu den rassistisch als ‚Andere‘ konstruierten. „To these former Klanmembers, a burning-cross communicated the entitlement, universality, and empowerment of white Protestants.“ (Blee 2005: 610) Diese Funktion kann die Beteiligung an Gewalt jedoch nur vor dem Hintergrund rassistischer Ideologie entfalten, denn es ist nicht zufällig, wer von den Gewaltaktionen betroffen ist. Blee definiert rassistische Gewalt „as acts with violent consequences in which victims are racially fungible“ (ebd.: 606). Mit diesem bewusst breiten Verständnis nennt Blee ‚Fungibilität‘, also Austauschbarkeit der Betroffenen als Repräsentant_innen einer rassistisch kategorisierten Gruppe als wesentliches Merkmal rassistischer Gewalt. Blee verdeutlicht ihre Perspektive an folgendem Beispiel: „When a white man shows off for his buddies by beating up a black man, for example, the victim is fungible. Yet the perpetrator’s immediate motive stems from his relationships with others in a white peer culture (the ‚audience‘ to the violence) and the victim’s availability as much as from hostility towards African Americans. This is racial violence because it involves racially constituted groups of black victims and white peers but here race is both effect and cause. The African American is fungible – but also indispensable – in such violence, because white manhood, in this instance, is ‚made‘ through violence towards the racial other. Hate or feelings of animus are not necessary proximate motives for whites in a racial society to view (and use) racial minority group members as props in a ritualized enactment of white masculine solidarity and identity building.“ (Ebd.: 607)

24 Der explizit formulierte Rassismus des Ku-Klux-Klan bleibt unbestritten.

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Für ein adäquates Verständnis rassistischer Gewalt müsse, so Blee (2007), nicht nur die vielschichtige Motivation der Täter_innen, sondern auch die Bedeutung der Gewalt für Betroffene einbezogen werde. Auch Iganski (2008) plädiert dafür, die Perspektive der Betroffenen in der Analyse von hate crimes zentral zu setzen. 2.3.3

Subjektive Folgen von Hate Crimes

Iganski und Lagou (2009; 2015) kommen in einer repräsentativen und vergleichenden Studie25 zu dem Ergebnis, dass die körperlichen Folgen von hate crimes im Schnitt zwar weniger schwer seien26 als die anderer Kriminalität, Betroffene von hate crimes aber signifikant schwerere und länger anhaltende psychische Folgen davontragen als Betroffene von entsprechenden Delikten ohne diskriminierenden Hintergrund. So stellen die Autor_innen fest, dass Betroffene von hate crimes in Bezug auf die im Survey abgefragten Symptome – Ärger, Schock, Angst, Depression, Vertrauensverlust, Schlafschwierigkeiten und Weinen – deutlich höhere Werte angeben als Betroffene entsprechend schwerer Delikte (Beleidigungen, Körperverletzungen, Bedrohungen) ohne diskriminierenden Hintergrund (Iganski/Lagou 2015: 42). Die Ergebnisse dieser Studie bestätigen damit die Ergebnisse früherer Studien mit kleineren Stichproben oder nicht vergleichendem Design.27 Die besonderen psychischen Folgen von hate crimes werden damit in Verbindung gebracht, dass sich die Gewalt auf die Identität der Betroffenen richtet. „An assault on such a salient identity, and one over which they have no control, resonates deeply with their ideas about self, community, and feelings of security.“ (Craig-Henderson/Sloan 2003: 484) In ihren Überlegungen beziehen sich Craig-Henderson und Sloan auf die von Janoff-Bulman (Janoff-Bulman/Frieze: 1982; Janoff-Bulmann: 1992) vorgeschlagene theoretische Perspektive. Sie erklärt die Reaktionen auf die Gewalterfahrungen als Erschütterung subjektiver Annahmen über sich selbst und die Welt. Unter dem Begriff ‚assumptive worlds‘ verstehen Janoff-Bulman und Frieze subjektive Wahrnehmungsweisen, welche die Komplexität der Realität reduzieren und den Einzelnen erlauben „to set goals, plan activities, and order their behavior“ (Janoff-Bulman/Frieze 1982: 3). Zu diesen basalen Annahmen, die die meisten Menschen teilten, gehöre der Glaube an die eigene Unverwundbarkeit, die Wahrnehmung, dass die Welt sinnhaft angelegt sei, und eine positive Sicht auf sich selbst. Obwohl

25 Die Autor_innen haben die Daten des British Crime Surveys einer Sekundäranalyse unterzogen. 26 Das Ergebnis widerspricht der von Levin und McDevitt (1993) formulierten These, dass sich hate crimes durch besondere Brutalität auszeichnen. 27 Z.B. Herek und Kolleg_innen (1997) sowie McDevitt und Kolleg_innen (2003).

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wir wissen, dass Kriminalität existiert, Krebs einen großen Teil der Bevölkerung betrifft und Autounfälle passieren (ebd.: 4), sind wir innerlich überzeugt, dass es uns nicht treffen wird, und wir funktionieren im Alltag auf der Basis einer ‚Illusion der Unverwundbarkeit‘. Diese ‚Illusion der Unverwundbarkeit‘ hänge mit der verinnerlichten (und ebenso illusorischen) Überzeugung zusammen, in einer geordneten und gerechten Welt zu leben. Auf einer fundamentalen Ebene, „we also believe we are protected against misfortune by being good and worthy people“ (ebd.: 5) und dass Menschen bekommen, was sie verdienen, auch wenn wir kognitiv um alltägliche Ungerechtigkeit wissen. Nach einer Gewalterfahrung lasse sich die Sicherheit gebende Illusion der eigenen Unverwundbarkeit nicht aufrechterhalten und werde durch ein Gefühl der Verletzlichkeit ersetzt. Die bisher abstrakt dagewesene Bedrohung sei den Betroffenen gewissenmaßen auf den Leib gerückt, könne lähmend wirken und dazu führen, dass die Betroffenen ihrer Umwelt mit einem vorher nicht dagewesenen Misstrauen begegnen. Die Gewalterfahrung lasse sich zudem nicht in die Vorstellung einer sinnhaften, gerechten Welt einbauen und erschüttere damit das Gefühl, Kontrolle über das eigene Leben zu haben (ebd.). In diesem Zusammenhang sei auch die Frage nach dem ‚Warum‘ zu verstehen, die für viele Betroffene im Bewältigungsprozess zentral ist. Die oft quälende Suche nach Erklärungen hänge mit dem Bedürfnis zusammen, Sinn herzustellen und so weniger hilflos ausgeliefert zu sein. Die Schuld für die Gewalterfahrung im eigenen Handeln zu suchen, könne so auch als Versuch gesehen werden, den Glauben an die Kontrollierbarkeit des eigenen Lebens wieder herzustellen. Gewalterfahrungen erschüttern zudem das Selbstwertgefühl der Betroffenen, die sich in Folge der Gewalt machtlos, hilflos und schwach fühlen und sich zudem selbst als abweichend erfahren, so Janoff-Bulmann und Frieze: „After all they have been singled out for misfortune and this establishes them as different from other people“ (ebd.: 6). Dadurch werde wiederum das negative Selbstbild bestätigt, wertlos und schwach zu sein. Bewältigung einer Gewalterfahrung bedeute also vor allem, das – unterschiedlich tief – erschütterte Gefühl von Sicherheit, Kontrolle und Vertrauen wieder aufzubauen. Im Fall von hate crimes haben, so Craig-Henderson (2009: 22), diese Prozesse eine besondere Qualität.28 Da sich der Angriff auf zur Person gehörende Merkmale beziehe, könnten sich die Betroffenen nicht damit trösten, dass es „jedem hätte passieren können“. Stattdessen führe der Botschaftscharakter der Tat dazu, dass Betroffene, die als Stellvertreter_innen einer Gruppe angegriffen wurden, in besonderer Weise fürchten müssten, wiederholt verletzt zu werden (vgl. auch Herek und Kolleg_innen 1997; McDevitt und Kolleg_innen 2003). Angriffe niedriger Intensität könnten für Betroffene aufgrund des Wissens um brutale Angriffe auf die eigene Gruppe als überaus bedrohlich erlebt werden. Da sich der Angriff auf zu ihrer Person

28 Craig-Henderson bezieht sich auf rassistische hate crimes. In Bezug auf homophobe hate crimes macht z.B. Tiby (2009) ähnliche Beobachtungen.

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gehörende Merkmale richte, sei die Gewalterfahrung in besonderer Weise an das ‚Selbst‘ der Betroffenen gebunden, welches durch die Gewalt als ‚anders‘ markiert werde. So könne die Gewalt zu einem negativen Verhältnis zur eigenen ‚Identität‘ führen (Craig-Henderson 2009: 22). „Because antigay hate crimes represent attacks on victims’ gay identities and their community, it is more likely that such crimes affect victims’ feelings about themselves as gay individuals and their feelings toward the gay community.“ (Herek und Kolleg_innenn 1997: 196-197) Als wesentliche Dimension für die Qualität der Gewalterfahrung wird hervorgehoben, dass diese in alltägliche Formen von Diskriminierung und Stigmatisierung eingebettet ist. Die Gewaltausübung ist damit verbunden, dass den Betroffenen negative Eigenschaften zugeschrieben werden, welche die Gewaltausübung legitimieren. Bryant-Davis und Ocampo (2005), Carter (2007) sowie Sue (2010) führen aus, dass die alltägliche Konfrontation mit (rassistischer) Diskriminierung als potenziell traumatische Situation zu begreifen ist. Die Allgegenwärtigkeit von Diskriminierung vertiefe das Gefühl des Ausgeliefertseins. „Because victims of racist hate crimes are often the targets of extremely negative stereotypes, these victims may feel particularly powerless.“ (Craig-Henderson/Sloan 2003: 485) Die lange Geschichte rassistischer Gewalt und Diskriminierung und die tiefe gesellschaftliche Verankerung rassistischer Kultur scheinen die Tat zu legitimieren und können dazu führen, dass eine Konfrontation mit erneuter Gewalt und Diskriminierung als unausweichlich erlebt wird. So sei für die subjektive Erfahrung rassistischer Gewalt und Diskriminierung von Bedeutung, dass die Betroffenen wiederkehrend mit Diskriminierung in unterschiedlichen Bereichen – u.a. im Zusammenhang mit Wohnen, dem Justizsystem und dem Zugang zum Arbeitsmarkt – konfrontiert sind und Rassismus in alltäglichen Begegnungen in unterschiedlicher Intensität erleben (Craig-Henderson 2009: 22). Ein Unterschied zwischen rassistischen und homophoben hate crimes besteht in der unterschiedlichen Sichtbarkeit der Merkmale, die Anlass zur Gewalt sind. So beschreiben Craig-Henderson und Sloan (2003), dass das Spezifische an rassistischer Gewalt ist, dass sie sich auf einen unveränderlichen und äußerst sichtbaren Aspekt der Identität bezieht. Daraus resultiere eine besondere Qualität des Ausgeliefertseins. Tiby (2009: 39-45) beschreibt, dass als Folge homophober Gewalt Betroffene versuchen, ihre Homosexualität zu verbergen, und sie die Gewalterfahrung geheim halten. Gewalt gegen ‚Alternative‘ oder politisch ‚gegen rechts‘ Engagierte ist ein wesentlicher Gegenstand der OBS, wird aber in der Regel nicht als hate crime verstanden. Entsprechend sind die subjektiven Folgen von Gewalt, die sich auf die subkulturelle Zugehörigkeit oder politische Überzeugung richtet, bislang kaum erforscht. Eine Ausnahme stellt Garland (2010) dar, der argumentiert, dass auch Angriffe auf bestimmte (Jugend-)Kulturen als hate crimes verstanden werden können, und der erste Forschungsergebnisse zur subjektiven Bedeutung der Gewalterfahrung vorgelegt hat (Garland/Chakraborti 2015). Garland und Chakraborti beschreiben Erfahrun-

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gen von ‚Alternativen‘ bzw. Angehörigen von (jugendlichen) Subkulturen, die aufgrund ihrer äußeren Erscheinung Angriffen ausgesetzt waren, deren Intensität von verbalen Anfeindungen über körperliche Angriffe geringer Intensität, wie das Werfen von Eiern oder Schubsen, bis hin zu Gewalt mit massiven körperlichen Folgen reicht. Auch hier wird der wiederkehrende Charakter von verbalen Anfeindungen und tätlichen Angriffen als die zentrale Erfahrungsdimension beschrieben. „Some participants spoke of the troubling impact of the ‚drip drip‘ effect of constant harassment“ (ebd.: 1073). Nach der Erfahrung körperlicher Gewalt führt die Angst vor erneuten Angriffen in vielen Fällen zu Verhaltensveränderungen: Betroffene in Garlands Studie beschreiben, dass sie seit einem Angriff z.B. bestimmte Plätze und Straßen meiden, abends und nachts eher mit dem Taxi oder dem eigenen Auto fahren, dass sie in alltäglichen Situationen besonders vorsichtig und schreckhaft reagieren, z.B. aus Angst verfolgt zu werden, sich immer wieder umblicken (ebd). Im Unterschied zu den in Bezug auf homophobe Gewalt beschriebenen Folgen geben alle Befragten in dieser Studie an, dass eine ‚Normalisierung‘ ihrer äußeren Erscheinung für sie als Umgangsstrategie mit der Gewalt nicht in Betracht komme, und sie sich ihrer jeweiligen Subkultur eher stärker zugehörig fühlten. Stattdessen fällt auf, dass die Betroffenen eine deutliche Abgrenzung der eigenen subkulturellen Gruppe von der Gruppe, der sie die Täter_innen zurechnen, vornehmen. In Garlands Studie bezeichnet die überwiegende Zahl der Befragten die Täter_innen als Clavs und nutzt damit einen im britischen Kontext verbreiteten abwertenden Begriff für junge Angehörige der weißen Unterschicht, die mit unsozialem Verhalten, Gewalt und schlechtem, vulgärem Geschmack in Verbindung gebracht werden (ebd.: 1075). Hate Crimes wirken hier, aufgrund der sozialen Lage von Täter_innen und Betroffenen nicht, wie in der von Perry vertretenen Perspektive, als Bekräftigung gesellschaftlicher Machtverhältnisse, bei der die Betroffenen auf ihre untergeordnete Position verwiesen werden. Im Feld der hate-crime-Forschung richten viele Arbeiten ihre Aufmerksamkeit darauf, Gemeinsamkeiten der Gewalt gegen unterschiedliche Betroffenengruppen (Betroffene rassistischer, homophober, behindertenfeindlicher etc. Gewalt) herauszustellen. Zu wenig seien allerdings bislang die Unterschiede der psychischen Folgen für die Betroffenen, zwischen verschiedenen Betroffenengruppen sowie zwischen Individuen innerhalb einer Betroffenengruppe, in den Blick genommen worden (Chakraborti 2015: 17). Ein umfassendes Verständnis, so hat Blee (2007) konstatiert, muss nicht nur in den Blick nehmen, dass die Täter_innen mit der Verübung von hate crimes unterschiedliche Ziele verbinden, sondern auch, dass die Botschaft der Gewalt von Betroffenen durchaus unterschiedlich aufgenommen werden kann. So könne race als tatauslösendes Moment nicht von anderen Dimensionen der gesellschaftlichen Lage der betroffenen Personen isoliert werden. Zum Beispiel sei die jeweilige

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Bedeutung von race je nach sozialer Klassenzugehörigkeit und Status, lokaler Eingebundenheit, Alter und Geschlecht unterschiedlich geformt, so dass die Gewalt vor diesem Hintergrund unterschiedliche Konsequenzen habe.29 In ähnlicher Stoßrichtung wurde in jüngerer Zeit verstärkt problematisiert, dass mit dem Konzept hate crime homogene Betroffenengruppen konstruiert würden. So beschreibt Mason-Bish (2010: 64-66; 2015) das Konzept als ‚silo approach‘, in welchem von eindeutigen, festgefügten (Opfer-)Identitäten ausgegangen wird. Das gehe aber an der Realität vieler hate crimes vorbei, deren Bedeutung für die Betroffenen mit vielfältigen Bezügen und z.T. ambivalenten Verortungen und gesellschaftlichen Zuschreibungen zusammenhänge. Auch Meyer (2010) argumentiert für die Notwendigkeit einer intersektionalen Perspektive in der Analyse von homo- und transphoben hate crimes. Nicht nur die sexuelle Identität, sondern ebenso das Geschlecht der Betroffenen und deren Lage in rassistischen Verhältnissen seien für das Zustandekommen der Gewaltsituation und für die subjektiven Folgen für die Betroffenen relevant. Insbesondere müsse aber die – bislang zu wenig beachtete – zentrale Bedeutung der ökonomischen Lage von Täter_innen und Betroffenen in die Analyse einbezogen werden (Chakraborti 2015: 18).

2.4

T RAUMA ALS PSYCHOLOGISCHES K ONZEPT ZUM V ERSTÄNDNIS SUBJEKTIVER G EWALTFOLGEN

Trauma ist das zentrale psychologische Konzept, um die Folgen einer Gewalterfahrung zu beschreiben und zu verstehen. Viele der in den letzten Kapiteln genannten Studien beziehen sich explizit oder implizit auf dieses Konzept. Allerdings gibt es mehrere Stränge in der Traumaforschung, die mit unterschiedlichen und zum Teil konträr gegenüberstehenden Traumakonzepten verbunden sind. 2.4.1

Die Entwicklung der Traumatheorien als Geschichte des Kampfes um Anerkennung

Traumatisierung fand als Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) bzw. Posttraumatic Stress Disorder (PTSD)30 erstmals 1980 in das Diagnosemanual der American Psychiatric Association (APA), das damals verwendete DSM (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders) II, Eingang und ist damit eine noch junge psychi-

29 Blee formuliert hier ein Forschungsprogramm. Inhaltlich führt sie allerdings nicht aus, inwiefern sich die soziale Lage etc. auf die subjektive Erfahrung der Gewalt konkret auswirkt. 30 Im Folgenden werden beide Abkürzungen synonym gebraucht.

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atrische Diagnose. Die Versuche, ein Verständnis für die Zusammenhänge von psychischen Beeinträchtigungen und vorausgegangenen Erfahrungen von Gewalt, Katastrophen und massiven Bedrohungssituationen zu entwickeln, reichen jedoch weiter zurück. Die Geschichte der Theorieentwicklung ist dabei von Diskontinuitäten und Brüchen gekennzeichnet. Phasen intensiver Forschungstätigkeit brachen plötzlich ab, die Ergebnisse wurden vergessen. Hintergrund für die „periodische Amnesie“ (Herman 1994: 17) ist, dass die Auseinandersetzung mit psychischen Traumata immer in Verbindung steht mit den historischen und gesellschaftlichen Verhältnissen, in denen die Traumata stattfinden. Die Diagnose PTSD hebt sich von anderen Diagnosen im psychiatrischen Klassifikationssystem ab, da hier per Definition von einem äußeren Ereignis als Ursache ausgegangen wird. Damit ist die Frage nach dem Verständnis der psychischen Folgen traumatischer Ereignisse immer auch verbunden mit der Frage nach der gesellschaftlichen Verantwortung für das entstandene Leid. Es werden verschiedene Vorläufer heutiger Traumakonzepte genannt:31 Ende des 19. Jahrhunderts beschrieb der Arzt John Eric Erichsen Symptome, die heute einer PTSD zugeordnet werden, bei Überlebenden eines Zugunglücks als railroad spine syndrome (vgl. Rafailovic 2005: 35). Zur gleichen Zeit wurden Beschwerden von Soldaten im amerikanischen Bürgerkrieg – unkontrolliertes Schreien und Weinen, emotionale Erstarrung und Empfindungslosigkeit, Ausfall von Sinnesorganen und Bewegungsstörungen – zum gesellschaftlichen Problem, weil während des Krieges Soldaten ausfielen und noch Jahre nach dem Krieg Veteranen unversorgt und schwer geschädigt durch das Land zogen. Die Auseinandersetzung um die Anerkennung ist in beiden Fällen von Anschuldigungen gegen die Betroffenen geprägt: Den Betroffenen von Unfällen wurde unterstellt, sich Rentenleistungen erschleichen zu wollen, und betroffene Soldaten wurden als Schwächlinge und Simulanten bezeichnet, die weiteren Kriegshandlungen entgehen wollten. Das Problem der umherirrenden Veteranen nach dem amerikanischen Bürgerkrieg ließ sich jedoch nicht verleugnen, so dass auf gesellschaftlichen Druck hin schließlich ein Militärhospital eingerichtet wurde (vgl. Lützel 1999: 5). Die Folgen von Kriegen blieben wesentlicher Kontext der Entwicklung von Traumatheorien:32 Einen erneuten Aufschwung erfuhr die Traumaforschung während des Ersten Weltkrieges. „In erschreckend hoher Zahl brachen die Männer zusammen, die in Schützengräben die Schrecken des Krieges erlebt hatten. [...] sie schrien und weinten unkontrolliert, sie erstarrten und

31 Ausführlicher dargestellt ist die Geschichte der Diagnose bei Rafailovic (2005) sowie Schriefers (2007), auf die sich auch die folgende Darstellung im Wesentlichen stützt. 32 Die Auseinandersetzung mit den Folgen sexualisierter Gewalt bei Freud und Janet als zweite Linie der Entwicklung einer Traumtheorie kann hier nicht behandelt werden.

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konnten sich nicht mehr bewegen, sie wurden stumm und reagierten nicht mehr. Sie verloren ihr Gedächtnis und die Fähigkeit, Gefühle zu empfinden.“ (Herman 1994: 34)

Da sich die Symptome, die als ‚Shellschock‘ oder ‚Schützengrabenneurose‘ bezeichnet wurden, nicht verleugnen ließen, wurden die Ursachen in der Persönlichkeit der Soldaten gesucht. Die ‚Behandlung‘ setzte darauf, die Betroffenen heftig anzugreifen, sie als faul und feige zu bezeichnen und mit dem Militärgericht zu drohen (ebd.: 35). Nach Ende des Krieges brachen begonnene Forschungen zu den Hintergründen der ‚Kriegsneurose‘ wieder ab. Erst gegen Ende des zweiten Weltkrieges wendeten sich amerikanische Militärpsychiater_innen dem Problem auffälliger Soldaten nach Kampfeinsätzen erneut verstärkt zu (ebd.: 40). „Ziel war, eine schnelle und wirksame Behandlungsmethode für jene Soldaten zu entwickeln, welche mit Stressreaktionen auf das Kampfgeschehen reagierten, damit sie schnell wieder im Krieg eingesetzt werden konnten.“ (Rafailovic 2005: 39). Erstmals wurde allerdings erkannt, dass Schuldvorwürfe und die Stigmatisierung betroffener Soldaten nicht zielführend in der Behandlung waren. Nach dem zweiten Weltkrieg war die Shoa Anlass, sich mit den psychischen Folgen des Terrors des Nationalsozialismus zu befassen. Es entstanden als Diagnosebegriffe ‚survivor syndrom‘ oder ‚KZ-Syndrom‘. Eine offizielle Anerkennung der Leiden wurde den Betroffenen in der Regel verwehrt (Lützel 1999: 12). Die Forschungen zu den Auswirkungen der Shoa – als wichtige Vertreter sind Bettelheim, Khan, Matussek, Kardiner, Eitinger und Keilson33 zu nennen – standen mehrheitlich in psychoanalytischer Tradition, haben aber kaum Eingang in psychiatrische Diagnosen gefunden (vgl. Rafailovic 2005: 40). Eingang in die Klassifizierung psychiatrischer Diagnosen fand die PTSD schließlich im Zusammenhang mit den psychischen Problemen von Veteranen des Vietnamkrieges. Wieder standen im Mittelpunkt des Interesses die psychischen Folgen von Soldaten, die aktiv am Krieg teilgenommen und damit Leid verursacht hatten, und nicht die der zivilen Opfer. Anders als zuvor ging der Impuls der Forschung hier jedoch nicht von Militärpsychiater_innen aus, die das Ziel verfolgten, Soldaten wieder einsatzfähig zu machen, sondern von Selbsthilfegruppen von Veteranen, die die Forderung nach Anerkennung ihres Leidens mit der Kritik an der grundsätzlichen Unmenschlichkeit des Krieges verbanden (Herman 1994: 42-44). „Die moralische Überzeugungskraft der Antikriegsbewegung und die nationale Erfahrung der Niederlage in einem nicht zu rechtfertigenden Krieg hatten es möglich gemacht, dass psychische Traumata als dauerhafte und unvermeidliche Spätfolgen des Kriegs anerkannt wurden. 1980 war das charakteristische Syndrom des psychischen Traumas mit der Aufnahme in das DSM II zum ersten Mal eine ‚richtige‘ Diagnose.“ (Ebd: 44)

33 Auf Hans Keilsons Traumaforschung gehe ich unter 2.4 ein.

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Im aktuell geltenden ICD-10,34 dem in Deutschland bevorzugten Diagnosemanual, wird PTSD unter F43 klassifiziert als „Reaction to severe stress, and adjustment disorders“ (WHO 2015). Dabei wird unterschieden zwischen akuten Stressreaktionen (F43.0), Posttraumatischen Belastungsstörungen (F43.1) und Anpassungsstörungen (F43.2). Von einer PTSD wird gesprochen, wenn nach einem traumatischen Ereignis die Betroffenen 1. unter dem beharrlichen Wiedererleben des Ereignisses auch in Form von ‚flashbacks‘ oder Alpträumen leiden, sie 2. Situationen vermeiden, die an das Ereignis erinnern könnten und 3. anhaltende Symptome erhöhter Erregtheit (‚Hyperarousal‘) zeigen.35 2.4.2

Kritik am Konzept der Posttraumatischen Belastungsstörung: Pathologisierung und Entkontextualisierung

Die Etablierung der Diagnose PTSD in den Klassifikationssystemen kann als Erfolg von Betroffenen von Kriegsunrecht, sexualisierter Gewalt und Katastrophen im Kampf um Anerkennung des Leides verstanden werden. Dieser Erfolg ist allerdings zweischneidig. Die Diagnose PTSD bewegt sich im Spannungsfeld zwischen der Anerkennung psychischer Leiden aufgrund von äußeren traumatischen Ereignissen und der Stigmatisierung und Pathologisierung „derer, die an durchaus bestimmbaren und benennbaren Verhältnissen in einer Gesellschaft leiden." (Rafailovic 2005: 49) Das Konzept der PTSD ist von verschiedener Seite als praktisch nutzlos für die therapeutische bzw. – allgemeiner – unterstützende Arbeit mit Betroffenen und sogar als schädlich kritisiert worden. In der folgenden Zusammenfassung der Kritik beziehe ich mich insbesondere auf den Psychoanalytiker David Becker.36 Becker (2006: 185187) problematisiert, dass in der Diagnose PTSD nicht zwischen verschiedenen Arten der traumatischen Erfahrung differenziert wird. Die Situation, die das Trauma

34 Die Diskussionen und Veränderungen in der Formulierung der Diagnosekriterien im Zuge der Weiterentwicklung der Klassifikationssysteme beschreiben Lützel (1999) und Rafailovic (2005). 35 Dazu ausführlich: WHO (2015); American Psychiatric Association (2013) sowie Fischer und Riedesser (2003). 36 Becker hat sein Traumaverständnis vor dem Hintergrund seiner therapeutischen Arbeit mit politisch Verfolgten während der Militärdiktatur in Chile entwickelt (Becker 1992). Später beschäftigte er sich mit traumatischen Prozessen in verschiedenen Kriegs- und Krisengebieten sowie im Kontext von Flucht und Asyl.

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verursacht, werde generalisierend ausschließlich als außerordentlich starker Stressreiz verstanden. Damit, so Brenssell (2014: 128-132),37 findet eine Naturalisierung der Gewalt statt. Man made desaster erschienen genauso unvermeidlich wie natural desaster. Für die subjektive Bewältigung sei es aber durchaus relevant, ob das erschütternde Ereignis eine von Menschen aktiv herbeigeführte Situation, wie Vergewaltigung oder Folter, sei oder eine Naturkatastrophe. Wenn ein Trauma als außerordentlich starker Stressreiz verstanden werde, dann werde die gesellschaftliche Situation, die das Trauma hervorgerufen hat, ent-nannt. So werde die Bearbeitung des Traumas zu einer Frage der Bewältigungsmöglichkeiten der Individuen. In den Blick kämen Vulnerabilitätsfaktoren und Resilienz, die in der Regel als individuelle ‚Ausstattung‘ der Betroffenen gefasst würden (ebd.: 129-130). Damit, so Becker (2006: 185), werden nicht nur die sozial-politischen Dimensionen ignoriert, sondern zugleich soziale und politische Probleme in psychopathologische umgewandelt. Die Betroffenen würden als ‚gestört‘ stigmatisiert, ohne dass die gesellschaftspolitischen Ursachen des Leidens anerkannt würden. Die Diagnose PTSD orientiert sich an den Symptomen, die Betroffene von Gewalterfahrungen oft zeigen. Der Vorteil der PTSD-Konzeption liegt damit darin, dass häufig auftretende Symptome in Gruppen zusammengefasst werden können, womit das Erkennen einer Traumatisierung erleichtert wird. Allerdings verstellt der Fokus auf Symptome im Diagnosesystem den Blick auf Zusammenhänge, Ursachen und Prozesse der psychischen Verletzung. Die Anwendung der Diagnose PTSD ermöglicht kein Verständnis der Ursachen und Prozesse, in denen die Symptome auftreten, so Becker (ebd.: 185-187). Das Auftreten der Symptome und deren Bedeutung für die subjektive Befindlichkeit und Lebensführung könnten variieren. Weitere, nicht genannte Symptome (z.B. der Zusammenbruch der familiären Strukturen, eingeschränkte Arbeitsfähigkeit) könnten wesentlicher für das Leid der Betroffenen sein als typische PTSD-Symptome wie Ein- und Durchschlafstörungen (ebd.). Auch wird kritisiert, dass das beschriebene Störungsbild kulturspezifische Annahmen enthalte, welche die Frage nach der Relevanz des Konzeptes für die nicht-westliche Welt aufwerfe (vgl. Bracken/Giller/Summerfield 1995). Die Tatsache, dass Symptome von PTSD in sehr verschiedenen kulturellen Settings festgestellt werden können, heiße nicht, dass sie immer die gleiche Bedeutung hätten. Becker (2006: 185) führt als weiteren Kritikpunkt an, dass das Konzept vorgibt, dass es sich um vergangene, abgeschlossene Ereignisse handelt, die ein Trauma verursachen. Zwar sei in der ICD formuliert, dass die traumatische Situation nicht ein einzelnes Ereignis sein müsse, sondern auch eine länger anhaltende Situation sein könne. Es werde aber von einem bestimmbaren, in der Vergangenheit liegenden, Zeitraum ausgegangen. Anhaltende, sich wiederholende traumatische Situationen und die prozesshafte Entwicklung der

37 Brenssell entwickelt ihre Überlegungen zum Traumakonzept in Bezug auf die Erfahrung sexualisierter Gewalt.

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psychischen Folgen für Betroffene könnten damit nicht erfasst und verstanden werden. Als letzten zentralen Kritikpunkt nennt Becker (ebd.:186), dass das Konzept der PTSD als individuelle Diagnose konzipiert und damit nur begrenzt in der Lage ist, die Folgen traumatischer Ereignisse für Angehörige, z.B. von Opfern politischer Verfolgung, zu verstehen. Summerfield (1997) kritisiert den durch den ‚Traumadiskurs‘ verschobenen Blick auf die Bedürfnisse von Menschen in Kriegs- und Krisengesellschaften. Er beschreibt, dass von internationalen (Hilfs-)Organisationen Kriege – beispielhaft sind hier die Kriege im ehemaligen Jugoslawien – als mental-health-Problem verhandelt und therapeutische Angebote aufgebaut werden, während die politischen und ökonomischen Zusammenhänge weitgehend vernachlässigt werden.38 Damit würden politische Zusammenhänge pathologisiert. Den Betroffenen werde ‚Behandlung‘ angeboten, während die Zerstörung der sozialen und ökonomischen Grundlagen des Lebens de-thematisiert werde. Folgt man dieser Kritik, dann bedeutet das für das Verständnis der Folgen rechter und rassistischer Gewalt, dass mit dem Konzept PTSD weder die Bedeutung des spezifischen diskriminierenden Hintergrundes der Tat noch die Umstände der Verübung der Tat in den Blick kommen. Um die unterschiedlichen Reaktionen der Betroffenen auf die Gewalterfahrung zu erklären, wird nur die Schwere der Gewalt und die individuellen Bewältigungsmöglichkeiten, die Disposition der Betroffenen, als relevant betrachtet. Die politische Bedeutung von rechter und rassistischer Gewalt, die Botschaft der Gewalt, die weit über die direkt Betroffenen hinausweist, die gesellschaftlichen Bedingungen und die konkreten Lebenssituationen der Betroffenen, in denen die Gewalt ihre Bedeutung entfaltet, bleiben mit dem Konzept PTSD unbeachtet, während die Betroffenen der Gewalt zu behandlungsbedürftigen Patient_innen werden. Die Anerkennung des Leidens von Menschen, die Gewalt und Verfolgung erfahren haben, durch die Diagnose PTSD hat also einen hohen Preis: Das Verständnis der konkreten Leidenserfahrung der Betroffenen in ihren psychosozialen und gesellschaftlichen Zusammenhängen ist eher verstellt als erleichtert. Statt Anerkennung des Unrechts, welches das Leiden verursacht, erfahren die Betroffenen, dass sie zu Patient_innen gemacht werden. Statt die gesellschaftliche Situation zu verändern, in der das Leid stattfindet, werden die Betroffenen medizinisch-psychiatrisch behandelt,39 damit sie innerhalb der gesellschaftlichen Bedingungen wieder funktionieren.

38 Zentraler Kritikpunkt bei Summerfield ist dabei auch der neo-kolonialistische Aspekt des Nord-Süd-Transfers westlicher (Krankheits-)Konzepte. 39 Brenssell (2014: 132-134) zufolge genießen hier gerade solche Behandlungsmöglichkeiten Popularität, die auf rein neurobiologischer Ebene ansetzen und schnelle Erfolge versprechen. Sie nennt hier als Beispiel die Narrative Expositionstherapie.

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Bedeutet nun aber die Kritik an der Individualisierung und Psychologisierung sozial-politischer Problemstellungen, dass die Bearbeitung dieser Probleme nur auf politischer Ebene möglich ist? Becker (2006) argumentiert, dass es notwendig ist, die individuellen, psychischen Folgen von Krieg, Verfolgung, Zerstörung und Gewalt in den Blick zu nehmen, ohne sie aus dem politischen Zusammenhang herauszutrennen. Die spannungsreiche Verbindung zwischen den individuellen, psychischen und den gesamtgesellschaftlichen Prozessen lasse sich nicht einfach auflösen. „Behandelt man Trauma als rein intrapsychischen Prozess, verleugnet man die gesellschaftlichen Dimensionen. Spricht man ausschließlich von den politischen und kollektiven Aspekten, verleugnet man die reale individuelle Wunde.“ (Ebd.: 178) Gegenüber dem Mainstream des medizinischen, symptomorientierten Traumabegriffs sei daher ein konzeptioneller Neuanfang notwendig, der über die engen fachlichen Grenzen hinausweise und akzeptiere, dass das Trauma „individuelle und sozialpolitische Dimensionen hat, die sich nicht bruchlos miteinander erfassen lassen, und dass es an spezielle Zusammenhänge gebunden ist.“ (Ebd.: 178-179) 2.4.3

Individuelle traumatische Prozesse im gesellschaftlichen Zusammenhang verstehen

Wesentlicher Bezugspunkt für ein Traumakonzept, welches individuelle psychische Folgen von Gewalt und Verfolgung nicht von den sozialen und politischen Zusammenhängen trennt, ist für Becker das von Hans Keilson (2005) entwickelte Konzept der ‚sequentiellen Traumatisierung‘. Der jüdische Psychoanalytiker und Schriftsteller Hans Keilson wurde 1909 in Bad Freienwalde geboren und emigrierte 1936 in die Niederlande, wo er nach der Okkupation durch das nationalsozialistische Deutschland im Untergrund lebte. Nach der Befreiung setzte er seine Ausbildung zum Psychoanalytiker fort und promovierte schließlich mit einer Studie über jüdische Waisen in den Niederlanden, die 1979 erschienen ist. Der wegweisende Stellenwert des Konzeptes der ‚sequentiellen Traumatisierung‘ ergibt sich daraus, dass Keilson nicht nur die Qualität eines auslösenden traumatischen Ereignisses einbezieht, sondern drei traumatische Sequenzen unterscheidet: „Allgemein gesprochen lassen sich im Schicksal der Verfolgten drei Phasen unterscheiden: 1) Die Beginnphase mit dem präludierenden Moment der Verfolgung; 2) Aufenthalt im Konzentrationslager oder im Versteck; 3) Nachkriegszeit mit allen Schwierigkeiten der Wiedereingliederung etc.“ (Ebd.: 56)

Die erste Sequenz wird näher charakterisiert als die Situation nach der Besetzung der Niederlande mit der schrittweisen Entrechtung und Stigmatisierung der jüdischen

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Bevölkerung, der Vernichtung ihrer ökonomischen Existenz, ihrer zunehmenden Isolierung und der langsam sich zuspitzenden und immer näher rückenden Bedrohung und der Erwartung kommender Katastrophen. Die zweite Sequenz beschreibt das direkte Erleben traumatischer Ereignisse: Dies umfasst bei einem Teil der untersuchten jüdischen Waisen Deportation und Aufenthalt in Konzentrationslagern, die damit verbundene Erfahrung der Lebensbedrohung und Rechtlosigkeit und das Ausgeliefertsein an eine feindliche Umgebung, das Erleben unfassbarer Brutalität und die Infragestellung und Vernichtung mitmenschlicher Verhaltensweisen. Die dritte traumatische Sequenz beschreibt die „Rückkehr aus der Rechtlosigkeit in rechtlich gesicherte und bürokratisch geordnete Zustände“ (ebd.: 58) der Nachkriegsperiode. In dieser Phase wurden Entscheidungen über Vormundschaft und Verbleib der Kinder getroffen, Entscheidungen, die neue Eingriffe in das Leben der Kinder bedeuteten. Keilson untersuchte in jeder dieser Phasen die traumatischen Konstellationen und deren Bedeutung für Kinder in unterschiedlichen ontogenetischen Entwicklungsstufen. Anstatt nur ein Ereignis und seine Konsequenzen zu betrachten, versteht er das Trauma mit der Einbeziehung verschiedener Sequenzen als Prozess, der auch nach der direkten Verfolgung anhält. Dadurch wird die Abfolge der verschiedenen traumatischen Sequenzen als kumulatives Traumageschehen erforscht, in dem die subjektiven Folgen der traumatischen Konstellationen in einer Phase durch die Konstellationen in anderen Phasen verstärkt oder abgeschwächt werden. In dieser Forschungsperspektive zeigte sich, dass die Zeit nach der Verfolgung, nach dem Ende der existenziellen Bedrohungssituation, für die psychischen Folgen wesentlicher war als die Art der Belastungen in der zweiten traumatischen Sequenz (ebd.: 269). Keilsons Konzept bietet sich, so Becker (2006: 189), als Rahmen an, ein Verständnis für traumatische Prozesse in unterschiedlichen Kontexten zu entwickeln. Damit könne das Modell auch für das Verständnis möglicher traumatischer Folgen rechter und rassistischer Gewalt hilfreich sein. Allerdings gebe das Konzept „nicht vor, das Trauma selbst bereits erklärt zu haben“ (ebd.), sondern fordere dazu auf, den jeweiligen gesellschaftlichen Kontext des Traumas in den Blick zu nehmen und jeweils dem speziellen historischen Prozess angepasste traumatische Sequenzen und die darin enthaltenen traumarelevanten Konstellationen zu beschreiben. Mit anderen Worten: Der Nutzen des Konzeptes liege darin, ein Modell für die Analyse traumatischer Prozesse anzubieten. „Der konkrete psychosoziale Inhalt eines solchen sequentiellen traumatischen Prozesses muss dann allerdings noch erarbeitet werden und gibt dem Trauma seine jeweilige kontextspezifische Gestalt.“ (Ebd.: 192) Keilson und daran anschließend Becker machen deutlich, dass vor allem auch das, was nach dem anfänglichen traumatischen Ereignis passiert, von entscheidender Bedeutung für die von den Betroffenen erfahrene Verletzung ist. Damit ist nicht nur die Gewalthandlung selbst Ursache des psychischen Leides, sondern sie entfaltet ihre

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Wirkung im Kontext konkreter gesellschaftlicher Konstellationen nach Ende der Gewalthandlung. So sieht auch Brenssell (2014: 141) den Vorteil des Konzeptes der ‚sequentiellen Traumatisierung‘ für das Verständnis subjektiver Folgen sexualisierter Gewalt darin, dass Trauma als gesellschaftlich vermittelter Prozess gedacht werden kann. Es ermöglicht anzuerkennen, dass die Erfahrung sexualisierter Gewalt psychische Folgen mit einer Tragweite für die Betroffenen hat, die nicht „einfach abzutun ist, die nicht einfach nachzuvollziehen und von den Betroffenen nicht einfach zu bearbeiten ist.“ (Ebd.: 125) Die Psyche ist beschädigt, es hat durch die Gewalt eine Verletzung stattgefunden, die zwar nicht offensichtlich wie eine blutende Wunde ist, aber real die Handlungsfähigkeit der Betroffenen einschränkt. Durch die von Keilson eröffnete Perspektive sind aber nicht die Menschen, die das Trauma erleben, unnormal, sondern die Verhältnisse, in denen das Trauma stattfindet. In dieser Perspektive kann das Leiden der Betroffenen zum Ausgangspunkt genommen werden, Kritik an den gesellschaftlichen Verhältnissen zu üben, die zerstörerische „Gewalt gegen andere fördern, zulassen oder gar produzieren.“ (Ebd.: 127) Becker (2006: 46-57) nennt für die therapeutische Arbeit mit traumatisierten Menschen Empowerment als wichtige Perspektive, mit der die individuelle Bewältigung und der politische Kontext miteinander verbunden und die politischen Dimensionen des Leidens nicht aus der individuellen, therapeutischen Unterstützung herausgehalten werden. In der therapeutischen Arbeit mit politisch Verfolgten der Militärdiktatur in Chile sei, so Becker, das Konzept des vinculo comprometido wesentliche Arbeitsgrundlage gewesen: Das als ‚verpflichtete Verbindung‘ zu übersetzende Konzept beschreibt eine deutlich parteiliche Haltung, die sich entschieden vom Ideal der Neutralität von Therapeut_innen abgrenzt. Eine solche bewusst nicht-neutrale Haltung habe sich als notwendige Voraussetzung einer heilenden Beziehung erwiesen. Das Konzept sei aber immer wieder mit dem Vorwurf konfrontiert gewesen, Therapie als Politikersatz zu missbrauchen. Auch die praktische Realisierung des Konzeptes habe sich konkret immer wieder als schwierig erwiesen. So sei das Konzept von manchen Kolleg_innen als Verpflichtung oder Lizenz, sich distanzlos auf die Seite der Opfer zu stellen, missverstanden und die notwendige Zurückhaltung der Therapeut_innen im therapeutischen Prozess nicht ausreichend betont worden (ebd.: 50-51).

2.5

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Auf Grundlage der in der in letzten Abschnitten geleisteten Darstellung des Forschungsstandes werde ich nun die Wahl der Begrifflichkeit für diese Arbeit darlegen und begründen. Sowohl der Begriff hate crime als auch die Begriffe rechte bzw.

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rechtsextreme Gewalt sind eng mit kriminologischen Fragen der Erfassung und Strafverfolgung verknüpft. Dabei wird auch der kriminologische und juristische Umgang mit hate crimes bzw. rechter Gewalt von den politischen (und akademischen) Auseinandersetzungen über die Bestimmung des Gegenstandes beeinflusst. In Deutschland fand 2001 eine maßgebliche Überarbeitung der polizeilichen Erfassungskriterien statt, deren Ergebnis war, dass zentral für die Einordnung als „politisch motivierte Kriminalität rechts“ nicht mehr die Gegnerschaft zum politischen System der Bundesrepublik ist, sondern auch die Ablehnung bestimmter Gruppen entsprechend der Ideologie des Rechtsextremismus. Die praktische Umsetzung des Erfassungssystems bleibt allerdings – wie seit dem NSU-Skandal vielfach festgestellt wurde – unbefriedigend. Behördliche Definitionen, die der Einordnung und Erfassung dienen, unterscheiden sich, wie dargestellt wurde, erheblich von akademischen Begriffsverständnissen. So haben sich sowohl die Rechtsextremismusforschung als auch die Rassismusforschung in Deutschland als ausdifferenzierte Forschungsfelder entwickelt, die zu einem Verständnis rechter und rassistischer Gewalt wesentlich beitragen können. Für das Verständnis des Gegenstandes ‚rechte und rassistische Gewalt‘ beziehe ich mich wesentlich auf die hate-crime-Forschung aus den USA und Großbritannien. Im Folgenden sollen zusammenfassend die begrifflichen Entscheidungen in Bezug auf den Gegenstand dieser Arbeit dargestellt werden.40 Ich spreche in dieser Arbeit von ‚rechter und rassistischer Gewalt‘. Die unter CIVITAS entstandenen OBS wählen aktuell unterschiedliche Bezeichnungen. Während manche sich als Beratungsstellen für Betroffene rechter Gewalt beschreiben und ‚rechte Gewalt‘ als Oberbegriff für Gewalt aus rassistischen, homophoben, sozialdarwinistischen Motiven und Motiven der Bekämpfung (linksgerichteter) politischer Gegner_innen verwenden, haben sich andere Beratungsstellen für eine aufzählende Nennung entschieden und nennen sich Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt. Mit dem Arbeitsbegriff ‚rechte und rassistische Gewalt‘ schließe ich mich an das Begriffsverständnis von ‚rechter Gewalt‘ als Oberbegriff an, hebe aber die über Rechtsextremismus hinausgehenden Dimensionen von Rassismus als Gewalthintergrund sprachlich hervor. Mit der Bezeichnung ‚rechte und rassistische Gewalt‘ wird meines Erachtens der tatsächlichen Praxis und konzeptionellen Ausrichtung der OBS

40 Für die Praxis der OBS ist die Frage der Begriffe vor allem als strategisch-politische Entscheidung relevant. Hier steht zur Debatte, ob hate crime als internationaler Begriff und ohne die begriffliche Anbindung an den Rechtsextremismus im deutschen System zu einer systematischeren Erfassung und Wahrnehmung entsprechender Gewalt führen würde. Dies hängt maßgeblich daran, wie der bislang nicht etablierte Begriff inhaltlich gefüllt wird. Diese strategisch-politischen Fragen können und müssen für diese Arbeit aber nicht geklärt werden.

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Rechnung getragen: In ihrer Praxis nimmt die Beratung von alternativen Jugendlichen und politisch Aktiven, die von – mehr oder weniger organisierten – Rechtsextremen verletzt worden waren, sowie von Betroffenen rassistischer Gewalt den größten Stellenwert ein. In der Beschreibung des Gegenstandes dieser Arbeit ist zudem der Begriff ‚Opfer‘ problematisch. So ist er mit Schwäche, Inkompetenz, Ohnmacht, Hilflosigkeit, Inaktivität, Lebensuntüchtigkeit, Versagen verbunden und damit negativ besetzt und wirkt stigmatisierend. Gerade für die Perspektive der Bewältigung einer Gewalterfahrung ist der Begriff problematisch, weil er die Gefahr der Festschreibung auf eine passive und hilflose Rolle birgt. Der im Englischen verwendete Begriff ‚survivor‘ stellt dagegen die aktive Bewältigungsleistung in den Vordergrund. Kritisch eingewendet werden kann dagegen, dass Unterdrückungs- und Gewaltverhältnisse durch die Nichtbenennung von Täter_innen und Opfern beschönigt werden und dass gerade der moralisch aufgeladene Begriff des Opfers notwendig ist, um ‚Gerechtigkeit für die Opfer‘ als gesellschaftlichen Handlungsbedarf einzufordern. Anschließend an die Kritik am Begriff ‚Opfer‘ spreche ich in dieser Arbeit von ‚Betroffenen‘41 und verwende den Begriff ‚Opfer‘ nur in der Rezeption viktimologischer Theorien, die den Begriff verwenden, sowie in der Beschreibung von Rollen in juristischen Verfahren (z.B. Opferzeuge). Während Blee (2005: 606-607) als Forschungsperspektive einen explizit weiten Begriff von rassistischer Gewalt vorschlägt, der sich an den Folgen für die Betroffenen orientiert und psychologische, ökonomische, soziale, symbolische und kulturelle Konsequenzen einbezieht, verwende ich in dieser Arbeit in Anlehnung an die OBS einen engen Gewaltbegriff. Die OBS definieren (als Erfassungskriterium für die Chronologie) rechte und rassistische Gewalt in Orientierung an juristischen Bestimmungen als „Straftaten, mit denen eine körperliche Schädigung von Personen beabsichtigt oder vollendet wurde, Sachbeschädigungen und Brandstiftungen, wenn diese indirekt auf eine Schädigung bestimmter Personengruppen abzielen (sowie) Nötigungen und Bedrohungen mit erheblichen Folgen für das Opfer.“ (Opferperspektive o.J., Spiegelstriche entf., GK)42

41 Die Beratungsstellen für Opfer rechter Gewalt bezeichnen sich inzwischen selbst oft als Beratungsstellen für Betroffene rechter Gewalt. 42 Auch der Begriff von hate crimes ist weiter gefasst als die Definition der OBS und beinhaltet jegliche Straftaten, so z.B. Sachbeschädigungen. Inwiefern diskriminierende Sprache und Kommentare im Internet als hate crimes zu verfolgen sind, wird debattiert. In England wird zwischen crimes und incidents unterschieden, um auch Vorfälle zu erfassen, die nicht als Straftaten gelten.

R ECHTE UND

RASSISTISCHE

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Einer solchen pragmatischen Definition steht ein sozialwissenschaftlicher Gewaltbegriff gegenüber, der vor allem die Vielschichtigkeit des Phänomens betont (vgl. Imbusch 2002). So wird von personeller, kollektiver, staatlicher oder struktureller Gewalt gesprochen, von physischer, psychischer oder symbolischer Gewalt unterschiedlicher Intensität. So kann der enge Gewaltbegriff, der eine direkte und intentionale physische Verletzung oder andere Zwangseinwirkung von Personen zu Person beinhaltet, in verschiedener Weise erweitert werden, um die Vielgestaltigkeit von Gewalt zu berücksichtigen (ebd.: 34). Von besonderer Bedeutung ist der von Johan Galtung (1975) eingeführte Begriff der strukturellen Gewalt. Im Gegensatz zu direkter personaler Gewalt, in der Täter und Opfer eindeutig zu bestimmen sind, wird strukturelle Gewalt nicht von einzelnen Personen verübt, sondern durch gesellschaftliche Strukturen oder Organisationen verursacht, durch die die Lebensmöglichkeiten von Menschen eingeschränkt werden. So beschreibt der Friedensforscher Galtung dauerhafte extreme Armut aufgrund globaler Ausbeutung und Umweltzerstörung als Formen struktureller Gewalt. Von kultureller Gewalt spricht Galtung in Bezug auf jene kulturellen Praxen, die der Legitimierung personaler und struktureller Gewalt dienen, so z.B. rassistische Ideologien, die die Brutalität gegenüber Sklav_innen oder die strukturelle Armut von Roma und Sinti legitimieren. Den engen Zusammenhang, den Galtung zwischen direkten, strukturellen und kulturellen Formen von Gewalt sieht, symbolisiert er durch ein Dreieck, in welchem direkte Gewalt als sichtbare Spitze auf dem Fundament struktureller und kultureller Gewalt dargestellt wird. Dem Begriff der kulturellen Gewalt ähnlich ist der von Pierre Bourdieu (1993: 202) eingebrachte Begriff der symbolischen Gewalt, die dazu dient, Herrschaftsverhältnisse und die ihnen innewohnende Gewalt zu verschleiern (vgl. Imbusch 2002: 40-41) sowie der von Spivak (2008) geprägte Begriff der ‚epistemischen Gewalt‘. Ein solches erweitertes Gewaltverständnis ist wesentlich für die Entwicklung eines feministischen Gewaltbegriffs sowie für postkoloniale und rassismuskritische Analysen. Gemeinsam ist den Begriffen, dass sie die Gewaltförmigkeit gesellschaftlicher Strukturen, die auf der Ebene ökonomischer Verhältnisse, sprachlicher und kultureller Repräsentation analysiert werden, in wechselseitigem Zusammenhang mit individueller Ausübung und Erfahrung von Gewalt fassen. Auch für diese Arbeit ist ein Verständnis von Gewalt notwendig, welches direkte, personale Gewalt im Zusammenhang mit gesellschaftlichen Verhältnissen begreift. Neben der pragmatischen Entscheidung für den Begriff, den die OBS für die Dokumentation von Gewalttaten und damit politisch-strategisch nutzen, sprechen auch inhaltliche Gründe für die Nutzung eines engeren Gewaltbegriffs, der sich auf direktes personales Handeln und Erfahren bezieht. Nur eine analytische Trennung zwischen Machtverhältnissen auf der Ebene gesellschaftlicher Strukturen und Bedeutungen und individuellem Denken, Handeln und Fühlen ermöglicht es, deren Zusammenhang zu analysieren, ohne Letzteres als durch Ersteres vollständig determiniert zu begreifen. So sind, wenn im Folgenden von Fällen rechter oder rassistischer Gewalt

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die Rede ist, direkte körperliche Angriffe, massive Beleidigungen und Bedrohungen sowie Sachbeschädigungen mit konkreten schädigenden Auswirkungen auf direkt Betroffene gemeint. Für das Verständnis des Zustandekommens und viel mehr noch der Bedeutung dieser Gewalt für die Betroffenen werden der gesellschaftliche Kontext der Gewalt sowie die sich in Institutionen, Diskursen und alltäglichen kulturellen Praxen manifestierenden gesellschaftlichen Machtverhältnisse in die Analyse einbezogen.

3 Soziale Arbeit an der Schnittstelle zwischen Individuum und Gesellschaft oder die Frage nach dem Politischen in der Sozialen Arbeit

3.1

I NDIVIDUUM UND G ESELLSCHAFT S OZIALER ARBEIT

ALS

K ERNPROBLEM

Das Verhältnis von individueller und politischer Dimension berührt ein Kernproblem Sozialer Arbeit, deren Gegenstand von der International Federation of Social Workers (IFSW) wie folgt definiert wird: „The social work profession promotes social change, problem solving in human relationships and the empowerment and liberation of people to enhance well-being. Utilising theories of human behaviour and social systems, social work intervenes at the points where people interact with their environments. Principles of human rights and social justice are fundamental to social work.“ (IFSW 2012)

Diese doppelte Perspektive findet sich auch in anderen Bestimmungsversuchen. So definiert Böhnisch Soziale Arbeit als „gesellschaftlich institutionalisierte Reaktionen auf typische psychosoziale Bewältigungsprobleme in der Folge gesellschaftlich bedingter sozialer Desintegration.“ (Böhnisch 2014: 27) Laut Herrmann hat sich in der durchaus kontrovers geführten Debatte über den Gegenstand Sozialer Arbeit weitgehend durchgesetzt, „ihre Funktion und Aufgaben an der Schnittstelle zwischen Subjekt und Gesellschaft anzusiedeln.“ (Herrmann 2016: 245) Auf welche gesellschaftstheoretische Analyse sich Soziale Arbeit bezieht, ist jedoch nicht eindeutig (vgl. Dollinger und Kolleg_innen 2012), auch nicht die Antwort auf die in Konjunkturen diskutierte Frage, welche Konsequenzen die Benennung von Individuum und Gesellschaft für die praktische Gestaltung sozialer Arbeit hat.1 Bingel (2011: 14) beschreibt

1

Um die Jahrtausendwende ist die Frage, ob Soziale Arbeit ein politisches Mandat habe, durchaus kontrovers diskutiert worden (Merten 2001). In jüngerer Zeit ist die Frage nach

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als strukturelles Dilemma Sozialer Arbeit, dass die Profession Lösungen von gesellschaftlichen Problemen (wie Armut, Delinquenz, Rassismus etc.) anbieten will, diese Probleme aber allein durch die der Sozialen Arbeit zur Verfügung stehenden Mittel nicht lösbar sind. Das „Spannungsverhältnis zwischen pädagogischen und politischen Motiven“ sei ein „Dauerthema für die Soziale Arbeit“ (ebd.), welches in der Geschichte der Sozialen Arbeit und in den Handlungsfeldern der Einzelfallhilfe, Gruppenarbeit und Gemeinwesenarbeit in unterschiedlicher Weise praktisch bearbeitet wurde. Wesentliche Impulse für die Entwicklung eines professionellen Selbstverständnisses und einer Praxis, die gesellschaftliche Dimensionen in Problemdeutung und bearbeitung explizit einbezieht, kamen und kommen aus sozialen Bewegungen (vgl. Wagner/Wenzel 2009). So haben die Antipsychiatrie-Bewegung, die Heimkampagne und die Frauenbewegung gesellschaftliche Problemlagen artikuliert und gesellschaftliche Verantwortung für diese reklamiert. Mit explizit politischem Anspruch und aus der Kritik an vorfindlicher Sozialer Arbeit heraus entstanden feministische Mädchenprojekte, antipsychiatrische ‚Weglaufhäuser‘, Jugendwohnkollektive und Frauenhäuser. In diesen Praxisfeldern wurden neue Arbeitsweisen und Konzepte erprobt, die das Politische im Sozialen akzentuieren. Ich diskutiere in dieser Arbeit die OBS als (weiteres) Beispiel, wie „Soziale Arbeit als vermittelnde Instanz zwischen Subjekt und Gesellschaft“ (Herrmann 2016: 245) praktisch gestaltet werden kann, und mit welchen Widersprüchen und Problemen sie dabei konfrontiert ist. Die in der Sozialen Arbeit geleisteten theoretischen Überlegungen und praktischen Erfahrungen sind durch die OBS nutzbar, und die OBS beziehen sich in ihrer Praxis sowohl implizit als auch explizit auf diese Konzepte und Erfahrungen. Daher werde ich im Folgenden anhand einiger Schlaglichter darstellen, wie in der (jüngeren) Geschichte der Sozialen Arbeit die Einbeziehung politischer Dimensionen diskutiert und praktisch umgesetzt wurde und mit welchen Problemen und Widersprüchen eine solche Praxis konfrontiert war. Ich werde zeigen, dass in verschiedenen Kontexten und mit unterschiedlichen Konzepten die Vermittlung zwischen individuellen und gesellschaftlichen Dimensionen als problematisch angesehen wurde.

einer notwendigen politischen Positionierung und/oder gesellschaftstheoretischen Verortung Sozialer Arbeit erneut aufgeworfen worden: Die Neugründung und Wiederbelebung des Arbeitskreises kritische Soziale Arbeit (AKS) mit zahlreichen Regionalgruppen, das Berliner Forum Einmischen oder der österreichische Verein kriSo stehen für das neuere Interesse am „Politischen im Sozialen“ (Bütow/Chassé/Lindner 2014). Auch Publikationen wie Anhorn/Bettinger/Stehr (2008), Anhorn/Bettinger/Horlacher/Rathgeb (2012), Hünersdorf (2013), Schimpf/Stehr (2011) machen das neuere Interesse an der Klärung des Verhältnisses Sozialer Arbeit zu gesellschaftstheoretischen und politischen Perspektiven deutlich.

S OZIALE A RBEIT

3.1.1

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Kritik an der Funktion Sozialer Arbeit in der kapitalistischen Gesellschaft

In den 1950er und 1960er Jahren forcierte Soziale Arbeit ihre Professionalisierung, indem sie die Entwicklung der in den Bezugswissenschaften der (US-amerikanischen) Soziologie und Psychologie fundierten ‚Methodik des Helfens‘ propagierte (vgl. Peters 2008: 169-171).2 Gegenüber dieser auf Individuen bezogenen Professionalisierungsstrategie wurde gegen Ende der 1960er Jahre im Zuge der einsetzenden allgemeinen Politisierung und Forderung nach Demokratisierung der Gesellschaft die Frage nach dem Politischen in der Sozialen Arbeit mit Vehemenz aufgeworfen (vgl. Müller, C.W. 2014). Kritisiert wurde die systemstabilisierende Funktion Sozialer Arbeit, gesellschaftliche Probleme so zu bearbeiten, dass ihr gesellschaftlicher Verursachungszusammenhang nicht angegriffen werde. Gesellschaftliche Widersprüche würden so geglättet und verwaltet. Damit wurde die Selbstdarstellung der Sozialen Arbeit als ‚Hilfe‘infrage gestellt und ihre Kontroll- und Befriedungsfunktion in der Gesellschaft herausgestellt. Soziale Probleme gerieten als Resultat des gesellschaftlichen Systems in den Fokus, und marxistische Gesellschaftsanalysen wurden zum einflussreichen gesellschaftstheoretischen Bezugspunkt. Als Beispiele dieser Perspektive lassen sich die Bücher Gefesselte Jugend – Fürsorgeerziehung im Kapitalismus (Autorenkollektiv 1971), Sozialarbeit unter kapitalistischen Produktionsbedingungen (Hollstein/Meinhold 1973), Jugend in der Klassengesellschaft (Lessing/Liebel 1974) sowie die Zeitschrift Erziehung und Klassenkampf, die zwischen 1971 und 1975 erschien, nennen.3 Ein (kleinerer) Teil der politisierten Studierenden und Praktiker_innen stellte die Möglichkeit infrage, eine Soziale Arbeit4 zu betreiben, die nicht in erster Linie den Interessen des Kapitals dient. In einer anderen Perspektive wurden Möglichkeiten diskutiert und erprobt, ein emanzipatorisches Programm Sozialer Arbeit zu entwerfen: Aus der Kritik an der Verstrickung mit der faschistischen Vergangenheit und der autoritären Praxis vorfindlicher Einrichtungen der stationären Jugendhilfe, der Psychiatrien und der Jugendstrafrechtspflege sowie

2

Dabei handelte es sich um propagierte Strategien der Professionalisierung, deren Ziele jedoch nicht erreicht wurden, so Peters (2008: 170). In der Praxis blieb der Versuch der Fundierung in psychologischen und soziologischen Theorien bedeutungslos.

3

In der jüngeren Verständigung über Konturen einer kritischen Sozialen Arbeit grenzen sich Autor_innen wie z.B. Scherr (2001: 110) deutlich von diesen Traditionen ab. Demgegenüber formuliert Kappeler (2012: 277-279) eine reflektierende (biografische) Auseinandersetzung mit marxistischem Denken in der „linken Sozialarbeiterbewegung“, ohne sich pauschal zu distanzieren.

4

Von Sozialer Arbeit wurde damals allerdings noch nicht gesprochen, sondern je nach Tradition von Sozialarbeit oder Sozialpädagogik.

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der ‚Entdeckung‘ weiterer gesellschaftlich benachteiligter Gruppen als neue Adressat_innen der Sozialen Arbeit entstanden Versuche einer alternativen Praxis. „So organisierten und betrieben wir einen Kinderladen in dem Arbeiterbezirk Neukölln. Wir organisierten ‚antiautoritäre Zeltlager‘ für Arbeiterkinder und Erlebniswochen mit Jugendlichen aus einer Plattenbausiedlung“, erinnert sich C. W. Müller (2014: 46). Aus der sich organisierenden feministischen Frauenbewegung entwickelten sich Projekte für Mädchen. Die Analyse und Kritik an der Heimerziehung, spektakuläre Aktionen in Heimen und die Entwicklung von alternativer Praxis wie ‚Jugendwohnkollektiven‘ wurden als ‚Heimkampagne‘ zum Kristallisationspunkt einer linken Sozialarbeiter_innenbewegung in enger Verknüpfung zwischen Studierenden und Lehrenden Sozialer Arbeit und politischen Bewegungen (vgl. Kappeler 2012: 278). Mit dem Begriff der ‚Randgruppenstrategie‘ (Pilgram/Steinert 1977)5 wurde der Versuch der politischen Organisierung von Adressat_innen der Sozialen Arbeit, die als soziale Randgruppen und potenzielle revolutionäre Subjekte begriffen wurden, unternommen. Die Zielsetzung wurde hier darin gesehen, die ‚unterdrückten Klassen‘ in der Entwicklung von Klassenbewusstsein und Entfaltung revolutionärer Handlungsfähigkeit zu unterstützen. Den Vertreter_innen der Kritik an der Sozialen Arbeit und ihren Versuchen der Entwicklung einer alternativen, ‚befreienden‘ sozialen Praxis ‚im Dienst der Unterdrückten‘ wurde vorgeworfen, Soziale Arbeit ungerechtfertigt zu politisieren und ihre Adressat_innen politisch zu instrumentalisieren. Kappeler (2012: 283) erinnert an den Vierten Deutschen Jugendhilfetag in Nürnberg (1970) als zentralen Ort, an dem die Positionen aufeinander prallten. Er hebt die im Bericht des Jugendhilfetages (Hornstein 1970) dokumentierte diffamierende Grundhaltung hervor, in der Vertreter_innen der etablierten Sozialen Arbeit die Forderungen der politisierten Studierenden- und Sozialarbeiterbewegung zurückwiesen. Dabei war Kritik an der neuen Artikulation einer politisierten Sozialen Arbeit durchaus berechtigt: Die revolutionäre kritische Sozialarbeitsbewegung bezog sich vielfach auf eine holzschnittartige Rezeption marxistischen Denkens. Mit der Herausstellung des Politischen wurde individuelle Subjektivität eindimensional aus der Analyse – kapitalistischer – gesellschaftlicher Verhältnisse abgeleitet und alle Ange-

5

Die Autoren begründen die ‚Randgruppenstrategie‘ hier ausschließlich unter der politischstrategischen Frage, ob Soziale Arbeit neben der systemstabilisierenden Funktion durch die „Verwaltung sozialer Probleme“ auch die Möglichkeit habe, „eine Gegeninstitution zu schaffen, die dem reibungslosen Zusammenspiel der Kontrollapparate immerhin einen gewissen internen Widerstand beschert.“ (Pilgram/Steinert 1977: 241) Der Text beschreibt keine Erfahrungen praktischen Handelns. Die Randgruppenstrategie kann im Spannungsfeld zwischen politischen und individuumsbezogenen Perspektiven als extremes Beispiel einer Priorisierung politischer Überlegungen gesehen werden.

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hörige ‚unterdrückter Klassen‘ als Opfer stilisiert. Tatsächlich mussten Praktiker_innen aber feststellen, dass die antikapitalistische Veränderungsperspektive von den Adressat_innen nicht unmittelbar als Lösung für ihre Probleme angenommen wurde (vgl. Müller, C.W. 2014): So waren für viele Jugendliche, die sich der Heimerziehung entzogen hatten, ‚Jugendwohnkollektive‘ keine attraktive Lebensweise; Arbeiterjugendliche zeigten weniger Interesse an politischer Organisierung als am Zugang zu materiellen Gütern. Der Versuch, mit der ‚Randgruppenstrategie‘ Soziale Arbeit zu nutzen, um gesellschaftliche Verhältnisse zu verändern, wurde schon nach kurzer Zeit aufgegeben. Die Erfahrungen aus den vielfältigen praktischen Versuchen einer politisch verstandenen Sozialen Arbeit sind bis heute kaum dokumentiert und reflektiert. Obwohl sich die skizzierte Kritik an der Funktion und Praxis Sozialer Arbeit und die Forderung nach einer radikalen Politisierung Sozialer Arbeit in der Fachdebatte und der Praxis nicht durchsetzen konnten, beeinflusste die Debatte die Weiterentwicklung der Profession maßgeblich. Die Kritik am Selbstbild des ‚Helfens‘ und der Funktion Sozialer Arbeit in der Gesellschaft machte eine Positionierung im professionellen Selbstverständnis notwendig (vgl. Müller, F. 2012: 125-129). Die Einsicht, dass Soziale Arbeit sowohl Hilfe als auch Kontrolle beinhalte, etablierte sich in der Fachdebatte unter dem Begriff des ‚Doppelten Mandats‘. Es setzte sich das Verständnis durch, dass strukturelle Widersprüche und Paradoxien gerade ein Kennzeichen der Profession der Sozialen Arbeit sind, die in der Praxis von den Fachkräften bewältigt werden müssen, wie Urban (2004) der bis dahin auf theoretischer Ebene geleisteten Analyse hinzufügte. Im Bielefelder Forschungszusammenhang um Hans-Uwe Otto nahm die Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Perspektiven in der Sozialen Arbeit einen zentralen Stellenwert ein. So wurde mit der Reihe Gesellschaftliche Perspektiven der Sozialarbeit (Otto/Schneider 1973b; Otto/Schneider 1973c; Otto 1985) das Anliegen formuliert, gegenüber der vorherrschenden „individualistischen Konzeption“ von Sozialarbeit die bislang ausgeblendeten gesellschaftlichen Zusammenhänge zum Gegenstand des professionellen Selbstverständnisses zu machen (Otto/Schneider 1973a). In Abgrenzung zum ‚Psychoboom‘ und der Hinwendung der Sozialen Arbeit zu therapeutischen Konzepten formulierten Otto und Kolleg_innen u.a. mit dem Konzept der kommunalen Sozialarbeitspolitik einen dezidiert sozialwissenschaftlichen Blick. Das Interesse an der Gesellschaftlichkeit Sozialer Arbeit und der kritischen Positionierung zu gesellschaftlichen Entwicklungen ziehe sich wie ein roter Faden durch das umfangreiche Werk von Otto und Kolleg_innen (Müller/Peter 2008: 25).6 Auch mit dem Konzept der Lebensweltorientierung, das im Tübinger Arbeitszusammenhang um Hans Thiersch entwickelt und später mit dem achten Jugendbericht

6

Ein näheres Eingehen auf die Arbeiten aus dem Bielefelder Forschungszusammenhangs wäre lohnend, würde aber den Rahmen dieser Arbeit sprengen.

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zum Leitkonzept in der Sozialpädagogik wurde, wird das Spannungsfeld zwischen den individuellen Problemlagen von Menschen und dem gesellschaftlichen Entstehungskontext dieser Problemlagen bearbeitet. Zentrale Handlungskonzepte und Methoden der Sozialen Arbeit, die mit dem Anspruch verbunden sind, Individuum und Gesellschaft praktisch miteinander zu vermitteln, sind in den gesellschaftskritischen Debatten nach 1968 entstanden oder haben hier wesentliche Entwicklungsimpulse empfangen. Auf Konzepte wie die ‚Lebensweltorientierung‘, auf die die OBS Bezug nehmen, komme ich unter 3.2 zurück. 3.1.2

Pluralisierung und Differenzierung der gesellschaftstheoretischen Bezugspunkte: Feministische Perspektiven

Während in den frühen 1970er Jahren der Klassenwiderspruch im Vordergrund der gesellschaftstheoretischen Bezugspunkte stand, hat seitdem eine theoretische Ausdifferenzierung und damit eine Erweiterung der Zielgruppen Sozialer Arbeit stattgefunden. Verschiedene Differenzlinien und das jeweils Spezifische von Zielgruppen wurden – vorangetrieben durch verschiedene soziale Bewegungen – in den Vordergrund gerückt: Geschlechterverhältnisse, Homosexualität, Behinderung, psychische Krankheit und Migration (unter dem Stichwörtern ‚Ausländerpädagogik‘, später ‚interkulturelle Pädagogik‘ oder ‚Migrationspädagogik‘). Diese waren als Themen der Sozialen Arbeit z.T. in den 1970er Jahren bereits angelegt (vgl. Lamp 2007) und differenzierten sich nun mit jeweils spezifischen Analysen gesellschaftlicher (Macht-) Verhältnisse und spezialisierten Praxisformen aus. Ich gehe im Folgenden zunächst auf die Entwicklungen in der Praxis feministischer Sozialer Arbeit ein, die – im Gegensatz zu anderen in den frühen 1970er Jahren entstandenen Versuchen der Gestaltung einer politischen sozialen Praxis – kontinuierlich weiterentwickelt, differenziert und reflektiert wurde. Dabei wurden Problemstellungen bearbeitet, die auch für die Praxis der OBS von Bedeutung sind. Die zweite deutsche Frauenbewegung begriff sich, wie die OBS, als politische Bewegung und hatte ein distanziertes Verhältnis zu Sozialer Arbeit bzw. positionierte sich explizit im Gegensatz zur vorfindlichen Sozialen Arbeit (vgl. Wagner/Wenzel 2009: 22-23). Unter der Parole ‚Das Private ist politisch‘ wurden Themen weiblicher Lebensführung als politische Themen auf die Tagesordnung gesetzt. Kinderläden und Frauenräume entstanden, um sich gemeinsam politisch gegen patriarchale Strukturen zu organisieren. Feministische Mädchenprojekte entstanden in Anlehnung an Frauenräume.7 Sexualisierte Gewalt gegen Frauen und Mädchen wurde nicht mehr im Bereich individueller Ehekonflikte verortet oder als gestörtes Sexualverhalten einzel-

7

Zur feministischen Mädchenarbeit siehe Bitzan (2001), eine ausführliche historische Darstellung gibt auch Peitsch (2012).

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ner Männer gesehen, sondern als Ausdruck patriarchaler Verhältnisse und struktureller Unterdrückung von Frauen thematisiert. Es wurden Anlaufstellen für vergewaltigte Frauen und Frauenhäuser gegründet, die zunächst primär das politische Ziel verfolgten, Vergewaltigungen und andere Formen der Gewalt gegen Frauen als strukturelles gesellschaftliches Problem gegenüber systematischer Verschleierung und Verharmlosung gesellschaftlich sichtbar zu machen und als politisches Thema zu bearbeiten. Mit der Zeit fand eine Professionalisierung der Projekte mit psychosozialen Angeboten statt, die sich an Vorstellungen von Parteilichkeit und Solidarität orientierten (Maurer 2012: 315) und sich als Alternative zu vorfindlicher Sozialer Arbeit verstanden, in der die spezifischen Lebensrealitäten und Problemstellungen von Mädchen und Frauen nicht berücksichtigt waren. Die Entwicklung von Praxen parteilicher Mädchen- und Frauenarbeit war von Beginn an scharfer Kritik ausgesetzt. Kavemann (1997) führt aus, dass feministische Themenstellungen auf massive Widerstände stießen, die Dokumentationen des Ausmaßes sexueller Gewalt als übertrieben und die Analysen patriarchaler Gesellschaftsstruktur und Kultur und die daraus abgeleiteten Forderungen nach Gleichberechtigung als überzogen kritisiert wurden. Die politische Kritik wurde mit Kritik an der sozialen Praxis feministischer Projekte verbunden: Die hier vorgenommene Politisierung sozialer Problemstellungen könne nicht professionell sein und instrumentalisiere die Adressatinnen. Kritik wurde allerdings nicht ausschließlich in diffamierender Absicht geäußert, sondern reflektierte auch Schwierigkeiten und Grenzen der Praxis. In der feministischen Mädchenarbeit sahen sich die Praktikerinnen mit Mädchen konfrontiert, die nicht uneingeschränkt positiv auf die Angebote reagierten und nicht in erster Linie als Mädchen angesprochen werden wollten (Maurer 2014: 73-74). Auch in der Frauenhaus-Arbeit war der Umgang der Frauen mit der Gewaltsituation, in der sie lebten, oft komplexer als zunächst angenommen. Praktikerinnen in den Frauenhäusern betrachteten sich nicht nur als Anwältinnen und Interessensvertreterinnen, sondern als mitbetroffene Frauen (vgl. Hartwig/Weber 2000: 28). Sie stellten aber fest, dass Frauen, die die Angebote in Anspruch nahmen, die Problemdeutungen der Praktikerinnen oft nicht teilten und/oder, wenn sie z.B. entschieden, zu ihren Ehemännern zurückzukehren, Handlungsstrategien wählten, die der Problemsicht der Praktikerinnen widersprachen. Frauenhäuser und Anlaufstellen für vergewaltigte Frauen setzten zunächst auf die Lösungsstrategie, die Gewalt politisch und juristisch zu thematisieren und damit das gesellschaftliche Tabu zu brechen und die Erfahrung zu entprivatisieren. Sie mussten aber feststellen, dass sich das subjektive Leiden durch die politische Thematisierung nicht auflöst und die individuellen Dimensionen weitaus vielschichtiger sind. So gehörte zur Professionalisierung der Frauenhäuser

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auch, sich mit der Komplexität der Dynamiken häuslicher Gewalt auseinanderzusetzen und sich therapeutischen Zugängen zuzuwenden.8 Diese Erfahrungen machten es notwendig, differenzierter über das Verhältnis zwischen der gesellschaftlichen Positioniertheit als Frau oder Mädchen und der subjektiven Deutung dieser Positioniertheit in der individuellen Lebensführung nachzudenken (Maurer 2012: 315; Maurer 2014: 73-74). Eine kritische Auseinandersetzung erfuhr auch das feministischen Projekten zugrunde liegende Verständnis einer parteilich-solidarischen Arbeit auf Grundlage der gemeinsamen Betroffenheit von patriarchaler Unterdrückung. Thürmer-Rohr (1989a; 1989b; 2010) kritisierte die Tendenz feministischer Theorie und Praxis, ausgehend von einer Gesellschaftsanalyse, die auf Geschlechterverhältnisse fokussiert ist, Frauen als Opfer der Verhältnisse zu konzipieren. Damit würden die sehr unterschiedlichen Positionen von Frauen in gesellschaftlichen Verhältnissen und die aktive Beteiligung von Frauen an der Aufrechterhaltung von Machtverhältnissen ausgeblendet. Problematisiert wurde das Postulat gemeinsamer Betroffenheit in der Praxis auch dahingehend, dass damit Unterschiede zwischen Professionellen und Adressatinnen verschleiert und machtrelevante Differenzlinien jenseits der Kategorie Geschlecht, wie die unterschiedliche Generations- oder Klassenzugehörigkeit von Professionellen und Nutzerinnen, in der sozialen Praxis reproduziert werden (Bitzan/Daigler 2001: 116-117). Im Ergebnis wurde als zentrale Herausforderung deutlich, gesellschaftliche Machtverhältnisse zu erkennen und zu benennen, ohne die Adressat_innen als determiniert durch diese Verhältnisse zu begreifen, sondern als in widersprüchlichen Verhältnissen handelnde Subjekte. Die Praktikerinnen richteten die Frage nach widersprüchlichen Positionierungen in gesellschaftlichen Verhältnissen auch an sich selbst und etablierten damit ein reflexives Professionsverständnis. Maurer (2012; 2014) hebt hervor, dass diese Auseinandersetzungen in feministischer Theorie und Praxis mit ihrem spezifischen Bemühen, persönliche Erfahrung, Praxis und Theorie kontinuierlich aufeinander zu beziehen9, wesentliche Erkenntnisse für die Gestaltung der Sozialen Arbeit mit gesellschaftskritischem Anspruch hervorgebracht haben. Unter 3.2 komme ich im Zusammenhang mit dem Konzept der Parteilichkeit auf einige der hier angesprochenen Aspekte zurück.

8

Brückner (1996: 262-264) diskutiert die Attraktivität, die die Hinwendung zu psychologischer Beratung in den Frauenhäusern hat, kritisch.

9

Das faktische Auseinanderfallen zwischen Theorie und Praxis sowie die mangelnde Selbstreflexivität in der feministischen Praxis wird gleichwohl an verschiedener Stelle (z.B. bei Kavemann 1997) beklagt.

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3.1.3

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Soziale Arbeit im Kontext von Migration und Rassismus

Die OBS stellen nicht Klassen- oder Geschlechterverhältnisse in den Mittelpunkt ihrer gesellschaftstheoretischen Perspektive, sondern Ungleichheit, die durch „natioethno-kulturelle Zugehörigkeitsverhältnisse“ (Mecheril 2010: 14) organisiert ist. Migration und Rassismus wurden zu unterschiedlichen Zeiten und in unterschiedlicher Weise zum Ausgangspunkt von Sozialer Arbeit und Bildung. Interkulturelle Pädagogik ist in der Erziehungswissenschaft inzwischen als Fachgebiet fest etabliert und vereint diverse Entwicklungslinien und Zugänge zu pädagogischen Perspektiven auf Problemstellungen in der Migrationsgesellschaft. In der Entwicklung seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts finden sich verschiedene – sich überlappende und sich gegeneinander abgrenzende – Paradigmen, die jeweils auf konkrete gesellschaftspolitische Entwicklungen und Problemstellungen reagierten (ausführlich Auernheimer 2012): Bis in die 1970er Jahre war Migration, obwohl durch die Anwerbung von Arbeitskräften existent, kein explizites Thema pädagogischer Überlegungen.10 Erste Konzepte der ‚Ausländerpädagogik‘ reagierten auf die wachsende Zahl von ‚Ausländerkindern‘ an Schulen und zielten als sonderpädagogische Fördermaßnahmen auf den Ausgleich von Schwierigkeiten mit der deutschen Sprache.11 Wohlfahrtsverbände begannen mit der Gründung von Sozialberatungsstellen für Ausländer. Mit diesen Sonderdiensten bzw. sonderpädagogischen Angeboten für Migrant_innen wurde einerseits auf die spezifische gesellschaftliche Situation und damit verbundene individuelle Problemstellungen reagiert, zugleich aber der Sonderstatus der Adressat_innen und die Nichtzuständigkeit der Regeldienste festgeschrieben. Das Paradigma ‚interkulturelle Pädagogik‘ trat als Kritik an der Defizitorientierung und dem Paternalismus der ‚Ausländerpädagogik‘ an und setzte auf Anerkennung von Verschiedenheit. Mit dem Ziel, Ressentiments und Fremdenfeindlichkeit abzubauen, gehörte das Initiieren von Begegnungen mit anderen Religionen, Essgewohnheiten und Bräuchen zu den klassischen Interventionen im Paradigma ‚interkulturelle Pädagogik‘. Die Hervorhebung des Kulturellen war von Beginn an Kritik ausgesetzt: So problematisierten bspw. Kalpaka und Räthzel (1986) sowie Attia (1997), dass das Paradigma ‚interkulturelle Pädagogik‘ voraussetzt, dass in der Begegnung zwischen Eingewanderten und einheimischen Menschen Fremdheitserfahrungen eine große Rolle spielen und automatisch zu Ressentiments führen. Verbunden sei diese Sicht-

10 Migrationsbedingte Differenz war faktisch aber immer wieder Thema und Anlass von Sozialer Arbeit und Bildung, führen Mecheril (2010: 54-55) und Auernheimer (2012: 9-37) aus. 11 In diesen Angeboten fanden auch die widersprüchlichen politischen Vorgaben Eingang, eine Doppelstrategie zu verfolgen, „nämlich (schulische) Integration plus ‚Erhaltung der kulturellen Identität‘, sprich: der Rückkehrfähigkeit“ (Auernheimer 2012: 40).

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weise mit der Tendenz, auf ein essentialistisches und statisches Verständnis von Kultur zurückzugreifen, womit die Differenz festgeschrieben und faktisch eine Hierarchisierung vorgenommen werde. Sie problematisieren zudem, dass gesellschaftliche Ungleichheitsverhältnisse, ausländerrechtliche Ungleichbehandlung, Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt oder soziale Benachteiligung als kulturelle Differenzen verhandelt werden. Die Thematisierung kultureller Differenz verdecke die als eigentliches Problem gesehene rechtliche und soziale Diskriminierung, nehme also eine Kulturalisierung des Sozialen vor. Statt interkulturelle Verständigung zu fördern, brauche es in erster Linie eine rechtliche Gleichstellung. Dieses sei jedoch eine politische und keine (sozial-)pädagogische Aufgabe (vgl. auch Hamburger 1995; 2009). Kalpaka und Räthzel (1986) formulierten im Kontext antirassistischer Pädagogik eine Perspektive, die statt kultureller Differenz Machtunterschiede zwischen Menschen in den Blick nimmt. Der Weg, Rassismus abzubauen und gleiche Rechte für alle zu schaffen, sei in erster Linie ein politischer. Sich gemeinsam für eine gerechtere Gesellschaft einzusetzen, erfordere aber auch von Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft die Reflexion der eigenen Beteiligung an der Reproduktion rassistischer Verhältnisse. In den letzten Jahrzehnten ist umfassend zu Möglichkeiten und Schwierigkeiten rassismuskritischer Perspektiven in Sozialer Arbeit und Pädagogik gearbeitet worden.12 Es hat sich eine Forschungsperspektive herausgebildet, die sich als kritischreflexives Programm beschreiben lässt. So analysieren Mecheril und Melter (2011: 263), dass das Herstellen von Differenz und die Konstruktion von Andersheit konstitutives Moment Sozialer Arbeit ist. Soziale Arbeit und Pädagogik mit antirassistischem Anspruch sei mit dem Paradox konfrontiert, durch die Thematisierung von Differenz und Normabweichung die ‚Anderen‘ sowie ‚Normalität‘ selbst hervorzubringen (ebd.: 264-265). Gleichzeitig sei es jedoch notwendig, unterschiedliche Positionierungen zu thematisieren, um Diskriminierung und eingeschränkten Zugang zu gesellschaftlichen Ressourcen problematisieren zu können. Damit bewege sich soziale Arbeit in Bezug auf Differenzkategorien zwischen dem „Potenzial zur Ermöglichung von Handlungsfähigkeit“ einerseits, wenn bspw. Ausschlussverhältnisse problematisiert werden, und andererseits ihrer Rolle als Normalisierungsinstanz (ebd.). Die formulierten kritisch-reflexiven Perspektiven in der Migrationspädagogik bzw. der rassismuskritischen Sozialen Arbeit stellen auf unterschiedlichen Ebenen gesellschaftstheoretische Bezüge her bzw. formulieren ihre kritische Perspektive auf unterschiedlichen Ebenen. Attia (2009) analysiert Diskurse des antimuslimischen Rassismus als wesentliche Bedeutungskonstellationen, die rassistische Unterscheidungen herstellen und die Lebensrealitäten von Adressat_innen prägen. Die Kritik dieser gesellschaftlichen Diskurse kann damit als eine Ebene der Kritik verstanden

12 Einen Einblick in die Vielfältigkeit der Perspektiven geben mehrere Sammelbände, so z.B. Scharathow/Leiprecht (2009), Broden (2010), Mecheril (2010), Melter (2015).

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werden. Die kritisch-reflexive Perspektive zeichnet sich dadurch aus, dass die Wirkmächtigkeit dieser Diskurse auch innerhalb der Konzepte und Praxen Sozialer Arbeit analysiert wird, indem z.B. – wie oben ausgeführt – die Implikationen des Begriffes ‚interkulturelle Pädagogik‘ kritisiert werden. Die Kritik- und Veränderungsperspektive bezieht sich zudem auf die Organisationsstrukturen Sozialer Arbeit und Pädagogik, durch die rassistische Verhältnisse reproduziert werden. So untersucht Gomolla (2009) institutionellen Rassismus in der Schule und Kalpaka (2009) betont die Notwendigkeit, auch in rassismuskritischer Bildungsarbeit ‚Verstrickungen‘ und ungewollte, diskriminierende Effekte zu reflektieren. Als weitere Ebene des rassismuskritischen Gesellschaftsbezuges kann das Anliegen genannt werden, in der alltäglichen Praxis Sozialer Arbeit die unterschiedlichen gesellschaftlichen Lagen von Klient_innen und Fachkräften und die jeweils damit verbundenen Problemstellungen und Handlungsoptionen zu erkennen. 3.1.4

Die Bedeutung politischer Bewegungen

Die Reflexion der Ebenen der Kritik durchzieht auch die jüngere Diskussion13 um die Notwendigkeit und Möglichkeit der Repolitisierung Sozialer Arbeit. Kessl (2012b) beschreibt als eine Ebene die „Kritik im Format Sozialer Bewegungen“: So üben neugegründete oder wiederbelebte Arbeitskreise kritischer Sozialer Arbeit Kritik an gesellschaftlichen Entwicklungen und deren negativen Auswirkungen auf die Lebensmöglichkeiten der Adressat_innen sowie auf die Arbeitsbedingungen in der Sozialen Arbeit. Soziale Arbeit habe sich einzumischen in die gesellschaftlichen Prozesse, die als ‚Ökonomisierung des Sozialen‘, als neoliberales Projekt oder als wachsende Entsolidarisierung der Gesellschaft beschrieben werden. Soziale Arbeit müsse sich also, unter Bezug auf die Perspektive der Adressat_innen Sozialer Arbeit, in die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen einmischen, die die Verursacher der individuellen Problemlagen seien (ebd.: 195-198). Kritische Soziale Arbeit könne sich aber nicht auf die Kritik gesellschaftlicher Verhältnisse beschränken,14 betonen Autor_innen wie Kessl (2012b), Maurer (2012), Cremer-Schäfer und Resch (2012), Kunstreich (2001; 2014) und andere, die sich in den letzten Jahren an der (Theorie-)Debatte um die Bestimmung einer kritischen Sozialen Arbeit beteiligt haben.

13 Exemplarisch verweise ich auf Anhorn und Kolleg_innen (2012); Bütow/ Chassé /Lindner (2014). 14 Kessl (2012b: 196) warnt zudem, dass sich diese Kritik leicht auf eine zu einfache Diagnose der gesellschaftlichen Verhältnisse bezieht, in der spezifische politische Entscheidungen, sich verändernde Interessenlagen und Verschiebungen von Machtkonstellationen nicht ausreichend berücksichtigt werden.

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Kessl (2012b: 197) problematisiert, dass sich Kritik, die sich durch den Bezug auf die Perspektive der Klient_innen legitimiert, Gefahr läuft, Täter_innen und Opfern zu dichotomisieren und Soziale Arbeit selbst als Gegenposition zu den kritisierten gesellschaftlichen Verhältnissen zu positionieren. Werde eine Soziale Arbeit an der Seite der Betroffenen per se als ‚kritische Instanz‘ gesetzt (Maurer 2012: 302), bestehe die Gefahr, die aktive Beteiligung der Sozialen Arbeit an kritisierten Entwicklungen zu entthematisieren und eine Interessenidentität zwischen professioneller Sozialarbeit und Adressat_innen vorauszusetzen (Kessl 2012b: 198). Damit werde der Doppelcharakter Sozialer Arbeit als Hilfe und Kontrolle sowie ihre Funktion als ‚Normierungsinstanz‘ (Kessl/Plößer 2010) verdeckt. Wesentliche Aufgabe kritischer Sozialer Arbeit sei daher die theoretische Kritik an der Sozialen Arbeit selbst, an ihren Institutionen, Begriffen und theoretischen Konzepten sowie ihrer gesellschaftlichen Funktion (vgl. Cremer-Schäfer/Resch 2012: 81-82). Auch Kunstreich (2014) hebt die Notwendigkeit hervor, Soziale Arbeit nicht als Lösung von Problemen zu begreifen, sondern ihren aktiven Anteil an den Problemen in den Blick zu nehmen. Er problematisiert die Argumentationsfigur des politischen Mandats als Leitlinie einer kritischen Sozialen Arbeit, die sich auf Hilfeleistungen für Klient_innen bzw. die Vertretung der Interessen der Adressat_innen berufe und nicht nur das hierarchische Verhältnis zwischen Sozialarbeiter_in und Klient_in verschleiere, sondern die Subjektivität der Professionellen ausblende (ebd.: 52). Stattdessen sei eine politische Perspektive in der Sozialen Arbeit notwendig, die die Professionellen selbst als beteiligte Akteur_innen begreife und ihre eigenen Motive in Bezug auf eine Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse offenlege und zum Gegenstand der Aushandlung mache. Soziale Gerechtigkeit als Leitlinie für eine kritische Perspektive in der Sozialen Arbeit brauche kein Mandat der Betroffenen, sondern die Professionellen müssten eigene Gründe haben, diese Leitlinie in ihrer Praxis zu verfolgen. Die politische Produktivität Sozialer Arbeit mit dieser Zielsetzung lasse sich als Agieren in gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen begreifen. Kunstreich (ebd.: 57) beschreibt Soziale Arbeit als ‚Kampfarena‘, in der es um Deutungsmacht, Aushandlung, Kooperationen und Bündnisse geht. Politisch produktiv werden könne Soziale Arbeit auf verschiedenen Ebenen. Als erste, fundamentale Ebene nennt er die Realisierung von Teilhabe und sozialer Gerechtigkeit in der Gestaltung der sozialpädagogischen Verhältnisse, wenn bspw. „eine Jugendclique in ihrem Drang nach Selbstmächtigkeit unterstützt wird, wenn Drogengebraucher_innen praktische Lebenshilfe zuteil wird, die sie ohne Eintrittskarte der Entzugswilligkeit in Anspruch nehmen können.“ (Ebd.: 62) Konflikte und Aushandlungen mit Trägern, Geldgeber_innen und kommunalpolitischen Akteur_innen bleiben bei der praktischen Realisierung einer solchen Perspektive in der Regel nicht aus, womit die zweite Ebene der politischen Produktivität Sozialer Arbeit angesprochen ist: Hier gehe es darum, die Rahmenbedingungen der Realisierung Sozialer Arbeit unter der Perspek-

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tive sozialer Gerechtigkeit auszuhandeln bzw. zu verändern. Kunstreich führt als Beispiel die Auseinandersetzung um die Abschaffung bzw. Wiedereinführung der geschlossenen Unterbringung von Jugendlichen in Hamburg an, in der Soziale Arbeit in den jeweiligen Kräfteverhältnissen diskursive Strategien und Bündnispartner_innen wählen musste. Als dritte Ebene politischer Produktivität versteht Kunstreich (ebd.: 63) Kämpfe um soziale Gerechtigkeit über den fachlichen und regionalen Rahmen hinaus. Hier seien die Wirkungsmöglichkeiten aber begrenzt: Die dritte Ebene politischer Produktivität „von sich aus zu erreichen, ist der Sozialen Arbeit auf Grund ihrer strukturkonservativen Einbettung in die hegemoniale Ordnung, eben als Platzierungsagentur in der Auseinandersetzung um sozial gerechte Positionen, kaum möglich. Mit sozialer Arbeit verbindbare Themen gewinnen aber immer dann an Bedeutung und Artikulationskraft, wenn sie […] von sozialen Bewegungen aufgegriffen und von ihnen zu ihrer Sache gemacht werden.“ (Ebd.)

Für eine kritisch-reflexive Perspektive ist es auch nach Kessl (2012b: 198) notwendig, das Verhältnis zwischen Sozialer Arbeit und politischen Bewegungen differenziert zu bestimmen. In der Geschichte der Sozialen Arbeit haben soziale Bewegungen immer wieder die Gestaltung Sozialer Arbeit und insbesondere deren Wahrnehmung von gesellschaftlichen Problemlagen wesentlich beeinflusst. Soziale Bewegungen kritisierten u.a. die Versuche, politische Probleme mit pädagogischen Mitteln zu bearbeiten. Die für die Entstehung der OBS zentralen antirassistischen und antifaschistischen Bewegungen (vgl. Kapitel 1.1) sahen es als politische Aufgabe, gegen strukturelle Diskriminierung und für Gleichstellung einzutreten bzw. der rassistischen Mobilisierung in der Gesellschaft und dem Einfluss rechtsextremer Bewegungen entgegenzutreten, und sie kritisierten den sozialpädagogischen Zugriff auf das Thema scharf.15 Kunstreich (2014) und Kessl (2012b) betonen jeweils das Verhältnis von Differenz und Vernetzung zwischen Sozialen Bewegungen und Sozialer Arbeit. Kessl (ebd.: 202) spricht von „konstitutiv-verkoppelter Differenz“. Es sei notwendig, die Rolle politischer Bewegungsaktivist_innen von der professioneller Fachkräfte der

15 Die Thematisierung von rechter und rassistischer Gewalt als Jugendproblem und der Einsatz akzeptierender Sozialarbeit war ein wesentliches Auseinandersetzungsfeld in der Entstehungsgeschichte der OBS (vgl. Buderus 1998). Auch im Zusammenhang mit der Auseinandersetzung um die Gangs, die Kreuzberger Jugendliche in den 1980er Jahren als Reaktion auf alltägliche Diskriminierung und rechtsextreme Angriffe auf Migrant_innen gründeten, thematisierten antirassistische und antifaschistische Bewegungen Sozialarbeiter_innen nicht als Bündnispartner_innen, sondern als Befriedungs- und Repressionsinstanz (vgl. ak wantok 2014).

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Sozialen Arbeit zu unterscheiden. Zwischen beiden könne es zu Bündnissen kommen, und Sozialarbeiter_innen und Wissenschaftler_innen könnten auch selbst in Sozialen Bewegungen engagiert sein. Aber erst ein Bewusstsein über die Differenz der Felder ermögliche, die jeweiligen Spielregeln und Handlungsmöglichkeiten taktisch zu nutzen. Auch die Funktion sozialer Bewegungen, Probleme zu thematisieren, an deren Verursachung oder Aufrechterhaltung Soziale Arbeit beteiligt sei, könne nur über die Wahrnehmung der Differenz zwischen sozialen Bewegungen und Sozialer Arbeit geleistet werden.

3.2

V ERMITTLUNGSKONZEPTE FÜR POLITISCHE P ERSPEKTIVEN IN DER S OZIALEN ARBEIT

In den vergangenen Abschnitten wurde dargestellt, dass das Spannungsfeld zwischen Individuum und Gesellschaft konstitutiv für die Soziale Arbeit ist. Im Zusammenhang mit unterschiedlichen thematischen Problemstellungen wurden verschiedene Verhältnisbestimmungen zwischen Sozialer Arbeit und politischen Veränderungsperspektiven entworfen und in die Praxis umgesetzt. Im Folgenden werden – auf unterschiedlichen Ebenen angesiedelte – Konzepte skizziert, die auch die OBS in ihrer Selbstdarstellung nutzen. 3.2.1

Vermittlung von Individuum und Gesellschaft im Paradigma der Lebensweltorientierung

In ihren Qualitätsstandards nennen die OBS Alltags- und Lebensweltorientierung als handlungsleitendes Konzept, das sie wie folgt charakterisieren: „Ausgehend von Respekt und Anerkennung der alltäglichen Lebenswelt der Betroffenen, ihren Erfahrungen und Bewältigungsleistungen, unterstützen die Berater_innen Betroffene in der Ermöglichung bzw. Erleichterung eines gelingenden, selbstbestimmten Alltags.“ (AG Qualitätsstandards 2014: 11) Das Konzept der ‚Alltagsorientierung‘ kam in den 1970er Jahren auf und war in der damaligen Situation anknüpfungsfähig für verschiedene Interessen (vgl. Thiersch 197816): Es war Leitformel für eine Soziale Arbeit mit emanzipatorischem Anspruch, die das Ziel eines menschenwürdigeren Alltags verfolgte und, z.B. in der Gemeinwesenarbeit,auf die ich weiter unten in diesem Kapitel eingehe, versuchte, den Alltag der Menschen zu politisieren. Die Orientierung am Alltag stand im Kontext der Kritik an technokratischer Herrschaft, Bürokratie, Methodisierung des Handelns und Tech-

16 Die folgenden Verweise beziehen sich auf den Wiederabdruck in der Aufsatzsammlung von Thiersch (2015).

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nisierung des sozialen Lebens und war der Versuch, gegenüber dem naturwissenschaftlich-technischen Erkenntnisideal, eine dem Gegenstand menschlichen Lebens angemessene Perspektive einzunehmen (vgl. Thiersch 2015: 285). Thiersch (ebd.: 280-283) interpretiert den Ruf nach Alltagsorientierung aber auch als Gegenbewegung zum Prozess der Professionalisierung und der damit verbundenen sozialwissenschaftlichen, theoretischen Fundierung. Der Bezug auf den Alltag als Reaktion auf die (vermeintliche oder tatsächliche) Praxisferne theoretischer Analysen und die als arrogant wahrgenommenen theoretischen und politischen Verortungen, die Ablehnung jeder Theorie und Organisation aus Angst vor Vereinnahmung, sei mit der Gefahr verbunden, der Unmittelbarkeit des Alltags verhaftet zu bleiben und keine kritische Veränderungsperspektive zu diesem Alltag und seinen gesellschaftlichen Bedingungen herstellen zu können. Das Konzept der ‚Lebensweltorientierung‘ (LWO), welches von Thiersch und anderen seit den 1970ern entwickelt wurde, ist demgegenüber mit dem Anspruch verbunden, das Spannungsfeld zwischen Individuum und Gesellschaft als Kernthema der Sozialen Arbeit über den Bezug auf den Alltag zu vermitteln. Thiersch, Grunwald und Köngeter beschreiben die Entwicklung des Konzeptes als Antwort auf die Herausforderung, dass „die kritisch-radikale Diskussion der späten 1960er Jahre mit ihrer politisch bestimmten Analyse der Funktionen Sozialer Arbeit […] Fragen der konkreten Bewältigung von Lebensverhältnissen in ihrem Eigensinn und des sozialpädagogischen Handelns randständig werden lassen“ (Thiersch/Grunwald/Köngeter 2012: 179) hatte. Zugleich sollten die gesellschaftspolitische Zielsetzung gerechterer Lebensverhältnisse sowie die Perspektive der Demokratisierung und Emanzipation nicht aufgegeben werden (ebd.). Ausgangspunkt dafür ist der auf Kosik Bezug nehmende Blick auf die Zweideutigkeit des Alltags in seiner Dialektik von Pseudokonkretheit und Wesen (vgl. Thiersch 2015: 286). Demnach wird die Unmittelbarkeit des Alltäglichen zunächst als pseudokonkrete Erscheinung verstanden, in der – in unvollständiger, oft verzerrter Weise – zugleich das Wesen gesellschaftlicher Verhältnisse hervortrete. Alltag müsse also in seinem Verhältnis von Praxis und Ideologie durchschaut werden. „Dieses Durchschauen ist ein mühsames Geschäft des Lernens, Problematisierens, der Aufklärung, ja – wie Kosik formuliert – der Destruktion.“ (Ebd.: 287) Alltag wird begriffen als Spannungsverhältnis zwischen einerseits der „entlastenden Funktion von Routinen, die Sicherheit und Produktivität im Handeln ermöglichen“ und andererseits der „Enge, Unbeweglichkeit und Borniertheit“ des Alltäglichen, in dem „menschliches Leben in seinen Grundbedürfnissen und Möglichkeiten“ eingeschränkt und behindert wird (Grunwald/Thiersch 2004: 18). Um diese Mehrdeutigkeit des Alltags zu rekonstruieren, beschreiben Grunwald und Thiersch (2011: 856-857) Lebenswelt auf drei Ebenen:

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Erstens wird Lebenswelt beschreibend genutzt, um den Menschen in seiner Lebenswirklichkeit, die er immer schon vorfindet, zu sehen und seine alltäglichen Deutungen, Routinen, Anpassungen und Verweigerungen als Bewältigung dieses vorfindlichen Alltags zu verstehen und in ihrer Eigensinnigkeit und Leistung anzuerkennen. Lebenswelt wird als erfahrene Wirklichkeit beschrieben. Dabei wird davon ausgegangen, dass sich Alltag bzw. Lebenswelt in verschiedenen Lebensfeldern (Familie, Arbeit, Freundeskreise) konkretisiert, die nebeneinander oder in Konflikt und Spannung zueinander stehen können. Zweitens wird die Lebenswelt verstanden als „Bühne, auf der sich Gesetze und Strukturen gesellschaftlicher Verhältnisse im konkreten Alltag und in seinen Bewältigungsmustern repräsentieren.“ (Ebd.: 857) Es ist also notwendig, die phänomenologische Analyse mit einer gesellschaftstheoretischen Analyse zu verbinden. Drittens hat das Konzept der Lebenswelt den normativen Gehalt, hinter dem Gegebenen des gelebten Alltags die Möglichkeit eines besseren Lebens zu sehen. Lebensbewältigung im Alltag wird somit immer auch als Bewältigung des Widerspruchs zwischen Gegebenem und Möglichkeit in konkreten Machtverhältnissen begriffen. Der Zugang der LWO setzt somit an den Alltagserfahrungen und konkreten Lebenswelten als „erfahrene Wirklichkeit“ an, die aber als „bestimmt durch gesellschaftliche Strukturen und Ressourcen“ (Grunwald/Thiersch 2004: 18) verstanden wird. Lebensweltorientierte Soziale Arbeit bewegt sich dabei in der Spannung zwischen dem anerkennenden Respekt vor dem gelebten Alltag der Adressat_innen und der Destruktion des Gegebenen mit der Perspektive eines gelingenderen Alltags. Neben der Anerkennung der praktischen Bewältigung der Gegenwart geht es darum, Wege und Optionen der Veränderung vor dem Horizont sozialer Gerechtigkeit zu ermöglichen. Für die LWO werden folgende Handlungsmaximen formuliert (ebd.: 26): Prävention, Regionalisierung und Alltagsnähe sowie Integration und Partizipation. Sie beinhalten die Gestaltung einer Sozialen Arbeit nah am und ausgehend vom Alltag der Adressat_innen, womit die Strukturierung der Angebote (Regionalisierung oder auch im Fall der OBS die aufsuchende, mobile Beratung) ebenso gemeint ist wie die alltagsnahe Gestaltung der professionellen Beziehung. Das Konzept beschäftigt sich also explizit mit dem Zusammenhang von individueller Erfahrung und Struktur (vgl. ebd.: 19). Dabei zielt das „Prinzip der Einmischung [...] auf die Positionierung der Sozialen Arbeit im Gefüge der gesellschaftlichen sowie sozial- und bildungspolitischen Szene. Weil die Alltagsverhältnisse, in denen soziale Arbeit agiert, gesellschaftlich bedingt sind, geht es um die Frage der gesellschaftlichen Ressourcen, die es erlauben oder verhindern, dass die AdressatInnen ihre Alltäglichkeit befriedigend leben und gestalten können.“ (Grunwald/Thiersch 2015: 346)

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Mit dieser Feststellung reagieren die Autoren auf die u.a. von Bitzan (2000) formulierte Kritik, dass die gesellschaftskritische Perspektive in der Praxis Sozialer Arbeit unter dem Label der LWO allzu leicht verschwindet. So werde das im Konzept angelegte Spannungsfeld von unmittelbarem Alltag und seinen Verweisen auf gesellschaftliche Strukturen praktisch immer wieder zur Seite des unmittelbaren Alltags hin aufgelöst. Mit der Durchsetzung der LWO als Rahmenkonzept auf Ebene von sozialpolitischen Ausrichtungen und Programmen und Handlungskonzepten der Sozialen Arbeit sei auch eine Verwässerung des Konzeptes einhergegangen, da die Kritikperspektive gegenüber dem Handeln der Professionellen sowie gegenüber gesellschaftlichen Verhältnissen fehle. So werde allein das Arbeiten mit Adressat_innen in ihrem Alltag, z.B. in der mobilen Jugendarbeit oder bei der ambulanten Unterstützung von Familien, unter Gleichsetzung von Lebenswelt und Familie mit dem Schlagwort der LWO versehen. Gegenüber diesen Verkürzungen und Verflachungen fordert Bitzan (2000) eine Repolitisierung lebensweltorientierter Sozialer Arbeit, wofür sie die Verschränkung von LWO mit der Gemeinwesenarbeit sowie mit feministischen Perspektiven in der Sozialen Arbeit vorschlägt. 3.2.2

Parteilichkeit als Schlüsselkonzept politischer Sozialer Arbeit

Der Begriff der Parteilichkeit ist Kennzeichen einer sich politisch verstehenden Sozialen Arbeit und wird hier vor allem mit der Frauenhausbewegung, feministischer Anti-Gewalt- und Mädchenarbeit verbunden. Er ist, so Kavemann (1997: 181), untrennbar verbunden mit dem Spannungsfeld zwischen Politik und Professionalität in der Sozialen Arbeit sowie zwischen individuumsbezogenen und gesellschaftspolitischen Dimensionen in der Sozialen Arbeit. Für Graff erweist sich „Parteilichkeit […] als Kristallisationspunkt der jeweils aktuellen Verständigung über den pädagogischpolitischen Standort feministischer Mädchenpädagogik“ (Graff 2004: 77). Auch von den OBS wird Parteilichkeit als handlungsleitendes Prinzip genannt. Sie beschreiben Parteilichkeit als „eine professionelle Haltung der Berater_innen, die von Solidarität und Akzeptanz gegenüber den Betroffenen geprägt ist. Ihre Perspektiven, Bedürfnisse und Interessen stehen in der Beratung und bei der Entwicklung von Handlungsstrategien im Mittelpunkt. Ihre Erfahrungen werden sowohl als persönlicher Ausdruck ihrer Lebensgeschichte als auch als Resultat gesellschaftlicher Machtverhältnisse nachvollzogen.“ (AG Qualitätsstandards 2014: 10)

Aus dem Grundsatz der Parteilichkeit wird zudem abgeleitet, die Interessen der Ratsuchenden öffentlich zu vertreten und politisch für die Verbesserung der Situation von Betroffenen rechter und rassistischer Gewalt einzutreten.

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Die Ursprünge des Konzeptes liegen in der Wissenschaftskritik marxistischer Theorie (vgl. Kavemann 1997: 182; Peitsch 2012: 59-61). Mit dem Begriff wurde die in der vermeintlich neutralen Wissenschaft enthaltene faktische Parteilichkeit für die herrschenden Machtverhältnisse kritisiert und dem eine dezidiert marxistische Parteilichkeit entgegengesetzt. Das Konzept ist in der feministischen Theorie aufgegriffen und auf die Analyse von Geschlechterverhältnissen bezogen worden. Das Konzept der bewussten Parteilichkeit ist untrennbar verbunden mit Ideologiekritik, die wissenschaftliche Forschung dahingehend befragt, welche Fragen überhaupt gestellt werden, welche Ergebnisse warum hervorgehoben und wie bewertet werden und inwiefern durch die Forschung Oberflächenphänomene nur wissenschaftlich verdoppelt werden, weil der widerspruchsvolle Charakter gesellschaftlicher Wirklichkeit selbst nicht Gegenstand der Analyse ist, sondern unhinterfragt als gegeben gesetzt wird. Als wissenschaftliches Konzept hat Parteilichkeit also eine wahrnehmungsleitende Gewichtungs- und Auswahlfunktion und verfolgt den Anspruch, Machtverhältnisse aufzudecken statt wissenschaftlich zu verschleiern. Als Konzept, „mit dem danach gefragt wird, inwieweit sich in wissenschaftlichen Begriffen und Ansätzen gesellschaftliche Widersprüche niederschlagen oder eben ausgeblendet werden“ (Markard 2009: 70), hat es nur begrenzte praktische Bedeutung. Der Begriff ist dennoch zentral für die Kennzeichnung einer politisch positionierten sozialen Praxis. Um die Umsetzung des wissenschaftstheoretischen Parteilichkeitskonzeptes in der direkten (psychozialen) Praxis zu kennzeichnen, wird in der Kritischen Psychologie der Begriff der ‚Parteinahme‘ verwendet, der sich „auf unsere persönlichen Vorstellungen, Wünsche, Intentionen, Konsequenzen, auf unser Engagement in all den Fällen, in denen unser psychologisches Handeln in gesellschaftliche Widersprüche verstrickt ist, wir also ‚Partei nehmen‘ wollen (bzw. nicht umhin können, es zu tun)“ (ebd.). Die Unterscheidung der Begriffe hat sich aber nicht durchgesetzt. In der (feministischen) Sozialarbeit wird der Begriff ‚Parteilichkeit‘ sowohl zur Beschreibung der Forschungsperspektive als auch als Leitlinie der Praxis verwendet. In Bezug auf das Spannungsfeld zwischen individuellen und gesellschaftlichen Dimensionen ist in der feministischen Rezeption des Parteilichkeitskonzeptes bzw. der parteinehmenden Praxis folgende Problemstellung diskutiert worden: Die feministische Analyse von Machtverhältnissen und die daraus abgeleiteten Ziele und Perspektiven sozialer Praxis decken sich nicht notwendig mit den von Adressat_innen formulierten Interessen. Damit stellt sich die Frage, an welchen Interessen sich die parteinehmende Praxis orientiert soll. Für das feministische Parteilichkeitskonzept stehen Geschlechterverhältnisse im Vordergrund der Analyse gesellschaftlicher Machtverhältnisse. Eine Priorisierung der Ungleichheitsdimension Geschlecht läuft aber Gefahr, das Blickfeld in der Analyse praktischer Problemstellungen einzuengen und die Bedeutung von z.B. Klassenverhältnissen und rassistischen Verhältnissen für die Bewältigungsmöglichkeiten der Adressat_innen nicht wahrzunehmen (vgl. Katsch 2000).

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Zentrales Postulat in der Frauenhausbewegung war, der systematischen Verharmlosung und Verschleierung des Ausmaßes, in dem Frauen Gewalt erfahren, entgegenzutreten und die Erfahrungen der Frauen zum Ausgangspunkt der Intervention zu machen. Sich bewusst auf die Seite von Frauen und Mädchen zu stellen, ihnen Glauben zu schenken, statt ihre Aussagen in Zweifel zu ziehen, wird als wichtiges Element parteilicher Haltung in der Praxis genannt (Bitzan/Daigler 2001: 122). Parteiliche Arbeit war daher auch immer mit dem Vorwurf konfrontiert, ein eindimensionales und unkritisches Verhältnis zu den Mädchen und Frauen zu haben, sie „einfach nur zu bestätigen, ihre Verhaltens- und Sichtweisen einfach zu verdoppeln und sich abzuschotten gegenüber dem sozialen Umfeld bzw. den Interessen anderer, mit denen die Mädchen zu tun haben“ (ebd.: 110). Relevant ist an der Kritik, dass der Bezug auf die Erfahrung der Betroffenen, der in ideologiekritischer Absicht angetreten ist, Gefahr läuft, den Bezug zur theoriegeleiteten Gesellschaftsanalyse zu verlieren. Diese ist aber unabdingbar, um auch die Widersprüchlichkeit subjektiver Sichtweisen und Bewältigungsstrategien vor dem Hintergrund der konkreten Lebensbedingungen und den in ihnen enthaltenen unterschiedlichen Möglichkeiten und Behinderungen in der individuellen Lebensführung verstehen zu können. Kunstreich (2014: 53-54) argumentiert, dass sich Professionelle die Argumente für eine politische Perspektive in der Sozialen Arbeit nicht bei den Adressat_innen ausleihen können. So könne sich Parteinahme nicht aus der unmittelbaren Erfahrung der Betroffenen ableiten und legitimieren, sondern müsse sich auf einen explizierten Standpunkt der Professionellen beziehen. Leitlinie wird von hier aus eine Parteilichkeit in der Sache – für gerechtere Verhältnisse und eine menschenrechtliche Perspektive, die im Fall der OBS konkretisiert wird als Parteilichkeit gegen Rassismus und andere Dimensionen rechter Ideologie. 3.2.3

Betonung der Akteursebene durch Empowerment

Der Begriff ‚Empowerment‘ ist in der psychosozialen Praxis allgegenwärtig. In der psychosozialen Traumaarbeit, die individuelles Leid im Zusammenhang mit den gesellschaftlichen Umständen, in denen die Betroffenen das Trauma erfahren, versteht, ist Empowerment die zentrale Perspektive (Becker 2006: 180-184). Empowerment wird auch von den OBS als handlungsleitendes Konzept für ihre Arbeit genannt (AG Qualitätsstandards 2014: 12). Chahal (2003: 28; 2008) beschreibt Empowerment als zentrales Ziel britischer support projects zu Unterstützung von Betroffenen rassistischer Vorfälle. Empowerment kann als ein zentrales Konzept verstanden werden, mit dem in der Sozialen Arbeit sowie in anderen psychosozialen Feldern individuelle Problemlagen mit einer politischen Veränderungsperspektive verbunden werden. Der Begriff geht auf die US-Bürgerrechtsbewegung zurück und wurde von Solomon (1976) in ihrem

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Buch Black Empowerment: social work in oppressed communities erstmals als Konzept Sozialer Arbeit formuliert. Das Konzept etablierte sich im deutschsprachigen Raum in den 1990er Jahren als Perspektive in der Sozialen Arbeit (Herriger 2010, zuerst 1997), Gemeindepsychiatrie (Stark/Lenz 1996; Lenz 2011) und Heilpädagogik (Theunissen 2002, zuerst 1995). Bei der Beschäftigung mit dem Begriff Empowerment, den Herriger als „Selbstbefähigung und Selbstbemächtigung, Stärkung von Eigenmacht, Autonomie und Selbstverfügung“ (Herriger 2010: 18) übersetzt, wird allerdings seine Unschärfe deutlich. Solomon (1987: 80) verortet das Konzept des Empowerment im Kontext der Kritik an einer Sozialen Arbeit und klinischen Praxis, die die Problemlagen der Betroffenen auf innerpsychische Dimensionen reduziert. Sie analysiert die psychosozialen Problemlagen der mehrheitlich schwarzen Bewohner_innen in den armen Innenstadtbezirken von Los Angeles als Effekt ihrer sozialen Lage, in der sie als Minderheiten vielfacher Stigmatisierung und Diskriminierung im amerikanischen Sozialsystem ausgesetzt seien. Diese erlebten die Betroffenen als „powerblocks“, durch die sie in der Verwirklichung ihrer Möglichkeiten eingeschränkt würden. Mit der Unterscheidung zwischen direkten und indirekten powerblocks benennt Solomon (ebd.), dass die Einschränkungen oder Handlungsbehinderungen sowohl eine gesellschaftliche Ursache als auch eine individuumsbezogene Dimension haben. So beschreibt sie, dass auf Seiten der Betroffenen verinnerlichte Machtverhältnisse und diskriminierende Strukturen dazu führen, dass den Betroffenen emotionale, soziale und kognitive Kompetenzen fehlen, um z.B. im Umgang mit Institutionen wie Schule, Polizei und Sozialamt ihre Interessen effektiv vertreten und sich gegen Diskriminierung zur Wehr setzen zu können. Vor diesem Hintergrund müsse sich Soziale Arbeit, die auf Empowerment der Betroffenen zielt, an beide Seiten der powerblocks richten: Es gelte, mit den Betroffenen Strategien zu entwickeln und zu erproben, die eigenen Interessen besser zu vertreten, wozu auch eine emotionale Stärkung gehöre. Die Beratung der diskriminierten Zielgruppe dürfe allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Problem – bspw. die schwierige Interaktion zwischen Eltern und Schule in Bezug auf das störende Verhalten eines Schülers – wesentlich durch diskriminierende Strukturen auf Seite der Institution hervorgerufen werde. Empowerment-Praxis beinhalte daher auch die Intervention in diese Strukturen (ebd.). Die Doppelperspektive, sowohl in gesellschaftliche Strukturen bzw. Institutionen und Organisationen zu intervenieren als auch auf die Stärkung individueller Kompetenzen abzuzielen, findet sich auch in der weiteren Rezeption von Empowerment. So vollziehen sich Herriger (2010: 86) zufolge Empowerment-Prozesse auf vier Ebenen: die individuelle Ebene, die Gruppenebene, die institutionelle Ebene und die Gemeindeebene. Auch Perkins und Zimmerman verorten das Konzept an der Schnittstelle zwischen Individuum und Gesellschaft: „Empowerment theory, research, and intervention link individual well-being with the larger social and political environment.“

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(Perkins/Zimmermann 1995: 569) Dabei bleibt aber die Art der Vermittlung unbestimmt. In der Rezeption zeigt sich die Tendenz, Empowerment vor allem auf der Ebene der individuellen/psychologischen Befähigung der Klient_innen, der Aktivierung und Unterstützung von Selbsthilfepotenzialen und der Gestaltung eines ressourcenorientierten und nicht bevormundenden Blicks in professionellen Settings zu verorten, während die „Konzeptionalisierung der politischen Ebene seltsam unvollständig“ bleibt (Vossebrecher/Jeschke 2007: 58). So beschreibt Herriger (2010: 86) detaillierte „Werkzeuge einer Praxis des Empowerment“ auf individueller Ebene, die z.B. motivierende Gesprächsführung, Techniken zur Identifikation von Ressourcen der Klient_innen, therapeutische Techniken sowie Methoden zur Unterstützung kollektiver Selbstorganisation, politischer Partizipation durch Bürgerbeteiligung und Stadtteilarbeit umfassen. Die inhaltlichen Ziele politischer Partizipation bleiben dabei aber ebenso unbestimmt wie der Begriff von Gesellschaft und dessen Verhältnis zur Analyse der individuellen Lebensführung der Adressat_innen. Vossebrecher und Jeschke (2007) problematisieren, dass sich das Konzept des Empowerment durch die fehlende Explikation der gesellschaftstheoretischen Bezüge und die praktische Fokussierung auf individuelles Empowerment anknüpfungsfähig macht für neoliberale Selbstverantwortungsdiskurse. 3.2.4

Überschreitung des Einzelfallbezuges durch sozialräumliche Perspektiven

Wesentlich für die Bearbeitung des Spannungsfeldes zwischen individuellen Problemlagen und gesellschaftlichen Verursachungszusammenhängen durch die Soziale Arbeit ist die Ausweitung ihres Zuständigkeitsbereiches über das Individuum hinaus auf sozialräumliche Zusammenhänge. Mit dem Motiv des Sozialraumes werde, so Bingel (2011: 13), ein Rahmen vorgegeben, der die Bearbeitung gesellschaftspolitischer Probleme mit dem „Wissens- und Handlungsrepertoire Sozialer Arbeit“ bearbeitbar macht. Gemeinwesenarbeit (GWA) kann als – in sich überaus heterogenes – sozialräumliches Konzept in der Sozialen Arbeit verstanden werden, in dem die Handlungsräume Sozialer Arbeit zwischen Individuum und Gesellschaft in spezifischer Weise erprobt und intensiv diskutiert wurden und werden.17 Mit anderen Worten: Mit dem Gemeinwesen wurde eine Handlungsebene gefunden, mit der sich „für

17 Die Verwendung der Begriffe Gemeinwesenarbeit (GWA) und Sozialraum und ihre Beziehung zueinander ist in der Literatur nicht eindeutig. An dieser Stelle ist allgemein die jeweilige Perspektive der Sozialen Arbeit auf sozialräumliche Zusammenhänge gemeint, die jeweils unterschiedlich gefüllt wird. Konzepte der GWA können hier als sozialräumliche Konzepte der Sozialen Arbeit bezeichnet werden. Gleichzeitig hat der Begriff der Sozialraumorientierung den Begriff der Gemeinwesenarbeit teilweise abgelöst bzw. beide

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die Soziale Arbeit die Perspektive [verband], ihr operatives Arbeitsfeld genau zwischen Subjekt und Gesellschaft legen“ (Fehren 2008: 135), die individuumsbezogene Bearbeitung von Problemlagen überschreiten und – in vielen Fällen – mit einer politischen Veränderungsperspektive verbinden zu können. Eine solche Handlungsebene zwischen Subjekt und Gesellschaft beschreiben die OBS mit dem Handlungsfeld der ‚lokalen Intervention‘, welches darauf zielt, „das gesellschaftliche Umfeld für die Perspektiven von Betroffenen oder -gruppen zu sensibilisieren, Solidarisierungsprozesse vor Ort zu bewirken und die Position (potenziell) Betroffener zu stärken.“ (AG Qualitätsstandards 2014: 15) Mit dem Handlungsfeld der lokalen Intervention knüpfen die OBS an Konzepte und Traditionslinien sozialräumlicher Perspektiven wie der GWA in der Sozialen Arbeit an, unterscheiden sich aber zugleich in der Weise, in der der Bezug auf das Gemeinwesen hergestellt wird. Im Folgenden stelle ich dar, wie in der GWA individuelle Problemlagen und gesellschaftliche Verhältnisse als Praxisfeld Sozialer Arbeit miteinander ins Verhältnis gesetzt werden und welche Spannungsfelder in diesem Zusammenhang diskutiert wurden und werden. Gemeinwesenarbeit als heterogenes Konzept, Arbeitsfeld und Perspektive in der Sozialen Arbeit Gemeinsame Position verschiedener Richtungen der GWA ist es, über die Betrachtung von Einzelfällen und sozialen Gruppen hinaus großflächige soziale Netzwerke, das ‚Gemeinwesen‘ in den Blick zu nehmen (vgl. Fehren 2008: 8; Stövesand/Stoik 2013: 21). GWA richtet sich auf die Verbesserung der materiellen, infrastrukturellen und immateriellen Lebensbedingungen in einem Gemeinwesen. Hinte (2007a: 9) beschreibt als zentrale Prinzipien, dass die Arbeit ihren Ausgangspunkt im Willen und in den Interessen „der leistungsberechtigten Menschen“ nimmt und in der Praxis die Einbeziehung und Aktivierung der Betroffenen im Vordergrund steht. Ähnlich wie unter dem Aspekt des Empowerment diskutiert, werden in der Perspektive der GWA Prozesse der Bildung und Organisierung von Individuen mit der Zielsetzung der Veränderung struktureller Rahmenbedingungen verbunden – wobei allerdings die Weise, wie die strukturellen Rahmenbedingungen verstanden werden und auf welcher Ebene und mit welcher Reichweite sie verändert werden sollen, zentrale Konfliktpunkte innerhalb der GWA sind. Der Begriff des Gemeinwesens tauchte als Übersetzung des US-amerikanischen Begriffes Community Anfang der 1960er Jahre erstmals in der bundesdeutschen Diskussion auf. Es wurden Ansätze aus den USA und den Niederlanden rezipiert und in Bezug auf das Selbstverständnis und die gesellschaftlichen Aufgaben Sozialer Arbeit diskutiert, aber GWA wurde kaum praktisch umgesetzt. In dieser frühen Phase dominierte ein Verständnis von GWA, welches weitgehend pragmatisch orientiert war

Begriffe stehen sich als Konkurrenzbegriffe gegenüber und sind verbunden mit aufgeheizten Debatten über deren Inhalte (vgl. Kessl 2005).

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und gesellschaftliche Widersprüche ausklammerte (vgl. Oelschlägel 2013: 183-185). Nach 1968 wurde im Zuge der Kritik an den indivuumsbezogenen Methoden Sozialer Arbeit das Konzept der GWA aufgegriffen und mit der Perspektive radikaler gesellschaftlicher Veränderung verbunden. Der Begriff der ‚aggressiven GWA‘18 wurde als Abgrenzung zur vorfindlichen pragmatischen Auslegung von GWA eingeführt. Das Lokale wurde hier als Ort gesamtgesellschaftlicher Widersprüche begriffen: Benachteiligte Stadtteile wurden als anschauliche Beispiele für die anhaltende, im kapitalistischen System verankerte soziale Ungleichheit thematisiert, die sich durch die soziale Segregation in den Städten lokal verdichte (Bingel 2011: 121). Die Rolle der professionellen Gemeinwesenarbeiter_innen wurde darin gesehen, die Politisierung und Organisierung mit dem Ziel der Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse zu unterstützen (ebd.: 128). In der Praxis brach sich diese Zielsetzung vielmals darin, dass die Menschen in den Stadtteilen nicht die Perspektive der Gesellschaftsveränderung teilten. Sozialarbeiter_innen sahen sich vor der Aufgabe, die Zielgruppe erst aktivieren zu müssen. Der hohe politische Anspruch und die oft kleinteilige Realität der Praxis, die von Beginn an auch als ‚Pseudobeteiligung‘ kritisiert wurde, klafften auseinander. Zugleich etablierte sich GWA als Bestandteil kommunaler Politik, womit die Soziale Arbeit ihre Zuständigkeit an der Schnittstelle zwischen Zivilgesellschaft und Staat markieren konnte. GWA wurde zum Instrument von Sozialplanung und Verwaltung und damit auch als verlängerter und manipulierbarer Arm der Verwaltung wahrgenommen. Diskutiert wurde das Spannungsfeld in der Arbeit der GWAArbeiter_innen, den kommunalen Strukturen einerseits und den Basisbewegungen in der Bevölkerung andererseits verpflichtet zu sein. Die Popularität von GWA ließ spätestens ab Anfang der 1980er Jahren stark nach, sozialraumorientiertes Denken fand in der Sozialen Arbeit jedoch in veränderter Form und/oder unter anderen Begriffen weiter statt, was teilweise als Erfolg wahrgenommen, teilweise als Verwässerung des kritischen Programms der GWA kritisiert wurde (Fehren 2008: 137-138). Elemente von GWA wurden in die Sozialen Dienste übernommen, die Kommunalpolitik gewann an Bedeutung und zugleich wurden die Verbindungen zwischen sozialen Bewegungen/Selbsthilfeinitiativen und Sozialer Arbeit enger, und es fand mit dem Lebensweltkonzept eine Hinwendung zum Alltag der Menschen – in seinen lokalen Bezügen – statt. Es ging nicht mehr um den Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit, sondern um das Verhältnis von Bürger_in und Staat und um Verteilungskämpfe um die knapper werdenden kommunalen Ressourcen. Einmischung in die kommunale Politik ist hier ein zentraler Begriff für die Bestimmung der Rolle einer sich politisch verstehenden Sozialen Arbeit geworden (vgl. Oelschlägel 2013: 189-193).

18 Troxler (2013: 61) zufolge wurde der Begriff von Müller und Nimmermann (1971) eingeführt.

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Um sich vom linken Image zu lösen, setzten zentrale Vertreter_innen der GWA zunehmend auf andere Begrifflichkeiten. So begründet Hinte die Abkehr vom Begriff der GWA damit, dass hinter diesem zunehmend „terminologische Unschärfe“ sowie eine uneinheitliche und „eher dahin dümpelnde“ Praxis gestanden hat, die „Assoziationen weckte, die sie nicht gerade anschlussfähig an den Mainstream der Fachdiskussion machte.“ (Hinte 2007a: 8) Es wurde von „stadtteilbezogener Sozialer Arbeit“ und später von „Sozialraumorientierung“ gesprochen. Hinte (ebd.: 9) nennt als Aufgabe sozialraumbezogener Sozialer Arbeit dazu beizutragen, dass die Betroffenen in ihren prekären Stadtteilen und Lebensräumen besser zurechtkommen. Maßstab sind dabei nicht mehr gesamtgesellschaftliche Widersprüche und Möglichkeiten, sondern die Annahme, dass die Probleme der Adressat_innen vorwiegend durch sozialräumliche Gegebenheiten verursacht würden. Auch die Veränderungsperspektive bezieht sich nicht auf gesamtgesellschaftliche Widersprüche, sondern auf die Problemlösung innerhalb des sozialräumlichen Rahmens (Bingel 2011: 155). Sozialraumorientiertes Denken erfuhr in den 1990er Jahren mit der allgemeinen Konjunktur raumbezogenen Denkens in den Sozialwissenschaften (dem ‚spatial turn‘) einen erneuten Aufwind (Kessl 2005: 139). Die Verankerung von Quartiersmanagement im Programm Soziale Stadt oder das Programm Lokales Kapital für Soziale Zwecke sind Beispiele für den neuen Stellenwert dieses Denkens (Stövesand 2007a: 278). Auch das CIVITAS-Programm, welches explizit auf den Ausbau der demokratischen Zivilgesellschaft zur Bekämpfung von Rechtsextremismus und Rassismus setzte, kann im Zusammenhang zunehmender Popularität raumbezogener Konzepte zur Bearbeitung sozialer Probleme gesehen werden. Das Lokale wurde als ‚Politik von unten‘ als Antwort auf die mangelnde Innovationskraft und Wirksamkeit zentral organisierter sozialstaatlicher Maßnahmen formuliert. Programme auf Quartiersebene versprachen zielgenaue, an den jeweils spezifischen lokalen Bedürfnissen ausgerichteten Interventionen (Bingel 2011: 177-178). Spannungsfelder in der Bearbeitung der Schnittstelle von Individuum und Gesellschaft durch den Sozialraumbezug Sandermann und Urban (2007) argumentieren am Beispiel der Debatte um Sozialraumorientierung in der Jugendhilfe, dass die scharfe Distanzierung von individueller Hilfe und Einzelfallarbeit Gefahr läuft, den Bezug auf den Sozialraum als Lösung für das strukturelle Spannungsfeld von Hilfe und Kontrolle in der Jugendhilfe anzubieten. Die strukturelle Widersprüchlichkeit sozialer Arbeit, sowohl Hilfe als auch Kontrolle zu sein, werde damit ausgeblendet. Sozialraumorientierung werde eindeutig als Soziale Arbeit im Dienst der Adressat_innen verortet, die sich für die Verbesserung von deren Lebensbedingungen einsetze. Damit werde „das weiterhin strukturell wirksame gesellschaftliche Mandat der Jugendhilfe ideologisch verschleiert, in seiner Wirksamkeit ausgeblendet und dem reflexiven Zugang entzogen“ (ebd.: 56). Dies

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mache blind für die widersprüchlichen Effekte, die auch sozialraumbezogene Praxis habe. Auch Kessl (2012a) plädiert dafür, diese Widersprüchlichkeit in den Blick zu nehmen. So problematisiert auch er die unzureichende Bestimmung des für GWA konstitutiven Raumbezuges. Er problematisiert die Tendenz vieler Konzepte sozialraumbezogener Sozialer Arbeit, soziale Problemlagen zu territorialisieren (Kessl/ Otto 2007). Damit würden soziale Probleme bestimmten Quartieren zugeschrieben und auf die territoriale Dimension begrenzt. Schreier (2014) verweist darauf, dass sich durch den Fokus auf die territoriale Dimension Soziale Arbeit auf die Arbeit innerhalb dieser Quartiere beschränkt, indem nachbarschaftliche Unterstützungsressourcen mobilisiert und nur Lösungen in den Blick genommen werden, die innerhalb des Lokalen realisierbar sind, während der Rest der Gesellschaft unberührt bleibt. Damit sei die Gefahr verbunden, faktisch die Wohnbevölkerung in ihrem Sozialraum einzuschließen und so soziale Probleme zu ‚containern‘. Innerhalb benachteiligter Räume würden zwar die Bewohner_innen aktiviert, gegenseitige Hilfe zu leisten, die Bezüge über die benachteiligten Quartiere hinaus jedoch abgeschnitten. Soziale Arbeit werde so zum Exklusionsmanagement (ebd.: 135-140). Mit dem Paradigma der Aktivierung stelle sich GWA aus dieser Sicht in den Dienst neoliberaler Politik, indem der Abbau sozialstaatlicher Leistung durch die Aktivierung von Selbsthilfepotenzialen in benachteiligten Stadtteilen kompensiert werde (Stövesand 2007a: 280). Der Begriff des Gemeinwesens werde damit allzu leicht auf ‚Gemeinwohl‘ oder ‚Gemeinschaft‘ reduziert, womit innerhalb der nachbarschaftlichen Gemeinschaft geleistete Hilfe einklagbare Rechte auf sozialstaatliche Leistungen ersetze (Kessl/Otto 2007). Kessl und Reutlinger (2013) schlagen vor, GWA weiterzuentwickeln und einen reflexiven Bezug auf die räumliche Dimension Sozialer Arbeit herzustellen, der seinen Ausgangspunkt nicht in den als gegeben vorausgesetzten spezifischen Territorien nimmt. Sie unterbreiten den Vorschlag, ein relationales Raumkonzept zu entwickeln, das das Räumliche weder absolut als geografisch noch konstruktivistisch-relativ als reinen Handlungsraum begreift, sondern als Ergebnis sozialer Prozesse (ebd.: 129). Gesellschaftliche Verhältnisse und Widersprüche reflektieren sich, so die hier formulierte Perspektive, an konkreten Orten, an denen Zugang und Ausschluss zu gesellschaftlichen Handlungsmöglichkeiten deutlich werden. „Den in der Sozialraumarbeit Tätigen stellt sich somit die Frage der räumlichen Dimensionierung von Machtverhältnissen und Herrschaftsstrukturierungen im […] bestehenden ‚sozialen Raum‘.“ (Ebd.: 130) Um den Stellenwert des Raumes für die Bearbeitung individuell erfahrener sozialer Problemlagen zu bestimmen, verweist Bitzan (2013) auf die Berührungspunkte zwischen GWA und LWO. So könne der Sozialraum als Aspekt der Lebenswelt aus der Perspektive der Nutzer_innen dahingehend analysiert werden, wie gesellschaftliche Machtverhältnisse konkret zum Tragen kommen und den Alltag von Menschen

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ermöglichen oder ihm Grenzen setzen. Während das Konzept der LWO dazu anhalte, Lebenswelt auf den (idealisierten) familiären Kontext zu reduzieren, verweise GWA stärker auf die strukturellen Dimensionen der Lebenswelt, die es gelte, mit der konkreten Gestaltung und Bewältigung des Alltags zu verbinden. Bei Kessl und Reutlinger geht es darum, die konkreten Macht- und Interessenskonstellationen zu erschließen, die „die sozialräumlichen Handlungsoptionen der NutzerInnen behindern oder verunmöglichen.“ (Kessl/Reutlinger 2013: 130) Damit werden insbesondere die Grenzen der vorfindlichen Raumordnungen in den Blick gerückt. Eine solche Analyse erfordert allerdings ein gesellschaftstheoretisches Fundament, mit welchem die gesellschaftlichen Macht- und Herrschaftsverhältnisse in ihrer Komplexität analysiert werden können. Wesentlich ist zudem ein theoretisches Fundament, mit dem die Spannung zwischen dem im räumlich Gegebenen und Möglichen (wie bereits im Kontext von LWO ausgeführt) gefasst werden kann. May (2001) hat auf Grundlage marxistischer Theorie einen Begriff des Gemeinwesens vorgeschlagen, der insofern die Differenz zwischen konkret aktuell Gegebenem und gesellschaftlich Möglichem in den Mittelpunkt stellt, als er davon ausgeht, dass sich das menschliche Gemeinwesen, in welchem vollständige Partizipation und Überwindung von herrschaftlicher Unterdrückung und Marginalisierung realisiert ist, erst verwirklichen muss. Im Gegensatz zum ländlich und kleinstädtisch geprägten Kontext, in dem sich die in dieser Arbeit untersuchte Praxis der OBS bewegt, sind benachteiligte bzw. strukturschwache Stadtteile im städtischen Rand- oder Innenstadtgebieten das klassische Feld von GWA.19 Ansatzpunkt ist hier die lokale Verdichtung sozialer Problemlagen und, damit verbunden, die Annahme, Bewohner_innen in sozialräumlichen Einheiten hätten gemeinsame Interessen. Die Aufgabe von GWA wird hier u.a. darin gesehen, diese gemeinsamen Interessen zu identifizieren und – in der sozialvisionären Lesart – deren Artikulation zu unterstützen und mit der Perspektive der Gesellschaftsveränderung zu verbinden oder aber pragmatisch innerhalb des gegebenen Gestaltungsrahmens des Lokalen zu bearbeiten. Problematisch ist hierbei die Tendenz, Interessenlagen zu homogenisieren und Differenzen innerhalb des Gemeinwesens zu verdecken. Stövesand und Stoik (2013: 29) konstatieren, dass GWA fast immer eine Leerstelle bezüglich der Geschlechterverhältnissen hat. Die Arbeiten von Bitzan und Klöck (1993), die die spezifischen Interessen und Artikulationsmöglichkeiten von Mädchen im Gemeinwesen in den Mittelpunkt stellen, sowie von Stövesand (2007b), die sich mit den Möglichkeiten auseinandersetzt, auf häusliche Gewalt gegen Frauen im Gemeinwesen zu reagieren, sind hier als Ausnahmen zu nennen. Eine Leerstelle besteht auch in Hinblick auf die Berücksichtigung von Rassismus als gesellschaftliche Machtverhältnisse strukturierende und legitimierende Dimension, die für die sozialraumbezogene Praxis der OBS von besonderer Bedeutung ist. Neben der nach

19 Beispiele für GWA im ländlichen Raum sind deutlich seltener, aber es gibt sie. So z.B. dokumentiert bei Rohrmoser (2004) und Brandstetter/Schmid/Vyslouzil (2012).

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wie vor zentralen kapitalismuskritischen Perspektive auf die soziale Frage ist daher eine Aktualisierung und Kontextualisierung der bisher geleisteten Analysen notwendig, um die Vielschichtigkeit, in der gesellschaftliche Verhältnisse im sozialen Raum für die Einzelnen als Handlungsmöglichkeiten und -behinderungen relevant werden, erfassen zu können. Mit der Tendenz zur Homogenisierung ist die Tendenz von GWA verbunden, sich an einem idealisierten Bild von Gemeinschaft zu orientieren. Richtet sich GWA in erster Linie darauf, Vergemeinschaftungsprozesse zu fördern, läuft sie Gefahr, die Ansprüche an soziale Leistungen und Beteiligung an die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft zu knüpfen, statt die Einlösung verallgemeinerbarer Menschenrechte in der Gesellschaft als Richtschnur des Handelns zu nehmen. Eine reflexiv-kritische Perspektive, so Kessl und Reutlinger (2013: 134), zeichnet sich also auch durch das Wissen um die „dunklen Seiten der Vergemeinschaftung“, die repressiven Dimensionen des Verwiesenseins auf Gemeinschaft und soziale Verbindungen und Loyalitäten, aus. Zugleich ist die Perspektive des kollektiven Zusammenschlusses und der gemeinsamen Vertretung von Interessen unverzichtbar in Hinblick auf die Entwicklung politischer Machtentfaltung und Gesellschaftsveränderung. Die Tendenz von GWA, Gemeinwesen zu homogenisieren, birgt die Gefahr, auch die differenten und widersprüchlichen Meinungen, Haltungen und Interessen der Bewohner_innen der Quartiere zu homogenisieren und die Meinung durchsetzungsstarker Akteur_innen als common sense zu deuten (Fehren 2008: 141). Für die GWA stellt sich, diese Kritik aufnehmend, die Frage nach der Positionierung gegenüber den widerstreitenden Interessen der Bewohner_innen. Bitzan und Klöck (1993) fordern eine explizit konfliktorientierte Perspektive. Soziale Probleme, so die Autor_innen, verweisen immer auf gesellschaftliche Konflikte und so müsse die Aufgabe Sozialer Arbeit im Allgemeinen und GWA im Besonderen sein, diese Konflikte offen zu legen und sie zu bearbeiten (ebd.: 41). Gegenüber dieser pointiert konfliktorientierten, parteilichen Haltung der GWA wird u.a. von Hinte (2007b) die vermittelnde Rolle von GWA zwischen unterschiedlichen Szenen und Settings in den Vordergrund gestellt. Während die meisten Konzepte entweder Parteilichkeit oder intermediäre Rolle von GWA betonen, plädieren Stövesand und Stoik dafür, beides nicht als Gegensatz zu diskutieren, sondern darüber nachzudenken, wie beide Standpunkte vermittelt werden können. „GemeinwesenarbeiterInnen arbeiten in der Regel mit mehreren Zielgruppen und unterschiedlichen AdressatInnenkreisen, Ausgangspunkt der Aktivitäten sind häufig Konflikte. Hier braucht es Vermittlung. Wenn GWA jedoch generell eine neutrale Moderationsfunktion einnimmt, geht das zu Lasten der strukturell schwächeren Seite. So ist ein Runder Tisch mit PolitikerInnen und Wohnungslosen, um deren Aufenthalt im öffentlichen Raum gestritten wird,

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nicht wirklich ‚rund‘, ist i.d.R. keine Begegnung auf Augenhöhe.“ (Stövesand /Stoik 2013: 2829.)

Nützlich könne GWA für die Betroffenen aber auch nur sein, wenn sie nicht blind die Sichtweisen der Adressat_innen übernehme, sondern sich auch als ernstzunehmendes Gegenüber für Vertreter_innen von Verwaltung, Politik und Wirtschaft, Polizei oder einflussreichen Vertreter_innen der Zivilgesellschaft bewähre. Eine sozialraumbezogene Soziale Arbeit, die nicht bestehende Ordnungen reproduzieren wolle, müsse notwendigerweise eine in Bezug auf gesellschaftliche Machtverhältnisse begründete parteiliche Haltung einnehmen und sich entsprechend positionieren. Dies erfordert jeweils eine situative Analyse von Machtkonstellationen und Interessenslagen, was auch die Reflexion der Rolle und Handlungsoptionen der Fachkräfte Sozialer Arbeit einbezieht (Kessl/Reutlinger 2013: 135).

3.3

D IE P RAXIS DER OBS ALS B EISPIEL FÜR DIE B EARBEITUNG DES S PANNUNGSFELDES

Ich habe in den letzten Abschnitten dargestellt, dass das Spannungsfeld zwischen Individuum und Gesellschaft für die Soziale Arbeit konstitutiv ist. Es ist unstrittig, dass Soziale Arbeit sowohl individuumsbezogene als auch gesellschaftstheoretische Bezugspunkte haben muss. Die Frage nach der Notwendigkeit und Möglichkeit der gesellschaftspolitischen Verortung und politischen Einmischung waren und sind für das professionelle Selbstverständnis der Sozialen Arbeit von zentraler Bedeutung. Dabei steht auch das Verhältnis zwischen Sozialer Arbeit und politischen Bewegungen zur Debatte. Tendenzen, die eine oder die andere Seite des Spannungsfeldes auszublenden, d.h. sich auf die individuumsbezogene Bearbeitung von Problemlagen in der Pseudokonkretheit des Alltags zu beschränken oder Soziale Arbeit zugunsten eines politischen Projektes aufzulösen, erwiesen sich immer wieder als nicht gangbare Wege.20 Ich habe Konzepte diskutiert, die den Versuch unternehmen, in der Praxis Sozialer Arbeit individuelle und gesellschaftliche Probleme als miteinander verschränkte Dimensionen zu begreifen und zu bearbeiten. In der praktischen Erprobung und theoretischen Diskussion dieser Konzepte wurde deutlich, dass sich auch durch diese Konzepte das Spannungsfeld nicht auflösen lässt, sondern in Widersprüchen, mit denen die Praxis konfrontiert ist, zutage tritt.

20 Zumindest nicht als verallgemeinerbare Perspektive für die Soziale Arbeit, die damit ihren Gegenstand, soziale Probleme an der Schnittstelle von Individuum und Gesellschaft zu bearbeiten, verfehlen würde. Für individuelle Fachkräfte mögen beide Wege der Auflösung des Spannungsfeldes durchaus mögliche Umgangsstrategien sein.

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Ich untersuche in dieser Arbeit die Praxis der OBS als beispielhaft für die Auseinandersetzung mit dem Spannungsfeld mithilfe eines Ansatzes, der die politischen Dimensionen des Problemfeldes betont. Die OBS können dabei auf Erfahrungen zurückgreifen, die andere Projekte und Zugänge gemacht haben, die eine explizit politisch verstandene Soziale Arbeit erprobt und/oder sich, wie feministische Projekte, zwischen Sozialer Arbeit und politischen Bewegungen verortet haben. Ich werde die Praxis der OBS vor diesem Hintergrund dahingehend befragen, wie in der Praxis der OBS die im letzten Kapitel skizzierten Widersprüche und Schwierigkeiten auftauchen und wie widersprüchliche Anforderungen in spezifischen gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen praktisch aufgenommen werden. Ziel ist es, Handlungsräume einer sozialen Praxis mit explizit politischen Perspektiven sichtbar zu machen.

4 Individuelle Subjektivität und Gesellschaft – Grundbegriffe der Kritischen Psychologie

Das Anliegen der OBS, sowohl individuelle Unterstützungsleistungen anzubieten als auch auf gesellschaftspolitischer Ebene praktisch zu intervenieren, begründet sich u.a. aus der Annahme, dass das individuelle (psychische) Leiden der Gewaltbetroffenen mit gesellschaftlichen Verhältnissen zusammenhängt. Den Betroffenen könne kaum auf individueller Ebene geholfen werden, wenn von den Bedingungen, unter denen die Gewalt stattgefunden hat, abstrahiert werde. Anspruch der OBS ist es also, die Gewalterfahrung in ihrer Vermitteltheit mit gesellschaftlichen Dimensionen zu verstehen und beide Dimensionen in ihre Praxis einzubeziehen. Um die mit diesem Anspruch verbundenen Praxisprobleme zu untersuchen, ist eine theoretische Grundlage notwendig, die es ermöglicht, individuelle Problemlagen in ihrem Zusammenhang mit gesellschaftlichen Verhältnissen fassbar zu machen. Ich habe mich mit den Kategorien der Kritischen Psychologie für eine Begrifflichkeit entschieden, die ausdrücklich psychische Dimensionen menschlicher Subjektivität in ihrem Verhältnis zu gesellschaftlichen Verhältnissen aufzuklären ermöglichen will. Die Entwicklung der kritisch-psychologischen Begriffe fand zunächst in kritischer Auseinandersetzung mit vorfindlichen Vorstellungen einer experimentell orientierten Psychologie statt. In einer experimentell-nomothetisch orientierten Wissenschaft werden, so Holzkamp, „Feststellungen über die Verknüpfung zwischen eingeführten Bedingungen und dadurch bewirkten Effekten“ (Holzkamp 1972: 48) getroffen. Mit dem Ziel, allgemeingültige Aussagen über Ursache-Wirkungszusammenhänge zu machen, werden die konkret-historischen Bezüge der einzelnen Menschen ausgeklammert.1 In Bezug auf meine Forschung hieße dies, die Gewalterfahrung vom gesellschaftlichen und biografischen Kontext, in dem sie stattfindet, zu

1

So ist es in experimentellen Anordnungen notwendig, dass die Versuchsperson (Vp) nicht als konkrete Person mit spezifischen Lebensbezügen auftaucht, als „Mensch in jeweils besonderer, gesellschaftlich historischer Lage, dessen Selbst- und Weltsicht durch diese Lage bedingt ist“ (Holzkamp 1972: 54), sondern als austauschbares Modell. Die experimentelle

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trennen, um allgemeine Aspekte menschlicher Reaktionen auf die Zufügung körperlicher Gewalt herauszufiltern. Das hinter diesem Ansatz liegende Subjektverständnis kann für die Analyse der Praxis der OBS, die gerade den Anspruch verfolgen, die subjektive Erfahrung rechter und rassistischer Gewalt in ihren gesellschaftlichen Bezügen zu verstehen, nicht hilfreich sein. Ebenso wenig sinnvoll ist aber auch ein Individualitätsverständnis, das davon ausgeht, dass die jeweilige Position der Individuen im gesellschaftlichen Zusammenhang ihr Bewusstsein, Handeln, Denken und Fühlen eindeutig bestimmt und so gesellschaftliche Dimensionen deterministisch auffasst. Auch wenn man der Auffassung folgt, dass rassistische Diskriminierung als gesellschaftliches Strukturmerkmal gesehen werden kann, ist nicht eindeutig, was dies für das individuelle Denken, Handeln und Fühlen einzelner Individuen heißt. Wie bspw. Betroffene rassistischer Gewalt diese Gewalt für sich interpretieren, wie sie diese Gewalt erleben und welche Handlungen aus dieser Gewalterfahrung folgen, ist unterschiedlich. Das Subjekt lässt sich nicht zum bloßen Resultat gesellschaftlicher Bedingungen verkürzen. (Holzkamp 1983: 346) Wie aber lässt sich das Verhältnis von gesellschaftlichen Bedingungen und individueller Subjektivität begrifflich fassen, ohne die Uneindeutigkeit subjektiver Deutungen von Problemlagen auszuklammern? Wie kann das Vermittlungsverhältnis zwischen individuellem Denken, Handeln und Fühlen und den objektiven gesellschaftlichen Verhältnissen, die der Einzelne als gegeben vorfindet, die aber gleichzeitig von Menschen gemacht, also von den Einzelnen produziert und reproduziert werden, begrifflich gedacht werden? Die Begriffe der Kritischen Psychologie, die ich im Folgenden vorstelle, liefern keine historisch-konkrete Bestimmung dieses Zusammenhangs, sondern stellen als Kategorien, als einzelnen Theorien vorgelagerte Begriffe2, das Gerüst zur Verfügung, mit dessen Hilfe das Spannungsverhältnis im jeweiligen Fall empirisch konkretisiert und analysiert werden kann. Als allgemeine Bestimmung des Mensch-Welt-Zusammenhangs liefern die im Folgenden vorgestellten Begriffe ein Analysewerkzeug, mit welchem sich die zwei miteinander verbundenen

Psychologie geht also von einer ‚Norm-Vp‘ aus: Ein „ahistorisches Individuum, dessen Verhalten nur von den als Ausgangsmomenten vorgegebenen Stimulus-Momenten und Zwischenvariablen abhängt - die historisch-gesellschaftliche Bedingtheit des Menschen in je konkreter Lage soll gemäß dem nomothetischen Konzept der Norm-Vp ja gerade als ‚Fehlervarianz‘ ausgeschaltet bzw. neutralisiert werden.“ (Ebd.) 2

„Mit ‚Kategorien‘ sind hier diejenigen Grundbegriffe gemeint, mit welchen in einer empirischen Wissenschaft oder in übergreifenden Arbeitsrichtungen innerhalb dieser Wissenschaft (ob implizit oder bewußt) ihr Gegenstand, seine Abgrenzung nach außen, sein Wesen, seine innere Struktur, bestimmt sind (in der Physik sind derartige Kategorien etwa ‚Masse‘, ‚Energie‘, ‚Kraft‘ etc.). Solche Kategorien schließen stets bestimmte methodologische Vorstellungen darüber ein, wie man wissenschaftlich vorzugehen hat, um den Gegenstand adäquat zu erfassen.“ (Holzkamp 1983: 27-28)

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Fragekomplexe meiner Arbeit bearbeiten lassen: Dies ist erstens die Frage, wie gesellschaftliche Dimensionen in die subjektive Erfahrung rechter und rassistischer Gewalt eingehen, und zweitens die Frage nach den Möglichkeiten, Widersprüchen und Handlungsproblematiken in einer Beratungsarbeit, die die Verbindung individueller und gesellschaftlicher Dimensionen rechter und rassistischer Gewalt praktisch aufnehmen will.

4.1

H ANDLUNGSFÄHIGKEIT ALS ZENTRALE V ERMITTLUNGSKATEGORIE

Anspruch der von Klaus Holzkamp und anderen entwickelten Begrifflichkeit ist es, eine kategoriale Bestimmung des „gesellschaftlichen Mensch-Welt-Zusammenhangs“ zu leisten, in welcher die „Vermittlung zwischen den objektiven (d.h. materiell-ökonomischen etc.) und den psychischen Bestimmungen [...] adäquat begrifflich abgebildet.“ wird (Holzkamp 1983: 192, Herv. entf. GK) Der Begriff der Handlungsfähigkeit ist die zentrale Vermittlungskategorie,3 mit der das uneindeutige Verhältnis von gesellschaftlichen Bedingungen und subjektiven Problemlagen gefasst wird. Handlungsfähigkeit bezeichnet in dieser Konzeption die Bewegungsweise des Einzelnen in der Gesellschaft und umfasst als psychologische Kategorie die psychischen Funktionsaspekte Emotion/Motivation und Kognition. Die Kategorie der Handlungsfähigkeit im Sinne Holzkamps betrifft also menschliche Subjektivität und Befindlichkeit in ihrer Komplexität und geht damit über einen engeren Begriff von Handlung hinaus. Sie ist gefasst als die „gesamtgesellschaftlich vermittelte Verfügung über die eigenen Lebensbedingungen.“ (Ebd.: 239) Handlungsfähigkeit ist als relativer Begriff zu verstehen, der Handlungen immer als die Realisierung eines Verhältnisses von Möglichkeiten und Behinderungen fasst. Die vollständige Realisierung personaler Handlungsfähigkeit wird insofern als utopisches Moment verstanden. Die Einschränkung von personaler Handlungsfähigkeit, d.h. die Einschränkung der Verfügung über die eigenen Lebensbedingungen, wird als allgemeinste Leidensdimension konzeptualisiert (ebd.: 234). Personale Handlungsfähigkeit als Analyseinstrument stellt also die Frage, worin im konkreten Fall die Einschränkung von Handlungsfähigkeit als subjektive Problematik besteht.

3

Vermittlungskategorien haben die Aufgabe, „die Vermittlung zwischen den objektiven (d.h, materiell-ökonomischen etc.) und den psychischen Bestimmungen des gesellschaftlichen Mensch-Welt-Zusammenhangs adäquat begrifflich“ abzubilden (Holzkamp 1983: 192).

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4.1.1

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Gesamtgesellschaftliche Vermitteltheit individueller Existenz

Die Vermittlungskategorie der Handlungsfähigkeit baut auf ein Verständnis des Menschen als eines gesellschaftlichen Wesens auf.4 Gesellschaftliche Bedingungen werden in der Kritischen Psychologie auf der einen Seite dem Individuum vorgelagert gedacht – das Individuum findet gesellschaftliche Bedingungen bereits vor. Auf der anderen Seite sind gesellschaftliche Bedingungen aber nicht die unverbundene Umwelt von Individuen, sie sind vielmehr im gesellschaftlichen Prozess gestaltete Bedingungen, die von Menschen produziert und reproduziert werden. Vorgeschlagen wird also ein Subjektverständnis, in dem die Lebenstätigkeit und Befindlichkeit einzelner Individuen einerseits von den vorgefundenen Lebensbedingungen abhängt, andererseits diese Lebensbedingungen aber als vom Menschen gemachte und damit veränderbare gesellschaftliche Verhältnisse in den Blick kommen. Ein solches Verständnis des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft ist zentral für die Analyse der Praxis von OBS, die den Anspruch formulieren, nicht nur den Einzelnen zu helfen, die Gewalterfahrung zu verarbeiten, sondern zugleich die Verhältnisse infrage zu stellen, die das individuelle Leiden hervorbringen. Die individuelle Reproduktion des Menschen ist eingebunden in den gesellschaftlichen Gesamtprozess. Die Nutzung der im gesellschaftlichen Prozess hergestellten Lebensmittel und -möglichkeiten hängt aber mit fortschreitender Vergesellschaftung und Arbeitsteilung nicht mehr notwendig daran, selbst an der Produktion beteiligt zu sein. In diesem Sinne ist die Realisierung gesamtgesellschaftlicher Handlungsnotwendigkeiten zur gesellschaftlichen Reproduktion für den Einzelnen keineswegs zwingend, sondern wiederum vermittelt durch die konkrete Gesellschaftsorganisation (vgl. ebd.). Hierin ist die prinzipielle Freiheit des Individuums, sich zu den vorfindlichen Bedingungen zu verhalten, begründet.5 Dies impliziert auch die Möglichkeit der kognitiven Distanz zur eigenen Situation. Den Menschen als gesellschaftliches Wesen zu verstehen bedeutet, dass Aussagen über psychische Dimensionen (zum Beispiel Aussagen zu psychischen Folgen von Gewalt) nicht als fixe Aussagen gemacht werden können, sondern immer nur in Bezug auf konkrete gesellschaftlich-historische Entwicklungen, zu denen das Subjekt prinzipiell in einer Möglichkeitsbeziehung steht. In seiner Einführung in die Kritische Psychologie formuliert Markard:

4

Dieses Verständnis wurde im Forschungszusammenhang der Kritischen Psychologie aus naturgeschichtlichem Material heraus entwickelt und in der Grundlegung der Psychologie (Holzkamp 1983: 192) ausführlich dargestellt.

5

„Da hier die Existenzsicherung nicht mehr unmittelbar von der Bedeutungsumsetzung abhängt“ hat das Individuum „immer auch die Alternative, nicht oder anders zu handeln“ (Holzkamp 1983: 236, Herv. entf. GK).

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„Individuen sind in ihrem ‚Erleben und Verhalten‘ nicht wie abhängige Variablen jeweiliger gesellschaftlicher Bedingungen zu fassen, sondern diese Bedingungen bilden ein ‚Ensemble‘ von – klassen-, geschlechts- und nach ethnischen Kategorisierungen spezifischen – Handlungsmöglichkeiten und Handlungsbehinderungen, in dem sich die Einzelnen bewegen.“ (Markard 2009: 149)

Die subjektive Bedeutung rechter und rassistischer Gewalt zu verstehen, macht demnach auch ein gesellschaftstheoretisches Verständnis der konkret-historischen Situation der Betroffenen und den damit zusammenhängenden Handlungsmöglichkeiten und -behinderungen notwendig. Lebenslage und Position zur Konkretisierung des Mensch-Welt-Verhältnisses Welche Ausschnitte des gesellschaftlichen Gesamtzusammenhangs für das Individuum wie relevant werden, hängt davon ab, wie es zum gesellschaftlichen Prozess steht. Mit dem Begriff ‚Position‘ bezeichnet Holzkamp (1983: 196) die Verankerung des Individuums im gesellschaftlichen Produktionsprozess, die Position in der gesellschaftlichen Arbeitsteilung und die damit verbundenen Einflussmöglichkeiten auf die Lebensumstände Das Konzept der ‚Lebenslage‘ schließt die Position im arbeitsteiligen Produktionsprozess ein, geht aber darüber hinaus: Es umfasst alle Bereiche des Lebens – Haushalt, Freizeit, Hobby, Familie und Freundschaft etc. –, über die das Individuum Kontakt zu den gesellschaftlichen Verhältnissen bekommt. Die Lebenslage eines Individuums kennzeichnen die „gesellschaftlich produzierten gegenständlich-sozialen Verhältnisse vom realen Standpunkt des Individuums.“ (Ebd.: 197) Über Lage und Position kann spezifiziert werden, welchen Handlungsmöglichkeiten und -beschränkungen das Individuum gegenübersteht. Die Handlungsmöglichkeiten in der Position als Asylbewerber_in sind durch Sondergesetze wie die Residenzpflicht oder Unterbringung in Flüchtlingslagern massiv eingeschränkt. In der Lage als alleinerziehende Mutter oder als Teil einer Flüchtlingsselbstorganisation, in einer spezifischen Nachbarschaft, die gegen die Unterbringung von Flüchtlingen mobilisiert oder in der bereits Unterstützungsnetzwerke bestehen, ergeben sich jeweils unterschiedliche Handlungsmöglichkeiten und -beschränkungen. Handlungsmöglichkeiten von Jugendlichen nach einer Gewalterfahrung können durch ein wenig unterstützendes Umfeld, Abhängigkeit vom Elternhaus oder die Schulpflicht in spezifischer Weise eingeschränkt sein. Die Handlungsmöglichkeiten vom Standpunkt des Subjekts sind auch durch die Begriffe und Theorien strukturiert, die dem Individuum zu Verfügung stehen, um die eigene Erfahrung zu deuten. So haben gesellschaftliche Diskurse über rassistische Gewalt, aber auch Diskurse, die den Einzelnen bestimmte Positionen im gesellschaftlichen Zusammenhang zuweisen – z.B. als ‚Migrantin‘ vor

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allem für den Dienstleistungssektor und Care Work qualifiziert zu gelten – Auswirkungen auf die ihnen objektiv zu Verfügung stehenden Handlungsmöglichkeiten. Die Handlungsfähigkeit/Befindlichkeit von Subjekten, gefasst als Verfügung über die eigenen Lebensbedingungen, ist also vermittelt über die Lage und Position des Individuums im konkreten historischen Zusammenhang (vgl. ebd.: 241). Analyse von Bedingungen, Bedeutungen und Begründungen vom Standpunkt des Subjekts Der Begriff ‚Handlungsfähigkeit‘ soll als Vermittlungsbegriff dazu dienen, das spezifische Verhältnis von Handlungsmöglichkeiten und -beschränkungen von Betroffenen rechter und rassistischer Gewalt und in der Praxis der OBS herauszuarbeiten. Wie ist aber die Vermittlung von individueller Lebenstätigkeit und gesamtgesellschaftlicher Reproduktion genau zu analysieren? Holzkamp (ebd.: 356) benennt drei Ebenen, die analytisch zu trennen sind, um den Zusammenhang zwischen individuellem Denken, Handeln und Fühlen und gesellschaftlichen Strukturen konkret analysieren zu können: 1. Die gesellschaftstheoretische Bezugsebene (‚Bedingungsanalyse‘), 2. die Ebene der Bedeutungen und Denkformen (‚Bedeutungsanalyse‘) und 3. die Ebene der subjektiven Handlungsgründe (‚Begründungsanalyse‘). Die individuelle Existenz ist zwar in gesellschaftliche Verhältnisse als objektive Lebensbedingungen eingebunden, Gesellschaft ist aber für das Individuum nicht in ihrer Gänze zugänglich. Holzkamp spricht von einer „Diskrepanz zwischen dem realen und dem phänomenalen Aspekt der Lebensbedingungen“ (ebd.: 353). Mit dem Begriff ‚Bedeutung‘ ist der Bezug jedes einzelnen Menschen zu den gesellschaftlichen Bedingungen gefasst. Gesamtgesellschaftliche Bedeutungszusammenhänge ergeben sich aus der Gesamtheit der zur gesellschaftlichen Reproduktion notwendigen Handlungen, zu denen die Einzelnen in einer Möglichkeitsbeziehung stehen. Sie repräsentieren damit für das Individuum gesellschaftlich gegebene Handlungsmöglichkeiten. „‚Bedeutungen‘ bezeichnen darin […] den Bezug jedes einzelnen Menschen zum gesamtgesellschaftlichen Handlungszusammenhang, wie er in den umgreifenden Bedeutungsstrukturen gegeben ist.“ (Ebd.: 234, Herv. entf. GK) Objektive Bedingungen schlagen in dieser Konzeption also nicht direkt auf das Individuum durch, sondern sind vermittelt über gesellschaftliche Denkformen, Ideologien, institutionelle Anordnungen, kulturelle Muster, Diskursformen etc. Welche der in den Bedingungs-Bedeutungskonstellationen liegenden Handlungsmöglichkeiten für das Individuum tatsächlich (handlungs-)relevant werden, ist Ergebnis subjektiver Bewertungs- und Gewichtungsprozesse. Die in gesellschaftlichen Bedingungen liegenden und über Lage und Position der Individuen vermittelten Handlungsmöglichkeiten werden nicht per se bedeutsam in Hinblick auf die individuelle Handlungsfähigkeit/Befindlichkeit, sondern „in der Art und Weise, wie sie vom Subjekt als seine ‚Situation‘, seine persönlichen Eigenschaften und Fähigkeiten,

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sein Vergangenheits- und Zukunftsbezug etc. erfahren, emotional bewertet, in motivierte oder erzwungene Handlungen umgesetzt werden.“ (Ebd.: 353) In die subjektiven Handlungsgründe gehen also erstens die objektiven Handlungsmöglichkeiten, wie das Subjekt sie erlebt und aus der Vielzahl von Handlungsmöglichkeiten als relevant für die eigenen Handlungen hervorhebt, ein. Die tatsächliche Umsetzung von Handlungsmöglichkeiten als Handlungsbegründungen hängt zweitens daran, dass das Subjekt dadurch seine Bedürfnisse und Interessen als realisierbar ansieht. Die Frage lautet also: Unter welchen Prämissen und in Hinblick auf welche Interessen werden Handlungsmöglichkeiten realisiert oder nicht realisiert? Welche BedingungsBedeutungskonstellationen werden vom Subjekt als relevant bewertet und zu Prämissen des eigenen Denken, Handelns und Fühlens akzentuiert? In dieser Untersuchung soll menschliche Lebenstätigkeit als in Bedingungs-Bedeutungskonstellationen (gemäß Lage und Position) begründetes Handeln verstanden werden. Wesentlich ist hierbei, dass der Analyseweg vom Standpunkt des Subjekts und dessen Handlungsproblematik ausgeht. Statt von gesellschaftstheoretischen Überlegungen auf die Handlungsfähigkeit/Befindlichkeit von Betroffenen und Berater_innen zu schließen, kommen gesellschaftliche Bedingungen als spezifisches Ensemble von Handlungsmöglichkeiten und Handlungsbehinderungen in den Blick, zu denen sich die Einzelnen verhalten können und müssen (vgl. Markard 2012a: 385). Gefragt wird in dieser Arbeit also, in welcher Weise in der konkreten zu bewältigenden Lebensproblematik (eingeschränkter Handlungsfähigkeit) nach einem rechten oder rassistischen Angriff gesellschaftliche Dimensionen subjektiv relevant werden und mit welchen Aspekten gesellschaftlicher Bedingungen die Handlungsproblematiken in der Beratungspraxis zusammenhängen. Mit dem Begriff ‚subjektive Möglichkeitsräume‘ wird zudem fassbar, dass die gegebenen Handlungsmöglichkeiten nicht unvermittelt von der gesellschaftlichen Struktur abhängen, sondern je nach konkreter Lebenslage und Position der Individuen im gesellschaftlichen Zusammenhang spezifiziert werden müssen. Zudem hängt der jeweilige subjektive Möglichkeitsraum auch davon ab, welche (objektiven) Handlungsmöglichkeiten individuell als realisierbar wahrgenommen werden. Dieser „phänomenale Aspekt“ der Handlungsmöglichkeiten hängt nicht nur mit der subjektiven Verfügbarkeit von Denkformen, sondern auch mit individuellen biografischen Erfahrungen zusammen (Holzkamp 1983: 368). Subjektive Möglichkeitsräume können daher auch hinter den in den Bedeutungen gegebenen Möglichkeiten zurückbleiben bzw. sich über gegebene Handlungsmöglichkeiten und -einschränkungen täuschen. Der Begriff des ‚subjektiven Möglichkeitsraums‘ verweist außerdem erneut darauf, dass Forschungsziel der Kritischen Psychologie nicht Klassifikationen, Merkmale und Eigenschaften sind, sondern Handlungsmöglichkeiten. Statt individuelle Eigenschaften als Erklärung dafür heranzuziehen, warum die Gewalt unterschiedlich wahrgenommen wird, oder bestimmte Handlungsstrategien ‚funktionieren‘ oder nicht, ist das, was als Eigenschaft erscheint, selbst erklärungsbedürftig.

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Die grundsätzliche Begründetheit menschlicher Lebenstätigkeit besteht auch dann, wenn die jeweiligen Prämissen-Gründe-Zusammenhänge nicht unmittelbar einsehbar sind, Handlungen für das Individuum selbst und für Außenstehende zunächst unverständlich sind oder irrational erscheinen. So können sich die Einzelnen über ihre realen Handlungsmöglichkeiten täuschen: Welche objektiven Handlungsmöglichkeiten für die Individuen real zu Prämissen und Handlungsbegründungen werden, ist Gegenstand subjektiver Wertungs- und Gewichtungsprozesse, jeweils im Medium gesellschaftlicher Bedeutungen und Denkformen, die ihrerseits die jeweilige Lage des Subjekts und die darin liegenden Handlungsmöglichkeiten verkürzt oder mystifizierend wiedergeben können. So wird bspw. im neoliberalen Selbstverantwortungsdiskurs suggeriert, alle hätten die gleichen Möglichkeiten, präventiv für ihre Gesundheit zu sorgen, so dass dann Krankheiten als individuelles Versagen gedeutet werden können. Für Außenstehende sind möglicherweise die Handlungsprämissen und Gründe, die sich aus biografischen Erfahrungen und spezifischen Lebenslagen sowie den Bedeutungsbezügen ergeben, nicht unmittelbar einsichtig. Biografische Erfahrungen mit früheren Gewalterfahrungen, kollektive Wissensbestände von ‚Minderheiten‘ in Deutschland oder die subjektiv wahrgenommene Verfügbarkeit verlässlicher sozialer Unterstützung können unterschiedlich relevant für die subjektive Wertung von Handlungsmöglichkeiten sein. Auch für das Subjekt selbst können die Prämissen und Gründe der eigenen Befindlichkeit im Dunkeln liegen. Erscheint Handeln, Denken und Fühlen für einen selbst oder für andere unbegründet oder irrational, heißt dies, dass die Prämissen „aus denen sich die [...] subjektive Funktionalität der Handlungen ergeben würden, nicht bekannt, verborgen etc. sind.“ (Ebd.: 351) Andere Menschen oder sich selbst als ‚irrational‘ zu charakterisieren, bedeutet, aufgegeben zu haben, sich selbst oder andere zu verstehen. Damit ist also die eigene Erkenntnislage und nicht die Handlung oder ‚Eigenschaft‘ anderer angesprochen (vgl. Markard 2009: 188). Der Begründungsdiskurs wird in der Kritischen Psychologie auch dann nicht aufgegeben, wenn das Handeln selbstschädigend erscheint. Es wird davon ausgegangen, dass Handlungen auch dann (kurzfristig) subjektiv funktional sind, wenn sie (langfristig) selbstschädigende Folgen haben. Sie können „zwar im Widerspruch zu meinen objektiven Lebensinteressen stehen, nicht aber im Widerspruch zu meinen menschlichen Bedürfnissen und Lebensinteressen, wie ich sie als meine Situation erfahre.“ (Holzkamp 1983: 350, Herv. entf. GK) Unter der Voraussetzung, dass sich kein Mensch bewusst schadet, zielt die Begründungsanalyse darauf, herauszuarbeiten, inwiefern eine – möglicherweise irrational oder selbstschädigend erscheinende – Handlung subjektiv funktional ist (ebd.), d.h. inwiefern sie in Bezug auf die eigenen Bedürfnisse und Interessen gut begründet ist. Die Aufklärung verborgener Prämissen-Gründe-Zusammenhänge solch unverstandener, unbewusster, widersprüchlicher und selbstschädigender Reaktionen und Handlungen ist wesentlicher Gegenstand psychologischer Forschung und Praxis. Der begriffliche Zugang zu den dynamischen

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Prozessen von Verdrängung, Mystifizierung und Leugnung von Zusammenhängen und den unterschiedlichen problematisch werdenden psychischen Erscheinungsformen ist mit dem Begriff der ‚restriktiven Funktionalität‘ gegeben, auf den ich im nächsten Unterkapitel eingehe. Menschlicher Subjektivität in Theorie und Praxis gerecht zu werden, heißt vor diesem Hintergrund, den Begründungsdiskurs nicht zu unterschreiten. Menschliche Befindlichkeit als in Bedingungen begründet zu verstehen, grenzt sich nicht nur von Konzeptionen ab, in denen menschliches Denken, Handeln und Fühlen als reines Produkt der jeweiligen sozialen Lage verstanden wird, sondern auch von solchen, in denen menschliches Handeln völlig frei von gesellschaftlichen Bedingungen gefasst wird.6 Durch die analytische Trennung der Bezugsebenen von Bedingungen, Bedeutungen und Begründungen ist es möglich, deren Verbindung so zu begreifen, dass einerseits die objektive Realität in ihrer konkreten Beschaffenheit zur Kenntnis genommen wird, zugleich aber als Psychologie vom Standpunkt des Subjekts die subjektive Sicht auf die Welt Ausgangspunkt ist. Gesellschaft wird nicht als solche psychologisch relevant, sondern in den den Individuen zugewandten Ausschnitten und in jeweils subjektiver Interpretation. Entgegen der Auffassung, dass objektive gesellschaftliche Verhältnisse daher letztlich psychologisch irrelevant seien, da nur ihre subjektive Realisierung oder Sinnstiftung bedeutsam werde, wird in der subjektwissenschaftlichen Konzeption „nach der Differenz zwischen subjektiver Wahrnehmung und dem Wahrgenommenen [ge]fragt.“ (Markard 2013: 7) Um Mystifikationen und Verkürzungen im subjektiven Blick auf gesellschaftlich vermittelte Handlungsmöglichkeiten aufklären zu können, bedarf es eines Verständnisses gesellschaftlicher Bedingungen. In der Kritischen Psychologie werden die Begriffe personale Handlungsfähigkeit, Bedingungs-, Bedeutungs-, Begründungsanalyse mit marxistischen Gesellschaftsanalysen verbunden. Hiermit rücken spezifische Sichtweisen auf die Bedeutung von konkret-historischen Herrschaftsverhältnissen für die individuelle Handlungsfähigkeit/Befindlichkeit als spezifisches Verhältnis von Handlungsmöglichkei-

6

Auch grenzt sich die Konzeption der Kritischen Psychologie von Ansätzen ab, die einen deterministischen Zusammenhang zwischen menschlichem Denken, Handeln und Fühlen und biologischer „Disposition“ herstellen, wie in vielen Erklärungsansätzen, die sich auf Genetik oder Hirnforschung beziehen. Auch hier geht es nicht darum, die Bedeutung biologischer Bedingungen zurückzuweisen. So argumentiert Lux (2012) in Bezug auf die Genetik, dass sich deren psychologische Bedeutung erst aus der Bedingungs-Bedeutungs-Begründungsanalyse ergibt, was u.a. eine fundierte und interdisziplinäre Auseinandersetzung darüber notwendig macht, wie die biologischen Bedingungen gefasst werden. Die Bestimmung des Verhältnisses menschlicher Subjektivität und Biologie ist für den in dieser Arbeit verfolgten Zusammenhang allerdings weniger zentral als das Verhältnis von gesellschaftlichen Strukturen und menschlicher Subjektivität.

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ten und -behinderungen in den Blick. Die Notwendigkeit, die eher groben gesellschaftstheoretischen Bestimmungen, die Holzkamp in der Grundlegung der Psychologie vorgenommen hat, je nach Fragestellung, z.B. in Hinblick auf sich verändernde Produktionsweisen und Staatlichkeit, die Verbindungen von Rassismen und Sexismen innerhalb der kapitalistischen Gesellschaftsform, zu konkretisieren und zu aktualisieren, wurde u.a. im Rahmen des vierten Kongresses der Kritischen Psychologie Erkenntnis und Parteilichkeit (vgl. Fried und Kolleg_innen 1998) sowie bei Fried (2002) und Kaindl (1998) herausgearbeitet. Ohne eine Vorstellung darüber, wie aktuelle gesellschaftliche Machtverhältnisse durch Klassenverhältnisse, Sexismen und Rassismen strukturiert sind, und wie sich diese gesellschaftlichen Strukturmomente über Diskurse, Ideologien und Alltagspraxen darstellen, kann nicht herausgearbeitet werden, wie diese Bedingungs-Bedeutungskonstellationen in der individuellen Erfahrung rassistischer Gewalt repräsentiert sind. Insbesondere ermöglicht aber die analytische Trennung zwischen Bedingungen, Bedeutungen und Begründungen, unterschiedliche, in den Bedingungs-Bedeutungskonstellationen liegende Handlungsmöglichkeiten sichtbar zu machen.7 Dass rechte oder rassistische Gewalt von Betroffenen mitunter sehr unterschiedlich erfahren wird, dass das subjektive Leiden nach einer Gewalttat nicht notwendigerweise mit der Schwere der körperlichen Gewalt korrespondiert, dass das Leben unter den restriktiven ausländerrechtlichen Bedingungen (z.B. Unterbringung in Sammelunterkünften, Arbeitsverbot, Residenzpflicht) unterschiedlich belastend erlebt wird, ist auf Grundlage der Begriffe von Bedingungen, Bedeutungen, Prämissen und Gründen Ausgangspunkt und nicht Ergebnis der empirischen Forschung, die auf die Aufklärung von Prämissen-Gründe-Zusammenhängen setzt. 4.1.2

Widersprüchlichkeit personaler Handlungsfähigkeit in widersprüchlichen gesellschaftlichen Bedingungen: restriktive/verallgemeinerte Handlungsfähigkeit

Die gesamtgesellschaftliche Vermitteltheit menschlicher Existenz hat Holzkamp zunächst als allgemeine Charakterisierung menschlicher Subjektivität herausgearbeitet, 7

Fried (2002) hat die Notwendigkeit der analytischen Trennung von Bedingungen, Bedeutungen und Begründungen sowie explizierter gesellschaftstheoretischer Bezüge in kritischer Auseinandersetzung mit der auf Grundlage der Kritischen Psychologie von Osterkamp (1996) vorgeschlagenen Rassismustheorie herausgearbeitet. Wenn nicht geklärt ist, so argumentiert Fried, auf welcher Ebene theoretische Konzepte angesiedelt sind, verlieren sie ihren Erklärungsgehalt: Wird beispielsweise das Konzept des institutionellen Rassismus sowohl auf der Strukturebene (als Bedingungs-Bedeutungskonstellation) als auch als subjektive Handlungsbegründung verwendet, verschwindet damit die Möglichkeit, die Realisierung unterschiedlicher Handlungsmöglichkeiten, d.h. die Möglichkeit des bewussten Verhaltens zu gesellschaftlichen Bedingungen/Bedeutungen, zu analysieren (ebd.).

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unabhängig von der konkreten Gesellschaftsform. Geht es aber um die konkrete Analyse menschlicher Befindlichkeit/ Handlungsfähigkeit, d.h. um die jeweils vorhandenen Handlungsmöglichkeiten und Handlungsbeschränkungen, die Analyse von Prämissen-Gründe-Zusammenhängen, ist dieses – wie dargestellt – nur unter Bezug auf eine konkrete Analyse der gesellschaftlichen Struktur und der in ihr enthaltenen Machtverhältnisse zu leisten. Um die Widersprüchlichkeit menschlicher Befindlichkeit, die oben angesprochene mögliche Verdrängung von Handlungsmöglichkeiten und Prämissen-Gründe-Zusammenhängen, irrational erscheinende oder selbstschädigende Handlungen analysieren zu können, wurde in der Kritischen Psychologie auf Grundlage marxistischer Gesellschaftsanalysen das Begriffspaar ‚restriktive/verallgemeinerte Handlungsfähigkeit‘ entwickelt (Holzkamp 1983: 356ff.). Die Grundproblematik, die hinter dem Begriffspaar steht, ist, dass die Einzelnen an der Aufrechterhaltung der Bedingungen beteiligt sind, aus denen ihre Probleme resultieren, z.B. indem meine individuelle Reproduktion davon abhängt, dass ich meine Arbeitskraft innerhalb bestehender Verhältnisse zu Verfügung stelle, damit zugleich die Reproduktion von – mit Geschlecher- und rassistischen Verhältnissen vermittelten – Klassenverhältnissen impliziert ist. Grundsätzlich ist in solchen Situationen aber die „doppelte Möglichkeit“ gegeben, so oder auch anders zu handeln zu können. Mit dem Begriff ‚restriktive Handlungsfähigkeit‘ wird die „prinzipielle Lebensproblematik [...] konzeptualisiert [...], daß unter den Vorzeichen der Bedrohtheitszentrierung mit kurzschlüssigen, ‚restriktiven‘ Begründungsfiguren im Versuch der Lebensbewältigung/ Bedrohungsabwehr in widersprüchlicher Weise gleichzeitig die eigenen, verallgemeinerbaren Lebensinteressen verletzt werden können.“ (Holzkamp 1990: 38)

Restriktive Begründungsfiguren stehen damit im Zusammenhang mit Bedrohungsabwehr. Der Begriff ‚restriktive Handlungsfähigkeit‘ als analytisches Konzept dient der „Aufschlüsselung der bestimmten Begründungsmustern inhärenten Bewältigungs- und Abwehrformen“ (ebd.), durch die die Verfügung über die eigenen Lebensbedingungen im Arrangement mit den herrschenden Bedingungen zu erreichen versucht wird, und durch die aber letztlich die Machtverhältnisse, die die Verfügung über die Lebensbedingungen einschränken, reproduziert werden. Die Realisierung restriktiver Handlungsfähigkeit ist allerdings nicht als irrationales Handeln, sondern selbst als begründetes Handeln unter widersprüchlichen Bedingungs-Bedeutungskonstellationen zu verstehen. Ausgehend von subjektiven Handlungsproblematiken kann mit Hilfe des Begriffes rekonstruiert werden, welche wiederum widersprüchlichen, d.h. restriktiven, Bedingungs-Bedeutungskonstellationen dem zugrunde liegen.

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Die in den jeweiligen Situationen grundsätzlich enthaltenen Ansätze zur Überwindung restriktiver Handlungsfähigkeit sind mit dem Begriff ‚verallgemeinerte Handlungsfähigkeit‘ gefasst. Mit der grundsätzlichen Möglichkeitsbeziehung des Subjekts zu den vorfindlichen Handlungsmöglichkeiten steht das Subjekt in keinem zwingenden Verhältnis zu den widersprüchlichen Macht- und Herrschaftskonstellationen. Die „doppelte Möglichkeit“ besteht laut Holzkamp (1983: 354) grundsätzlich darin, solche Handlungsmöglichkeiten zu wählen, durch die eine drohende Einschränkung von Verfügungsmöglichkeiten abgewehrt wird, durch die innerhalb des bestehenden Rahmens Verfügungsmöglichkeiten erhalten werden, oder durch die die Möglichkeit der Veränderung der Rahmenbedingungen realisiert wird. Das Subjekt ist nicht einfach verstrickt in Machtstrukturen, sondern hat grundsätzlich die Möglichkeit, sich zu ihnen zu verhalten. Grad und Ausmaß der Freiheit, alternative Handlungsmöglichkeiten zu realisieren, hängt jedoch wiederum mit der jeweiligen Lage und Position des Einzelnen im Gesamtprozess zusammen. Grundlegend ist die Auffassung, dass in denselben Bedingungs-Bedeutungskonstellationen, in denen restriktive Begründungszusammenhänge enthalten sind, auch Perspektiven der verallgemeinerten Überwindung der jeweiligen Handlungsproblematiken enthalten sind. Das Begriffspaar ‚restriktive/verallgemeinerte Handlungsfähigkeit‘ dient der Aufschlüsselung der in den – gesellschaftstheoretisch zu konkretisierenden – Bedingungs-Bedeutungskonstellationen und den damit verbundenen in den subjektiven Möglichkeitsräumen liegenden widersprüchlichen Handlungsmöglichkeiten.

4.2

D ER S TATUS VON K ATEGORIEN UND IHR V ERHÄLTNIS ZU T HEORIEBILDUNG UND EMPIRISCHER F ORSCHUNG

Bisher wurden Grundbegriffe vorgestellt, mit denen das Verhältnis individueller Subjektivität zu objektiven Bedingungen analysierbar ist. Die in den letzten Abschnitten vorgestellten Kategorien sind Denkwerkzeuge. Sie beschreiben aber noch nicht inhaltlich die Realität (Markard 2009: 178). Der konkrete Zusammenhang von Lebensbedingungen und handelnden Menschen ist mit diesen Begriffen nicht beantwortet. Die vorgestellten Kategorien sind von Holzkamp (1983) nicht gesetzt, sondern im historisch-empirischen Verfahren hergeleitet worden. Davon zu unterscheiden ist die aktualempirische Forschung, mit der – historisch konkret – subjektive Problemlagen in ihrem Zusammenhang zu Bedingungs-Bedeutungskonstellationen herausgearbeitet werden. Aktualempirische Forschung dient nicht der Bestätigung oder Widerlegung der kategorialen Bestimmung des Psychischen bzw. menschlicher Subjektivität. Dass die subjektive Erfahrung rassistischer Gewalt mit gesellschaftlichen Verhältnissen vermittelt ist, ist kategorial ebenso vorausgesetzt wie die Einsicht, dass die Be-

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wältigungsstrategien der Betroffenen auf ihre Handlungsfähigkeit zielen. Die Grundbegriffe sind der aktualempirischen Forschung vorgelagert. „Wenn man mithin kategoriale Bestimmungen […] platt auf die Erscheinungsebene herunterkonkretisiert, so beraubt man sie nicht nur ihrer spezifischen, klärenden und aufschließenden Funktion, man begünstigt auch eine radikale Verarmung des Qualitätenreichtums der wissenschaftlichen Erfassung psychischer Phänomene.“ (Ebd.: 516, Herv. entf. GK ) Die Realität ist weitaus vielfältiger als die kategorialen Begriffe, mit denen sie analysiert werden soll. Mithilfe der Kategorien wird bestimmt, was in aktualempirischer Forschung in den Blick kommen kann, welche Aspekte des Gegenstandes empirisch untersucht werden (vgl. Markard 1988: 61 ff.). Solche vorgelagerten Kategorien, die nicht durch Empirie bestätigt oder verworfen werden, sind keine Besonderheit der Kritischen Psychologie. Auch eine diskursanalytische Untersuchung klärt nicht die Frage, ob es Diskurse gibt oder nicht, sondern der Begriff des Diskurses strukturiert, wie ein soziales Phänomen betrachtet wird. Kategorien sind zwar die methodologische Grundlage für aktualempirische Forschung; sie sind aber insofern mehr als nur Werkzeuge, weil sie Perspektiven auf den Gegenstand bereitstellen (vgl. Holzkamp 1983: 511). Theorien als Annahmen über vorfindliche Zusammenhänge – z.B. zum Zusammenhang zurückliegender Fluchterfahrungen und der Deutung/Verarbeitung aktueller Gewalterfahrungen – beziehen sich auf aktualempirisch beobachtbare Prozesse und werden auf Grundlage bestimmter Grundbegriffe (Kategorien) formuliert. Theorien „haben also einen kategorialen wie einen aktualempirischen Bezug.“ (Markard 1988: 75) Die in vorfindlichen Theorien enthaltenen Kategorien – zum Beispiel die Kategorien von Prädisposition, Reiz und Reaktion im Vulnerabilitäts-StressModell zur Erklärung besonders heftiger Reaktionen auf rassistische Gewalt bei manchen Flüchtlingen – sind zum Teil nicht offensichtlich. Um zu klären, inwieweit solche Theorien einen Beitrag für eigene Theoriebildungsprozesse leisten können, muss deren kategoriale Grundlage herausgearbeitet werden.

5 Methodologische Überlegungen und methodisches Vorgehen

Aus den kategorialen Überlegungen zu menschlicher Subjektivität, die in Kapitel 4 vorgestellt wurden, folgt zwar, dass subjektive Problemlagen, die sich für Betroffene daraus ergeben, körperliche Gewalt aufgrund ihrer Hautfarbe oder anderer Merkmale erlitten zu haben, systematisch in den Zusammenhang gesellschaftlicher Bedingungen gestellt werden müssen. Wie sich dieser Zusammenhang für die Einzelnen aber konkret darstellt, ist uneindeutig. Insbesondere die Frage, ob für die Bewältigung der subjektiven Problematiken Lösungswege, die eine gesellschaftstheoretische Veränderungsperspektive einschließen, für die Einzelnen subjektiv funktional und realisierbar erscheinen, kann nicht allgemein beantwortet werden, sondern ist von Fall zu Fall empirisch offen. Der nun folgende empirische Teil dieser Arbeit richtet sich darauf, das widersprüchliche Verhältnis von Handlungsmöglichkeiten und Handlungsbehinderungen in der Bewältigung rechter und rassistischer Gewalt durch die Betroffenen aufzuschlüsseln. Die Bewältigungsproblematik soll mit dem eingeführten Begriff der restriktiven/verallgemeinerten Handlungsfähigkeit als subjektiv begründetes Handeln in widersprüchlichen Bedingungs-Bedeutungskonstellationen rekonstruiert werden. Weiter wird gefragt, wie die OBS ihre Praxis gestalten und welche Praxisprobleme für die Berater_innen dabei entstehen. Damit sollen Möglichkeitsräume in der Beratung herausgearbeitet werden, die zeigen, wie die Verbindung individueller und gesellschaftlicher Dimensionen für die Ratsuchenden hilfreich sein kann, und mit welchen Widersprüchen und Grenzen eine solche Praxis konfrontiert ist. Es werden also Prämissen-Gründe-Zusammenhänge auf zwei verschiedenen, aber eng miteinander zusammenhängenden Ebenen rekonstruiert. Erstens zielt die Forschung darauf, Handlungsmöglichkeiten und -begrenzungen in der Beratungspraxis herauszuarbeiten. Probleme und Widersprüche der Beratungspraxis im Zusammenhang mit der Vermittlung zwischen individueller Unterstützung und gesellschaftsbezogener Veränderungsperspektive werden so analysiert, dass die für die Problemsituation relevanten (widersprüchlichen) Bedingungs-Bedeutungskonstellationen in der Praxis deutlich werden sollen.

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Da die Praxis sich auf die Unterstützung von Betroffenen in der Bewältigung von Gewalterfahrungen bezieht, zielt die Forschung zweitens darauf, die subjektiven Folgen rechter und rassistischer Gewalt in ihrem konkreten Zusammenhang mit den jeweiligen Lebensbedingungen der Betroffenen bzw. deren Bedeutungen in den jeweiligen Prämissen-Gründe-Konstellationen herauszuarbeiten und „gegebene Handlungsmöglichkeiten/ -behinderungen auf potenziell restriktive Umgangsweisen damit zu analysieren (mit dem Ziel, restriktive Verstrickungen zu überwinden)“ (Markard 2009: 268-269). Dabei soll insbesondere herausgearbeitet werden, welche Handlungsmöglichkeiten und -behinderungen für die Betroffenen durch das Beratungshandeln entstehen.

5.1

S UBJEKTWISSENSCHAFTLICHE P RAXISFORSCHUNG ALS F ORSCHUNGSZUGANG

5.1.1

Methodologische Prinzipien subjektwissenschaftlicher Forschung

Subjektwissenschaftliche Praxisforschung orientiert sich an methodologischen Prinzipien, die Holzkamp in der Grundlegung der Psychologie (1983: 509-583) ausgearbeitet hat1. Diese werde ich im Folgenden knapp allgemein darstellen und anschließend deren Realisierung in diesem Forschungsprojekt ausführen. Forschung, die dem Gegenstand menschlicher Subjektivität gerecht werden will, darf Holzkamp (ebd.) zufolge methodologisch nicht hinter den Begründungsdiskurs (s.o.) zurückfallen, in dem Bedingungs-Bedeutungs-Begründungsanalysen nur vom Standpunkt des Subjekts zu realisieren sind. Das Niveau der intersubjektiven Verständigung darf in der Forschung nicht unterschritten werden, sondern muss auf die Ebene der metasubjektiven Verständigung gehoben werden: Alle am Forschungsprojekt Beteiligten müssen die Möglichkeit haben, ihre subjektiven Handlungsgründe so verständlich zu machen, dass sie als exemplarische Realisierungen von Bedeutungen aufzuschlüsseln und so verallgemeinerbar sind. Forschung ist also als partizipativer Prozess zu gestalten, indem die von der Forschungsfrage Betroffenen als Mitforschende einbezogen werden. Der Erkenntnisweg geht von einer realen Handlungsproblematik aus und

1

Die methodologischen Überlegungen beziehen sich auf eine kategoriale Ebene: Wie muss ein Forschungszugang beschaffen sein, um dem Gegenstand menschlicher Subjektivität in kritisch-psychologischer Konzeption gerecht zu werden? So sind die Überlegungen, die Holzkamp im 9. Kapitel seiner Grundlagen der Psychologie (Holzkamp 1983) ausführt, nicht zu hintergehende allgemeine Kriterien für subjektwissenschaftliche Forschung. Diese können nicht einfach angewendet werden, sondern müssen im Forschungsprozess konkretisiert werden (vgl. Markard 1991: 22-25).

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zielt auf die Überwindung dieser. Erkennen und Verändern gehören im Forschungsprozess also zusammen, womit das subjektwissenschaftliche Forschungsvorgehen dem Zugang der Handlungs- oder Aktionsforschung (vgl. Moser 1977) ähnlich ist. Um den subjektwissenschaftlichen Forschungsprozess systematisch zu organisieren, wurde das Modell der ‚Entwicklungsfigur‘ (Markard 1985) entwickelt, später erweitert und teilweise revidiert (vgl. Markard 2009: 281, Markard 2010: 175-176). Das Modell sieht für das Forschungsvorgehen verschiedene Schritte (‚Instanzen‘) vor: • •





Erste Instanz: Ausgangspunkt ist eine Problemstellung, die als alltagspraktisches Ausgangsproblem zu formulieren ist. Zweite Instanz: Die Analyse der Problemlage erfordert deren genaue Beschreibung und die Rekonstruktion der für die Problemstellung relevanten BedingungsBedeutungs-Begründungszusammenhänge. „Ziel der zweiten Instanz der Entwicklungsfigur ist es, diejenigen Prämissen-Gründe-Zusammenhänge herauszupräparieren, in denen die restriktive Funktionalität der – (bis dahin jedenfalls) erfolglosen – Versuche der Bewältigung der thematisierten Probleme durch die Betroffenen (vor allem diesen selbst) verständlich wird.“ (Ebd. 2010: 175) Die zweite Instanz richtet sich also auf die Systematisierung und Analyse der entwickelten (und z.T. konkurrierenden) Interpretationen und Deutungen von Praxisproblemen als ‚Problemtheorien‘. Dritte Instanz: Ausgehend von der Aufschlüsselung der hinter Praxisproblemen stehenden Prämissen-Gründe-Zusammenhängen und deren restriktiver Funktionalität werden Vorschläge einer veränderten Praxis als ‚Lösungstheorien‘ entworfen. Dabei soll auch überlegt werden, „wie das Ausprobieren von Neuem, von Alternativen praktisch vonstatten gehen könnte.“ (Ebd.) Gleichzeitig sollen die (derzeit) unüberwindlichen Grenzen der interessierenden Handlungsproblematik aufgewiesen werden. Vierte Instanz: Die entwickelten Handlungsalternativen werden probehalber in die Praxis umgesetzt und deren Ergebnisse in den Forschungsprozess zurückgemeldet und ausgewertet.

Die ‚Entwicklungsfigur‘ ist ein allgemeines und auf das jeweilige Forschungsfeld zu konkretisierendes methodologisches Konzept. Es hat zum Ziel, die Bedingungs-Bedeutungs-Begründungs-Zusammenhänge im Verlauf des Forschungsprozesses zu konkretisieren und zu differenzieren und richtet zugleich die Perspektive auf die praktische Veränderung der analysierten Problemkonstellationen. Die von Holzkamp formulierten Anforderungen an subjektwissenschaftliche Forschung sind aus den Eigenarten menschlicher Subjektivität begründet. Als allgemeine Prinzipien sagen sie noch nichts darüber aus, wie sie im praktischen Forschungsvorgehen konkret zu realisieren sind und welche Probleme dabei auftreten.

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Sie aber von vornherein als nicht realisierbar zu verwerfen und stattdessen auf etablierte, realisierbare Forschungsmethoden zurückzugreifen, hieße, den Anspruch einer gegenstandsadäquaten Methodologie zurückzustellen. Ebenso wenig halte ich es für sinnvoll, nur in Bereichen Forschung zu betreiben, in denen die Voraussetzungen für die vollständige Realisierung gut sind. Im Folgenden werde ich daher die von mir getroffenen methodologischen und methodischen Entscheidungen begründen und unter der Frage reflektieren, welche Erkenntnismöglichkeiten jeweils eröffnet oder verstellt werden. 5.1.2

Praxistheorien als Zugang subjektwissenschaftlicher Praxisforschung

Subjektwissenschaftliche Praxisforschung verfolgt das Anliegen, Probleme und Widersprüche beruflichen Handelns so aufzubereiten, dass sie als Prämissen-GründeZusammenhänge verstanden werden können und sich Ansatzpunkte für die Veränderung der Praxis herausarbeiten lassen (vgl. Fahl/Markard 1993: 4). Sie ist eine Variante partizipativer Forschung (Bergold/Thomas 2010). Der Ansatz der subjektwissenschaftlichen Praxisforschung ist unter Bezug auf psychologische Berufspraxis entwickelt worden, kann aber, wie Eichinger (2009; 2013) zeigt, auch für die Praxisreflexion in der Sozialen Arbeit genutzt werden. Bergold und Thomas (2012: 2) heben als allgemeinen Ausgangspunkt partizipativer Forschung das gegenseitige Lernen von Theorie und Praxis hervor. Mein Forschungsvorhaben zielt einerseits auf die theoretisch geleitete Reflexion von Praxisproblemen in Hinblick auf die Weiterentwicklung der Praxis. Ich gehe andererseits aber davon aus, dass sowohl Berater_innen als auch Ratsuchende als zentrale, an der Beratungspraxis Beteiligte jeweils über Wissen über den Zusammenhang individueller Gewalterfahrung und deren gesellschaftliche Bedingungen sowie über Möglichkeiten und Grenzen der Bewältigung und Unterstützung verfügen. Dieses Wissen der Praxis soll zugänglich und diskutierbar gemacht werden. Holzkamp (1988) spricht in diesem Zusammenhang von inoffiziellen Praxistheorien, die eine handlungsleitende Funktion haben. So argumentierte Holzkamp in Auseinandersetzung mit der Klage über den Bruch zwischen Theorie und Praxis in der Psychologie, dass Praxis keineswegs theorielos ist, sondern durch eine andere Art der Theorie geleitet wird als die „grundwissenschaftlichen Theorien“ (ebd.: 45). Praxistheorien unterscheiden sich von wissenschaftlichen Theorien: Sie sind „mehr oder weniger inoffiziell, unexpliziert und in ihrer wissenschaftlichen Dignität ungeklärt.“ (Fahl/Markard 1993: 11) In oft inkonsistenter Weise gehen nicht nur verschiedene wissenschaftliche Theorien in die Praxistheorien ein, sondern auch Alltagsvorstellungen und Erfahrungswissensbestände sowie mehr oder weniger anerkanntes Fachwissen psychosozialer Praxis. Praxistheorien können nicht einfach als Expertenwissen übernommen werden, sondern sind selbst zu hinterfragen. Das in den Praxistheorien enthaltene Erfahrungswissen

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über die Struktur des Gegenstandes dient auch der Bewältigung einer in sich widersprüchlichen Praxis. Praxistheorien haben damit auch die Funktion, strukturelle Widersprüche psychosozialer Praxis oder in der Arbeitsorganisation liegende Widersprüche subjektiv aufzulösen, um durch Mystifizierungen oder Personalisierungen die alltäglichen Praxisanforderungen bewältigen zu können. Sie sind also selbst dahingehend zu befragen, in welcher Weise Aspekte restriktiver und verallgemeinerter Handlungsfähigkeit in ihnen enthalten sind, d.h. inwiefern sie selbst Teil des Problems sind und welche Ansatzpunkte der Überwindung sich finden lassen. In der so skizzierten Weise werden in dieser Arbeit Praxistheorien aus zwei verschiedenen Perspektiven – die der Berater_innen und die der Ratsuchenden - mit jeweils unterschiedlichen Qualitäten herausgearbeitet und diskutiert. Praxistheorien der Berater_innen Das Konzept, mit dem das Praxiswissen der Berater_innen rekonstruiert werden soll, ist das des „gesellschaftlich-subjektiven Zusammenhangs- und Widerspruchswissens“ (Holzkamp 1988: 32). Holzkamp (ebd.) zufolge resultiere dieses – zunächst implizite, aber zu explizierende – Wissen der Praktiker_innen daraus, dass sie in ihrer psychosozialen Praxis mit dem unlösbaren Widerspruch konfrontiert sind, individuelle und soziale Probleme allein auf individueller Ebene lösen zu sollen. Ich gehe davon aus, dass die Praktiker_innen der OBS mit ihrem Anspruch, gesellschaftliche und individuelle Aspekte rassistischer und rechter Gewalt nicht zu trennen, sondern in ihrer Verbindung zu verstehen und zu bearbeiten, über ein Erfahrungswissen über Handlungsmöglichkeiten und -begrenzungen verfügen, welches in Konfrontation mit den strukturellen Problemen und Widersprüchen psychosozialer Praxis entsteht2 und zu explizieren und weiterzuentwickeln ist (vgl. Fahl/Markard 1993: 14). So kennen Praktiker_innen aus der Beratungstätigkeit heraus vielfältige Schilderungen von Betroffenen über die jeweilige Gewaltproblematik und über vielfältige Prozesse ihrer Bewältigung. Darüber hinaus verfügen sie über ein Wissen über typische Bewältigungsprozesse sowie über Bedingungen, die diese Prozesse ermöglichen oder erschweren. Wie ausgeführt, sind diese Praxistheorien der Berater_innen auch dahin-

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Während Holzkamp davon ausging, dass psychologische Praktiker_innen notwendigerweise über ein gesellschaftlich-subjektives Zusammenhangs- und Widerspruchswissen verfügen, wurde das Konzept später auf Grundlage der Erfahrungen in Praxisforschungsprojekten wie dem Ausbildungsprojekt Subjektwissenschaftliche Berufspraxis (ASB) dahingehend eingeschränkt, dass sich der Zusammenhang zwischen gesellschaftlichen Bedingungen und subjektiven Problemlagen nicht spontan ergibt. Ein solches Zusammenhangswissen setzt selbst theoretische und politische Annahmen voraus (vgl. Markard 2000a: 17; Kaindl/Markard 2000: 31-32). Diese Voraussetzungen sind m.E. bei den OBS mit ihrem Anspruch, explizit nicht individualisierend arbeiten zu wollen, gegeben.

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gehend zu befragen, inwiefern in ihnen selbst einseitige und unvollständige Problemwahrnehmungen, Mystifikationen und Personalisierungen enthalten sind, die der Bewältigung des beruflichen Alltags dienen. Praxistheorien der Ratsuchenden Auch die Perspektive der Ratsuchenden auf Möglichkeiten, Grenzen und Widersprüche in der Unterstützungspraxis der OBS soll in den Forschungsprozess einbezogen werden. Damit wird an die Perspektive der sozialpädagogischen Nutzerforschung (Oelerich/Schaarschuch 2013) angeknüpft. Der ‚Gebrauchswert‘ des Beratungsangebotes aus Sicht der Nutzer_innen kann nicht abstrakt rekonstruiert werden, sondern misst sich daran, was die Ratsuchenden vom Beratungsangebot erwarten. Die Forschung zielt also darauf zu rekonstruieren, welche Probleme und Verletzungen die Erfahrung rechter oder rassistischer Gewalt hervorruft und wie sich diese Erfahrung auf die Bewältigung des Alltags auswirkt (vgl. ebd.: 95). Von hier aus ist zu fragen, welche Dimensionen des Beratungsangebotes für die Ratsuchenden bedeutsam sind, welche Bedingungen dazu führen, dass die Ratsuchenden Nutzen aus dem Angebot ziehen, aber auch, welche Bedingungen der Nutzung im Weg stehen (z.B. nicht als ‚Opfer‘ angesprochen werden zu wollen). Das hier zu rekonstruierende Praxiswissen der Ratsuchenden befindet sich auf einer anderen Ebene als das gesellschaftlich-subjektive Zusammenhangs- und Widerspruchswissen, das die Berater_innen in ihrer Berufspraxis entwickeln. Während Praktiker_innen auf Grundlage ihrer Beratungspraxis und darin verdichteter Praxistheorien hypothetische Prämissen-Gründe-Zusammenhänge über die Gewalterfahrung der Betroffenen sowie Möglichkeiten und Grenzen der Bewältigung formulieren, bezieht sich das zu rekonstruierende Wissen der Ratsuchenden auf die je eigene Handlungsproblematik und deren Bewältigungsmöglichkeiten im Kontext (widersprüchlicher) Bedingungs-Bedeutungskonstellationen. Dabei sind auch die von den Ratsuchenden geschilderten Erfahrungen nicht als unhintergehbare Letztheit zu verstehen, denn die Art, wie Erfahrung gemacht, gedeutet und berichtet wird, ist selbst theoriegeleitet und der herauszuarbeitende Theoriebezug ist problematisierbar. Die von den Ratsuchenden formulierten Problemkonstellationen sollen in ihrem konkreten Weltbezug herausgearbeitet werden, d.h. unter Bezug auf die Bedingungs-Bedeutungskonstellationen, wie sie von den jeweils Betroffenen wahrgenommen und gedeutet werden, wobei auch die jeweiligen Deutungen in ihrer potenziell restriktiven Funktionalität analysiert werden. 5.1.3

Partizipatives Forschungsvorgehen und Mitforschungskonzept

Partizipatives Forschen, d.h. das Forschen mit statt über oder für Menschen beschreiben Bergold und Thomas (2010: 333) als Forschungsstil, der in sehr unterschiedli-

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chen Bereichen mit unterschiedlichen Problemstellungen umgesetzt wird. So begründet Kaltmeier (2012) partizipative Forschung in der Ethnologie mit dem Anspruch der „Dekolonialisierung des Wissens“. In der feministischen Forschung wurden partizipative Ansätze entwickelt, um verborgenes Wissen und Wissensformen in ihrer Standpunktgebundenheit herauszuarbeiten (und damit die unbemerkte Universalisierung männlicher Forschungsperspektiven zu kritisieren). Vor dem Hintergrund gemeindepsychologischer Fragestellungen hat partizipatives Forschen das Ziel, die Sichtweisen derjenigen zugänglich zu machen, die als Betroffene psychiatrischer Versorgung in der Regel nicht gehört werden. Die Partizipation von Praktiker_innen in der (sozialpädagogischen) Aktions- und Handlungsforschung zielt vor allem auf die direkte Veränderung der Praxis. Meine Entscheidung, der Fragestellung mit einem partizipativen Zugang nachzugehen, liegt in der Überlegung begründet, dass subjektwissenschaftliche Forschung das „Niveau des ‚intersubjektiven‘ Verständigungsrahmens [...] in der Beziehung zwischen Forscher und Betroffenen“ (Holzkamp 1983: 541) nicht unterschreiten darf, wenn sie nicht ihren Gegenstand – hier die Aufklärung von Prämissen-Gründe-Zusammenhängen zur Wirkung des Beratungshandelns mit seinem Bezug auf individuelle und gesellschaftliche Problemdimensionen rechter und rassistischer Gewalt – verfehlen will.3 Insbesondere, wenn es um die Aufklärung von Handlungsgründen geht, also darum, warum Berater_innen und/oder Ratsuchende bestimmte Handlungsmöglichkeiten realisieren und andere verwerfen (oder ihnen bestimmte Handlungsmöglichkeiten gar nicht erst in den Sinn kommen), ist die Partizipation der Betroffenen am Forschungsprozess notwendig (vgl. Markard 1988: 67). Nun ist aber ein partizipatives Forschen, in dem Theorie und Praxis gleichermaßen am Erkenntnisprozess beteiligt sind, nicht einfach per Entschluss und unter Rückgriff auf ein ausgearbeitetes Methodenprogramm herzustellen. Vielmehr muss die Möglichkeit des gegenseitigen Lernens von Theorie und Praxis im Forschungsprozess immer wieder hergestellt werden (vgl. Bergold/Thomas 2012: 2). Die Realisierung des partizipativen Forschungsrahmens Ein Rahmen, der es im Sinne partizipativer Forschung ermöglicht, Theorie und Praxis aufeinander zu beziehen und in einen dialogischen Austausch miteinander zu treten (vgl. Bergold/Thomas 2010: 336), erfordert, dass alle am Forschungsprozess beteiligten mit ihren jeweiligen Prämissenlagen in Bezug auf die Forschung auftauchen und reflektiert werden. Für die in dieser Arbeit verfolgten Fragestellung nach Möglichkeiten und Widersprüchen in der Beratung von Betroffenen rechter und rassistischer Gewalt sind die Perspektiven der Berater_innen sowie der Ratsuchenden von

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Das Prinzip der Partizipation ist in der Kritischen Psychologie also weniger moralisch oder forschungsethisch begründet, sondern aus dem Forschungsgegenstand Subjektivität heraus.

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Interesse. Das partizipative Forschungsvorgehen wurde in dieser Untersuchung allerdings unterschiedlich umfassend realisiert. Der Fokus lag auf der Praxisreflexion mit den Berater_innen, während die Ratsuchenden in deutlich geringerem Ausmaß als Mitforschende einbezogen wurden. Ich werde im Folgenden zunächst auf die Herstellung des partizipativen Forschungsrahmens mit den Berater_innen (und die dabei auftauchenden Schwierigkeiten) eingehen und dann noch einmal auf die Rolle der Ratsuchenden im Forschungsprozess zurückkommen. Subjektwissenschaftliche Praxisforschung setzt die Qualifikation aller Beteiligten voraus. Forschende müssen sich dahingehend qualifizieren, dass sie „die Lebensumstände der ‚Mitforscher‘ kennen lernen, die für die infrage stehenden Probleme bedeutsam sind.“ (Markard 2009: 275) Die Praktiker_innen müssen dahingehend qualifiziert werden, dass sie sich das Analysewerkzeug der Kritischen Psychologie partiell, d.h. der konkreten Problemstellung entsprechend, aneignen, damit die „Differenz zwischen Wissenschaftssubjekt und betroffenen Subjekten partiell aufgehoben ist.“ (Holzkamp 1983: 543) Wesentliche Voraussetzung dafür, dass es in subjektwissenschaftlicher Praxisforschung gelingt, Praxisprobleme so aufzuschlüsseln, dass bislang unerkannte Prämissen-Gründe-Zusammenhänge und, ggf. restriktiv funktionale, Deutungen und Bewältigungsweisen in widersprüchlichen Bedingungs-Bedeutungskonstellationen herausgearbeitet werden können, ist zudem, dass die als Mitforschende konzipierten Berater_innen ein eigenes Erkenntnisinteresse an der Forschung haben. „Das zu untersuchende Problem“, so Holzkamp, „darf nicht nur ein Problem des Forschers, es muss auch ein Problem der Betroffenen4 sein, bzw. es muss in Kooperation mit den Betroffenen so formulierbar sein, dass es sich als deren Problem verdeutlicht.“ (Ebd.: 544-545) Eine solche auch für die Praktiker_innen relevante Forschungsfrage zu formulieren, war durch meine eigene praktische Tätigkeit im Feld erleichtert. Während meiner Berufspraxis erwarb ich detaillierte Kenntnisse der Handlungsroutinen und Struktur des Arbeitsfeldes und dokumentierte meine Praxiserfahrung durch das Führen von Arbeitstagebüchern. Diese Dokumentation von Praxiserfahrung war bereits durch mein – bislang globales – Erkenntnisinteresse am Spannungsfeld von individuellen und gesellschaftlichen Dimensionen und meine bereits geleisteten theoretischen Auseinandersetzungen beeinflusst. Eine systematische Bearbeitung des Forschungsthemas erwies sich für mich aber als nicht realisierbar, solange ich selbst in alltägliche Handlungsnotwendigkeiten der Beratungs- und Unterstützungsarbeit eingebunden war, die zugleich meine Erwerbsarbeit war. Ein Promotionsstipendium ermöglichte mir, aus der unmittelbaren Praxis herauszutreten und meinen Tätigkeits-

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Hier sind die von der Forschung Betroffenen gemeint, was in der vorliegenden Untersuchung sowohl die Ratsuchenden als auch die Berater_innen betrifft.

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schwerpunkt auf die Forschung zu verlegen, die ich in Kooperation mit Berater_innen in den OBS durchführte. Ich selbst habe im Forschungsprozess also die Seiten gewechselt – von der Forscherin zur Praktikerin und zurück zur Forscherin. Partizipation in der Formulierung der Fragestellung Durch diese Bewegung fand die Konkretisierung der Fragestellung als Vorarbeit zur eigentlichen Forschung, die in der Kritischen Psychologie bereits als wesentlicher erster Forschungsschritt begriffen wird, in engem Austausch mit der Praxis statt. So nutzte ich meine eigene Praxistätigkeit zur schrittweisen Konkretisierung der bislang eher global formulierten Forschungsfragen, in dem sie auf von mir in der Praxis empfundene konkrete Probleme und Widersprüche bezogen wurden. Um eine solche aus der Praxis heraus konkretisierte Fragestellung zu formulieren, sichtete ich nach Austritt aus der Praxis meine eigenen Arbeitstagebücher und Notizen aus Beratungsprozessen und Teamsitzungen. Auch habe ich von mir regelmäßig verwendete Arbeitshilfen wie einen Dokumentationsbogen für das erste Beratungsgespräch (‚Erstberichtsbogen‘) oder zur Prozessbeobachtung (‚Prozessberichtsbogen‘) herangezogen. Auf dieser Grundlage fasste ich – als Vorarbeit zum eigentlichen Forschungsprozess – meinen Erkenntnisstand in verschiedenen Themenblöcken schriftlich zusammen und formulierte meine konkretisierte Fragestellung für den weiteren Forschungsprozess. In die Formulierung der Forschungsfrage ging also maßgeblich meine eigene Praxiserfahrung ein.5 Zudem fanden die Reflexion meiner eigenen Praxiserfahrung und die daraus abgeleitete Formulierung der Fragestellung immer auch im Dialog mit den anderen Praktiker_innen statt. So gingen in die Fragestellung zahlreiche informelle Gespräche mit Kolleg_innen und Diskussionen auf Teamsitzungen während meiner Berufstätigkeit im Feld ein. Nach Austritt aus der Praxis habe ich im Rahmen von Teamsitzungen oder eigens vereinbarten Treffen mit Praktiker_innen meine aus der (theoriegeleiteten) Reflexion eigener Praxis entwickelten Forschungsfragen sowie mein geplantes Forschungsvorgehen schriftlich und mündlich vor- und zur Diskussion gestellt. Auf inhaltlicher sowie auf methodischer Ebene wurden zusätzliche Vorschläge zur Erweiterung und Modifikationen eingebracht; kritische Nachfragen haben mich dazu gebracht, Vorannahmen zu überdenken. Eine grundsätzliche Revision des Forschungsthemas, wie sie Kaltmeier (2012: 28-29)6 in seinem Forschungsbericht schildert, war nicht erforderlich.

5

Wie ich die Praxis erfahren habe, war wiederum durch mein theoretisches Forschungsinteresse gefärbt.

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Kaltmeier schildert, dass sein Forschungsvorhaben, „den indigenen Organisierungsprozess und dessen Instrumentalisierung durch Staat und NGOs im theoretischen Kontext von neuen Regierungstechniken im Rahmen neoliberaler Gouvernementalität zu analysieren“

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Arbeitsteilige Differenz zwischen Forschenden und als Mitforschende konzipierten Praktiker_innen Obwohl, wie dargestellt, Praktiker_innen in die Auswahl der Forschungsfragen einbezogen waren und durch meine eigene Praxisnähe die Voraussetzungen für einen intersubjektiven Verständigungsrahmen als Forschungsvoraussetzung gut waren, blieb eine Differenz zwischen Forscherin und als Mitforschende konzipierten Praktiker_innen bestehen. Im kritisch-psychologischen Mitforschungskonzept ist die Differenz zwischen Forschenden und Mitforschenden nicht als hierarchisches Verhältnis, sondern als arbeitsteilige Differenz gedacht. Demnach übernehme ich als Forscherin bestimmte Forschungsaufgaben (Transkription von Interviews etc., Dokumentation von Ergebnissen, Recherche und Erarbeitung theoretischer Bezüge), während die als Mitforschende konzipierten Berater_innen „Kenntnisse und Erfahrungen aus ihren Lebensumständen mit [bringen], ohne die eine subjektwissenschaftliche Forschung nicht möglich ist“ (Markard 2009: 275). Diese Arbeitsteilung stellt den dialogischen Charakter der Forschung im Prinzip nicht infrage, wirkt sich aber praktisch auf den Grad der Kontrolle über den Forschungsprozess aus. Ein wesentlicher Hintergrund für einen unterschiedlichen Zugang zu Forschungsentscheidungen ergab sich in meiner Forschung dadurch, dass ich durch ein Stipendium die Möglichkeit hatte, mich mit dem Großteil meiner Arbeitszeit mit der Forschung zu beschäftigen. Demgegenüber stellte das Forschungsprojekt für die Praktiker_innen bestenfalls eine interessante Form der Praxisreflexion dar, die aber im Alltag auch immer wieder in den Hintergrund trat. Auch wenn die Fragestellung für die Berater_innen praktische Relevanz hatte, schoben sich immer wieder andere, ebenso dringliche (oder sogar dringlichere) Handlungsproblematiken in den Vordergrund. Beratungsfälle, die viel Zeit in Anspruch nahmen, Finanzierungssorgen und durch Personalwechsel oder Krankheitsausfälle entstehende Mehrarbeit oder die Notwendigkeit, auf aktuelle politische oder diskursive Ereignisse zu reagieren, ließen die Forschung an den Fragestellungen dieses Forschungsprojektes in der Priorität nach hinten rutschen. Die Vielzahl der aus Sicht der Praktiker_innen relevanten Fragestellungen ließe sich in einem begrenzten Forschungsprojekt gar nicht bearbeiten. In letzter Instanz entschied ich, welche Anregungen und Fragestellungen, die die Praktiker_innen einbrachten, im Forschungsprozess weiter verfolgt wurden; nicht nur aufgrund meiner stärkeren zeitlichen Involviertheit, die mir ermöglichte, die Sammlung von Problemstellung systematisch zu gruppieren und zu gewichten. Auch war für mich mit dem Forschungsprojekt das Ziel einer wissenschaftlichen Qualifizierung

(Kaltmeier 2012: 28), für die potenziellen Interviewpartner_innen (indigene Organisationen und Kleinbäuer_innen) nicht von Interesse war. Aushandlungsprozesse im Feld führten schließlich dazu, dass sich die Forschung darauf richtete, Prozesse indigener Organisierung in ihrer historischen Entwicklung zu analysieren (ebd.: 29).

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verbunden und damit die Notwendigkeit, die Forschung in Form einer stringenten Dissertation aufzuarbeiten. Damit musste die Forschungsarbeit nicht nur den Erfordernissen der Praxis genügen, sondern war ebenso an den Anforderungen an eine wissenschaftliche Qualifizierung orientiert. Dies bedeutete, dass die Themenstellung nicht nur praxisrelevant sein sollte, sondern auch im Wissenschaftsbetrieb bestehen musste.7 Um trotz dieser Schwierigkeiten den intersubjektiven Verständigungsrahmen als Forschungsvoraussetzung aufrecht zu erhalten, ist die Qualifikation beider Seiten als kontinuierlicher Prozess zu sehen, der eine Reflexion der unterschiedlichen Rollen und damit verbundenen Möglichkeiten und Interessen im Forschungsprozess beinhaltet. Der Anspruch, den Praktiker_innen die Methoden und Begriffe der Kritischen Psychologie in Bezug auf die interessierende Problemstellung so zu vermitteln, dass eine gemeinsame begriffliche Grundlage zur Aufschlüsselung von Problemlagen genutzt werden kann, erwies sich dabei für mich in der Forschungspraxis nur sehr schwer realisierbar8, so dass sich der Prozess der Qualifizierung vor allem in der Verständigung über die Problemstellungen ohne expliziten Rückgriff auf kritisch-psychologische Begrifflichkeit vollzog. Die Aufrechterhaltung des intersubjektiven Verständigungsrahmens war zum Teil auch durch ‚Lücken‘ in der Zusammenarbeit erschwert, die sich einerseits aus Personalwechsel in den Beratungsstellen ergaben. Andererseits gab es von meiner Seite aus durch die Geburt eines Kindes, einen Auslandsaufenthalt sowie Phasen intensiver theoretischer Beschäftigung im Forschungsprozess Zeiten, in denen nur wenig Austausch mit den Berater_innen stattfand. Dadurch erforderte die (Wieder-)Herstellung des intersubjektiven Verständigungsrahmens immer wieder Zeit, in denen ich mein Forschungsinteresse vorstellte und mit den Interessen der Praktiker_innen abglich, Zwischenergebnisse vor- und zur Diskussion stellte oder auch an einzelnen Fortbildungen teilnahm.

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Die Schwierigkeit der Findung eines Forschungsgegenstands im Spannungsfeld zwischen Anforderungen der Wissenschaftscommunity und der Logik des ‚Feldes‘ hat Kaltmeier (2012: 28-29) sehr plastisch beschrieben.

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Die Qualifizierung aller Forschungsbeteiligten in Hinblick auf eine gemeinsame kategoriale Grundlage der Analyse konnte in den subjektwissenschaftlichen Forschungsprojekten SUFKI (SUFKI 1985, Markard 1985), Lernen (Holzkamp 1996b) und Lebensführung (Holzkamp 1996a) deutlich weitreichender realisiert werden, da die am Forschungsprojekt Beteiligten aus dem Umfeld des Arbeitszusammenhangs kamen und ein explizites Interesse an Kritischer Psychologie hatten.

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Die Involviertheit der Forscherin in die Praxis als methodisches Problem? Ich habe die enge Verschränkung zwischen Forschungsinteresse und eigener Praxiserfahrung bislang als positive Voraussetzung für die Realisierung eines partizipativen Forschungsprozesses thematisiert. Demgegenüber kann kritisch eingewendet werden, dass eine solche Forschung aufgrund der fehlenden Distanz zum Gegenstand keine wissenschaftlichen Erkenntnisse liefern könne. Ich werde im Folgenden die mit dieser Forschungskonstellation verbundenen Potenziale und Schwierigkeiten diskutieren. Die eigene Praxisnähe erwies sich während der Datenerhebung als hilfreich für die Etablierung eines intersubjektiven Verständigungsrahmens bzw. für die Realisierung eines dialogischen Forschungsprozesses, in dem Praxisprobleme thematisiert und analysiert werden können. Das (ehemals) kollegiale Verhältnis zwischen mir als Forscherin und den Berater_innen als Mitforschenden ermöglichte ein weitgehend hierarchiefreies9 Arbeiten. Es bestand ein Vertrauensverhältnis sowie eine gemeinsame (fach-)sprachliche Basis, was die kritische Reflexion von Praxisproblemen begünstigte. Statt ‚Hochglanzbeschreibungen‘ der eigenen Arbeit zu liefern, ist es gelungen, an die Praxis von Teamdiskussionen und Fallbesprechungen anzuknüpfen, in denen durchaus kontroverse Sichtweisen und Einschätzungen formuliert wurden. Meine Nähe zum Feld ermöglichte den Praktiker_innen, zu den ‚Knackpunkten‘, d.h. zu den für sie interessanten Themen und Praxisproblemen zu kommen, ohne langatmig die Arbeitsweise erklären zu müssen. Bourdieu (1998) argumentiert in seiner Studie Das Elend der Welt, dass es nur dann möglich ist, die jeweiligen Sichtweisen, Gefühle und Gedanken nachzuvollziehen, wenn die objektiven Lebensbedingungen bekannt sind: „Der Interviewer hat nur dann eine gewisse Chance, seinem Gegenstand gerecht zu werden, wenn er ein enormes Wissen über ihn hat, welches er entweder im Laufe eines ganzen Forscherlebens oder, auf direktere Weise, im Laufe vorausgehender Gespräche mit dem Befragten selbst oder mit Informanten angesammelt hat.“ (Ebd.: 786-787)

Dafür sei es in der Forschung notwendig, die Distanz zwischen Interviewer_in und Befragten zu reduzieren. Für Das Elend der Welt wurden Interviewer_innen aus verschiedenen Milieus ausgebildet, die ihre Freund_innen und Bekannte interviewten. Die gesellschaftliche Nähe und Vertrautheit von Interviewer_innen und Befragten ermöglicht – Bourdieu zufolge – die Offenheit der Befragten, da diese sich sicher sein können, dass das Gesagte nicht gegen sie verwendet wird.

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Zumindest verliefen die Hierarchien nicht zwischen Forschung und Praxis, sondern an anderen Linien, insbesondere der (informellen) Hierarchien im Team.

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Da auch ich als Praktikerin in einer Opferberatungsstelle gearbeitet habe, konnten die Berater_innen im Forschungsprozess davon ausgehen, dass ich selbst mit den Widersprüchen der täglichen Arbeit konfrontiert war, mich der Praxis verbunden fühle und sie nicht bloßstellen würde. Dieses Vertrauen, nicht bloßgestellt zu werden, ist Voraussetzung für einen Forschungsprozess, in dem auch Scheitern und das Gefühl von Unzulänglichkeit gemeinsam analysiert werden können. Bourdieu argumentiert außerdem, dass die Vertrautheit der Forscher_innen mit dem Feld die Einordnung des Gesagten im Interview sowie das Führen von gehaltvollen Interviews erleichtert, da sich die Forscher_innen auf Weltsichten der Interviewpartner_innen einlassen können und wissen, wovon gesprochen wird. Während ‚törichte‘ Fragen unwissender Interviewer_innen die Gesprächssituation ins Stocken bringen und die interviewte Person den Kontext erläutern muss, kann die interviewte Person in einem Interview, in dem der Kontext geteilt wird, zu den für sie relevanten Aspekten kommen und mit Verständnis rechnen. In den von mir geführten Interviews mit Ratsuchenden kam es mehrfach vor, dass sie ihren Erzählfluss unterbrachen, weil ihnen z.B. das Wort ‚Entschädigungsantrag‘ fehlte. Durch meine Kenntnis, dass das Stellen von Entschädigungsanträgen eine typische Unterstützungsleistung ist, konnte ich hier durch Nennung des Wortes signalisieren, dass ich weiß, wovon die Gesprächspartner_innen sprechen, was ihnen wiederum ermöglichte, zu erläutern, welche Bedeutung die Entschädigung für sie hatte. Dagegen kann eingewendet werden, dass gerade die ‚törichten‘ Fragen notwendig seien, um die Interviewpartner_innen zu zwingen, ihre Sicht zu erklären. Bourdieu (ebd.: 785) räumt selbst die Gefahr ein, dass ein Gespräch zu intern werden kann und vorausgesetztes, geteiltes Wissen den Text für Außenstehende unverständlich macht.10 Die Gefahr besteht also, dass zum einen meine eigene Involviertheit in die Praxis verhindert, dass ich eine kritische Distanz zu Handlungsabläufen und Praxistheorien herstelle. Die Entwicklung der Fragestellung aus der eigenen Praxisreflexion und vollzogenen Pendelbewegung zwischen theoretischem Erkenntnisinteresse und Problemstellung der Praxis kann zum anderen dazu führen, dass im Forschungsprozess nur die Erkenntnisse reproduziert werden, die schon vor Eintritt in den Forschungsprozess vorhanden waren. Aus der Perspektive subjektwissenschaftlicher Forschung ist nicht ausgeschlossen, dass das Subjekt, das Erfahrungen macht und das Subjekt, das diese analysiert, ein und dieselbe Person ist. Ich gehe davon aus, dass die Herstellung einer kognitiven Distanz zur eigenen Lebensbewältigung und damit die metasubjektive Verständigung über Handlungsgründe möglich sind. Eine grundsätzliche Privilegierung einer distanzierten Position zur Erkenntnisgewinnung ist aus meiner Sicht daher nicht ge-

10 Auch schließt Bourdieu (1998: 786) nicht aus, dass es auch bei sozialer Distanz möglich ist, sich gedanklich in die Gesprächspartner_in hineinzuversetzen.

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rechtfertigt. Stattdessen gehört es zum Forschungsprozess, im konkreten Fall zu analysieren, inwieweit und wodurch die Aufschlüsselung von Prämissen-Gründe-Zusammenhängen durch die eigene Involviertheit erschwert ist. Vor dem Hintergrund, dass Handlungsroutinen, Denkweisen und Interpretationen sowohl Teil formulierter Handlungsproblematiken sein als auch subjektiv funktional zur Bewältigung einer widersprüchlichen Praxis stehen können, ist davon auszugehen, dass das Aufklären von solchen Prämissen-Gründe-Zusammenhängen mit Widerständen verbunden ist. Die Nichtaufklärung der eigenen Beteiligung an der formulierten Handlungsproblematik kann also durchaus subjektiv funktional sein, um im bestehenden Rahmen professioneller Tätigkeit handlungsfähig zu bleiben. Diese Widerstände zu erkennen ist erschwert, wenn die Nichtaufklärung auch für mich als Forscherin subjektiv funktional ist, weil sie z.B. auch meine eigene (frühere) Praxistätigkeit legitimiert und bestätigt, statt sie infrage zu stellen. Ein aus meiner Sicht wichtiger Schritt, diese ‚Blindheit‘ für das Selbstverständliche sowie für restriktive Dimensionen in Handlungsroutinen und Denkweisen zu überwinden, bestand bereits darin, mich aus der täglichen Praxis zurückzuziehen. Selbst nicht mehr eingebunden in die alltäglichen Handlungsroutinen und -notwendigkeiten zu sein, ermöglichte mir, viele dieser Routinen stärker zu hinterfragen und Distanz zu ihnen zu entwickeln. Der Gefahr, durch die Vertrautheit mit dem Feld die Erklärungsbedürftigkeit scheinbarer Selbstverständlichkeiten nicht wahrzunehmen und Deutungen zu reproduzieren, begegnete ich zudem, indem ich die transkribierten Gruppendiskussionen und meine Interpretationen in verschiedenen Forschungszusammenhängen zur Diskussion stellte. So konnten mit dem Feld unvertraute Forscher_innen mögliche ‚blinde Flecken‘ entdecken. Auch die oben beschriebene Niederschrift des Erkenntnisstandes hatte die Funktion, nicht nur das aus der reflektierten eigenen Praxiserfahrung resultierende Vorwissen zu sichern, sondern auch zu verhindern, dass vorher Gewusstes unreflektiert im Forschungsprozess gleichsam verdoppelt wird. Trotz meiner Einschätzung, dass die Bedingungen für einen partizipativen Forschungsrahmen grundsätzlich gut waren, wurden auch die Schwierigkeiten deutlich, die Lux und ich (Köbberling/Lux 2007b: 77-80) in Bezug auf Evaluationsforschung und die darin liegenden Interessenwidersprüche formuliert haben: So ist die Evaluationsforschung zur Gewinnung praxisrelevanter Daten auf die Kooperation der Praktiker_innen angewiesen. In dem Maße, in dem die Ergebnisse der Evaluation jedoch die Interessen der Praktiker_innen unterlaufen können (z.B. in Form von Mittelkürzungen bis hin zur Einstellung der Förderung bei negativer Bewertung der Einrichtung durch die Evaluation), stehen die Praktiker_innen in einem instrumentellen Verhältnis zum Forschungsprozess und den Evaluator_innen: Sie unterlaufen den Forschungsprozess, liefern keine oder nur sozial erwünschte Daten. Partizipative Evaluationsmodelle sind eine Umgangsstrategie mit dieser Problematik. Die Widersprüche

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lassen sich aber nicht methodisch lösen, solange die Evaluation sowohl für Evaluator_innen als auch für Praxiseinrichtungen in Marktlogiken eingebettet ist (vgl. ebd.: 78). Die in dieser Arbeit verfolgte Praxisforschung unterschied sich von einer Evaluation, da sie nicht auf die externe Bewertung, sondern auf die wissenschaftliche Reflexion von Praxis zielte. Meine Rolle als Forscherin war nicht die einer vom Geldgeber der Einrichtung beauftragten Evaluatorin. Aber auch wenn das Forschungsprojekt von einer gemeinsamen Fragestellung von mir als Wissenschaftlerin und ExPraktikerin und den aktuellen Praktiker_innen ausging, fand es nicht im luftleeren Raum statt: Die Beratungsstellen arbeiten unter prekärer Finanzierung und stehen unter permanentem Legitimationsdruck. Als ‚Pionierprojekte‘ sind sie darauf angewiesen, dass die von ihnen entwickelte Praxis als gut und wichtig wahrgenommen wird, um weiter arbeiten zu können. So war davon auszugehen, dass neben dem Interesse an Praxisreflexion auch ein instrumentelles Verhältnis zur Forschung bestand, indem z.B. davon ausgegangen wurde, dass eine wissenschaftliche Publikation zum Beratungsansatz dessen Etablierung nützt. Auch wenn sich die Frage auf Handlungsmöglichkeiten richtet und nicht auf die Bewertung des Beratungsangebots, ist nicht auszuschließen, dass die Ergebnisse im Kontext von Evaluation/Bewertung gelesen werden. Dies schränkt die Möglichkeiten der Praktiker_innen zur kritischen Reflexion des eigenen Handelns ein und kann Konflikte im Forschungsprozess hervorbringen: So beschreibt schon Sieverding (1989) ihre Erfahrungen in einem wissenschaftlichen Begleitprojekt: Praktiker_innen versuchten, sie zu einer „Hofberichterstatterin“ zu machen, instrumentalisierten sie in internen Machtkämpfen und versuchten, die Veröffentlichung kritischer Daten zu verhindern. Der Erwartungsdruck seitens der Praktiker_innen, solidarisch sein zu müssen, besteht in meinem Forschungsprojekt nicht nur aufgrund der partizipativen Forschungsstrategie, sondern auch aufgrund meiner Eigenschaft als Ex-Kollegin. Größere Konflikte blieben im Forschungsprojekt aus. Dies ist zum Teil darauf zurückzuführen, dass unter den analysierten Fällen keine waren, die grundsätzlich problematisch verlaufen sind und Praxisprobleme so beschrieben werden konnten, dass ihr Zustandekommen aus Bedingungs-Bedeutungskonstellationen deutlich wurde und nicht als individueller Fehler von Berater_innen. Es ist aber auch positiv hervorzuheben, dass die Bereitschaft der Praktiker_innen, sich auch selbstkritisch mit der eigenen Praxis auseinander zu setzen, hoch war. Einbeziehung der Perspektive der Ratsuchenden durch „aufsuchende Forschung“ Bislang wurde die Realisierung des Mitforschungsprinzips in Bezug auf die Berater_innen ausgeführt. Die Forschungskooperation mit den Ratsuchenden hatte eine andere Qualität: Die Ratsuchenden wurden nicht systematisch in die Entwicklung der Fragestellung und des Forschungsvorgehens einbezogen, sondern als Interview-

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partner gewonnen.11 Huck (2009: 90-93) spricht in einem solchen Fall von „aufsuchender Forschung“, auf diese auch subjektwissenschaftliche Forschung in den meisten Fällen zurückgeworfen ist, wenn es nicht gelingt, einen Rahmen für partizipative Forschung zu schaffen, in dem sich das wissenschaftliche Erkenntnisinteresse der Forscher_in mit dem praktischen Erkenntnisinteresse der Mitforschenden trifft, und alle willens und in die Lage sind, gleichberechtigt am Forschungsprozess teilzunehmen. Berater_innen und Ratsuchende in gleicher Weise in den Forschungsprozess einzubeziehen ist u.a. dadurch erschwert, dass sich ihr Bezug zur Forschungsfrage unterscheidet. Die Reflexion der Beratungspraxis kann für Berater_innen unmittelbar relevant für die weitere Gestaltung der Beratungspraxis werden, so dass sich mit der Beteiligung am Forschungsprozess die Perspektive verbinden kann, wiederkehrende Probleme und Hürden in der Praxis zu überwinden oder besser zu bewältigen. Eine solche unmittelbare praktische Relevanz ist für die Ratsuchenden – die hoffen, dass sich die Gewalterfahrung nicht wiederholen möge – nicht gegeben. Ich konnte nicht davon ausgehen, dass die Ratsuchenden ein Interesse an einer gemeinsamen Auseinandersetzung über ihre subjektive Befindlichkeit und Handlungsmöglichkeiten haben. Zudem wäre eine solche intensive Auseinandersetzung mit auch methodischen bzw. forschungsethischen Fragen wie dem Verhältnis der Forschung zu therapeutischen Prozessen verbunden. Praktisch wurden bei den am Forschungsprozess beteiligten Ratsuchenden dennoch eigene Interessen an der Forschung deutlich. Die Klärung des Erkenntnisinteresses der Ratsuchenden wurde jedoch nicht systematisch in den Forschungsprozess aufgenommen, weshalb an dieser Stelle nur hypothetische Prämissen-Gründe-Zusammenhänge formuliert werden können: So entstand im Interview mit einigen Betroffenen der Eindruck, dass diese das Interview zur Reflexion ihrer eigenen Erfahrung nutzen wollten. Andere formulierten ein politisches Interesse daran, die Bedeutung rechter und rassistischer Gewalt und die Notwendigkeit adäquater Unterstützungsangebote zu explizieren. Der Wunsch nach Öffentlichmachung und Sichtbarkeit der eigenen Gewalterfahrung kann als weitere Motivation für die Beteiligung am Forschungsprozess gesehen werden. Der Forschungsprozess orientierte sich allerdings nicht an diesen möglichen Interessen der Ratsuchenden; es wurden nicht systematisch auf einer gemeinsamen Diskussionsgrundlage beruhende praktische und sich aus der Perspektive der Ratsuchenden stellende Problemstellungen aufgeschlüsselt. Die Herstellung eines partizipativen Forschungsrahmens mit den Ratsuchenden wäre zudem praktisch mit größeren Schwierigkeiten verbunden gewesen. Während Berater_innen in der Regel in der Arbeitszeit an der Forschung teilnahmen, war davon auszugehen, dass die Forschungsbeteiligung für Ratsuchende weniger leicht in den Alltag einzubauen ist. Die materiellen Voraussetzungen für einen partizipativen

11 Die methodische Durchführung wird im Kapitel 5.2 ausgeführt.

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Forschungsprozess insbesondere mit marginalisierten Gruppen – zu denen Betroffene rechter und rassistischer Gewalt in den meisten Fällen zählen – thematisieren auch Bergold und Thomas (2012: 11). Sie regen z.B. an, über eine Bezahlung für die Partizipation am Forschungsprozess nachzudenken und thematisieren die Notwendigkeit, mögliche Zugangshürden – z.B. Verdienstausfall im Fall einer Teilnahme oder Mobilitätseinschränkungen von Menschen mit Behinderung – im Forschungsprozess zu berücksichtigen. In Bezug auf meine Forschung rechnete ich damit, in manchen Fällen Sprachmittler_innen zur Verständigung heranzuziehen, was mit besonderen Kosten und methodischen Herausforderungen verbunden gewesen wäre. Praktisch wurde dies allerdings nicht notwendig. Auch habe ich mögliche Mobilitätseinschränkungen aufgrund restriktiver Ausländergesetze in der Forschungsplanung einbezogen und bin für Fahrtkosten aufgekommen. Trotz dieser Schwierigkeiten einen Rahmen für die umfassendere Partizipation der Ratsuchenden zu schaffen, war mir im Rahmen dieses begrenzten Forschungsprojektes nicht möglich. Die Folge ist, dass sowohl in den Forschungsfragen als auch in den -ergebnissen die Perspektive der Berater_innen, die näher am Wissenschaftsdiskurs stehen und innerhalb der professionellen Beziehung und in der Gesellschaft tendenziell eine machtvollere Position haben, gegenüber der der Ratsuchenden privilegiert ist. Für weitere Forschungen wäre ein Forschungssetting, das eine umfassendere Partizipation der Ratsuchenden beinhaltet, durchaus lohnend.

5.2

M ETHODISCHES V ORGEHEN

Im Folgenden wird die praktische Umsetzung meiner methodologischen Überlegungen in Bezug auf den empirischen Teil der Arbeit dargestellt. Auf Grundlage der Reflexion eigener Praxiserfahrung und (Vor-)Gesprächen mit Berater_innen, der Auseinandersetzung mit Konzeptbeschreibungen der OBS sowie der Aufarbeitung des theoretischen Forschungstandes formulierte ich folgende konkretisierten Forschungsfragen: Erstens: Wie stellen sich die Probleme, auf die die Praxis der OBS unterstützend wirken will, konkret dar? Worin besteht im Einzelnen die subjektive Handlungsproblematik, auf die die Praxis reagiert? Ziel der empirischen Erhebung ist damit, (hypothetische) Begründungsmuster über die Vermitteltheit individueller und gesellschaftlicher Dimensionen in der subjektiven Erfahrung rechter und rassistischer Gewalt zu formulieren. Zweitens: In welcher Weise reagiert die Praxis der OBS auf diese Problematik und mit welchen Handlungsmöglichkeiten und -begrenzungen ist sie dabei konfrontiert?

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Untersucht wird insbesondere die praktische Realisierung der Verbindung individuumsbezogener und politischer Dimensionen in den Bereichen: • • • •

einzelfallbezogene Beratung, juristische Dimensionen der Beratung, lokale Intervention und fallbezogene Öffentlichkeitsarbeit.

Zur Rekonstruktion von Prämissen-Gründe-Zusammenhängen wird die Art der heranzuziehenden Daten nicht von vornherein begrenzt. Tatsächlich entschied ich mich für verschiedene methodische Zugänge und die Nutzung unterschiedlicher Datensorten. Ein solches Vorgehen erfordert, die eingebrachten und genutzten Daten jeweils in Bezug auf ihre Aussagekraft zu bewerten. Hier habe ich auf die Konzepte der ‚Datenfunktion und -modalität‘ zurückgegriffen, die in der Kritischen Psychologie entwickelt wurden (Markard 1985: 110-113; Markard 2009: 283). Mit dem Konzept der ‚Datenfunktion‘ wird der unterschiedliche Bezug empirischer Daten zur Theorieentwicklung unterscheidbar. So sind ‚primär-fundierende Daten‘ solche, die notwendig sind, die zu analysierende Handlungsproblematik verständlich zu machen. Dazu gehören z. B- die Fallbeschreibung und die im Fall enthaltene Handlungsproblematik. Solche Daten sind nicht von vornherein gegeben, sondern sind aus dem Datenpool erst herauszufiltern (vgl. Markard 1985: 110). Davon zu unterscheiden sind ‚stützend-konkretisierende Daten‘ und ‚veranschaulichende Daten‘. So können Daten in stützend-konkretisierender Funktion formulierte Prämissen-Gründe-Zusammenhänge zusätzlich in der Realität verankern, aber auch zur Reformulierung der angenommenen Prämissen-Gründe-Zusammenhänge führen. ‚Veranschaulichende Daten‘ sind schließlich weitere Beispiele, die der Verständigung dienen, die aber auch wegfallen können, ohne dass die gemachte Aussage dadurch infrage gestellt wird. „Das Konzept der veranschaulichenden Daten hat vor allem die kritische Funktion, zu verhindern, die ‚Stärke‘ von Daten zu ‚überschätzen‘.“ (Ebd.: 111) ‚Sekundär fundierende Daten‘ können Belege dafür sein, dass eine Veränderung der Problemkonstellation mit äußeren Ereignissen zu tun hat, wenn sich z.B. die akute Bedrohungssituation einer Klientin dadurch auflöst, dass der Täter aus unbekannten Gründen wegzieht. Mit dem Konzept der ‚Beobachtungmodalitäten‘ wird die unterschiedliche Qualität, die empirische Daten haben, unterscheidbar (ebd.: 112). Die stärksten Daten sind die im Modus der Realbeobachtung, in dem Beobachtbares in seiner raum-zeitlichen Dimension geschildert wird. Hier ist zu differenzieren, wer in welcher Position welche Dinge aus welcher Situation berichtet. So wird möglicherweise – jeweils im Modus der Realbeobachtung – ein Fallverlauf von Ratsuchenden und Berater_innen sehr unterschiedlich dargestellt. Davon zu unterscheiden sind Daten im Modus der allgemeinen Beobachtbarkeit, womit verallgemeinernde Äußerungen, formuliertes

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Alltagswissen etc. gemeint sind (vgl. Markard 2009: 284). Solche Daten müssen daraufhin befragt werden, inwieweit sie in Realbeobachtungen überführt werden können. Zusätzliche Daten wie Gerichtsurteile oder Zeitungsberichte können als Objektivationen (vgl. Markard 1985: 112) eingebracht werden. Sie stehen nicht für sich, sondern werden im Zusammenhang mit bestimmten Interpretationen eingebracht, die selbst auf Datenfunktion und Beobachtungsmodalität hin befragt werden müssen. Beispielsweise könnte die Schilderung eines Ratsuchenden über seinen Ärger, dass das Ermittlungsverfahren eingestellt wurde, durch den Einstellungsbescheid ergänzt werden, wobei der Einstellungsbescheid an sich keine Aussagen über PrämissenGründe-Zusammenhänge zulässt. Um Handlungen und subjektive Handlungsproblematiken als Prämissen-GründeZusammenhänge verstehbar zu machen, ist es notwendig, deren Bezug zur objektiven Welt in Form der konkreten Weltbezüge der Individuen zu rekonstruieren. Genau diese konkreten Weltbezüge werden in quantitativen Erhebungen (so zum Beispiel die Erfragung der Zufriedenheit mit dem Beratungsangebots mittels Skalen oder die Messung des subjektiven Wohlbefindens oder spezifischer Belastungssymptome der Ratsuchenden vor und nach der Intervention der OBS) jedoch ausgeklammert. Auch in qualitativen Zugängen, die z.B. auf die Rekonstruktion subjektiver Theorien oder Relevanzsysteme zielen, bleibt deren Zusammenhang mit gesellschaftlich vermittelten Bedingungs-Bedeutungskonstellationen oft unaufgeklärt. Als ersten empirischen Zugang habe ich Fallanalysen (A) gewählt, um am konkreten Fall •



den Zusammenhang zwischen der subjektiven, aus der Gewalterfahrung resultierenden, Handlungsproblematik und den vom Individuum in seiner Lage und Position wahrgenommenen Handlungsmöglichkeiten und -begrenzungen herausarbeiten zu können sowie Möglichkeiten, Grenzen und Widersprüche der auf diese Problematik bezogenen Unterstützungspraxis unter Bezug auf die in der konkreten Fallkonstellation gegebenen Handlungsmöglichkeiten und -grenzen zu analysieren.

Zweitens habe ich Gruppendiskussionen (B) mit Berater_innen geführt, um deren Praxistheorien als gesellschaftlich-subjektives Zusammenhangs- und Widerspruchswissen zugänglich und diskutierbar zu machen. Ziel war es, das über den Einzelfall hinausgehende Praxiswissen der Berater_innen als kondensiertes Erfahrungswissen über typische Zusammenhänge und Widersprüche in der Unterstützung von Betroffenen rechter und rassistischer Gewalt zu erheben und zu analysieren.

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5.2.1

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A: Fallanalysen

Fallanalysen haben die Funktion, die in der Beratungspraxis bearbeiteten Problemstellungen und die von den Beteiligten verfolgten Lösungsstrategien so zu rekonstruieren, dass das Handeln der am Beratungsprozess Beteiligten in seinem jeweils konkreten Kontext und den darin enthaltenen Handlungsmöglichkeiten und -beschränkungen verständlich wird. Dafür wurde sowohl die Perspektive der Ratsuchenden als auch die der Berater_innen im jeweiligen Fall einbezogen. Damit konnten erstens die subjektiven Handlungsproblematiken der Betroffenen und deren Perspektive auf Lösungsmöglichkeiten und den Nutzen der Unterstützung durch die OBS rekonstruiert werden. Zweitens konnten die Sichtweisen der Berater_innen auf Handlungsbedarfe, -optionen und -problematiken genutzt werden. Fallauswahl und -gewinnung Die Fälle wurden über die OBS der ostdeutschen Bundesländer ausgewählt. Diese wurden gebeten, Fälle vorzuschlagen, bei denen sie selbst ein Interesse an einer Reflexion hatten. Dabei wurde auch explizit vorgeschlagen, solche Fälle einzubeziehen, die aus Sicht der Berater_innen unbefriedigend verlaufen waren. Die Bereitschaft der Berater_innen, Fälle der Reflexion zugänglich zu machen, war hoch. Aufgrund der stark abweichenden Bedingungen der Beratungspraxis wurden aus den zur Analyse vorgeschlagenen Fällen die ausgeschlossen, die in Großstädten (mit über 100.000 Einwohnern) angesiedelt waren. Bei den in die Untersuchung aufgenommenen Fälle handelt es sich durchgehend um solche, in denen zumindest die juristischen Verfahren abgeschlossen waren und die Gewalttat mindestens ein Jahr zurücklag. Anschließend formulierte ich ein Anschreiben an die Ratsuchenden in den ausgewählten Fällen mit der Bitte um Mitwirkung.12 Der Zugang über die Beratungsstellen wurde nicht nur aufgrund der angestrebten Einbeziehung der Perspektive von Ratsuchenden und Berater_innen gewählt, sondern auch vor dem Hintergrund, dass der Zugang zu Betroffenen rechter und rassistischer Gewalt in der Forschung als sehr schwierig gilt (Böttger und Kolleg_innen 2003: 11; Schmid/Storni 2009: 81). Durch den gewählten Zugang über die OBS ist die ansonsten sehr schwierige Kontaktaufnahme zu Betroffenen rechter und rassistischer Gewalt gut gelungen. Erreicht wurden jedoch nur Ratsuchende, die dem Beratungsprozess positiv gegenüberstanden. Es konnten keine Ratsuchenden gewonnen werden, deren Fall von den Berater_innen explizit als problematisch gekennzeichnet wurde bzw. in denen das Beratungsverhältnis von den Ratsuchenden abgebrochen worden war. In einem Fall war zunächst Bereitschaft signalisiert worden, woraufhin der Fall aufgenommen und fall-

12 Um die Daten der potenziellen Interviewpartner_innen zu schützen, leiteten die Beratungsstellen mein Schreiben weiter.

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bezogene Interviews mit den Berater_innen geführt wurden. Als – mit einiger zeitlicher Verzögerung – die Ratsuchenden befragt werden sollten, zogen diese ihre Bereitschaft zurück. Es wurden mehr Fälle erhoben als schließlich ausgewertet werden konnten. Insgesamt wurden fünf fallbezogene Interviews mit Berater_innen und fünf Interviews mit Ratsuchenden im Zeitraum zwischen Sommer 2011 und Sommer 2014 geführt. Vollständig ausgewertet wurden schließlich zwei Fälle mit je einem Interview mit Ratsuchenden und Berater_innen. Ausgewählt wurde, entsprechend der in den Kapiteln 1 dargestellten Schwerpunkte der Beratungsarbeit je ein Fall der beiden maßgeblichen Nutzer_innengruppen der OBS: links-alternative Jugendliche und Rassismusbetroffene. Datenerhebung Geführt wurden problemzentrierte Interviews (Witzel 1985; 2000) mit a) Ratsuchenden und b) Berater_innen. Herangezogen wurden zusätzlich c) die von den Beratungsstellen geführten Falldokumentationen. Die Falldokumentationen der Beratungsstellen (‚Fallakten‘) wurden nach Zustimmung der Ratsuchenden in den Beratungsstellen eingesehen oder kopiert, wobei alle persönlichen Daten geschwärzt wurden. Die Fallakten waren sehr unterschiedlich geführt worden: In manchen fanden sich umfassende Notizen zu geplanten und realisierten Beratungsschritten und Gesprächsinhalten, in anderen waren neben einem ‚Erstberichtsbogen‘ vor allem Presseberichte, Zeugenladungen oder ärztliche Atteste u.Ä. abgeheftet. Solche Fallakten können nicht als objektive Dokumentation der Realität begriffen werden, sondern sind Dokumente, die selbst in bestimmten Kontexten, aus spezifischen Perspektiven und mit spezifischer Funktion hergestellt wurden (vgl. Müller, S. 1980; Wolff 2000). In der Bewertung der Funktion sowie der Modalität der Daten aus Fallakten ist dies zu berücksichtigen. In einem ersten Schritt wurden die Fallakten – wenn sie vor den Interviews zugänglich waren, was nicht immer der Fall war – zur Vorbereitung der Interviews genutzt. Die Falldokumentationen erfüllten dabei die Funktion des von Witzel (2000) vorgeschlagenen Instruments eines Kurzfragebogens, der dazu dient, das Interview von der Erfragung sozialstruktureller Daten zu entlasten sowie als Hintergrundinformation (zum Beispiel zum Tatablauf) das Führen der Interviews zu erleichtern, wobei reflektierend einbezogen wurde, dass die Akte die Perspektive der Beratungsseite repräsentiert.13

13 S. Müller diskutiert die Nutzung von Jugendamtsakten in der Sozialarbeitsforschung und führt aus, dass in ihnen die „gesellschaftliche Realität der Lebenswelt und der Verhaltensmuster der Betroffenen […] immer nur in Ausschnitten und unter Verwendung professioneller Muster der Realitätskonstruktion dokumentiert“ werden (Müller, S. 1980: 39). Die Akten der OBS sind im Vergleich deutlich weniger formalisiert als Jugendamtsakten, und ihre Funktion zur rechtlichen Absicherung der Leistungsträger durch die Dokumentation

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Für die Interviews wurde eine halbstandardisierte Form gewählt, die einen Kompromiss zwischen dem Anspruch an Offenheit und angestrebter Konkretisierung auf der Grundlage bereits vorhandener Erkenntnisse ermöglichen sollte. Ich arbeitete mit einem Leitfaden, der als Gedächtnisstütze und Orientierungsrahmen diente und folgende Bereiche umfasste: Schilderung der Gewaltsituation und der durch die Gewalt entstandene Problemstellung, Reaktionen Dritter auf die Gewalt; Ereignisse und Handlungen in Bezug auf die Gewalterfahrung nach der Tat (dabei wurde, wenn in den Schilderungen bis zu diesem Zeitpunkt nicht behandelt, nach Reaktionen aus dem persönlichen Umfeld, Anzeigenstellung und juristischen Verfahren sowie möglichen öffentlichen Reaktionen wie Presseberichten gefragt) und die Gestaltung des Beratungsverhältnisses. Die Interviews hatten dialogischen Charakter: Neben Nachfragen zu den geschilderten Fallkonstellationen („ich habe noch nicht richtig verstanden, wann kam die Polizei dazu?“) und Paraphrasierungen („ich habe Sie jetzt so verstanden, dass Sie sich vom Richter nicht ernst genommen fühlten, stimmt das?“) formulierte ich auch (vorsichtig) eigene Hypothesen zu Prämissen-Gründe-Zusammenhängen („spielte vielleicht auch eine Rolle, dass…?“), auf die die Interviewpartner_innen ihrerseits durch Zurückweisung, Konkretisierung oder Differenzierung reagieren konnten. Die dialogische Anordnung der Interviews wurde bei Berater_innen und Ratsuchenden in unterschiedlichem Ausmaß umgesetzt. In den Interviews mit den Berater_innen, bei denen das Mitforschungskonzept umfassender umgesetzt wurde, habe ich stärker eigene Impulse gesetzt und z.B. auch kritische Nachfragen zu realisierten Beratungsschritten gestellt oder Vorschläge einer veränderten Praxis formuliert, womit die Interviews auch den Charakter vermittelnder Interviews (Lamnek 2005: 332-333) hatten. In diesen werden nicht nur Daten abgefragt (ermittelnde Interviews), sondern es sind – wie in der Aktions- oder Handlungsforschung – auch Lern- und Veränderungsprozesse der Forschungsbeteiligten intendiert. Damit wurden bereits im Rahmen der Datenerhebung verschiedene Instanzen im Forschungsmodell der Entwicklungsfigur (s.o.) bearbeitet: Nicht nur wurden Problemstellungen als Ausgangspunkt der Forschung benannt und primär-fundierende und stützend-konkretisierende (sowie illustrierende) Daten zur späteren Auswertung dieser Problemstellungen erhoben, sondern der erbrachten Leistungen ist weniger ausgeprägt. Statt einer nachträglichen Vervollständigung der Akten, um der Dokumentationspflicht nachzukommen, besteht bei den OBS die Tendenz zur sehr unvollständigen Aktenführung. Ich ging daher davon aus, dass zwar die Einträge in den Akten durch die spezifischen (professionellen) Auswahl- und Deutungsprozesse gefärbt sind, dass aber keine Beratungsleistungen nachträglich hinzugefügt wurden.

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selbst schon hypothetische Prämissen-Gründe-Zusammenhänge zum Verständnis der Problemstellung (und zur Entwicklung möglicher Lösungsstrategien) im dialogischen Prozess erarbeitet. Transkription Alle Interviews wurden mittels Tonaufnahmen aufgezeichnet. Direkt nach den Interviews notierte ich in Postscripts erste Eindrücke und Besonderheiten der Interviewsituation. Die Interviews wurden vollständig und wörtlich transkribiert. Dabei orientierte ich mich an den Überlegungen Bourdieus (1998: 797-802), nach denen jede Niederschrift gesprochener Sprache bereits ein Interpretationsschritt darstellt. Ich entschied mich, Dialekte, Stottern, Füllwörter („Ähm“) und grammatikalische Fehler leicht zu glätten. Diese genau abzubilden hätte a) die Lesbarkeit deutlich erschwert, b) aufgrund des gesprochenen Dialekts die Anonymisierung eingeschränkt und c) die Interviewpartner_innen, insbesondere die, die nicht in ihrer Muttersprache interviewt wurden, unnötig bloßgestellt. Längere Pausen (mehr als 3 Sekunden), Lachen und andere für das Verständnis wesentliche gestische oder lautmalerische Äußerungen wurden im Transkript vermerkt. Dies erwies sich vor allem in Fällen, in denen die sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten eingeschränkt waren, als wichtig. Die Transkripte legte ich den Interviewpartner_innen zur Freigabe vor. Sie hatten hier die Möglichkeit, Änderungen vorzunehmen, wenn sie den Eindruck hatten, dass ihre Aussagen missverständlich wiedergegeben waren oder die Aussagen nicht das wiedergaben, was sie tatsächlich gemeint hatten. Dazu kann kritisch eingewendet werden, dass es gerade die spontanen Aussagen sind, die ‚authentisch‘ das wiedergeben, was von Bedeutung ist und dass die Möglichkeit der späteren Bearbeitung dazu führt, dass die spontanen, ‚wahrhaftigen‘ Aussagen durch sozial erwünschte ersetzt werden.14 Es ist aus meiner Sicht tatsächlich nicht auszuschließen, dass Interviewpassagen, die aufschlussreich für die Widersprüchlichkeit der Praxis sein können, nachträglich geglättet werden. Allerdings sind spontane Äußerungen nicht per se als ‚authentische‘ Daten zur Deutung zu privilegieren. Es ist keinesfalls eindeutig, dass spontan hervorgebrachte Aussagen zuverlässigere Daten darstellen als solche, in denen die Interviewparter_innen die Möglichkeit hatten, bisher unverständliche Passagen zu verdeutlichen und Missverständnisse auszuräumen. In diesem Sinne diente mein Vorgehen der Autorisierung der Gewinnung stabilerer Aussagen. Praktisch wurde die Möglichkeit der Korrektur von den Interviewpartner_innen nur sehr zurückhaltend genutzt. In einigen Fällen wurden Worte eingefügt, die im Redefluss oder in der Transkription verloren gegangen waren und deren Fehlen den Sinn verkehrte (z.B. statt „Diskriminierungsprojekt“ „Anti-Diskriminierungsprojekt“).

14 Zur Diskussion des Vorgehens der ‚Autorisierung‘ verbaler Daten und dem Einwand des Verlusts der ‚Authentizität‘ der Daten siehe auch Markard (2000b: 228-233).

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Auswertung Die Auswertung der Daten zielte darauf, Problemstellungen und Problemlösungsstrategien von Berater_innen und Ratsuchenden als Prämissen-Gründe-Zusammenhänge so zu rekonstruieren, dass individuelle Handlungsmöglichkeiten und -beschränkungen in den im jeweils konkreten Kontext gegebenen Bedingungs-Bedeutungskonstellationen deutlich werden. Während schon während der Interviews erste Hypothesen und Überlegungen gemeinsam mit den Interviewpartner_innen formuliert wurden, wurde der jetzt zu beschreibende eigentliche Auswertungsschritt ohne die Befragten durchgeführt. Dabei war es notwendig, sowohl nachzuvollziehen, wie die Befragten selbst ihre Situation und verfügbaren Handlungsoptionen sehen, als auch die subjektiven Sichtweisen zu überschreiten und Perspektiven eines erweiterten Fallverständnisses zu entwerfen. Die im Folgenden darzustellende Auswertungsstrategie sollte in wechselnder Bewegung zwischen Nähe und Distanz (Kerber-Ganse 2004: 110) ermöglichen, das Material in Bezug auf meine Fragestellung zu reduzieren und zu strukturieren, ohne dass dabei der Sinn verfälscht wird oder Wesentliches verloren geht. Verschiedene Auswertungsmethoden – so z.B. die Qualitative Inhaltsanalyse nach Mayring (2000; 2010) oder Kodierprozeduren in der Grounded Theory (Mey/Mruck 2010; Böhm 2000; Glaser/Strauss 1967) – zielen darauf, diesen Prozess der Reduktion und Abstraktion zu operationalisieren. In meiner Auswertungsstrategie griff ich insbesondere Überlegungen aus der Grounded Theory (Strauss/Corbin 1996) auf, wobei die einzelnen Auswertungsschritte der Qualität der in dieser Arbeit angestrebten Erkenntnisse als Aussagen über Prämissen-Gründe-Zusammenhänge angepasst werden mussten. Eine hilfreiche Orientierung stellten auch die von Kerber-Ganse (2004: 115117) beschriebenen „Schritte der Abstandsgewinnung“ dar. Von wesentlicher Bedeutung im Umgang mit den Daten war dabei die kritische Einschätzung der Qualität und Funktion der zur Entwicklung von Prämissen-Gründe-Zusammenhängen herangezogenen Daten. Jedes Interview wurde zunächst für sich stehend in folgenden Schritten ausgewertet: 1. Dokumentation erster Eindrücke Nach der Transkription habe ich in einem ersten Schritt ‚Memos‘ angefertigt, mit denen ein erster Eindruck des Interviews fixiert wurde. Leitfragen dafür waren: Welche Passagen waren bedeutsam? Welche ersten Interpretationen kamen in den Sinn? Was fiel spontan auf? Wo stellte ich spontane Bezüge zu Theorien her? Den spontanen Theoriebezug notierte ich aus zwei Gründen: Einerseits dienten diese Memos als Hinweise, welchen theoretischen Bezugspunkten in der Auswertung möglicherweise weiter nachgegangen werden kann. Andererseits dienten sie der Kontrolle einer vorschnellen theoretischen Vereindeutung.

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2. Offenes Kodieren a) Paraphrasierung Anschließend ging ich das Transkript chronologisch durch und reformulierte die angesprochenen Themen und Zusammenhänge. Ein zeilenweises Vorgehen hat sich für mich als zu kleinschrittig erwiesen. Ich paraphrasierte daher Sinneinheiten, die sich meist über einen bis zwei Absätze erstreckten. Mit dieser ersten Transformation des Materials (ebd.: 116) blieb die Textstruktur weitgehend erhalten, das Material wurde nur unwesentlich reduziert, ermöglichte aber eine erste Lösung vom direkten Zitat. 3. Offenes Kodieren b) Themensammlung Anschließend ging ich die Paraphrase durch und formulierte Überschriften oder Stichworte. Es erschien mir nicht sinnvoll, all diese Abschnitte als ‚Codes‘ zu formulieren. Stattdessen begriff ich sie als erste Sammlung von angesprochenen Themen mit relativ geringem Abstraktionsgrad. Deutlich wurde dabei auch die Verschränkung von Induktion und Deduktion im Forschungsvorgehen: Die Listen der in den Interviews behandelten Themen enthielten sowohl vorab formulierte und als Fragen eingebrachte Themenbereiche (z.B. die Bedeutung öffentlicher Reaktionen) als auch Themenstellungen, die von den Interviewpartner_innen eingebracht wurden (z.B. Nachbarschaft). 4. Axiales Kodieren: Rekonstruktion der inneren Zusammenhänge Der folgende Schritt richtete sich auf das Verständnis des Falles als Ganzes und auf das Erschließen von Begründungszusammenhängen im gesamten Text bzw. auf Verbindungen zwischen unterschiedlichen Interviewsequenzen und Themen. Dafür bildete ich probeweise Hypothesen, worin die spezifische, von den Interviewpartner_innen formulierte, Handlungsproblematik liegt (als erster Instanz der Entwicklungsfigur), und unter welchen Bedingungs-Bedeutungskonstellationen diese jeweils relevant wird, um so – als zweite Instanz der Entwicklungsfigur – probeweise Problemtheorien zu formulieren. Ausgangspunkt für diese Überlegungen waren in vielen Fällen Schilderungen, die aus Leser_innenperspektive widersprüchlich oder irritierend wirkten; Themen, auf die Interviewpartner_innen wiederholt zurückkamen, oder besonders emotional wirkende Interviewpassagen. Diese Hypothesen wurden zunächst innerhalb des Interviews kritisch auf Schlüssigkeit geprüft und mit alternativen Erklärungen und Hypothesen kontrastiert. Dabei waren erneut Überlegungen zu Datenfunktion und -modalität wesentlich. So mussten die von mir auf Basis der transkribierten Interviews formulierten Annahmen über Zusammenhänge kritisch dahingehend hinterfragt werden, ob sie durch raum-zeitlich konkrete Schilderungen gestützt werden oder ob sie nur verallgemeinernde Aussagen ohne eine solche Rückbindung darstellen. Hypothetische Prämissen-Gründe-Zusammenhänge (als Problemtheorien), die ausreichend durch primär-fundierende Daten verständlich gemacht

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werden konnten, wurden anschließend durch weitere Daten (in stützend-konkretisierender Funktion) über ähnliche Situationen weiter empirisch verankert oder aber auch reformuliert oder differenziert. In diesem Arbeitsschritt war die Diskussion des Materials in Forschungswerkstätten und anderen (Peer-)Zusammenhängen sehr hilfreich. Abschließend erstellte ich eine schriftliche Zusammenfassung des Interviews als ‚Sicht der Berater_innen‘ bzw. ‚Sicht der Betroffenen‘ auf die Problemstellung und dessen Bearbeitung. Als letzten Schritt dieses Arbeitsgangs formulierte ich die aus meiner Sicht zentralen Themen, ungelöste Problemstellungen, Widersprüche sowie offene Fragen. 5. Zusammenführung der Perspektiven In diesem Schritt wurden die Perspektiven von Ratsuchenden und Berater_innen übereinander gelegt und herausgearbeitet, worin die mögliche unterschiedliche Interpretation der Problemstellung sowie der subjektiv wahrgenommenen Handlungsräume besteht. Auch wurden die Falldokumentationen als weitere stützend-konkretisierende Daten nun erneut herangezogen. Wie oben bereits angeführt, wurden die Fallakten dabei keinesfalls als objektive Dokumente oder vollständige Dokumentation des Beratungshandelns verstanden. Fallakten müssen selbst in ihrer spezifischen Datenqualität gesehen werden. Dabei fanden sich auch in den Akten selbst sehr unterschiedliche Textsorten. So enthielten manche Akten Dokumentationen über die Kommunikation zwischen Berater_innen über erfolgte Schritte und Überlegungen zu nächsten Schritten, ausführliche schriftliche ‚Fallübergaben‘ vor dem Urlaub von Mitarbeiter_innen und andere mehr oder weniger ausführliche Beschreibungen von Beratungsgesprächen und anderen Situationen aus der Perspektive der Berater_innen. Diese Daten waren, wie auch die verbalen Daten, auf ihre Qualität hin zu prüfen, wobei hier viele Notizen kaum Daten im Modus der Realbeobachtung, sondern bereits Deutungen etc. enthielten, die sich nur schwer empirisch fundieren ließen. Eine andere Datenqualität haben abgeheftete Gerichtsurteile und Zeitungsberichte über die analysierten Fälle, die einerseits selbst als Dokumente in ihrem jeweiligen Entstehungskontext analysiert werden können, aber andererseits auch in der Funktion, die sie in der Fallakte der OBS haben. Sie wurden von mir jedoch nicht auf Prämissen-Gründe-Zusammenhänge befragt, sondern genutzt, um bspw. den Kontext einer Bezugnahme von Interviewpartner_innen auf einen Zeitungsartikel aufhellen zu können. Es ging also in der Heranziehung der Fallakten nicht darum, „Aussagen in Dokumenten gegen Analyseergebnisse auszuspielen“ (Wolff 2000: 511), sondern unter Berücksichtigung der spezifischen Datenqualität von und in Fallakten deren Potenzial zur zusätzlichen Fundierung oder Differenzierung von Zusammenhangsannahmen zu nutzen. Durch den Abgleich der unterschiedlichen Perspektiven konnten die im vorangegangenen Schritt formulierten Hypothesen erneut geprüft und ggf. auf erweiterter Datengrundlage reformuliert werden, wenn die jeweils andere Perspektive den Blick

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auf relevante Bedingungs-Bedeutungskonstellationen eröffnete, die bisher nicht erschlossen worden waren. 5.2.2

B: Gruppendiskussionen mit Berater_innen

Der Zugang der Fallanalysen ermöglichte es, die aus der Gewalttat resultierende subjektive Problemlage sowie Möglichkeiten und Grenzen der Unterstützung und Bewältigung als Prämissen-Gründe-Zusammenhänge zu rekonstruieren. In den Gruppendiskussionen sollte zusätzlich das über den Einzelfall hinausweisende Expert_innenwissen der Berater_innen als Zusammenhangs- und Widerspruchswissen zugänglich gemacht und dadurch ein weiterer Schritt der Differenzierung und Konkretisierung von Begründungsmustern vorgenommen werden. Datenerhebung Ich habe das Format der Gruppendiskussion gewählt, weil dieses besonders geeignet ist, um „kollektive Wissensbestände [...], die sich [...] in konjunktiven Erfahrungsräumen [...] gebildet haben“ (Przyborski/Riegler 2010: 439) zu erfassen. Das Setting schloss an die Praxis von Teamsitzungen an, an denen ich in der Vergangenheit auch als Teammitglied beteiligt gewesen war. Dies ermöglichte eine weitgehend natürliche Gesprächssituation und offenes Sprechen der Beteiligten und minimierte den Einfluss sozialer Erwünschtheit. In der Diskussion über die geteilte Praxis konnte über gegenseitige Bezugnahmen, Bekräftigungen, Nachfragen, Relativierungen, skeptische Kommentare, Widerspruch und differenzierende Erwiderungen unter Kolleg_innen das in der Praxis vorhandene und die Praxis leitende Wissen viel genauer und umfassender spezifiziert werden, als es in Einzelinterviews15 möglich gewesen wäre. Es wurden insgesamt vier Gruppendiskussionen mit den Berater_innen einer OBS geführt. Durch Krankheitszeiten und Personalveränderungen in der OBS veränderte sich die Zusammensetzung der Teilnehmer_innen zum Teil. In den Gruppendiskussionen habe ich, auf der Grundlage der weiter oben dargestellten Vorarbeiten, folgende thematische Schwerpunkte gesetzt: • • • •

die Praxis einzelfallbezogener Beratung, der Zusammenhang politischer und individueller Dimensionen: konzeptionelle Überlegungen und praktische Erfahrungen, lokale Intervention, Begleitung juristischer Verfahren.

15 Tatsächlich hatte ich zunächst versucht, das Praxiswissen der Berater_innen über Expert_inneninterviews mit einzelnen Berater_innen zu erheben. In diesem Setting gelang es nicht, Daten zu gewinnen, die über mein eigenes Strukturwissen hinausgingen.

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Wie bei den Fallanalysen wählte ich auch bei den Gruppendiskussionen eine dialogische Anordnung. Im Gegensatz zu Przyborski und Riegler (ebd.: 441), die vertreten, dass Moderator_innen von Gruppendiskussionen nicht an der Diskussion teilnehmen und keinen inhaltlichen Orientierungsrahmen einbringen sollen, ging ich davon aus, dass mein eigenes Praxiswissen und die dialogische Anordnung der Gruppendiskussion hilfreich sind, um gemeinsam Praxis und Praxisprobleme so zu reflektieren, dass Problem- und Lösungstheorien als Prämissen-Gründe-Zusammenhänge formulierbar werden. Auswertung Die Auswertung der Daten aus den Gruppendiskussionen zielt auf zwei verschiedene Ebenen: Erstens interessiert das Wissen der Praktiker_innen als Expert_innenwissen über den Gegenstand und ihre Praxis. Es interessiert also das, was die Praktiker_innen über ihre Praxis und die von ihnen erlebten Schwierigkeiten und Probleme sagen. Zweitens gehe ich davon aus, dass dieses Wissen als Praxiswissen selbst der Bewältigung widersprüchlicher Arbeitsanforderungen dient und Verkürzungen, Vereindeutigungen und Deutungsmuster enthält, die für die Bewältigung der Praxis subjektiv funktional sind. Hier geht es darum, mögliche, nicht explizite Begründungsmuster zu rekonstruieren, Hypothesen über verborgene Begründungsmuster und subjektive Funktionalitäten zu entwickeln und eventuelle Widerstände gegenüber bestimmten alternativen Deutungsweisen offenzulegen. Die ersten drei Auswertungsschritte – 1. Dokumentation erster Eindrücke, 2. abschnittsweise Paraphrasierung und 3. Benennung angesprochener Themen und typischer Problemkonstellationen – entsprechen den in Bezug auf die Fallanalysen dargestellten Auswertungsschritten. Im nächsten – vierten – Schritt sollten hypothetische Prämissen-Gründe-Zusammenhänge zu den formulierten Problemkonstellationen formuliert, aufgegriffen, konkretisiert, bestätigt, differenziert oder relativiert werden. Hierfür analysierte ich das Material unter folgenden Gesichtspunkten: Wo lassen sich Themen gruppieren? Wo bestehen Zusammenhänge zwischen einzelnen Themenbereichen? Welche Themen haben in der Diskussion besonderes Gewicht, weil sich um diese eine lebhafte Diskussion entwickelt, verschiedene Teilnehmer_innen auf das Thema (kontrovers oder bestätigend) Bezug nehmen oder darauf zurückkommen? Wo finden sich detailreiche Schilderungen der Praxis, die sich von verallgemeinerten Aussagen abheben? Hier ist also der Spezifik von Gruppendiskussionen Rechnung zu tragen, dass sowohl der gemeinsame Konstruktionsprozess von Bedeutungen, aber auch die Unterschiedlichkeit der Begründungsmuster zu analysieren ist. Von Bedeutung für diesen Auswertungsschritt war die sehr unterschiedliche Qualität der erhobenen Daten. So wurde deutlich, dass es nicht durchgängig gelungen ist, ausreichend konkrete Daten zu erheben, sondern sich die Diskussion der Berater_innen phasenweise auf der

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Ebene verallgemeinernder Aussagen bewegte, die nicht durch raum-zeitlich konkrete Schilderungen fundiert wurden. In anderen Passagen fanden sich allerdings konkrete Schilderungen von Fallkonstellationen. Auf manche ‚Fälle‘ kamen die Berater_innen in verschiedenen Passagen der Gruppendiskussionen und in verschiedenen Zusammenhängen zurück. Zu diesen ‚Schlüsselfällen‘ sichtete ich ergänzend die Fallakten, um in den Gruppendiskussionen fehlende Informationen über die Fallkonstellation rekonstruieren zu können. Wo auf gegebener Datengrundlage möglich, formulierte ich das Praxiswissen der Berater_innen zu Möglichkeiten und Schwierigkeiten in der Beratungspraxis als hypothetische Prämissen-Gründe-Zusammenhänge. Ergebnis dieses Auswertungsschrittes war eine komprimierte und sortierte Liste der Inhalte der Gruppendiskussionen (dargestellt in Kapitel 8). 5.2.3

Zusammenführung der empirischen Zugänge

In einem weiteren Schritt wurden die Ergebnisse aus den Fallanalysen und aus den Gruppendiskussionen aufeinander bezogen. Dieser Schritt zielte darauf, die anhand der Analysen der Einzelfälle herausgearbeiteten subjektiven Möglichkeitsräume der Betroffenen und Berater_innen als konkrete Fälle von typischen Möglichkeitsräumen zu formulieren. Es ging darum zu prüfen, inwieweit die herausgearbeiteten subjektiven Antworten auf objektive Lebensbedingungen (also der herausgearbeitete Zusammenhang von Bedingungen, Bedeutungen und Begründungen) auch für andere Fälle zutreffend sind oder weiter konkretisiert und differenziert werden müssen. Dafür wurden die in den Fallanalysen und den Gruppendiskussionen verhandelten Themen und Problemstellungen miteinander abgeglichen, und es wurde geprüft, inwieweit sich formulierte (hypothetische) Prämissen-Gründe-Zusammenhänge untereinander subsumieren und als typischer Möglichkeitsraum formulieren lassen. Es wurden für den folgenden Analyseschritt Problemkomplexe herausgefiltert, die sowohl in den Gruppendiskussionen als auch in den Fallanalysen verhandelt wurden oder in einem der Zugänge besonders relevant waren. So war in den Gruppendiskussionen das Praxisproblem der Abgrenzung des Auftrages ein zentrales Thema, welches in den konkreten Fallanalysen zwar berührt wurde, aber nicht zentral war. Da das Verhältnis der beiden empirischen Zugänge nicht als gegenseitige Prüfung oder Bestätigung der Relevanz gedacht ist, sondern als Ergänzung, und das Thema in den Gruppendiskussionen durch konkrete Fallschilderungen als primär- und sekundär-fundierende Daten unterfüttert wurde, sprach nichts dagegen, die Abgrenzungsproblematik als zentrales Praxisproblem aufzugreifen, obwohl es sich nicht unmittelbar aus den Einzelfallanalysen ergibt. Zur Konkretisierung der herausgefilterten Problemkomplexe habe ich zwei weitere Interviews mit Ratsuchenden partiell ausgewertet. Hier leistete ich also keine komplette Rekonstruktion der subjektiven Möglichkeitsräume der Ratsuchenden,

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sondern zog die Ausschnitte heran, die sich als kontrastierende oder ähnliche Begründungsmuster zur Konkretisierung und Differenzierung der in der bisherigen Analyse geleisteten Beschreibung typischer Möglichkeitsräume eigneten. Es wurden zudem Prämissen-Gründe-Zusammenhänge hinzugezogen, die als „historisch-aggregative“ (Markard 1993: 33) Aussagen in den im Theorieteil eingeführten Studien – z.B. über die subjektiven Folgen rechter und rassistischer Gewalt – enthalten sind. Auf dieser Grundlage konnte schließlich formuliert werden, inwieweit die in dieser Arbeit erhobenen empirischen Daten zu einer Erweiterung des bisherigen Forschungsstandes zu Möglichkeiten und Grenzen einer Unterstützungspraxis für Betroffene rechter und rassistischer Gewalt und einer Praxis mit dem Anspruch, individuelle und gesellschaftliche Problemdimensionen in ihrer Verbindung zu bearbeiten, beitragen können.

5.3

G ELTUNG UND V ERALLGEMEINERBARKEIT DER E RGEBNISSE

Ich habe bisher dargestellt, wie die Forschung organisiert werden muss und kann, um Subjektivität als in Prämissen begründetes Handeln im Allgemeinen und der Frage nach subjektiven bzw. typischen Möglichkeitsräumen im Beratungsprozess im Besonderen gerecht zu werden. Zu klären in Bezug auf die Qualität der Forschung sind zusätzlich zwei weitere Aspekte: Erstens: Wie kann vor dem Hintergrund der grundsätzlichen Mehrdeutigkeit der Dateninterpretation gewährleistet werden, dass der Datenbezug in der jeweiligen Theoriebildung ‚stimmt‘? Zweitens: Wie können die Ergebnisse der Analyse auf ein wissenschaftliches Niveau gehoben werden, in dem es nicht ausschließlich um die persönliche Aufklärung einer subjektiven Problemlage geht? D.h., inwiefern sind die formulierten PrämissenGründe-Zusammenhänge verallgemeinerbar? Zum ersten Aspekt: Die von mir angestrebte Forschung vom Standpunkt des Subjekts bedeutet nicht, die Beliebigkeit von Deutungen hinzunehmen. Vielmehr geht es darum, den jeweiligen Datenbezug und die daraus entnommenen Deutungen und Theorien unter Bezug auf eine explizierte kategoriale Grundlage (wie in Kapitel 4 dargelegt) zu begründen und intersubjektiv nachvollziehbar zu machen. Die Einbeziehung der Betroffenen als Mitforschende ermöglicht die kommunikative Validierung der Aussagen vom Standpunkt der betroffenen Subjekte. In dem Maße, in dem eine solche Validierung nicht oder nur eingeschränkt stattfindet, bleibt auch die Formulierung von Prämissen-Gründe-Zusammenhängen hypothetisch. Begründet und plausibilisiert wird die Theoriebildung einerseits durch ihren Kategorialbezug, ande-

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METHODISCHES

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rerseits durch ihren Datenbezug. Es gilt also, im Forschungsprozess die Datengrundlage und den Umgang mit dieser im Interpretationsprozess so offen zu legen, dass er nachvollziehbar bzw. kritisierbar wird. Zum zweiten Aspekt: Verallgemeinerbar werden die Ergebnisse als „Möglichkeitsverallgemeinerung“ (Holzkamp 1983: 545). Prämissen-Gründe-Zusammenhänge vom Standpunkt des Subjekts aufzuschlüsseln, bedeutet, dass dies immer nur historisch-konkret, am Einzelfall möglich ist. Es ist nicht möglich, von einem solchen Einzelfall induktiv auf das Allgemeine zu schließen. Prämissen-Gründe-Zusammenhänge lassen sich aber auch nicht als Hypothesen falsifizieren, wie im Sinne der klassischen Theorienprüfung vorgesehen. Dieser von Markard (1993: 31) als „universalistisch“ bezeichnete Verallgemeinerungstyp bezieht sich auf gesetzmäßige Zusammenhänge (z. B.: Wenn man einen Magnet mit positivem und negativem Pol zerschneidet, entsteht aus jedem Teil wieder ein Magnet mit positivem und negativem Pol) oder auf Zusammenhänge, die als – ceteris paribus – gesetzmäßig konstruiert werden (z.B. Frustration führt zu Aggression), unabhängig von der Verbreitung des Auftretens der Zusammenhänge. Ein weiterer Verallgemeinerungstyp liegt repräsentativen Erhebungen zugrunde. Hier werden Aussagen über die Verbreitung von bestimmten festgelegten Merkmalen, so z.B. die Zustimmung zu vorgegebenen Aussagen, gemacht, die als Indiz für rechte ‚Einstellungen‘ interpretiert werden. Mit viktimologischen Surveys kann erhoben werden, wie viele Menschen in einer Region angeben, schon einmal Opfer rechter oder rassistischer Gewalt geworden zu sein. Die Daten geben aber keine Auskunft darüber, unter Bezug auf welche Zusammenhänge die Befragten zu einem Item Zustimmung oder Ablehnung signalisieren oder welche Konsequenzen die Gewalterfahrung für die Lebensführung der Betroffenen hatte. Beide genannten Verallgemeinerungstypen klammern die Art von Aussagen, auf die meine Fragestellung abzielt, methodisch aus. Sie können daher nicht Modell zur Verallgemeinerung von Prämissen-Gründen-Zusammenhängen sein. So schreibt Markard (2010: 174): „Subjekte existieren zwar im Plural, aber nicht im Durchschnitt.“ Subjektwissenschaftlich interessieren gerade die individuellen Spezifikationen, die nivelliert werden, wenn Einzelfälle miteinander zu einem Durchschnittswert ‚verrechnet‘ werden. „Die einzelnen, subjektiven Fälle sind keine Abweichungen, sondern der Gedanke der Abweichung weicht selbst ab vom Gedanken der Subjektivität“ (ebd.). Subjektive Möglichkeitsräume bzw. Prämissen-Gründe-Zusammenhänge als Ergebnis subjektwissenschaftlicher Forschung können nur in Bezug auf den Einzelfall formuliert werden, weswegen Fallstudien bzw. die Beschreibung konkreter Praxis durch Praktiker_innen als Zugang gewählt wurden. Die Verallgemeinerung, die subjektwissenschaftliche Forschung anstrebt, ist eine Variante des von Markard (1993: 35) als historisch-strukturell charakterisierten Verallgemeinerungstyps, der u.a. im Ansatz der Grounded Theory, aber auch anderen sozialwissenschaftlichen Ansätzen verfolgt wird. Verallgemeinerung bezieht sich hier nicht auf die Verbreitung von

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Phänomen, sondern auf den Zusammenhang von z.B. widersprüchlichen Arbeitsbedingungen und Denkweisen von Fachkräften und damit auf die Erfassung von Strukturzusammenhängen. In der qualitativen Sozialforschung ist die Typenbildung eine übliche Form historisch-struktureller Verallgemeinerung. Sie zielt darauf, das Typische von Fällen als kollektiv Geteiltes und Wesentliches herauszuarbeiten. Damit „soll das Allgemeine im Besonderen gefunden und nicht Begrenztes auf Allgemeines übertragen werden.“ (Lamnek 2010: 166) Gegenstand soziologischer Typisierungen sind häufig geteilte Sicht- oder Denkweisen, Bewältigungsformen oder Handlungstypen, die als ‚Sinneinheiten‘ aus dem empirischen Material rekonstruiert werden und dann auf gesellschaftliche Zusammenhänge bezogen werden. Im Gegensatz dazu bezieht sich, wie Geffers herausarbeitet, die typische Möglichkeitsverallgemeinerung in subjektwissenschaftlicher Forschung auf „gesellschaftliche Bedeutungsstrukturen, die den Einzelnen als typische Handlungsmöglichkeiten gegenüberstehen“ (Geffers 2008: 366). Da im subjektiven Weltbezug den realisierten Handlungen einzelner Subjekte neben dem subjektiven Bezug auch überindividuelle Dimensionen innewohnen – nämlich die objektiven Bedingungs-Bedeutungskonstellationen, unter denen Menschen bestimmte objektive Handlungsmöglichkeiten haben, und zu denen sie sich bewusst verhalten können – richtet sich die Verallgemeinerung auf die in den realisierten Handlungsmöglichkeiten repräsentierten gesellschaftlichen Bedingungen. Die Möglichkeitsverallgemeinerung bezieht sich also nicht auf Merkmale von Menschen, sondern auf deren subjektive Möglichkeitsräume. Verallgemeinerung bezieht sich damit auf praktische Lebensvollzüge der Individuen in historisch-konkreten Konstellationen, d.h. auf die Konstellationen von Handlungsmöglichkeiten und -beschränkungen, wie sie vom Standpunkt des Subjekts wahrgenommen werden. Die subjektive Befindlichkeit bzw. (begrenzte) Handlungsmöglichkeit kann so als „Verhältnis zwischen allgemeinen gesellschaftlichen Handlungsmöglichkeiten und meiner besonderen Weise ihrer Realisierung“ (Holzkamp 1983: 548) verstanden werden. Formulierte Prämissen-Gründe-Zusammenhänge in einem Fall (der bspw. in einer Gruppendiskussion geschildert wurde) können nicht durch andere Fälle (z.B. aus einer der Fallanalysen) widerlegt oder bestätigt werden. Die formulierten Prämissen-Gründe-Zusammenhänge lassen auch keine Aussage über die Verbreitung der beschriebenen Phänomene zu. Zu klären ist aber, ob die formulierten Prämissen-Gründe-Zusammenhänge auch in anderen Fällen zutreffen, sich ein Fall also unter den im anderen Fall formulierten Möglichkeitsraum subsumieren lässt, oder ob Prämissen spezifiziert werden müssen. Die Verallgemeinerung von Möglichkeitsräumen bedeutet also, dass sich ein Prämissen-Gründe-Zusammenhang in dem Maße verallgemeinern lässt, in dem die Prämissenlage (mit den jeweiligen Bedingungs-Bedeutungskonstellationen) von Fall A auch in weiteren Fällen realisiert ist. Ob und wieweit der Fall aber jeweils ein Fall wie A ist, oder inwie-

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weit die formulierten Prämissen-Gründe-Zusammenhänge modifiziert oder konkretisiert werden müssen, ist nur konkret und im Einzelfall zu entscheiden (vgl. Markard 2009: 294-295). Verallgemeinerung ist damit ein nie abgeschlossener Prozess der Subsumption und Differenzierung jeweils vom Standpunkt des Subjekts. Allerdings ist mit fortschreitender Konkretisierung damit zu rechnen, dass mit weiteren Fällen immer „weniger relevante zusätzliche Anreicherungen der Erfassung der typischen Formen“ auftauchen, der Prozess also als vorläufig abschließbar begriffen werden kann (Holzkamp 1983: 555)

6 Fallanalyse I: Herr Mbenza in Grunden – von Alltagsrassismus und Gewalt

6.1

D ER K ONTEXT

DER

B ERATUNG –

EINE KURZE

S KIZZE

Herr und Frau Mbenza leben mit drei Kindern in der Stadt Grunden in Sachsen-Anhalt.1 Grunden hat knapp über 50.000 Einwohner_innen, schrumpft aber – nach einem starken Anstieg der Bevölkerung in den 1980er Jahren – seit der Wende beständig aufgrund von Schließungen der örtlichen Industrie. Große Teile der in den 1980er Jahren errichteten Neubausiedlungen wurden seitdem abgerissen. Familie Mbenza lebt in der größten Neubausiedlung der Stadt, musste 2011 allerdings einmal innerhalb der Siedlung umziehen, weil das Haus in dem sie lebte, abgerissen wurde. Grunden ist ein Hochschulstandort, der durch einen englischsprachigen Studiengang viele internationale Studierende anzieht. Laut Statistik der OBS wird in Grunden kontinuierlich eine relativ hohe Zahl rechter und rassistischer Gewaltfälle gemeldet (in den Jahren 2006-2014 jährlich zwischen fünf und sechzehn Fälle). Darunter sind von organisierten Neonazis gezielt geplante Angriffe auf alternative Einrichtungen und Veranstaltungen mit vielen und schweren Verletzungen, Brandanschläge auf migrantisch geführte Gewerbebetriebe, Übergriffe auf Gegner_innen von Neonazi-Demonstrationen sowie zahlreiche, aus einer Gelegenheitsstruktur entstehende, Angriffe auf Geflüchtete, internationale Studierende und andere als nicht-deutsch Markierte sowie alternative Jugendliche (v.a. Antifas und Punks). Die Qualität der Angriffe, d.h. die Art und Schwere der Verletzungen, sowie die Anzahl der Täter_innen variiert. Für die Arbeit der OBS bestehen in Grunden vielfältige Anknüpfungspunkte bei zivilgesellschaftlichen Akteur_innen: Über die regelmäßige Teilnahme beim Forum für ein buntes Grunden bestehen Kontakte zu Behördenmitarbeiter_innen (Stadtver-

1

Alle Namen und Ortsbezeichnungen sind verändert oder frei erfunden, um die Anonymität zu wahren.

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waltung, Ordnungsamt, Polizei), Vertreter_innen politischer Parteien, einzelnen engagierten Bürger_innen sowie Vertreter_innen lokaler Institutionen: einem Gewerkschaftsvertreter, Vertreter_innen der Jugendhilfe, der Hochschule, von Kirchengemeinden und Schulen. Zu den regelmäßigen Kooperationspartner_innen der OBS gehören in Grunden darüber hinaus die Flüchtlingsberatung des Diakonischen Werkes, ein alternatives Jugendzentrum und die lokale Antifa, einzelne flüchtlingspolitische Aktivist_innen, das Mobile Beratungsteam gegen Rechtsextremismus (MBT) sowie – über die Treffen im Rahmen des Forums hinaus – Streetworker_innen, eine Mitarbeiterin des Akademischen Auslandsamtes und – nicht kontinuierlich – Student_inneninitiativen. Ein Großteil dieses breiten Kontaktnetzes wurde in Reaktion auf den rassistischen Angriff auf Familie Mbenza im Jahr 2007 aufgebaut. Herr und Frau Mbenza leben seit 1995 in Grunden. Sie waren aus einem afrikanischen Land geflüchtet und hatten in der Bundesrepublik Asyl beantragt. Das Asylverfahren verlief sehr schwierig, die Familie stand einmal kurz vor der Abschiebung, ein Antrag bei der Härtefallkommissio2 wurde abgelehnt. Schließlich konnte aufgrund einer breiten Kampagne von lokalen Akteur_innen erreicht werden, dass die ablehnende Entscheidung überprüft wurde und die Familie aus gesundheitlichen Gründen eine Aufenthaltsgenehmigung erhielt. Herr und Frau Mbenza sind beide 1963 geboren. Sie haben zwei in Deutschland geborene Kinder; ihren ältesten Sohn, den sie auf der Flucht zurückgelassen hatten, konnten sie bald nachholen. Herr Mbenza hat schon während des laufenden Asylverfahrens im Stadtteilverein freiwillig gemeinnützige Arbeit geleistet.3 Seit der Erteilung einer Arbeitserlaubnis arbeitet Herr Mbenza als Hausmeister in einer Grundschule in der Nachbarschaft. Frau Mbenza hat einen Minijob in einer Großküche. Die beiden jüngeren Söhne besuchen die Schule, der älteste Sohn hat die Schule mit dem Abitur abgeschlossen. Zum Zeitpunkt des Interviews arbeitet er im Veranstaltungsmanagement und wartet auf einen Ausbildungsplatz als Tontechniker. Den ersten Kontakt zur OBS hatte Familie Mbenza nach einem rassistischen Angriff im Sommer 2007. 2012 wurde nach einem erneuten Angriff wieder ein Beratungsverhältnis aufgenommen.

2

Härtefallkommissionen sind mit dem Aufenthaltsgesetz in allen Bundesländern eingeführt worden, um Einzelfallprüfungen zu ermöglichen, wenn die Umsetzung von ausländerrechtlichen Entscheidungen, insbesondere Ausweisungen, menschlich und moralisch nicht zu vertreten wäre.

3

Das Asylbewerberleistungsgesetz sieht gemeinnützige Arbeit entsprechend der 1-EuroJobs für Hartz-IV-Empfänger_innen vor. Sie hat theoretisch auch den gleichen Zwangscharakter – bei Ablehnung einer Tätigkeit kann der Leistungsbezug gekürzt werden. Im diskutierten Fall hat Herr Mbenza sich die Tätigkeit allerdings freiwillig aktiv gesucht.

F ALLANALYSE I | 153

6.2

D ATENGRUNDLAGE

Die folgende Fallbeschreibung basiert auf einem im Januar 2014 geführten Interview mit Herrn Mbenza, einem Interview mit den im Fall von Familie Mbenza involvierten Berater_innen sowie der Falldokumentation der OBS. Das Interview mit Herrn Mbenza wurde auf seinen Wunsch hin ohne Dolmetscher_in auf Deutsch geführt. Herr Mbenza hat sein Sprechen sehr stark gestisch, lautmalerisch und mimisch unterstützt. Ich habe die Transkription zeitnah (innerhalb einer Woche nach dem Interview) angefertigt, nonverbale Äußerungen aus meiner Erinnerung eingefügt und mit [ ] gekennzeichnet. Dennoch muss in der Interpretation der Daten berücksichtigt werden, dass Deutsch nicht die erste Sprache des Interviewten ist und z.B. eine auffällige Wortwahl möglicherweise eher auf ein begrenztes Vokabular zurückzuführen ist, nicht also darüber hinaus psychologisch zu deuten ist. Im Zentrum des Interviews mit Herrn Mbenza stand der Umgang mit der jüngeren Gewalt- und Beratungserfahrung aus dem Jahr 2012, wobei an mehreren Stellen rückblickende Aussagen zum ersten Fall aus dem Jahr 2007 gemacht wurden. Als Ort für das Interview hatte ich einen Raum in einer für Herrn Mbenza gut zu erreichenden Beratungsstelle vorgeschlagen. Herr Mbenza bestand aber darauf, das Interview bei sich zu Hause zu führen. Im Wohnzimmer der Familie wurde das Interview mehrfach unterbrochen. Frau Mbenza nahm teilweise am Interview teil oder war im Hintergrund beschäftigt. Auch kamen die Kinder mehrmals in den Raum. Das Interview mit den Berater_innen hatte den Charakter einer gemeinsamen Fallreflexion. Teilgenommen haben die inzwischen nicht mehr in der Beratungsstelle tätige Beraterin Christina, die die Familie Mbenza nach dem ersten Gewaltfall beraten hat und der Berater Jan, der die Familie nach dem zweiten Gewaltfall unterstützte. Als Grundlage für die Rekonstruktion des ersten Beratungsverhältnisses 2007 erwies sich allerdings die recht umfängliche Falldokumentation als wesentlich ergiebiger als das Interview, da sich hier detaillierte Schilderungen zeitlich einordnen ließen, während das Interview eher globale rückblickende Reflexionen zutage förderte. In Bezug auf den Beratungsfall aus dem Jahr 2012 finden sich im Interview allerdings durchaus konkrete rückblickende Schilderungen in Ergänzung zu den – eher knapp gehaltenen – Notizen in der Falldokumentation. Aus den Falldokumentationen wurden jeweils die Dokumente ‚Erstbericht‘, ‚Fallverlauf‘ und ‚Prozessbericht‘ ausgewertet.

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6.3

F ALLSCHILDERUNG

6.3.1

Der erste Beratungsfall

G EWALT

Am frühen Nachmittag waren Herr und Frau Mbenza auf dem Weg zum Supermarkt nahe ihrer Wohnung. Herr Mbenza trug das einjährige Kind auf dem Arm. Beim Durchqueren einer Straßenunterführung für Fußgänger_innen traf die Familie auf eine acht- bis zehnköpfige Gruppe. Ein junger Mann sprach die Familie mit den Worten „Du bist ein Scheißnigger“ an. Als Herr Mbenza antwortete: „Bitte, was habe ich gehört?“, versetzte der junge Mann Herrn Mbenza einen Schlag auf den Arm, auf dem er das Kleinkind trug. Zugleich kam eine junge Frau aus der Gruppe auf Frau Mbenza zu und hob eine Hand, in der sie eine Bierflasche hielt. Sie zielte auf den Kopf von Frau Mbenza, traf sie aber nicht. Als Herr und Frau Mbenza ihren Weg fortsetzen wollten, versperrte ihnen die Gruppe den Weg. Herr Mbenza drängelte für sich und seine Frau den Weg frei und verständigte die Polizei. Ein Passant, der die Szene beobachtet hatte, rief ebenfalls die Polizei und bot sich, als sie wenig später eintraf, als Zeuge an (vgl. Mbenza_Falldokumentation 1_Erstbericht). Einige Tage später wurde der Ausländerbeauftragte der Stadt von der Polizei über den Vorfall informiert. Er nahm mit Herrn Mbenza Kontakt auf und bot ihm die Kontaktvermittlung zur OBS an. Auch ein Bekannter der Familie, der selbst einmal aufgrund eines Angriffs von der OBS beraten worden war, hatte Herrn Mbenza geraten, dort Hilfe zu suchen. Herr Mbenza willigte ein, seine Telefonnummer an die OBS weiterzugeben. Das erste Treffen mit zwei Berater_innen der OBS fand eineinhalb Wochen nach dem Angriff auf Wunsch von Herrn Mbenza in der Wohnung einer befreundeten Familie in der nächsten Großstadt statt, in der Herr Mbenza sich wegen eines Arztbesuches zu diesem Zeitpunkt aufhielt. Die jugendliche Tochter der befreundeten Familie übersetzte das Gespräch. Frau Mbenza war nicht dabei. Es wurde vereinbart, dass die Beraterin Christina Herrn und Frau Mbenza zur Zeugenaussage bei der Polizei begleitet, die wenige Tage später angesetzt war. Telefonisch regte sie bei der Polizei an, einen Dolmetscher für die Zeugenvernehmung zu bestellen. Bei der Zeugenvernehmung eröffnete der ermittelnde Polizist, Herr Kroll, dass er die Anwesenheit der Beraterin als Vertrauensperson nicht zulasse.4 Eine halbe Stunde wurde auf den bestellten Dolmetscher gewartet, der aber nicht eintraf. In der Falldokumentation ist notiert:

4

Laut Opferrechtreformgesetz von 2004 kann der Verletzte zur Vernehmung als Zeuge im Ermittlungsverfahren eine Person seines Vertrauens hinzuziehen, wenn keine gravierenden Gründe dagegen sprechen (§ 406f Abs. 2 StPO) (vgl. Müller; I. 2009: 83). Praktisch wird diese Regelung von der Polizei sehr unterschiedlich restriktiv umgesetzt.

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„Der Dolmetscher ist noch nicht da. Herr Kroll lehnt ab, dass ich bei der Vernehmung dabei bin. Begründung ist, dass die Informationen nicht nach außen dringen dürfen. Es werden z.B. Bilder vorgelegt. Herr Mbenza kommt mit dem älteren Kind runter. Es ist schwierig, in Kontakt zu kommen, er ist sehr distanziert und angespannt. Ein wenig später stehen wir draußen und kommen (auf deutsch) ein wenig ins Gespräch.“ (Mbenza_Falldokumentation 1_Verlauf)5 Anschließend fand ein Beratungsgespräch in der Wohnung der Familie statt. Anhand der Falldokumentation, die Aufzeichnungen über die Beratungsgespräche enthält, sowie der Interviews lassen sich die im Folgenden ausgeführten Problembereiche abgrenzen. Lebenssituation in Grunden: Alltagsrassismus, Isolation und aufenthaltsrechtliche Unsicherheit Herr und Frau Mbenza beschrieben, immer wieder mit offenen verbalen Anfeindungen, Diskriminierungen und ablehnenden Blicken konfrontiert zu sein. „Z.B. berichtet Herr Mbenza, bei der Arbeit regelmäßig beleidigt zu werden. Leute werfen direkt vor seiner Nase Papier auf den Boden, damit er es aufhebt, sagen ‚Nigger heb’ den Dreck auf.‘“ (Mbenza_Falldokumentation 1_Erstbericht)

Das schon vor dem Angriff bestehende Gefühl, in Grunden einer feindlich gesinnten Umgebung gegenüberzustehen, wurde nach dem Angriff zu einem Gefühl konkreter Bedrohung. Besonders belastend war dabei für die Familie, dass die junge Frau, die Frau Mbenza mit der Flasche bedroht hatte, offensichtlich in unmittelbarer Nachbarschaft wohnte und Herrn und Frau Mbenza auch nach der Tat noch mehrfach auf der Straße beleidigend angesprochen hatte. Das Paar schilderte, dass Frau Mbenza abends nicht mehr allein das Haus verlasse und auch Herr Mbenza sich in der Stadt permanent bedroht fühle. Für die Beraterin war nicht eindeutig, ob dieses Unsicherheitsgefühl erst nach dem Übergriff entstanden war oder schon vorher, als Folge der isolierten Lebenssituation, bestanden hatte. Herr und Frau Mbenza beschrieben, dass sie sich sehr allein fühlten, und dass insbesondere Frau Mbenza darunter leide, kaum soziale Kontakte in Grunden zu haben. So hingen auch die Ängste, die Frau Mbenza beschrieb, damit zusammen, dass sie sich isoliert fühlte: Frau Mbenza äußerte insbesondere Angst um ihre Kinder. Dabei fürchtete sie weniger direkte rassistische Übergriffe auf die Kinder. Vielmehr beschäftigte sie, dass ihnen möglicherweise in alltäglichen Notfallsituationen nicht geholfen werde. Dieses Thema wurde im Beratungsverlauf immer wieder aufgegriffen.

5

Ich zitiere im Folgenden längere Passagen, auf die ich im weiteren Verlauf dieses Kapitels zurückkommen werde.

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„Telefonat mit Frau Mbenza. Sie leidet sehr unter der Isolierung und hat Ängste. Sie geht eigentlich nie aus dem Haus. In ihrem Bericht mischt sich eine allgemeine Angst vor Kriminalität (sie hört von Kindesentführungen und -misshandlungen über das Fernsehen) mit dem Gefühl als Schwarze in Grunden schutzlos zu sein.“ (Mbenza_Falldokumentation 1_Verlauf)

Das Gefühl, isoliert zu sein, machte sich auch daran fest, dass Herr und Frau Mbenza afrikanische Freund_innen in Grunden vermissten. Freund_innen in der nächsten Großstadt konnten sie aufgrund der Residenzpflicht6 und der hohen Fahrtkosten nur selten sehen. In Grunden seien sie fast überall die einzigen Schwarzen, wodurch sie sich sehr angreifbar für Diskriminierung wahrnahmen. So sei der ältere Sohn das einzige Schwarze Kind in der Kindertagesstätte gewesen und dadurch immer aufgefallen. Auch fehlte der Familie eine afrikanische Infrastruktur in ihrer praktischen Lebensführung: Frau Mbenza schilderte die Schwierigkeit, bestimmte Lebensmittel zu bekommen, und sie vermisste einen afrikanischen Frisörsalon. Beide beschrieben es als schwierig, sich in der deutschen Gesellschaft zurechtzufinden. Immer wieder sagten sie: „Afrika ist anders!“. Dabei ging es um behördliche Abläufe, wie die Anzeigenstellung und das Ermittlungsverfahren, komplizierte ausländerrechtliche Regelungen sowie darum, das menschliche Miteinander einzuschätzen.7 Die Lebenssituation der Familie Mbenza war zudem geprägt von aufenthaltsrechtlicher Unsicherheit. Herr und Frau Mbenza zeigten der Beraterin bei einem der ersten Beratungsgespräche ihre Aufenthaltspapiere. Der Ausgang des Antrages auf Asyl, den Herr Mbenza aufgrund seiner politischen Verfolgung im Herkunftsland gestellt hatte, war unsicher. Ihr Aufenthalt wurde immer wieder um nur drei Monate verlängert, und die so regelmäßig anstehenden Termine bei der Ausländerbehörde belasteten Herrn und Frau Mbenza sehr, so die Schilderung in der Beratungsakte. Im Verlauf des Beratungsverhältnisses erhielt die Familie schließlich die Ablehnung des Asylantrages. Zwar werde nicht in Zweifel gezogen, dass Herr Mbenza aufgrund seiner politischen Betätigung politisch verfolgt worden sei. Seit Ende des Bürgerkrieges gelte das Land aber als sicher, so dass eine Rückkehr nun prinzipiell möglich sei.

6

Mit der Residenzpflicht ist geregelt, dass Asylbewerber_innen und ausländerrechtlich Geduldete sich nur im von der für sie zuständigen Behörde festgelegten Bereich, d.h. in der Regel innerhalb einer Kommune oder eines Landkreises, aufhalten dürfen. Um dieses Gebiet, z.B. für Besuche bei Freund_innen, Rechtsanwält_innen oder Ärzt_innen zu verlassen, müssen Betroffene jeweils eine Verlassenserlaubnis beantragen. Nach politischen Kämpfen von Geflüchteten und Unterstützer_innen sind inzwischen Lockerungen der Residenzpflicht durchgesetzt worden.

7

Die Schwierigkeit, sich zu orientieren, wurde von Herrn und Frau Mbenza formuliert und steht im Kontrast zur Einschätzung der Beraterin, die die Familie als bemerkenswert gut organisiert erlebte.

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Herr und Frau Mbenza konnten – mit Hilfe einer Anwältin – Ausreisehindernisse geltend machen, wodurch die Ausweisung ausgesetzt wurde, der Aufenthaltsstatus der Familie aber weiterhin prekär blieb. Wenn Herr Mbenza von den aufenthaltsrechtlichen Problemen sprach, hielt er sich den Kopf, brach ab und seufzte: „zu viel Stress“, erinnert sich die Beraterin Christina (Mbenza_Berater_innen_434-442). In dieser durch Unsicherheit geprägten Situation warf der rassistische Angriff Herrn Mbenza aus der mühsam aufrechterhaltenen Balance. Der Vorfall überschritt für ihn das Maß des Erträglichen und er stellte fest: „nun muss etwas geschehen“. Frau Mbenza beschrieb dagegen eher die Gesamtsituation als belastend und hob weniger den konkreten Vorfall hervor. Wohnortswechsel als Handlungsoption Aus der Falldokumentation geht hervor, dass die Möglichkeit eines Wohnortwechsels im Beratungsverlauf wiederholt thematisiert wird. Auf den von Herrn Mbenza formulierten Wunsch, aus Grunden wegzuziehen, reagiert die Beraterin mit dem Angebot, einen Umzug zu unterstützen. Obwohl das Thema im Beratungsverlauf mehrfach aufgegriffen wird, wird die Option eines Umzuges letztlich immer wieder verworfen. Es entsteht aus dem vorliegenden Material der Eindruck, dass Herr und Frau Mbenza sowie die Beraterin die Umzugspläne ambivalent verfolgten. Für diese zunächst irritierende Beobachtung lassen sich verschiedene Begründungen finden. So sind die Möglichkeiten eines Wohnortwechsels faktisch durch ausländerrechtliche Regelungen eingeschränkt: Asylbewerber_innen haben keine freie Wohnortwahl, sondern werden nach einem festen Schlüssel (Königssteiner Schlüssel) auf die Landkreise im Bundesgebiet verteilt. Eine ‚Umverteilung‘ muss beantragt und begründet werden. Ihr wird in der Regel – wenn überhaupt – nur innerhalb eines Bundeslandes zugestimmt. Die Großstadt, in die Familie Mbenza gerne gezogen wäre, gehört allerdings zu einem anderen Bundesland. Die Erfolgsaussichten, an den Wunschort umzuziehen, waren also schlecht. Vor diesem Hintergrund entschieden Herr und Frau Mbenza, dass die sich die Mühe nicht lohne bzw. die sozialen Kosten für einen Umzug zu hoch seien: „Treffen mit Frau Mbenza [...] Gespräch über Wunsch, aus Grunden wegzuziehen. Sie sagte, dass sie sich überlegt haben, dass sie lieber in Grunden bleiben wollen, da der älteste Sohn da zur Kita geht und sie sich schon eingelebt haben und nicht noch einmal von vorne anfangen wollen. Gut wäre, nach Möglichkeiten zu suchen, dass Frau Mbenza in Grunden Kontakte bekommt und nicht so isoliert ist.“ (Mbenza_Falldokumentation 1_Verlauf)

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Herr und Frau Mbenza kommen allerdings zu unterschiedlichen Einschätzungen der Situation: Während Herr Mbenza immer wieder den Wunsch nach einem Umzug formuliert, akzentuiert Frau Mbenza die Vorteile der Entscheidung, in Grunden zu bleiben. Auch die Haltung der Beraterin erscheint ambivalent. Mit der Option des Wegzuges griff sie die bedrückende Beschreibung des Lebens in Grunden als Handlungsanlass auf. Einen Umverteilungsantrag zu unterstützen, war dabei eine konkrete Handlungsoption, die die OBS anbieten konnte. Damit konnte die Beraterin Anliegen aufgreifen, entsprechend ihres Hilfeauftrags bearbeiten und damit ein Beratungsverhältnis aufbauen. Zugleich relativierte die Beraterin die Erfolgsaussichten ihres Angebotes, sodass es letztlich ein konsequenzloses Angebot blieb. Es ist nicht eindeutig zu klären, ob hier eine realistische Einschätzung bestehender Handlungsmöglichkeiten vorgenommen und den Ratsuchenden angeboten wurde, oder ob Handlungsmöglichkeiten in der Situation nicht erkannt wurden. Wahrnehmung juristischer Handlungsmöglichkeiten Wesentlicher Teil der Beratung waren Fragen nach juristischen Handlungsmöglichkeiten. Herr Mbenza hatte den Vorfall angezeigt und wünschte eine strafrechtliche Verfolgung der Täter_innen. Allerdings standen die von der OBS üblicherweise genutzten Unterstützungsmöglichkeiten im Fall von Herrn Mbenza nur eingeschränkt zu Verfügung: In Fällen gefährlicher Körperverletzung – dazu gehören die Mehrzahl der Gewaltfälle, die von der OBS betreut werden – besteht für die Betroffenen die Möglichkeit, sich als Nebenkläger_innen8 dem Verfahren anzuschließen, was die OBS in der Regel empfehlen. Aufgrund des Tathergangs, durch den niemand körperlich verletzt worden war, war zunächst nicht klar, ob Anklage erhoben und ein Gerichtsverfahren geführt wird. Es bestanden zudem Zweifel, ob eine Nebenklage zugelassen werden würde. Das Ermittlungsverfahren führte schließlich zur Anklage gegen einen der Täter und Herr Mbenza wurde, nach Intervention der OBS, als Nebenkläger zugelassen. Der Angeklagte wurde zu einer Geldstrafe verurteilt. „Nach der Urteilsverkündung ergriff Herr Mbenza noch einmal das Wort und beschrieb die besondere Belastung, die durch die im Publikum sitzende [Name der jungen Frau] ausging. Die

8

Als Nebenkläger_innen haben Betroffene, die sonst im Verfahren ausschließlich den Status von Zeug_innen hätten, die Möglichkeit, einen Anwalt oder eine Anwältin zu beauftragen, der oder die Akteneinsicht anfordern sowie Anträge zu den Ermittlungen stellen kann. Während des Gerichtsverfahrens hat ein Betroffener zudem das Recht, dem gesamten Verfahren beizuwohnen. Nebenklageanwält_innen nehmen aktiv am Verfahren teil, d.h., sie können Zeug_innen und Angeklagte befragen, (Beweis-)Anträge stellen, plädieren sowie nach der Urteilsverkündung Rechtsmittel einlegen (vgl. Opferperspektive 2008/ 2012: 1617).

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Richterin riet dem Opfer, in Zukunft bei jeder Beleidigung eine Anzeige zu stellen, um den Rechtsweg ausschöpfen zu können.“ (Mbenza_Falldokumentation 1_Prozessbericht)

Die Richterin appellierte an die im Publikum sitzende Clique des Angeklagten, das Verfahren als Warnung zu verstehen. Beim Verfahren war auch ein Journalist der Lokalzeitung anwesend, der Herrn Mbenza nach der Urteilsverkündung fragte, ob er zu einem kurzen Interview bereit sei. Herr Mbenza beschrieb gegenüber dem Journalisten erneut, dass die alltäglichen Beleidigungen für ihn unerträglich seien. Er betonte, dass es seiner Meinung nach wichtig sei, dass Menschen, die andere rassistisch beleidigen, bedrohen und Gewalt anwenden, sanktioniert werden. Nur Worte würden offensichtlich nicht ausreichen. Abschluss des Beratungsverhältnisses Nach dem Prozess wurden die Treffen zwischen der Beraterin und der Familie seltener. „Über den Sommer finden drei weitere Termine statt, wenn ich gerade in Grunden bin. Gespräche über die allgemeine Situation. Frau Mbenza äußert ihre Angst vor Kriminalität, ohne dies genauer zu spezifizieren. Vor allem Angst um die Kinder.“ (Mbenza_Falldokumentation 1_Verlauf)

Im Herbst vermittelte Frau Mbenza eine Frau aus Grunden an die OBS, die ebenfalls rassistisch angegriffen worden war. Schließlich wurde ungefähr eineinhalb Jahre nach der Tat mit einem Treffen das Beratungsverhältnis beendet und verabredet, dass sich die Familie bei Bedarf meldet. Wiederum eineinhalb Jahre später erfuhr die Beraterin aus der Presse, dass die Familie akut von Abschiebung bedroht sei. Es entstand eine breite Kampagne für die Aussetzung der Abschiebung und ein Bleiberecht für die Familie. Mehrere Hundert Menschen unterschrieben eine Petition, die vom Forum sowie dem DGB initiiert wurde. Die lokale Flüchtlingsberatung und der Flüchtlingsrat waren in den Fall involviert, es gab mehrere Presseberichte. Die Beraterin der OBS erkundigte sich bei Familie Mbenza sowie der Flüchtlingsberatung, ob und wie sie unterstützen könne und informierte die Grundener Antifa, die sich daraufhin an der Kampagne für Familie Mbenza beteiligte. Durch den Einsatz des Bürgermeisters sowie der Landesintegrationsbeauftragten wurde schließlich die Abschiebung bis zu einer erneuten Entscheidung des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge ausgesetzt. Familie Mbenza erhielt schließlich ein Bleiberecht. Nach der Kampagne kam es zwei Mal zu Schmierereien im Hausaufgang der Familie. Als die Beraterin davon erfuhr, besuchte sie die Familie. Die Familie habe sich über ihren Besuch gefreut und sei vor allem über die zweite Schmiererei beunruhigt gewesen. Insgesamt habe die Familie aber achselzuckend betont, dass man gegen

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dumme Leute eben nichts machen könne und dass zum Glück nichts Schlimmeres passiert sei. Es wurde kein weiterer Handlungsbedarf formuliert (Mbenza_Falldokumentation 1_Verlauf). 6.3.2

Erneute Beratung: Zwischen konsolidierter Lebenssituation und anhaltendem Ausgeliefertsein

Fünf Jahre nach dem ersten Angriff wurde im Juli 2012 wieder ein Beratungsverhältnis mit der OBS aufgenommen. Herr Mbenza schildert im Interview 2014 den Hintergrund, der dem ersten Fall sehr ähnlich ist. „Herr Mbenza: Ich hatte ein Problem in Grunden, mit so kleinen Mädchen. Die Mädchen waren ungefähr so – keine Ahnung – 15 Jahre alt, oder so. Ich war unterwegs mit meiner Frau, ich kam von der Stadt zurück nach Hause (...). Da haben so drei, vier, fünf Mädchen bei der Treppe gesessen. Und dann haben die Mädchen so gesagt: ‚Guck mal, die Neger‘... So. GK: Mhm (bejahend) Herr Mbenza: Ja, ich bin dann einfach zu den Mädchen gegangen und habe gesagt: ‚Ich bin nicht Neger. Ich bin ja Afrikaner, aber ich bin nicht Neger.‘ Ich habe schon zu den Mädchen gesagt: ‚Passt mal auf, ich bin nicht Neger, aber ich bin Afrikaner.‘ Dann bin ich weitergelaufen mit meiner Frau. Das war drei oder vier Monate so.“ (Mbenza_Betroffener_48-57)

In der folgenden Zeit begegnete er den jungen Frauen, die in seiner Straße in einem Hauseingang saßen, immer wieder. Auch die rassistischen Bezeichnungen wiederholten sich. Einige Zeit später traf er, als er gemeinsam mit seiner Frau und einer Bekannten der Familie einkaufen ging, erneut auf die jungen Frauen, die diesmal in Begleitung von Männern waren. Herr Mbenza schätzte diese auf Anfang zwanzig. Die Männer kamen in aggressiver Weise auf ihn zu, beleidigten ihn ebenfalls rassistisch, begannen zu schubsen und erhoben eine leere Bierflasche. Herr Mbenza konnte dem Angreifer die Bierflasche aus der Hand schlagen und hielt ihn fest, bis die von der Bekannten gerufene Polizei eintraf, bei der er Anzeige erstattete. „Herr Mbenza: Ja, also, ungefähr drei oder vier Monate später war ich mit meiner Frau und mit unserer Bekannten, auch eine afrikanische Frau, ein bisschen bei [Discounter] einkaufen. Und oah... [emotionaler Ausruf] Am Anfang habe ich die Mädchen gesehen... mit zwei Jungs. Die Jungs waren ein bisschen besoffen. Sie sind gekommen: [alles in sehr hoher Stimme gesprochen] ‚hey-- [macht Johlen nach] – Neger – he, he, he, bleib stehen, wo bist du... ‘ [Stimme wieder normal]: Und oah... Ich habe sie angeguckt, und oah.. sie hatten eine Flasche in der Hand [macht vor, wie mit einer Flasche herumgefuchtelt wird]. Er kommt da und: ‚Ey, was hast du gemacht mit meiner Frau, je? Was hast du gemacht mit meiner Frau.‘ Aber als der Junge sagte, was hast du gemacht mit meiner Frau, die Frau läuft... die Frau [stottert ein bisschen]

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GK: Die Frau ist weggegangen? Herr Mbenza: Ja, die Frau ist weggegangen. Aber die Jungen – aggressiv – [macht wieder Schreien und Johlen in hoher Stimme nach, wilde Armbewegungen] ‚Ey, was...‘ Am Anfang hat er geschubst und so und so [macht Schläge auf den Arm] und ich habe gesagt: ‚Oh, was hat deine Frau erzählt, deine Frau muss dir erzählen, was sie zu mir gesagt hat!‘ Am Anfang hat er mich schon geboxt. Also, ich habe gedacht, dass das mit der Flasche in der Hand gefährlich ist. Als erstes wollte ich die Flasche wegziehen. Ja... ja.... er war total aggressiv! Er hat auch meine Frau zwei Mal geboxt. Ich habe gedacht, ich mache zurück, aber ich habe überlegt, dass das ein bisschen gefährlich ist. Zum Beispiel, wenn die Polizei kommt und das bei Gericht ist und die sagen: ‚Warum hast du zurück gemacht!‘ Ich habe geguckt: Die Jungs sind ungefähr 20 Jahre oder 21 Jahre. Ja, das ist gefährlich. Ja, die waren aggressiv so [schreit in hoher Stimme] ‚ey, ey, ey!‘ Dann sind viele Leute gekommen, so, deutsche Leute und so. Und unsere Bekannte hatte dann schon die Polizei angerufen. Und die Polizei hat gefragt, wo bist du, welche Ecke und so und so. Unsere Bekannte hat das alles erzählt, xy-Straße Ecke soundso... ja. Und jetzt, als unsere Bekannte die Polizei gerufen hat, wollten die Jungs wegrennen. Da habe ich so [fasst sich mit einer Hand an den anderen Arm], ich habe die Jungs an der Hand so festgemacht. Ich habe gesagt: ‚Du darfst nicht wegrennen. Du musst warten, bis die Polizei kommt.‘ [laute, hohe Stimme]: ‚Nein, nein, nein.‘ [normale Stimme] ‚Ja.‘ Ich habe ihn festgehalten, aber er wollte nur ziehen. Da ist ein bisschen die Kapuze abgerissen. Nach ungefähr 10 Minuten war die Polizei da, ungefähr zwei oder drei Autos von der Polizei, so. Ja. Alle: ‚Passport‘ und so und so. Er fragt die Jungs: ‚Was ist passiert.‘ Er fragt mich: ‚Was ist passiert‘ [zeigt dabei erst links, dann rechts]. Die Jungs haben erzählt, ich habe erzählt. Die Polizei hat dann gefragt: ‚Wollt ihr Anzeige?‘ Und ich habe gesagt: ‚Ich will Anzeige machen.‘ Die Polizei hat dann schon geschrieben so und so. Wir standen [...] da, so viele Leute sind gekommen, die Polizei hat die Leute gefragt, die da waren und geguckt haben. Und die Leute haben gesagt, sie kennen diesen Mann und der Mann ist sehr nett und so und so. Die Jungs sind weg gegangen, und die Polizei hat gesagt: ‚Du musst noch... nicht hier, sondern da, beim Kommissariat‘, da bei... GK: Bei [Ortsbeschreibung]? Herr Mbenza: Ja, genau. Und dann sind wir mit dem Auto von der Polizei, ich mit meiner Frau und unserer Bekannten dahin gefahren, zur Polizeiwache. Beim Interview bin ich in ein anderes Zimmer gegangen, meine Frau in ein anderes Zimmer, meine Bekannte in ein anderes Zimmer... Wir alle haben alle erzählt, was passiert ist. Der Kommissar hat schon gesagt: ‚ich schicke alle Papiere zum Gericht.‘ Ja, und ich bin erst mal so geblieben [...].“ (Mbenza_Betroffener_49-106)

Ein Berater der OBS – Jan – nahm, vermittelt über einen flüchtlingspolitischen Aktivisten, der Kooperationspartner der OBS und ein Bekannter der Familie Mbenza war, Kontakt zur Familie auf. Herr Mbenza berichtete, schon einmal von der OBS beraten worden zu sein und wünschte sich die Kontaktvermittlung zu einem Anwalt. Da der Anwalt, der die Familie Mbenza im ersten Fall vertreten hatte, nicht mehr als

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Anwalt arbeitete, bot Jan an, Kontakt zu einer anderen Anwältin in der nächsten großen Stadt herzustellen. Es wurde ein erstes Treffen zum Kennenlernen vereinbart. Wie im ersten Fall wurden die Fahrtkosten von der Beratungsstelle übernommen, und der Berater Jan begleitete Herrn Mbenza zum Termin bei der Anwältin. Auch wurde wieder ein Entschädigungsantrag gestellt, der positiv beschieden wurde. Der Berater Jan schilderte, dass im ersten Beratungsgespräch sehr deutlich wurde, dass das vordringliche Anliegen an die OBS die Unterstützung des strafrechtlichen Vorgehens gegen die Täter war. Als praktisches Problem stellte sich – wie schon im ersten Fall –, dass es aufgrund der wenig schweren körperlichen Folgen der Tat fraglich war, ob eine Nebenklageanwältin beigeordnet werden würde. „Jan: Und die [Anwältin, GK] ist in diesem Verein Nebenklage e.V. gewesen und hat sich sehr engagiert für Nebenklage. Und das war in dem Fall total gut, weil die sich richtig, richtig, richtig doll reingehängt hat, als Nebenklägerin akzeptiert zu werden. [...] Und da haben wir, glaube ich, Glück gehabt mit der Anwältin. Dass die da gar nicht aufgegeben hat.“ (Mbenza_Berater_innen_116-121)

Auch schildert Jan, dass die Beantragung von Prozesskostenhilfe dadurch verkompliziert wurde, dass Herr und Frau Mbenza inzwischen nicht mehr von Leistungen nach Asylbewerberleistungsgesetz lebten, sondern eigene Einkommen hatten. Mehrere kurze Treffen fanden statt, um die notwendigen Nachweise über Einkommen und Mietzahlungen zusammenzustellen. Ungefähr ein Jahr nach der Tat kam es zum Gerichtsverfahren gegen einen der Angreifer. „Herr Mbenza: Ich habe ungefähr ein Jahr gewartet, dann habe ich die Einladung vom Gericht bekommen, ich musste um 9:00 Uhr da sein. Ich bin da mit meiner Frau und unserer Bekannten hingegangen. Der Richter hat die Täter gefragt und hat zu denen gesagt: ‚Weißt du was, Neger ist eine Beleidigung.‘ Und die Jungs haben gesagt: ‚Ja.‘ ‚Aber warum hast du das gemacht?‘ Und die haben erzählt. [...] Ich habe gar nicht so viel gesagt, beim Richter. Dann haben meine Anwältin, die Richter und der Anwalt von den Tätern zusammen gesessen. Und dann hat der Richter gesagt: ‚Das geht so nicht weiter, so viel reden. Aber die Jungs haben schon Fehler gemacht: Das ist eine Beleidigung.‘ Meine Anwältin hat gesagt: ‚Ja, mein Mandant wurde beleidigt, da müssen die Täter ihm ein bisschen Geld bezahlen. Ja. Der Richter hat gefragt und meine Anwältin hat gesagt: ‚250 Euro muss er bezahlen.‘ Der Richter hat den Anwalt von dem Täter gefragt und der Anwalt vom Täter hat gesagt: ‚Ja das ist kein Problem.‘ Ja (…) Das war so. Aber bis jetzt [lauter]. Wenn ich zum Beispiel diese Mädchen treffe, die Mädchen sind immer hier GK: die sind immer noch hier... Herr Mbenza: Ja! Immer noch hier [zeigt aus dem Fenster] jetzt sind sie ein bisschen gewachsen. Ja, also, wenn ich die Mädchen zum Beispiel treffe, also... Ich komme so [zeigt], das Mädchen läuft in die andere Richtung, ich komme so [zeigt], die Mädchen laufen in eine andere

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Richtung. Naja... Es ist so, ich habe keine Probleme mehr. Aber (…) Diese Beleidigungen kommen noch. Also, zum Beispiel an der Ampel: ‚He, Neger!‘ und läuft dann weg. Ja. (...) Für Grunden ist das normal, manchmal schwierig. Die Leute von Grunden sind immer so. Ja. Die beleidigen. Manchmal: [ruft in hoher Stimme] ‚Neger!‘ Manchmal, zum Beispiel an der Ampel [spielt Autohupe] – tüt-tüt- ‚Neger!‘ aus dem Auto heraus. Tja, was machst du? Und sonst... [Seufzen] Ich bin da! [Lachen].“ (Mbenza_Betroffener_ 125-152)

Zum Prozess lud der Berater Jan auf Wunsch von Herrn Mbenza Unterstützer_innen ein. Herr Mbenza hebt die Anwesenheit von Unterstützer_innen im Gerichtssaal positiv hervor.9 „Herr Mbenza: Aber an dem Tag bei Gericht, war mein Chef auch dabei, die Chefin von meiner Frau war dabei... Ja, alle waren sehr nett. GK: Ach, schön. Herr Mbenza: Oh, ja, das war so viel! Mein Chef, Bekannte und so und so... Der Jan hat Bescheid gesagt bei der Universität, die Leute sind gekommen, es waren viele Leute da. GK: Da bei Gericht? Herr Mbenza: Ja, bei Gericht [ruft etwas zu Frau Mbenza, ein Kind antwortet etwas] GK: Und wie war das für Sie, dass da so viele Leute bei Gericht waren? Herr Mbenza: Das war wunderbar (...) Ja. Jetzt, die deutschen Leute... [Unterbrechungen im Hintergrund] die Mentalität ist anders... Aber jetzt waren da deutsche Leute, und alle sehen, Afrikaner sind auch lieb.10 Also das war wunderbar für mich. Da war ich glücklich!“ (Mbenza_Betroffener_333-346)

Ein lokaler Fernsehsender berichtete über das Gerichtsverfahren und sprach mit der Anwältin sowie mit Herrn Mbenza selbst. Der Angeklagte räumte die Tat ein, und Herr Mbenza erhielt Schmerzensgeld vom Täter. Wichtiger als das Schmerzensgeld war für Herr Mbenza jedoch die Aussicht, nach der Verurteilung der Täter_innen, die in seiner Nachbarschaft lebten, nicht mehr angegangen zu werden und in Ruhe leben zu können. Im gleichen Atemzug zur positiven Bilanz des Gerichtsverfahrens beschreibt er allerdings, dass er und seine Familie unverändert dem alltäglichen Rassismus ausgesetzt ist. Mit dem Ende des

9

Zur folgenden Interviewpassage habe ich mir im Postskript notiert: Hier ist es ärgerlich, dass es sehr unruhig war und der Gesprächsfaden mehrfach von außen unterbrochen wurde. Ich habe die Interviewstelle als starken/berührenden Moment erlebt und den Eindruck gewonnen, dass die Unterstützung für ihn tatsächlich ein wichtiges und positives Moment war.

10 Die Verwendung des Wortes ‚lieb‘ wirkt irritierend. Ich verstehe die Verwendung hier dem Umstand geschuldet, dass deutsch für Herrn Mbenza eine Fremdsprache ist.

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Gerichtsverfahrens wurde auch das Beratungsverhältnis mit dem Berater Jan abgeschlossen.

6.4

P RAXISPROBLEME

6.4.1

Beratung als soziale Stabilisierung oder als sachbezogene Hilfeleistung in Bezug auf juristische Handlungsmöglichkeiten

IN DER

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Die beiden Berater_innen Christina und Jan haben den Kontakt mit Familie Mbenza sehr unterschiedlich erlebt. Während Christina das Beratungsverhältnis als ungewöhnlich herzlich erinnert, beschreibt Jan den Aufbau eines Beratungsverhältnisses als schwierig. „Jan: Ich war immer so ein bisschen verunsichert, wenn ich den getroffen habe, weil er einerseits so ganz ... mmh, also fast schon distanziert. Er war immer so ganz geschäftig. Ich bin dahin gekommen und habe dann kurz gefragt, wie's den Kindern geht und haben dann irgendwelche Anträge ausgefüllt. Und dann kamen da zwischendurch mal ein, zwei persönliche Sätze, aber der hat immer nur [...] also sehr formell war der mir immer gegenüber. Und nur machmal wenn, so als wir bei der Anwältin waren, und dann zusammen Kaffee getrunken haben, hat er mal ein bisschen mehr von sich erzählt. Und da war er dann plötzlich auch ganz doll herzlich. Aber […] auch bei dem Erstgespräch war das – mmh – so sehr sachlich, distanziert ist nicht richtig, so ganz, ganz, ganz doll sachlich. Und irgendwann wurde dann diese Sachlichkeit immer unterbrochen von Schimpftiraden auf rassistische Idioten.“ (Mbenza_Berater_innen_6-17)

Entgegen ihrer eigenen Erinnerung geht aus der Falldokumentation hervor, dass auch Christina die Beratung im ersten Fall zunächst als schwierig empfunden hatte. Sie beschreibt in der Dokumentation des Erstgesprächs, dass es ihr schwerfalle, den Beratungsbedarf von Herrn Mbenza einzuschätzen. „Es kamen ausgesprochen wenige Reaktionen von Herrn Mbenza. Es ist schwierig zu sagen, was er will. Ich hoffe, dass durch die Begleitung zur Polizei, bei der auch Frau Mbenza dabei ist, [...] eine Beziehung aufgebaut werden kann bzw. klarer wird, welche Erwartungen und Wünsche Herr und Frau Mbenza haben.“ (Mbenza_Falldokumentation 1_Erstbericht)

In der Dokumentation des Besuchs bei der Polizei zur Zeugenvernehmung heißt es: „Herr Mbenza kommt mit dem älteren Kind runter. Es ist schwierig, in Kontakt zu kommen, er ist sehr distanziert und angespannt. Ein wenig später stehen wir draußen und kommen (auf deutsch) ein wenig ins Gespräch.“ (Mbenza_Falldokumentation 1_Verlauf)

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Hier besteht die Diskrepanz darin, dass die Beraterin eine (psychologische) Beziehung als Beratungsgrundlage anstrebte, während Herr Mbenza die Beratung als sachund dienstleistungsorientiert ansah und eine beziehungsmäßige Vereinnahmung vermeiden wollte. Nach einigen Treffen notierte Christina schließlich den Eindruck, dass eine soziale Basis für das Beratungsverhältnis hergestellt sei. Wie das Beratungsverhältnis im Weiteren konkret zu gestalten sei, war für Christina allerdings nicht ganz klar. Es fehlten ihr konkrete Themen, um das begonnene Beratungsverhältnis aufrechtzuerhalten. „Ich habe den Eindruck, dass eine gute Beratungsbasis geschaffen ist. Allerdings gibt es nicht so viel konkreten Unterstützungsbedarf, der in direktem Zusammenhang mit dem Angriff steht. Ich denke, dass die Familie sich freut, es als unterstützend erlebt, im Kontakt zu bleiben. Auf der anderen Seite sehe ich das als einen guten Kontakt in Grunden, der auch gut in zukünftigen Fällen sein könnte. Wir sind so verblieben, dass ich mich melde, wenn ich in Grunden bin.“ (Mbenza_Falldokumentation 1_Verlauf)

Ein bis zwei Mal im Monat ging Christina in den folgenden Monaten bei der Familie vorbei, trank einen Tee, plauderte ein wenig und ließ sich von Herrn und Frau Mbenza erzählen, wie es ihnen ging. Auch das Sprechen über die Kinder und der Kontakt mit ihnen spielte eine wesentliche Rolle bei diesen Besuchen. Möglich war diese Art des Kontaktes, weil es in Grunden relativ viele Beratungsfälle gab. So war es für Christina ohne allzu großen zeitlichen Aufwand möglich, zwischen zwei Terminen die Familie zu besuchen, da sie sowieso in der Gegend war und so die ansonsten oft langen Anfahrtswege vermeiden konnte. Dennoch, so wird aus dem Eintrag in der Akte deutlich, sah Christina die Notwendigkeit, den regelmäßigen Kontakt zur Familie mit dem Aufbau eines Kooperationsnetzwerkes zu legitimieren. Rund um die Gerichtstermine wurden die Treffen und Telefonate häufiger und konkreter. Die Beraterin erläuterte Herrn und Frau Mbenza, wer mit welchen Rollen und Aufgaben am Gerichtsverfahren beteiligt ist und wie Verfahren üblicherweise ablaufen; sie begleitete die Familie zu Terminen beim Anwalt und sprach mit Herrn und Frau Mbenza immer wieder über deren Ängste und Bedenken bezüglich des Verfahrens. Kurz vor Prozessbeginn notierte die Beraterin Christina einen Anruf von Herrn Mbenza, in dem er aufgebracht von einer weiteren Begegnung mit dem jungen Mädchen, welches Frau Mbenza mit der Flasche bedroht hatte, berichtete. In einer akuten Krisensituation, in der er aufgrund der wiederholten Konfrontation mit einer der Täter_innen das Gefühl hatte, die Kontrolle zu verlieren, wandte Herr Mbenza sich hier aktiv an die Beraterin, was sich als deutlicher Vertrauensbeweis interpretieren lässt. Ich komme auf dieses Gespräch zurück.

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Die Beraterin Christina setzte mit ihrer Beratungsstrategie den Fokus auf den Aufbau einer alltagsnahen sozialen Beziehung. Im zweiten Fall war das Beratungsverhältnis dagegen deutlich auf juristische Handlungsmöglichkeiten fokussiert. Der Berater Jan erinnert sich, dass Herr Mbenza sehr klar das Anliegen an die Beratung formuliert hatte, dass er Unterstützung in diesem Bereich wünscht. Diese frühe thematische Festlegung auf die juristische Dimension, so reflektiert Jan weiter, könne ein Grund für das ausgeprägt sachliche Beratungsverhältnis sein. Auch in der Schilderung von Herrn Mbenza nimmt das Beratungsverhältnis mit der OBS keinen breiten Raum ein. Er berichtet, dass er sich drei bis vier Mal mit Jan getroffen habe und beschreibt als wesentliche Beratungsschritte die Vermittlung und Begleitung zur Anwältin, wobei er positiv hervorhebt, dass die OBS ihm den Zugang zur Anwältin erleichtert habe, indem sie ihn zur Kanzlei begleitet und die Fahrtkosten übernommen habe. Als Erklärung für diese sehr unterschiedlich gestalteten Beratungsbeziehungen nach dem ersten und dem zweiten Angriff lassen sich – neben möglichen persönlichen Unterschieden zwischen beiden Berater_innen – verschiedene mögliche Begründungszusammenhänge formulieren: Für die Entwicklung des ersten Beratungsverhältnisses scheint wesentlich zu sein, dass es gelungen ist, mit Frau Mbenza eine intensive Beziehung aufzubauen. Ein zentraler Faktor dafür war ein spezifischer sprachlicher Zugang: Die Beraterin Christina konnte die Sprache, die Frau Mbenza mit ihrer Herkunftsfamilie sprach (eine andere Sprache als die Sprachen, in denen Herr und Frau Mbenza untereinander und mit den Kindern sprachen). Frau Mbenza war zugleich diejenige, die einen besonderen Bedarf an Kontakt und Austausch formulierte. Für Christina wiederum war Familie Mbenza einer der ersten Fälle, die sie als Beraterin der OBS begleitet hatte, weswegen sie sich in besonderer Weise für den Fall engagierte – auch um bestehende fachliche Unsicherheiten auszugleichen.11 Auch kann der Vorrang der sozialen Ebene eine Art Verlegenheitslösung angesichts mangelnder Alternativen sein: Nach den ersten Wochen fehlten Ansatzpunkte für konkrete Beratungs- und Unterstützungstätigkeiten. Ein möglicher Umzug wurde zwar immer wieder angesprochen, aber nicht umgesetzt, eine Anzeige war gestellt worden und andere rechtliche Schritte waren zwischenzeitlich nicht akut. Herr und Frau Mbenza nutzten den Beratungskontakt, um über ihre Erfahrungen mit Alltagsrassismus und ihre Lebenssituation zu sprechen, ohne einen konkreten Handlungsbedarf zu formulieren. Der Fokus des Beratungsverhältnisses auf einer alltagsnahen sozialen Ebene schien also Bedürfnisse von Herrn und Frau Mbenza

11 In der Dokumentation wird deutlich, dass die Beraterin bezüglich der rechtlichen Möglichkeiten teilweise unsicher war. Rückblickend sagt sie, dass sie während des Beratungsprozesses immer wieder Angst hatte, wesentliche Beratungsschritte versäumt zu haben (Mbenza_Berater_innen_372-279).

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durchaus aufzugreifen. Schon die Möglichkeit, immer wieder über Anfeindungen und die Schwierigkeiten der Lebensbewältigung zu berichten, schien für sie wertvoll zu sein. Die alltagsnahe Gestaltung des Beratungsverhältnisses knüpfte dabei an der v.a. von Frau Mbenza formulierten Problemstellung der sozialen Isolierung an. Die regelmäßigen Besuche der Beraterin ersetzten hier möglicherweise die fehlende soziale Einbindung in Grunden. Zudem erleichterte die Aufrechterhaltung eines regelmäßigen Kontaktes auch die Möglichkeit, bei akuten Problemen auf das Unterstützungsangebot der OBS zurückgreifen zu können. Ich komme darauf zurück. Zum Zeitpunkt des zweiten Beratungskontaktes befand sich Familie Mbenza in einer sehr viel stabileren allgemeinen Lebenssituation: Der Aufenthalt war gesichert und auch der älteste Sohn, der bei der Flucht bei Verwandten gelassen werden musste, wohnte inzwischen bei der Familie. Herr und Frau Mbenza standen in Arbeitsverhältnissen, mit denen sie ihren Lebensunterhalt bestreiten konnten. Sie konnten in eine größere Wohnung ziehen, und die Kinder waren in der Schule erfolgreich. „Herr Mbenza: Ich bin bei der Arbeit, dann gehe ich zurück nach Hause, warte, bis die Uhrzeit für die Kinder ist, ich gehe die Kinder abholen und so... Ja, ich habe ein bisschen Glück, ich habe den Führerschein, und ich habe ein Auto gekauft. GK: Ah, super! Herr Mbenza: Ja, jetzt seit fast einem Jahr... Ja... Und mein großer Sohn hat auch schon den Führerschein bestanden, und wenn ich zum Beispiel keine Zeit habe, geht er seine Brüder abholen.“ (Mbenza_Betroffener_405-412)

Zudem konnte die Familie seit der Bleiberechtskampagne auf ein relativ breites Unterstützungsnetzwerk in Grunden zurückgreifen. Vor diesem Hintergrund wurde die Beratung nicht mehr zur allgemeinen Unterstützung und emotionalen Stabilisierung gebraucht. Insgesamt schien der zweite Angriff Herrn und Frau Mbenza weniger in eine emotionale Krisensituation versetzt zu haben als der erste Angriff. Während der Tat selbst reagierte Herr Mbenza souverän und kontrolliert. Und auch nach der Tat hatte der Berater Jan den Eindruck, dass die Gewalttat Herrn Mbenza emotional verhältnismäßig wenig belastet. Er charakterisiert die Gespräche als sachlich und schildert, dass Herr Mbenza eine sehr konkrete Vorstellung davon hatte, in welchen Aspekten er Unterstützung der Beratungsstelle benötigt, nämlich in Hinblick auf die Wahrnehmung juristischer Handlungsmöglichkeiten. Herr Mbenza verfügte also über vielfältige Kontakte und konnte vor diesem Hintergrund entscheiden, welche Problematiken er in welchen Konstellationen thematisierte. „Christina: Ich denke, das kann ja auch gut damit zusammenhängen, dass er schon die Erfahrung hatte. Das heißt, er hatte ja auch schon ein Bild davon, also das kann dann die OBS machen.

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Jan: Ich glaube einerseits das, aber auch dann... Ich weiß nicht, wie das zu dem Zeitpunkt war, als du beraten hast. Wir haben da jetzt niemanden getroffen, der, was häufig bei Geflüchteten ist, der so ganz isoliert irgendwo wohnt und wo wir mehr oder weniger der einzige Kontakt sind. Da kam ja auch raus, dass von dieser anderen Kampagne [gemeint ist die Bleiberechtskampagne, GK] ziemlich viele Kontakte übrig geblieben waren. Ich könnte mir vorstellen, dass das auch ein Zusammenhang war. Also wir waren für ein bestimmtes Feld zuständig. Und der Rest wurde also auch von anderen Leuten abgedeckt. Also, er hat zu dem Zeitpunkt als so eine Art Hausmeister gearbeitet [...]. Sie war auch arbeiten, Frau Mbenza. Das, glaube ich, war so, irgendwie, der Angriff war ja auch zusammen mit Freund_innen passiert. Und da hatten wir gar nicht so viel... Christina: Da war gar nicht so 'ne Lücke sozusagen. Jan: Ja, genau. Die Kinder waren da in der Schule, sie waren da einigermaßen integriert über Freunde, hatten ein gutes ausgefülltes Leben.“ (Mbenza_Berater_innen_129-147)

Unsicherheit im Beratungsauftrag: Aufenthaltsrechtliche Fragen, (psychische) Gesundheit und Migrationsgeschichte Im Beratungsprozess wurden wiederholt gesundheitliche Probleme von Herrn Mbenza sowie aufenthaltsrechtliche Schwierigkeiten der Familie angesprochen. Die Beraterin Christina sah einen wesentlichen ursächlichen Zusammenhang zwischen der aufenthaltsrechtlichen Unsicherheit der Familie und dem schlechten psychischen Zustand, v.a. von Herrn Mbenza. Sie vermutete zudem eine Traumatisierung aufgrund der Umstände der Flucht. Schon zu Beginn des Beratungsverhältnisses, als sie von der aufenthaltsrechtlich prekären Situation erfuhr, erkundigte sich die Beraterin, ob die Familie in diesbezüglichen Fragen von einem Anwalt oder einer Anwältin beraten und vertreten werde. Herr Mbenza zeigte den Schriftverkehr mit seinem Anwalt und versicherte, dass er sich gut vertreten fühle. Im weiteren Verlauf erkundigte sich die Beraterin immer wieder nach der aktuellen Situation, und in Gesprächen wurden die aus dieser Situation resultierenden psychischen Belastungen thematisiert. Es wurden allerdings keine konkreten Handlungsschritte eingeleitet. In ähnlicher Weise ging die Beraterin mit der Thematisierung psychischer Belastungen im Zusammenhang mit der Fluchtgeschichte und den daraus resultierenden gesundheitlichen Problemen um. Sie nahm die Themen als relevant für die Gesamtsituation in die Falldokumentation auf. Nachdem sie aber erfahren hatte, dass Herr Mbenza sich bereits in traumatherapeutischer Behandlung befindet, fragte sie nach, ob Herr Mbenza sich dort gut betreut fühle und wurde nicht selbst aktiv. Nachträglich beschrieb die Beraterin hier ein Unbehagen, weil ihr in diesen Bereichen die eigene Kompetenz, Handlungsbedarf und Handlungsauftrag uneindeutig erschienen. Einerseits wurden von Herrn und Frau Mbenza die für ihre Situation wesentlichen Themen benannt, andererseits formulierten sie aber keinen Unterstützungsbedarf. Die Beraterin hatte den Eindruck, dass Herr und Frau Mbenza in Bezug

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auf die aufenthaltsrechtliche Problematik sowie in Bezug auf psychotherapeutische und gesundheitliche Bereiche gut versorgt seien und fand vor diesem Hintergrund keinen Ansatz für eine eigene Rolle als Unterstützerin in diesen Bereichen. In der nachträglichen Reflexion gibt sie jedoch zu bedenken, dass es möglicherweise sinnvoll gewesen wäre, aktiv Kontakt zur Therapeutin, zum Asylanwalt sowie zur Flüchtlingsberatung in Grunden aufzunehmen. Ein besseres Wissen über die verschiedenen Unterstützungs- und Beratungsstellen hätte möglicherweise weitere gemeinsame Unterstützungmöglichkeiten sichtbar gemacht. 6.4.2

Die Uneindeutigkeit der subjektiven Bedeutung der Gewalt als Praxisproblem

Der Berater Jan schildert, dass es für ihn schwierig war, die Bedeutung, die die Gewalttat für Herrn und Frau Mbenza hatte, einzuschätzen. „Jan: Er war eher beschwichtigend. Also, es war sehr schwer, aus ihm den Tathergang herauszukriegen; da mussten wir ganz viel nachfragen. Ich hatte allerdings nicht das Gefühl, dass das deswegen so schwierig war, weil er so neben der Spur war wegen dem Angriff, irgendwie hatte ich, glaube ich, da so ein Gefühl, ja, das war schon wieder abgehakt so 'n kleines bisschen. Das ist dann immer changiert bei den Treffen: Mal war er ganz doll wütend, dann war es wieder abgehakt. Er fand das kaum erzählenswert, so. Kurzer Sprung: Später hat sich auch die Anwältin beklagt, dass er eigentlich ganz viel betont hat, dass das alles gar nicht weh getan hat, sondern er einfach so wütend über diese rassistischen Täter war, über diese rassistischen Jungs.“ (Mbenza_Berater_innen_28-37)

Jans Eindruck war, dass die Gewalt Herrn Mbenza kaum erschüttert habe, er aber sehr verbittert über die alltägliche Konfrontation mit rassistischen Anfeindungen gewesen sei. Da Jan aber seinen Auftrag darin sah, in Bezug auf die Gewalterfahrung tätig zu werden, war der Aufbau eines Beratungsverhältnisses dadurch erschwert, dass Herrn Mbenzas eigentliches Anliegen – dass die rassistischen Anfeindungen aufhören – nicht mit dem zusammenpassten, was die OBS anbieten konnte. Und die – von Herrn Mbenza explizit gewünschte – juristische Strategie baute darauf auf, dass die Gewalttat schwerwiegende Folgen für Herrn Mbenza hatte, weil nur dann eine Nebenklage für notwendig erachtet wird. Insofern waren Herrn Mbenzas Äußerungen, dass die Gewalt eigentlich nicht so schlimm gewesen sei, auch für die Anwältin problematisch. Zugleich wird in den Schilderungen von Jan deutlich, dass ihn die emotionslose Haltung zum Angriff irritierte. Sie stand, für Jan, im Widerspruch zu den sehr emotionalen Äußerungen im Zusammenhang mit alltagsrassistischen Erfahrungen. Jan reflektiert, dass die psychische Belastung von Herrn Mbenza ‚im Raum zu stehen‘ schien, aber nicht zum Gegenstand der Beratung wurde.

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„Jan: Ich bin da nicht reingegangen. Das war auch klar, war auch von ihm ausgesprochen, dass es mit seiner Fluchtgeschichte [im Herkunftsland, GK] zu tun hat, dass er da [zur Therapie, GK] regelmäßig hingeht, dass das wichtig für ihn ist, dass er die Behandlung braucht. Ein Thema war eher, dass wir gern auch ein Gutachten gehabt hätten, aber die Therapeutin war gerade krank. Ja, genau, wir hatten auch darüber geredet, ob er eine Möglichkeit sieht, mit ihr auch noch mal darüber zu reden, was da in Grunden passiert ist. [...] Und da fällt mir auf, dass er ganz schön changiert hat zwischen: ‚Das war alles nicht so schlimm‘ und gleichzeitig: ‚Ich will mit meiner Psychologin darüber reden.‘ War schwer ein Verhältnis dazu zu finden und ich hab mich dann entschieden für: ‚war wahrscheinlich doch schlimm.‘ Aber, ich fand, mehr muss ich dazu nicht wissen. Ich weiß gar nicht, ich habe ihm bestimmt mal so eine Türöffnerfrage gestellt, also weil ich das immer mache. Und wenn Leute Lust haben, können sie darüber erzählen. Also ich denke, ich werde das da auch gemacht haben, aber er wird nicht darauf eingegangen sein. (...) Dass er da ziemlich Schreckliches erlebt hat und psychologische Hilfe braucht, war ziemlich klar. Und er hat auch oft traurig gewirkt, wenn wir uns getroffen haben. Ich hatte schon oft das Bild im Kopf, ich treffe hier einen schwer traumatisierten Mann, der seinen Alltag auf die Reihe kriegen muss. So, das weiß ich auch, aber das war eher auch so gefühlt. Vielleicht an manchen Stellen auch ein Vorurteil. Christina: Ich weiß noch, ich hatte eine Sache, wo ich mich im Nachhinein ganz schlecht mit gefühlt hab. Er hat erzählt, er hat Bauchschmerzen und ich habe das gleich als Psychosomatik gedeutet. Und später hat sich herausgestellt, dass da tatsächlich auch ein organisches Problem war. Da habe ich mich total über mich geärgert, dass so schnell meine Gedanken in die PsychoEcke gingen... Eben weil diese psychischen Dimensionen so im Raum standen. Jan: Ja, ‚im Raum standen' ist, glaube ich, richtig gut ausgedrückt. Es stand immer im Raum und war präsent, wurde aber nie bearbeitet. Bei uns zumindest.“ (Mbenza_Berater_innen_462488)

Beide Berater_innen schildern also als Schwierigkeit, die emotionalen Dimensionen der Rassismus- und Gewalterfahrung zu deuten und darin angemessene Handlungsräume für das Unterstützungshandeln zu finden.

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6.5

AMBIVALENTE D EUTUNGEN UND H ANDLUNGSSTRATEGIEN IM K AMPF UM H ANDLUNGSFÄHIGKEIT UNTER EINSCHRÄNKENDEN B EDINGUNGEN

Anspruch der OBS ist, in ihrer Praxis von den Erfahrungen der Betroffenen auszugehen. Es ist aber nicht vorhersehbar, wie Betroffene die Gewalt erfahren, denn Erfahrungen sind nicht nur Ereignisse, die einem passieren oder widerfahren, sondern auch ein aktiver Deutungs- und Aneignungsprozess: „Obwohl ich als Individuum ‚meine‘ Erfahrung unmittelbar mache, mache ich sie doch gleichzeitig im Medium gesellschaftlicher Denkweisen (und damit gesellschaftlicher Bedeutungen).“ (Markard 2009: 86) So ist die subjektive Erfahrung rassistischer Gewalt geleitet von den subjektiven Theorien der Betroffenen, die sich aus verfügbaren öffentlichen, mehr oder weniger theoretischen Diskursen und Denkweisen, biografischen Erfahrungen sowie vermittelten kollektiven Erfahrungsschätzen speisen. Die Deutung der eigenen Erfahrung ist damit abhängig von den in der jeweiligen Lage der Betroffenen verfügbaren Denkweisen und Deutungen. Die subjektiven Theorien enthalten zudem unterschiedliche Handlungsmöglichkeiten, d.h. sie eröffnen bestimmte Handlungsmöglichkeiten und verstellen den Blick auf andere. Wie Betroffene die Gewalt erfahren, hängt nicht nur von der Verfügbarkeit bestimmter Deutungsangebote für die Betroffenen in ihrer konkreten Lage ab, sondern auch, ob die darin enthaltenen Handlungsmöglichkeiten für die Betroffenen in ihrer jeweiligen Lage sinnvoll erscheinen, wie im Folgenden in Bezug auf Herrn Mbenza gezeigt wird.12 6.5.1

Die subjektive (Be-)Deutung der Gewalt

Körperliche Gewalt als Aspekt alltäglicher Rassismuserfahrung oder als herausragendes Ereignis Für den Berater Jan war auffällig, dass Herr Mbenza die erfahrenen alltäglichen Anfeindungen emotional sehr aufgebracht thematisierte, die körperliche Gewalt demgegenüber aber distanziert oder gar als nebensächlich beschrieb. Auch im Interview mit Herrn Mbenza, in dem er den zweiten Angriff beschreibt, finden sich unterschiedliche und wechselnde Bewertungen der körperlichen Gewalt und der alltäglichen Anfeindungen.

12 Es handelt sich auch bei den folgenden Ausführungen um mögliche Begründungszusammenhänge auf Grundlage des verfügbaren Materials. Inwiefern sie für Herrn Mbenza tatsächlich zutreffend sind, konnte im Forschungsprozess nicht endgültig geklärt werden.

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„Herr Mbenza: Die Polizei war auch da und ich habe erzählt: das [der Schlag, GK] war nicht so stark. Das Problem ist die Beleidigung, ich bin nicht der Neger. Ich bin nicht Neger. Ich bin Afrikaner, aber ich bin nicht Neger. Ja. Das ist nicht gut. Ja. Das ist nicht gut.“ (Mbenza_Betroffener_166-168)

Die Gewalterfahrung ist in seiner Darstellung eingebettet in eine Vielzahl von Alltagserlebnissen rassistischer Anfeindungen, die er im Laufe des Interviews schildert: Hupen und Affengeräusche auf der Straße, Konfrontationen mit Fußballfans, die ihn rassistisch beleidigen, oder Situationen beim Einkaufen: „Herr Mbenza: Zum Beispiel war ich einmal zum Einkaufen bei [Discounter], ich habe Essen eingekauft. So viele deutsche Leute, sitzen da, haben schon Alkohol getrunken und sagen: ‚Hey, das ist unser Geld! Von Deutschland! Du arbeitest nicht.‘ Ich habe gesagt: ‚Ich bin nicht arbeitslos.‘ Ein Mann war da bei den deutschen Leuten und der hat zu den anderen deutschen Leuten gesagt: ‚Passt mal auf, ich kenne diesen Mann, er arbeitet in der Schule.‘ Ja! Es ist so, ich gehe um vier Uhr früh arbeiten! Schnee schippen und so. Jeden Tag jetzt! Ich habe gesagt: ‚Ich bin nicht arbeitslos! Ich kriege nicht Geld vom Staat. Ich kriege Geld für meine Arbeit. Dieses Essen ist von meinem Geld! Ich habe gearbeitet dafür, ich bin nicht arbeitslos!‘ Ich habe da sehr ruhig und so zu den deutschen Leuten gesagt. (...) Ja, so was passiert manchmal. Ich habe ja schon gesagt, die Mentalität der deutschen Leute ist anders! Zum Beispiel, wenn du einkaufen gehst, bei der Kasse, die deutschen Leute gucken anders. Die gucken anders. Obwohl du vielleicht arbeitest, sie denken, du gehst nicht arbeiten. GK: Woher soll er das wissen? Und selbst wenn Sie nicht arbeiten gehen würden, wäre es ja kein Grund, Sie zu beschimpfen! Herr Mbenza: Ja, manchmal… Ich war nur mit meiner Frau im [Einkaufscenter], da ist auch so eine Situation passiert. Wir waren einkaufen und jemand sagt: ‚Ey, das ist unser Geld!‘ Die denken, die Afrikaner gehen nicht arbeiten, alle Afrikaner wären arbeitslos. Aber das ist anders. Nicht alle Afrikaner! Zum Beispiel, wenn du hier in Deutschland einen Aufenthalt bekommen willst, musst du arbeiten. Damit ich einen Aufenthalt mit meiner Frau kriege, bin ich jeden Tag arbeiten gegangen. Ja, ich gehe arbeiten. Ich kriege nicht Geld vom Staat. Ich kriege meinen Lohn, mein Geld!“ (Mbenza_Betroffener_239-261)

Herr Mbenza bewertet die Anfeindungen differenziert. Einerseits beschreibt er die verbalen Beleidigungen als zentrale Problemstellung, andererseits relativiert er sie an anderer Stelle wieder: Verbale Anfeindungen seien normal und er höre einfach weg. Dagegen wird die Androhung und Anwendung körperlicher Gewalt als Aspekt dargestellt, der die Qualität der Beleidigungen verändert, hier werde es „gefährlich“, wie er sagt. Mit körperlichen Aggressionen, wie schubsen oder schlagen, scheint für ihn die Grenze des Ertragbaren überschritten zu werden. Gewalt wird zum Anlass, sich zu wehren und nicht wegzuhören. Wie sehr ihn aber auch die alltäglichen verbalen

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Anfeindungen massiv psychisch belasten und seine Handlungsfähigkeit einschränken, beschreibt er erst relativ am Ende des Interviews, in einer Passage, die auch als Beispiel für das Changieren in der Bewertung von verbalen und tätlichen Angriffen gesehen werden kann. „Herr Mbenza: Ja, das ist das Problem, also überall gibt es die Probleme. Also das erste Mal, wenn du ... zum Beispiel Neger... Das will nicht in meinen Kopf. Zum Beispiel mein Problem. Also ich bin zufrieden und gehe zur Arbeit oder gehe einkaufen, nur so. Und dann kriege ich zum Beispiel eine Beleidigung: Mein Kopf wird schwer. Zum Beispiel gehe ich dann nicht mehr einkaufen. Ich gehe zurück nach Hause und bleibe ungefähr zehn Minuten, zwanzig Minuten sehr ruhig [hält sich den Kopf]. Mein Kopf, die Nerven... Ich muss ein bisschen runterkommen. Zum Beispiel ich kriege eine Beleidigung und ich gehe trotzdem einkaufen, dann bin ich total kaputt. Ich muss schnell nach Hause und mich hinsetzen. Ich erzähle zum Beispiel meiner Frau: ‚Ich habe schon wieder deutsche Leute getroffen und eine Beleidigung bekommen. Mein Kopf ist ein bisschen schwer. Ich habe gar nichts gekauft, ich gehe später noch mal. Ich wollte nur sitzen, ruhig und so. Ja, natürlich, in Berlin gibt es auch diese Probleme. Überall gibt es die Probleme. Ja. Unsere Farbe, das ist überall immer total gefährlich. Ja, überall. Nicht nur hier in Deutschland, auch in Frankreich, Belgien. Überall ist unsere Farbe gefährlich. Nur. Ich überlege nicht so viel, über dieses Problem. Neger... Ach, das ist normal... Ja, also, man kann sagen ‚Neger‘, aber nicht schubsen oder boxen... Das geht nicht. Zum Beispiel bei der Ampel und die rufen ‚Neger‘ und fahren weg – ach, das ist normal. Aber wenn jemand kommt und boxt oder schubst: Nein, das ist nicht gut.“ (Mbenza_Betroffener_636-653)

Allgegenwärtigkeit von Rassismus als „Mentalität der deutschen Leute“ Die immer wiederkehrende Rassismuserfahrung macht Rassismus für Herrn Mbenza allgegenwärtig in der deutschen Gesellschaft. Als Erklärung für die alltägliche Konfrontation mit rassistischen Anfeindungen spricht Herr Mbenza von der „Mentalität“ der Deutschen. „Herr Mbenza: Ich habe ja schon gesagt, die Mentalität der deutschen Leute ist anders! Zum Beispiel, wenn du einkaufen gehst, bei der Kasse, die deutschen Leute gucken anders.“ (Mbenza_Betroffener_249-251)

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Die Verwendung des Begriffes der ‚Mentalität‘ ist so prominent im Interview, dass sich die Frage stellt, mit welcher Problemsicht der Begriff bei Herrn Mbenza zusammenhängt.13 Der Begriff der ‚Mentalität‘ bezeichnet typische Denkweisen und Verhaltensmuster von Personen oder Gruppen bzw. die Zuschreibung von Denkweisen und Muster zu Personen und Gruppen. Mit dem Begriff der ‚Mentalität‘ wird Rassismus einerseits auf der Ebene der Personen als Angehörige von Gruppen verortet. Anders als beim Begriff der ‚Persönlichkeit‘ ist der Begriff der Mentalität aber deutlicher an kulturelle, gesellschaftliche Dimensionen gebunden, in dem sich bestimmte Denkweisen als subjektive Ideologien oder Verhaltensmuster als kulturelle Besonderheiten herausbilden. Das alltagssprachliche Verständnis von ‚Mentalität‘ ermöglicht Herrn Mbenza möglicherweise, die wiederkehrenden Rassismuserfahrungen, die er als unausweichlich erlebt, als Teil der Kultur zu begreifen. Dabei bleibt allerdings – ähnlich wie beim Begriff der ‚Einstellung‘ – das konkrete Verhältnis zwischen individuellen Denk- und Verhaltensweisen und gesellschaftlichen Bedingungen, also der interessierende Gegenstand, „das-Subjektive-in-seinen-sozialen-Bezügen“ ungeklärt (vgl. Markard 1984) und der Einzelne wird in gewisser Weise entlastet. ‚Kontakthypothese‘ als Teil subjektiver Rassismustheorie Herr Mbenza stellt hier einen Bezug zwischen Mentalität und Raum her. In Grunden hätten die Menschen nicht viel Kontakt zu Menschen aus anderen Ländern. Menschen, die in Westdeutschland oder in großen Städten lebten oder viel gereist seien, hätten dagegen mehr Kontakte zu Menschen aus anderen Ländern – und speziell zu Afrikaner_innen – und hätten daher weniger Ressentiments bzw. eine weniger feindselige Mentalität. Hier formuliert Herr Mbenza eine subjektive Theorie über Rassismus, in der Rassismus als Vorurteil verstanden wird, welches aus Nicht-Kennen des ‚Fremden‘ entsteht. Auf wissenschaftlicher Ebene wurde diese Theorie als ‚Kontakthypothese‘ von Allport (1971; vgl. auch Kessler/Mummendey 2007, S.520-522) in Bezug auf die Vorurteile zwischen ethnischen Gruppen formuliert. Sie entspricht zudem einem in Alltagsdiskursen weit verbreitetem Rassismusverständnis, welches allerdings die Komplexität von Rassismus nicht angemessen erfasst (vgl. Kapitel 2). Die Kontakthypothese als dominantes Rassismusverständnis ist wesentlich für Herrn Mbenza zur Erklärung seiner Situation und in Bezug auf die von ihm als verfügbar wahrgenommenen Handlungsmöglichkeiten. So schildert er im Interview mehrfach Situationen, in denen sich, wenn er mit rassistischen Anfeindungen konfrontiert wird,

13 Im Folgenden formuliere ich eine hypothetische Rekonstruktion der subjektiven Theorie zu Rassismus von Herrn Mbenza, die ich hinter dem Begriff der ‚Mentalität‘ vermute. Andere Begründungen für die Verwendung dieses Begriffs sind denkbar: Möglicherweise liegt der Begriff für Herrn Mbenza auch einfach sprachlich nahe, da er in ähnlicher Form im Französischen – einer seiner Herkunftssprachen – existiert.

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Unbeteiligte für ihn einsetzen. Zum Beispiel betont er in der Schilderung des Angriffs, dass Zeug_innen gegenüber der Polizei ausgesagt hätten, ihn zu kennen. „Herr Mbenza: Zwei Deutsche sind gekommen und die haben zu den Jungs gesagt: ‚Ey, lass.‘ Also, ich lebe jetzt fast 12 Jahre hier in [Stadtteil]. Alle Leute kennen mich. GK: Ja. Herr Mbenza: Ja, alle Leute! Ich laufe und es geht immer so: ‚Ah, wie geht’s‘, ‚Ah, hallo!‘ Ja. Ich lebe hier seit 12 Jahren. Da kennst du alle Leute mittlerweile. Ich war ein bisschen aggressiv. Und viele Leute, deutsche Leute, sind gekommen und haben gesagt: ‚Hey, hört mal auf, dieser Afrikaner ist ein netter Mann.‘ Zu den Jungs: ‚Lass den Afrikaner in Ruhe‘ und so und so. Aber diese Jungs waren besoffen. Er wollte nicht, das ist das Problem. Er war nur aggressiv. Ja. Die Jungs waren total aggressiv.“ (Mbenza_Betroffener_194-203)

Dass Angehörige der Mehrheitsgesellschaft Partei für ihn ergreifen, erklärt sich Herr Mbenza mit seiner Bekanntheit in der Nachbarschaft. Während er die rassistischen Anfeindungen als Teil der Mentalität der deutschen Menschen beschreibt, als „normal“ in Grunden, erklärt er sich Situationen, in denen Menschen sich gegen rassistische Ressentiments positionieren, dadurch, dass diese Menschen ihn persönlich kennen und „nett“ finden. Rassismus als abweichendes Verhalten Herr Mbenza sieht Rassismus in der deutschen Gesellschaft als allgegenwärtig und als normale Reaktion auf Unbekanntes. Rassistische Gewalt beschreibt er zugleich als abweichendes Verhalten. Auch hiermit greift er ein dominantes Rassismusverständnis auf. In diesem wird Rassismus als delinquentes Verhalten und Abweichung von der gesellschaftlichen Norm verstanden, statt Rassismus als gesellschaftliches Verhältnis (Hund 2007) oder Dominanzkultur (Rommelspacher 2002; 2009) zu analysieren (vgl. Kapitel 2). Immer wieder betont er das junge Alter der Frauen, die ihn beleidigt haben, sowie das der Männer, die ihn schließlich körperlich angingen. Er äußert sein Befremden darüber, dass Jugendliche ihn als erwachsenen Mann derart angreifen. Die Täter_innen erscheinen in seiner Beschreibung als schlecht erzogene, respektlose Kinder. Des Weiteren beschreibt er die Täter_innen als stark alkoholisiert, aggressiv und, auch unabhängig von der Beleidigung und körperlichen Gewalt gegen ihn, als delinquent. Damit wird die Gewalterfahrung, entgegen seiner eigentlichen Schilderung alltäglicher Beleidigungen, kognitiv aus der gesellschaftlichen Normalität herausgehoben. Diese so umrissenen subjektiven Theorien zur Erklärung der Gewalt sind relevant für die Art und Weise, in der Herr Mbenza die Gewalterfahrung bewältigt. Sie eröffnen jeweils unterschiedliche Handlungsmöglichkeiten und verstellen den Blick auf andere. Dabei lässt sich die Übernahme bestimmter Rassismusvorstellungen als Er-

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klärung für die eigene Situation nicht allein dadurch erklären, dass sie z.B. als diskursiv dominante Konzepte nahegelegt sind. Vielmehr wird deutlich, dass sie zur Deutung der eigenen Situation vor dem Hintergrund der konkreten Lebenssituation und den darin zur Verfügung stehenden Handlungsmöglichkeiten dienen. In den folgenden Abschnitten soll herausgearbeitet werden, dass die subjektive Deutung der Gewalt für Herrn Mbenza in seiner Situation gut begründet ist, aber zugleich subjektiv problematisch werden kann. So können die restriktiven Dimensionen der Deutungs- und Bewältigungsformen auf die konkreten Lebensbedingungen bezogen werden. 6.5.2

Handlungsfähigkeit durch kognitive Problemeingrenzung und -bewältigung

Die subjektive Funktionalität der Deutung der rassistischen Gewalt als delinquente Abweichung von der gesellschaftlichen Norm kann darin begründet sein, dass für Herrn Mbenza die Gewalt dadurch eher bewältigbar und weniger bedrohlich erscheint. Die kognitive Eingrenzung der Bedrohung ermöglicht es ihm – so kann als hypothetischer Begründungszusammenhang formuliert werden – selbstbewusst und souverän mit den Anfeindungen umzugehen: Er ging auf die jungen Frauen zu und konfrontierte sie damit, dass die rassistische Bezeichnung für ihn nicht akzeptabel ist. Auch in der Bedrohungs- und Gewaltsituation reagierte er ausgesprochen souverän. Als er von den jungen Männern mit den Worten: „Was hast du zu den Mädchen gesagt?“ angegangen wurde, ließ er sich nicht einschüchtern, sondern stellte mit seiner Reaktion klar, dass nicht er unangemessen gehandelt habe, sondern die jungen Frauen. Schließlich hielt er die jungen Männer fest, bis die Polizei kam. Diese Reaktion scheint nur möglich, weil er sich den Täter_innen – moralisch und körperlich – überlegen fühlte, sie nicht ernst nahm und möglicherweise gedanklich kleiner und jünger machte, als sie tatsächlich waren. Die Vorstellung, in ähnlicher Weise auf Erwachsene zu stoßen, beunruhigt Herrn Mbenza im Interview deutlich: „Herr Mbenza: Ja. Ja, aber manchmal ist es so, die Jungs sind nur 18 Jahre, 20 Jahre und ein bisschen Alkohol, dann geht das immer so: ‚Hey, Neger, hey Neger!‘ Ja. Das sind die kleinen [schnalzt mit der Zunge] Also zum Beispiel, er sagt so, aber ich höre gar nicht mehr. Ja, das ist normal. GK: Und wäre das anders für Sie, wenn das Erwachsene wären? Wenn das zum Beispiel ein Mann wäre, der genauso alt wäre wie Sie? Fänden Sie das anders, wenn der Sie... Herr Mbenza: Das ist anders! Ah! [emotional] Oder wenn das jemand wäre, der sehr stark wäre. Ah! Ich kann nicht sagen... Ich kann nicht zulassen, dass er zu mir kommt boxt mich oder meine

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Frau und ich gucke nur so! Ne. mhm-mhm... Geht nicht. Geht nicht. Das ist total [unv. Krieg, GK] Ja, natürlich.“ (Mbenza_Betroffener_221-231)14

Die Deutung von Rassismus als abweichendes Verhalten respektloser Jugendlicher ermöglicht Herrn Mbenza, auf individueller Ebene zu reagieren. Sie kann aber zugleich problematisch werden, weil mit diesem Rassismusbegriff die Vielschichtigkeit von Diskriminierung und rassistischer Abwertung, die Herr Mbenza als wiederkehrende Erfahrung schildert, nicht erklärt werden kann. In seiner Charakterisierung der jugendlichen Täter_innen fällt des Weiteren auf, dass er sich selbst im scharfen Kontrast dazu beschreibt: Sie sind jung, er erwachsen; sie waren (und sind ständig) alkoholisiert, er trinkt keinen Alkohol; sie waren aggressiv, er ist ganz ruhig geblieben; sie sind schon lange kriminell, er arbeitet hart und ist immer „nett“. Mit einer ähnlichen Polarisierung beschreibt er seine ‚afrikanische Mentalität‘ im Unterschied zur Mentalität der Deutschen. „Herr Mbenza: Also. Ich respektiere alle. Kleine, große... Unsere Mentalität ist anders. Nicht so, dass die kleinen Jungen sich beschimpfen. Nein, es sind alles Menschen. Ich respektiere alle Menschen. GK: Und da haben sie das Gefühl, dass das in Deutschland anders ist? Herr Mbenza: Ja, das ist anders in Deutschland. Die kleinen, mit 15 Jahren oder so, beleidigen die Eltern, die großen... Das ist in unserer Mentalität nicht so.“ (Mbenza_Betroffener_393399)15

Die besonders verletzende Wirkung rassistischer hate crimes wird, wie in Kapitel 2.3 dargestellt, darauf zurückgeführt, dass sich die Botschaft der Gewalt auf die Person der Gewaltbetroffenen richtet. Die Betroffenen werden in dem, was sie sind, abgewertet. So betont Herr Mbenza immer wieder die verletzende Wirkung des Wortes ‚Neger‘. Dem Begriff setzt er entgegen: „Aber ich bin Afrikaner, ja“ und verbindet dies mit einer positiven Wertung. Damit kontert er die Beleidigung auf sprachlicher Ebene, wodurch allerdings unberührt bleibt, dass er real jenseits der sprachlichen Bezeichnung als Mensch negiert wird. Die positive Beschreibung von sich selbst (hart arbeitend, immer nett und ruhig – auch gebrochen – er war aggressiv) und der ‚Mentalität‘ in Afrika (respektvoll gegenüber (älteren) Menschen, immer lachend) kann

14 Diese Bewertung der Bedrohlichkeit hat mich erstaunt: Ich hätte erwartet, dass alkoholisierte junge Männer besonders gefährlich sind und nicht weniger gefährlich als ältere Männer. Als weitere Dimension ist in dieser Sequenz die Kategorie Geschlecht angesprochen: Als wesentlich stellt Herr Mbenza heraus, dass er nicht zulassen kann, geschlagen zu werden, wenn seine Frau dabei ist bzw. nicht zulassen kann, dass seine Frau geschlagen wird. Leider kann ich die Bedeutung von Genderaspekten in dieser Arbeit nicht weiter vertiefen. 15 Hier wird deutlich, dass er das Problem auch als Generationsproblem betrachtet.

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als Umgangsstrategie mit der fundamentalen Abwertung interpretiert werden, die mit der Gewalt vermittelt ist. ‚Afrika‘ wird für Herrn Mbenza in seiner Situation zum zentralen Bezugspunkt seines Selbstverständnisses. Zugleich versteht Herr Mbenza seine afrikanische Herkunft als Anlass der Anfeindung und Gewalt,16 der mit der positiven Darstellung etwas entgegengesetzt wird. Diesem Begründungsmuster wird im Folgenden Zitat dadurch Gewicht verliehen, dass die positive Bewertung Afrikas durch den Sohn des Chefs als Angehörigen der (diskriminierenden) Mehrheitsgesellschaft gestützt wird. Damit wird auch wieder die an der Kontakthypothese orientierte Denkweise aufgegriffen, nach der das Kennenlernen der ‚fremden Kultur‘ zum Abbau von Vorurteilen führt. „Herr Mbenza: Zum Beispiel der Sohn von meinem Chef, er war schon in Afrika, er war zwei Jahre in [Stadt], ja. Er hat gesagt zu seinem Vater: ‚Papa, die Menschen in Afrika sind anders, sie sind so lieb!‘ Frau Mbenza: Immer lachen! [alle: lachen] Herr Mbenza: Ja, in Afrika immer lachen. Ja, er hat gesagt: ‚Papa, das gefällt mir, das ist total wunderbar!‘ Ja, ich habe ihm gesagt: ‚Bei uns Afrikanern ist das immer so.‘ Ich liebe alle Menschen. Manchmal sage ich zu den Leuten: ‚Verschieden ist nur die Farbe, aber das Blut da drin ist das gleiche. Nur die Farbe ist verschieden, du bist weiß, ich Afrikaner, komme aus Afrika und so.‘“ (Mbenza_Betroffener_545-553)

Der positive Bezug auf die afrikanische Herkunft als Reaktion auf die rassistische Anfeindung ist für Herrn Mbenza durchaus ambivalent. So ist auch im Interview Thema, dass aufgrund der erlebten politischen Verfolgung sein Herkunftsland für ihn keinesfalls ein eindeutig positiver Bezugspunkt sein kann und eine Reise dorthin für ihn noch immer zu gefährlich ist. 6.5.3

Handlungsfähigkeit durch das ‚Lokale‘ als Bezugsrahmen und Vermeidung von Fehlern

Herr Mbenza entwickelt eine Handlungsstrategie, die auf interaktive Kontakte und Netzwerke im unmittelbaren Wohnumfeld setzt. Gekannt und positiv bewertet zu werden, stellt in seinen Schilderungen Schutz vor weiteren Anfeindungen sowie eine wesentliche Ressource im Umgang mit der erlebten Gewalt dar. Dies wird z.B. in der Sequenz deutlich, in der er die Bedeutung der Anwesenheit von Unbeteiligten, die auf seiner Seite stehen, im Gerichtssaal beschreibt. Auch erwähnt er in den Schilde-

16 Dabei ist in den Situationen unklar, ob sich die Aggression der Angreifer_innen tatsächlich auf die Herkunft oder auf die Hautfarbe bezieht, d.h. einen Schwarzen Menschen ohne Migrationserfahrung in gleicher Weise treffen würde.

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rungen der Tat und verschiedener verbaler Anfeindungen stets das Einmischen Unbeteiligter, was er sich dadurch erklärt, im Stadtteil als netter Mann bekannt zu sein. Dadurch entsteht für Herrn Mbenza allerdings ein enormer Druck, dem positiven Bild zu entsprechen, keine Fehler zu machen und permanent Kontakte aufbauen und pflegen zu müssen, zu arbeiten, nicht zu trinken, nett, freundlich und hilfsbereit zu sein, mit seinem Trommeln einen Beitrag für das kulturelle Leben und die interkulturelle Verständigung in Grunden zu leisten und keinesfalls ‚dem Staat auf der Tasche zu liegen‘. Dies ist mit permanenter Anstrengung verbunden. So beschreibt er, dass er zu jedem Geburtstag seiner Kinder alle Kinder aus dem Haus einlädt, dass er auf der Straße und bei der Arbeit (nicht nur) gegenüber Kindern geduldig jede Frage über seine Herkunft und Hautfarbe beantwortet. Die Vergeblichkeit, mit dieser Strategie weitere Angriffe zu verhindern, liegt auf der Hand. Immer wieder ist er mit rassistischen Anfeindungen konfrontiert, die für ihn dann besonders belastend zu sein scheinen, wenn sie sich in der Nachbarschaft ereignen. Die oben beschriebene Situation, in der Herrn Mbenza beim Einkaufen vorgehalten wird, dass es ihm nicht zustehe, Sozialleistungen zu erhalten, macht für ihn deutlich, dass die stereotypen Zuschreibungen unabhängig von seinem realem Verhalten weiter geäußert werden, seine Anstrengungen also nicht geeignet sind, diese Zuschreibungen zu entkräften. Die Kontakthypothese, die für Herrn Mbenza zentrale subjektive Theorie zur Erklärung seiner Situation, ist also faktisch nicht geeignet, die von ihm erfahrene problematische Realität zu erklären. Dennoch eröffnet der Bezug auf die Kontakthypothese für ihn in seiner konkreten Situation Handlungsmöglichkeiten, die eine – ambivalente – Verfügungserweiterung bedeuten. Seine Lebenssituation ist durch das restriktive Ausländerrecht so strukturiert, dass er erstens durch die Zuteilung des Wohnortes und der Residenzpflicht auf den Wohnort Grunden festgelegt ist und zweitens der Zugang zum Arbeitsmarkt und anderen Ebenen der Teilhabe so erschwert ist, dass sozialen Netzwerken eine wesentliche Rolle zukommt. In dieser Situation ist die Orientierung an Handlungsmöglichkeiten in einem lokalen Bezugsrahmen gut begründet. Hier wiederum finden sich mit der Kontakthypothese als dominantem Rassismusverständnis Anknüpfungspunkte. Herr Mbenza findet konkrete Handlungsmöglichkeiten vor, die innerhalb dieses Rahmens angeboten werden; so z.B. sein Engagement in der Trommelgruppe, die regelmäßig auf Veranstaltungen auftritt, die den Anspruch verfolgen, das multikulturelle Miteinander zu fördern und über die er z.B. eingeladen wird, an Schulen über seine Herkunft zu berichten. Ob solche pädagogischen Ansätze, die auf den Kontakt mit ‚fremden Kulturen‘ setzen, geeignet sind, um Stereotype abzubauen ist fraglich.17

17 Wobei natürlich konkrete Erfahrungen verschieden sein können, d.h. es ist durchaus möglich, dass individuell rassistische Ressentiments durch den Kontakt mit Minderheiten abgebaut werden können.

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Eine weitere Problematik besteht darin, dass die Differenz zwischen der Mehrheitsgesellschaft und Herrn Mbenza als Repräsentant der ‚fremden‘ Kultur nicht infrage gestellt, sondern eher vertieft wird, für Herrn Mbenza darin also nur Handlungsmöglichkeiten zu Verfügung stehen, die sich innerhalb des Rahmens ‚andere Kultur‘ abspielen. Zugleich eröffnen sich für Herrn Mbenza durch sein Engagement innerhalb dieses Rahmens wesentliche Handlungsmöglichkeiten, da er über dieses ein breites Netzwerk (potenzieller) Unterstützer_innen aufbauen kann. Ohne die vielfältigen Kontakte zu Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft, die Herr Mbenza über sein Engagement aufbauen konnte, wäre die Abschiebung der Familie kaum zu verhindern gewesen. Auch war dieses Netzwerk wesentlich verantwortlich dafür, dass Herr und Frau Mbenza nach Erteilung der Arbeitserlaubnis sofort Arbeitsplätze gefunden haben. In Herr Mbenzas Schilderungen fällt das Bemühen auf, das eigene Verhalten als korrektes Verhalten auszuweisen. In der Schilderung der Angriffssituation und der folgenden Anzeigenstellung bei der Polizei sowie der Charakterisierung seiner eigenen Lebensweise räumt Herr Mbenza jeden Verdacht aus, durch das eigene Verhalten die Anfeindungen provoziert zu haben. Die darin anklingende Umgangsstrategie, durch korrektes Verhalten weitere Anfeindungen zu verhindern, kann nicht nur als Versuch verstanden werden, Rassismus durch Entkräftung von Vorurteilen zu begegnen, sondern kann auch in biografischen Dimensionen im Umgang mit dem restriktiven Ausländerrecht begründet sein. Das deutsche Ausländerrecht ist so strukturiert, dass es den Betroffenen absolutes Wohlverhalten innerhalb von paradoxen Handlungsanforderungen abverlangt. Ein Beispiel, welches auch im Fall von Herrn Mbenza relevant ist, ist das Zusammenspiel von Arbeitserlaubnis und Aufenthaltserlaubnis: So unterliegen Asylbewerber_innen einem Arbeitsverbot. Zugleich ist im öffentlichen Diskurs der Vorwurf präsent, Geflüchtete kämen nach Deutschland, um Sozialleistungen in Anspruch zu nehmen. Nach jahrelanger erzwungener Untätigkeit wird dann die Erteilung des Bleiberechts daran gebunden, dass die Betroffenen in der Lage sind, ohne staatliche Leistungen zu leben. Realisierbar ist das in der aktuellen Arbeitsmarktsituation praktisch fast nur, wenn – entgegen den Bestimmungen – schon vorher ein Arbeitsplatz gefunden wurde. Die Übertretung des Arbeitsverbotes wiederum kann dazu führen, dass keine Aufenthaltserlaubnis erteilt wird. Vor diesem Hintergrund ist das Bemühen von Herrn Mbenza, sich korrekt zu verhalten und keine Fehler zu machen, durchaus gut begründet, um negative Konsequenzen zu vermeiden. Mehr noch: Er hat die Erfahrung gemacht, mit seiner Anstrengung, den widersprüchlichen Anforderungen des Asylrechts nachzukommen und als ‚gut integriert‘ zu gelten, erfolgreich zu sein und eine wesentliche Konsolidierung der Lebenssituation der Familie erreicht zu haben. Die Bedeutung des konkreten Wohnortes sowie der eingeschränkten Wohnortwahl wird auch in der ambivalenten Auseinandersetzung mit der Frage nach einem

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Umzug deutlich. Immer wieder formulierten Herr und Frau Mbenza, wie im Zusammenhang mit dem ersten Fall dokumentiert, angesichts der schwierigen Situation in Grunden den Wunsch, wegzuziehen. „GK: Also, sie wollten gerne aus Grunden wegziehen? Frau Mbenza: Mhm (bejahend). Herr Mbenza: Ja, aber der erste Arbeitsvertrag war vor zwei Jahren. Ich habe überlegt, aus Grunden wegzuziehen, aber der eine Vertrag war zu Ende und dann habe ich einen anderen unbefristeten Vertrag bekommen. Ja. Da habe ich gesagt: In [Großstadt] Arbeit zu finden ist ein bisschen schwer.“ (Mbenza_Betroffener_ 630-633)

Standen anfangs die im Ausländerrecht verankerten hohen Hürden für einen Wohnortwechsel für die Entscheidung, nicht umzuziehen, im Vordergrund, entschied sich die Familie später – als sie den Wohnort frei wählen konnte – dafür, in Grunden zu bleiben, weil sie hier inzwischen über eine gewisse Infrastruktur verfügte. Für einen Umzug in die Großstadt, wo sie erwarten, mit weniger Feindseligkeit konfrontiert zu sein, wollten Herr und Frau Mbenza nicht ihre Arbeitsplätze und das gewonnene soziale Unterstützungsnetzwerk riskieren. „Herr Mbenza: Hm. Das Problem. Nicht alle deutschen Leute. Nur manche. Andere deutschen Leute, die Mentalität... Hmm, wie kann man sagen. Also zum Beispiel die, die viel unterwegs sind. Frau Mbenza: Ja, da ist die Mentalität anders! Herr Mbenza: Zum Beispiel die deutschen Leute aus dem Westen sind anders. Im Westen gibt es viele Afrikaner, da gibt es viele Nationalitäten. Das ist anders. Aber die deutschen Leute, die hier wohnen, in Grunden, die hier geboren sind, hier aufwachsen, sich hier verheiraten [Frau M: Lachen], da ist die Mentalität anders. Aber nicht alle deutschen Leute sind so. Es gibt so viele deutsche Leute, die sind sehr nett. GK: Haben Sie mal überlegt, aus Grunden wegzuziehen? Herr Mbenza: Also, ja, da ist das Problem: Meine Arbeit. Ich habe eine feste Arbeit. Das ist ein guter Job. Wenn ich diesen Job verliere, ist das total schlecht. Das ist total schlecht für mich. GK: Hmm. Und Sie arbeiten auch hier, oder [zu Frau M]? Frau Mbenza: Ja, in der Küche. Herr Mbenza: Ja, nur ein Minijob. GK: Ja, und jetzt kennen Sie in Grunden viele Leute, auch wenn vieles schwierig ist?18 Herr Mbenza: Ja, jetzt sind wir hier seit 12 Jahren!“ (Mbenza_Betroffener_454-478)

18 Hier muss in Rechnung gestellt werden, dass dieser dialogische Einwurf suggestiv wirken kann. Über das gesamte Interview betrachtet wird damit allerdings ein vorher genanntes Thema aufgegriffen.

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Wahrnehmung juristischer Handlungsmöglichkeiten

Herr Mbenza wählte im Umgang mit der Gewalt bewusst und an vorderer Stelle juristische Handlungsmöglichkeiten. Er hielt im zweiten Vorfall den Angreifer fest, um ihn der Polizei zu übergeben und betonte: „Ja, ich will Anzeige stellen“. Im Interview bezieht er sich sehr positiv auf den Verlauf des Gerichtsverfahrens. Dabei besteht eine Diskrepanz darin, dass die juristischen Mittel gar nicht auf die als wesentliches Problem beschriebenen alltäglichen Anfeindungen anwendbar sind, sondern nur auf die tätlichen Angriffe. So können in seiner Schilderung auch die Ergebnisse der Gerichtsverhandlung nicht eindeutig positiv bewertet werden: Zwar werde er von den jungen Frauen in seiner Nachbarschaft nicht weiter belästigt, aber an anderer Stelle gingen die rassistischen Anfeindungen weiter. Auch über die Polizei äußert sich Herr Mbenza positiv. Dies, obwohl es an mehreren Stellen im Interview Ansatzpunkte gibt, bei denen es gut vorstellbar wäre, ärgerlich auf die Polizei zu werden. So schildert Herr Mbenza, dass er nach Eintreffen der Polizei nicht nur seinen Pass zeigen, sondern auch einen Alkoholtest machen musste. Er hätte es auch als demütigend empfinden können, überhaupt in das Polizeiauto steigen und noch mehrere Stunden auf der Wache zubringen zu müssen, während die Täter einfach gehen konnten. Herr Mbenza bewertet dies aber nicht negativ, sondern beschreibt akribisch den Ablauf der Anzeigenaufnahme und Zeugenaussage, betont die Korrektheit der polizeilichen Abläufe und seine Rolle darin und hebt abschließend hervor, dass die Polizei seine Frau und ihn nach dem langen Prozedere nach Hause gebracht hat. „Herr Mbenza: Als das Interview fertig war mit dem Polizisten, da hat der Polizist gesagt: ‚Du darfst nicht allein nach Hause gehen.‘. Da haben die uns mit dem Auto von der Kriminalpolizei nach Hause gebracht. Ja, der Mann war sehr nett.“ (Mbenza_Betroffener_427-430)

Gerichtsverfahren als (begrenzte) Behebung des Problems und Prävention weiterer Anfeindungen Seine positive Bilanz der juristischen Handlungsstrategie begründet Herr Mbenza damit, dass er nun gelernt habe, dass dies die einzig wirksame Strategie im Umgang mit rassistischen Anfeindungen sei. „GK: Sie haben gesagt, dass es Ihnen wichtig gewesen ist, dass es eine Anzeige gibt. Können Sie erklären, warum das wichtig ist? Herr Mbenza: Ach so, ja. Das kann ich sagen. Das Problem für die deutschen Leute ist, wenn du etwas mit dem Mund sagst, passt er gar nicht auf. Aber mit der Polizei oder mit der Anzeige, das ist gut. Zum Beispiel wenn ich es lasse und sage: ‚Ach, der ist ja noch jung und so.‘ Dann passiert es wieder: ‚Ey, Neger!‘ Aber jetzt, wenn das bei Gericht war und er eine Strafe bekommen hat, jetzt ist er ruhig.“ (Mbenza_Betroffener_290-296)

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Herr Mbenza wählte die juristische Strategie aus der Überzeugung (und Erfahrung) heraus, dass die Täter und ihr Umfeld nur durch strafrechtliche Konsequenzen dazu gebracht werden können, rassistische Anfeindungen in Zukunft zu unterlassen. Mit der strafrechtlichen Verfolgung verband Herr Mbenza also den präventiven Gedanken, zumindest einen Teil weiterer rassistischer Anfeindungen abzuwenden. Dass die jungen Frauen aus seiner Nachbarschaft seit der Anzeige sich nicht mehr abfällig über ihn äußerten, sondern die Begegnung mieden, ist für Herrn Mbenza ein konkretes positives Ergebnis der juristischen Strategie. Die Funktionalität der juristischen Strategie ergibt sich für Herrn Mbenza auch aus der früheren Gewalt- und Beratungserfahrung. Damals standen Herr und Frau Mbenza dem Gerichtsverfahren zunächst mit sehr ambivalenten Gefühlen gegenüber. Schon einen Monat nach Anzeigenstellung erkundigte sich Frau Mbenza bei der Beraterin, wie es mit dem Verfahren weitergehe. „Ihr [Frau Mbenza, GK] wäre es lieber, wenn es nicht weiter gehen würde. Sie hat Angst, weil sie die Täterin immer wieder sieht. Ob sie Angst hat, mit dem strafrechtlichen Verfahren die Situation zu verschlechtern, ist mir nicht klar geworden. Ich habe zugesagt, bei Herrn Kroll19 nach dem Stand des Verfahrens nach zu fragen.“ (Mbenza_Falldokumentation 1_Verlauf)

Auch in den folgenden Beratungsgesprächen war das Unbehagen mit dem bevorstehenden Gerichtstermin immer wieder Thema. „Kurzes Gespräch über anhaltende Bedrohung durch die Frau in der Nachbarschaft. Rat: aufschreiben und anzeigen. Sie haben Angst vor dem Prozess, Sorge, dass die Bedrohung dadurch schlimmer wird. Sie formulieren v.a. auch Angst um die Kinder.“ (Mbenza_Falldokumentation 1_Verlauf)

Frau Mbenza begründete ihr Unbehagen darüber hinaus damit, dass ihr die gerichtliche Auseinandersetzung als Umgang mit Konflikten fremd sei. Zum ersten – dann abgesagten – Gerichtstermin kamen Herr und Frau Mbenza sichtlich angespannt. Frau Mbenza sagte, sie habe die Nacht über nicht schlafen können. Die Beraterin dokumentierte, dass das bevorstehende Verfahren für die Ratsuchenden belastend sei und setzte sich dennoch dafür ein, dass es zu einer mündlichen Verhandlung komme. Hier folgte sie möglicherweise einer institutionell verankerten ‚Schiene‘, nach der die Begleitung und Unterstützung von Gerichtsverfahren zentraler Beratungsinhalt ist und argumentierte gegenüber der Richterin, dass das für die Bewältigung der Betroffenen wichtig sei. Zugleich war es für sie aber nicht eindeutig, was aus Sicht von Herrn und Frau Mbenza für das Verfahren sprach und wurde nach-

19 Der ermittelnde Polizist im ersten Fall.

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träglich unsicher, ob sie sich mit ihrer Intervention vorrangig an Interessen der Institution oder eigenen politischen Interessen orientiert habe, statt an denen der Ratsuchenden. „Christina: Dann hatten die aber bei dem ersten Gerichtstermin verpeilt, einen Dolmetscher zu bestellen und dann wurde der nochmal verschoben. Das war eine ganz junge Richterin, der das furchtbar peinlich war und die hatte dann gesagt, vielleicht müssten wir gar nicht mehr kommen. Das ist ja alles nicht so groß, vielleicht können wir das alles ohne Zeugenaussage entscheiden. Aber dann habe ich gesagt: ‚Es ist Herrn Mbenza sehr wichtig, eine Zeugenaussage zu machen.‘ Ich war mir dabei selber aber total unsicher, weil Frau Mbenza immer sehr große Bauchschmerzen mit dem Prozess hatte. Ich war mir hinterher sehr unsicher, ob ich denen damit eigentlich einen Gefallen getan habe.“ (Mbenza_Berater_innen_348-392)

Die Anspannung blieb bei beiden bis zum neu angesetzten Prozesstermin im Mai bestehen. Dabei bestanden in der Bewertung allerdings offensichtlich Unterschiede zwischen Herrn und Frau Mbenza. Insbesondere Frau Mbenza thematisierte immer wieder, dass sie aus Angst vor dem Verfahren nicht schlafen könne und Kopfschmerzen habe. Herr Mbenza schien eindeutiger in der Entscheidung zu sein, ein Gerichtsverfahren zu wollen, war aber dennoch nervös. Als Bedenken äußerten beide, dass die Anzeige zu der anhaltenden Bedrohungssituation beitrage, insbesondere die junge Frau, der sie immer wieder begegneten, ihnen aufgrund der Anzeigenstellung weiterhin zusetze. Die Situation spitzte sich für Herrn Mbenza krisenhaft zu, als er die junge Frau kurz vor dem Prozesstermin in der Straßenbahn traf, sie auf ihn zeigte und laut zu ihren Freundinnen sagte, dass das der Mann sei, der sie angezeigt habe. Die psychische Belastung, mit der das bevorstehende Gerichtsverfahren verbunden war, hing also mit der grundsätzlichen Unsicherheit zusammen, ob eine Anzeige geeignet sei, der anhaltenden Bedrohungssituation zu begegnen, oder ob sie sogar die Situation verschärfe. Diese Befürchtung wurde durch das erste Gerichtsverfahren entkräftet, so dass Herr und Frau Mbenza beim zweiten Mal nicht nur vertrauter mit den Vorgängen waren, sondern das Gerichtsverfahren auch als wirkungsvoll erlebten, um weitere Anfeindungen zu vermeiden. „GK: Sie haben gesagt, dass es auch Stress ist, zu Gericht zu gehen und etwas zu sagen, oder? Herr Mbenza: Ja, das ist das Problem, es war das erste Mal. In meinem Land war ich nie bei Gericht. Die Situation mit den Gesetzen in Deutschland und in Afrika ist anders. Hier, wenn es eine Körperverletzung oder eine Beleidigung gibt, musst du zu Gericht gehen! Aber das erste Mal war ein bisschen so viel Stress. Ich wusste nicht, was passiert. Ja, das erste Mal war viel Stress! Aber jetzt das zweite Mal mit diesen kleinen Mädchen, ich war ein bisschen lockerer. Ich habe selber zu der Polizei gesagt: ‚Ich möchte Anzeige machen.‘ Weil: Ohne Anzeige, wenn ich die Mädchen ein zweites, drittes Mal treffe, werden die wieder sagen: ‚Ah guck mal,

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die Neger!‘ Aber jetzt bei Gericht hat der Richter schon gesagt: ‚Hey, passt mal auf: Das ist Beleidigung! Du musst Strafe bezahlen.‘ Jetzt sind die Mädchen ruhig. Das ist gut.“ (Mbenza_Betroffener_197-308)

Nahegelegte Deutungs- und Handlungsmuster und fehlende Alternativen Ein wesentlicher Grund für die juristische Strategie kann zudem darin gesehen werden, dass in der Struktur der gesellschaftlichen Diskurse um Rassismus in der Zuspitzung auf Gewalt und abweichendes Verhalten rassistische Gewalt vordringlich als juristisches Problem verhandelt wird, wohingegen alternative Umgangsstrategien aus dem Blickfeld rücken. Auch die OBS bietet in erster Linie juristische Unterstützung als konkrete Handlungsmöglichkeit an. Die von Herrn Mbenza formulierte Deutung von Rassismus als delinquentes Verhalten greift also nahegelegte Deutungs- und Handlungsmöglichkeiten auf und eröffnet die juristische Bearbeitung als Handlungsoption. Die Thematisierung der Täter_innen als delinquente Jugendliche ermöglicht, von staatlichen Instanzen wie der Polizei und dem Gericht unterstützt zu werden und die subjektive Problemlage strafrechtlich zu bearbeiten. Die Unterscheidung von Herr Mbenza zwischen den verbalen Anfeindungen, die ‚normal‘ seien und bei denen er nicht hinhöre, von denen, in denen körperliche Gewalt eingesetzt werde und bei denen er sich zur Wehr setze, kann also vordringlich in den jeweils zu Verfügung stehenden Handlungsmöglichkeiten begründet und damit auch eine strategische Interpretation sein. Anerkennung und Wiederherstellung von Würde und Handlungsfähigkeit durch das Gerichtsverfahren Die Bedeutung des Gerichtsverfahrens bestand für Herrn Mbenza nicht nur darin, weitere Angriffe und Anfeindungen der Täter_innen zu unterbinden. Im ersten Gerichtsverfahren nutzte Herr Mbenza schließlich die Gelegenheit, am Ende der Verhandlung im Gerichtssaal und nach dem Prozess gegenüber einem Journalisten seine Sicht auf die Problemstellung darzustellen. Hier wurde deutlich, so der Eindruck der Beraterin Christina, dass es Herrn Mbenza beim Gerichtsverfahren um mehr als eine wirkungsvolle Strategie ging, um weitere Anfeindungen durch die Täter_innen zu unterbinden. Auch der Wunsch nach Anerkennung seiner Perspektive und nach gesellschaftlichen Reaktionen, die sich auf seine Seite stellen, schienen ein wesentlicher Begründungszusammenhang für die Bedeutung des Gerichtsverfahrens zu sein. Insofern hatte das Gerichtsverfahren für Herrn Mbenza (auch) eine exemplarische Bedeutung. Dass die Anerkennung seiner Perspektive durch die Instanz des Gerichts eine wesentliche Dimension war, lässt sich auch aus seiner Schilderung im Interview rekonstruieren, in der er mit Zufriedenheit berichtet, dass der Richter die Bezeichnung ‚Ne-

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ger‘ eindeutig als Beleidigung benannt und damit Herrn Mbenzas Sichtweise unterstützt hat. Die Anerkennung, die er dadurch erfuhr, zeigte sich für Herrn Mbenza auch dadurch, dass er selbst keine lange Zeugenaussage machen musste, in der seine Tatschilderung infrage gestellt wurde. Ein weiterer Begründungszusammenhang, der aus den vorhandenen Daten hier allerdings zunächst nur hypothetisch rekonstruiert werden kann, kann darin gesehen werden, dass das Gerichtsverfahren für Herrn Mbenza die wesentliche Bedeutung hatte, sich gegen die hilflos machenden Anfeindungen zur Wehr zu setzen. Beide Berater_innen formulieren den Eindruck, dass sich die subjektive Bedeutung der Gewalttaten, die Herr Mbenza zur Anzeige gebracht hat, nicht aus sich heraus erklärt. Sie haben gewissermaßen ‚das Fass zum Überlaufen‘ gebracht, so dass Herr Mbenza nicht mehr bereit oder in der Lage war, die alltäglichen Anfeindungen zu ertragen und wegzuhören. Das Gerichtsverfahren diente hier der Wiederherstellung der eigenen Würde. Die Inanspruchnahme rechtsstaatlicher Möglichkeiten kann auch vor dem Hintergrund der erfahrenen Entrechtung als Geflüchteter und Asylbewerber interpretiert werden. Durch die Wahrnehmung juristischer Handlungsmöglichkeiten bestand Herr Mbenza darauf, als Bürger und Mensch anerkannt zu werden, und er forderte staatsbürgerliche Rechte ein, die ihm in seiner Position nicht selten verwehrt werden. 6.5.5

Widersprüche verfügbarer Handlungsoptionen – Verleugnung von Emotionalität

Herr Mbenza schildert den zweiten Vorfall und die darauffolgende Anzeigenstellung und Zeugenaussage sehr detailliert und orientiert sich dabei an der Perspektive der Strafverfolgung. Er baut mögliche kritische Nachfragen zu seinem eigenen Verhalten in seine Schilderung ein. So erklärt er, den Angreifer nur so stark festgehalten zu haben, dass dieser nicht entkommen konnte und betont, dass seine Frau und er in getrennten Räumen die Zeugenaussage gemacht haben. Die Belastungen, die mit einer Zeugenaussage verbunden sind, stellt er zurück und er präsentiert sich, in seinem Interesse der juristischen Verfolgung der Täter_innen, als korrekt handelnder Zeuge. Deutlich wird eine sehr bewusste Übernahme der Rolle als Zeuge, die ihm die juristische Handlungsoption eröffnet. Diese Rolle zu erfüllen, d.h. als glaubwürdiger Opferzeuge anerkannt zu werden, war zugleich prekär und erforderte daher eine besondere Umsicht. In seiner Schilderung ist er bemüht, den möglichen Vorwurf, selbst eine Mitschuld zu tragen oder überreagiert zu haben, auszuräumen. Ein besonderes Gewicht hat dabei die Betonung seines ruhigen und überlegten Handelns. Dabei nimmt er auf einen Polizeibeamten Bezug, der ihn im Rahmen des früheren Falles ermahnt habe, ruhig zu bleiben.

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„Herr Mbenza: [...] ich war jetzt sehr ruhig. Damals hat der Polizist gesagt: ‚In so einer Situation musst du locker bleiben. Du darfst nicht auch aggressiv werden, wenn die Täter aggressiv sind.‘ Nein. Ja, jetzt habe ich überlegt: Diese Jungs sind mit Alkohol, aber erst zwanzig Jahre alt. Ich habe so überlegt und ich war sehr ruhig.“ (Mbenza_Betroffener_215-219)

Es entsteht im Interview der Eindruck, dass Herr Mbenza im früheren Fall in irgendeiner Weise die Kontrolle verloren und selbst in einer Weise gehandelt hat, die seinen Opferstatus infrage stellt. Dieser Eindruck bestätigt sich weder aus der Dokumentation des ersten Falles noch aus dem Interview mit der Beraterin Christina. Allerdings finden sich in der Falldokumentation Notizen über ein Gespräch mit dem zuständigen Polizeibeamten. „Unangenehm ist auch: Er [der Polizeibeamte] betont, wie geeignet er ist, mit ‚solchen Leuten‘ Vernehmungen zu führen, er könne Herrn Mbenza ja auch einschätzen und er habe ihm auch den Tipp gegeben, dass er ‚hier‘ seine Emotionen im Griff haben müsse, ruhig bleiben müsse. Sehr unangenehmer Typ!!!“ (Mbenza_Falldokumentation 1_Verlauf)

Im Interview erinnert sich die Beraterin Christina an diese Situation: „Christina: Ja, furchtbarer Typ, wie ich finde. Aber der dann immer sagte, also ich erinnere mich nicht ganz genau, aber der so das Thema aufbrachte, ‚ich weiß ja, wie man mit denen umgeht‘... Jan: Also mit ‚diesen Schwarzen‘ Christina: Ja, und die sind ja immer so aufbrausend.“ (Mbenza_Berater_innen_351-355)

Die Berater_innen Jan und Christina erinnern sich im Gespräch, dass sie Herrn Mbenza als sehr kontrolliert erlebt haben und sich aggressives Verhalten bei ihm kaum vorstellen können, Herr Mbenza aber das Thema mehrfach einbrachte. Die Angst, die Kontrolle über die eigenen Emotionen zu verlieren und aggressiv zu werden, schien ein für ihn wesentliches und bedrohliches Thema zu sein. Konkret wird dies vor allem in einer in der Falldokumentation beschriebenen Situation, in der Herr Mbenza nach einer Konfrontation derart außer sich geriet, dass er Angst hatte, die Kontrolle über sich zu verlieren und selbst zum Gewalttäter zu werden. Aufgelöst rief er die Beraterin Christina an. Das persönliche Beratungsgespräch am folgenden Tag ist folgendermaßen dokumentiert: „Herr Mbenza berichtet sinngemäß: Ich bin mit der Straßenbahn mit meinem älteren Sohn von der Musikschule nach Hause gefahren. Das Mädchen war mit anderen Mädchen in der Straßenbahn. Sie hat mit dem Finger auf mich gezeigt und laut gesagt: Das ist der Afrikaner, der

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mich angezeigt hat. Alle haben gekichert. Zwei Mädchen und ich sind gemeinsam ausgestiegen. Schon sechs Mal hat das Mädchen mich wieder attackiert. Immer, wenn sie zu mehreren sind. Ich habe Angst, dass ich irgendwann zuschlage. Ich werde aggressiv, wenn das passiert. Aber sie ist ein Kind ich kann nichts machen. Sie ist verrückt, sie macht immer weiter. Ich habe gedacht: Lieber schnell Christina anrufen, damit sie weiß, was war, wenn ich ins Gefängnis muss. Herr Kroll [der Polizist, GK] sagt: Immer schön ruhig bleiben. Ich weiß nicht, ob ich das immer kann, wenn das Mädchen immer weiter macht. Das Mädchen ist verrückt, sie ist kaum älter als mein erstes Kind! Sie muss ins Gefängnis, damit das aufhört! Mit Deutschen gibt es immer ein Problem, wenn sie mehrere sind. Sie machen Affengeräusche und so. Ich bin müde. Auch vom Arbeiten. Ich bringe Kultur nach Grunden. Ich werde gefragt, kannst du trommeln und ich trommele. Ich arbeite immer. Den ganzen Winter, immer früh aufstehen, Blätter weg machen... Aber die Leute haben keinen Respekt!“ (Mbenza_Falldokumentation 1_Verlauf)

Der Berater Jan erinnert sich, dass Herr Mbenza auch gegenüber der Anwältin mehrfach davon gesprochen habe, aggressiv zu sein, was der Anwältin im Hinblick auf das Verfahren Sorge bereitet habe. Auch er selbst habe nach der ersten Tatschilderung befürchtet, dass die Tatsache, dass Herr Mbenza den Angreifern die Flasche aus der Hand genommen hat, gegen ihn verwendet werden könnte. „Jan: Ich sehe das hier gerade in meiner Notiz: Beiordnung geklappt, kurz vorher. Und dann hat mich nämlich die Anwältin angerufen und war besorgt, weil Herr Mbenza sich selbst immer als aggressiv bezeichnet und dass sie darüber mit ihm nochmal reden wollte. Und, ich glaube, dass ich immer gesagt habe, er hat allen Grund wütend zu sein und er soll erzählen, warum er da wütend ist, aber das weiß ich nicht mehr. Und jetzt wo ich's lese, dass er sich selber als aggressiv bezeichnet, das hat er wirklich ganz oft gemacht. […] Christina: Und für mich war das so, dass das gar nicht mit meinem Bild von ihm zusammenpasste. Ich konnte mir das einfach nicht vorstellen.“ (Mbenza_Berater_innen_364-372)

Herr Mbenza hatte guten Grund, akribisch darauf zu achten, dass ihm keine Mitschuld vorgeworfen werden konnte. Die Kontrolle seiner Emotionen bekam hier eine besondere Bedeutung. Um die für ihn zentrale verfügbare Handlungsmöglichkeit im Umgang mit den rassistischen Anfeindungen nicht zu verlieren, musste er sich als ‚guter‘ Opferzeuge beweisen. Dass bedeutete einerseits, den juristischen Vorgaben korrekt zu folgen. Insbesondere musste er andererseits aber jeden Eindruck vermeiden, selbst die Kontrolle über seine Emotionen zu verlieren oder aggressiv zu werden, weil das seine Glaubwürdigkeit infrage gestellt hätte. Mehr noch: Er musste perma-

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nent die durch den Polizisten geäußerte Annahme entkräften, er neige dazu, emotional zu reagieren, eine Äußerung, die Christina als Ausdruck von Ressentiments aufgrund seiner Hautfarbe oder Herkunft deutet.20 Partielle Handlungsfähigkeit, also Verfügung über seine eigenen Lebensbedingungen, konnte er vor diesem Hintergrund nur erhalten, wenn er den Eindruck, aggressiv zu werden, sorgfältig vermied und sich nach Möglichkeit jede emotionale Reaktion verbot. Die aus dem Zwang zur Verleugnung der eigenen Emotionalität entstandene Dynamik kann auch die von Jan beschriebene Schwierigkeit, die subjektive Bedeutung der Gewalt einzuschätzen, begründen. „Jan: Also, es war sehr schwer, aus ihm den Tathergang herauszukriegen; da mussten wir ganz viel nachfragen. Ich hatte allerdings nicht das Gefühl, dass das deswegen so schwierig war, weil er so neben der Spur war wegen dem Angriff, irgendwie hatte ich, glaube ich, da so ein Gefühl: ja das war schon wieder abgehakt so 'n kleines bisschen. Das ist dann immer changiert bei den Treffen, mal war er ganz doll wütend, dann war es wieder abgehakt. Er fand das kaum erzählenswert, so.“ (Mbenza_Berater_innen_28-34)

Die Ambivalenz der eigenen Emotionen taucht auch im Interview mit Herrn Mbenza auf. Dabei schildert er das Tatgeschehen und die alltägliche Konfrontation mit rassistischen Anfeindungen in emotionaler Weise. Dass ich als Interviewerin die Begriffe ‚Wut‘ und ‚Angst‘ eingebracht habe, kann als unzulässige Suggestion gesehen werden, die Herr Mbenza entschieden zurückweist. Möglicherweise hat die Interviewerin diese Begriffe aber auch aufgegriffen, weil sie diese in der nonverbalen Kommunikation, dem Tonfall, der Mimik und Gestik, von Herrn Mbenza gelesen hat. „GK: Sie hatten keine dollen Schmerzen... Es war mehr die Angst? Herr M: Ja, natürlich. Die Polizei war auch da, und ich habe erzählt, das war nicht so stark. Das Problem ist die Beleidigung, ich bin nicht der Neger. Ich bin nicht Neger. Ich bin Afrikaner, aber ich bin nicht Neger. Ja. Das ist nicht gut. Ja. Das ist nicht gut. GK: Das macht einen auch wütend, oder? Herr M: Hm? GK: Sie haben erzählt, in der Situation sind sie auch wütend geworden und haben dann aber überlegt: Ich muss aufpassen, ich darf die nicht zurückschlagen? Oder? Herr M: Ja. [atmet hörbar aus] Die sind zwanzig Jahre. Ich habe gesagt: ‚Fass mich nicht an,‘ und er macht so. Aber er schafft gar nicht. Er war total besoffen.“ (Mbenza_Betroffener_165174)

20 Ob die Äußerung des Polizisten tatsächlich auf Ressentiments beruhte und ob Herr Mbenza dies so gedeutet hat, kann auf Grundlage des Materials nicht endgültig geklärt werden.

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Das von Jan beschriebene Changieren zwischen distanziertem Bericht über die Gewalt und ‚Schimpftiraden‘ über alltägliche rassistische Anfeindungen ist gerade in den Fällen, in denen eine juristische Bearbeitung infrage kommt, gut begründet. Handlungsmöglichkeiten als Opferzeuge stehen nur dann zu Verfügung, wenn die Opferrolle nicht infrage gestellt werden kann, und das heißt im Fall von Herrn Mbenza, Emotionalität peinlich genau zu vermeiden. Zugleich führt der Eindruck, emotional von dem Angriff kaum betroffen gewesen zu sein dazu, dass die juristischen Handlungsmöglichkeiten, die Herr Mbenza sich wünscht, nicht unmittelbar zugänglich sind, da die Folgen der Tat nicht die Beiordnung einer Nebenklagevertretung zu rechtfertigen scheinen. Innerhalb dieser Bedingungen wird so die ambivalente Thematisierung von Emotionen wie Angst und Wut als subjektiv funktionales Verhalten unter restriktiven Bedingungen verständlich

7 Fallanalyse II: Oliver und das Jugendzentrum Pferdestall in Niebrau – Alternative Jugendliche in Bedrängnis

7.1

D ER K ONTEXT

DER

B ERATUNG

Niebrau ist eine Stadt im nördlichen Sachsen mit ca. 30.000 Einwohner_innen. In den 1990er Jahren hatte es eine aktive und überregional vernetzte Neonaziszene in der Stadt gegeben. Diese war ab 2004 zunächst weniger aktiv, trat aber ab 2007 wieder deutlich in Erscheinung, nachdem die NPD mit Wahlkampfständen auf dem Marktplatz offensiv Präsenz zeigte und die Freien Kräfte begannen, einen regelmäßigen rechten Aufmarsch zum Volkstrauertag anzumelden, der von Jahr zu Jahr zahlreicher besucht wurde. Mit dem Alternativen Jugendzentrum (AJZ) Pferdestall gibt es seit Mitte der 1990er Jahre ein selbstverwaltetes Jugendzentrum in der Stadt. In dem Gebäude, das früher ein Pferdestall gewesen war, befindet sich ein offener Treffpunkt und ein Raum für Konzerte und Partys, eine Fahrradwerkstatt, ein Bandproberaum sowie – im Obergeschoss – eine Wohnung für eine betreute Jugend-WG. Anfang der 1990er Jahre hatte sich als Reaktion auf Angriffe auf eine örtliche Asylbewerberunterkunft mit der Plattform für Flüchtlinge und gegen Rassismus und Gewalt ein zivilgesellschaftliches Bündnis gegründet, welches bis heute aktiv ist. Im Bündnis vertreten sind u.a. die Ausländerbeauftragte des Landkreises, ein Pfarrer und weitere Gemeindemitglieder, lokale Politiker_innen von SPD, Bündnis90/Die Grünen, CDU und Linkspartei, der Schulleiter und eine Lehrerin einer Oberschule, die Leiterin des größten lokalen Jugendhilfeträgers und ein Vertreter der Bürgermeisterin. Auch Vertreter_innen des Jugendzentrums Pferdestall nehmen seit der Gründung

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regelmäßig an den Treffen der Plattform teil. Seit einigen Jahren legt das Mobile Beratungsteam gegen Rechtsextremismus (MBT)1 einen Schwerpunkt auf die Begleitung der Plattform. Während sich die Plattform in den Anfangsjahren vor allem als Unterstützungsnetzwerk für Bewohner_innen der örtlichen Asylbewerber_innenunterkunft verstand, verschob sich später der Schwerpunkt auf Aktionen gegen die wieder aktiver werdende Neonaziszene in der Stadt. Die OBS pflegt seit Beginn ihrer Arbeit einen engen Kontakt zum Jugendzentrum Pferdestall sowie zu einzelnen Akteur_innen in der Stadt.

7.2

D ATENGRUNDLAGE

Grundlage für die folgende Beschreibung und Analyse sind: •





Zwei Interviews jeweils mit den beiden Berater_innen der OBS, die den Fall in Niebrau bearbeiteten: Daniel ist ausgebildeter Sozialarbeiter, zum Zeitpunkt des Interviews Anfang 40 und langjähriger Mitarbeiter der OBS. Vera ist Anfang 30, Politikwissenschaftlerin und arbeitet zum Zeitpunkt des Interviews seit ca. vier Jahren in der OBS. Zum Zeitpunkt des ersten Interviews lief die Fallbearbeitung ‚Niebrau‘ seit knapp sechzehn Monaten und war noch nicht abgeschlossen. Das zweite Interview fand neun Monate später statt, als der Fall weitgehend zum Abschluss gebracht worden war. Zum Zeitpunkt der Interviews mit den Berater_innen war noch nicht klar, mit welchem Ratsuchenden zu einem späteren Zeitpunkt ein Interview geführt werden würde. In den Interviews mit den Berater_innen liegt daher der Fokus nicht auf dem Beratungsverhältnis zu einem konkreten Betroffenen, sondern im Mittelpunkt stehen Beratungssituationen mit verschiedenen involvierten Akteur_innen. Ein Interview mit dem Betroffenen Oliver, welches mehr als zweieinhalb Jahre, nachdem er bei einem Überfall durch Neonazis verletzt worden war, und eineinhalb Jahre nach dem zweiten Interview mit den Berater_innen geführt wurde. Eine schriftliche Falldokumentation der Berater_innen konnte nicht in der Weise wie im Fall Grunden genutzt werden, weil der Fall Niebrau‘ nur sehr lückenhaft dokumentiert wurde. Insbesondere sind Überlegungen der Berater_innen zur Problemeinschätzung und zu Beratungsschritten hier nicht dokumentiert worden. Stattdessen waren vor allem Zeitungsartikel2 zum Fall, Pressemitteilungen des

1

Vgl. Kapitel 1.1

2

Aufgrund der umfangreichen Medienberichterstattung über den Fall ist eine Anonymisierung hier besonders erschwert. Aus diesem Grund verzichte ich auf die explizite Nennung von Zeitungsquellen.

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Pferdestalls, Atteste der Geschädigten und vereinzelte Notizen abgeheftet. Diese Dokumente habe ich genutzt, um eine vorläufige Fallbeschreibung zu erstellen. Protokolle von Fallbesprechungen im Rahmen von Teamsitzungen. Die hier dokumentierten Einschätzungen des Falles und Interventionsplanungen fügte ich in die vorläufige Fallbeschreibung ein. Diese Fallbeschreibung wurde im Rahmen des ersten Interviews den Berater_innen vorgelegt, ergänzt und korrigiert.

Im Folgenden arbeite ich im Kapitel 7.3 zunächst heraus, welche Problemdeutung die Berater_innen im Fall ‚Niebrau‘ entwickeln und welche Handlungsstrategien sie daraus ableiten. Anschließend werde ich im Kapitel 7.4 die Sicht des Betroffenen Oliver auf seine Gewalterfahrung und die Unterstützung durch die OBS darstellen.

7.3

D IE LOKALE S ITUATION IN N IEBRAU P ROBLEMSTELLUNG FÜR DIE OBS

7.3.1

Ausgangspunkt der Intervention

ALS

Angriffe auf alternative Jugendliche und das Jugendzentrum Pferdestall Als Ausgangspunkt der Beratung/Intervention in Niebrau benennt die OBS – vertreten durch die Berater_innen Vera und Daniel – ein vermehrtes Auftreten rechter Angriffe ab dem Frühling 2010. Über Meldungen des LKA3 hatte die OBS von drei Körperverletzungen erfahren, die sich ‚gegen links‘ richteten. Die Berater_innen versuchten daraufhin, über Kooperationspartner_innen in Niebrau – an vorderster Stelle stand hier der Pferdestall als Treffpunkt für alternative Jugendliche – Kontakt zu den Betroffenen herzustellen, um ihnen ein Unterstützungsangebot zu unterbreiten. Dies gestaltete sich für die Berater_innen unerwartet schwierig, da keiner der Angesprochenen von den Fällen wusste. So konnten die Berater_innen zunächst nur schriftliche Unterstützungsangebote verfassen, die anonym von der Polizei an die Geschädigten weitergeleitet wurden. Keiner der Geschädigten meldete sich daraufhin bei der OBS. Erst mehrere Monate nach dem Angriff gelang es dem Berater Daniel, Kontakt zu einem Betroffenen aufzunehmen. Der jugendliche Punk, der Daniel von einem im Pferdestall aktiven Jugendlichen am Rande einer Demonstration im Juli 2010 vorgestellt wurde, hatte allerdings kein Interesse an einer Beratung durch die OBS.

3

Die OBS bekommt über eine von der Linkspartei gestellten kleinen Anfrage im Landtag regelmäßig eine Liste über die vom LKA als ‚politisch motivierte Kriminalität‘ geführten Fälle. Aufgeführt werden hier jeweils das Datum, die Stadt, die Nationalität des Opfers und die Deliktart (z.B. Körperverletzung) sowie das vermutete Motiv (zum Beispiel ‚gegen links‘ oder ‚fremdenfeindlich‘) des Delikts.

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Die Berater_innen beschreiben weiter, dass es ab September 2010 in Niebrau eine zweite Phase rechter Angriffe gegeben hat, die diesmal auf das Gebäude des Jugendzentrums zielten. „Daniel: Eingeschmissene Scheiben waren das Übliche: In der Nacht beim Vorbeigehen wurden die Scheiben eingeschlagen, es wurde niemand gefasst, aber man erzielte einen nicht unerheblichen Effekt.“ (Niebrau_Berater_innen 1_71-74)

Anfang Oktober 2010 wurde eine Gruppe Jugendlicher, die als Besucher_innen des Pferdestalls erkennbar waren, von einer Gruppe Neonazis bedroht. In diesem Zeitraum verortet die Beraterin Vera den Beginn des längeren Beratungs- bzw. Interventionsprozesses in Niebrau. „Vera: Ah, da erinnere ich mich! Das war der Startpunkt, fand ich. Ich glaube, da saßen wir das erste Mal da, weil wir Leute hatten, die berichten konnten.“ (Niebrau_Berater_innen 1_34-35)

Die Berater_innen schildern, dass sie durch Gespräche mit Jugendlichen im Pferdestall sowie durch Berichte auf der Internetseite des Jugendzentrums von einer ungewöhnlichen Häufung rechter Angriffe erfuhren. Trotz der traditionell engen Kooperationsbeziehung zum Pferdestall gelang es aber zunächst nicht, Kontakt zu den Gewaltbetroffenen herzustellen und mit den Nutzer_innen des Pferdestalls den konkreten Beratungs- und Unterstützungsbedarf in Bezug auf die Sachbeschädigungen zu klären. Es erwies sich als außerordentlich schwierig, einen Überblick über die stattgefundenen Fälle, die genauen Daten und Beschreibungen des Geschehenen, zu bekommen.4 Es blieb ihnen u.a. unklar, welche der Angriffe bei der Polizei angezeigt worden waren, welcher Schaden der Versicherung gemeldet worden war und welche Kosten ungedeckt verblieben waren. In den Erzählungen der Jugendlichen schienen sich die Ereignisse zu vermischen, vieles wurde über Hörensagen weitergetragen. Die Berater_innen sahen bei den Jugendlichen im Pferdestall einen erheblichen Problembzw. Leidensdruck, sie erhielten aber weder eine Beratungsanfrage noch konnten sie stabile Kontakte zu den direkt Betroffenen aufbauen. Die Berater_innen entwickelten im Folgenden eine Problemsicht, die verschiedene Dimensionen einschließt.5

4

Die Schwierigkeit, einen Überblick über die Angriffe zu behalten, wird auch im Interview deutlich, in dem die Berater_innen versuchen, den Ablauf des Beratungsprozesses in Niebrau zu rekonstruieren und dabei erneut auf während der Beratung erstellte Auflistungen zurückgreifen.

5

Die folgende Darstellung bezieht sich auf Protokolle von einer Fallbesprechung, die ca. vier Monate nach Beginn des Beratungsprozesses stattfand. In den Interviews mit den Berater_innen wurde dieses Protokoll aufgegriffen, und die Berater_innen kommentierten und differenzierten entsprechend ihrer Erinnerung.

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Generationswechsel im Pferdestall Im Pferdestall hatte ein Generationswechsel stattgefunden. Die bisherigen Aktiven waren zum Studieren oder Arbeiten in größere Städte gezogen. Das hatte zur Folge, dass sich die Qualität der Beziehung zwischen OBS und Pferdestall veränderte. Die OBS verfügte traditionell über sehr enge Kontakte zum Pferdestall. Berater_innen der OBS hatten den Entstehungsprozess des Jugendzentrums begleitet. Die Beraterin Vera ist selbst in Niebrau aufgewachsen und war als Jugendliche viele Jahre im Pferdestall aktiv, bevor sie die Stadt für ihr Studium verließ. Die Jugendlichen, die den Pferdestall nun nutzten, hatten jedoch keine Vorstellung über Hintergrund und Arbeitsweise der OBS, geschweige denn über die historisch enge Verbindung zwischen OBS und Pferdestall. Die Gestaltung des Beratungs- und Kooperationsverhältnisses zwischen OBS und Pferdestall musste neu entwickelt werden. „Daniel: Als wir angefangen haben, aufgrund der Angriffe wieder Kontakt aufzunehmen, haben sie uns erst einmal immer verwechselt mit der allgemeinen Opferhilfe oder auch mit dem MBT. Wer die OBS ist, war für einen großen Teil gar nicht durchschaubar. Vera: Das ist eine seltsame Situation: Man muss normale Kontaktarbeit machen, aber eigentlich weiß man ganz viel und findet seltsam, dass man das Selbstverständliche sagen muss.“ (Niebrau_Berater_innen 1_116-122)

Durch den Wechsel der im Pferdestall engagierten Jugendlichen war zudem Wissen über Handlungsmöglichkeiten verloren gegangen. Nicht nur war das Beratungsangebot der OBS für die Jugendlichen nicht mehr Bestandteil des Strukturwissens. Auch stellten die Berater_innen fest, dass sich der Umgang der Jugendlichen mit Angriffen aus der rechten Szene und mit anderen Problemen verändert hatte. Anzeigenstellung und Konflikte mit der Polizei Als für den Fall wesentliche problematische Konstellation beschreiben die Berater_innen, dass ein Großteil der Angriffe nicht bei der Polizei angezeigt worden war, der Pferdestall aber zugleich politisch mit den Angriffen arbeitete, indem er Pressemitteilungen auf die eigene Internetseite setzte. Wenn die Polizei von einer Straftat mit einem gewissen Schweregrad erfährt, ist sie verpflichtet, zu ermitteln. So war die Polizei auch verpflichtet, in den Fällen zu ermitteln, die auf der Internetseite des Pferdestalls veröffentlicht wurden. Aus Sicht der Polizei hielten die Jugendlichen, die nicht mit der Polizei reden wollten, zugleich Informationen über die Angriffe zurück. Bei einem Telefonat mit der Polizei, welches die Berater_innen führten, um sich einen Überblick zu verschaffen, stellte sich heraus, dass die Polizei sehr verärgert über das Jugendzentrum war, sich in ihren Ermittlungen behindert sah und einen Großteil der Angriffe für eine Erfindung der Jugendlichen hielt. Die Jugendlichen wiederum,

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so die Berater_innen, sahen sich mit der von ihnen als massiv empfundenen Bedrohungssituation allein gelassen und nahmen eine distanzierte Haltung zur Polizei ein. Als Beispiel für das gegenseitige Misstrauen von Polizei und Pferdestall berichtet Vera von einer für die Polizei zentralen Szene: „Vera: Beim Pferdestall wurden die Scheiben eingeworfen. Die Polizei wurde gerufen, schon um den Schaden mit der Versicherung regeln zu können. Die Polizei kam und wollte rein, um die Beweise zu sichern. Aber der Pferdestall sagte: ‚Nee, kommt mal nicht rein, hier habt ihr den Stein.‘ Diese Geschichte erzählt die Polizei heute noch voller Empörung und voller Wut. Das haben sie sich gemerkt: Die machen uns unsere Beweise kaputt, wir sind gekommen, als sie uns gerufen haben, wir wollten helfen, aber die vermasseln uns alles, die lassen uns nicht in ihre Räume, warum denn nicht, was haben die denn gegen uns, die haben doch etwas zu verstecken. Das merkt man, wenn man mit Polizisten redet, dass das für die sehr wichtig war.“ (Niebrau_Berater_innen 1_111)

Die gegenseitige ablehnende Haltung von Polizei und Pferdestall interpretieren die Berater_innen im Kontext einer längeren Konfliktgeschichte zwischen Polizei und Ordnungsamt auf der einen und dem Pferdestall auf der anderen Seite. So berichteten die Jugendlichen von zahlreichen Auseinandersetzungen, die sich um am Haus angebrachte Transparente mit politischem Inhalt sowie Lärmbeschwerden bei Konzerten drehten. Eine Eskalation entstand im Zusammenhang mit einem am Haus angebrachten Transparent, mit dem mit den Worten „War starts here – Militarisierung sabotieren“ für ein antimilitaristisches Camp in der Nähe eines Militärübungsplatzes geworben wurde. Die Polizei hatte sich nach Anbringung des Transparents Zugang zum Haus verschafft und hatte das Transparent entfernt. Es lief eine Anzeige gegen die Bewohner_innen des Hauses aufgrund des Inhalts des Transparents. Zudem schilderten die Jugendlichen, dass es Drohungen des Ordnungsamtes gebe, die Räume des Pferdestalls wegen baulicher Mängel zu schließen. Im Verlauf der Interviews berichteten die Berater_innen über zahlreiche Interventionen von Polizei und Ordnungsamt, die die Jugendlichen als Schikane deuteten – einer Deutung, der sich die Berater_innen weitestgehend anschlossen. Für die Jugendlichen erschien vor diesem Hintergrund ein kooperativer Umgang mit der Polizei nicht möglich, da sie die Polizei in erster Linie als repressiv gegenüber dem Pferdestall erlebten. So interpretierten die Jugendlichen in der oben geschilderten Situation das Beharren der Polizei auf Zugang zu ihrem Gebäude als Vorwand, um in Hinblick auf den Verdacht baulicher Mängel und Ordnungswidrigkeiten aktiv werden zu können.

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Zunehmende Isolierung des Pferdestalls und Auseinandersetzungen um Protestformen Die Berater_innen schildern den Eindruck, dass sich die ehemals gut abgesicherte und lokal eingebundene Position des Pferdestalls über das angespannte Verhältnis zur Polizei hinaus insgesamt dramatisch prekarisiert hatte. Die Jugendlichen hatten der OBS vom Auslaufen der Nutzungsverträge des Pferdestalls berichtet und davon, dass die Stadtverwaltung an einer Verlängerung der Verträge nicht interessiert sei. Zudem werde im Kreisjugendamt die drastische Kürzung der Mittel diskutiert. Die häufigen Auseinandersetzungen mit Polizei und Ordnungsamt im Zusammenhang mit (Konzert-)Veranstaltungen interpretierten die im Pferdestall Engagierten ebenfalls als Ausdruck der Bestrebungen der Stadt, das Jugendzentrum schließen zu wollen. Die Berater_innen sehen hier eine neue Qualität in der Problembeschreibung sowie im Beratungsverhältnis mit dem Pferdestall, den sie bis dahin als ein im Gemeinwesen gut verankertes alternatives Jugendzentrum kannten. „Daniel: Wir haben sie gefragt: ‚Was können wir denn für Euch tun?‘ [...] [und da] kam von ihnen der explizite Wunsch, dass wir sie dabei unterstützen, dass das Projekt erhalten bleibt. [...] Für mich war das bemerkenswert, dass sich da an der Qualität des Verhältnisses etwas verändert hat, weil solche Sachen vorher nie Thema waren. Bei uns waren sonst immer nur die Naziangriffe Thema. Und plötzlich kamen dazu die Schwierigkeiten mit ihrer Stellung in der Stadt, dass sie unter Druck stehen, was die Jahre davor nie Thema war.“ (Niebrau_Berater_innen 1_125-136)

Aus Sicht der Berater_innen hat hier eine Verschiebung der Kräfteverhältnisse stattgefunden. Die Gegner_innen des Pferdestalls – hierzu zählten die Berater_innen in erster Linie Polizei und Ordnungsamt, aber auch die Leiterin des Jugendamtes6 – seien drauf und dran gewesen, den Pferdestall zu schließen, ohne dass die bisherigen Unterstützer_innen sich aktiv für ihn einsetzten. Als wesentlicher Hintergrund hierfür erwiesen sich Auseinandersetzungen im Vorfeld einer für den Volkstrauertag im November 2010 geplanten rechtsextremen Demonstration in Niebrau. In der Plattform für Flüchtlinge und gegen Rassismus und Gewalt wurde heftig diskutiert, welche Reaktionen und Aktionsformen zur Verhinderung des Aufmarsches geeignet sind. Ein Teil – darunter die Jugendlichen aus dem Pferdestall – schlugen in Anlehnung an die Proteste in Dresden gegen die Mobilisierung der Neonazis anlässlich des Jahrestages der Bombardierung ein Konzept zur

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Die Akteur_innen bzw. Institutionen zu identifizieren, die tatsächlich gegen die Interessen des Pferdestalls agieren, beschreiben die Berater_innen dabei durchaus als Herausforderung. Es sei ihnen bis zum Ende des Beratungsprozesses nicht gelungen, ein genaues Bild zu entwickeln, welche Akteur_innen in Niebrau wie zum Pferdestall stehen und handeln, so die Berater_innen selbstkritisch. Ich komme darauf zurück.

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Blockade des Naziaufmarsches durch zivilen Ungehorsam vor.7 Ein anderer Teil betonte dagegen, das Bündnis könne nur zu Aktionsformen aufrufen, die nicht in Konflikt mit geltendem Recht stünden und schlug ein ‚Demokratiefest‘ unabhängig von der Aufmarschstrecke der Neonazis vor. Trotz der Entscheidung der Plattform, nicht mit Blockaden zu reagieren, entschieden sich Jugendliche aus dem Pferdestall dazu, eine Blockade des Naziaufmarsches zu versuchen. Schließlich fanden sowohl ein Demokratiefest als auch Blockaden statt. „Daniel: Ein Teil der Jugendlichen aus dem Pferdestall, aber auch andere Jugendliche aus Niebrau haben sich entschieden: Wir machen eine Blockade. Und das hat für enormen Unmut gesorgt, sowohl bei Leuten aus der Plattform, als auch ganz doll bei der Polizei.“ (Niebrau_Berater_innen 1_90-93)

In den Wochen vor und nach dem Aufmarsch und den Gegenaktivitäten erhielten mehrere Jugendlichen aus dem Pferdestall Zeugenladungen zur Polizei. Die Jugendlichen, die den Ladungen nachkamen – im Glauben, es gehe um eine Zeugenaussage zu den eingeworfenen Scheiben des Pferdestalls – sahen sich mit der Situation konfrontiert, als Beschuldigte in anderen Zusammenhängen, insbesondere den Blockadeaktivitäten, befragt zu werden. Im Zusammenhang mit den erbitterten Auseinandersetzungen um die Proteste gegen die rechtsextreme-Demonstration geriet der Pferdestall auch mit bisherigen und potenziellen Bündnispartner_innen in Konflikt. Zum Beispiel hatte das MBT während der in der Plattform geführten Diskussion um die geeignete Protestform deutlich Position für die Idee des Demokratiefestes und gegen Blockaden bezogen und war daher verärgert über den Pferdestall, so die Berater_innen Daniel und Vera. Auch andere (potenzielle) Kooperationspartner_innen positionierten sich deutlich kritisch zum Pferdestall. „Vera: Und es geisterten ganz viele Gerüchte durch die Stadt, mit denen auch argumentiert wurde. Zum Beispiel: Bei der Blockade hätten die Blockierer Äpfel mit Rasierklingen gespickt, mit denen sie auf die Rechten werfen wollten. Es war nicht explizit ein Extremismusdiskurs, aber ein Gewaltdiskurs, der eindeutig beim Pferdestall verortet wurde. Wenn man da war, war klar, dass das völlig absurd war, das war eine völlig friedliche Blockade... Es war natürlich eine aufgeregte Situation. Und es flogen auch irgendwelche Plastikflaschen hin und her. Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass diese nicht aus der Blockade kamen, sondern von Umstehenden.

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2009 entstand auf Initiative von Antifa-Gruppen das Bündnis Nazifrei – Dresden stellt sich quer, um ein breiteres politisches Spektrum in die Proteste gegen den alljährlich rund um den 13. Februar stattfindenden größten Naziaufmarsch Europas zu beteiligen. Im Februar 2010 erreichte das breite Bündnis erstmals das erklärte Ziel, durch Massenblockaden den Aufmarsch zu verhindern.

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Es war natürlich aufregend, als die Nazis kamen und auch von den Nazis Sachen geworfen wurden und gebrüllt wurde, aber ausgerechnet der Sitzblockade Gewalt und Mordwerkzeuge vorzuwerfen, war absurd. Aber diese Gerüchte wurden verbreitet, geisterten herum.“ (Niebrau_Berater_innen 1_270-280)

Das ehemals gut etablierte und anerkannte alternative Jugendzentrum wurde nun im Kontext linker Gewalt verortet und problematisiert. Als Beispiel für einen langjährigen Unterstützer des Pferdestalls, der sich nun aber kritisch positionierte, nennen die Berater_innen einen umweltpolitischen Aktivisten aus Niebrau: „Daniel: Den kenne ich schon ganz lang. Das ist so ein friedensbewegter [Vera: ja, so ein Christ], der auch immer Sorge hat, dass er irgendwo Militanz sieht und reagiert da ganz allergisch drauf. Auch für ihn steht der Pferdestall ein bisschen für Linksextremismus, den man kritisch beäugen muss.“ (Niebrau_Berater_innen 1_298-300)

Überforderung und fehlendes strategisches Geschick auf Seiten des Pferdestalls Die prekäre Situation, in die der Pferdestall geraten war, hing, so die Berater_innen, auch mit dem Verhalten der Jugendlichen zusammen, die in konkreten Konfliktsituationen häufig eskalierend agierten. Während die Strategie des Pferdestalls früher darauf gerichtet gewesen sei, sich im lokalen Kontext gezielt Bündnispartner_innen in Zivilgesellschaft und Kommunalpolitik zu suchen, hätten die Jugendlichen im Pferdestall zur Zeit der Angriffe auf ihre Einrichtung den Eindruck erweckt, vor allem auf Abgrenzung zu lokalen Strukturen bedacht zu sein. Beispielhaft schildern die Berater_innen die Auseinandersetzungen mit dem Ordnungsamt in Bezug auf die baulichen Mängel des Jugendzentrums: „Daniel: Also, ich kann mich zum Beispiel erinnern: Kurz vor der Demo gab es unangemeldeten Besuch vom Ordnungsamt. Bei einem Konzert hatten irgendwelche durchgeknallten Gäste die Klos kaputt gemacht und das ist fotografiert worden, und die Polizei ist geholt worden, auch wegen der Versicherung. Und diese Fotos sind von der Polizei ans Ordnungsamt weitergereicht worden. Das Ordnungsamt ist vorstellig geworden und wollte sich das angucken mit dem Ziel, auf Grundlage baurechtlicher oder hygienetechnischer Bestimmungen zu sanktionieren, den Betrieb einzustellen. Vera: Das war in etwa so: ‚Wir haben gehört, ihr habt Euer Klo kaputt gemacht und ohne Klo kann man hier keinen Jugendtreff betreiben.‘ Daniel: Und da waren die Jugendlichen so empört, dass sie das Ordnungsamt nicht reingelassen haben. Und – in den Augen des Ordnungsamtes – unverschämte Briefe zurückgeschrieben haben. Und wir haben immer gesagt: ‚Ladet die doch mal zu Kaffee ein, deckt schön den Tisch und quatscht mit denen und versucht, in Kontakt zu treten auf einer niedrigschwelligen Ebene.‘ Das konnten sich die Aktiven im Pferdestall nicht vorstellen, dass das eine sinnvolle Taktik

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sein könnte. Da ist man eher auf Konfrontation gegangen. Das hat sich hochgespult. [...] Wir dachten eher: bloß Dampf raus, bloß deeskalieren und haben beim Pferdestall gesehen: Oh man, die machen es die ganze Zeit immer noch viel schlimmer. So müssen sie sich nicht wundern, wenn sie so isoliert sind.“ (Niebrau_Berater_innen 1_ 348-380)

Aus den Gesprächen mit den Jugendlichen ergab sich für die Berater_innen der Eindruck, dass das als eskalierend wahrgenommene Verhalten der Jugendlichen nicht – oder nicht nur – einer bewusst eingenommenen politischen Haltung geschuldet, sondern auch Ausdruck von Überforderung und des Verlusts von Strukturwissen aufgrund des Generationswechsels war. Die nun aktiven Jugendlichen waren, so die Berater_innen, beinahe ausschließlich mit dem normalen Betrieb des Pferdestalls beschäftigt: „Daniel: Die Neuen, die nachkommen, haben erst einmal eher den Blick nach innen, die wenigen, die sich kümmern, kümmern sich um das Projekt, dass es läuft: Dass Konzerte stattfinden, wer macht den Tresen, wer putzt…“ (Niebrau_Berater_innen 1_616-618)

Schon die Aufrechterhaltung des normalen Betriebes des selbstverwalteten Jugendzentrums war für die zum Teil sehr jungen Jugendlichen herausfordernd, so die Berater_innen. Die Auseinandersetzungen mit der Polizei und dem Ordnungsamt, die Konflikte um die Blockade, die angedrohte Mittelkürzung und Nichtverlängerung der Nutzungsverträge sowie die Angriffe der Nazis stellten sich für die Jugendlichen als Bedrohung von allen Seiten dar. „Vera: Ich glaube, dass das für die, aus ihrer Sicht, alles ganz durcheinander gepurzelt ist. Naziangriffe, Ärger mit der Polizei und im Raum stehender Verlust der Räume. Das war für die alles eins.“ (Niebrau_Berater_innen 1_137-139)

In dieser Situation, in der, wie die Berater_innen formulieren, alles auf die Jugendlichen ‚einprasselte‘, ‚durcheinander purzelte‘ und der ‚Druck von allen Seiten‘ größer wurde, nahmen sie ihre Umwelt als gleichermaßen feindlich gesinnt wahr und waren kaum in der Lage, Handlungsmöglichkeiten im Umgang mit den rechten Angriffen zu überblicken sowie die notwendige Unterstützung für die eigenen Anliegen zu organisieren. „Vera: Der Pferdestall hat uns z.B. anfangs auch die Bürgermeisterin als absoluten Gegner des Pferdestalls beschrieben, was, wie sich jetzt heraus gestellt hat, gar nicht stimmt. Sie hat sich öffentlich zum Pferdestall bekannt und hat in internen Runden sich sogar positiv zur Blockade geäußert. Eher eine Freundin des Pferdestalls. Das ist natürlich eine wahnsinnig relevante Information. Aber der Pferdestall hatte die Bürgermeisterin völlig falsch eingeschätzt und wir damit tendenziell auch.

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Daniel: Die Pferdestall-Leute haben völlig den Anschluss verloren zur Verwaltung und zur Stadtpolitik, Parteipolitik. Sie hatten so gut wie keine Zugänge mehr und konnten vieles nicht einschätzen. Es ist alles auf sie eingeprasselt.“ (Niebrau_Berater_innen 1_606-614)

Die Entscheidung zur lokalen Intervention: eine (vorrangig) politische Problem- und Aufgabenbeschreibung der OBS Infolge der im letzten Kapitel skizzierten Probleme entstand für OBS dringender Handlungsbedarf. Ausgangspunkt der Aktivität der Berater_innen waren – entsprechend des vordringlichen Auftrages der OBS – rechte Angriffe auf den Pferdestall, in dessen Folge die OBS den Betroffenen Beratung und Unterstützung anbot. Die Berater_innen entscheiden sich auf Grundlage ihrer Problemanalyse aber, die Situation des Pferdestalls als vordringliche Aufgabe der Beratung und Intervention der OBS zu akzentuieren. Aus den Interviews lassen sich verschiedene mögliche Begründungen für diese Entscheidung rekonstruieren: Die Berater_innen berichten emotional involviert von der Situation in Niebrau. Die lange biografische und institutionelle Verbundenheit der Berater_innen mit dem Jugendzentrum könnte ein Hintergrund dafür sein, dass die Berater_innen sensibel auf die veränderte Situation in Niebrau reagierten und alarmiert Handlungsbedarf sehen. Der Erhalt von Orten alternativer Jugendkultur ist für die Berater_innen ein auch unabhängig von rechter Gewalt wesentliches Anliegen, welches in ihrer politischen Haltung – auch jenseits des Auftrages als Opferberater_innen und persönlicher Verbundenheit mit dem Pferdestall – begründet ist. Mit der Akzentuierung des Handlungsbedarfes in Bezug auf die Situation des Pferdestalls greifen die Berater_innen zugleich konzeptionelle Überlegungen der OBS (vgl. Kapitel 1.1) auf. Eine lebendige alternative Jugendkultur wird hier als wesentlicher Beitrag gesehen, um rechten Hegemonie-Ansprüchen etwas entgegenzusetzen. Der von den Berater_innen wahrgenommene Handlungsbedarf ist hier in einer Aufgabenbeschreibung begründet, die die OBS im Rahmen ‚Engagement gegen rechts‘ verortet und den Zusammenhang zwischen rechter Gewalt und der Ausbreitung bzw. Bekämpfung von rechten Hegemonie-Ansprüchen thematisiert. Die Berater_innen formulieren als weiteren Begründungszusammenhang für die Handlungsentscheidung, die Situation des Pferdestalls in den Mittelpunkt zu rücken, dass die Möglichkeit der Unterstützung der einzelnen Gewaltopfer durch das Zusammenspiel der Problemkomplexe verstellt gewesen sei. Die Konflikte mit der Polizei und die prekäre Situation des Pferdestalls behinderten die Handlungsmöglichkeiten der Gewaltbetroffenen. Die Betroffenen nahmen die Polizei nicht als unterstützend wahr, und die Situation des Pferdestalls schien aus Sicht der Jugendlichen auf so unterschiedlichen Ebenen bedroht, dass sie sich immer weiter isolierten. Dadurch waren den direkt Betroffenen sowie den Nutzer_innen des Pferdestalls als potenziell und indirekt Betroffenen Handlungsmöglichkeiten im Umgang mit der Gewalt verstellt. Den Druck, dem der Pferdestall und die jugendlichen Nutzer_innen ausgesetzt

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waren, zum Gegenstand der Intervention zu machen, ist also damit begründet, bislang verstellte Möglichkeiten des Umgangs mit der Gewalterfahrung zugänglich zu machen. Als weitere Begründung nennen die Berater_innen, dass sie das alternative Jugendzentrum als eine wichtige Ressource für die Verarbeitung der Gewalterfahrung der Jugendlichen verstehen, die hier in ihrer Zugehörigkeit zur alternativen Jugendkultur Anerkennung und Solidarität erfahren und sich vor Anfeindungen sicher fühlen können. 7.3.2

Beratungsstrategie und Fallentwicklung

Anzeigenstellung als Zielstellung der OBS Die Berater_innen beschreiben das Bemühen um die Herstellung des Kontaktes zu den Betroffenen der Gewalt und die Etablierung eines Beratungsverhältnisses mit den im Pferdestall engagierten Jugendlichen als ersten Beratungsschritt. Als zentrale Problemstellung sahen die Berater_innen die Diskrepanz zwischen veröffentlichten und angezeigten Angriffen. Dass „einerseits alle Fälle öffentlich bekannt waren, aber gleichzeitig überhaupt nichts angezeigt wurde“, hatte aus Sicht der Berater_innen nicht nur Brisanz, weil dadurch die Polizei verärgert war. Auch gegenüber potenziellen Unterstützer_innen gelang es den Jugendlichen nicht, ihre Situation nachvollziehbar darzustellen (Niebrau_Berater_innen 1_683-686). Wesentlich war zudem, dass durch das Agieren des Pferdestalls die direkt Betroffenen der Angriffe persönlich unter Druck gerieten, da sie sich nicht selbst für die Veröffentlichung der Vorfälle auf der Internetseite des Jugendzentrums entschieden hatten, aber in der Konsequenz mit der Einschätzung der Polizei leben mussten, nicht glaubwürdig zu sein. Die Berater_innen beschlossen daher, mit den im Pferdestall engagierten Jugendlichen über ihre Haltung zur Veröffentlichung und Anzeigenstellung der Sachbeschädigungen und Bedrohungssituationen zu diskutieren. Dabei warben die Berater_innen deutlicher als in anderen Fällen für das Anzeigen von Angriffen. „Vera: Wir haben sehr viel Überzeugungsarbeit gemacht beim Pferdestall, dass Anzeigen wichtig sind, wenn ihr mit irgendetwas argumentieren wollt, um der Sache wegen, braucht man Anzeigen usw. [...]. Daniel: [...] sind auch einmal zum Plenum vom Pferdestall gefahren, um mit ihnen auch politisch den Sinn und Zweck von Anzeigenstellung zu diskutieren. Was bringt es dem Pferdestall? Wie kann man damit politisch arbeiten? Das haben sie ja gemacht. Aber wie macht man sich auch politisch angreifbar, wenn die Sachen nicht angezeigt und damit nicht offiziell dokumentiert sind? Damit gibt man auch die Vorlage dafür, dass diskutiert wird, dass die Fälle gar nicht angezeigt werden, bestimmt auch keine rechten Angriffe sind, es gibt keine Beweise dafür, das behaupten die Jugendlichen doch nur wild... So etwas wollten wir mit ihnen diskutieren.“ (Niebrau_Berater_innen 1_383-403)

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Die Problematik der Kontaktaufnahme mit Betroffenen und Anzeigenstellung spitzte sich in den ersten Monaten nach Beginn des Beratungsprozesses weiter zu. Während ab Sommer 2010 Sachbeschädigungen, die sich gegen den Pferdestall richteten, Beratungsanlass waren, kamen ab Februar 2011 Angriffe auf Besucher_innen des Pferdestalls dazu. Zwischen Februar und Mai 2011 ereigneten sich vier Fälle mit einem ähnlichen Muster: Jugendliche und junge Erwachsene, die dem Pferdestall zuzuordnen waren, wurden z.T. brutal zusammengeschlagen. Die Täter_innen, die ihren Opfern oft in der Nähe des Pferdestalls auflauerten, waren in allen Fällen vermummt. Auch ein migrantisch geführtes Restaurant wurde angegriffen. In den nächsten Monaten sammelten sich immer wieder Neonazis aus Niebrau sowie aus umliegenden Orten vor dem Pferdestall und versuchten, in das Haus einzudringen. Die Konfliktsituation zwischen Polizei und Pferdestall hatte sich auch im Zusammenhang mit der Blockade der Nazidemonstration weiter verschärft. Nachdem Jugendliche schon im Vorfeld der Demonstration zur Polizei vorgeladen worden waren, war nach der Blockadeaktion ein Großteil der im Pferdestall aktiven Jugendlichen mit Anzeigen konfrontiert. Jugendliche, die einer Ladung nachgekommen waren, berichteten, von der Polizei sehr umfänglich zu Zusammenhängen im Pferdestall befragt worden zu sein. In Zeitungsartikeln wurde der Pferdestall mit Linksextremismus und Gewaltbereitschaft in Verbindung gebracht. Wieder veröffentlichte der Pferdestall die rechten Angriffe, die jedoch nicht bei der Polizei angezeigt worden waren, und die Polizei äußerte öffentlich, dass sie davon ausgehe, dass die Angriffe von den Jugendlichen nur behauptet seien. Den Berater_innen war vor diesem Hintergrund die Kontaktaufnahme zu den Betroffenen und eine polizeiliche Anzeige der Angriffe noch wichtiger. Die Kontaktaufnahme zu den Betroffenen erwies sich als schwierig, es gelang aber schließlich, mit einem Großteil der Betroffenen ins Gespräch zu kommen. Mit vier Betroffenen, die im Kontext des Pferdestalls angegriffen worden waren, wurden Einzelberatungen aufgenommen. Es bestätigte sich, so die Berater_innen, dass die Betroffenen nicht bereit waren, zur Polizei zu gehen, weil sie befürchteten, hier erneut kriminalisiert zu werden. Es war schwierig, so schildert Vera, die Betroffenen davon zu überzeugen, die Gewalttaten anzuzeigen. „Vera: Weil sie real bei Anzeigeversuchen so schlecht behandelt wurden. Oder in anderen Zusammenhängen von der Polizei schlecht behandelt worden sind. Z.B. mit diesem Militarismustransparent haben viele schlechte Erfahrungen gemacht und hatten deswegen keine Lust auf die Polizei. Aber ich würde sagen, im Wesentlichen waren unsere Diskussionen erfolgreich, es sind einige dann mit uns zur Anzeigenstellung gegangen.“ (Niebrau_Berater_innen 1_387-391)

Nach der Rekonstruktion der Gründe für die Entscheidung, nicht anzuzeigen, zielte das Beratungsangebot darauf, die Hürde der Anzeigenstellung herunterzusetzen. Die Berater_innen boten den Betroffenen an, sie bei der Anzeigenstellung zu begleiten

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und bereiteten die Anzeigenstellung vor, indem sie übliche Abläufe von Ermittlungsverfahren und polizeiliche Vorgehensweisen erläuterten. Durch die offensive Begleitung durch die OBS sollte u.a. Druck auf die Polizei ausgeübt werden, sich gegenüber den Opferzeug_innen korrekt zu verhalten. „Daniel: Ich habe bei der Polizei angerufen und Termine vereinbart, bin mit den Leuten da hingefahren und war bei den Leuten, die minderjährig waren, bei der Vernehmung mit drinnen und bei den anderen bin ich ohne vernünftige Erklärung rausgeschickt worden. [...] Und alle Betroffenen haben gesagt, dass es total positiv war. Vorher war es ja so, dass sie bei Zeugenaussagen zu allen möglichen anderen Sachverhalten auch befragt wurden und ihnen die Pistole auf die Brust gesetzt wurde, dass sie jetzt etwas sagen müssten. Das war jetzt gar nicht mehr so, sie sind nur zu dem betreffenden Sachverhalt gefragt worden.“ (Niebrau_Berater_innen 1_689-679)

Parallel bemühten sich die Berater_innen, Kontakt zur Polizei aufzunehmen, um weitere Informationen über die Hintergründe der von den Jugendlichen berichteten Konfliktsituation zu bekommen und um, nach Möglichkeit, vermittelnd Einfluss nehmen zu können. Die Berater_innen führten mehrere Telefonate und trafen sich persönlich mit zwei in den Körperverletzungen ermittelnden Beamten, dem Wachenleiter sowie dem Leiter der Kriminalpolizei. „Vera: Ziel des Gesprächs war, Verständnis zu vermitteln, warum junge Gewaltopfer möglicherweise keine Lust haben, mit der Polizei zu reden. Der Polizei auch zu sagen, dass Jugendliche z.T. schlechte Erfahrungen mit der Polizei gemacht haben. Das zu erklären und einen Modus zu finden, dass man miteinander zurechtkommt. Das hat überhaupt nicht geklappt, die Polizei war sehr überzeugt von ihrer Herangehensweise und ihrer Position und hat sich keinen Millimeter bewegt.“ (Niebrau_Berater_innen 1_657-662)

Die weitere Strategie der Berater_innen in Bezug auf den Umgang mit der Polizei richtete sich darauf, mit den Nutzer_innen des Pferdestalls ein Verständnis der Abläufe polizeilicher Arbeit zu erarbeiten, um strategisch damit umgehen zu können und zugleich durch das Herstellen einer kritischen Öffentlichkeit auf die polizeiliche Praxis einzuwirken. Durch die Begleitung der Jugendlichen zur Anzeigenstellung und die von den Berater_innen geführten Gespräche sollte der Polizei signalisiert werden, dass ihr Handeln kritisch beobachtet werde, um Willkür einzudämmen. Die Berater_innen berichten über ein Gespräch, zu dem die Bürgermeisterin die Polizei, Vertreter_innen des Jugend- und Ordnungsamtes, der Stadtverwaltung und Kommunalpolitik, des zivilgesellschaftlichen Bündnisses sowie Jugendlichen aus dem Pferdestall eingeladen hat, um das Thema ‚rechte Gewalt‘ und die Situation des Pferdestalls zu besprechen. Hier gewannen die Berater_innen, die die Jugendlichen auf deren Wunsch begleiteten, den Eindruck, dass die Polizei gemeinsam mit den

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Leiter_innen von Ordnungs- und Jugendamt offensiv das Interesse verfolgte, den Pferdestall zu delegitimieren. Allerdings wurden im Gespräch auch Positionen artikuliert, die den Pferdestall stärkten. Nicht nur die Jugendlichen haben ihre Sichtweise darstellen können, auch die langjährige Sprecherin der Plattform, Ulrike Beer, berichtete von eigenen Erfahrungen mit der Polizei, die die Berichte der Jugendlichen stützte. „Daniel: Und das ist natürlich etwas ganz anderes, wenn sie als Erwachsene, nicht als Pferdestall, genau das gleiche berichtet, wie die Jugendlichen vom Pferdestall. Vera: Auf die Leute vom Pferdestall hat die Polizei immer noch entgegnet: ‚Wieso, wir sind ja die Polizei, weil wir die Polizei sind, können wir ja gar nicht die Leute schlecht behandeln. Es ist vorgesehen, wie man ermittelt. Sachverhalte muss man eben umfänglich ermitteln.‘ Und Ulrike Beer hat das etwas gerade gerückt. Und in der Mitte saß dann die Bürgermeisterin und der Vorsitzende der Stadtverordnetenversammlung und haben sich das alles angehört und haben merklich nicht die Version der Polizei eins zu eins übernommen, sondern hatten einen Blick darauf, dass es diesen Jugendclub in Niebrau geben soll.“ (Niebrau_Berater_innen 1_753-761)

Aus Sicht der Berater_innen ist die Strategie im Umgang mit der Gewalt erfolgreich gewesen. Zwölf von dreizehn Fällen rechter Gewalt, die die Berater_innen der Gewaltwelle im Jahr 2011 zurechneten, sind zur Anzeige gebracht worden. Im Juli 2011 bricht die Gewaltwelle ab, nachdem die Polizei eine Gruppe vermummter und bewaffneter Neonazis aufgegriffen hatte, die nachts einen Jugendlichen aus der alternativen Szene durch die Innenstadt hetzte. Das Ende der Angriffe bedeutete eine Verschiebung der vordringlichen Problemkonstellation in der in vielfacher Hinsicht prekären Situation des Pferdestalls. Es bedeutete aber, so die Berater_innen, insgesamt eine deutliche Entlastung für die Jugendlichen. Die zu Beginn der Intervention zentrale Problemstellung, dass die von den Jugendlichen massiv empfundene Bedrohungssituation von Außenstehenden nicht wahrgenommen bzw. von der Polizei negiert wurde, bestand nun nicht mehr: Niemand stellte mehr infrage, dass es die ‚Angriffswelle‘ gegeben hat, so die Berater_innen. Stärkung des Jugendzentrums Pferdestall im lokalen Kontext Wie oben beschrieben, sahen die Berater_innen die Problematik der Angriffe im Kontext der zunehmenden Isolierung des Pferdestalls in der Stadt Niebrau, die sie einerseits auf veränderte Kräfteverhältnisse und Diskurse in Niebrau und andererseits auf das fehlende strategische Geschick der Jugendlichen zurückführten. Die Berater_innen planten daher, die Jugendlichen im Pferdestall in der Strategieentwicklung zu begleiten und zu unterstützen sowie bei potenziellen Bündnispartner_innen für Unterstützung zu werben.

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Vor dem Hintergrund des von den Berater_innen wahrgenommenen Verlusts an strategischem und Kontextwissen der im Pferdestall Engagierten und der daraus resultierenden Überforderung schlugen die Berater_innen vor, gemeinsam mit den Jugendlichen im Pferdestall eine Netzwerkkarte zu erstellen, um sich einen Überblick zu erarbeiten, welche Akteur_innen in der Stadt wie zum Pferdestall stehen, um eine realistische Einschätzung über die Situation und mögliche Unterstützungsstrukturen zu bekommen. Geplant war, die Informationen der Jugendlichen durch Recherchen und Strukturwissen der Berater_innen so zu ergänzen, dass die Problemkonstellation besser durchschaubar und mögliche Lösungswege erkennbar waren. Der Vorschlag wurde allerdings von den Jugendlichen im Pferdestall praktisch nicht aufgegriffen. Auch andere Angebote, die auf eine gezielte Strategieentwicklung bzw. Organisationsentwicklung mit den Nutzer_innen des Pferdestalls zielten – z.B. eine Zukunftswerkstatt zur Entwicklung des Pferdestalls, eine Informationsveranstaltung ‚Was tun bei rechter Gewalt?‘ und ein Elternabend, nachdem ein großer Teil der Jugendlichen nach der Blockade der Nazidemonstration Vorladungen zur Polizei bekommen hatte8 – wurden praktisch nicht realisiert. Die Berater_innen vermuteten als Hintergrund für das Nichtzustandekommen solcher systematischer Treffen eine Überforderung der im Pferdestall aktiven Jugendlichen. Diese beklagten, dass zu wenige Nutzer_innen des Pferdestalls bereit seien, Verantwortung zu übernehmen, so dass schon der alltägliche Betrieb zur großen Herausforderung werde. Gespräche über die Einschätzung der Situation und mögliche Strategien des Pferdestalls fanden vor diesem Hintergrund vor allem im informellen Rahmen und mit einzelnen engagierten Jugendlichen statt. Statt systematischer Treffen mit klarer Agenda fuhren die Berater_innen mehrfach zu den offenen Abenden im Pferdestall und setzten sich dort mit den Interessierten zusammen oder sie sprachen mit Einzelnen und kleinen Grüppchen am Rande von Veranstaltungen, wie einer Nazidemonstration oder einem von Jugendlichen aus dem Pferdestall organisierten Nachbarschafts-Frühstück bei der Unterkunft für Asylbewerber_innen in Niebrau. „Daniel: Also, diese anfängliche Zeit, da haben wir ja immer mit so vier Leuten zusammengesessen, da haben wir auch echt immer lange geredet, wenn wir da waren. Über alles Mögliche.“ (Niebrau_Berater_innen 1_ 432-434)

Die Berater_innen griffen auf ein Beratungssetting zurück, das nah am Alltag der im Pferdestall engagierten Jugendlichen orientiert war und auch ein breites Themenfeld abdeckte.

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Hintergrund für die Idee des Elternabends war, dass die Jugendlichen von Problemen mit ihren Eltern berichtet hatten, die ihnen aufgrund der von der Polizei eingeleiteten Ermittlungsverfahren im Zusammenhang der rechtsextremen Demonstration Vorwürfe machten.

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„Vera: Ich habe mal zwei Abende da gesessen [...] und mit den Aktiven ganz allgemein beraten, wie man den Pferdestall wieder besser laufen lassen kann: Bietet was an, ihr müsst da Leben in den Laden bringen, macht doch eine öffentliche Bar/Café-Schicht, bietet den ganzen Jugendlichen, von denen ihr wollt, dass sie sich engagieren, die Möglichkeit, sich hinter den Tresen zu stellen, dann könnte man noch dieses und jenes tun. Ihr müsst die Tür nur richtig aufmachen.“ (Niebrau_Berater_innen 1_500-505)

Entsprechend des von der OBS entwickelten Problemverständnisses berieten die Berater_innen die im Pferdestall engagierten Jugendlichen dahingehend, sich um Bündnispartner_innen zu bemühen, weniger konfrontativ aufzutreten und sich als wertvolles Jugendprojekt in Niebrau zu präsentieren. „Vera: Vielleicht ist das besser zu erreichen, wenn man die Tür nicht immer zuhaut, sondern man muss die Bude einmal ganz doll putzen und schön herrichten und dann können sie mal kommen und sich das angucken. Wir dachten eher: bloß Dampf raus, bloß deeskalieren.“ (Niebrau_Berater_innen 1_ 375-378)

Einer der ersten Schritte der Berater_innen war des Weiteren, Kontakt zu einer PeerStruktur herzustellen, dem Netzwerk selbstverwalteter Jugendzentren in Ostdeutschland (Netz AJZ-Ost), in das der Pferdestall seit seiner Gründung eingebunden war. Das Netz AJZ-Ost hatte insbesondere im Entstehungsprozess des Pferdestalls die wesentliche Funktion, gegenseitige Unterstützung zu koordinieren, Informationen und Erfahrungen weiterzugeben, Ideen für Projekte zu entwickeln und sich gemeinsam Know-how zu Themen wie Vereinsgründung, Finanzierungsmöglichkeiten etc. anzueignen. Über die Jahre blieb die kontinuierliche Vernetzung, die Unterstützung neu entstehender Projekte sowie die gegenseitige Beratung und Unterstützung bei auftretenden Problemen bestehender AJZ wesentliche Funktion des Netzwerkes. „Vera: Erst einmal haben sie Einfluss auf den Pferdestall. Der Pferdestall ist im Netz AJZ-Ost, es gehen immer welche auf die Treffen, die kennen sich und finden sich gut und das Netz hat Know-how. Da sind ja etliche Städte aus Ostdeutschland vertreten, verschiedene Projekte mit grob vergleichbaren Problemen und Erfahrungen, wie man damit umgehen kann. Also das Netz stellt Kompetenz zur Verfügung.“ (Niebrau_Berater_innen 1_ 212-218)

Trotz der früher sehr engen Eingebundenheit (der Pferdestall galt als ‚alter Hase‘ und besonders gut etabliertes Projekt) hatten die aktuell im Pferdestall engagierten Jugendlichen noch nicht mit dem Netz AJZ-Ost über die aktuelle Problemlage gesprochen. Die Berater_innen regten gegenüber den Jugendlichen im Pferdestall an, den Kontakt zum Netz AJZ-Ost zu suchen und sprachen zugleich selbst das Netz an, um die Situation in Niebrau zu diskutieren.

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„Vera: Wir haben gesagt: ‚Wir haben den Eindruck, da brennt’s, ihr müsst da mal hin, sonst geht da was schief.‘ Wir haben ein bisschen Alarmismus betrieben.“ (Niebrau_Berater_innen 1_ 227-229)

Begleitend zum Kontaktaufbau und der Beratung der im Pferdestall aktiven Jugendlichen planten die Berater_innen, Gespräche mit lokalen Akteur_innen zu führen, um die Situation zu deeskalieren, für den Erhalt und Unterstützung des Pferdestalls zu werben und – nicht zuletzt – die eigene Problemanalyse zu differenzieren. „Daniel: Ziele waren eine Solidarisierung mit dem Pferdestall im weitesten Sinne! Wir wollten manche Sachen geraderücken, trennen, was sind Gerüchte und was sind Fakten. Und dafür zu werben, dass der Pferdestall eigentlich ein Schatz ist. Dass Niebrau sich glücklich schätzen kann, so eine Einrichtung zu haben und den Pferdestall eher unterstützen muss, als es zu bekämpfen und was es bedeuten würde, wenn es auf einmal wegfallen würde.“ (Niebrau_Berater_innen 1_ 579-283)

Wesentlich war für die Berater_innen insbesondere, Gespräche mit dem in Niebrau aktiven MBT zu führen. Das MBT ist eigentlich ein wesentlicher Kooperationspartner der OBS. Im konkreten Fall erlebten die Berater_innen der OBS die Mitarbeiter_innen des MBT jedoch als sehr verärgert über den Pferdestall. Sie befürchteten, dass das MBT aufgrund der Auseinandersetzungen um die Proteste gegen den Naziaufmarsch, in denen das MBT deutlich Position gegen Blockaden bezogen hatte, an der beobachteten Distanzierung früherer Unterstützer_innen vom Pferdestall beteiligt war. Durch die Gespräche wollten die Berater_innen einen besseren Eindruck über die Haltung und Sichtweisen der Mitarbeiter_innen des MBT bezüglich der Situation des Pferdestalls gewinnen. Durch die Darlegung der eigenen Sichtweisen wollten die Berater_innen zudem für Verständnis für die Situation der Jugendlichen und für Unterstützung des Pferdestalls werben. Auch befürchteten sie, dass die negative Haltung der Mitarbeiter_innen des MBT gegenüber dem Pferdestall zu einer weiteren Eskalation der Situation beitragen könnte, da das MBT in den lokalen Auseinandersetzungen mit Rechtsextremismus eine sehr aktive Rolle einnahm. Auch mit anderen in der Plattform engagierten Akteur_innen sowie einem Abgeordneten der Linkspartei wurde Kontakt aufgenommen und ein Treffen vorgeschlagen, um über die Situation des Pferdestalls zu diskutieren. Ein solches Treffen kam nicht zustande. Stattdessen wurde mit verschiedenen Akteur_innen am Rande anderer Ereignisse gesprochen. Als entscheidende Gelegenheit, um sich mit lokalen Akteur_innen über die Situation des Pferdestalls auszutauschen, bezeichnen die Berater_innen die schon oben erwähnte, von der Bürgermeisterin einberufene, Gesprächsrunde. Während des Beratungsprozesses veränderte sich die anfangs von den Berater_innen als dramatisch wahrgenommene Problematik der zunehmenden Isolierung des

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Pferdestalls im Gemeinwesen. Zum Zeitpunkt des zweiten Interviews resümieren die Berater_innen eine deutliche Stabilisierung der Situation. Das Auslaufen des Nutzungsvertrages war kein Thema mehr, und die Jugendlichen waren in der Lage, die Auseinandersetzungen mit der Polizei wegen Ruhestörungen u.Ä. zu meistern und bei Problemen Hilfe in Niebrau zu organisieren. „Vera: Ich habe das Protokoll gelesen, was du geschickt hattest vom letzten Gespräch. Und da haben wir ja schon recht viel geschimpft: ‚Oh, die sollen mal gucken, wie die kommunizieren, nehmt euch doch mal zurück, entwickelt doch mal eine Strategie und so...‘ Daniel: Das haben sie geschafft. Vera: ...und genau diese Schritte sind passiert. Da sind wir vielleicht nur... wie wir da mit Engelszungen darum geworben haben, um eine ansprechende Präsentation der eigenen Anliegen... ich weiß nicht, ob das ausschlaggebend war und wer da noch alles mit drin rumgerührt hat. Ich glaube, unser Teil ist da wahrscheinlich eher klein. Aber man konnte beobachten, dass das, was wir uns gewünscht hatten, was wir uns zum Ziel gesetzt hatten, eine Umstellung der Kommunikationsstrategie des Pferdestall, das hat geklappt. Nicht perfekt, aber das hat so weit geklappt, dass die wichtigen Auseinandersetzungen da positiv ausgegangen sind.“ (Niebrau_Berater_innen 2_109-122)

Der Pferdestall hatte, so berichten die Berater_innen, begonnen, sich aktiv zu vernetzen, aus seiner Isolierung herauszutreten und Bündnispartner_innen zu organisieren. Statt Außenstehende pauschal als feindlich gesinnt zu betrachten, sei es gelungen, sich zu öffnen und auf potenzielle Unterstützer_innen zuzugehen und das Gespräch zu suchen, indem z.B. Lokalpolitiker_innen in die Räume des Pferdestalls eingeladen wurden oder mit konkreten Anliegen um Unterstützung gebeten wurde. Dadurch wurde tatsächlich auf unterschiedlichen Ebenen (z.B. in landesweiten Netzwerken, im Jugendhilfeausschuss, in der Kommunalpolitik) Unterstützung für den Pferdestall mobilisiert, die zur deutlichen Verbesserung der Lage im Jugendzentrum beigetragen hat. „Vera: Die Bürgermeisterin war beim Tag der offenen Tür und hat in die Kamera gesprochen. Also, die haben wirklich angefangen, Leute anzusprechen und zu gucken, wer unterstützen könnte. […] Dadurch sind andere Leute von außen erst aufmerksamer geworden und haben gesehen, dass es mit dem Pferdestall Probleme gibt. Weil sie angesprochen wurden.“ (Niebrau_Berater_innen 2_319-325)

Wesentliche Bedingung für diese positive Entwicklung war zudem eine Verschiebung der gesellschaftlichen Diskussion um den Umgang mit den rechtsextremen Aufmärschen. Die Eskalation der Diskussion um die Blockade der Nazidemo zum Volkstrauertag fand im Kontext einer bundesweiten Diskussion zur Gefahr des ‚Linksextremismus‘ statt.

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Wie in Kapitel 1.1 ausgeführt, forcierte insbesondere die Ministerin Kristina Schröder, die zwischen 2009 und 2013 das BMFSFJ führte, die ‚Extremismustheorie‘ und setzte sich insbesondere für die Bekämpfung von ‚Extremismus von links‘ ein. Diese bundesweite Problematisierung von ‚Linksextremismus‘ kann als ein Hintergrund dafür gesehen werden, dass die Auseinandersetzung um Protestformen in Niebrau eine besondere Brisanz erhielt und Akteur_innen schneller bereit waren, sich vom Pferdestall zu distanzieren. Die Rezeption und der Einfluss des Diskurses über die Gefahr eines linken Extremismus wurden in den nächsten Monaten in Niebrau jedoch brüchig und konnte sich nicht als hegemoniale Deutung durchsetzen. Ein halbes Jahr nach der Eskalation der Diskussion um die Blockadeaktionen meldeten Rechtsextreme eine erneute Demonstration an. Nun entschied sich die Plattform im Vorfeld, gemeinsame Blockadeaktionen zu initiieren und lud einen Vertreter des Bündnisses Dresden Nazifrei zu einem Vorbereitungstreffen ein. Die Blockaden waren erfolgreich, die Nazis brachen nach wenigen Metern ihre Demonstration ab. Die Polizei ging auch diesmal massiv gegen Teilnehmer_innen der Blockaden vor. Es wurden Personalien von Demonstrationsteilnehmer_innen aufgenommen und Anzeige gegen sie gestellt. Diesmal waren allerdings nicht in erster Linie Jugendliche aus dem Pferdestall betroffen, sondern Demonstrant_innen aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Kreisen. In der Folge stand das Vorgehen der Polizei im Mittelpunkt der öffentlichen Kritik. In der Plattform sowie im Jugendhilfe-Ausschuss wurde die Kriminalisierung von zivilem Ungehorsam kritisch diskutiert und sich explizit gegen den vom Verfassungsschutz geprägten Extremismusbegriff positioniert. „Vera: Vor ein paar Wochen war so ein Zeitungsartikel aus der Lokalausgabe der [Name], der ist mir so im Gedächtnis geblieben, da haben sie eine Veranstaltung gemacht zur Extremismusklausel und das war dann so ein Kommentar vom Redakteur, der so in die Richtung ging: Man hört ja viel über den Pferdestall und diese Zottel und was wurde nicht alles diskutiert, aber jetzt war ich mal bei diesem Seminar und hoppla, da sitzen da so junge Leute an einem Wochenende und diskutieren den ganzen Tag über ein politisches Thema und bilden sich eine Meinung dazu. Was wollen wir denn mehr. Das ist doch alles wunderbar. Also, so ein Zeitungsartikel wäre vor einem Jahr noch oder so undenkbar gewesen. Und daran mache ich es fest, wie gestärkt die sind.“ (Niebrau_Berater_innen 2_195-203)

Schließlich gelang es dem Verein des Jugendzentrums, ein Ersatzgebäude zu erwerben. Ein ehemaliges Fabrikgebäude sollte nach und nach ausgebaut, von der Jugendwohngruppe bewohnt und von den Kneipen- und Veranstaltungsräumen und weiteren Projekten bezogen werden. Die Gefahr, die Räume des Jugendzentrums zu verlieren, war damit gebannt. Auseinandersetzungen mit der Polizei und mit dem Jugendamt blieben allerdings an der Tagesordnung.

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7.4

D IE

SUBJEKTIVE G EWALTERFAHRUNG IM ALTERNATIVER J UGENDKULTUR

K ONTEXT

Im Fokus der Interviews mit den Berater_innen stand die Intervention rund um die Situation des Pferdestalls in Niebrau. Die Beratung einzelner Betroffener ist bisher nur am Rand thematisiert worden. Die Berater_innen schildern, dass mit insgesamt vier Jugendlichen, die im Kontext des Pferdestalls angegriffen worden waren, ein Beratungsverhältnis aufgenommen wurde. Aus Sicht der Berater_innen bestand aber auf Seiten der Betroffenen nur relativ wenig Beratungsbedarf. Zwei Betroffene beendeten das Beratungsverhältnis schon bald nach der Anzeigenstellung und lehnten alle weiteren Unterstützungsangebote ab. Mit zwei Betroffenen wurden Entschädigungsleistungen beantragt. Bis zur endgültigen Einstellung der Ermittlungsverfahren wurde über E-Mail, einige Telefongespräche sowie gelegentliche Treffen der Kontakt gehalten. Dann wurde ein Abschlussgespräch geführt. Einer der Betroffenen, die sich über längere Zeit beraten ließen, war Oliver, dessen Perspektive auf die Gewalterfahrung und den Beratungsprozess im Mittelpunkt der folgenden Abschnitte steht. 7.4.1

Die Deutung der Gewalt als Angriff auf die politische Gruppe

Oliver war zur Zeit des Angriffs dreiundzwanzig Jahre alt.9 Er machte eine handwerkliche Ausbildung, lebte bei seinen Eltern in Niebrau und besuchte den Pferdestall regelmäßig. Er schildert, dass er tagsüber mit Freunden bei einem Fußballspiel gewesen ist. Als durch Aufnäher und T-Shirt-Aufdrucke erkennbar linke Fans waren sie darauf gefasst gewesen, im Kontext des Stadionbesuches Probleme mit rechten Fans zu bekommen. Als sie aber ohne unangenehme Zwischenfälle am Abend in Niebrau ankamen, beschlossen die Freunde, den Abend bei einem Bier im Pferdestall ausklingen zu lassen. Um Zigaretten zu holen, ging Oliver allein über den Parkplatz eines gegenüberliegenden Supermarktes, wo ein Zigarettenautomat stand. Auf dem Rückweg zum Pferdestall traf er plötzlich – kurz vor der verschlossenen Tür des Pferdestalls – auf drei vermummte Personen. Er wurde geschlagen und getreten und mit Reizgas besprüht. „Oliver: Dann kamen von hier drei Leute auf mich zugerannt, vermummt und ich dachte so: o.k. das sind keine vom Pferdestall, die rennen nicht auf dich zu. Die haben auch nichts gesagt.

9

Im Interview hat Oliver explizit den Wunsch geäußert, sich mit dem Vornamen anzusprechen und zu duzen. Auch im Beratungsverhältnis haben sich Oliver und die Berater_innen geduzt. Ich habe mich daher auch in der Darstellung der Fallanalyse für die Verwendung des Vornamens entschieden.

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Keinen Ton. Und dann bin ich gleich losgerannt, bin dann hier um die Ecke, ich konnte ja nicht abkürzen. Bin dann weggerutscht und dann hat mich der eine schon von hinten gepackt und dann gab es einen Schlag von hinten und dann gab es gleich Pfefferspray von hinten. GK: Hua Oliver: Und dann, irgendwann, ich weiß nicht, ob gleich schon in dem Moment mein Handy aus der Tasche gefallen ist und auseinander gegangen ist oder später. Jedenfalls hat das dann irgendwie auf dem Boden gelegen. Und ich glaube, dann kam zwei oder drei Mal Pfefferspray. Und dann immer gegen den Rücken und den Kopf getreten. GK: Scheiße... Oliver: Und dann, das ging auch... ich weiß nicht, vielleicht ging das Ganze auch nur 30 Sekunden oder so. Ich habe auch nicht gebrüllt oder so, weil ich auch so geschockt war. Ich meine, man rechnet auch nicht... (...) Dann ist die Überraschung da. Also, ich habe ja vermutet, dass die da irgendwie über die Mauer... Dass die das von hier beobachtet haben, hier ist so eine Mauer um das Gelände rum, hier ist ein Park… Dass sie das irgendwie beobachtet haben. Die ist nicht hoch... Wie gesagt, dann ist das passiert. Dann sind die in diese Richtung abgehauen. Und ich habe mich dann irgendwie aufgerafft. Klamotten zerrissen, Pfefferspray noch in den Augen, mein Handy aufgesammelt, das haben sie zum Glück nicht mitgenommen, das war auch nicht kaputt, ist nur auseinander gegangen.“ (Niebrau_Betroffener_48-67)

Oliver interpretiert die Gewalterfahrung als Angriff auf eine Gruppe, der er selbst angehört. Er beginnt seine Schilderung des Vorfalls in der Wir-Form und berichtet, wie er sich in einer Gruppe ‚links‘ erkennbarer Fußballfans bewegte. „Oliver: […] Also, es war ein Samstag und wir waren mit ein paar Niebrauern beim Fußball und das war ein Spiel gegen [andere Mannschaft] und das ist ja eigentlich immer so'n gefährdetes Spiel.“ (Niebrau_Betroffener_25)

Er verortet sich selbst als Teil des Pferdestalls und Teil links-alternativer (Jugend-) Kultur in Niebrau. So beschreibt er sich als regelmäßigen Besucher des Pferdestalls und verwendet im Interview Formen wie ‚wir‘ oder ‚einer von uns‘, wenn es um den Pferdestall und seine Besucher_innen geht. Er weiß, wie im obigen Zitat deutlich wird, um die Möglichkeit, als Teil linker Subkultur zum Ziel rechter Angriffe zu werden und stellt auch an anderer Stelle seine persönliche Gewalterfahrung in den Kontext anderer Auseinandersetzungen mit Neonazis, die er zum Teil selbst miterlebt hat. Vor diesem Hintergrund interpretiert er die aktuelle Gewalterfahrung als stellvertretende Gewalt, die nicht gegen ihn persönlich, sondern gegen ihn als Teil linker Subkultur gerichtet ist. Obwohl er die Täter_innen nicht erkannt hat und der Angriff wortlos verlief, ist Oliver überzeugt, dass ihn der Angriff getroffen hat, weil er dem linken Pferdestall zugeordnet wird.

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„Oliver: Also, es waren ja schon mehrere Zeitungsartikel bekannt, dass es jetzt schon mehrere Angriffe gab, vorher, zwei Wochen vorher zum Beispiel, weil da ist ja immer das Sommerfest im Pferdestall, da wurde dann einer auf dem Heimweg, auch da in der Nähe angegriffen. Vermummte, Pfefferspray, gleiches Schema. Ja das war zwei, drei Mal [...] GK: Das heißt, für dich war es dann gleich klar, dass das ein rechter Angriff ist, weil es vorher diese anderen Angriffe gab? Oliver: Genau. Also, ich glaube, das wäre mir auch klar gewesen, wenn keine anderen Fälle gewesen wären.“ (Niebrau_Betroffener_115-131)

Oliver führt als weitere Begründung an, dass es keine anderen plausiblen Gründe für den Angriff gibt und entkräftet die von der Polizei vertretene Auffassung, dass es sich um eine interne Auseinandersetzung zwischen Pferdestallbesucher_innen gehandelt haben könnte. „Oliver: [Es gab ja, GK] gar keinen anderen Grund, gab ja keine internen Gründe! Ich kenne auch keine aus dem Pferdestall, die da von der Statur dazu gepasst hätten. Im Pferdestall sind ja jüngere Leute. Das hat einfach nicht gepasst. Für mich war das klar. Für mich war das... dass das ein Machtspiel sein sollte.“ (Niebrau_Betroffener_143-146)

Oliver stellt sowohl eigene frühere Erfahrungen mit Neonazis als auch Ereignisse, die er nicht selbst erlebt hat, in den Zusammenhang der aktuellen Gewalterfahrung, die er als Angriff auf die links-alternative Subkultur, als deren Teil er sich versteht, interpretiert. Er deutet die Gewalt als Machtspiel und positioniert sich als Mitglied einer Gruppe, die in dieses Machtspiel involviert ist.10 Vor diesem Hintergrund werden zunächst auch Handlungsmöglichkeiten als kollektive und politische Handlungsmöglichkeiten begriffen. Nach dem Angriff, so schildert Oliver, ging er in den Pferdestall, beantwortete knapp die Fragen anderer Besucher_innen zum Geschehen, wusch sich das Reizgas aus dem Gesicht und setzte sich danach noch für eine Weile in den Kneipenraum. Hier wurde von den Anwesenden das Vorgehen diskutiert. Es drehte sich zunächst um die Identifizierung der durch ihre Vermummung unerkannt gebliebenen Täter_innen. Einige der Anwesenden versuchten, die Täter_innen draußen zu finden, und drinnen wurde die Frage diskutiert, ob die Polizei verständigt werden soll. Oliver entschied sich zunächst dagegen, was er damit begründet, dass eine Verfolgung der Täter_innen nicht erfolgreich sein könne, da er niemanden erkannt habe. Damit erschien für ihn eine Anzeigenstellung politisch, aber auch persönlich nicht sinnvoll.

10 Die von Oliver gewählte Bezeichnung ‚Machtspiel‘ legt nahe, dass beide Seiten in gleicher Weise an dem ‚Spiel‘ beteiligt sind. Im diskutierten Fall geht die Aggression jedoch eindeutig von Seiten der Neonazis aus, die die alternativen Jugendlichen mit Gewalt einschüchtern, also einseitig versuchen, Macht auszuüben.

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Er schildert, die Situation direkt nach der Tat distanziert, ‚wie im Film‘, erlebt zu haben. „Oliver: Dann habe ich... ich weiß nicht, ob ich dann noch auf den Schock ein Bier getrunken habe, jedenfalls bin ich dann los, mein Bruder war auf irgendeinem Geburtstag, da wollte ich dann da hin und mit ihm quatschen, ihm das erzählen, der war aber auch nicht da. Dann bin ich nach zehn Minuten wieder nach Hause gefahren.“ (Niebrau_Betroffener_83)

Am nächsten Tag – ein Sonntag – stellte er Hämatome (u.a. ein blaues Auge), Schürfwunden und Kopfschmerzen fest. Dennoch fuhr er am folgenden Montag zu seiner Ausbildungsstelle, meldete sich wegen starker Kopfschmerzen aber nach wenigen Stunden krank und fuhr zum Arzt, der die Verletzungen dokumentierte und ihn für eine Woche arbeitsunfähig schrieb. „Oliver: Fredi [ein im Pferdestall engagierter Jugendlicher, GK] war das dann, glaube ich auch, der das gesagt hatte. Mach ‘ne Anzeige. Ich sag: ‚Und was bringt das nachher? Bringt ja mir nichts, so.‘ Dann hatte er das, glaube ich, mit Daniel und Vera vorgeschlagen, von der OBS.“ (Niebrau_Betroffener_92-94)

Erst später ließ er sich von den Berater_innen der OBS überzeugen, dass eine Anzeigenstellung sinnvoll sein kann. In der Auseinandersetzung um die Anzeigenstellung als Handlungsstrategie wird deutlich, wie sowohl politische Perspektiven als Teil linker Subkultur als auch der individuelle Wunsch nach persönlicher Sicherheit als Prämissen in seine Handlungsentscheidungen eingehen. 7.4.2

Bewältigungsstrategien zwischen individuellen und politischen Perspektiven

Anhaltende emotionale Verunsicherung und Aufrechterhaltung des Alltags Oliver beschreibt die Gewalterfahrung im Interview als einschneidendes Erlebnis, das ihn auch drei Jahren danach noch beschäftigt. So stellt er gleich in der Eingangssequenz heraus, dass die Erinnerungen an den Angriff noch sehr lebendig sind und ihn in seinem Alltag begleiten. „GK: Das ist jetzt alles schon eine ganze Weile her. Das ist auch klar, dass die Erinnerung da manchmal nicht mehr ganz frisch ist... Aber für mich wäre super, wenn wir versuchen könnten, ein bisschen darüber zu reden, was da eigentlich passiert ist (...) Ich habe auch so ein paar Fragen vorbereitet, aber wenn dir was einfällt, einfach erzählen, ich würde gerne mit dir ins Gespräch kommen.

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Oliver: Mhm (bejahend). Weil du gerade gesagt hast, mit dem Vergessen... Also an sich, an dem Abend, vergessen, was da passiert ist, habe ich gar nicht. GK: Nee? Oliver: Nee, ich denke wirklich sehr, sehr oft, eigentlich jedes Mal, wenn ich abends in die Stadt gehe oder in den Pferdestall, denke ich jedes Mal daran. Auch so tagsüber, wenn ich da vorbeikomme oder so.“ (Niebrau_Betroffener_5-17)

Oliver schildert, dass er zwar direkt nach der Tat seinen Alltag wie gewohnt weitergeführt hat. Dass er aber einige Wochen später realisierte, dass ihn die Angst als Grundgefühl nicht loslässt und er sein Alltagsverhalten nach der antizipierten Möglichkeit erneuter Angriffe ausrichtet. „Oliver: Aber abends ist bei mir ein bisschen. Also, ich bin dann wirklich eine Zeit lang nur noch mit Fahrrad gefahren in die Stadt und hatte immer Pfefferspray dabei. Ich hatte vorher nie Pfefferspray dabei und habe jetzt immer selber Pfefferspray dabei. GK: Und das seitdem das da passiert ist? Oliver: Seitdem, das hatte ich vorher nicht. Das habe ich mir danach erst organisiert. Das habe ich auch bis jetzt nicht benutzen müssen. Aber ich habe es immer dabei. Und wenn ich allein unterwegs bin und laufe, dann habe ich es sogar griffbereit, dann habe ich es meistens schon in der Tasche.“ (Niebrau_Betroffener_284-292)

Im Verlauf des Interviews kommt Oliver immer wieder auf die Angst zu sprechen, die ihn seit der Tat begleitet. Wie präsent für ihn die Möglichkeit eines erneuten Angriffs ist, wird auch an der Weise deutlich, wie er im Interview in verschiedenen Zusammenhängen detaillierte Überlegungen zur Einschätzung der Gefahrenlage anstellt. So unterbricht Oliver am Ende des Interviews das lockere Plaudern über ein neu erworbenes Grundstück, in das das Jugendzentrum nach Auslaufen des bisherigen Mietvertrages umziehen wird, um über seine anhaltende Angst vor Angriffen zu sprechen: „Oliver: Aber was ich noch sagen wollte, jetzt mit der Fabrik. Also, ich würde in die Fabrik persönlich nicht einziehen wollen. GK: Warum? Oliver: Weil mir das zu offen ist. Da hätte ich persönlich auch Angst vor Angriffen. Der Pferdestall ist ein abgeschlossenes Ding. Da hast du nur zwei Häuserwände und von hinten kann niemand rankommen, da hast du den Hof. Ich würde auch nie im Pferdestall ein Fenster nach außen nehmen, zur Straße. Da hast du [in einem Zimmer zum abgeschlossenen Hof, GK] vielleicht im Sommer die Lautstärke, aber mir wäre die Sicherheit wichtiger. In der Fabrik ist das Gebäude so, dass du überall rankommst. Da würde ich auch kein Zimmer unten nehmen. Also, das ist auch so ein Ding: Der Ausgang geht nach hinten raus, also wenn da etwas direkt vor der

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Tür passiert, sieht das keiner. Beim Pferdestall ist die Straße ausgeleuchtet. Also, das ging mir auch schon durch den Kopf. GK: Und dass du dir solche Gedanken machst, wie sicher oder unsicher was ist, das ist seitdem? Oliver: Das auf jeden Fall, ja. Wie gesagt, auch der Heimweg oder so und wie ich dann wohne... Also, ich mache mir da schon viele Gedanken. Also, da im Pferdestall, ich kenne die Zimmer da alle, ich kenne die WG, die da ist. Also, ich würde mir da vielleicht ein Gitter ran machen, da sind schon so viele Steine reingeflogen. Aber das [in die ausgebaute Fabrik zu ziehen, GK] würde für mich erst einmal nicht infrage kommen.“ (Niebrau_Betroffener_566-583)

Oliver stellt die Beschreibung seines anhaltenden Angstgefühls in direkten Zusammenhang mit der Gewalterfahrung, sieht die Angst aber zugleich darin begründet, dass der Pferdestall sowie links-alternative Jugendliche auch vor und nach seiner eigenen konkreten Gewalterfahrung Ziel rechter Gewalt waren, die er teils selbst erlebt hat, teils aus Berichten kannte. Dabei wenden sich die Jugendlichen in den von Oliver geschilderten Bedrohungssituationen durchaus hilfesuchend an die Polizei, erfahren aber nicht den erwarteten Schutz, sondern gewinnen den Eindruck, dass die Polizei die Bedrohungssituation, der sie sich ausgesetzt sehen, unterschätzt. So beschreibt Oliver eine Situation, in der er mit ein paar Freunden beim Einlass zu einer Tanzveranstaltung auf eine zahlenmäßig und körperlich überlegene Gruppe von Neonazis traf. Olivers Gruppe entschied, woanders hinzugehen, um die Konfrontation zu vermeiden, wurde aber von den Rechten verfolgt. Sie suchten in der Polizeiwache Schutz. Die Strategie der Polizei, die Gruppen zu trennen und Olivers Gruppe einen Vorsprung zu geben, um nach Hause zu gelangen, erlebte Oliver als unzureichend. Um sich nicht trennen zu müssen, gingen alle in den Pferdestall. Dort tauchte kurze Zeit später auch die Gruppe der Rechten auf und begann, Steine zu werfen, so dass die Polizei gerufen wurde. Dies führte allerdings wieder nur zu einer kurzfristigen Entschärfung der Situation, da die Polizei die Rechten weder festhielt noch die Personalien aufnahm, sondern einfach wegschickte, wodurch Oliver und die anderen im Pferdestall versammelten Jugendlichen keine Möglichkeit sahen, sicher nach Hause zu kommen und schließlich ein Taxi nahmen. Bei Olivers Schilderung eines weiteren rechten Angriffs auf den Pferdestall, der sich ebenfalls nach seiner eigenen Gewalterfahrung ereignete, wird noch einmal deutlich, dass für ihn die Bedrohungssituation konstant anhält. Nach einem Fußballspiel in der Nachbarstadt ist eine Gruppe rechter Hooligans, die nicht ins Stadion gelassen wurde, unbemerkt von der Polizei nach Niebrau gefahren. Dort ist sie, so schildert Oliver, quer durch die Stadt zum Pferdestall gelaufen und hat dort Steine geworfen und an den Türen gerüttelt, bis die Polizei eintraf. „Oliver: Kann sein, wenn jetzt wieder irgendwas passiert. Ich sag mal, es kommt dann vielleicht wieder hoch, wenn man wieder was hat. [...] [Sie] haben ja dann quasi am helllichten Tag den Pferdestall angegriffen. Da gibt´s ja Fotos... Also, da hätte ich nicht gewusst, wenn ich da im

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Pferdestall gewesen wäre, wie es dann in der Situation gewesen wäre. Also, das waren ja 2030 Leute, und es waren bestimmt nicht 20-30 im Pferdestall gewesen. Das war, wo ich gedacht habe. Wow. Man weiß nie, wann was passiert. Es kann immer wieder sein, so wie damals.“ (Niebrau_Betroffener_305-317)

Aus Olivers Schilderungen lassen sich typische Symptome einer Posttraumatischen Belastungsstörung – wiederkehrende Gedanken an die Gewalterfahrung, dauerhaft erhöhte Alarmbereitschaft und Vermeidungsverhalten – rekonstruieren. Seine Schilderung erneuter Gewaltsituationen können als Beispiele für Retraumatisierungen gesehen werden, bei denen durch bestimmte Ereignisse die Erinnerung an Verletzungen so wachgerufen werden, dass Betroffene ähnliche psychische Reaktionen wie auf das traumatische Erlebnis selbst zeigen. Durch seine Beschreibung wird zugleich die Begrenztheit des PTSD-Konzeptes deutlich. In diesem wird mit dem Konzept der Retraumatisierung von einem abgeschlossenen traumatischen Ereignis ausgegangen, welches durch Reize so reaktiviert wird, dass die Betroffenen erneut wie auf ein traumatisches Ereignis reagieren, obwohl sie eigentlich in Sicherheit sind. Oliver beschreibt dagegen eine real anhaltende Bedrohungssituation. So lassen sich seine Angstgefühle nicht als blinde Reaktion auf eine Konfrontation mit Reizen erklären, sondern sind innerhalb konkreter Bedeutungskonstellationen zu verstehen. Vor dem Hintergrund seiner Verortung in der links-alternativen Jugendszene und seiner politischen Analyse der lokalen Situation in Niebrau, in der Neonazis organisiert auftreten und gewalttätig agieren, beziehen sich die Symptome auf eine konkrete Gefahrenanalyse und können als begründete Umgangsstrategien mit der Bedrohungssituation verstanden werden. Allerdings scheint diese Bedrohungssituation für Oliver durch die eigene Gewalterfahrung eine neue Qualität bekommen zu haben. Die generell bestehende Möglichkeit, von Nazis körperlich angegriffen zu werden, ist gewissermaßen näher gerückt. Während es bis dahin möglich war, das Wissen über die Möglichkeit eines Angriffs als abstrakte Möglichkeit zu verdrängen und davon auszugehen, dass es ‚mich nicht trifft‘, um so handlungsfähig zu bleiben, steht nun, nach dem Angriff, die Möglichkeit im Vordergrund, ‚dass es mich immer wieder treffen kann‘. Am Ende des Interviews stellt Oliver dann noch einmal heraus, dass die Angstgefühle zwar durch die eigene Gewalterfahrung in den Vordergrund gerückt, aber nicht auf diese zu reduzieren sind, sondern er sie im Kontext der wiederkehrenden Angriffe auf den Pferdestall und links-alternative Jugendliche versteht. „Oliver: Ich weiß nicht, inwiefern das Erlebnis, oder ob auch die anderen Sachen, das Scheiben einschmeißen und so, ob die auch damit zu tun haben.“ (Niebrau_Betroffener_585-586)

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Als wesentliche Umgangsstrategie mit der Angst schildert Oliver, einfach ‚weiter zu machen‘, weiter den Pferdestall aufzusuchen und sich in seinem politischen Bezugssystem zu bewegen.11 Sein emotionales Befinden war allerdings in diesem Bezugssystem nicht Thema. Auch ansonsten hatte Oliver kaum soziale Beziehungen, die das Thematisieren emotionaler Befindlichkeit ermöglichen.12 Hier hebt Oliver die Rolle der OBS hervor. Er kommt wiederholt darauf zurück, dass die Berater_innen der OBS ihm aufgrund seiner Angst angeboten haben, psychologische Hilfe zu vermitteln. Obwohl er das Angebot nicht wahrgenommen hat, bekräftigt er wiederholt seine positive Bewertung des Angebotes durch die Berater_innen, welches ihm signalisierte, dass diese seine Angst ernst nehmen. Die Berater_innen, so lässt sich als möglicher Begründungszusammenhang formulieren, haben für Oliver die Möglichkeit eröffnet, seine emotionale Belastung und Angst zu thematisieren. Anzeigenstellung und das problematische Verhältnis zur Polizei Oliver rekapituliert im Interview unterschiedliche Aspekte seiner Überlegungen zur Anzeigenstellung als Handlungsoption, die aus dem Pferdestall an ihn herangetragen wurde, und die er dann auch mit den Berater_innen der OBS besprach. „GK: Also, ich habe es richtig verstanden, oder, dass du das [den Vorfall bei der Polizei anzuzeigen, GK] erst einmal von dir aus nicht gemacht hättest? Oliver: Genau, weil für mich war das so ein bisschen, wenn ich jetzt erst mal so die Sache, inwiefern bringt das was und ich weiß nicht, was mit meinen Daten da passiert, wenn ich dann zur Polizei gehe und wie die damit arbeiten oder so, ja. Weil, wenn man das so hört, dass irgendetwas anderes passiert oder so. Ich bin dann eher so, als ich dann mit Daniel gesprochen habe, dass er dann gesagt hat, so, pass auf, du kannst da noch was bei rausholen, du kannst das ein bisschen aufarbeiten und vielleicht passiert dann auch was. Und es kommt dann halt auch in die Statistik mit rein. Sonst wäre das ja unter den Tisch gefallen. Also eher so die Sache. Also, er hat mir da nicht viele Chancen gegeben, dass da was bei rauskommt.“ (Niebrau_Betroffener_171-180)

Oliver begründet seine Entscheidung sowohl persönlich als auch politisch. Er formuliert Sorge über den Umgang mit seinen persönlichen Daten. Diese Sorge wird im Interview an verschiedenen Stellen aufgegriffen, wobei zwei Befürchtungen formuliert werden: Die eine Sorge ist, dass die Polizei die Anzeigenstellung und seine Daten nutzt, um gegen den Pferdestall ermitteln zu können. Er befürchtet zudem, dass

11 Er sagt dazu: „Das war, würde ich sagen, so ein bisschen therapiemäßig“ (Niebrau_Betroffener_304-305). 12 Das Verhältnis zu seinen Eltern erscheint distanziert. Obwohl er bei ihnen wohnt, hat er ihnen nicht von dem Angriff und damit von der Herkunft der deutlich sichtbaren Verletzungen erzählt. Als Vertrauensperson nennt er seinen Bruder.

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die Gruppe der Rechten seine Daten nutzen könnte. Damit ist aber nicht nur eine persönliche Gefährdung verbunden. Oliver versteht die Täter_innen auch als politische Gegner_innen, die die persönlichen Daten von Linken nutzen. Wenn die Rechten durch eine Anzeigenstellung die persönlichen Daten von Oliver bekämen, würde dies nicht nur den Druck auf Oliver persönlich, sondern auf die links-alternative Gruppe als Ganzes erhöhen. Ausgangsfrage ist für ihn, ob eine Anzeige zu einer tatsächlichen Verfolgung der Täter_innen führen würde, was wiederum die Gruppe der Täter_innen in Niebrau schwächen würde. Auch wenn die Berater_innen Oliver in seiner Einschätzung bestätigen, dass eine Verurteilung der Täter_innen nicht zu erwarten ist, lässt sich Oliver überzeugen, Anzeige zu erstatten. Dabei nennt er wiederum persönliche und politische Begründungen. Von den Berater_innen wurde als zentrale Problemdimension im Fall ‚Niebrau‘ das negative und von Misstrauen geprägte Verhältnis zwischen den Jugendlichen aus dem Pferdestall und der Polizei beschrieben, was auch in Olivers Schilderungen anklingt. In seiner Rekonstruktion der Entscheidung zur Anzeigenstellung äußert Oliver jedoch nicht die befürchtete Repression durch die Polizei als wesentliche Prämisse seiner Entscheidung. Gegenüber den Schilderungen der Berater_innen ist Olivers Beschreibung seines Kontaktes mit der Polizei während der Anzeigenstellung und Zeugenvernehmung deutlich zurückhaltend. Er schildert die Schwierigkeit, gegenüber der Polizei glaubhaft zu machen, von Neonazis verletzt worden zu sein. „Oliver: Naja, und da [bei der Kripo, GK] war halt erst mal: ‚Na, wie kommen Sie denn überhaupt darauf, dass das rechte Gewalt war‘ und so.“ (Niebrau_Betroffener_113-114)

In seiner Schilderung des Tatgeschehens fühlte Oliver sich immer wieder infrage gestellt. „Oliver: So: ‚Wie kommen sie denn darauf, dass das so die Tat war?‘ Und: ‚Wie geht denn das, da ist doch 'ne Mauer und da kommen sie doch gar nicht rüber.‘ Ich sag: ‚Die Mauer ist aber nur so hoch.‘ Solche Sachen halt, so wirklich alles hinterfragen und so ein bisschen, versuchen es umzudrehen, also einen unglaubwürdig zu machen.“ (Niebrau_Betroffener_194-198)

Oliver berichtet aber nicht empört von der Situation der Vernehmung und äußert auch nicht die Vermutung, dass die Beamten ihn als alternativen Jugendlichen absichtlich schikanieren wollten. Stattdessen übernimmt Oliver in seiner Schilderung sehr sorgfältig die Anforderungen, die aus Ermittlungssicht an eine brauchbare Zeugenaussage gestellt werden, indem er detailliert die Tatkonstellation schildert und versucht, seine Überlegungen zum Tathintergrund plausibel zu machen. Auch jenseits der Schilderung der Zeugenaussage bei der Polizei fällt im Interview die Genauigkeit auf, mit

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der er Details zum Tatgeschehen beschreibt. Er fertigt eine Zeichnung an, um zu erklären, woher genau die Täter_innen kamen und welchen Weg er aus welchen Gründen genommen hat und differenziert sorgfältig, welche Überlegungen und Schlussfolgerungen er aus welchen Gründen anstellt. Die Vergewisserung über die Plausibilität seiner Zeugenaussage bei der Polizei und die besonders sorgfältige Rekonstruktion des Tatgeschehens in Olivers Schilderung kann in verschiedener Weise interpretiert werden. Eine mögliche Deutung ist, dass Oliver den gegenüber der Polizei erlebten Rechtfertigungsdruck gewissermaßen verinnerlicht hat, und er auch in der Interviewsituation unter Beweis stellen muss, korrekte Aussagen zu machen und sich nichts auszudenken. Die detaillierte Rekapitulation des Tatablaufes wäre hier eine Reaktion auf die Erfahrung, dass die Richtigkeit seiner Aussage infrage gestellt und er als Teil der links-alternativen Jugendszene für die Gewalt mitverantwortlich gemacht wird. Eine weitere mögliche Erklärung für die detaillierten Überlegungen zum Tatablauf ist die nachträgliche Auseinandersetzung mit den eigenen Handlungsmöglichkeiten in der Situation. So setzt er sich in seinen Schilderungen mit der Frage auseinander, ob es für ihn Möglichkeiten gegeben hätte, den Angriff zu antizipieren und ihm auszuweichen. Sein Ergebnis, dass er nichts hätte machen können, ist für ihn entlastend und belastend zugleich. Es entlastet ihn von der Frage einer möglichen Mitschuld, bedeutet aber zugleich das Eingeständnis eigener Hilflosigkeit und verstetigt somit das Wissen, dass es jederzeit wieder passieren kann. Diese Art der Schilderung im Interview lässt sich auch als Zeichen interpretieren, dass Oliver ein strategisches Verhältnis zur Vernehmungssituation einnimmt. Um seine Handlungsstrategie, den Vorfall anzuzeigen, zu verfolgen, eignet er sich die Ermittlungsperspektive der Polizei an und nimmt die unangenehm kritischen Nachfragen der Polizei in Kauf, ohne sie als persönlichen Angriff zu deuten. Auch schildert er, dass der vernehmende Beamte entgegen seinem Wunsch nicht zugelassen hat, dass der Berater Daniel als Vertrauensperson bei der Vernehmung anwesend ist. Ohne den Berater der OBS vernommen zu werden, bedauert Oliver zwar zunächst, bewertet seine Nichtanwesenheit während der Vernehmung rückblickend allerdings als positiv in Bezug auf seine Glaubwürdigkeit. „Oliver: Also, mir wäre es natürlich lieber gewesen, wenn er mit drin gewesen wäre. Aber (...) auf der einen Seite war es vielleicht auch gut, dass er nicht mit drin war, weil man guckt dann auf die Person vielleicht und vielleicht kommt das dann so vor, als ob ich erzähle, was er mir vorher gesagt hat. Deswegen. Aber naja. [kurzes Lachen]“ (Niebrau_Betroffener_189-192)

Trotz der beschriebenen Schwierigkeiten formuliert Oliver abschließend die Einschätzung, dass es ihm letztlich gelungen ist, den Vernehmungsbeamten zu überzeugen.

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„Oliver: Aber ich glaube, im Endeffekt hat er es am Schluss dann auch gemerkt, dass es wirklich wahr ist, was ich erzähle.“ (Niebrau_Betroffener_198-199)

Oliver schildert durchaus die unangenehmen Dimensionen der Zeugenbefragung: Dazu gehören die beschriebenen Konflikte zwischen Polizei und Pferdestall und einer Tatkonstellation, durch die Oliver nur wenig belastbare Hinweise zur Identität und Tatmotivation der Täter_innen liefern konnte. Es gelingt ihm aber, die subjektiv unangenehme Befragungssituation zumindest teilweise durch den Ermittlungsauftrag der Polizei begründet zu sehen und sich bewusst dazu zu verhalten. Es ist davon auszugehen, dass dieser strategische Umgang durch die Beratung der OBS ermöglicht wurde, in der die Vermittlung von Strukturwissen über Abläufe von Ermittlungsverfahren und polizeilichem Handeln im Allgemeinen und die Entwicklung von Strategien im Umgang mit der konkret als problematisch wahrgenommenen Kommunikation zwischen Jugendlichen und Polizei in Niebrau im Besonderen von den Berater_innen als zentraler Inhalt der Beratung beschrieben wurde. Die Strategie wird von Oliver als letztlich erfolgreich wahrgenommen, indem er den Eindruck formuliert, den Beamten überzeugt zu haben. Obwohl er resümiert, dass er froh ist, den Vorfall angezeigt zu haben, findet sich im Interview kein Hinweis darauf, dass Oliver die Anzeigenstellung tatsächlich auch als politischen Erfolg verbucht. In seiner sorgfältigen Rekonstruktion des Tatgeschehens und der Auseinandersetzung mit verschiedenen Hinweisen auf mögliche Täter_innen wird sein starkes Interesse deutlich, die Täter_innen zu identifizieren, um sie zur Rechenschaft ziehen zu können. Aber die – zumindest leise bestehende – Hoffnung auf ein Verfahren und die Verurteilung der Täter_innen erfüllt sich nicht. Denkbar wäre dennoch, einen Zusammenhang zwischen der Anzeigenstellung und einem möglicherweise erhöhten Ermittlungsdruck der Polizei zu sehen. Damit könnte als mittelbarer Effekt der Anzeige gesehen werden, dass einige Zeit nach der Anzeigenstellung die Polizei Neonazis, die einen alternativen Jugendlichen durch die Stadt jagten, aufgriff, was die Berater_innen mit dem Ende der Gewaltwelle in Niebrau in Verbindung bringen. Oliver berichtet von diesem Vorfall, stellt aber keinen solchen Zusammenhang her. Dokumentation und Medien Überzeugendes Argument für die Anzeigenstellung war für Oliver, dass dadurch der Fall offiziell dokumentiert ist und zur Öffentlichkeitsarbeit genutzt werden kann. Tatsächlich wurde in der Lokalzeitung über seinen Fall berichtet. In Olivers Bewertung der Medienberichterstattung steht das politische Argument, dass das Wissen um die Bedrohung durch Rechte in Niebrau öffentlich gemacht werden muss, im Vordergrund. „GK: Du hattest ja gesagt, es gab dann diese verschiedenen Presseartikel und so. Wie fandest du das? Das frage ich, weil ich weiß, dass Leute das sehr unterschiedlich finden. Manche Leute

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ärgern sich darüber, weil das damit in der Öffentlichkeit ist und sagen: ‚Ich will eigentlich gar nicht, dass da jemand drüber redet.‘ Oliver: Also, da war ja auch kein Name drin, ich glaube, das war maximal das Alter, was auch falsch angegeben war [leichtes Lachen], ich weiß nur nicht, ob die Informationen an die Presse vom Pferdestall oder ob das die Polizei war. Im großen Ganzen hat der Artikel schon gestimmt, wenn ich das noch so im Kopf habe. Ich muss sagen, ich finde es nicht schlecht. Dass das auch eine Außenwirkung hat. Weil ich finde ja, gerade auch für Leute hier in der Stadt, die müssen ja wissen, was in ihrer Stadt los ist, wie hoch die Gefahr auch wirklich ist. Dass das nicht verharmlost werden kann. Deswegen... Also, ich finde es gut, wenn so was, natürlich ohne Name und so was.“ (Niebrau_Betroffener_451-462)

Oliver wägt wieder die mögliche Gefahr für ihn selbst mit dem von ihm gesehenen politischen Nutzen ab. Wesentlich ist für ihn, dass der Bericht das Geschehene richtig wiedergibt und er dabei anonym bleibt.13 Hier wird das Zusammenfallen von individuellen und politischen Dimensionen in der Gewalterfahrung und -verarbeitung deutlich, indem er sowohl das Bedürfnis nach persönlichem Schutz formuliert als auch das Anliegen, dass die Leute in der Stadt wissen müssen „wie hoch die Gefahr auch wirklich ist“ (Hervh. GK) und eine wahrheitsgetreue Schilderung der Gewalt öffentlich wird. Die Bedeutung von Wahrheit und Gerechtigkeit für die Bewältigung psychischer von Menschen verursachter Traumata wird u.a. von Becker (2006: 113-114) betont. Die öffentliche Anerkennung der Wahrheit sei wesentliches Anliegen vieler Opfer politischer Verfolgung und beinhalte eine offizielle Entstigmatisierung und das Annehmen der Verantwortung, was „einen unbelasteteren Trauer- und Erinnerungsprozess (erlaubt), in dem erstmals der persönliche Verlust und nicht nur der politische Kampf um Gerechtigkeit im Vordergrund stehen kann.“ (Ebd.: 126) Becker hebt damit den Zusammenhang zwischen der politischen Perspektive auf die Gewalt und den individuellen Bewältigungsmöglichkeiten hervor. Der Kontext der von Oliver erlebten Gewalt unterscheidet sich von der bei Becker geschilderten Situation. Bei Becker geht es um die Voraussetzung der Erinnerung und die Bewältigung extremen, aber vergangenen Unrechts, bei Oliver liegt zwar der konkrete Angriff in der Vergangenheit, aber die Möglichkeit erneuter Angriffe ist für sein subjektives Erleben bestimmend. Dass in der Zeitung wahrheitsgetreu über die Tat berichtet wird, ist für Oliver daher vor dem Hintergrund der anhaltenden, von Neonazis ausgehenden, Gefahr relevant. Dass die Gewalttat als ein öffentliches Thema aus dem privaten Kontext seines individuellen Leidens herausgehoben wird, ist vor dem Hintergrund seiner Einschätzung wesentlich, dass die Gefahr von rechts systematisch unterschätzt und verharmlost werde und entsprechend politisch nicht ausreichend gegen Rechtsextremismus vorgegangen werde. Das führt einerseits dazu, dass die Opfererfahrung der potenziell Betroffenen (und damit auch Olivers Situation) infrage gestellt wird und die

13 Das falsch angegebene Alter ist vor diesem Hintergrund positiv.

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Betroffenen potenziell stigmatisiert werden. Dass die Leute wissen, wie groß in Niebrau die Gefahr ist, ist zudem Voraussetzung dafür, für die Zukunft mehr Sicherheit herstellen zu können. 7.4.3

Das Unerkanntbleiben der Täter_innen als subjektive Problematik

Den Umstand, dass er die Täter_innen während des Angriffs aufgrund ihrer Vermummung nicht erkennen konnte und die Täter_innen während des Angriffs nicht sprachen, hebt Oliver im Interview immer wieder als zentrales Moment hervor. Die Täter_innen nicht identifizieren zu können bedeutet nicht nur, dass es für Oliver während der Vernehmung schwierig ist, seine Gewalterfahrung gegenüber den Vernehmungsbeamten glaubhaft zu machen und dass keine Gerechtigkeit im Sinne einer juristischen Verurteilung der Täter_innen hergestellt werden kann. Nicht zu wissen, wer die Täter_innen sind, ist für Oliver auch mit dem Gefühl des Ausgeliefertseins verbunden, was er als zentrale Dimension der emotionalen Belastung nach der Gewalterfahrung schildert. „Oliver: Also, für mich war ja, um jetzt noch mal zu springen, ein sehr komisches Gefühl, also, ich glaube noch schlimmer, als alleine irgendwo ´rum zu laufen, dass wenn ich jetzt irgendwie im Einkaufszentrum bin und sehe die Leute, und quasi die kennen mich, aber ich kenne sie nicht. GK: Weil die vermummt waren...“ (Niebrau_Betroffener_463-475)

Die in der Gewaltsituation bestehende Machthierarchie bleibt so auch nach der Tat bestehen, da die Täter_innen die Identität ihres Opfers kennen, selbst aber unerkannt bleiben, wodurch für Oliver das ohnmächtige Gefühl, ausgeliefert zu sein, bleibt. Im Interview kommt er immer wieder auf seine Überlegungen zurück, wer die Täter sein könnten und ob sie zur Verantwortung gezogen werden können. Er berichtet, dass er einige Zeit nach der Tat in Kontakt mit einer Frau stand, die zuvor eine Beziehung mit einem bekannten Neonazi aus Niebrau hatte. Diese Frau hatte ihm erzählt, dass ihr früherer Freund wiederholt betrunken nach Hause gekommen sei und mit Angriffen auf Linke geprahlt habe. „Oliver: […] Und das war genau zu dem Zeitpunkt auch. Das ist für mich natürlich, also, ich habe mit ihr jetzt auch nichts mehr zu tun, aber es reicht ja nicht als Beweis, zu sagen: Also, sie hat gesagt, zu dem Zeitpunkt hat er immer wieder welche umgehauen oder so oder angegriffen oder so. Aber es passt halt alles so. GK: Das stelle ich mir aber auch komisch vor, wenn man das dann plötzlich auch so von einer anderen Seite hört?

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Oliver: Mhm [bejahend]. Ich habe auf ihrem privaten Rechner auch Fotos von ihm gesehen. Also, wenn du die Fotos nimmst und der Polizei gibst, dann hat er auch schon ein paar Anzeigen am Hals. Also eindeutig mit Hitlergruß und so. Aber das war wieder so ein Ding: Hätte ich von ihr die Bilder genommen, wäre sie quasi die Angriffsfläche gewesen. Das wollte ich natürlich auch nicht machen.“ (Niebrau_Betroffener_477-493)

Immer wieder gibt es Hinweise auf die mögliche Identität der Täter_innen. Hier spielt auch die spezifische alltagsweltliche Situation Jugendlicher in kleineren Städten oder im ländlichen Raum eine Rolle. Über Gerüchte und Spekulationen im sozialen Umfeld, Verschiebungen in der Zugehörigkeit zu Cliquen und Überschneidungen sozialer Beziehungen scheinen die mutmaßlichen Täter_innen immer wieder sehr nah zu rücken. Dennoch gelingt eine Aufklärung der tatsächlichen Tatbeteiligung nicht, so dass sich Oliver einer anhaltenden diffusen Bedrohung ausgeliefert fühlt. An verschiedenen Stellen im Interview fällt auf, dass Oliver einerseits das große Interesse formuliert, die Täter_innen zu identifizieren und verschiedenen Hinweisen nachgeht, dass er aber andererseits diese Hinweise unmittelbar wieder entkräftet: Letztlich wisse man nichts genau und es lasse sich nichts beweisen. Aus den Schilderungen entsteht der Eindruck, dass für Oliver auf der Grundlage der zugänglichen Informationen in der Kleinstadt eigentlich möglich gewesen sein könnte, die Täter_innen zu identifizieren.14 Die Identifizierung der Täter_innen ist für ihn aber möglicherweise ambivalent. Sie würde ihn nicht nur in Bezug auf die diffuse Bedrohung entlasten, sondern zugleich konkret bedrohlich werden, weil er Racheaktionen befürchten müsste. So argumentiert er an verschiedenen Stellen, dass er keine Angst vor Racheaktionen der Täter_innen und ihrem Umfeld haben müsse, weil diese ja wüssten, dass er ihnen nicht gefährlich werden könne, weil er ihre Identität nicht kenne. „GK: Hattest du irgendwann mal Angst, dass sie dich dann noch mal auf den Kieker nehmen, weil du zur Polizei gegangen bist? Oliver: Ne, weil ich glaube, die waren sich ja relativ sicher. Weil, ich hatte ja keinen [identifiziert, GK]. Und ich weiß auch gar nicht, inwiefern sie das mitgekriegt haben. Wenn, dann durch den Zeitungsartikel eher. Aber wie gesagt, ich weiß gar nicht, wann der Artikel entstanden ist, weil, wenn der vorher entstanden ist, bevor ich zur Polizei bin, dann stand da ja nicht drin, dass ich bei der Polizei war. Aber als dann der Brief kam, dass das fallen gelassen wurde mit den drei Namen, das war ein komisches Gefühl, weil ich kannte die ja gar nicht, die Namen. Also, einer war der, der dann immer wegguckt. Also, das war schon ein komisches Gefühl. Also, Angst würde ich jetzt nicht sagen, weil die haben ja nichts gegen sich vorliegen.“ (Niebrau_Betroffener_494-503)

14 Inwieweit der Eindruck stimmt, lässt sich letztlich nicht klären.

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Im Einstellungsbescheid der Polizei waren Namen von Tatverdächtigen aufgeführt, obwohl Oliver bislang davon ausgegangen war, dass es keine Hinweise auf die Identität der Täter_innen gebe. Dass ihn das erschreckt, könnte mit den vorher geäußerten Bedenken zusammenhängen, welche eigenen Daten durch die Anzeigenstellung öffentlich bzw. für die Nazis zugänglich werden. Ein weiterer Begründungszusammenhang kann aber auch darin liegen, dass Oliver Angst vor Rache der Täter_innen und ihrem Umfeld hat, die glauben müssen, er habe der Polizei die Namen genannt. Oliver betont in diesem Zusammenhang, dass er der Polizei keine Namen genannt hat und auch der Zeuge, den er der Polizei genannt hat, die Täter_innen nicht identifiziert habe. Die Identifizierung der Täter_innen erscheint hier bedrohlich. Damit könnte das Nichtwissen für Oliver auch eine restriktive Funktionalität haben. Vor dem Hintergrund der dauerhaften Bedrohung durch organisierte und gewaltbereite Neonazis ist es für Oliver möglicherweise begründet, die latente Bedrohung durch das Unbekanntbleiben der Täter_innen in Kauf zu nehmen, um der befürchteten konkreten Bedrohung durch Racheaktionen auszuweichen, falls die Täter_innen öffentlich bekannt und strafrechtlich verfolgt werden sollten. Diese Angst ist einerseits begründet durch die politisch informierte Einschätzung über das von Neonazis ausgehende Bedrohungspotenzial, widerspricht aber andererseits den von Oliver formulierten politischen Perspektiven, in denen er die Notwendigkeit von Aufklärung betont. 7.4.4

Der Nutzen der Beratung

Auffallend ist, dass entgegen der Darstellung der Berater_innen, die von einem geringen Beratungsbedarf gesprochen haben, in Olivers Schilderung der Eindruck eines sehr engen Beratungsverhältnisses entsteht. Er beschreibt die Rolle der Berater_innen als Gesprächspartner_innen und Entscheidungshilfe in zwei wesentlichen Bereichen: Als vorrangige und konkrete Unterstützung wird von Oliver die Beratung und Begleitung zur Anzeigenstellung durch die OBS positiv bewertet. Das Fachwissen der OBS über die richtigen Ansprechpartner_innen bei der Polizei hebt er dabei ebenso hervor wie die Begleitung zur Zeugenaussage, auch wenn der Berater bei der Aussage selbst nicht im Raum war. Ohne die Beratung und Unterstützung der OBS, sagt er rückblickend, hätte er vermutlich keine Anzeige gestellt. Die Auseinandersetzung mit der eigenen Angst beschreibt Oliver als weiteren Themenbereich, der das Beratungsverhältnis mit der OBS charakterisiert. Als bedeutungsvoll und positiv hebt er insbesondere den Vorschlag der Berater_innen hervor, aufgrund der anhaltenden Angstgefühle eine Psychologin oder einen Psychologen aufzusuchen, obwohl er sich praktisch gegen eine Kontaktaufnahme entscheidet. „Oliver: Also, ich würde eher so sagen, wie wäre es gewesen, wenn ich den Schritt mit Vera gegangen wäre und dann über einen Psychologen. Sie hat ja den Kontakt gehabt, ich habe ja, glaube ich, von dem Psychologen auch schon eine Email gekriegt gehabt, ich weiß gar nicht,

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ob ich darauf geantwortet habe. Also eher, wie es dann gewesen wäre. Also nicht, dass ich es jetzt bereue, dass ich es nicht gemacht habe, ich bin aber so gespannt, wie es so gewesen wäre. Aber ansonsten so von der Betreuung her, wie gesagt, habe ich nichts Negatives oder so. Also, (...) das Angebot mit dem Psychologen, das fand ich schon ganz hilfreich. Also, die haben mir wirklich geholfen, muss ich sagen.“ (Niebrau_Betroffener_510-518)

Das Vorhandensein persönlicher Bezüge war für Oliver zentral, um sich auf das Beratungsangebot einzulassen. So berichtet er vom ersten Kontakt mit der OBS: „Oliver: Dann hatte er [Fredi, ein aktiver Jugendlicher im Pferdestall, GK] das, glaube ich, mit Daniel und Vera vorgeschlagen, von der OBS. Zu dem Zeitpunkt hatte ich da ja selber überhaupt keine Erfahrung mit. Also, ich kannte Vera, wusste aber nicht, welche Arbeit sie macht. Und Daniel kannte ich noch nicht. Und dann haben sie den Kontakt hergestellt. Ich glaube, sogar noch in der Woche kamen die beiden.“ (Niebrau_Betroffener_93-97)

Er betont an verschiedenen Stellen im Interview, dass der Aufbau eines vertrauensvollen Beratungsverhältnisses maßgeblich damit zusammenhing, dass die Beraterin Vera ihm locker bekannt war und aus der gleichen Stadt und dem gleichen subkulturellen Kreis kommt. Zentrale Bezugsperson im Beratungsverhältnis wird dann aber nicht Vera, sondern Daniel, den er bis dahin nicht kannte, mit dem es aber „gleich funktioniert“ (Niebrau_Betroffener_433) und schließlich differenziert er weiter, dass er sich möglicherweise auch auf eine Beratung eingelassen hätte, wenn eine Vertrauensperson (aus dem Pferdestall) von persönlichen guten Erfahrungen mit den Berater_innen berichtet hätte. „Oliver: Also, was wirklich sehr positiv war, also, die haben sich wirklich gekümmert. Also: ‚Wir kommen nach Niebrau‘ [...], die waren auch jederzeit erreichbar, man konnte halt mit allem, was passiert ist, genau drüber quatschen über Gefühle, das fand ich irgendwie gut. Also mir hat es geholfen, muss ich sagen. Also, ich kannte ja Vera vorher, deswegen war das auch irgendwie was anderes, aber Daniel kannte ich noch nicht und das war eigentlich, das hat gleich funktioniert.“ (Niebrau_Betroffener_428-433) „Oliver: Aber so die ganze Arbeit, die die so machen, das wusste ich nicht. Aber die Vertrauensbasis war schon da, weil ich Vera ja schon kannte. Was anderes wäre es vielleicht gewesen, wenn es komplett fremde Personen gewesen wären. Da wäre es dann vielleicht ein bisschen… Da hätte ich vielleicht noch mal anders überlegt. Es sei denn, irgendwer anderes hätte gesagt, wir kennen die persönlich, ich habe auch schon mal mit denen zusammen gearbeitet und die sind so und so und alles ganz locker, also z.B. Fredi [ein aktiver Jugendlicher im Pferdestall, GK] hätte so was gesagt, dann hätte ich das vielleicht auch gemacht.“ (Niebrau_Betroffener_534-541)

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Als wesentliche Dimension der Beratung beschreibt Oliver eine vertrauensvolle und persönlich nah und zugewandt erlebte Beziehungsqualität. Als Beispiel für das Engagement und die Zugewandtheit der Berater_innen steht für Oliver die aufsuchende Beratungspraxis, jedoch ohne penetrant zu werden, wie er später anführt. Gegenüber der wahrgenommenen vertrauensvollen Nähe zu den Berater_innen hebt er als zweite zentrale Dimension der Beratung hervor, dass – im Gegensatz zu Freund_innen und anderen Vertrauenspersonen – die Berater_innen der OBS „Profis“ sind, „richtige Tipps“ haben und „wissen, was sie machen“. Die Professionalität der Berater_innen in der Sache wird von Oliver als Voraussetzung für das Gefühl, sich bei den Berater_innen gut aufgehoben zu fühlen, beschrieben. „Oliver: Ja. Also, ich würde da auf jeden Fall einen Unterschied [zwischen den Gesprächen mit Kumpels und der OBS, GK] machen. Einfach in dem Sinne, ich habe mich anders aufgehoben gefühlt, weil für mich war Daniel, ich sag mal so, der Profi, der kommt aus dem Bereich und hat dann wirklich auch richtige Tipps wie man halt... also, ich sag mal so einen Leitfaden. Bei den anderen ist das dann wirklich nur so Zusprechungen und einzelne Erfahrungen. Aber bei Daniel war das so, der kennt sich damit aus, das ist seine Arbeit, da habe ich mich wohl gefühlt. Bei den anderen natürlich auch, aber da, das hat ein Ziel, die wissen, was sie machen und haben mir vorher schon gesagt, was passieren könnte, so wie es dann auch tatsächlich eingetreten ist. GK: Also, so mit der Anzeige und so, was da passieren könnte? Oliver: Genau, wie das passiert und auch mit dem [Opferentschädigungs-, GK] Antrag und so. Also, das hätte ich ja nicht gewusst mit dem Antrag.“ (Niebrau_Betroffener_439-450)

Während seine Freund_innen, so interpretiere ich Oliver hier, über kein verallgemeinerbares Wissen verfügen, besteht die Professionalität der Berater_innen der OBS darin, dass diese konkrete Handlungsschritte benennen und vorausschauend und transparent Prognosen über den weiteren Verlauf formulieren können. Das vermittelt Oliver Sicherheit, die Folgen absehen und das Risiko einschätzen zu können. Vor dem Hintergrund, dass Olivers Situation dadurch gekennzeichnet ist, dass er sich in einer diffusen Bedrohungssituation befindet, ermöglicht diese Professionalität, die Sicherheit und konkrete Handlungsstrategien vermittelt, die Reduzierung von Angst.

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7.5

7.5.1

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Z USAMMENHANG UND AUSEINANDERFALLEN VON E INZELFALL UND LOKAL - POLITISCHER S ITUATION DER B ERATUNGSSTRATEGIE DER OBS

IN

Empowerment in der Praxis der OBS

Die Berater_innen formulieren als wesentliche Zielstellung, die Hindernisse zu reduzieren, die für die Betroffenen im Umgang mit der Gewalt bestehen und den Pferdestall in Niebrau zu stärken. Formuliert ist damit – entsprechend der konzeptionellen Beschreibung des Praxisbereiches der lokalen Intervention – Empowerment als zentrale Perspektive. Was unter Empowerment in psychosozialen Arbeitsfeldern aber verstanden wird, ist – wie in Kapitel 3.2 ausgeführt wurde – nicht eindeutig. Im Folgenden soll daher rekonstruiert werden, wie das Empowerment-Konzept im Fall ‚Niebrau‘ als Praxistheorie von den Berater_innen aufgegriffen und praktisch gefüllt wurde. Empowerment als Verschiebung von Kräfteverhältnissen Im hier diskutierten Fall beschreiben die Berater_innen das Ziel der Stärkung der von Gewalt betroffenen Jugendlichen aus dem Pferdestall vorrangig unter einer politischen Perspektive. Wesentlicher Teil der Intervention ist die Analyse der lokalen Kräfteverhältnisse, um die Problemstellung der Jugendlichen im Pferdestall zu verstehen. Ausgehend davon entwickeln die Berater_innen Strategien zur besseren Durchsetzung der Interessen des Pferdestalls, während die subjektiven ‚Selbstwirksamkeitserwartungen‘ der Jugendlichen für die Berater_innen im Interview kein Thema sind. Diese politische Perspektive auf Empowerment als Stärkung linker Jugendkultur wird in der abschließenden Bewertung der Intervention in Niebrau in verschiedener Weise deutlich. Die Berater_innen thematisieren das Ende der ‚Gewaltwelle‘ in Hinblick auf die Situation, die alternative Jugendliche und Rassismusbetroffene als Gruppe unter Druck setzt und nicht in Hinblick auf die subjektive Bedeutung für einzelne Gewaltbetroffenen. Dass nicht mehr infrage gestellt wird, dass die Gewaltfälle stattgefunden haben, bewerten sie nicht unter dem Gesichtspunkt der Bedeutung für die einzelnen Betroffenen positiv, sondern in Bezug auf die öffentliche Wahrnehmung und Bewertung einer (lokal-)politischen Situation. Auch im Bericht über den Verlauf der Verfahren zu den angezeigten Fällen wird die Bewertung vor allem vor dem Hintergrund politischer Überlegungen vorgenommen: „Daniel: Es war schade, dass bei dem letzten Vorfall in der Kette, da sind ja Leute gefasst worden und da haben wir zu dem Betroffenen keinen Kontakt bekommen. Der hatte kein Interesse. Und dementsprechend wissen wir nicht, wie das mit den ganzen Ermittlungen weitergegangen ist. Das wäre total interessant, das zu erfahren.“ (Niebrau_Berater_innen 2_420-424)

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Im Gegensatz zu den Fällen, in denen eine Identifizierung der Täter_innen nicht gelungen ist, hätte in diesem Fall die Begleitung des Gerichtsverfahrens den Berater_innen ermöglicht, die Taten und die hinter den Täter_innen stehenden Strukturen besser einschätzen zu können. Ein solches Hintergrundwissen über lokale rechte Strukturen ist wiederum relevantes Beratungswissen, um qualifizierte Gefahreneinschätzungen vornehmen zu können. In Bezug auf die Sachbeschädigungen am Pferdestall kam es zu einer Gerichtsverhandlung, in der Täter schuldig gesprochen und zur Zahlung einer Entschädigung verurteilt wurden. In der Beschreibung der Freude der im Pferdestall engagierten Jugendlichen über das Urteil zeigt sich erneut, dass Berater_innen und Jugendliche die Gewaltfälle im Kontext einer politischen Auseinandersetzung deuten. Die Aktiven im Pferdestall freuen sich, dass der politische Gegner, der ihnen eigentlich schaden wollte, Geld zu zahlen hat. Die Perspektive, die (strafrechtliche) Thematisierung von Vorfällen rechter Gewalt als Teil eines politischen Widerstands gegen die Versuche von Neonazis, Einfluss zu gewinnen, zu sehen, wird auch in der folgenden Kontextualisierung der Entwicklungen in Niebrau durch Vera deutlich: „Vera: Nur um es zu nennen, die Gewalt hat sich verringert, soweit wir es wissen, aber der Grad der neofaschistischen Organisierung [leicht ironischer Tonfall] hat sich intensiviert. Es gab die Gründung von dem NPD-Kreisverband und die Freien Kräfte [Region] sind inzwischen ein relevanter Player in der Naziszene in Sachsen. Sie veranstalten zum Beispiel zum ersten Mai `ne Demonstration in [Nachbarstadt von Niebrau] und ich denke, ihren Niebrau-Termin werden sie auch versuchen, weiterzuführen. Und die sind gut vernetzt und ich glaube, da hat sich was schon verstetigt und verfestigt. Und da kommst du darüber [mit dem Zugang der OBS und gerichtlichen Verfahren, GK] natürlich nicht so gut ran. Die sind ja in dem Moment nicht kriminell, sondern mit anderen Dingen beschäftigt. GK: Die organisieren sich. Vera: Ja.“ (Niebrau_Berater_innen 2_433-443)

Mit diesem Fokus auf die politische Auseinandersetzung mit neonazistischen Strukturen unterscheidet sich die Praxis der OBS von einer Empowerment-Praxis, die Riger zufolge die Tendenz hat, das individuelle Gefühl von Ermächtigung und Selbstwirksamkeit höher zu bewerten als die reale Kontrolle über Ressourcen: „In the context of empowerment, if the focus of inquiry becomes not actual power but rather the sense of empowerment, then the political is made personal and, ironically, the status quo may be supported.“ (Riger 1993: 281) Im Mittelpunkt der Intervention der OBS steht der Machtgewinn der alternativen Jugendlichen im lokalen Kontext. Um diesen zu erreichen, werden klassische Empowerment-Methoden angewendet, die auf

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die Einbeziehung und Aktivierung der alternativen Jugendlichen setzen. Die Berater_innen orientieren sich am Alltag der Jugendlichen im Pferdestall, um ins Gespräch zu kommen und versuchen mit verschiedenen Angeboten, deren Kompetenzen auszubauen, die eigenen Interessen in Konfliktsituationen durchzusetzen. Als erfolgreich haben sich dabei nicht die Methoden erwiesen, die für die EmpowermentPraxis vorgeschlagen werden, wie Methoden der Gruppenarbeit, Zukunftswerkstätten, moderierte Gesprächsrunden oder Bildungsangebote. Wesentlich war, so die Berater_innen, den Jugendlichen in ihrem Alltag im Pferdestall beratend zur Seite zu stehen, an konkreten Problemstellungen die Jugendlichen strategisch zu beraten sowie die Interessen des Pferdestalls in Gesprächen mit anderen Akteur_innen im Gemeinwesen zu vertreten. Die Auswahl der Methoden orientierte sich dabei eher an der Durchsetzung politischer Ziele als an der Einbeziehung und Aktivierung möglichst vieler Jugendlicher. Das Ziel des Empowerment war der Machtzuwachs für den Pferdestall als Ort der Organisation links-alternativer Jugendlicher gegenüber den rechten Hegemoniebestrebungen. Im Gegensatz zu der von Riger beschriebenen Tendenz in der Rezeption von Empowerment-Konzepten, eine Ermächtigung benachteiligter Gruppen zu behaupten, ohne die bestehenden Machtverhältnisse anzugreifen, d.h. ohne die Interessen und Machtpositionen anderer Gruppen herauszufordern, geht es im Zugang der OBS um einen Machtkampf. Vor dem Hintergrund einer gesellschaftstheoretischen Positionierung richtet sich die Empowerment-Praxis auf den Machtzuwachs links-alternativer Jugendkultur in Niebrau – und dies auch gegen die Interessen anderer Akteur_innen im Gemeinwesen. Eine solche Empowerment-Praxis ist notwendig konflikthaft. Das Spannungsfeld von politischer Strategie und psychosozialen Beratungsstandards Neben dieser deutlich politischen Rahmung des Beratungshandelns benennen die Berater_innen zugleich das Problem, dass die politisch begründeten Interessen in Konflikt mit den individuellen Interessen der direkt Betroffenen geraten können. Als kritisch nennen die Berater_innen das besondere Forcieren der Kontaktaufnahme mit den Betroffenen sowie das deutliche Werben für eine Anzeigenstellung, während die Betroffenen eine distanzierte Haltung gegenüber dem Beratungsangebot und insbesondere der Anzeigenstellung bei der Polizei einnahmen. Beides beschreiben die Berater_innen als Sonderfall, der sich aus der spezifischen Situation in Niebrau ergibt. „Daniel: Ich glaube, dass wir sehr hinterher waren, Kontakt zu den Leuten zu kriegen. Auch mit den Leuten, die uns dann im Endeffekt die Kontakte vermittelt haben, dass wir da schon sehr dran geblieben sind. Dass die die Leute dazu bringen, sich mit uns zu treffen.“ (Niebrau_Berater_innen 2_508-511)

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In anderen Fällen, so betonen die Berater_innen, hätten sie sich nicht so intensiv darum gekümmert, mit den Betroffenen ins Gespräch zu kommen, sondern hingenommen, dass kein Bedarf an einer Beratung besteht. Die Berater_innen schildern, in anderen Fällen eine Beratungshaltung einzunehmen, die über rechtliche Möglichkeiten informiert, strategische Überlegungen zur Diskussion stellt und konkrete Unterstützung anbietet. Den Betroffenen soll hierbei die Möglichkeit gegeben werden, möglichst frei zu entscheiden. Ihr Handeln in Niebrau erleben die Berater_innen in Diskrepanz dazu. Als Beispiel beschreibt Daniel, einen Betroffenen telefonisch kontaktiert zu haben, ohne dass eindeutig klar war, ob dieser mit einem Anruf der OBS einverstanden war. „Daniel: Da habe ich eigentlich auch so 'ne Grenze überschritten, weil ich den unaufgefordert angerufen habe. [...] Das hätte ich sonst nicht gemacht. Wenn nicht dieser Druck gewesen wäre, den wir da so gesehen haben, dass es da richtig Probleme geben kann für die Leute, dann hätte ich so was nicht gemacht.“ (Niebrau_Berater_innen 2_524-531 )

Die Berater_innen setzen sich hier mit eigenen oder von außen herangetragenen Beratungsstandards bzw. einem Verständnis einer Empowerment-Perspektive in professionellen Settings auseinander, nach denen darauf zu achten ist, die Ratsuchenden nicht zu einem Beratungskontakt zu drängen und Selbstbestimmtheit der Ratsuchenden in all ihren Handlungsentscheidungen zu respektieren.15 Die Handlungsentscheidungen, die potenziell oder auch tatsächlich mit diesen Standards in Konflikt geraten, sind für die Berater_innen gegenüber diesem Beratungsverständnis begründungsbedürftig. Die mögliche Diskrepanz zwischen der Durchsetzung der politischen Zielsetzung in diesem Fall und den subjektiven Interessen der einzelnen Betroffenen wird an mehreren Stellen im Interview genannt. Das starke Interesse der Berater_innen an der Kontaktaufnahme mit den Betroffenen und Anzeigenstellung der Fälle ergibt sich aus ihrer Problemanalyse der politischen Situation in Niebrau, in der der Pferdestall als Ort alternativer Jugendkultur sowie die einzelnen angegriffenen Jugendlichen zunehmend unter Druck gerieten. Die Berater_innen sehen hier eine sehr enge Verbindung zwischen ihrer Einschätzung der politischen Situation in Niebrau und ihrem Blick auf die individuelle Situation bzw. die Handlungsmöglichkeiten der betroffenen Jugendlichen. So ist das Engagement der Berater_innen für den Erhalt des Pferdestalls nicht nur politisch motiviert. Vielmehr sehen die Berater_innen das Jugendzentrum auch in seiner Funktion,

15 Der Arbeitskreis der Opferhilfe (o.J.: 2) nennt als „wesentliche Prinzipien der Opferunterstützung […]: Angebotscharakter, Freiwilligkeit, […] ausschließliche Orientierung an Opferbedürfnissen: Nichts darf ohne das ausdrückliche Einverständnis der Betroffenen geschehen, Gewährung der Unterstützung unabhängig von der Erstattung einer Strafanzeige“ (Spiegelstriche entfernt, GK).

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den Betroffenen sozialen Zusammenhalt sowie als physischer Ort Sicherheit zu geben, womit es wiederum der Bewältigung der individuellen Gewalterfahrung dient. Dies ist allerdings in der vorgefundenen Situation widersprüchlich geworden. Nicht nur, dass der Pferdestall selbst Angriffsziel geworden war, auch die Praxis der Veröffentlichung der Angriffe setzte die Betroffenen, die die Gewalt nicht bei der Polizei angezeigt hatten, unter Druck. Teil des jugendkulturellen und politischen Zusammenhangs zu sein, stellte, wie auch aus Olivers Schilderungen deutlich wurde, einerseits eine Entlastung dar, wurde aber zugleich selbst subjektiv problematisch. Erst das Beharren auf einem Gespräch mit den Betroffenen hat es in diesem Fall ermöglicht, die subjektiven Gründe für die distanzierte Haltung gegenüber der Polizei zu erfahren und sich vor diesem Hintergrund für ihre Interessen einzusetzen. Erst das Wissen um den Kontext der Auseinandersetzungen mit der Polizei ermöglichte den Berater_innen hier, die subjektiven Handlungsräume der einzelnen Betroffenen zu verstehen, d.h. nachzuvollziehen, warum die Betroffenen keine Anzeige stellen wollen, um dementsprechend Handlungsoptionen zu entwickeln. „Vera: Wir haben das ja immer zusammen gedacht und auch die Ängste der Leute vor einer Anzeige nimmt man natürlich noch mal ganz anders ernst, wenn man weiß, dass in der Stadt schon Sachen schief gegangen sind.“ (Niebrau_Berater_innen 2_503-506)

Damit sind individuelle und politische Dimensionen hier in ähnlicher Weise miteinander verbunden wie im von Solomon (1976) formulierten Empowerment-Konzept. Die politische Perspektive auf die Problemlage ist notwendig, um das Verhältnis von indirekten power blocks als verinnerlichten Annahmen über verfügbare Handlungsmöglichkeiten und direkten power blocks identifizieren zu können. Die Prinzipien der Freiwilligkeit und Selbstbestimmung im Beratungssetting können tatsächlich nur umgesetzt werden, wenn die Bedingungen in den Blick genommen werden, unter denen es den Betroffenen möglich wird, selbstbestimmte Entscheidungen zu treffen. Empowerment heißt hier, politische Dimensionen einzubeziehen, um individuelle Problemlagen zu lösen. Daniel hebt als weiteren Hintergrund für das Interesse an der Anzeigenstellung hervor, dass sich der Pferdestall durch die Öffentlichkeitsarbeit mit nicht angezeigten Fällen angreifbar macht und weiter „unter Druck“ gerät. „Daniel: Und dadurch ist der Pferdestall an sich, als Institution und Einrichtung unter Druck geraten. Das ist natürlich erst mal jenseits von den Einzelfällen. Also, von den direkt Betroffenen. Und dann hast du sozusagen eine Koppelung. Weil die Leute selber im Pferdestall verkehren, geraten sie indirekt auch unter Druck.“ (Niebrau_Berater_innen 2_541-544 )

Die direkt von Gewalt betroffenen Jugendlichen werden hier als Teil der unter Druck stehenden alternativen Jugendkultur begriffen. Damit wird als weitere Dimension die

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Spannung zwischen individuellen und kollektiven Dimensionen im EmpowermentKonzept angesprochen. Riger (1993) problematisiert die Rezeption von Empowerment-Konzepten dahingehend, dass zwar die Stärkung von Communities in der Regel als wesentliche Dimension genannt wird. In den Theorien zu Empowerment setze sich aber dennoch die individualisierende Tradition akademischer Psychologie durch. So sei insbesondere in psychologischen Empowerment-Konzepten die Tendenz zu sehen, Selbstwirksamkeit, Autonomie, Kontrolle und individuelle Bewältigungs- und Problemlösungsstrategien höher zu bewerten als die Eingebundenheit in soziale Beziehungen (ebd.: 286). Die kollektiven Interessen der Communities bzw. die sozialen Bezugssysteme der Betroffenen und das individuelle Empowerment der Betroffenen können im Widerspruch zueinander stehen, der sich nicht zu einer Seite hin auflösen lässt (vgl. ebd.: 287). Im Spannungsfeld zwischen dem individuellen Empowerment der direkt Gewaltbetroffenen, die eine Zeugenaussage möglicherweise eher als belastend oder gar als erneute persönliche Ohnmachtserfahrung erleben, und dem Interesse der sozialen Gruppe der Jugendlichen aus dem Pferdestall, die aufgrund der nicht angezeigten Fälle kollektiv unter Druck geraten, entscheiden sich die Berater_innen für eine Priorisierung der kollektiven Interessen. Sie bemühen sich dabei zugleich, nicht die individuellen Interessen der Betroffenen aus dem Blick zu verlieren. Die Ambivalenz zwischen den individuellen Interessen und den Interessen der Gruppe wird auch in den Schilderungen von Oliver deutlich, wenn er sagt: „Bringt ja mir nichts“ (Niebrau_Betroffener_93), er sich aber dennoch für die Anzeigenstellung entscheidet, damit die Gruppe mit dem so dokumentierten Fall politisch arbeiten kann, und er letztlich betont, dass er auch für sich persönlich froh über die Entscheidung ist. Schließlich relativiert Vera die von Daniel berichtete Grenzüberschreitung mit der Einschätzung, dass den Betroffenen trotz des großen Interesses der OBS an der Kontaktherstellung der Angebotscharakter bzw. die Freiwilligkeit des Beratungsangebotes deutlich gewesen ist. „Vera: Wir sind sehr vorsichtig, glaube ich, auch immer. Was so Grenzüberschreitungen bei der Kontaktaufnahme angeht. Das hat ja seinen Sinn und wir sollten da auch weiter vorsichtig sein. Aber Druck ausüben, das heißt jetzt wahrscheinlich zwei Mal: ‚Hey, meld dich doch mal, hier ist die Nummer noch mal.‘ Oder so ein Anruf, wo dir dann gesagt wird: ‚Wenn du nicht reden willst, leg auf.‘ Das vertragen die meisten Leute, glaube ich, schon.“ (Niebrau_Berater_innen 2_573-578)

Praxis des Empowerment: Intervention an der Zielgruppe oder am behindernden Kontext In der Planung der Intervention der OBS wurden zwei mögliche Interventionsstrategien diskutiert: Erstens die Beratung der Jugendlichen im Pferdestall, um deren Kompetenzen im Umgang mit den Problemstellungen zu unterstützen. Zweitens die

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Intervention in die lokalen Strukturen, um hier für Verständnis für die Situation der Jugendlichen zu werben. Damit sollte bei Akteur_innen wie der Polizei, dem MBT und anderen potenziellen Unterstützer_innen in Niebrau eine Verhaltensänderung herbeigeführt werden, durch die die Position des Pferdestalls in Niebrau gestärkt wird. Die Berater_innen entschieden sich, an beiden Seiten anzusetzen. „GK: Es gab die Diskussion in der Weiterbildung16 über die richtige Intervention. Setzt man vor allem beim Pferdestall an und versucht, sie so zu beraten, dass sie sich in unseren Augen klüger verhalten, oder versucht man eher im Umfeld zu intervenieren, spricht mit anderen Leuten. Und wie sehr braucht man für diese Gespräche ein Mandat des Pferdestalls? Was habt ihr weiter dazu gedacht? Waren das in Eurer weiteren Planung relevante Fragen? Daniel: Wir haben an den Strängen weiter überlegt. Wir haben mit den Pferdestallern zusammengesessen und haben mit ihnen überlegt, dass wir mit unterschiedlichen Leuten in der Stadt reden in Hinblick darauf, wer potenzielle Unterstützer in der Stadt sein könnten. Wer ist eigentlich gar nicht Euer Feind, sondern spricht eigentlich ganz gut über Euch. Wir haben gefragt: ‚Wer ist Euch bekannt?‘... Da kam nicht viel Neues bei raus. Aber es gab ein allgemeines: ‚Macht doch!‘ Immer schon vor dem Hintergrund: ‚Wir sind froh, wenn sich jemand für uns einsetzt.‘ Zu dem Zeitpunkt war schon ein gutes Vertrauensverhältnis.“ (Niebrau_Berater_innen 1_ 551-562)

Die Praxis der OBS in Niebrau weist deutliche Parallelen zu der von Solomon (1987) beschriebenen Praxis empowermentorientierter Beratung auf, die darauf zielt, power blocks im Kontakt mit Institutionen abzubauen. Dabei müsse die Vermittlung von individuellen Fähigkeiten im Umgang mit den Institutionen das Wissen über deren diskriminierende Strukturen sowie die Intervention an der problematischen Praxis der Institutionen einschließen. Solomon unterscheidet drei Ebenen der Intervention einer auf Empowerment gerichteten Sozialen Arbeit: 1. Soziale Arbeit interveniert in die Organisation und regt hier Veränderungsprozesse an, mit denen die Interessen der Zielgruppe besser gewahrt werden können. 2. Soziale Arbeit vertritt – in enger Absprache mit den Klient_innen – die Interessen der Klient_innen gegenüber den Institutionen. Eine solche Intervention zielt auch darauf, dass die Klient_innen durch die gemeinsame/unterstützte Intervention Strategien lernen, die sie in der Interaktion mit ähnlichen Institutionen nutzen können. 3. Die Soziale Arbeit ermutigt die Klient_innen, selbst zu intervenieren und die eigenen Interessen zu vertreten (ebd.: 88).

16 Gemeinsames Treffen aller OBS zur Qualitätsentwicklung zum Thema ‚Lokale Intervention‘, bei dem über den Fall Niebrau gesprochen worden war.

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Alle drei Interventionsstrategien finden sich im Beratungshandeln in Niebrau. Die Berater_innen wirken auf ein Empowerment der Jugendlichen im Umgang mit der Polizei hin, indem ihnen Strukturwissen über polizeiliche Abläufe vermittelt wird. Die Intervention richtet sich aber nicht nur auf die Kompetenzen der Betroffenen, sondern agiert auch direkt mit den Akteur_innen und Instanzen, die an der Problemstellung beteiligt sind oder einen Beitrag zur Lösung leisten können. Sie nehmen an einer Gesprächsrunde mit lokalen Akteur_innen zur Situation des Pferdestalls teil und unterstützen hier die Interessen der Jugendlichen. Die OBS unterstützt die Anzeigenstellung der Jugendlichen, indem sie Termine bei der Polizei macht und die Betroffenen zur Zeugenaussage begleitet. Und sie zielt auf die Veränderung des problematischen Verhaltens der Polizei durch Gespräche und das Herstellen kritischer Öffentlichkeit.17 Solomon nennt explizit die Vertretung von Interessen der Zielgruppe ohne deren direkte Beteiligung als eine mögliche und in vielen Fällen notwendige Dimension von Empowerment in der Sozialen Arbeit. Sie betont allerdings auch als wesentliche Perspektive von Empowerment, die Betroffenen als Akteur_innen zu begreifen und deren Fähigkeiten, ihre Interessen selbst zu vertreten, zu fördern. Auch hier lässt sich in der Praxis der OBS eine ähnliche Schwerpunktsetzung feststellen. Daniel schildert im oben stehenden Zitat, dass an „beiden Strängen weiter überlegt“ wurde. Um lokale Kräfteverhältnisse und Konflikthintergründe zu verstehen und, darauf aufbauend, Strategien zur Stärkung des Pferdestalls zu entwickeln, planten die Berater_innen, mit verschiedenen lokalen Akteur_innen über die Situation des Pferdestalls zu sprechen. Das Führen solcher Gespräche erschien den Berater_innen in der konkreten Situation jedoch in Konflikt mit der Notwendigkeit zu geraten, ein Vertrauensverhältnis mit den im Pferdestall aktiven Jugendlichen aufzubauen, die in der zugespitzten Konfliktsituation nahezu alle Akteur_innen in Niebrau als ihnen feindlich gesinnt erlebten. Der Aufbau eines Vertrauensverhältnisses erforderte daher aus Sicht der Berater_innen, keine Schritte ohne die ausdrückliche Zustimmung der Jugendlichen zu unternehmen. Die Berater_innen verorteten sich bewusst ‚an der Seite der Betroffenen‘ und versuchten, ausgehend von den Gesprächen mit den Jugendlichen, Strukturwissen über lokale Zusammenhänge zu erschließen. Damit waren aber auch die Möglichkeiten der Berater_innen beschränkt, sich lokale Zusammenhänge anzueignen, womit möglicherweise auch Handlungsoptionen, die zu einer politischen Stärkung des Pferdestalls hätten beitragen können, unerkannt bleiben mussten. „Vera: Bis zum heutigen Tage ist es für uns rätselhaft. Wir kennen zwar inzwischen viele Namen und wissen auch bei einigen, wie sie zum Pferdestall stehen. Aber eine Übersicht, wer wie Einfluss nimmt, könnten wir bis heute nicht aufmalen.“ (Niebrau_Berater_innen 1_151-154)

17 Entsprechend auch in Bezug auf die anderen, als problematisch identifizierten Akteur_innen: das Ordnungsamt, das MBT, das Jugendamt.

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Die Gestaltung des Beratungsverhältnisses

Zwischen Kooperation und sozial-pädagogischer Intervention Die Berater_innen verstehen das Beratungsverhältnis zu den Jugendlichen in Niebrau nicht in erster Linie als pädagogisches Verhältnis. Entsprechend der von den Berater_innen vordringlich verfolgten politischen Empowerment-Perspektive ist die Gestaltung des Beratungsverhältnisses an der Erreichung politischer Ziele orientiert. Die im Pferdestall aktiven Jugendlichen werden von den Berater_innen als Kooperationspartner_innen bezeichnet, mit denen sie in Kontakt treten, um gemeinsam über politische Einschätzungen und Strategien zu beraten. „Daniel: Wir haben schon sehr offen mit denen geredet. Vera: Auch geschimpft Daniel: Was ich mit anderen nicht unbedingt so machen würde. Wir haben schon offen gesagt, dass wir das politisch falsch finden, dass es dumm ist, wie sie reagieren... So würde ich nicht mit jedem Klienten reden. Sondern es war klar: Wir unterhalten uns mit Kooperationspartnern. Das hat eine andere Ebene ausgemacht. Also, diese anfängliche Zeit, bis zum Winter, da haben wir ja immer mit so vier Leuten zusammengesessen, wenn wir denn da waren, da haben wir auch echt immer lange gequatscht, wenn wir denn da waren. Über alles Mögliche.“ (Niebrau_Berater_innen 1_ 428-434)

Zugleich werden von den Berater_innen an verschiedener Stelle auch pädagogische Erklärungen in der Problembeschreibung herangezogen. So wird das jugendliche Alter der Zielgruppe als durchaus bedeutsam herausgestellt. Die Berater_innen interpretieren einen Teil der strategischen Differenzen als Ausdruck einer alterstypischen Suche der Jugendlichen nach eigener politischer Orientierung durch Abgrenzung von Erwachsenen. Das jugendliche Alter wird auf der einen Seite als strategisches Argument eingesetzt. So wird gegenüber anderen lokalen Akteur_innen für Verständnis für das bisweilen konfrontative und polarisierende Auftreten und für strategische Fehler der Jugendlichen aus dem Pferdestall mit dem Argument geworben, dass es sich bei diesem Auftreten um jugendtypisches Verhalten und fehlende Erfahrung im politischen Agieren handelt. So führt Daniel die Eskalation in den Auseinandersetzungen mit dem Ordnungsamt u.a. auf das jugendliche Alter der Nutzer_innen des Pferdestalls zurück. „Daniel: Aus Sicht der Jugendlichen finde ich total berechtigt, dass die sich aufregen, wie mit ihnen umgegangen wurde. Es wurde auch gar nicht berücksichtigt, wie alt die eigentlich sind, dass das noch sehr junge Jugendliche sind und das man das vielleicht auch berücksichtigen sollte und nicht den Behördenalltag voraussetzen bzw. durchsetzen. Dazu war die Behörde

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nicht bereit und nach wie vor nicht bereit, und die Jugendlichen haben es nicht geschafft, clever damit umzugehen.“ (Niebrau_Berater_innen 1_362-367)

Einen Teil der Schwierigkeiten des Pferdestalls führen die Berater_innen zudem darauf zurück, dass zum Klientel des Jugendzentrums ein „schwieriges Publikum“ gehört. „Daniel: Ich glaube nicht, dass unsere Vorschläge alle komplett an den Bedürfnissen vorbeigingen. Aber es sind nur wenige Leute, die organisatorisch etwas in die Hand nehmen und der Pferdestall hat zum Teil auch ein schwieriges Publikum, es sind schwierige Jugendliche, die da kommen.“ (Niebrau_Berater_innen 1_ 393-396)

Dass diese Jugendlichen zum Klientel des Pferdestalls gehören, während sie von anderen Trägern der Jugendarbeit in Niebrau nicht erreicht werden, führen die Berater_innen in den lokalen Auseinandersetzungen um den Erhalt des Pferdestalls als Argument für den Wert der Einrichtung an. Als Erklärung für die auch aus ihrer Sicht problematischen Verhaltensweisen führen die Berater_innen zudem die Entwicklungsphase der Jugendlichen an. „Daniel: Sie haben es mit Jugendlichen zu tun... Jugendliche sind nicht immer sozial angepasst, das ist auch gut so und das sollte man schätzen.“ (Niebrau_Berater_innen 1_ 778-779)

Uneindeutig ist, wie sich die Altersdifferenz auf das Beratungsverhältnis auswirkt. So kann sie vor allem als Differenz der Erfahrung in Bezug auf Handlungsstrategien gesehen werden, wobei die Jugendlichen im Beratungsverhältnis von den Erfahrungen der Berater_innen profitieren können. So beschreibt Oliver, sich auf das Beratungsverhältnis eingelassen zu haben, weil die Berater_innen durch die persönliche Verbundenheit zum Pferdestall vertrauenswürdig erschienen und sich dann als inhaltlich kompetent erwiesen haben, weil sie über das notwendige Struktur- und Handlungswissen verfügten, das ihm selbst fehlte. Dass eine solche Kooperationsbeziehung aber nicht selbstverständlich ist, wird daran deutlich, dass die Berater_innen den Aufbau eines Vertrauensverhältnisses als wesentlichen Aspekt ihrer Tätigkeit beschreiben. Die Kooperationsbeziehung zwischen Berater_innen und Jugendlichen kann nicht qua Entscheidung der Berater_innen etabliert, sondern muss erst hergestellt und aufrechterhalten werden. Vor diesem Hintergrund können die Prämissen für mögliche unterschiedliche Einschätzungen der Situation und strategische Überlegungen nicht immer eindeutig geklärt werden, weil die Berater_innen fürchten müssen, dass das Vertrauensverhältnis gefährdet wird oder dass ihre Ratschläge von den Jugendlichen als Paternalismus aufgenommen werden. Um ein vertrauensvolles Beratungsverhältnis aufzubauen, greifen die Berater_innen auf Techniken zurück, die darauf zielen, den Zugang zur Beratung möglichst

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niedrigschwellig zu gestalten. Sie schildern mehrere Abende, die sie im Pferdestall verbracht und mit denen ‚gequatscht‘ haben, die gerade da waren, und orientierten sich damit zur Kontaktaufnahme an den Orten, Zeiten und Kommunikationsstilen der Zielgruppe. Auch die Präsenz bei Demonstrationen oder anderen Aktionen schildern die Berater_innen als wesentliche Momente, um in Kontakt zu kommen. Weiter entschieden sich die Berater_innen, nicht nur im engen Sinne in Bezug auf konkrete Vorfälle rechter Gewalt zu beraten, sondern die Themen und Anliegen der Jugendlichen aufzugreifen. Konflikte zwischen Polizei und Pferdestall, lokale Auseinandersetzungen, in die der Pferdestall involviert ist, der alltägliche Betrieb und die drohende Schließung des Pferdestalls sind Themen der Jugendlichen, denen sich die Berater_innen annehmen. Erfolgreich konnte die Beratung aber deshalb werden, so die Berater_innen, weil sie sich nicht nur in einem professionellen Verhältnis zu den Jugendlichen im Pferdestall sahen, sondern als Verbündete mit geteilten politischen Zielen. Daniel hebt hervor, dass es „sehr, sehr entscheidend [war], dass wir da auch einen Blick hatten für die ganze Situation“ (Niebrau_Berater_innen 2_518-519), wodurch ein Kooperationsverhältnis ermöglicht wurde, in dem auch strategische Differenzen formuliert und diskutiert werden konnten. „Daniel: Also, einfach dieses Immerdasein, bei allen möglichen Gelegenheiten und Anlässen, dass man so quatscht miteinander, und wenn es nur fünf Minuten sind und das fortwährend, das war, glaube ich, total wichtig, um Vertrauen in uns zu gewinnen, dass man sehr offen miteinander reden kann. […] Und ich glaube, das hat uns unterschieden von anderen Kooperationspartnern im Ort, dass sie da anders strategisch umgehen mussten mit den Leuten. Und mit uns, glaube ich, mussten sie nicht strategisch umgehen. Weil genau dieses Vertrauen da war und die Offenheit da war und man sich auch anders noch mal kritisieren konnte. [...] Ich finde vom Ergebnis ist das richtig gut gelaufen. [...] Wir waren ein Rädchen von vielen in diesem ganzen Prozess der Auseinandersetzung. Ich glaube, ein Rädchen, was wichtig war, weil ich glaube auch, [lachend] dass wir gute Sachen gesagt haben. Also, [wieder ernst] unsere Einschätzung war doch – wir sind ja sehr geschwommen, am Anfang und waren sehr unsicher [...] – und diese Taktik, sich Kooperationspartner zu suchen, Netzwerke zu bilden in der Stadt zu schauen, wo kriegt man Unterstützung her, das war genau die richtige Taktik, die im Endeffekt für den Pferdestall zum Erfolg geführt hat.“ (Niebrau_Berater_innen 2_372-391)

Wesentliches Kriterium für eine gelungene Beratung ist vor diesem Hintergrund nicht in erster Linie die gelungene Beziehungsarbeit, sondern dass sich die Problemanalyse und die strategischen Überlegungen der Berater_innen als richtig erwiesen haben, sie also die Jugendlichen aus dem Pferdestall inhaltlich, insbesondere in Bezug auf politische Handlungsoptionen, richtig beraten haben. „Vera: Das Beraten, wo wir, glaube ich, auch die richtige Position vertreten haben, mit der Mäßigung im Kommunikationsstil und so. Da hätten wir uns auch irren können. Aber wir haben

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das beobachtet, haben uns da eine Position zu gebildet und haben dann denen immer ins Ohr geflüstert, wenn sie uns zuhören wollten. Das war, finde ich, der Hauptteil der Arbeit. Es waren jetzt weniger die konkreten Sachen, diese Briefchen und so.“ (Niebrau_Berater_innen 2_365370)

Um die Beratungshaltung deutlich zu machen, grenzt Daniel das eigene Handeln scharf von psychologischer und sozialpädagogischer Praxis ab. „Daniel: Also, dass die ein Gefühl für uns entwickelt haben und mitgekriegt haben, ja mit denen kann man sich auch einfach mal treffen, das sind jetzt nicht so Psycholeute oder so Sozialarbeiter oder Opferhilfe oder was auch immer, sondern mit denen kann man sich auch einfach mal zusammensetzen und quatschen. (Niebrau_Berater_innen 2_513-517)

Im Rahmen eines späteren Gesprächs zur Validierung der Ergebnisse konkretisieren die Berater_innen das Gesagte dahingehend, dass sich die Abgrenzung auf ein verbreitetes Bild von Sozialarbeit, Psychologie und Opferhilfe als individualisierende und paternalistische Praxis bezieht. So hätten die Jugendlichen berechtigte Sorgen, dass der Kontext der Taten von Sozialpädagog_innen und Psycholog_innen nicht einbezogen werde und sie nur zu Strategien angehalten würden, den Problemen aus dem Weg zu gehen, indem sie ihr eigenes Verhalten veränderten. Im Gegensatz zu der im obigen Zitat vorgenommenen Polarisierung zwischen psychologischer Praxis, Sozialarbeit und Opferhilfe, die von dem politisch strukturierten Alltag der Betroffenen abstrahieren, und dem politischen Beratungsangebot der OBS hat Becker (1992; 2006) den Zusammenhang zwischen psychologischen und politischen Dimensionen in der psychosozialen Unterstützung von Gewaltopfern herausgestellt. Die psychologische Unterstützung stehe nicht im Gegensatz zu politischen Perspektiven, sondern erfordere die Anerkennung des politisch strukturierten Alltags der Betroffenen. Wenn politische Verhältnisse die Lebenssituation von Patient_innen und Therapeut_innen einschneidend bestimmen, könne eine therapeutische Beziehung nicht neutral bleiben (Becker 1992: 217). Die OBS hat in den politischen Auseinandersetzungen in Niebrau eine parteiliche und politische Position bezogen. Diese kann als Voraussetzung für eine Beziehung gesehen werden, in der auch die emotionalen, psychischen Dimensionen der Gewalterfahrungen aufgehoben sein können. Individuelle Befindlichkeit und politischer Aktivismus – das Ausgliedern psychologischer Dimensionen aus der Beratung Für Oliver bestand, wie oben beschreiben, ein wesentlicher Nutzen der Beratung darin, hier einen Raum zu finden, in dem die Auseinandersetzung mit der eigenen Angst möglich wurde. Das Beratungsverhältnis konnte ihm diesen Raum eröffnen, weil er

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die Berater_innen als fachlich kompetent erlebt hat, sie ihm Strukturwissen vermitteln konnten, welches ihm zur Einschätzung der Situation und eigener Handlungsoptionen fehlte. Von großer Bedeutung ist für Oliver aber auch, dass die Berater_innen auf seiner Seite standen. Eine Qualität der Beratung kann also darin gesehen werden, dass Sprechen über das emotionale Befinden und das politische Selbstverständnis des Betroffenen nicht getrennt werden. „Vera: Also, mit Oliver, so heißt der eine, der versteht sich schon so als politisch aktiver Antifaschist und mit dem habe ich mich auch noch mal getroffen wegen seinem Angriff und der hat auch immer noch so ein bisschen psychisch mit den Folgen zu tun, das ist noch präsent bei ihm, deswegen hatte ich mich mit ihm getroffen und dann bespricht man auch, was so alles los ist in Niebrau und dann schildert der, wie positiv er auch die Entwicklung wahrnimmt und dass er sich da so freut. Das wird da in einem Zusammenhang verhandelt.“ (Niebrau_Berater_innen 2_460-466)

Oliver bezieht sich im Interview immer wieder positiv auf den Vorschlag der Berater_innen, psychologische Hilfe zu vermitteln, setzt ihn aber nicht um. Die OBS hat angeboten, einen Kontakt zur allgemeinen Opferhilfe herzustellen, die stabilisierende psychologische Gespräche bis hin zu einer Kurztherapie anbietet. Trotz der – im Gegensatz zu einer Therapie bei niedergelassenen Therapeut_innen – Niedrigschwelligkeit des Angebotes, ist für Oliver der Schritt, psychologische Hilfe zu beanspruchen, sehr groß. Durch die Vermittlung an externe psychologische bzw. therapeutische Angebote wird die Verbindung zwischen dem politischen Selbstverständnis und Alltag von Oliver und den psychischen Dimensionen der Gewalterfahrung aufgetrennt. Die Berater_innen konnten Oliver vermitteln, dass sie ihn als politisch aktiven Menschen ernst nehmen, seine Problemlage in Niebrau verstehen und dass sie vor diesem Hintergrund auch für seine psychische Leidensdimension ansprechbar sind. Die Berater_innen haben ihre Aufgabe praktisch aber vor allem in der Beratung und Unterstützung in Bezug auf die Anzeigenstellung und im Umgang mit der Polizei gesehen und für die Bearbeitung psychischer Dimensionen an psychologische Fachkräfte weiterverwiesen. Für Oliver ist die Gewalterfahrung aber mit dem von ihm politisch gedeuteten Kontext verbunden. Seine Angst bezieht sich auf konkrete politische Auseinandersetzungen in konkreten lokalen Kräfteverhältnissen. Hier könnte eine wesentliche Rolle der Berater_innen darin bestehen, mit den psychischen Folgen der Gewalt unterstützend umzugehen, d.h. mit den Betroffenen nach Umgangsstrategien und Entlastungsmöglichkeiten zu suchen, ohne dies von dem politischen Kontext abzutrennen. Gerade die Verbindung der fundierten Kenntnis der politischen Situation, die eine Gefahreneinschätzung ermöglicht, sowie das Wissen über Handlungsoptionen in dieser Situation ermöglicht Oliver nicht nur, seine Emotionalität zu thematisieren, sondern auch, Umgangsstrategien zu entwickeln, die zu einer emotionalen Stabilisierung beitragen. Die Stärke der Beratung läge

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hier darin, dass sie über die eigene politische Verortung bzw. soziokulturelle Nähe auch einem Klienten wie Oliver, für die das Aufsuchen von Psycholog_innen nicht infrage kommt, Handlungsmöglichkeiten eröffnet. Gerade die eher nebenher stattfindenden und an den politischen Alltag der Betroffenen anknüpfenden Gespräche können vor diesem Hintergrund in ihrer auch emotional stabilisierenden Funktion für die Betroffenen gesehen werden. 7.5.3

Spezifische Bedingungen gelingender lokaler Intervention

Den eigenen Beitrag an der Konfliktlösung in Niebrau zu bestimmen, fällt den Berater_innen schwer. Ausgehend von der Reflexion des Fallverlaufs in Niebrau formulieren sie spezifische Bedingungen, die den positiven Verlauf der lokalen Intervention ermöglichten. Mit den Jugendlichen im Pferdestall gab es in Niebrau Adressat_innen für eine Intervention. Die Gewalt hatte hier aufgrund der Häufung der Angriffe auf alternative Jugendliche eine kollektive Dimension; sie war nicht gegen einzelne Jugendliche, sondern den Pferdestall als Ort alternativer Jugendkultur gerichtet. Die Gewaltfälle konnten damit zum politischen Thema werden, welches über die konkrete Betroffenheit Einzelner hinauswies. Der Umgang mit der Gewalt verband sich mit dem Interesse, den Pferdestall als Ort links-alternativer Jugendkultur und damit als Gegenkraft zur Ausweitung rechter Strukturen zu erhalten. Es ließen sich also Themen finden, die einerseits mit konkreten Gewaltfällen zusammenhingen, aber zugleich über sie hinauswiesen. Die Jugendlichen, die nicht selbst von Gewalt betroffen waren, waren bereit, Gewalt zum politischen Thema zu machen und hatten ein eigenes Interesse an einer Intervention im Gemeinwesen. Sie hatten zudem konkreten Beratungs- und Unterstützungsbedarf, den die OBS bedienen konnte. In Niebrau traf die OBS mit dem Pferdestall also auf Jugendliche, die ein Interesse an einer stärkeren Position im Gemeinwesen hatten und damit Adressat_innen der Perspektive des Empowerments sein konnten. Niebrau zeichnet sich, so die Berater_innen, außerdem durch eine ungewöhnlich lebhafte demokratische Zivilgesellschaft aus. Damit gab es im Ort vielfältige Anknüpfungspunkte für die lokale Intervention. Die Kommunikation zwischen den Jugendlichen aus dem Pferdestall und anderen Teilen demokratischer Zivilgesellschaft war zu Beginn der Intervention gestört, aber es war möglich, an das geteilte inhaltliche Interesse anzuknüpfen, der Organisierung der rechten Szene möglichst wirksam entgegenzutreten. Beides ist in ländlichen Gebieten alles andere als selbstverständlich. Es gibt nur in wenigen Orten eine derart engagierte Jugendszenen wie in Niebrau, die sich mit verschiedenen Themen – von politischer Bildung über Flüchtlingsunterstützung bis hin zur Organisierung von Aktionen gegen rechtsextreme Demonstrationen – aktiv in das Gemeinwesen einbringen. Ebenso selten ist ein so breites Netz demokratischer

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Zivilgesellschaft, die, trotz immer wieder auftretender Konflikte, sowohl für die OBS als auch für die Jugendlichen ansprechbar ist. In dieser Konstellation war es möglich, dass die Berater_innen der OBS nach einer Phase der aktiven Intervention sich zunehmend zurückziehen konnten.

8 Erweiterte Datengrundlage – Eine Übersicht

Die in den letzten Kapiteln dargestellten Fallanalysen habe ich durch weitere empirische Zugänge ergänzt: Gruppendiskussionen mit OBS-Mitarbeiter_innen und Interviews mit Ratsuchenden. Die Gruppendiskussionen zielten darauf, das Praxiswissen der Berater_innen als Zusammenhangs- und Widerspruchswissen zu erheben und so die Fallanalysen durch die Schilderung ‚typischer Praxis‘ der Berater_innen ergänzen zu können. Die zwei Interviews mit Ratsuchenden dienten dazu, die in der bisherigen Analyse herausgearbeiteten Begründungszusammenhänge weiter zu differenzieren und zu konkretisieren. Um Längen und Wiederholungen zu vermeiden, verzichte ich auf eine gesonderte ausführliche Darstellung der Gruppendiskussionen und der zusätzlichen Interviews mit Ratsuchenden und werde deren Inhalte im Zuge der Gesamtauswertung in den Kapiteln 9-11 darstellen und diskutieren. Im Sinne der Nachvollziehbarkeit der Gesamtauswertung werde ich im Folgenden zunächst einen kurzen Überblick über die geführten Gruppendiskussionen geben. Anschließend (Kapitel 8.2) werde ich einige Fallkonstellationen, die in den Gruppendiskussionen als Schlüsselfälle diskutiert wurden, umreißen. Im Kapitel 8.3 folgen Kurzportraits zu zwei Interviews mit Betroffenen rechter und rassistischer Gewalt.

8.1

G RUPPENDISKUSSIONEN

8.1.1

Übersicht

Gruppendiskussion 1: Die Praxis einzelfallbezogener Beratung Die Gruppendiskussion zielte darauf, die Relevanz politischer Perspektiven im einzelfallbezogenen Beratungshandeln zu bestimmen und damit verbundene Praxisprobleme zu formulieren. Teilnehmer_innen • Uta, 36 J., Diplompsychologin, Beraterin in der OBS seit vier Jahren

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Omar, 38 J., Politologe, Berater in der OBS seit sechs Jahren Kevin, 43 J., Sozialarbeiter, seit Gründung vor zwölf Jahren Berater in der OBS Ellen, 44 J., Politologin, Beraterin in der OBS seit zehn Jahren, aktuell Geschäftsführerin Ben, 35 J., Politologe, Bildungsarbeiter, Berater in der OBS seit einem Jahr Viktoria, 31 J., Soziologin, Beraterin in der OBS seit drei Jahren

Gruppendiskussion 2: Der Zusammenhang politischer und individueller Dimensionen – Konzeptionelle Überlegungen und praktische Erfahrungen Die Gruppendiskussion sollte folgende Fragestellungen behandeln: Wie ist die konzeptionelle Verbindung von individueller Hilfe und politischer Intervention begründet? Auf welche Beschreibung gesellschaftlicher Probleme und welche Theorien zur Opfererfahrung reagiert der Ansatz der OBS? Zur Vorbereitung hatten die Berater_innen eine kleine Auswahl früher konzeptioneller Texte der OBS gelesen. Die dort formulierte Problembeschreibung, auf die sich die Konzeptentwicklung der OBS bezog, und über die auch der spezifische Zugang der OBS nach außen plausibilisiert wurde, sollte mit der aktuellen Praxis abgeglichen werden. Es gelang in weiten Teilen der Diskussion allerdings nicht, allgemeine konzeptionelle Überlegungen und die konkrete Praxis zu verbinden. Teilnehmer_innen • Uta, 36 J., Diplompsychologin, Beraterin in der OBS seit vier Jahren • Kevin, 43 J., Sozialarbeiter, seit Gründung vor zwölf Jahren Berater in der OBS • Ellen, 44 J., Politologin, seit zehn Jahren in der OBS, aktuell Geschäftsführerin • Ben, 35 J., Politologe, Bildungsarbeiter, Berater in der OBS seit einem Jahr • Viktoria, 31 J., Soziologin, Beraterin in der OBS seit drei Jahren Gruppendiskussion 3: Lokale Intervention Wie wird der Handlungsbereich lokaler Intervention praktisch umgesetzt? Mit welchen praktischen Schwierigkeiten sind die Berater_innen dabei konfrontiert? Der Fokus der Gruppendiskussion lag auf der Schilderung konkreter Beispiele aus der Praxis. Teilnehmer_innen • Omar, 38 J., Politologe, Berater in der OBS seit sechs Jahren • Kevin, 43 J., Sozialarbeiter, seit Gründung vor zwölf Jahren Berater in der OBS • Ben, 35 J., Politologe, Bildungsarbeiter, Berater in der OBS seit einem Jahr • Viktoria, 31 J., Soziologin, Beraterin in der OBS seit drei Jahren

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Gruppendiskussion 4: Juristische Verfahren in der Beratungspraxis Welche Bedeutung hat die Begleitung juristischer Verfahren für die Berater_innen? Mit welchen Schwierigkeiten sehen sie sich konfrontiert? Diese Gruppendiskussion fand etwas mehr als zwei Jahre nach der Gruppendiskussion 3 und nach der Auswertung der ersten drei Gruppendiskussionen statt. Bislang offen gebliebene Themen und Fragen konnten so erneut angesprochen werden. Teilnehmer_innen • Kevin, 45 J., Sozialarbeiter, seit Gründung vor 14 Jahren Berater in der OBS • Ben, 37 J., Politologe, Bildungsarbeiter, Berater in der OBS seit drei Jahren • Volker, 36 J, Sozialarbeiter mit therapeutischer Zusatzausbildung, Berater in der OBS seit zwei Jahren • Leonie, 47 J., Sozialarbeiterin, langjährige Berufserfahrung, in der OBS seit einem Jahr. 8.1.2

Schlüsselfälle aus den Gruppendiskussionen

In den Gruppendiskussionen haben die Berater_innen verschiedene Beratungskonstellationen geschildert. Auf einige dieser Fallschilderungen kamen die Berater_innen zu unterschiedlichen Zeitpunkten in den Gruppendiskussionen und im Kontext verschiedener Überlegungen zurück. Diese Schlüsselfälle werde ich im Folgenden kurz darstellen und dann in den folgenden Kapiteln aufgreifen. Familie Al-Shami Die Berater_innen Omar und Uta berichten von der Familie Al-Shami. Frau AlShami ist allein mit ihren drei Kindern aus Syrien nach Deutschland geflohen und war in einer Sammelunterkunft in einer kleinen ostdeutschen Stadt untergebracht (vgl. Falldokumentation_Al-Shami).1 Ungefähr ein Jahr nach Ankunft der Familie wurde der fünfzehnjährige Sohn auf dem Schulweg von einer Gruppe Jugendlicher überfallen und schwer verletzt. Er verlor das Bewusstsein und wurde ins Krankenhaus eingeliefert. An den genauen Tatablauf konnte er sich später nicht mehr erinnern. Wenige Wochen nach dem Angriff erlitt Frau Al-Shami einen psychischen Zusammenbruch und verbrachte einige Tage in einem psychiatrischen Krankenhaus.

1

In den Gruppendiskussionen berichten die Berater_innen in verschiedenen Zusammenhängen über den Fall der Familie Al-Shami. In den Schilderungen wird dabei Wissen über den Fallverlauf vorausgesetzt, welches nicht in den Gruppendiskussionen expliziert wird. Aus diesem Grund habe ich zusätzlich Einblick in die Falldokumentation (‚Fallakte‘) genommen, um die von den Berater_innen hervorgehobenen Aspekte in den Fallverlauf einordnen zu können.

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Die OBS erfuhr über eine Dolmetscherin von dem Vorfall, nachdem Frau Al-Shami aus dem Krankenhaus entlassen worden war. Als die OBS in Kontakt mit der Familie kam, berichteten der Betroffene und seine Geschwister von regelmäßigen Anfeindungen durch Mitschüler_innen in der Schule und auf dem Schulweg. Sie schilderten zudem, dass sich mehrfach Menschen am Zaun der Unterkunft versammelt und Bewohner_innen beschimpft und bedroht hätten. Die Berater_innen beschreiben, dass auch in der Folgezeit vor allem die Mutter massiv psychisch belastet war und Unterstützungsbedarf signalisierte. Neben der Sorge um ihren Sohn thematisierte Frau Al-Shami vor allem die als sehr belastend erlebte Lebenssituation. In der Sammelunterkunft war die gesamte Familie in einem Raum untergebracht. Küche und sanitäre Anlagen mussten sie mit den anderen Bewohner_innen teilen. Alle Versuche der Frau, sich in der Unterkunft für eine Verbesserung der schlechten hygienischen Bedingungen einzusetzen, waren u.a. aufgrund von Verständigungsschwierigkeiten gescheitert. Das Verhältnis zu den Sozialarbeiter_innen in der Sammelunterkunft und anderen potenziellen Unterstützer_innen schildern die Berater_innen als angespannt bis ablehnend. Als die OBS Familie AlShami kennenlernte, hatte das Sozialamt gerade das Anliegen der Familie, innerhalb der Stadt in eine eigene Wohnung zu ziehen, abgewiesen. Zuvor hatte die Familie eine Wohnung, die ihnen angeboten worden war, aufgrund von Schimmelbefall abgelehnt. Die Berater_innen vermuten, dass die Familie, die in Syrien der gebildeten, städtischen Oberschicht angehört hatte, ihre aktuelle Lebenslage in der ostdeutschen Kleinstadt als besondere Degradierung empfand. Demgegenüber erlebten die Hilfssysteme in Deutschland, an die Frau Al-Shami ihre Versuche, die Lebenssituation ihrer Familie zu verbessern, adressierte, die Familie als anmaßend und undankbar. Die OBS bemühte sich um vermittelnde Gespräche mit den Sozialarbeiter_innen in der Unterkunft und der Schule der Kinder, die aber aus Sicht der Berater_innen unbefriedigend verliefen. Sie unterstützte den Umzug der Familie in eine andere Stadt und begleitete die Familie in der Bewältigung alltagspraktischer Problemstellungen. Aufgrund fehlender Zeug_innen konnten keine Täter_innen für den Überfall auf den Sohn gefunden werden. Die Tat wurde nicht aufgeklärt. Tülay Der Berater Ben berichtet von der Schülerin Tülay, die mit ihrer Familie in einer mittelgroßen Stadt lebte, in der sie auch geboren ist. Die siebzehnjährige Enkelin von Einwander_innen aus der Türkei wurde von Mitschülerinnen in der Schule wiederholt rassistisch beschimpft. Als sie sich verbal zur Wehr setzte, wurde sie von einer Mitschülerin ins Gesicht geschlagen. Eine andere Mitschülerin zeigte den ‚Hitlergruß‘. Lehrer_innen, die den Vorfall beobachteten, griffen nicht ein. Gravierender als die Gewalt der Mitschülerin sei für die Betroffene gewesen, so der Berater, dass die Lehrerin nicht eingegriffen habe. Beim ersten Treffen mit der OBS sei Tülay auf-

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grund der für sie derartig belastenden Situation „gerade dabei [gewesen], ihre Schulbiografie abzubrechen.“ (Teamdis1_354) Der Berater Ben bemühte sich um klärende Gespräche in der Schule, um für Tülays Situation zu sensibilisieren und Möglichkeiten der Unterstützung für Tülay im Zusammenhang mit den rassistischen Anfeindungen zu diskutieren. Im Gespräch hätten die Lehrerin sowie die Schulleitung allerdings keinerlei Bereitschaft gezeigt, sich für Tülay und ihren Verbleib an der Schule einzusetzen, sondern vor allem betont, dass Tülay „ja auch kein Engel“ sei. (vgl. Falldokumentation Tülay)2 Herr Akgün Der Berater Kevin berichtet von Herr Akgün, der in der touristisch geprägten Kleinstadt Schönberg einen Imbiss betrieben hatte. Auf den Imbiss wurde ein Brandanschlag verübt, wodurch Herr Akgün seine Existenzgrundlage verlor. Zum Zeitpunkt des Interviews lag der Vorfall bereits mehrere Jahre zurück. Damals hatte die OBS in einer lokalen Intervention dafür geworben, sich am Wiederaufbau des niedergebrannten Imbisses zu beteiligen, und sie hat Herr Akgün in der Vertretung seiner Interessen unterstützt. Über den Imbissbrand wurde breit in lokalen und überregionalen Medien berichtet. Der entstandene Sachschaden konnte durch eine Spendensammlung und finanzielle Unterstützung durch die Stadt behoben werden. Die Ziele der von der OBS initiierten lokalen Intervention schienen erreicht und der Beratungsfall abgeschlossen. Allerdings war Herr Akgün in Folge des Angriffs gesundheitlich nicht mehr in der Lage, in der Stadt zu leben und im Gastronomiegewerbe tätig zu sein. Er zog in eine andere Stadt, suchte andere Betreiber_innen für den Imbiss und wollte den Imbiss schließlich ganz verkaufen. Dabei war er mit bürokratischen Hürden konfrontiert, die – so der Bericht der Berater_innen – mit Ressentiments aus der Stadtverwaltung gegenüber Herrn Akgün zusammenhingen. Herr Akgün suchte erneut die Unterstützung der OBS. Der Berater Kevin diskutierte mit Herrn Akgün mögliche Umgangsstrategien, unterstützte ihn beim Formulieren von Briefen und begleitete ihn zu Gesprächen und Verhandlungen. In der Gruppendiskussion thematisiert der Berater Kevin widersprüchliche Effekte der Medienberichterstattung und der Spendensammlung. So sei der Betroffene wegen des Engagements für den Aufbau seines Imbisses mit Missgunst und Verleumdung u.a. von anderen Gewerbetreibenden konfrontiert gewesen. Zudem seien durch den Wiederaufbau des Imbisses Erwartungen an den Betroffenen verbunden gewesen, in der Stadt zu bleiben. Diese Erwartungen und die wahrgenommene Missgunst habe ihn in seiner Lebensführung

2

Wie im Fall Al-Shami berichten die Berater_innen in den Gruppendiskussionen mehrfach über den Fall von Tülay, ohne den Fallverlauf zusammenhängend zu explizieren. Daher wurde auch in diesem Fall zusätzlich Einblick in die Falldokumentation (‚Fallakte‘) genommen, um die von den Berater_innen hervorgehobenen Aspekte in den Fallverlauf einordnen zu können.

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(z.B. in der Entscheidung, aus der Stadt wegzuziehen oder den Imbiss aufzugeben) maßgeblich eingeschränkt. Die Medienberichterstattung habe zwar ermöglicht, dass direkt nach dem Brandanschlag Unterstützung für den Wiederaufbau mobilisiert werden konnte. Der Berater vermutet allerdings, dass die Unterstützungsbereitschaft vor allem durch Sorge um den Ruf der vom Tourismus lebenden Stadt motiviert gewesen sei. Es sei nicht gelungen, in der Stadt langfristig lokale Akteur_innen zu finden, die die Auseinandersetzung mit Rassismus und Rechtsextremismus als eigene Anliegen verfolgen und Herrn Akgün unterstützen. Gabriel und der Verein der deutsch-polnischen Begegnung in Erlenberg Die Berater_innen Viktoria und Omar brachten die Stadt Erlenberg in die Diskussion über lokale Interventionen ein. Hier stand die Fallbearbeitung noch am Anfang, und die Gruppendiskussion wurde zur Klärung genutzt, ob und wie eine lokale Intervention sinnvoll ist. Dabei schätzten die Berater_innen die Ausgangskonstellation unterschiedlich ein. Sie berichten von verschiedenen Vorfällen in der mittelgroßen Stadt, die in keinem direkten Zusammenhang stehen. Zum einen steht die OBS bereits seit mehreren Jahren in Kontakt mit Gabriel, einem Mann, der immer wieder mit rassistischen Diskriminierungen, Anfeindungen und Bedrohungssituationen konfrontiert ist. Als er Zeuge wird, wie auch sein Sohn bei einem Fußballspiel rassistisch beleidigt wird, entschließt sich Gabriel, die Stadt zu verlassen. Überregionale Zeitungen berichteten über Gabriels Wegzug, was zu einer erregten Diskussion in der Stadtöffentlichkeit führte. Gabriel nutzte die Berater_innen der OBS während des Prozesses als Gesprächspartner_innen zur Reflexion seiner Lage, und auch nach seinem Wegzug sprachen die Berater_innen und Gabriel regelmäßig am Telefon miteinander. In derselben Stadt randalierten Betrunkene im Lokal des Vereins der deutschpolnischen Begegnung. Im Zuge der Auseinandersetzung wurde die Wirtin rassistisch beschimpft. Beide Vorfälle verbindet, dass im lokalen öffentlichen Diskurs ein rassistischer Hintergrund der Ereignisse bestritten wird und die Betroffenen sich dem Vorwurf ausgesetzt sehen, die Stadt ‚in ein schlechtes Licht‘ zu stellen. Die Beraterin Viktoria denkt aufgrund dieses lokalen Umgangs mit beiden Vorfällen über Möglichkeiten einer lokalen Intervention nach. Der Berater Omar argumentiert demgegenüber, dass der konkrete Vorfall im Vereinslokal nicht eindeutig auf Rassismus zurückzuführen sei. Der Verein der deutsch-polnischen Begegnung sei real nicht als interkultureller Verein wahrnehmbar, da es kein aktives Vereinsleben gebe. Das Vereinslokal funktioniere eher als normale Kneipe. Zum Streit sei es gekommen, als die Wirtin die Kneipe schließen und die stark alkoholisierten Gäste herausschicken wollte. Im Zuge der Auseinandersetzung hätten die Männer die polnische Flagge von der Wand gerissen und zerstört sowie die Wirtin mit sexistischen und antipolnischen Schimpfworten beleidigt. Der Kern der Auseinandersetzung sei auch für die betroffene Wirtin allerdings nicht die rassistische Beleidigung gewesen. Sie habe die

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Situation vielmehr als überaus unangenehme Eskalation der Kneipensituation bewertet. Der Jugendclub Keller in Neustadt Die Berater_innen Ben und Vera berichten von einem Beratungsprozess im Jugendclub Keller in der kleinen Stadt Neustadt. Anlass war eine Reihe von Angriffen auf alternative Jugendliche und junge Erwachsene in der Stadt sowie auf den alternativen Jugendtreff Keller. Die Neustadt war durch ihre gewaltbereite Neonaziszene seit Anfang der 1990er Jahre immer wieder in die Schlagzeilen geraten. Sie hat bis heute eine gut etablierte rechtsextreme Szene, die bis ins lokale Handwerk hinein breit verankert ist. Der Keller wurde in den 1990er Jahren von alternativen Jugendlichen als Ort alternativer Jugendkultur und explizit als Projekt „gegen Rechtsextremismus und Rassismus“ gegründet. Seitdem wurde der Treffpunkt von einem Verein verwaltet und von der Stadtverwaltung durch die Übernahme der (sehr niedrigen) Miete unterstützt. Nachdem die in der Anfangszeit für den Keller engagierten Jugendlichen die Schule abgeschlossen und in andere Städte gezogen waren, wurde der Treffpunkt einige Zeit nur wenig genutzt, bis sich vier Jugendliche bzw. junge Erwachsene entschlossen, den Treffpunkt wiederzubeleben. Im selben Zeitraum wurden mehrere rechte Angriffe in der Stadt bekannt. Mehrfach wurde auch der Keller selbst zur Zielscheibe. Es wurden die Tür des Treffpunkts eingetreten, die Hauswand des Gebäudes mit Naziparolen und Drohungen besprüht und vor dem Treff stehende Fahrräder und Autos beschädigt. Schließlich wurde ein Brandsatz durch ein Fenster geworfen. Verletzt wurde dabei niemand. Durch die häufigen Angriffe wurden jedoch auch Nachbar_innen des Jugendtreffs in Mitleidenschaft gezogen. Diese übten nun Druck auf den Vermieter aus, den Mietvertrag nicht zu verlängern. Gleichzeitig hatte es beim selbstverwalteten Jugendtreff einen Generationswechsel gegeben, so dass der Kündigungsdrohung kaum etwas entgegengesetzt wurde. Neben der Beratung und Unterstützung der einzelnen Gewaltbetroffenen bemühten sich die Berater_innen der OBS um den Erhalt des Treffpunkts. Sie versuchten, gemeinsam mit den Jugendlichen eine Strategie zu entwerfen, wie der Verein reorganisiert werden kann und stellten Kontakte zu potenziellen Unterstützer_innen her. Die Unterstützungsangebote lokaler und überregionaler Akteure wurden von den Jugendlichen allerdings kaum aufgegriffen.

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8.2

Z USÄTZLICHE I NTERVIEWS K URZPORTRAITS

8.2.1

Marvin

MIT

G EWALT

R ATSUCHENDEN –

Marvin war aus Kenia zur Aufnahme eines Studiums in eine mittelgroße ostdeutsche Stadt gekommen. Er studierte und lebte seit vier Jahren in der Stadt, als er nachts von seiner Arbeit im Schichtdienst nach Hause ging. Zwei stark alkoholisierte Männer stellten sich ihm in den Weg, beleidigten ihn rassistisch und folgten ihm dann auf dem weiteren Heimweg. Schließlich – kurz vor Marvins Wohnhaus – holten die Männer Marvin ein. Einer begann, ihn zu schlagen und zu treten. Marvin konnte sich verteidigen, indem er den Angreifer zu Boden warf. Inzwischen waren auch Anwohner_innen zum Ort des Geschehens gekommen: Eine Marvin unbekannte Frau sowie Marvins Mitbewohner, den er telefonisch verständigt hatte. Dieser rief die Polizei, die kurz darauf eintraf. Marvin beschreibt, wie seine Erleichterung über die Anwesenheit der Anwohnerin schwand, als diese ihn ebenfalls rassistisch beleidigte und deutlich wurde, dass sie sich auf die Seite der Angreifer stellte, die sie offenbar kannte. Als besonders gravierend beschreibt Marvin, dass auch einer der zum Tatort gekommenen Polizeibeamten rassistische Bezeichnungen verwandte, als er über Funk Verstärkung anforderte. Marvin zeigte in der Folge nicht nur die Körperverletzung, sondern auch die Beleidigung durch den Polizeibeamten an. Erst mehrere Wochen später wurde der Vorfall öffentlich bekannt. Zeitungen berichteten, und die OBS nahm Kontakt zu Marvin auf. In den Wochen vor und nach dem Vorfall waren in der Stadt mehrere rassistische Gewalttaten bekannt geworden. Ein Bündnis, welches von der lokalen Antifa initiiert wurde und an dem sich Studierende der Hochschule sowie das zivilgesellschaftliche Bündnis Runder Tisch Stadt M3 beteiligten, organisierte, mit Unterstützung der OBS, eine Demonstration ‚Gegen Rassismus und rechte Gewalt‘. Die OBS unterstützte Marvin im Umgang mit Presseanfragen und in Bezug auf die Wahrnehmung rechtlicher Möglichkeiten. Marvins Anzeige gegen den Polizeibeamten wurde allerdings nach kurzer Zeit eingestellt. Auch im Fall der Körperverletzung kam es zu keinem Schuldspruch. Der Angreifer hatte seinerseits Anzeige gegen Marvin gestellt. Noch bevor der Angriff auf Marvin verhandelt wurde, lud das Gericht Marvin als Beschuldigten vor. Hier schlug der Richter einen Vergleich vor und beide Verfahren wurden ohne weitere Erörterung des Tatablaufes eingestellt.4

3

Bestehend aus Vertreter_innen von Parteien, Kirchen, Gewerkschaften, der Stadtverwal-

4

Zur Rekonstruktion dieser Zusammenhänge wurde die Falldokumentation der OBS heran-

tung, der Polizei, der offenen Jugendarbeit sowie einzelnen Engagierten. gezogen, in der u.a. die Einstellungsbescheide abgeheftet sind.

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8.2.2

Juliane

Juliane war 16 Jahre alt und wollte mit ihrem noch neuen Freundeskreis an einem Sommerabend im Park am See feiern. Die Gruppe alternativer Jugendlicher machte ein Lagerfeuer, trank Bier, sang und unterhielt sich, als sie nach Einbruch der Dunkelheit plötzlich von einer Gruppe Neonazis überfallen wurde. 15-25 Personen, schätzt Juliane, griffen mit Baseballschlägern und Eisenstangen an. Juliane und ihre Freund_innen versuchten panisch, sich in Sicherheit zu bringen. Viele wurden aber schwer verletzt und mussten im Krankenhaus behandelt werden. Für Juliane waren die psychischen Folgen noch schwerwiegender als die körperlichen. Einige Monate nach der Tat erlitt sie einen psychischen Zusammenbruch, der u.a. dazu führte, dass sie ihre Ausbildung abbrach. Angstzustände holten sie noch Jahre nach der Tat immer wieder ein. Der Angriff erfuhr breite öffentliche Aufmerksamkeit. Wenige Tage nach der Tat demonstrierten mehrere Hundert Menschen ihre Solidarität mit den Opfern und gegen rechte Gewalt. Medien berichteten ausgiebig. Ein Prozess gegen die mutmaßlichen Täter_innen wurde erst mit großer Verzögerung eröffnet. Er endete mit Freisprüchen, da den Tatverdächtigen ihre Tatbeteiligung nicht zweifelsfrei nachgewiesen werden konnte.

9 Die subjektive Bedeutung der Gewalt

In den folgenden Kapiteln werde ich die Ergebnisse der von mir gewählten verschiedenen empirischen Zugänge zusammenführen, in Bezug zueinander und zu dem in den Kapiteln 2 und 3 referierten Forschungsstand setzen. Im Kapitel 2 habe ich den Forschungsstand zu subjektiven Folgen rechter und rassistischer Gewalt ausgeführt und mich dabei insbesondere auf Ergebnisse der britischen und US-amerikanischen hate-crime – Forschung bezogen. Im Folgenden werde ich zentrale Ergebnisse dieser Forschungen auf der Grundlage meines empirischen Materials weiter konkretisieren und differenzieren.

9.1

D IE V IELFÄLTIGKEIT DER G EWALT

DER SUBJEKTIVEN

B EDEUTUNG

Der bisherige Forschungsstand hebt auf die Gemeinsamkeiten und die besondere Schwere der subjektiven Folgen von hate crimes im Vergleich zu Delikten ohne diskriminierenden Hintergrund ab. Auch wenn hate crimes im Schnitt die Betroffenen schwerer beeinträchtigen als andere Gewalt, gehen Betroffene sehr unterschiedlich mit der Gewalterfahrung um. Nicht alle berichten gleichermaßen von psychischen Belastungen aufgrund der Gewalt. Für die psychosoziale Unterstützung der Betroffenen ist es zentral, die konkreten Prozesse und Zusammenhänge zu verstehen, aus denen die subjektive Bedeutung der Gewalt für die Betroffenen verständlich wird. So beschäftigen sich die Schilderungen der Berater_innen in den Gruppendiskussionen vor allem mit der Frage, womit die sehr unterschiedlichen Reaktionen der Betroffenen auf die Gewalt zusammenhängen. Sie beschreiben, dass manche der Betroffenen die Gewalt als massiven Einschnitt erleben und psychisch sehr belastet sind, während sich andere kaum beeindruckt von der Gewalterfahrung zeigen. „Kevin: Und auf der anderen Seite wieder ein Teil der Jugendlichen, der uns sagt: ‚Ja, klar, mal wieder auf die Fresse gekriegt, das passiert halt immer mal.‘“ (Teamdis2_784-785)

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Die Unterscheidung zwischen 1. Betroffenen rassistischer Gewalt und 2. links-alternativen Jugendlichen und 3. politischen Aktivist_innen zieht sich als Ordnungskriterium der Berater_innen durch alle Gruppendiskussionen. Eine Beraterin stellt sogar grundsätzlich infrage, ob sich überhaupt Gemeinsamkeiten zwischen rassistischer Gewalt und Gewalt gegen links-alternative Jugendliche in Bezug auf die subjektiven Folgen für die Betroffenen feststellen lassen. „Ellen: Aber ich finde trotzdem, dass es zumindest ein gewisses Problem ist, ob das, was du gerade gesagt hast, die Wirkung von Angriffen auf Leute, die wegen ihrer Hautfarbe angegriffen wurden, ob das einfach so übertragen werden kann auf Leute, die angegriffen wurden, weil sie Linke sind.“ (Teamdis2_870-873)

Die Praktiker_innen formulieren in der weiteren Diskussion vielfältige PrämissenGründe-Zusammenhänge, die die Unterscheidung von ‚Opfergruppen‘ plausibel machen. Deutlich wird aber auch, dass die Betroffenengruppen in sich sehr heterogen sind und unterschiedliche Dimensionen die Qualität der subjektiven Gewaltfolgen beeinflussen, die z.T. auch quer zur offensichtlichen Unterscheidung nach ‚Opfergruppen‘ liegen. In eine ähnliche Richtung gehen die Überlegungen von Meyer (2010), der die unterschiedlich schweren Folgen bei „LGBT1 hate crime victims“ mit der divergierenden Verortung der Betroffenen in intersektionalen Machtverhältnissen in Verbindung bringt. Meyer kritisiert, dass sich die bisherigen Forschungen zu homo- und transphoben hate crimes in der Regel auf ‚weiße‘ Männer aus der Mittelschicht beziehen. Die Ergebnisse seiner Studie zeigen dagegen „significant differences between middle-class white respondents and low-income people of colour in terms of how they evaluate the severity of their violent experiences.“ (Ebd.: 991) Damit thematisiert Meyer die subjektive Bedeutung unterschiedlicher alltagsweltlicher Bezüge, die durch die Positioniertheit in unterschiedlichen gesellschaftlichen Machtverhältnissen vermittelt sind. Im Folgenden werde ich aus dem im Rahmen dieser Arbeit erhobenen empirischen Material Begründungszusammenhänge für die unterschiedlichen subjektiven Folgen rechter und rassistischer Gewalt rekonstruieren. Deutlich wird dabei, dass das subjektive Erleben der Tat und die Handlungsfähigkeit der Betroffenen nach der Tat im Zusammenhang mit den konkreten Lebensbedingungen der Betroffenen und der subjektiven Deutung dieser Bedingungen durch die Betroffenen zu verstehen sind. Diese Rekonstruktion soll dazu beitragen, die Diversität der subjektiven Bedeutung der psychischen Folgen von Gewalt und der

1

LGBT steht für Lesbian Gay Bisexual and Transexual. In vielen Kontexten wird die Reihe um ‚Intersexuell‘ erweitert oder in identitätskritischer Absicht das Zeichen * eingefügt. Da es mir in dieser Arbeit nicht um die Auseinandersetzung mit sprachpolitischen Fragestellungen geht, übernehme ich die Schreibweisen der referierten Autor_innen.

S UBJEKTIVE B EDEUTUNG

DER

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von den Betroffenen entwickelten Bewältigungsstrategien differenzierter zu verstehen. Ein solches Verständnis ist wiederum notwendig, um adäquate Strategien der Unterstützung der Betroffenen in der Bewältigung der Gewalterfahrung zu diskutieren.

9.2

O HNMACHT , S CHULD UND S CHAM ALS WESENTLICHE D IMENSIONEN SUBJEKTIVER O PFERERFAHRUNG

Die Berater_innen schildern als typische Reaktionen von Betroffenen rechter und rassistischer Gewalt die quälende Auseinandersetzung mit den Gründen für die Gewalt. Immer wieder, so schildern sie ihren Eindruck aus Beratungsprozessen, stellen sich Betroffene die Fragen „Warum wurde ich angegriffen?“ und „Hätte ich etwas tun können?“. Sowohl Herr Mbenza als auch Oliver (vgl. Kapitel 6 und 7) rekonstruieren sorgfältig den Ablauf des Angriffs und reflektieren dabei insbesondere ihr eigenes Handeln: Herr Mbenza betont seine kontrollierten, nicht eskalativen Reaktionen und beschreibt genau, wie er den Angreifer bis zum Eintreffen der Polizei festgehalten hat. Oliver überlegt, ob es irgendwelche Möglichkeiten gegeben hätte, die Angreifer rechtzeitiger zu sehen und wegzulaufen. Der Berater Kevin schildert als typische Auseinandersetzungen in den Beratungsgesprächen: „Kevin: Viele Leute sehen sich eher als Zufallsopfer. So: ‚Das war eine zufällige Begegnung und wäre ich da mal nicht lang gegangen, dann wäre mir das auch nicht passiert.‘ Und sie sehen sich stellvertretend für eine Gruppe. ‚Ich wurde angegriffen, weil ich Punk bin. Ich wurde angegriffen, weil ich Schwarz bin, das hätte aber auch jeden anderen treffen können. Ich war zwar nicht als Person gemeint, aber warum passiert mir so etwas?‘ Ganz viel, sich immer selber die Frage stellen, hätte ich etwas anders machen können? Bin ich selber dran Schuld?“ (Teamdis2_716-723)

Angesprochen ist hier eine Ambivalenz in der Auseinandersetzung mit dem Tathintergrund und den eigenen Handlungsmöglichkeiten. Wesentlicher Teil der Auseinandersetzung ist die Frage nach der eigenen Schuld. Die Realisierung des rassistischen Tathintergrundes kann dabei einerseits von der Frage nach einer eigenen Mitschuld an der Viktimisierung entlasten. Zugleich besteht gerade darin, als Zufallsopfer kaum Handlungsmöglichkeiten gehabt zu haben, eine wesentliche Dimension der Verletzung. Die Betroffenen sind zudem mehr als Zufallsopfer: Sie sind aufgrund äußerlich erkennbarer Merkmale stellvertretend für eine Gruppe angegriffen worden. Das bedeutet, auch in Zukunft einem erhöhten Risiko ausgesetzt zu sein. Für die Betroffenen ist die Beschäftigung mit den Gründen für die Tat und den eigenen Handlungsmöglichkeiten also nicht nur mit der Auseinandersetzung mit Schuldzuschreibungen und

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-gefühlen verbunden, die als typische Folge von Gewalterfahrungen (Janoff-Bulman 1995: 79-82) und insbesondere im Zusammenhang mit sexualisierter Gewalt beschrieben werden (Brenssell 2014: 124), sondern auch mit dem Gefühl von Machtlosigkeit und Ausgeliefertsein. Die erfahrene Gewalt stellt die Handlungsfähigkeit der Betroffenen für diese umfassend infrage. Kevin beschreibt, dass dies sowohl für Betroffene rassistischer Gewalt als auch für Punks relevant ist. Dennoch lassen sich unterschiedliche Bedingungs-Bedeutungskonstellationen rekonstruieren, mit denen Betroffene in ihrer konkreten Lage konfrontiert sind, wodurch das Spannungsfeld von Handlungsmöglichkeiten und Schuld unterschiedlich subjektiv bedeutsam wird. Als ein mögliches Begründungsmuster stellen die Berater_innen einen Zusammenhang zwischen der unterschiedlich ausgeprägten Sichtbarkeit von Merkmalen, die Anlass der Gewalt sind, und dem Gefühl der Machtlosigkeit und des Ausgeliefertseins als subjektive Opfererfahrung her, wodurch sich möglicherweise die Erfahrung von Schwarzen Menschen von der polnischer Migrant_innen unterscheidet. Wenn die Merkmale, auf die sich die Gewalt bezieht, nicht veränderbar sind, ist davon auszugehen, dass das Gefühl des Ausgeliefertseins als Leidenserfahrung umfassender ist2, als wenn die Merkmale, wie bspw. bei jungen Punks, veränderbar sind. „Ellen: Es ist, denke ich, ein großer Unterschied [...], ob jemand angegriffen wird, weil er einer bestimmten Gruppe zugeordnet wird, aufgrund von einem Merkmal, was er nicht ablegen kann, was einfach da ist, z.B. Hautfarbe, oder ob jemand angegriffen wird aufgrund von einer Zuordnung, die er sich selber wählt. Also: ‚Ich bin Punker, aber ich kann nächstes Jahr auch etwas anderes machen.‘ Und das hat man ja auch, diese Biografien. Gerade bei Jugendlichen, die mal so und mal so rumlaufen. Wenn man mit solchen Modellen argumentiert, muss das auch zu unterschiedlichen Formen der subjektiven Verarbeitung führen.“ (Teamdis2_874-881)

Die Berater_innen unterstreichen mit verschiedenen Fallschilderungen die Einschätzung, dass das Moment, sich hilflos ausgeliefert zu fühlen, bei Betroffenen rassistischer Gewalt besonders ausgeprägt ist. „Kevin: Immer der Versuch... also mir erzählen Viele: ‚Ich habe immer versucht, angepasst zu leben. Ich habe versucht, mich den Verhältnissen hier anzupassen und mich einzugliedern, mich zu engagieren, also was auch immer, irgendwie Teil dieser Gesellschaft zu werden und scheißegal, was ich gemacht habe - Bums mir passiert eben trotzdem immer wieder was, weil ich eben nicht dazu gehöre.‘“ (Teamdis2_755-759)

Allerdings werden auch Fälle beschrieben, in denen alternative Jugendliche immer wieder Gewalterfahrungen ausgesetzt sind und das Gefühl der Machtlosigkeit und

2

Dieser Zusammenhang wird auch von Craig-Henderson (2003; 2009) hergestellt.

S UBJEKTIVE B EDEUTUNG

DER

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des Ausgeliefertseins bestimmend im Beratungsprozess ist. Eine Gruppe junger Punks wird immer wieder von einer rechten Clique zusammengeschlagen, obwohl sich die betroffenen Jugendlichen schrittweise immer weiter aus dem öffentlichen Raum an abgelegenere Orte zurückziehen und zu einer weiter entfernten Tankstelle laufen, um beim Einkaufen nicht auf die Rechten zu treffen (Teamdis2_105-114). Als wesentlichen Begründungszusammenhang für die subjektive Leidenserfahrung formulieren die Berater_innen das unterschiedliche Maß der aktiven Handlung und Entscheidung im Zusammenhang mit der Gewalt. Während sich Betroffene rassistischer Gewalt, die aufgrund ihrer Hautfarbe oder anderer Merkmale angegriffen werden, als Zufallsopfer sehen, geht die Opfererfahrung politisch Aktiver auf eine bewusste Entscheidung, sich zu positionieren, zurück. „Kevin: Das kann ja auch eine Ressource sein, so was. Bewusst auch eine aktive Rolle einzunehmen. Das kann es wesentlich leichter machen, eine Gewalttat zu verarbeiten, aber es kann einen trotzdem völlig unvermittelt treffen und völlig aus der Bahn werfen.“ (Teamdis2_890892)

Angesprochen sind hier nicht nur die eigenen Handlungsmöglichkeiten in Bezug auf das Zustandekommen der Gewalt, sondern – damit vermittelt – auch, ob die Gewalt die Betroffenen unvorbereitet trifft oder die Konfrontation mit Nazis aufgrund der eigenen Überzeugung bewusst in Kauf genommen wird. Der als Entlastung hervorgehobene Umstand, dass links-alternative Jugendliche, die nicht von Rassismus betroffen sind, im Gegensatz zu Betroffenen rassistischer Gewalt aufgrund einer selbstgewählten Gruppenzugehörigkeit viktimisiert werden, kann allerdings zugleich für die Betroffenen in anderer Weise problematisch werden. So schildern die Berater_innen, dass die Möglichkeit, weitere Opfererfahrungen durch eine äußere Veränderung oder Distanzierung von der Gruppe, die Anlass für die Gewalt war, zu vermeiden, zugleich zu Anpassungsdruck von außen führt. „Kevin: Es ist ein Unterschied, ob man die Option hat oder nicht. Aber ich glaube, dass es eine ganz zentrale Rolle spielt, gezwungen zu werden, sich den Nazis anzupassen und sich den Normvorstellungen der breiten Bevölkerung irgendwie zu beugen. Weil das ein Eingeständnis von eigener Schwäche ist, glaube ich. Volker: Ich denke gerade an unsere Jugendlichen in [Stadt] und dann triffst du sie einen Monat später wieder und sie haben ihren Iro abgeschnitten. Die sind dann auch dem Druck ihrer Bezugspersonen ausgesetzt. Da findet auch noch mal so eine Opfer-Täter-Verkehrung statt.3

3

Mit ‚Opfer-Täter-Verkehrung‘ spricht Volker eine typische Praxistheorie an, die besagt, dass eine typische Reaktion auf Gewaltopfer ist, diesen eine Mitschuld oder sogar die

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Kevin: Es wird normangepasstes Verhalten verlangt. Sonst ist man selber Schuld. Ben: Die Nazis setzen das durch, was die Eltern eh gut fänden, damit der Sohn einen Arbeitsplatz bekommt.“ (Teamdis4.1_72-75)

Mit der Möglichkeit der Anpassung ist verbunden, dass sich die Betroffenen damit auseinandersetzen müssen, dass ihre Entscheidung, äußerlich aufzufallen, infrage gestellt wird. Mit der selbstgewählten Gruppenzugehörigkeit ist verbunden, dass alternative Jugendliche und politische Aktivist_innen in besonderer Weise mit dem Vorwurf konfrontiert sind, eine Mitschuld am Angriff zu tragen. Die Auseinandersetzung mit Schuld und Handlungsmöglichkeiten wurde hier als dynamische Auseinandersetzung mit in der Viktimisierung innewohnenden Ambivalenzen beschrieben. Die Dynamik und der daraus entstehende Leidensdruck sind direkt verbunden mit dem konkreten Kontext, in dem die Betroffenen die Gewalterfahrung machen. So sind links-alternative Jugendliche sehr unterschiedlich mit von außen kommendem Anpassungsdruck konfrontiert, der im Zusammenhang mit Bedingungen zu verstehen ist, die über die erlebte Gewalt hinausreichen. Die Problematik wird dann größer, wenn es insgesamt wenig Akzeptanz für die von ihnen gewählte Lebensweise und das selbst gewählte ‚Anderssein‘ gibt und sich der Anpassungsdruck aufgrund der rechten Gewalt damit mischt, dass die Chance auf einen Ausbildungsplatz bspw. mit bunt gefärbten Haaren schlechter ist. Bedeutsam ist auch die konkrete soziale Position der Jugendlichen. So sind bunt gefärbte Haare und ausgewaschene Kapuzenpullover weniger problematisch, wenn die Betroffenen die Perspektive haben, ein Studium aufzunehmen, als wenn sie auf einen Ausbildungsplatz in ihrer Umgebung angewiesen sind. In etwas anderer Weise beschreiben die Berater_innen, dass auch in Fällen rassistischer Gewalt – also in Fällen, in denen die Gewalterfahrung nicht an frei gewählte Merkmale gebunden ist ist – (Mit-)Schuldvorwürfe an die Betroffenen eine wesentliche Bedingung für die subjektive Problematik in der Auseinandersetzung mit der eigenen Schuld ist. Die Berater_innen nennen hier insbesondere medial vermittelte Diskurse sowie Reaktionen von Behördenvertreter_innen, in denen den Betroffenen die (Mit-)Schuld an der Gewalt gegeben wird und dabei rassistische Bilder bedient werden. In den Gruppendiskussionen wird zwar eine Veränderung zu den 1990er Jahren in Rechnung gestellt, als Äußerungen wie die des Spremberger Bürgermeisters nicht unüblich waren, der im Februar 1999 die tödlich endende Hetzjagd auf Asylbewerber in der im gleichen Landkreis liegenden Stadt Guben mit der Frage

hauptsächliche Schuld an der Tat zuzuschreiben. Betroffene rechter und rassistischer Gewalt seien besonders gefährdet, in der Wahrnehmung Dritter bzw. im öffentlichen Diskurs nicht als Opfer, sondern als (Mit-)Täter_in gesehen zu werden.

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kommentierte „Was hat der auch nachts auf der Straße zu suchen?“ und eine Provokation durch einen „afrikanischen Asylbewerber“ als Ursache der Gewalt darstellt (Wendel 2001c: 21; 33). Aber immer noch komme es vor, dass nach rassistischen Angriffen im lokalen Kontext und in den Medien Gerüchte kursieren, die die Opfer als überaus gefährlich und aggressiv darstellen. Als typisches Beispiel gilt, dass bei Angriffen auf türkische Imbisse behauptet wird, die Opfer hätten im Konflikt mit Dönermessern gedroht. Als weiteres typisches Beispiel wird genannt, dass rassistische Gewalt nicht nur von Täter_innen dadurch begründet und legitimiert wird, dass das Opfer angeblich eine Frau oder ein Mädchen (aus der Gruppe der Täter) belästigt habe. Auch berichten die Berater_innen von Fällen, in denen die Empörung über die Tat und die Täter_innen im lokalen Kontext sowie in der Medienberichterstattung ‚umkippt‘ und negativ über die Betroffenen rassistischer Gewalt berichtet wird.4 Solche Schuldzuschreibungen sind nicht nur für die Betroffenen selbst verletzend, sondern auch für Angehörige und für andere potenzielle Betroffene relevant. Durch die Schuldzuschreibung wird darüber hinaus den Betroffenen der moralische Anspruch auf Hilfe und Unterstützung vorenthalten; sie hat konkrete Auswirkungen auf die juristischen Handlungsoptionen5 und kommt somit einer Entrechtung der Betroffenen gleich.

9.3

S ELBSTGEWÄHLTE G RUPPENZUGEHÖRIGKEIT UND ‚ANDERSSEIN ‘ ALS R ESSOURCE ODER V ERWIESENWERDEN AUF ‚I DENTITÄT ‘

9.3.1

Gewalt als Botschaft „Du gehörst nicht dazu“ und fundamentale Abwertung

Wie in Kapitel 2 ausgeführt, versteht Perry (2001) hate crimes als Praxis, mit der gesellschaftliche Machtverhältnisse aufgegriffen und hergestellt werden. Kennzeichnend sei, dass sich die Gewalt gegen subalterne Gruppen richte. Gleichzeitig tragen hate crimes zur Reproduktion dieser Machtverhältnisse bei, indem sie ‚Othering‘ betreiben, d.h. die Betroffenen als ‚anders‘ markieren, Differenz herstellen und damit 4

Als besonders prägnantes Beispiel wird auf den Fall Ermyas M. verwiesen, der kurz vor der Männerfußball-WM 2006 in Potsdam schwer verletzt wurde. Während der Betroffene in der Berichterstattung zunächst als ‚ideales Opfer‘ galt, wendete sich zu Beginn des Gerichtsverfahrens die Stimmung, und es wurde sehr negativ auch über private Details seines Lebens berichtet. Die Medienberichterstattung wurde von der Brandenburger OBS dokumentiert und kommentiert (Opferperspektive 2008).

5

Das wird z.B. deutlich, wenn der Berater Jan von der Sorge berichtet, dass es Herrn Mbenza zum Nachteil ausgelegt werden könnte, dass er den Angreifern die Flasche aus der Hand genommen hatte und diese infolgedessen selbst in der Hand hielt.

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die Betroffenen auf ihre subalternen Plätze verweisen. Die Beschreibung der Erfahrung rassistischer Gewalt als ‚Othering‘ findet sich auch in den in dieser Arbeit erhobenen Daten. Rassistische Gewalt, so lässt sich den Fallschilderungen der Berater_innen entnehmen, markiert die Betroffenen als ‚anders‘, als nicht dazugehörig. „Uta: Für mich war ganz prägend dieser Angriff auf den Imbiss von einer kurdischen Familie. Und die Kinder sind alle Deutsche, die in eine deutsche Schule gehen und so. Und der eine Sohn meinte, das war das erste Mal in seinem Leben, wo er sich nicht als Deutscher gefühlt hat, als er angegriffen wurde und die ausländerfeindlichen Sprüche gehört hat. Das hat er so formuliert. So eine Erfahrung, dass die Gewalt einen aus der Normalität herausholt und sagt: ‚Du gehörst da nicht zu.‘“ (Teamdis2_777-782)

Die Bedeutung rassistischer Gewalt als Markierung von ‚Anderssein‘ bringt auch Marvin (vgl. Kapitel 8.3.1 ) zum Ausdruck. Nachdem er – ähnlich wie der im Kapitel 6 ausführlich vorgestellte Herr Mbenza – die Beleidigung als ‚Neger‘ während des tätlichen Angriffs als besonders verletzend hervorhebt, führt er aus, was diese Beleidigung für ihn bedeutet. „Marvin: That was not the very first time, that somebody used the word to me. A while after this attack I was riding my bike. Near the trainstation is a club. I passed this place and there were some guys hanging around, wanting to go into this place. And when I passed, they were shouting: ‚neger, neger, neger!‘ They do that, because they want to provoke you. And this kept happening over and over and over again. Then you feel like you are being told that you are not part of us. That you don´t belong here. I don´t know, how to explain it. But it doesn´t feel right. It is not a good thing.“ (Marvin_127-133)

Craig-Henderson (2009: 22) beschreibt Gefühle von Verletzlichkeit und Machtlosigkeit als typische psychische Folgen jeder Art der Viktimisierung. Hate crimes erschüttern ihr zufolge die Selbstachtung und positive Selbstwahrnehmung von Betroffenen in besonderer Weise, weil sie bewusst ausgewählt und als ‚anders‘ markiert wurden. „Their misfortune establishes them as different from others, and this selfperception of deviance contributes to a negative self-image“ (ebd.). Während mit dem Konzept des ‚Othering‘ auf soziologischer Ebene die Funktion von hate crimes zur Aufrechterhaltung gesellschaftlicher Machtverhältnisse genannt wird, beschreibt Craig-Henderson hier die psychologische Ebene. Die Betroffenen fühlen sich durch die Gewalt in ihrem Menschsein infrage gestellt. Der Ausruf „Ich bin doch auch ein Mensch!“ findet sich im Interview mit dem Betroffenen Herrn Mbenza und wird in der Gruppendiskussion von einer Beraterin als typische Reaktion auf die Erfahrung rassistischer Gewalt genannt.

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„Uta: Das Erstaunen, Rassismus schlägt sich in Form von Gewalt nieder und ich bin davon betroffen, aber ich bin doch auch ein Mensch!“ (Teamdis_2_681-683)

Die Markierung ist mit Abwertung und Entrechtung verbunden, der die Betroffenen ohnmächtig gegenüberstehen. Zu realisieren, wie Kevin oben beschreibt, dass die Bemühungen, sich anzupassen und zu integrieren nichts nützen und, unabhängig von eigenen Handlungen, immer wieder als nicht dazugehörig zu gelten, hat Konsequenzen für die Handlungsmöglichkeiten jenseits der Tat. So kann auch für den von Uta beschriebenen jugendlichen Sohn kurdischer Imbissbetreiber_innen der Schock, als ‚Ausländer‘ markiert zu werden, mit dem Wissen darüber verbunden sein, als ‚Ausländer‘ systematisch benachteiligt zu sein. 9.3.2

Unterschiede der subjektiven Bedeutung von ‚Anderssein‘ und ‚Identitätsmerkmalen‘

Während die Botschaft „Du gehörst nicht dazu“ und die Festschreibung des ‚Andersseins‘ als zentrales Moment der verletzenden Wirkung rassistischer Gewalt herausgearbeitet wurde, hat die Markierung als ‚anders‘ für alternative Jugendliche, die nicht von Rassismus betroffen sind, eine andere Bedeutung. Die Berater_innen nennen als möglichen Prämissen-Gründe-Zusammenhang für die weniger schweren Folgen der Gewalt bei manchen links-alternativen Jugendlichen, dass für Jugendliche, die aufgrund subkultureller Merkmale, z.B. als Punks, verletzt werden, das ‚Anderssein‘ gerade gewollt und daher nicht verletzend ist. Im Vergleich zu Gewalt ohne politischen Hintergrund kann der Hintergrund der Tat, so die Berater_innen, in bestimmten (Jugend-)Szenen die Gewalterfahrung sogar erleichtern. Aufgrund der selbstgewählten Gruppenzugehörigkeit (als Linke, Antifa etc.) von Nazis angegriffen zu werden, kann – so formuliert der Berater Ben als Begründungszusammenhang – von Jugendlichen, die sich als politisch aktiv definieren, als Aufwertung erlebt werden, „als politischer Feind angegriffen worden zu sein.“ (Teamdis1_151-157) Die Zugehörigkeit zu einer von Nazis abgelehnten Gruppe kann als positive Ressource wahrgenommen werden. Insbesondere kann die bewusste politische Positionierung dazu beitragen, dass die Gewalterfahrung die Betroffenen nicht so sehr erschüttert: Zum einen wussten die Betroffenen um die Möglichkeit, angegriffen zu werden, wenn sie sich bewusst in die politische Auseinandersetzung begeben haben. Zum anderen wurden sie als handelnde Subjekte und aufgrund einer politischen Überzeugung angegriffen und nicht als Zufallsopfer, die dem Angriff hilflos gegenüberstehen.

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Die Beraterin Ellen unterstreicht diese Unterscheidung, indem sie die Zeichen selbstgewählter Gruppenzugehörigkeit alternativer Jugendlicher und politischer Aktivist_innen den ‚Identitätsmerkmalen‘ von Betroffenen gegenüberstellt, die unveränderlich und angeboren sind.6 „Ellen: Ich glaube, der Kern liegt wahrscheinlich in so einer Frage von einer wesentlichen Bestimmung von dir selbst. Wenn man jetzt angegriffen wird und man hat das Gefühl, man wird in seinen Wesenszügen infrage gestellt, in deinen unveränderlichen Merkmalen, so wie du bist, alles sozusagen.“ (Teamdis2_894-897)

Je bestimmender und unveränderlicher diese ‚Identitätsmerkmale‘ zur Person gehören, desto verletzender sei die Gewalt, so wird als Begründungszusammenhang für die subjektiven Gewaltfolgen angenommen. Aus den Fallbeschreibungen der Berater_innen lassen sich demgegenüber Prämissen-Gründe-Zusammenhänge rekonstruieren, die darauf hinweisen, dass der Zusammenhang zwischen der ‚Identität‘ der Betroffenen und den Folgen der Gewalt differenzierter ist und insbesondere der subjektive Bezug der Betroffenen auf ihre ‚Identitätsmerkmale‘ bzw. die Gruppenzugehörigkeit von Bedeutung ist. So schildert der Berater Omar seinen Eindruck aus einer Beratung von Mitgliedern einer jüdischen Gemeinde. Gemeindehäuser waren wiederholt mit antisemitischen Parolen beschmiert und einzelne Gemeindemitglieder bedroht und beleidigt worden. Omar beschreibt sein Erstaunen, dass die Betroffenen weniger erschüttert gewirkt hätten, als er erwartet hatte. Statt subjektive Folgen zu thematisieren, seien die Angriffe als politisch zu adressierendes Thema der gesellschaftlichen Verantwortung in Bezug auf die Verbreitung von Antisemitismus verhandelt worden. „Omar: Ich finde die Frage interessant, ob die Opfererfahrung eine andere ist, wenn klar ist, dass dann ‚meine Leute‘ aktiv werden. Das Beispiel aus der jüdischen Gemeinde [Stadt] fand ich interessant: Die haben beschrieben, dass, wenn dort jemand angegriffen wird, dass da nicht so sehr die Würde verletzt ist, weil dann das so gesehen wird: ‚Ok, wieder ein Beispiel mehr. Wenn ich das meinen Leuten erzähle, habe ich sowieso eine große Solidarität und man wird mich unterstützen und ich muss meine eigenen Leute fast ausbremsen...‘ Ich finde, dass das ein total entscheidender Unterschied ist.“ (Teamdis3_1288-1296)

6

Ein solcher Zusammenhang wird auch in der Fachliteratur nahegelegt, wenn z.B. Coester (2008: 333-344) argumentiert, dass Merkmale dann besonders ‚identitätsstiftend‘ sind, wenn sie angeborene/biologische Merkmale sind und nicht einfach abgelegt werden können, und die vor diesem Hintergrund dafür plädiert, unter hate crimes nur Angriffe zu berücksichtigen, die sich auf solche festen Merkmale beziehen.

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Hier kann als möglicher Begründungszusammenhang formuliert werden, dass die Markierung als ‚anders‘ und ‚nicht dazugehörig‘ durch die Gewalt nicht im gleichen Maße verletzend wirkt, wenn sich die Betroffenen als Mitglieder der jüdischen Gemeinde als ‚anders‘ verorten und durch diese Zugehörigkeit auf Unterstützung zählen können.7 Als weiteres Beispiel für die Bedeutung der Gruppenzugehörigkeit, die Anlass der Gewalterfahrung ist, können die kontrastierenden Schilderungen der Umgangsstrategien zweier Betroffener rassistischer Gewalt herangezogen werden. Auf der einen Seite schildert der Berater Omar den Fall eines Jugendlichen, der als einziger Schwarzer in einem mehrheitlich ‚weißen‘ Umfeld in einer Kleinstadt lebt. Der Jugendliche hatte, so Omar, große Schwierigkeiten, den rassistischen Hintergrund der Tat zu thematisieren, stellte sich immer wieder die Frage nach eigenen Handlungsmöglichkeiten und seiner eigenen Schuld, ohne zu einem Ergebnis zu kommen. Die Eltern berichteten von einem enormen Leidensdruck des Jugendlichen, den dieser aber nicht thematisieren wolle. Als Kontrast dazu schildert Omar die Situation eines Mannes, der – ebenfalls in einer Kleinstadt im ländlichen Raum – von einer Gruppe Jugendlicher rassistisch beschimpft und mit Schlagstöcken und -ringen schwer verletzt wurde. Trotz der ungleich schwereren körperlichen Folgen habe sich der erwachsene Mann nur relativ wenig psychisch belastet gezeigt. Der Berater Omar führt das darauf zurück, dass der erwachsene Mann in der Kleinstadt nur arbeitet, aber seinen Lebensmittelpunkt in der nächsten Großstadt hat, wo er sozial eng in seine migrantische Community eingebunden ist. Er sei sich „seiner Identität“ sicher und konnte daher die Tat eindeutig einordnen und aus dem positiv besetzten Bezug auf seine Community Unterstützung organisieren (Teamdis1_757-773). Deutlich wird, dass die Betroffenengruppen in sich höchst heterogen sind und sich Betroffene unterschiedlich auf ihre Gruppenzugehörigkeit beziehen, womit der Angriff auf diese auch in unterschiedlicher Weise subjektiv problematisch wird. Entgegen der Vermutung, dass ein Angriff auf die ‚Identität‘ besonders problematisch ist, wenn die Gruppenzugehörigkeit für die Betroffenen besonders wichtig ist, scheint eine starke Verortung als Teil einer von Gewalt betroffenen Gruppe die Gewaltverarbeitung eher zu erleichtern. Dagegen kann das Zurückgeworfenwerden auf eine ‚Identität‘, die nicht dem Selbstkonzept der Betroffenen entspricht, als wesentliche Leidensdimension verstanden werden.

7

Relevant ist hier möglicherweise auch, dass Antisemitismus gesellschaftlich in besonderer Weise geächtet ist, eine politische Thematisierung antisemitischer Vorfälle damit auch besondere Resonanz erzielen kann. Die spezifische Dynamik antisemitischer Gewalt kann ich in dieser Arbeit aufgrund der nicht ausreichenden Datengrundlage nicht angemessen diskutieren. Sweiry (2010) hat sich mit Folgen antisemitischer hate crimes in Großbritannien beschäftigt, seine Ergebnisse allerdings bislang nicht vollständig publiziert, sondern v.a. auf Konferenzen vorgestellt.

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9.3.3

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Ambivalenz in Bezug auf die eigene Gruppenzugehörigkeit als Folge der Gewalt

Damit rückt auch in den Blick, dass durch die Gewalt das subjektive Verhältnis zur Gruppenzugehörigkeit für die Betroffenen selbst problematisch wird. Wie im Kapitel 2 dargestellt, wurde als psychische Folge insbesondere homophober hate crimes beschrieben, dass die Gewalt den subjektiven Bezug der Betroffenen zu ihrer sexuellen Identität und der Community beeinträchtigt und dazu führen kann, dass Betroffene sich nicht (mehr) als homosexuell zu erkennen geben und Kontakte zur Community vermeiden (Herek und Kolleg_innen 1997: 196-197; Tiby 2009: 39-45; in Bezug auf rassistische hate crimes Craig-Henderson 2009). Im Unterschied dazu kommen Garland und Chakraborti (2015) in Bezug auf Angehörige alternativer Subkulturen, die aufgrund ihrer Zugehörigkeit Gewalt erfahren, zu dem Ergebnis, dass die Gewalterfahrung nicht zu einer Distanzierung von der Subkultur, sondern eher zu einem stärkeren Zugehörigkeitsgefühl führt. Aus den in dieser Arbeit analysierten Fällen wurde demgegenüber eine Ambivalenz in der Frage der Gruppenzugehörigkeit deutlich. Der Bezug auf die Gruppe kann zum einen positiv sein, zum anderen aber auch subjektiv problematisch werden. Im Fall von Oliver in Niebrau wurde herausgearbeitet, dass Oliver die Zugehörigkeit zur links-alternativen Jugendkultur, sein Bezug auf das Jugendzentrum Pferdestall als wesentliche stützende Ressource und wichtiges Bezugssystem erlebt. Zugleich, so wurde deutlich, ist diese Zugehörigkeit für ihn prekär geworden, weil mit ihr die Gefahr der erneuten Gewalterfahrung verbunden ist. Oliver schildert als für ihn wichtige Umgangsstrategie mit der Gewalterfahrung und der damit verbundenen Angst, einfach weiterzumachen und den Pferdestall weiter zu besuchen. Zugleich thematisiert er mehrfach, dass der Aufenthalt im Pferdestall für ihn auch Jahre nach dem Angriff noch mit Angst vor einer erneuten Viktimisierung verbunden ist und bspw. ein Einzug in das neu entstehende Projekt für ihn aus diesem Grund nicht infrage kommt. Auch im Fall von Herrn Mbenza wurde herausgearbeitet, dass der subjektive Bezug der Betroffenen zur eigenen Gruppenzugehörigkeit ambivalent ist. Der Abwertung durch die rassistische Beschimpfung und Gewalt begegnen Herr und Frau Mbenza durch eine positive Bestimmung des ‚Afrikanischseins‘. Da sie der Markierung als ‚anders‘ nicht entkommen, besteht für sie eine Handlungsmöglichkeit darin, ihre (abgewertete) Herkunft positiv zu deuten. Diese positive Deutung der Herkunft ist jedoch auch ambivalent: Die durchaus widersprüchlichen Bezüge zum afrikanischen Herkunftsland – im Fall von Familie Mbenza ist die afrikanische Herkunft ja nicht nur mit freundlichen, lachenden Menschen verbunden, sondern auch mit der Erfahrung von Bürgerkrieg und politischer Verfolgung – werden de-thematisiert.

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Wesentlicher scheint jedoch das Dilemma, das daraus entsteht, dass für Familie Mbenza, da sie der Markierung als ‚anders‘ nicht entkommen kann, nur Handlungsmöglichkeiten innerhalb des ‚Andersseins‘ erkennbar werden. Die Wahrnehmung der Handlungsmöglichkeiten innerhalb dieses Rahmens stabilisiert aber zugleich die Unterscheidung, nach der gesellschaftliche Ressourcen verteilt werden. Herr Mbenza muss eine ‚Identität‘ als ‚Afrikaner‘ für sich übernehmen, um im gegebenen Rahmen Handlungsfähigkeit behaupten zu können. Problematisch ist hier nicht (nur), aufgrund einer ‚Identität‘ angegriffen zu werden, sondern eine ‚Identität‘ aufgezwungen zu bekommen. Relevant für die Folgen der Gewalt ist nicht an sich, dass sie sich auf ein zur Person gehörendes Merkmal richtet. Die Bedeutung dieses Merkmals für die Betroffenen ist wesentlich. Die subjektive Bedeutung des ‚Identitätsmerkmals‘ entsteht allerdings nicht als freie Entscheidung. Die Betroffenen entwickeln diese wiederum in Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Bedingungen, in denen die Gruppenzugehörigkeit relevant für die Verfügbarkeit von Handlungsmöglichkeiten ist.

9.4

G EWALTERFAHRUNG

ALS SEQUENTIELLES

T RAUMA

Dass hate crimes, wie Bowling (1993) zuerst formulierte, nicht als statisches Ereignis, sondern als Prozess zu verstehen sind, ist in der sozialwissenschaftlichen hate crime-Forschung anerkannt (z.B. bei Perry 2001; Perry 2003: 5; Hall 2005: 64-65; Iganski 2008: 131; Chakraborti/Garland 2009a: 6). Dennoch ist bislang kaum herausgearbeitet worden, wie diese Prozesse aus der Perspektive der Betroffenen psychologisch zu beschreiben sind (vgl. Funnell 2015: 368). Um die psychologische Bedeutung der Viktimisierung als einen anhaltenden Prozess mit kumulativer Wirkung zu verstehen, so Hall (2005: 65), brauche es alternative Formen qualitativer Forschung. Das von Keilson (2005) entwickelte psychologische Konzept der ‚sequentiellen Traumatisierung‘ rückt in den Blick, dass Gewalterfahrungen als Prozess zu verstehen sind. So heben auch Becker (1992; 2006) sowie Brenssell (2014) den Wert des Konzeptes hervor, um die manchmal nur schwer verständlichen psychischen Reaktionen auf traumatische Ereignisse im Zusammenhang mit den gesellschaftlichen Bedingungen, in denen sie stattfinden, verständlich zu machen. Der besondere Wert von Keilsons (2005) Konzept liegt darin, die psychischen Leidenszustände nicht nur im Zusammenhang mit einem auslösenden Gewaltereignis zu sehen, sondern die Situation der Betroffenen vor und nach der Gewalterfahrung als fundamental dafür zu verstehen, welche psychischen Folgen die Erfahrung rechter oder rassistischer Gewalt entfalten kann. Keilsons Unterscheidung von drei traumatischen Sequenzen kann hier als grobes Raster verstanden werden, welches für die sehr unterschiedlichen Prozesse der Viktimisierung durch rechte und rassistische Gewalt angepasst und

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jeweils in Hinblick auf die für die psychischen Folgen relevanten Dimensionen untersucht und konkretisiert werden muss. Brenssell (2014) schlägt vor, das Konzept der Handlungsfähigkeit in das Traumaverstehen einzubeziehen. Die unterschiedlichen Phasen des traumatischen Prozesses – vor, während und nach der unmittelbaren Gewaltsituation – wären damit daraufhin zu untersuchen, durch welche gesellschaftlich vermittelten Konstellationen die individuelle Handlungsfähigkeit der Betroffenen in welcher Weise beeinträchtigt ist. D.h., es wäre zu analysieren, in welcher Weise den Betroffenen die Verfügung über die eigenen Lebensbedingungen entzogen wird bzw. welche Perspektiven sich für die Betroffenen ergeben, gegenüber der eigenen Ohnmacht und dem Ausgeliefertsein Handlungsmöglichkeiten zu sehen und praktisch zu realisieren. 9.4.1

Rechte und rassistische Gewalt als wiederkehrende Erfahrung und herausragendes Ereignis

Betroffene von hate crimes sind einerseits Zufallsopfer, aber andererseits werden sie als Teil einer erkennbaren Gruppe angegriffen. Dass sich der Angriff nicht gegen sie als Person, sondern gegen eine Gruppe richtet, macht sie auch in Zukunft verletzlich für eine erneute Gewalterfahrung. So kann ein Hintergrund für die oben beschriebene oft quälende und ambivalente Auseinandersetzung der Betroffenen mit den Gründen der Tat sein, dass mit dem Realisieren des rassistischen oder rechten Tathintergrundes auch das Gefühl einer anhaltenden Bedrohungssituation verbunden ist. Das Wissen um die Möglichkeit sowie die tatsächliche Erfahrung wiederkehrender Gewalterfahrung taucht in den Interviews und Gruppendiskussionen durchgängig als relevante Dimension der Opfererfahrung auf. Hierbei wird deutlich, dass die Erfahrung von hate crimes für die Betroffenen in unterschiedlicher Weise sowohl als herausragendes Ereignis als auch als Aspekt des (bisweilen von Gewalt und Diskriminierung geprägten) Alltags bedeutsam wird. Dabei ist uneindeutig, in welchem Zusammenhang die psychische Befindlichkeit in Bezug auf die aktuelle Gewalterfahrung mit vergangenen Erfahrungen manifester Gewalt, alltäglichen Diskriminierungs- und Abwertungserfahrungen, einer schon vor der Tat wahrgenommenen Bedrohungslage oder konkreten Bedrohungssituationen oder der Erwartung zukünftiger Gewalterfahrung steht. Gewalt und Diskriminierung als kumulative Erfahrung In den Gruppendiskussionen wird die Einbettung der Gewalt in alltägliche Erfahrungen von Beschimpfungen, Diskriminierungen, Entrechtung oder auch körperlicher Angriffe als typisch für viele Beratungsfälle beschrieben. In vielen Fällen, so auch im oben analysierten Fall von Herrn Mbenza, werden die Betroffenen mehr als einmal angegriffen. Herr Mbenza benennt die alltäglichen rassistischen Beleidigungen im Wohnumfeld als sein vordringliches Problem.

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Die Berater_innen berichten ihren Eindruck, dass für manche Betroffene Gewalt ein so selbstverständlicher Teil des Alltags ist, dass sich die Betroffenen vor diesem Hintergrund kaum beeindruckt von einem rechten oder rassistischen Angriff zeigen. Als hypothetische Begründungszusammenhänge formulieren die Berater_innen hier, dass eine Gewöhnung an Gewalt stattgefunden hat oder die Bedeutung der Gewalt gegenüber alltäglicher oder schwerwiegenderer Probleme zurücktritt. So beschreiben die Berater_innen als Praxisproblem, dass ein Teil der Betroffenen in derartig prekären Bedingungen lebt, dass unklar bleibt, welchen Stellenwert ein Vorfall rechter oder rassistischer Gewalt für die Betroffenen überhaupt hat. Als typische Beispiele werden Geflüchtete genannt, die unter prekären aufenthaltsrechtlichen, sozialen und gesundheitlichen Umständen leben, sowie Wohnungslose oder vorwiegend auf der Straße lebende Menschen, die vielfältige Gewalterfahrungen machen. Meyer (2010) formuliert als Ergebnis der von ihm geführten qualitativen Interviews, dass eher ‚weiße‘ Angehörige der Mittelschicht homophobe Gewalt als hate crime benennen, zur Anzeige bringen und Hilfe suchen als Betroffene aus subalternen Gruppen. Der implizite Vergleichsmaßstab, vor dem die Bewertung der Gewalterfahrung stattfindet, unterscheide sich zwischen Angehörigen subalterner Gruppen, die insgesamt sehr viel stärker von verschiedenen Formen von Gewalt betroffen sind und denen von Angehörigen der Mittelschicht, die in ihrem Alltag kaum mit körperlicher Gewalt in Berührung kommen. Dem Begründungszusammenhang, dass die einzelne Viktimisierung bei einem Teil der Betroffenen aufgrund einer Gewöhnung an Gewalt weniger schwerwiegende psychische Folgen hat, steht die Annahme gegenüber, dass sich die Einbettung der Gewalt in vielfältige Gewalt- und Diskriminierungserfahrungen erschwerend auf die aktuelle Gewalterfahrung auswirkt. So schildern die Berater_innen Fälle, in denen sie die heftige Reaktion von Betroffenen auf Angriffe mit einem relativ niedrigen Gewaltniveau (Beschimpfungen, leichtes Schubsen) dadurch erklären, dass frühere Gewalterfahrungen der Betroffenen aus zum Teil ganz anderen Zusammenhängen reaktiviert werden. Sie nehmen damit auf das Konzept der ‚Retraumatisierung‘ Bezug. „Uta: Ein Aspekt, den wir jetzt noch gar nicht hatten, sind so Retraumatisierungserfahrungen. Ein Flüchtling aus [Stadt], der erzählt hat, dass er nach dem Vorfall immer wieder Erinnerungen und Flashbacks hat von seiner Gewalterfahrung im Herkunftsland. Ausgelöst durch die Angst vor einem Angriff. Aber seine Gewalterfahrung steht gar nicht im Verhältnis zu dem Schlag, den er bekommen hat. Da kommt so eine frühere Erfahrung dann hoch. Da gibt es so eine Verzahnung von den Gewalterfahrungen.“ (Teamdis2_903-909)

In Kapitel 2.4 wurden Keilsons (2005) Konzept des sequentiellen Traumas und Beckers (2006: 192-195) Adaption der Sequenzen für Traumatisierungen im Zusammenhang mit politischer Verfolgung und Flucht ausgeführt. Ein rassistischer Angriff

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kann für Betroffene in diesem Prozess unterschiedliche Bedeutungen haben. Die subjektive Bedeutung eines Angriffs in der Anfangszeit am Ankunftsort kann, Beckers Beschreibung der Sequenzen folgend, zum psychischen Zusammenbruch von Betroffenen führen, die einerseits nach einer strapaziösen Flucht erwartet hatten, endlich in Sicherheit zu sein und sich andererseits im Aufnahmeland permanent überfordert fühlen. Die Berater_innen schildern die außergewöhnlich starke psychische Reaktion von Frau Al-Shami (vgl. Kapitel 8.2.1) auf die Verletzung ihres Sohnes. „Uta: Mein erster Eindruck war: Die Mutter ist vor allem traumatisiert von diesem Angriff und gar nicht so sehr der Sohn. Also, dass sie in der Familie die Symptome der Traumatisierung trägt. […] Ich glaube, gerade bei so Traumatisierungen ist das in Familien immer schwer, zu gucken, wer die Symptome trägt, das muss nicht der Angegriffene selbst sein.“ (Teamdis1_139-147)

Die Belastung und der besondere Hilfebedarf der Mutter, den die Berater_innen schildern, kann im Kontext der von Becker skizzierten traumatischen Sequenzen der Flucht gedeutet werden. Der Angriff auf ihren Sohn fällt nach der Flucht in die Phase nach der Ankunft im Aufnahmeland. Diese ist für die Frau durch die Erfahrung von Degradierung und Überforderung und das Gefühl geprägt, nicht für die grundlegenden Bedürfnisse ihrer Familie, wie Hygiene, angemessenen Wohnraum und gutes Essen, sorgen zu können. Mit dem Angriff auf ihren Sohn werden, so ein möglicher Begründungszusammenhang, schließlich ihre psychischen Bewältigungsmöglichkeiten überschritten. Sie erfährt, dass nicht einmal das Bedürfnis nach Sicherheit – welches möglicherweise Hintergrund für die Flucht war – erfüllt wird. Die schon zuvor erlebte Feindseligkeit wird zur manifesten Bedrohung. Herr Mbenza erlebt die Gewalterfahrung ebenfalls im Zusammenhang mit einer Fluchtgeschichte, allerdings in einer anderen Situation, die, nach Becker (2006: 193), als Phase der Chronifizierung der Vorläufigkeit zu beschreiben ist: Nicht mehr die Überforderung mit der Organisation grundlegender Bedürfnisse steht im Vordergrund, sondern die Frage ob und wie sich die Familie ein langfristiges Leben in Deutschland aufbauen kann. Der Berater Jan beschreibt, Herrn Mbenza als „traumatisierten Mann“ erlebt zu haben. „Jan: Dass er da ziemlich Schreckliches erlebt hat und psychologische Hilfe braucht, war ziemlich klar. Und er hat auch oft jetzt eher traurig gewirkt, wenn wir uns getroffen haben. Ich hatte schon oft das Bild im Kopf, ich treff' hier einen schwer traumatisierten Mann, der seinen Alltag auf die Reihe kriegen muss.“ (Mbenza_Berater_innen_118)

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Jan schildert das Beratungsverhältnis als eher pragmatisch. Welchen Stellenwert die aktuelle Gewalterfahrung vor dem Hintergrund der erfahrenen Verletzungen während der politischen Verfolgung im Herkunftsland und der Flucht hat, bleibt dabei offen. Möglicherweise ist die Erfahrung rassistischer Gewalt in Deutschland für manche Betroffene eher als ein Aspekt der traumatischen Fluchtgeschichte zu verstehen denn als eigenständiger traumatischer Prozess, in dem die Fluchtgeschichte ein Aspekt der ersten Phase – vor der Gewalterfahrung – wäre. Für die Beratungspraxis heißt das, ein Verständnis dafür zu entwickeln, dass die psychischen Folgen rassistischer Gewalt in vielfältiger Weise mit der Bewältigung von Fluchtprozessen verzahnt sein können. In der Praxis ein solches Verständnis für das jeweilige Ineinandergreifen verschiedener belastender Situationen und Ohnmachtserfahrungen im Einzelfall zu entwickeln, thematisiert die Beraterin Ellen als Herausforderung. „Ellen: Und für mich kulminiert das [die Schwierigkeit der Auftragsklärung, GK] an dem Punkt, herausfinden zu wollen, was dieser Angriff für die Betroffenen für eine Relevanz hat. Bis dahin, vielleicht Zeichen von einer Traumatisierung zu erkennen, oder so. Das finde ich ein Problem.“ (Teamdis1_75-77)

Der Begriff der ‚Retraumatisierung‘, der u.a. von Uta eingebracht wird, ist nur begrenzt geeignet, um heftige oder nur schwer nachvollziehbare Reaktionen auf Gewalterfahrungen zu verstehen, die aus dem Ineinandergreifen von verschiedenen Gewalt- und Ohnmachtssituationen entstehen. Retraumatisierung ist in der klinischen Forschung bislang „weder systematisch untersucht, noch konzeptionell belastbar dargestellt worden“, so Schock (2016: 1). Der Begriff finde aber nichtsdestotrotz weiter Verwendung, um „den Wiederanstieg einer PTBS im Zusammenhang mit erneuten Traumata oder traumaassoziierten Stimuli zu benennen.“ (Ebd.) In dieser Begriffsverwendung ist nahegelegt, dass abgeschlossene, in der Vergangenheit liegende traumatische Situationen und die mit ihnen verbundenen psychischen und physiologischen Stressreaktionen durch die Konfrontation mit bestimmten Reizen reaktiviert werden. Aus den Beschreibungen der Berater_innen sowie der Gewaltbetroffenen wird dagegen deutlich, dass die Erfahrung rechter und rassistischer Gewalt sowie die Erfahrung von vergangener politischer Verfolgung, Flucht und Migration nicht als abgeschlossene Ereignisse wahrgenommen werden. Als typische Konstellation beschreiben die Berater_innen, dass insbesondere Geflüchtete die rassistische Gewalt vor dem Hintergrund wiederkehrender Gewalt- und Diskriminierungserfahrungen als unausweichlichen Bestandteil ihres Lebens deuten. „Kevin: Ich finde ja, dass es bei Flüchtlingen oft so ist, dass sie es einordnen in ganz viele Erfahrungen von Diskriminierung und Ausgrenzung bei Behörden, bei der Polizei negative Erfahrungen, auf der Straße mal angemacht zu werden und im Supermarkt an der Kasse, dass da

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diese Gewalttat eingeordnet wird, dass so eine totale Hoffnungslosigkeit da ist. So: ‚Jetzt ist mir auch noch das passiert, da wird mir sowieso niemand helfen, das wird sowieso niemanden interessieren.‘ Das ist bei Flüchtlingen sehr bezeichnend, dass sie das so einordnen.“ (Teamdis2_118)

Hier wird nicht die Aktualisierung eines einschneidenden Ereignisses existenzieller Bedrohung relevant, sondern die Wiederholung mehrerer jeweils kleinerer Erfahrungen von Abwertung, Ohnmacht und Entrechtung. Den wiederkehrenden Charakter von Rassismuserfahrungen in unterschiedlicher Intensität und auf unterschiedlichen Ebenen beschreiben auch Craig-Henderson und Sloan (Craig-Henderson/Sloan 2003; Craig-Henderson 2009) sowie Bryant-Davis und Ocampo (2005) als wesentlich für die psychischen Folgen rassistischer Gewalt. Im US-amerikanischen Raum wird von racial microaggressions gesprochen, um subtile Formen rassistischer Differenzierung und Abwertung in den Blick zu nehmen, die für die Aufrechterhaltung der rassistisch strukturierten Machtverhältnisse auch nach der von der Bürgerrechtsbewegung erkämpften formalen Gleichstellung von Bedeutung sind. Unter racial microaggressions werden „brief and commonplace daily verbal, behavioral, or environmental indignities, whether intentional or unintentional, that communicate hostile, derogatory, or negative racial slights and insults toward people of color“ verstanden (Sue und Kolleg_innen 2007: 271). Als zentrale Dimension dieser alltäglichen Rassismuserfahrungen wird beschrieben, dass sie die Lebensführung der Betroffenen wesentlich beeinflussen,8 aber von Nicht-Betroffenen in der Regel nicht wahrgenommen oder relativiert werden. In Kapitel 6 wurde herausgearbeitet, dass Herr Mbenza vor allem unter alltäglichen Rassismuserfahrungen leidet, die in ihrer Summe massiven Einfluss auf seine Lebensführung entwickeln. Auch in den Schilderungen des Studenten Marvin (vgl. Kapitel 8.3.1) nimmt der wiederkehrende Charakter der Gewalt- und Diskriminierungserfahrung eine zentrale Stellung ein. „Marvin: We don’t mean anything here. I have been to places and they insult you. We go to a club, they throw us out! Because you are black! Get out! You don’t belong here! And when they do that, the names they start calling you is Neger! ‚Neger, Neger, Verpiss dich, Neger!‘ It just makes you feel like, damn! It is not right!“ (Marvin_145-148)

Er betont, dass die Beleidigungen als ‚Neger‘ sich fast tagtäglich ereignen. Sobald er versuche, sich dagegen zur Wehr zu setzen und auf den beleidigenden Charakter des Wortes aufmerksam mache, werde abgewiegelt, dass es nicht so gemeint gewesen sei.

8

Solorzano, Ceja und Yosso (Solorzano/Ceja/Yosso 2000; Yosso und Kolleg_innen 2009) erforschen z.B. den Zusammenhang zwischen racial microaggressions im Hochschulalltag und den Bildungswegen von Student_innen und Wissenschaftler_innen.

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Bryant-Davis und Ocampo (2005: 488) sowie Craig-Henderson und Sloan (2003: 483) beschreiben, dass die kumulative Rassismuserfahrung bei Betroffenen dazu führen kann, dass diese der Mehrheitsgesellschaft mit einem generalisierten Misstrauen begegnen. Die Allgegenwärtigkeit von Rassismuserfahrungen könne dazu führen, dass sich die Gefühle Scham, Ohnmacht und Angst verselbstständigen (Bryant-Davis/Ocampo 2005: 492). Als möglicher Begründungszusammenhang für die kumulative Wirkung von hate crimes kann vor diesem Hintergrund formuliert werden, dass die biografische Erfahrung wiederkehrender Gewalt- und Diskriminierungserfahrungen dazu führen kann, dass Betroffene ein fatalistisches Verhältnis zu den eigenen Handlungsmöglichkeiten und der Veränderbarkeit der eigenen Situation entwickeln. Auch können die wiederkehrenden Gewalt- und Diskriminierungserfahrungen und das Zusammenspiel zwischen racial microaggressions, strukturellen und institutionellen Dimensionen von Rassismus dazu führen, dass die Betroffenen auch möglichen Unterstützer_innen sowie staatlichen Instanzen mit Misstrauen begegnen, weil sie erneute Rassismuserfahrungen erwarten. Gewalt als Schock Dem gegenüber steht die Beobachtung der Berater_innen, dass Betroffene aus eher privilegierten Positionen oft sehr heftig auf eine Gewalterfahrung reagieren. In diesem Zusammenhang nennen die Berater_innen Fälle, in denen nicht selbst von Rassismus betroffene Lokalpolitiker_innen und andere etablierte Persönlichkeiten im Gemeinwesen, die sich öffentlich gegen Rassismus oder Rechtsextremismus geäußert hatten, Opfer rechter Gewalt werden. „Leon: Ich finde es auch interessant, Leute zu betrachten, wie der Bürgermeister vor Ort, der politisch engagiert ist. Nicht das typische links-alternativ, sondern ein erwachsener Mann mit Familie, mitten im Leben stehend, eine Äußerung in eine bestimmte Richtung, oder die Mitarbeiterin, die bei der Linken arbeitet, und die dann vor Ort ist, wenn dann die Scheiben eingeschmissen werden. Also, so Leute, die gar nicht per se davon ausgehen.“ (Teamdis4.1_69)

Obwohl hier die Gewalt nicht in gesellschaftliche Machtverhältnisse eingebettet ist, also weder marginalisierte noch stigmatisierte Gruppen trifft, sondern Gewalt auf eine aktive Positionierung folgt – die oben als erleichternde Dimension charakterisiert wurde – erleben die Berater_innen, dass diese Betroffenen durch die Gewalterfahrung oft tief erschüttert werden. „Volker: Manchmal berät man auch so normale Bürger, die irgendetwas machen und ins Visier geraten. Die reagieren manchmal viel stärker als so Punks, die einfach wissen, wie das alles läuft. Und der Normalo, der denkt, wenn mir was passiert, dann tut die Polizei etwas und dann kommt bei dem das gesamte Weltbild durcheinander.“ (Teamdis4.1_77)

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Die von Janoff-Bulman (1992) formulierte Theorie der „shattered assumptions“ bietet hier einen Zugang zum Verständnis. Janoff-Bulman charakterisiert die Gewalterfahrung als grundlegende Erschütterung subjektiver Theorien, die es den Einzelnen ermöglichen, ein Gefühl von Sicherheit zu entwickeln und im Alltag handlungsfähig zu sein. Die Illusion der eigenen Unverwundbarkeit, die innere Überzeugung, dass es ‚mich nicht trifft‘ und der ‚Glaube an eine gerechte Welt‘ wird erschüttert. Die heftigen Reaktionen von Menschen, die ansonsten in relativ sicheren Bedingungen leben, können damit erklärt werden, dass die Grundannahmen bisher nicht erschüttert worden waren, so dass die Gewalterfahrung tatsächlich ‚alles aus der Bahn wirft‘. Junge Punks oder Geflüchtete, für die Gewalt eher ein Aspekt des Alltags denn herausragendes Ereignis ist, konnten demgegenüber schon vorher nicht auf diese Sicherheit gebenden Illusionen zurückgreifen. Zudem, so kann als weiterer möglicher Begründungszusammenhang formuliert werden, haben die Betroffenen, die in ihrem Leben ansonsten kaum mit Gewalt in Berührung kommen, keine Umgangsstrategien mit Gewalterfahrungen entwickeln können. Juliane, die, mit ihren Freund_innen im Park sitzend, brutal von Neonazis überfallen wurde (vgl. Kapitel 8.3.2), beschreibt lang anhaltende und schwerwiegende psychische Folgen des Angriffs. „Juliane: Ich war dann in Behandlung und das ging dann auch wieder eine Zeit lang. Aber es kam dann noch mal wieder. Noch schlimmer. Also dann hatte ich richtig Angstzustände, konnte nicht mehr in die Stadt gehen, weil ich wirklich unter allen Menschen, die ich nicht gekannt habe, Neonazis vermutet habe.“ (Juliane_69-72)

Im Gegensatz zu anderen aus dem Freundeskreis, die schon länger als links-alternative Jugendliche in der Stadt leben, war es für Juliane die erste direkte Konfrontation mit Neonazis. Während die anderen im Freundeskreis über ihr Engagement bereits Vorstellungen darüber hatten, wie Neonazis agieren und welches Bedrohungspotenzial von ihnen ausgeht, so reflektiert Juliane, war das organisierte und brutale Auftreten der Täter_innen für sie ein besonderer Schock.9 Frühere Bewältigungsstrategien Deutlich wurde, dass die meisten Betroffenen vielfältige Erfahrungen rassistischer Diskriminierung und Gewalt machen und in ihrer alltäglichen Lebensführung bewältigen. Unter welchen Konstellationen gelingt den Betroffenen die Bewältigung nicht mehr, so dass die Gewalt zu einer existenziellen Krisenerfahrung wird?

9

Juliane ist allerdings keineswegs die einzige aus der Gruppe der Jugendlichen mit massiven psychischen Folgen infolge der Gewalt. Auch betont Juliane, dass sie die Schwere der psychischen Folgen in erster Linie auf die Schwere der Tat zurückführt.

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Auch wenn die Möglichkeit einer Gewalterfahrung sowie alltägliche Beleidigungen und Diskriminierungen im Alltag der Betroffenen präsent sind, entfaltet, laut Berater_innen, die tatsächliche Gewalt eine besondere Wirkung. So verändert im oben analysierten Fall von Oliver auch das grundsätzliche Wissen über die Möglichkeit eines rechten oder rassistischen Angriffs die Qualität des tatsächlichen Angriffs. So kam der Angriff für Oliver grundsätzlich nicht überraschend. Als erkennbar ‚linker‘ Fußballfan und Teil der links-alternativen Jugendszene in der Kleinstadt Niebrau war er sich des Risikos bewusst und konnte von verschiedenen bereits erlebten Bedrohungssituationen berichten. Nach der ersten Gewalterfahrung war ein Angriff für Oliver jedoch nicht mehr nur theoretisch möglich, sondern alltäglich als Bedrohung kognitiv und emotional präsent. Die Angst vor erneuten Angriffen wurde zur wesentlichen Dimension seines Leidens. Als möglicher Begründungszusammenhang wurde in Bezug auf Herrn Mbenza herausgearbeitet, dass für ihn dann Handlungsbedarf entsteht, wenn über die alltäglichen Beleidigungen hinaus körperliche Gewalt angewendet wird. Das Gewicht der Tat entsteht für ihn aus der Kombination von rassistischen Beleidigungen, der in gesellschaftliche Machtverhältnisse eingelassenen verbal geäußerten fundamentalen Abwertung und der Anwendung von Gewalt, wodurch die allgegenwärtige Diskriminierung manifest wird. Eine Beraterin beschreibt die Reaktion mancher Betroffener als Schock, dass der Rassismus, mit dem sie seit Jahren leben, sich in körperlicher Gewalt niederschlägt und ihre körperliche Integrität unmittelbar infrage stellt. Die rassistische Abwertung und Markierung wird durch die Gewalt manifest und unausweichlich. „Uta: Das Erstaunen, Rassismus schlägt sich in Form von Gewalt nieder, und ich bin davon betroffen.“ (Teamdis2_681-683)

Als möglicher Zusammenhang wurde in Bezug auf Herrn Mbenza zudem formuliert, dass die Anfeindungen dann existenziell wurden, wenn sie seine alltägliche Lebensführung unmittelbar berührten, indem sie sich in seiner unmittelbaren Nachbarschaft ereigneten. Sie wurden weiter bedrohlich, als er nicht allein betroffen war, sondern er seine Frau und seine Kinder mit in Gefahr sah. In seinen Schilderungen lässt sich damit eine Art Risikokalkulation erkennen, welche Art von Angriffen und Anfeindungen für ihn in seiner konkreten Situation wie gefährlich werden. Eine andere Art von Gefahrenkalkulation nehmen Betroffene vor, für die ein Angriff dadurch krisenhaft wird, dass sich die Täter_innen als gut organisierte Neonazis erweisen. So hebt Juliane, die mit ihren Freunden im Park überfallen wurde, im Interview das organisierte, militärisch anmutende Auftreten der Angreifer hervor, was für sie die Situation während und nach der Tat besonders bedrohlich machte. In anderen Fällen erscheint die Gewalt leichter bewältigbar, wenn die Betroffenen die Täter_innen als betrunkene, ungebildete Jugendliche bewerten.

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Im Fall von Herrn Mbenza wurde zudem herausgearbeitet, dass für ihn Handlungs- und Unterstützungsbedarf entstand, als er Möglichkeiten gesehen hat, etwas in Bezug auf die rassistischen Anfeindungen zu tun, indem er die Täter_innen anzeigte. Während es für ihn nur schwer möglich war, den alltäglichen rassistischen Beleidigungen auf der Straße etwas zu entgegnen, eröffnete sich in den Gewaltfällen die Möglichkeit, jemanden für die Verletzung verantwortlich zu machen. Auch der Betroffene Oliver stellt sich in Bezug auf die Anzeigenstellung die Frage „Was bringt das?“ (Niebrau_Betroffener_93). Ohne konkrete Handlungsoptionen macht für Oliver auch eine Thematisierung des Angriffs gegenüber der OBS keinen Sinn. Mit diesem Blick auf die für die Betroffenen verfügbaren Handlungsoptionen lässt sich als ein möglicher Begründungszusammenhang formulieren, dass die Weise, wie sich die wiederkehrende Qualität von Gewalt- und Diskriminierungserfahrungen auf die subjektiven Folgen der Gewalt auswirkt, davon abhängt, wie vergangene Erfahrungen bewältigt wurden. Ob die erneute Opfererfahrung dazu führt, dass sich ein Gefühl von Ohnmacht oder negative Selbstbilder zu einer allgemeinen resignierten Haltung verfestigen, kann im Zusammenhang damit gesehen werden, welche Handlungsmöglichkeiten Betroffene in vergangenen Gewalterfahrungen als funktional erfahren haben. So kann in Bezug auf den analysierten Fall von Herrn Mbenza argumentiert werden, dass sein souveräner Umgang mit der Gewalterfahrung und der relativ geringe Unterstützungsbedarf dadurch begründet ist, dass er durch die frühere Gewalterfahrung subjektive Umgangsstrategien entwickeln konnte und Wissen über die ihm zu Verfügung stehenden (juristischen) Handlungsmöglichkeiten hatte. Wie vergangene Gewalt- und Diskriminierungserfahrungen für die subjektiven Folgen aktueller Gewalterfahrungen bedeutsam werden, hängt also wesentlich damit zusammen, wie die Betroffenen ihre Handlungsmöglichkeiten in früheren Gewaltund Diskriminierungserfahrungen erlebt haben und welche Handlungsmöglichkeiten vor dieser biografischen Erfahrung in Bezug auf die aktuelle Problematik verfügbar und funktional erscheinen. 9.4.2

Nach der Gewalt

Wie ausgeführt, liegt der besondere Wert des von Keilson (2005) entwickelten Konzeptes der sequentiellen Traumatisierung darin, dass dem gesellschaftlichen Umgang mit dem traumatischen Ereignis und den Betroffenen besondere Bedeutung zugemessen wird. Diese Perspektive ist auch zentral für das Problemverständnis der OBS. Zusammenhangsannahmen zum Verhältnis individueller Bewältigungsmöglichkeiten und der sozialen Lage der Betroffenen sowie gesellschaftliche Reaktionen auf die Gewalt spielen eine wesentliche Rolle in konzeptionellen Papieren und Artikeln der OBS. Auch in den Gruppendiskussionen werden solche Zusammenhänge formuliert.

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Bei den so formulierten Praxistheorien der Berater_innen ist allerdings in vielen Fällen nicht eindeutig, inwiefern real beobachtete Zusammenhänge geschildert werden oder Praxistheorien formuliert werden, die sich aus dem spezifischen Problemverständnis der Organisation ergeben, die die Berater_innen in den Gruppendiskussionen wiederholen. Dennoch lassen sich aus den konzeptionellen Papieren und Gruppendiskussionen verschiedene Praxistheorien dazu herausarbeiten, wie der Zusammenhang zwischen subjektiven Folgen der Gewalt und der Lebenssituation der Betroffenen sowie den gesellschaftlichen Reaktionen nach der Gewalt in der Praxis der OBS begriffen wird. ‚Blaming the Victim‘ und sekundäre Viktimisierung (Mit-)Schuldvorwürfe aus dem sozialen Umfeld der Betroffenen wurden als wesentlich für die subjektive Bewältigung der Gewalt angesprochen. Dies werde ich im Folgenden weiter ausführen, da dieser Aspekt für das Problemverständnis und die Arbeitsweise der OBS zentral ist. So formuliert die Gruppe Opferperspektive (1999: 46) in einem frühen konzeptionellen Artikel, dass „die Opfer der Taten und dringliche Veränderungen ihrer Lebensumstände allzu häufig aus dem Blickfeld“ geraten und die Betroffenen oft selbst als Problem und mitschuldig am Entstehen der Gewalt wahrgenommen werden. Die Berater_innen äußern in der Gruppendiskussion unterschiedliche Einschätzungen darüber, inwiefern die Beobachtung, dass Opfer rechter und rassistischer Gewalt systematisch aus dem Blickfeld fallen und die wissenschaftliche wie politische Beschäftigung mit Rechtextremismus täterzentriert ist, (noch) zutreffend sei. Gegenüber der von einem Teil der Berater_innen formulierten Einschätzung, der gesellschaftliche Umgang mit Rechtsextremismus habe sich seit den 1990er Jahren grundlegend verändert, führt der Berater Kevin aktuelle Beispiele für die aus seiner Sicht fehlende Bereitschaft kommunaler Akteur_innen an, sich für die Situation jugendlicher Gewaltopfer einzusetzen.10 „Kevin: In [Kreisstadt] war ich mal beim Präventionsrat, da ging es um Angriffe auf Punks. Wir wollten den Präventionsrat ermutigen, etwas zu tun, aber die haben die ganze Zeit nur darüber gesprochen, dass die Punks ja ein Problem sind, weil sie die Bierflaschen auf dem Marktplatz zerdeppern. Die hatten lediglich diese ordnungspolitische Perspektive, dass die ein Problem sind. Die sind kein Opfer, basta. Da kann man nicht weiterdenken. Da kann man auch

10 Die Beantwortung der von den Berater_innen diskutierten Frage, inwieweit sich der gesellschaftliche Umgang mit Betroffenen rechter und rassistischer Gewalt verändert hat, ist auf der vorhandenen Datengrundlage nicht möglich. Hier werden auch die Grenzen der in den Gruppendiskussionen erhobenen Daten deutlich: Für die Bewertung der von den Berater_innen formulierten allgemeinen Aussagen waren konkrete Fallschilderungen nicht zu gewinnen.

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nicht einen Moment sagen: ‚O.K., die sind auch ein Problem, aber es gibt da auch was daneben und mit dem daneben muss man sich auch mal beschäftigen.‘“ (Teamdis 2_100)

An verschiedenen Stellen in den Gruppendiskussionen wird als Praxistheorie der Berater_innen deutlich, dass für die Betroffenen ein wesentlicher Teil der Opfererfahrung damit zusammenhängt, dass den Betroffenen nach der Gewalt oft Unterstützung vorenthalten oder ihnen sogar eine (Mit-)Schuld an der Tat zugeschrieben wird. Ein Beispiel ist der Fall der Schülerin Tülay (vgl. Kapitel 8.2.2), für die das Nichteingreifen der Lehrerin verletzender war als die Beleidigung und der Schlag durch die Mitschülerin. Die Berater_innen schildern, dass sie auf Wunsch von Tülay das Gespräch mit der Lehrerin und der Schulleitung gesucht haben, die aber ausschließlich Tülay als problematisch beschrieben. Der Betroffenen anschließend von dem Gespräch zu erzählen, erinnert Ben als „ziemlich furchtbar, […] weil klar war, dass das die Enttäuschung auch wieder reproduziert.“ (Teamdis3_664-666) Mit dieser Praxistheorie beziehen sich die Berater_innen auf die in der Viktimologie vor allem im Zusammenhang mit Sexualstraftaten beschriebenen Prozesse der ‚Täter-Opfer-Umkehr‘, die auch als ‚blaming the victim‘11 bezeichnet werden. Strobl, Lobermeier und Böttger (2003: 37-39) vertreten auf Grundlage ihrer Studien Opfererfahrungen ethnischer Minderheiten (Strobl 1998) und Opfer rechtsextremer Gewalt (Böttger/Lobermeier/Strobl 2006) die These, dass Opfer rechter oder rassistischer Gewalt aufgrund ihrer Minderheitenposition oder als vorwiegend männliche Jugendliche nicht als ‚ideale Opfer‘ wahrgenommen werden. Die Gefahr, dass ihre Opfererfahrung nicht anerkannt wird und sie daher keine Unterstützung erhalten, sei daher besonders groß. Die Bedeutung der Reaktionen Dritter auf die Gewalterfahrung beschreibt auch der Student Marvin. Im Interview schildert Marvin, dass gravierender noch als die Gewalt selbst die Reaktionen von Unbeteiligten waren. Eine Anwohnerin, die zu der lautstarken Auseinandersetzung kam, ergriff spontan Partei für die eigentlichen Angreifer und beschimpfte Marvin rassistisch. „Marvin: Actually at first I thought that she… because we were really loud. […] So I figured out, that she might have come from one of these apartments right here, and I really thought: Oh there is some good person to help. You understand. And then I was really shocked when she started shouting and calling us the names as well, ‚Neger‘ again, I was really surprised!“ (Marvin_85-90)

11 In Bezug auf Rassismus wurde der Begriff von Ryan (1971) geprägt, der in seinem Blaming the Victim betitelten Buch die in den USA dominanten Theorien zur Erklärung der subalternen Lage schwarzer Minderheiten in den USA dahingehend kritisierte, dass die Verantwortung für deren Lage bei den Betroffenen selbst gesucht wird.

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Die Bedeutung der Reaktionen unbeteiligter Dritter wird durch die Gegenüberstellung der Reaktion der Frau und der unterstützend erlebten Intervention zweier weiterer Passanten deutlich. Durch die Reaktion der Frau sah sich Marvin allein einer feindlich gesinnten Welt gegenüber, in der sein Empfinden von Recht und Unrecht auf den Kopf gestellt wurde. Vor diesem Hintergrund war es für ihn eine große Erleichterung, als zwei weitere Passanten gegenüber der Polizei schilderten, dass die Angreifer schon vor dem Zusammentreffen mit Marvin durch ihr aggressives Verhalten aufgefallen waren. „Marvin: When I felt better, was, when the two other guys came. I didn´t even see them before. And they were saying, they were also attacked by this people, that is when I felt… It was a relieve to feel, that I was not the only one. It really made me feel better.“ (Marvin_101-104)

Noch schwerwiegender ist schließlich für Marvin das Verhalten der zum Tatort gerufenen Polizei. Ein Beamter bezeichnete ihn – hörbar für Marvin – als ‚Neger‘, als er über Funk Verstärkung anforderte. „Marvin: When the police came there, the two officers who came there first, I was also very shocked, that they were on the radio and they were still referring to us as ‚Neger‘. I was like: Oh man, this is not possible!“ (Marvin_170-172)

Er entschloss sich, nicht nur die körperliche Gewalt zur Anzeige zu bringen, sondern auch die Beleidigung durch die Polizeibeamten. Das Verfahren wurde allerdings schon bald eingestellt. „Marvin: And then I talked to the lawyer about this and we tried to build a case about it, because I felt beleidigt, you know. Yeah, but the Staatsanwaltschaft made clear that this is going nowhere. And that was a very, very big slap to the face.“ (Marvin_179-181)

Böttger und Kolleg_innen (2014) messen den Reaktionen der Polizei besondere Relevanz für die psychischen Folgen der Gewalt zu. Die Polizei sei nicht nur oft eine der ersten Instanzen, mit denen Betroffene nach einer Gewalttat in Kontakt kommt. Sie habe darüber hinaus die gesellschaftliche Funktion, die durch die Gewalt verletzten Normen symbolisch wiederherzustellen. Betroffene rechter und rassistischer Gewalt erleben, den Autor_innen zufolge, die Polizei aber oft nicht als unterstützend, sondern als distanziert bis ablehnend und wenig engagiert (ebd.: 115). Betroffenen werde von der Polizei oft nicht geglaubt und ihre Opfererfahrung nicht anerkannt und ernst genommen (Strobl/Lobermeier/Böttger 2003: 37-39). Dadurch seien Betroffene rechter und rassistischer Gewalt in besonderem Maße der Gefahr sekundärer Viktimisierung ausgesetzt. Auch Craig-Henderson (2009: 26) nennt die Gefahr sekundärer Viktimisierungen im Kontakt mit der Polizei als typischen Aspekt rassistischer hate

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crimes, und die OBS formulieren in ihren Standards als typische Konstellation: „Beispielsweise waren Befragungen durch Polizeibeamte belastend gestaltet, den eigenen Schilderungen wurde kein Glaube geschenkt oder gar eine eigene Schuld am Geschehen unterstellt.“ (AG Qualitätsstandards 2014: 6) Auch in den Fällen, die in den Kapiteln 6 und 7 dargestellt wurden, spielte der Kontakt zur Polizei jeweils eine zentrale Rolle. Mit dem Begriff der sekundären Viktimisierung oder dem manchmal synonym verwendeten Begriff der Re-Viktimisierung ist das Verständnis verbunden, dass problematische Reaktionen der Polizei, wie diskriminierende Äußerungen oder Schuldvorwürfe an die Betroffenen, eine erneute Opfererfahrung darstellen. Deutlich wurde aus den Fallanalysen aber, dass sich die Betroffenen sehr unterschiedlich zur Polizei verhalten und strategisch positionieren können. Der Begriff der Re-Viktimisierung läuft Gefahr, ein deterministisches Verständnis von der Wirkung problematischer Reaktionen des Umfelds (insbesondere der Polizei) auf die Betroffenen zu befördern. Mit Hilfe des Konzeptes der sequentiellen Traumatisierung lassen sich demgegenüber die Situationen dahingehend betrachten, inwieweit in ihnen die Handlungsmöglichkeiten der Betroffenen im Umgang mit der Gewalterfahrung weiter beschnitten werden und Situationen der Ohnmacht und des Ausgeliefertseins entstehen und wie die Betroffenen damit umgehen. Dabei lassen sich nicht notwendigerweise einzelne Ereignisse oder Reaktionen Dritter identifizieren, die als erneute Viktimisierung erfahren werden. Die Bewältigung der Gewalterfahrung kann durch sehr unterschiedliche Konstellationen erschwert sein, durch die das Gefühl der Ohnmacht und des Ausgeliefertseins fortgesetzt wird und sich verfestigen kann. Anhaltende existenzielle Unsicherheit und fehlender Schutz vor weiteren Angriffen, die Beschränkung der Möglichkeiten, Anerkennung und Unterstützung zu organisieren, oder die Wahrnehmung von Ohnmacht, die eigenen Rechte geltend zu machen, wurden als typische Konstellationen geschildert. Ohnmacht und Unsicherheit aufgrund restriktiver Asylpolitik Die OBS heben insbesondere die Belastungen hervor, die für Betroffene rechter und rassistischer Gewalt aufgrund ihres rechtlichen Status als Asylbewerber_innen oder Flüchtling entstehen. So nennen die OBS, dass „Flüchtlinge […] aufgrund ihrer mehrheitlich marginalisierten und strukturell benachteiligten Stellung in der Gesellschaft eine besondere Vulnerabilität auf[weisen] – sie sind oft von Arbeitsverboten, beengten Wohnverhältnissen und sozialer Isolation betroffen und darüber hinaus mit institutioneller Diskriminierung und rassistischen Alltagserfahrungen konfrontiert.“ (AG Qualitätsstandards 2014: 6)

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Die OBS beschreiben in mehreren Veröffentlichungen12 anhand von Fallschilderungen, wie die Folgen der Gewalt für Betroffene durch asylrechtlich strukturierte Lebensbedingungen verschärft werden. Wendel (2003) beschreibt einen schweren rassistischen Angriff auf sechs pakistanische Asylbewerber in der brandenburgischen Stadt Rathenow. Die massiven psychischen Folgen, nicht nur für die direkt Betroffenen, sondern auch für andere Asylbewerber_innen in Rathenow, stellt Wendel in Zusammenhang mit der Lebenssituation der Betroffenen. Die in einer außerhalb der Stadt liegenden Sammelunterkunft untergebrachten Asylbewerber_innen seien sozial isoliert und sähen sich der ständigen Gefahr weiterer Angriffe ausgesetzt. Durch die Zuteilung von Asylsuchenden auf Landkreise und durch die Residenzpflicht seien die Möglichkeiten für Betroffene, z.B. durch einen Umzug die Gefahr weiterer Angriffe zu minimieren, massiv eingeschränkt. „Ein unsicherer Aufenthaltsstatus, fehlende Arbeitsmöglichkeiten, als Schikanen erlebte Einschränkungen wie die Residenzpflicht oder Wertgutscheine zum Einkaufen, eine Unterbringung in abgelegenen, schäbigen Unterkünften, all das verringert ihre sozialen Teilhabechancen an der Aufnahmegesellschaft auf ein Minimum. Asylbewerber sind abhängig von den Entscheidungen einzelner Sachbearbeiter der Ausländerbehörde oder des Sozialamts, die einen gravierenden Einfluss auf ihre Lebensverhältnisse haben.“ (Ebd.: 82-83)

Für die Berater_innen der OBS sei hier oft nicht zu unterscheiden, ob das psychische Leiden in erster Linie Folge der erfahrenen rassistischen Gewalt oder Resultat der Lebenssituation ist. In den Gruppendiskussionen nehmen Berater_innen darauf Bezug, dass der Zusammenhang zwischen den subjektiven Folgen der Gewalt und der durch das restriktive Ausländerrecht strukturierten Lebenssituation von Geflüchteten offensichtlich ist und vielfach beschrieben wurde. Fallbeschreibungen, um die Zusammenhänge explizit zu beschreiben, werden daher nicht angeführt.13 Allerdings kann der Fall der Familie Al-Shami als Beispiel für den engen Zusammenhang zwischen den psychischen Reaktionen auf einen rassistischen Angriff und der allgemeinen Lebenssituation als Geflüchtete und den damit verbundenen Demütigungen und

12 Die meisten OBS geben beispielsweise Rundbriefe u.Ä. heraus, in denen sie über ihre Arbeit und Entwicklungen in den jeweiligen Bundesländern berichten und die in der Regel auch Fallbeschreibungen enthalten. 13 Hier wird das genannte Spannungsfeld deutlich, dass Praxistheorien einerseits Erfahrungswissen der Praktiker_innen wiedergeben, aber diese Erfahrungen zugleich theoretisch geleitet sind. So kann der Fokus auf die Bedeutung asylrechtlicher Einschränkungen für die psychischen Folgen rassistischer Gewalt nicht nur als Ausdruck konkreter Erfahrung der Berater_innen gesehen werden, sondern auch durch die konzeptionelle bzw. politische Entscheidung der OBS begründet sein, das Thema ‚rechte Gewalt‘ im Kontext von über Rechtsextremismus hinausreichendem Rassismus zu thematisieren.

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Ohnmachtserfahrungen genannt werden. Der beschriebene Fall von Herrn Mbenza (vgl. Kapitel 7) kann ebenfalls als ein Beispiel dafür herangezogen werden, dass die Bewältigung der Gewalterfahrung durch asylrechtliche Regelungen erschwert wird. So konnte die Familie nach dem ersten Angriff nicht aus der Stadt Grunden wegziehen, um in einer von der Familie als sicherer wahrgenommenen Großstadt leben zu können, in der sie sich zudem in einer weniger sozial isolierten Situation sah. Auch hier schildern die Berater_innen, dass für sie nicht zu unterscheiden war, in welchem Verhältnis das psychische Leiden mit der Gewalterfahrung in Grunden, der prekären aufenthaltsrechtlichen Situation und Angst vor Abschiebung sowie vergangenen traumatischen Erfahrungen im Zusammenhang mit der politischen Verfolgung und Flucht stehen. Spezifische Konstellationen im ländlichen Raum Als weiteren für die Bewältigungsmöglichkeiten relevanten Aspekt schildern die Berater_innen die spezifische Konstellation im ländlichen Kontext. Sie heben insbesondere das Fehlen von ‚migrationssensibler‘ Infrastruktur im ländlichen Raum hervor. So schildert der Berater Omar die Schwierigkeit, einen Klienten in einer psychiatrischen Tageseinrichtung oder zumindest in psychologischer Behandlung unterzubringen, weil die angefragten Einrichtungen sich nicht in der Lage sahen, einen Patienten mit Migrationshintergrund zu behandeln. „Omar: Aber es war tatsächlich so, dass verschiedene Leute vor Ort gesagt haben, dass es keinen Psychologen gibt, der sich um diesen Mann mit seinem Migrationshintergrund, der in dem Fall wichtig war, kümmern könnte. Es gab keine Einrichtung – ich habe es wirklich versucht. Der Mann wollte Kontakte, er war isoliert und brauchte eine Anbindung. Aber es gab keine Einrichtung, die das hätte leisten können. Die Einrichtungen, mit denen ich gesprochen habe, haben gesagt: ‚Oh, der ist Migrant, der spricht nicht richtig Deutsch, dann ist er auch noch Moslem, das ist etwas, womit die Leute, die unsere Einrichtung besuchen, Probleme haben.‘“ (Teamdis1_289-295)

Als Schwierigkeiten nennen die Berater_innen Sprachbarrieren und die unzureichende Nutzung von Dolmetscher_innen durch Behörden und Hilfesysteme. Sie beschreiben auch, dass Einrichtungen fehlen, die auf die möglicherweise besondere Relevanz der Flucht- und Migrationsgeschichte der Betroffenen eingehen oder mögliche andere besondere Bedürfnisse von Migrant_innen berücksichtigen. Ähnliches beschreiben Chakraborti und Garland (2009b) für die Situation im ländlichen England. Hier seien ethnische Minderheiten in besonderer Weise mit rassistischen Anfeindungen und mit Isolation konfrontiert. Ihre Situation sei in paradoxer Weise dadurch gekennzeichnet, dass sie als Minderheiten einerseits ‚unsichtbar‘ in dem Sinne seien, dass sie in der Planung und Umsetzung kommunaler Infrastruktur nicht

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berücksichtigt werden. Andererseits seien sie aber für die lokale Bevölkerung als ethnische Minderheiten ‚allzu sichtbar‘ (ebd.: 145). Durch das vorherrschende und romantisierende Bild vom englischen Landleben als authentisch für das Englischsein werde Diversität und Veränderung als Störung wahrgenommen. Ländliche soziale Strukturen hätten die Tendenz, zu Konformismus zu drängen und intolerant gegenüber Differenz zu sein (ebd.: 147). In dieser Situation seien ethnische Minderheiten nicht nur in besonderer Weise von offenen Anfeindungen und alltäglichen racial microaggressions betroffen. Sie könnten auch nur auf wenige unterstützende Netzwerke zurückgreifen. So schildern Chakraborti und Garland, dass Befragte in ihrer Studie erklären, bewusst keine eigenen kulturellen oder religiösen Zusammenhänge aufzubauen, um Anfeindungen zu entgehen (ebd.: 148). Die Bewältigung der Gewalterfahrung, so lässt sich anschließend an die referierte Studie als hypothetisches Begründungsmuster formulieren, ist für Angehörige ethnischer Minderheiten im ländlichen Raum dadurch erschwert, dass sie auch nach der Gewalterfahrung durch ihre Sichtbarkeit und die von Intoleranz geprägten ländlichen Strukturen besonders verletzlich für weitere Anfeindungen und manifeste Gewalt sind und zudem in einer isolierten Situation leben, in der sie auf wenig emotionale, soziale und institutionelle Unterstützung zurückgreifen können. Da das in der vorliegenden Arbeit erhobene Datenmaterial in Hinblick auf diese Frage begrenzt ist, wären für den deutschen Kontext weitere empirische Forschungen lohnenswert, um zu beleuchten, wie sich die Spezifik ländlicher Kontexte auf die Bewältigungsmöglichkeiten rechter und rassistischer Gewalt durch die Betroffenen auswirkt. Obwohl sich die Studie von Chakraborti und Garland auf die Situation ethnischer Minderheiten bezieht, kann der restriktive Umgang mit Abweichung von traditionellen ländlichen Normen auch (jugendliche) Angehörige alternativer Subkulturen sowie Menschen mit nicht normkonformen Geschlechteridentitäten betreffen.

9.5

K OLLEKTIVE V IKTIMISIERUNG UND INDIVIDUELLE H ANDLUNGSFÄHIGKEIT

Die Folgen rechter und rassistischer Gewalt bzw. von hate crimes sind nicht auf die direkt Betroffenen beschränkt, sondern weisen über diese hinaus. So hat Noelle (2002) als „ripple effect“ beschrieben, dass homophobe hate crimes nicht nur auf die direkt Betroffenen und ihr soziales Umfeld tiefgreifend verunsichernd wirken, sondern die LGBT-Community als Ganze betroffen ist. Das Gefühl ständiger Bedrohung, der Verlust von Vertrauen und verinnerlichte Unterordnung sind Effekte von hate crimes, die auch Angehörige der betroffenen Gruppe betreffen, die nicht direkt Gewalt erfahren haben.

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Prozesse der kollektiven Viktimisierung werden auch von Berater_innen als wesentliches Moment rechter und rassistischer Angriffe angesprochen. Während die Beraterin Uta zunächst relativiert, dass sie als Berater_innen vor allem mit den direkt Betroffenen zu tun haben und daher über die Wirkungen eines Angriffs auf den weiteren Kreis nur wenig sagen können, wird im weiteren Diskussionsverlauf die Bedeutung kollektiver Dimensionen der Gewalt auch in der Beratung direkt Betroffener deutlich. So wird als typisches Thema beschrieben, dass durch Medien oder Erzählungen vermitteltes Wissen über andere Fälle für die subjektive Bewertung der eigenen Situation herangezogen wird. Fälle mit breiter Medienöffentlichkeit beeinflussen die Bereitschaft Betroffener, Anzeige zu stellen, so die Beraterin Uta. Viktoria ergänzt: „Viktoria: So einen Bezug auf andere Fälle hatte ich auch schon öfter: So: ‚Hm, Anzeige, nein, dann kommt man ja vor Gericht, hier, wie hieß noch mal die Ägypterin, die in Leipzig erstochen wurde?‘14 So was haben öfter Leute von sich aus thematisiert.“ (Teamdis2_692-694)

Auch weitergegebenes Wissen über Vorfälle in der jeweiligen Stadt beeinflusst das Unsicherheitsgefühl potenziell Betroffener – unabhängig davon, ob sie selbst schon einmal von rassistischer oder rechter Gewalt betroffen waren. „Kevin: Und du hast das bei Leuten, die z.B. in Asylbewerberheimen wohnen sehr häufig. Dass es so etwas wie ein kollektives Gedächtnis gibt von Vorfällen, die mal waren. Die hat man selber gar nicht miterlebt, da war man möglicherweise auch noch gar nicht im Heim, aber man weiß es, da wird ganz viel eingeordnet. Also, die Gefährlichkeit des Ortes, wie die subjektiv wahr genommen wird. Uta: [Stadt] ist da ja ein gutes Beispiel. Da gab es ja vor allem diese Sachbeschädigungen und einen rassistischen Angriff. Dann haben sich die Flüchtlinge nach 16:00 Uhr, da war es Winter, nicht mehr aus dem Heim getraut. Kevin: Ich finde, das ist sehr häufig!“ (Teamdis2_734-742)

14 Gemeint ist Marwa El-Sherbini. Sie ist am 1.Juli 2009 in einem Dresdener Gericht nach ihrer Zeugenaussage in einem Verfahren wegen rassistischer Beleidigung von dem Angeklagten mit 18 Messerstichen ermordet worden. Ihr Ehemann, der ihr zu Hilfe kommen wollte, ist von einer Polizeikugel getroffen worden. Der Polizist hatte ihn für den Angreifer gehalten. Die Gruppendiskussion fand statt, kurz bevor sich der so genannte Nationalsozialistische Untergrund (NSU) selbst enttarnte und das umfassende Versagen deutscher Behörden im Umgang mit organisierter rassistischer Gewalt offenkundig wurde. Ich gehe davon aus, dass die Berater_innen zu einem späteren Zeitpunkt nach Aufdeckung über Gespräche mit Betroffenen über NSU und den staatlichen Umgang berichtet hätten, um Prozesse kollektiver Viktimisierung zu verdeutlichen.

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Kevin betont hier das informell übermittelte Wissen über die Einschätzung der Gefahrenlage als wichtige Dimension in der Beratung von Betroffenen rechter und rassistischer Gewalt und der Einschätzung der Folgen der Gewalt für die Betroffenen. Angesprochen sind hier zwei Dimensionen: Erstens die Einschätzung der Gefährdungslage und – damit zusammenhängend – die subjektiv wahrgenommenen Handlungsmöglichkeiten nach der Tat. Hier kann das medial vermittelte oder innerhalb der Community weitergetragene Wissen über andere Fälle rechter und rassistischer Gewalt ähnlich wie wiederkehrende Gewalt- und Diskriminierungserfahrungen dazu beitragen, die eigene Situation als ausweglos wahrzunehmen, d.h. zu der kumulativen Wirkung der Gewalterfahrung beitragen. Zweitens ist in der kollektiven Dimension der Gewalt aber auch das Potenzial kollektiver Handlungsfähigkeit enthalten.15 Der rassistische Angriff auf den Studenten Marvin fand im Kontext mehrerer rassistischer Angriffe auf Geflüchtete, ausländische Studierende und andere ‚People of Color‘ in der Stadt innerhalb weniger Monate statt. Marvin thematisiert im Interview seine eigene Gewalterfahrung als eingebettet in vielfältige Diskriminierungserfahrungen, die er selbst erlebt hat oder von denen in seinem Freundeskreis berichtet wurde. Vor diesem Hintergrund erschien die Konfrontation mit Rassismus, die Markierung und Abwertung als ‚anders‘ für ihn als unausweichlich. Die Versuche, sich gegen verbale Anfeindungen durch Hinzuziehung der Polizei zur Wehr zu setzen, haben sich aus Marvins Sicht als vergeblich erwiesen. Durch die Häufung der Gewalt begann allerdings eine Mobilisierung in der Stadt. Der Angriff auf Marvin erfuhr große Medienaufmerksamkeit, und Studierende und die lokale Antifa organisierten eine Demonstration ‚gegen Rassismus‘, an der sich ein breites zivilgesellschaftliches Bündnis beteiligte. Marvin beschreibt sein zunächst ambivalentes Verhältnis zur Demonstration: „Marvin: When there was this big thing, this student march, I decided to stay home, because I didn’t want to be part of the whole thing. But, then I saw, the number of people that were marching, and even the march passed my place. I was in there, just watching from the window. Then I felt that I should be out there as well. 1000 people and students marched because of this thing. So I decided to go out.“ (Marvin_431-436)

Auf Nachfrage führt er die Bedeutung solidarischer Mobilisierung weiter aus und beschreibt sie als stärkende Erfahrung. „GK: How did you feel with the march, can you tell a little bit more about it? You didn’t want to participate, firstly… Marvin: I didn’t want to participate... I knew they were marching because of me. I just suspected, that on such a march there would be cameras and so on. And I really didn’t want that

15 Diese Perspektive nennt auch Perry (2015) als Aspekt von „community impacts of hate crimes“.

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at that moment. First of all, when I heard about the march and everything, I really felt good! I really felt good that this is going to happen. But when I saw the number of people that marched, I was even more amazed. This was big! I felt, like, finally this number of people watches my back! That was, when I decided I should join them. GK: That this march happened was supportive to you? Marvin: Exactly! Most of the people didn’t even know me. And I was just there.“ (Marvin_451463)

Auch im oben beschriebenen Fall der Jugendlichen Juliane, die gemeinsam mit ihrem Freundeskreis einen Abend im Park verbrachte und dabei brutal von Neonazis überfallen wurde, kamen schon am folgenden Tag Aktivist_innen aus den umliegenden Städten und demonstrierten gegen rechte Gewalt. „Juliane: Im Anschluss gab es ja auch eine Demonstration hier in [Stadt], da habe ich auch dran teilgenommen. Mein Freund konnte das nicht, weil der schwerer verletzt war. Und das fand ich halt schön. Das hat mir auch, als ich dann am Bahnhof stand und die Leute gesehen habe aus [Nachbarstadt A], aus [Nachbarstadt B], aus [Stadt], wie sie sich beteiligt haben und Solidarität gezeigt haben, das hat mich auch ganz doll berührt. Da war ich wirklich zu Tränen gerührt. Das war ein schöner Moment. […] Es waren halt auf einmal ganz viele Menschen und die sich für dich eingesetzt haben in dem Moment. Das war toll.“ (Juliane_110-119)

Der Überfall wird zudem zum Anlass für die Gründung einer Initiative, die versucht, ein alternatives Jugendzentrum in der Stadt aufzubauen, da es nach der Schließung eines städtischen Jugendclubs faktisch keinen Treffpunkt für links-alternative Jugendlichen mehr gab.

9.6

AMBIVALENTE D EUTUNG RASSISTISCHER E RFAHRUNG

In den letzten Abschnitten wurde bereits deutlich, dass die Weise, wie die Betroffenen die Gewalt verarbeiten, maßgeblich damit zusammenhängt, welche Handlungsmöglichkeiten die Betroffenen im Umgang mit der Gewalt für sich als verfügbar und realisierbar wahrnehmen. Dies steht wiederum im Zusammenhang mit einerseits den objektiven gesellschaftlich vermittelten Lebensbedingungen der Betroffenen und andererseits deren subjektiven Deutungen ihrer Situation. Im Folgenden zeige ich anhand von drei Beispielen, dass es verschiedene mögliche Zusammenhänge zwischen den im konkreten Lebenszusammenhang der Betroffenen gegebenen Deutungsangeboten, den jeweiligen Handlungsmöglichkeiten und -einschränkungen und den von den Betroffenen realisierten Deutungs- und Handlungsmöglichkeiten im Umgang mit der Gewalterfahrung gibt.

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Die Berater_innen schildern, dass Betroffene in ihrer Auseinandersetzung mit den Hintergründen der Tat zu durchaus unterschiedlichen Ergebnissen kommen und die rassistischen Hintergründe der Tat unterschiedlich deuten. Obwohl die überwiegende Mehrzahl der Betroffenen den Angriff als Angriff auf die eigene Gruppe begreift, vermeiden manche Betroffene, Rassismus als Tathintergrund offen zu benennen. Als Beispiel nennen die Berater_innen Angriffe (Brandanschläge und massive Sachbeschädigungen) auf migrantisch betriebene Imbisse im ländlichen Raum. Trotz – aus Sicht der Berater_innen – deutlicher Hinweise auf einen rassistischen Tathintergrund haben die Betroffenen weder gegenüber der Polizei noch gegenüber der OBS von sich aus Rassismus angesprochen. „Ellen: [Ich hatte, GK] den Eindruck [...], dass es total gut war, dass wir mit diesem Erklärungsmuster gekommen sind, weil die mit einer Situation konfrontiert waren, dass sie zum einen aufgrund der Tatsache, dass sie es mit einem bestimmten Kundenstamm zu tun hatten, den sie nicht verlieren wollen, das sowieso nicht thematisieren konnten. Und zum anderen hatten sie im lokalen Kontext auch überhaupt keinen entsprechenden Referenzrahmen. Also, es gab da niemanden, der gekommen ist und ihm das sozusagen angeboten hat, sondern die Gewalttat hat aus irgendwelchen Gründen stattgefunden. Und als wir dann kamen und gesagt haben: ‚Das könnte was mit Rassismus zu tun haben.‘ Wir haben ihnen das ja nicht eingeredet,16 sondern haben das angeboten, da kann ich mich an Situationen erinnern, wo sie das sehr sehr dankbar aufgegriffen haben und das dann auch verknüpfen konnten mit dem, was sie eigentlich dachten.“ (Teamdis1_696-704)

Beschrieben wird hier, dass die Benennung von Rassismus für die Betroffenen in bestimmten Bedingungen mit dem Risiko verbunden ist, sich erneuten Anfeindungen auszusetzen oder sogar die eigene Existenzgrundlage zu verlieren. In den prekären und isolierten Lebensumständen von Betroffenen, wie bspw. Imbissbetreiber_innen oder als ‚nicht-weiß‘ identifizierte Jugendliche im ländlichen Raum, ist das Benennen von Rassismus mit enormen Risiken verbunden. Die kognitive Realisierung des gesamten Ausmaßes von Rassismus lässt die subjektive Situation ausweglos erscheinen, während die Nichtbenennung und Nichtrealisierung noch einen Rest Handlungsfähigkeit verspricht, z.B. zu versuchen, sich mit den potenziellen Täter_innen gut zu stellen. „Kevin: Mir ist das besonders bei den Imbissbesitzern aufgefallen, die ein Problem mit ihrer eigenen Kundschaft haben und immer wieder sagen: ‚Ja, das sind aber doch meine Kunden und

16 Der mögliche Vorwurf, aus dem eigenen institutionellen Interesse ein rechtes oder rassistisches Tatmotiv zu sehen, ist in dieser Diskussionspassage durchgehend präsent. Sicherlich spielt dies auch real eine Rolle dafür, ob und wie die Betroffenen über den Hintergrund der Tat sprechen. Ich vertiefe dieses Thema im folgenden Kapitel.

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ich versuche auch immer ein gutes Verhältnis zu denen zu haben und ich habe denen auch mal einen ausgegeben und gemacht und getan und – Bums – trotzdem.‘“ (Teamdis2_767-770)

Die Nichtbenennung von Rassismus ist dabei aber mit den subjektiven Kosten verbunden, keine Erklärung für die Gewalt zu haben und darauf zurückgeworfen zu sein, die Schuld bei sich selbst zu suchen. Der Student Marvin (s.o.) drückt im Interview dagegen eine andere Deutung der von ihm erfahrenen Gewalt aus. Diese Deutung und die von Marvin realisierten Handlungsmöglichkeiten werden wiederum vor dem Hintergrund der konkreten Lebensumstände verständlich. Marvin entschied sich, nicht nur die Gewalt, sondern auch die Beleidigung durch den Polizeibeamten anzuzeigen. Später erläuterte er seine Problemsicht auch gegenüber Medienvertreter_innen. Er benannte deutlich den rassistischen Gehalt der Gewalt und forderte die klare Positionierung der Justiz, dass rassistische Beleidigungen, speziell das Wort ‚Neger‘, inakzeptabel sind. Er begründet im Interview die beleidigende Wirkung unter Bezug auf die koloniale Herkunft des Wortes: „Marvin: My grandma [...] always told us a lot of stories [...]. Even though slavery has stopped hundreds of years ago, she always told us such stories like: ‚It might has stopped officially, but in the underground it is still there.‘ [...] Yeah, and she told us, that they always told them ‚niggers‘. But I think, it didn´t really mean anything to me at that time, when I was still at home. [...] But when I came to Europe, to Germany, I realized that people use this word because they want to provoke you. [...] That was not the very first time, that somebody used the word to me.“ (Marvin _ 109-127)

Durch seinen biografischen Hintergrund sowie die in seinem Umfeld zugänglichen Rassismustheorien deutet er seine Gewalterfahrung im Kontext der Geschichte und Kontinuität kolonialer Ausbeutung. Die hier anklingende Auseinandersetzung mit der Rassismuserfahrung und der offensive Umgang damit ist möglich, weil Marvin über theoretisches Wissen zu Rassismus verfügt und über Netzwerke, die ihn in der Wahrnehmung der Handlungsmöglichkeiten, die aufgrund dieses Wissens in den Blick kommen, unterstützen. In seiner Stadt ist er eingebunden in einen engen Freundeskreis ausländischer Studierender, mit denen er sich schon vor der hier geschilderten Gewalterfahrung über den Umgang mit Rassismus in seinen unterschiedlichen Erscheinungsformen ausgetauscht hat. Auch seine subkulturelle Einbindung als HipHop-Künstler bietet ihm ein reichhaltiges Reservoir an Deutungsangeboten zur Interpretation und Verbalisierung von Rassismuserfahrungen. Über seine persönlichen Netzwerke hinaus gab es nach dem Angriff zahlreiche öffentliche Positionierungen, z.B. von Vertreter_innen der Universität, die sich auf seine Seite stellten. Studierende und die lokale Antifa organisierten – wie bereits oben

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beschrieben – eine Demo gegen Rassismus, was Marvin als stärkende Erfahrung in einer für ihn sehr prekären Situation schildert. Wesentlich für seine Deutung und Realisierung von Handlungsmöglichkeiten war auch, dass seine Bezugspunkte über den lokalen Kontext hinausreichten. Er hatte die Perspektive, nach Abschluss des Studiums die Stadt zu verlassen. Zur Deutung der Situation und der Bewertung seiner Handlungsmöglichkeiten bezog er sich auf internationale Normen und die Geschichte antirassistischer Kämpfe. So kontrastiert er im Interview den juristischen Umgang mit der rassistischen Beleidigung mit Normen, die er in England oder USA erfüllt sieht. Er beschreibt seine Empörung über die Einstellung des Verfahrens gegen den Polizisten, der ihn als „Neger“ bezeichnet hatte, und formuliert gegenüber dieser Enttäuschung, dass die von ihm vertretenen Maßstäbe für Recht und Unrecht, zumindest im internationalen Rahmen geteilt werden. „Marvin: And that was a very, very big slap to the face. Because I know for sure, in England you can´t get away with this! In the United States you can´t get away with this!“ (Marvin_181183)

Die Erfahrung des Scheiterns seiner juristischen Strategie wiederum deutet er als Fall von institutionellem Rassismus in der Polizei und der Justiz. Statt seine eigene Deutung infrage zu stellen, differenziert er sein Rassismusverständnis weiter anhand der für ihn zugänglichen politischen Diskurse. Dennoch bleiben auch für Marvin die Handlungsmöglichkeiten mit Risiken verbunden: Seiner Anzeige gegen den tätlichen Angreifer stand eine Anzeige gegen ihn selbst gegenüber, weil er sich gewehrt hatte. Entgegen seinem eigenen Rechtsempfinden stimmte Marvin einem gerichtlichen Vergleich zu, weil er nicht das Risiko einer Vorstrafe tragen wollte, um sich keine aufenthaltsrechtlichen Möglichkeiten zu verbauen. Herr Mbenza beschreibt, wie Marvin, die Gewalt im Zusammenhang mit wiederkehrenden rassistischen Anfeindungen im Alltag, von denen er zahlreiche Beispiele schildert (vgl. Kapitel 6). Die Beleidigungen mit dem Wort ‚Neger‘ nehmen auch in Herrn Mbenzas Schilderungen eine herausragende Rolle ein. Er nimmt allerdings nicht explizit auf die koloniale Geschichte des Wortes Bezug, sondern deutet die wiederkehrenden Anfeindungen als Ausdruck einer fremdenfeindlichen ‚Mentalität‘ der Menschen in Grunden, die von Vorurteilen gegenüber Menschen aus Afrika sowie von fehlendem Respekt der Jugend anderen (älteren) Menschen gegenüber geprägt sei. Aus dem Vergleich der Fallkonstellationen ergibt sich, dass die unterschiedlichen Deutungen der Gewalterfahrungen durch die unterschiedliche Zugänglichkeit von Deutungsangeboten begründet sein können. Marvin kann durch seinen regelmäßigen Kontakt zu seiner über mehrere Kontinente verteilten Familie und seine Eingebun-

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denheit in politisch interessierte Gruppen (ausländischer) Studierender auf verschiedene Rassismustheorien zurückgreifen. Demgegenüber haben Imbissbetreiber_innen, die isoliert in ostdeutschen Kleinstädten leben und auf ihre Kunden angewiesen sind, wesentlich weniger Möglichkeiten, sich zur Erklärung der Gewalterfahrung mit Rassismustheorien auseinanderzusetzen. Als wesentlicher als die Verfügbarkeit mehr oder weniger umfassender Rassismustheorien erweisen sich aber die in den jeweiligen Bedingungs-Bedeutungskonstellationen enthaltenen realen Handlungsoptionen der Betroffenen. Durch den Status als Asylbewerber_in sowie als Familie mit kleinen Kindern ist Familie Mbenza real sehr viel stärker auf den lokalen Rahmen angewiesen als Marvin. Seine Deutung der rassistischen Anfeindungen eröffnete Herrn Mbenza in seiner Situation Handlungsoptionen: den Aufbau von Unterstützungsnetzwerken und die Nutzung juristischer Möglichkeiten. Durch die Nutzung dieser Handlungsoptionen konnte Herr Mbenza die Verfügung über die eigene Lebenssituation erweitern, die so gewonnene Handlungsfähigkeit blieb allerdings ambivalent und mit psychischen Kosten verbunden. Aber auch Marvin, der ein über interpersonale Beziehungen hinausweisendes Rassismusverständnis entwickelt, erreicht damit faktisch keine Verbesserung seiner Situation: Sein Anliegen, auf juristischem Weg Gerechtigkeit herzustellen, war nicht erfolgreich

10 Gesellschaftliche Dimensionen in der einzelfallbezogenen Beratung – Spannungsfelder und Herausforderungen in der Praxis

Ich habe im letzten Kapitel herausgearbeitet, dass die Bewältigung der Gewalterfahrung im lebensweltlichen Kontext stattfindet, der gesellschaftlich strukturiert ist. So finden die Betroffenen je nach gesellschaftlicher Position unterschiedliche Bedingungen vor. Diese beinhalten Handlungsmöglichkeiten, die die Verarbeitung der Gewalterfahrung in verschiedener Weise ermöglichen oder erschweren. Mit Bezug auf das Konzept der ‚sequentiellen Traumatisierung‘ ist hier die Relevanz der Phase nach der eigentlichen Gewalterfahrung betont worden. Die Schwere der psychischen Folgen hängt wesentlich davon ab, was nach der Tat passiert: Ob sich das Gefühl des Ausgeliefertseins und der Entrechtung nach der Gewalttat fortsetzt, oder ob die Betroffenen die Erfahrung machen, Verfügung über die eigenen Lebensbedingungen zurückzugewinnen. Hier wird einer qualifizierten Opferhilfe eine wichtige Funktion zugeschrieben (Hartmann 2010: 17). Im Folgenden werde ich diskutieren, wie die von den OBS praktizierte individuelle Unterstützung Betroffener unter Einbeziehung gesellschaftlicher Dimensionen für Betroffene nützlich werden kann und mit welchen Widersprüchen und Grenzen eine solche Unterstützungspraxis konfrontiert ist.

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10.1 D IE B E - UND E NTGRENZUNG DES AUFTRAGES ALS P RAXISPROBLEM ZWISCHEN POLITISCHEM S ELBSTVERSTÄNDNIS UND P ROFESSIONALISIERUNG 10.1.1 Die Bestimmung der Aufgaben zwischen bewusster Offenheit und spezifischer Zuständigkeit als Praxisproblem der OBS Im letzten Kapitel habe ich ausgeführt, dass die subjektive Bedeutung rechter und rassistischer Gewalt nur im Kontext konkreter Lebensbezüge der Betroffenen zu verstehen ist, in denen die Gewalt ihre Wirkung entfaltet und in denen die Betroffenen unterschiedliche Möglichkeiten haben, Umgangsstrategien mit der Gewalterfahrung zu entwickeln. Vor diesem Hintergrund betonen die OBS die Notwendigkeit eines lebensweltorientierten Unterstützungsangebotes, wodurch die Gewalterfahrung in Zusammenhang mit lebensweltlichen Bezügen der Betroffenen zu bearbeiten sei. So nennen die OBS die „Annäherung an alltagsweltliche Perspektiven der Betroffenen, die Alltagsnähe im Sinne von Erreichbarkeit und Niedrigschwelligkeit, die Ganzheitlichkeit der Angebote und die Herstellung von Beteiligung und Mitbestimmung“ (AG Qualitätsstandards 2014: 11-12) als wesentliche Anforderungen. Der Anspruch, den Menschen und die Fälle ganzheitlich zu sehen, wird von den Berater_innen über alle Gruppendiskussionen hinweg als wesentlich für die Praxis der OBS betont. So beschreiben die Berater_innen, dass sie im Beratungseinstieg den Blick bewusst öffnen, statt sich nur auf die Gewalt zu fokussieren. Die Aufmerksamkeit richtet sich nicht allein darauf, die konkrete Gewaltsituation zu verstehen, sondern zugleich diejenigen Lebensumstände der betroffenen Person kennenzulernen. Sie beschreiben auch die Praxis der aufsuchenden Beratung in der Funktion, die Lebensumstände kennenzulernen, welche relevant für die subjektive Bedeutung der Gewalt und die Möglichkeiten der Unterstützung sind. So schildern die Berater_innen in einer Gruppendiskussion: „Omar: Und dann fängt es damit an, dass man sich kennenlernt und man erfährt, was die Lebensumstände sind. Man lernt, mit wem man es zu tun hat. Dann geht es relativ schnell darum, was passiert ist, aber ich nehme es so wahr, dass ich das immer auch verbinde mit der Problemlage, in der sich die Menschen auch sowieso befinden. Wenn bspw. die Menschen in einem Flüchtlingsheim leben, fließt das von Anfang an zusammen: Das, was passiert ist, mit der Situation, in der sie sich sowieso befinden. Es geht immer darum, gleichzeitig zu erfassen, was ist passiert und gleichzeitig gemeinsam zu analysieren, was drum herum ist. Man denkt das zusammen und bespricht es zusammen. Kevin: Ich glaube, diese Idee, auf den Kontext zu gucken und nach den Lebensumständen zu gucken, zeigt sich schon darin, dass wir aufsuchende Arbeit machen. Es ist ja nicht nur wegen

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der fehlenden Mobilität oder weil die Leute nicht zu uns kommen. Eine Begründung war von uns auch immer, sich anzuschauen, wie die Leute leben, einen Eindruck von den Rahmenbedingungen zu bekommen. Bei einem Großteil der Betroffenen, die wir beraten, fließt das automatisch ineinander und man kriegt relativ zügig einen Eindruck von den Lebensumständen.“ (Teamdis1_32-47)

Dieses Vorgehen ist aber mit dem praktischen Problem verbunden, dass der Auftrag potenziell entgrenzt ist. Die Frage, welche Aufgaben und Unterstützungsleistungen im Rahmen des Unterstützungsverhältnisses durch die OBS übernommen werden, ist immer wieder Gegenstand von Aushandlungen und kollegialen Beratungen. Welche lebensweltlichen Bezüge und dahinterliegenden gesellschaftlichen Machtverhältnisse die Berater_innen als relevant wahrnehmen und in die Fallbearbeitung einbeziehen, ist allerdings nicht vollständig offen. Die OBS nehmen insbesondere die rassistische Strukturierung der Gesellschaft als Erklärungs- und Handlungsansatz in Bezug auf die Problemlagen der Betroffenen in den Blick. Klassen- und/oder Geschlechterverhältnisse spielen eine weniger zentrale Rolle in der Problemanalyse, wobei durchaus der Anspruch besteht, auch diese einzubeziehen.1 Die Beratung bewegt sich also in einem Spannungsfeld zwischen einem spezifischen Auftrag und der Offenheit für vielfältige Zusammenhänge zwischen Opfererfahrung und gesellschaftlich strukturierten alltäglichen und biografischen Lebensbezügen der Betroffenen. Die Klärung des Auftrages beschreiben die Berater_innen als oft schwierigen Prozess im Beratungsverhältnis. Während sich der Beratungsbedarf in einigen Fällen auf die Vermittlung weniger konkreter Informationen beschränkt, erleben die Berater_innen in anderen Fällen das Hilfegesuch der Ratsuchenden als ausufernd, und die Begrenzung des Auftrages wird für die Berater_innen zum Praxisproblem. „Kevin: Das hängt aber auch davon ab, wie sehr die Leute uns da [in ihre Lebensumstände, G.K.) reingucken lassen. Es gibt ja auch die Leute, die einfach einen Anwalt vermittelt haben wollen und mit den ganzen anderen Sachverhalten nichts zu tun haben wollen, was ja auch völlig legitim ist. Aber wir sind ja, bspw. bei Flüchtlingen, eher relativ schnell mit einer Situation konfrontiert, dass sie uns ihre trostlose und verfahrene aktuelle Lebenssituation schildern.“ (Teamdis1_48-52)

In vielen Fällen sind die Betroffenen hier mit derartig vielen gravierenden Problemstellungen konfrontiert, dass die Berater_innen einer Vielzahl konkreter Hilfegesuche der Betroffenen und potenzieller Unterstützungsmöglichkeiten gegenüberstehen. Die Uneindeutigkeit des Aufgabenbereiches, die potenzielle Überforderung und Unsicherheit der Berater_innen durch das Diffundieren der Zuständigkeit ergibt sich aus

1

So wird ‚Differenzsensibilität‘ und ‚Intersektionalität‘ in den Standards der OBS als Handlungsgrundlage genannt (AG Qualitätsstandards 2014: 11).

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dem Problemverständnis der OBS, dass die subjektive Erfahrung rechter und rassistischer Gewalt nur im gesellschaftlichen Kontext zu verstehen ist. Verschärft wird das Problem durch den zugehenden Ansatz, der Betroffenen aktiv Unterstützung anbietet, ohne den konkreten Bedarf zu kennen. „Ellen: Dadurch, dass wir aufsuchende Arbeit machen, ist für viele gar nicht so richtig klar, warum wir eigentlich kommen. Wir melden uns an als Unterstützungsstruktur. Aber wir haben es dann mit Leuten zu tun, die häufig sehr vielfältige Problemansammlungen haben. Und wir haben es nicht mit Leuten zu tun, die zu uns kommen, weil sie so sehr gedrängt werden von der Erfahrung, Opfer zu werden, dass sie Hilfe suchen. Das kann schon auch sein, aber das muss nicht sein. Von daher hat man so Klärungsprobleme. Kevin: Die Auftragsklärung ist immer wieder sehr schwierig.“ (Teamdis1_68-74)

Der Alltag der Betroffenen ist so nicht vom Beratungsgegenstand zu trennen: Während im therapeutischen Setting der Alltag bewusst abgetrennt wird (u.a. durch den Ort, die festgelegte Zeit und die relativ konkret zu beschreibende Problemdefinition) und sich der/die Therapeut_in höchstens verbal auf den berichteten Alltag bezieht, aber nicht selbst eingreift, ist der Zugang der OBS bewusst nah am Alltag der Zielgruppe gestaltet und damit notwendigerweise nicht in eindeutigen zu erbringenden Leistungen zu beschreiben. Die Berater_innen sprechen damit ein Grundproblem Sozialer Arbeit an, die sich an der Schnittstelle von Individuum und Gesellschaft bewegt und individuelle Problemlagen im Kontext vielfältiger Lebensbezüge bearbeitet. Insbesondere mit der Hinwendung zu den Konzepten der Alltags- oder Lebensweltorientierung, des Empowerments, der Gemeinwesenorientierung etc. ist die Soziale Arbeit strukturell mit einer Offenheit der Zuständigkeit konfrontiert, die in der Praxis ausgehandelt und bewältigt werden muss. Professionalität in der Sozialen Arbeit muss sich „auf die Alltagsprobleme von Klienten einlassen und kann diese aus der eigenen Arbeit nicht einfach ausklammern“, so Müller (Müller, B. 2012: 966). Sie muss sich in der Bewältigung von Ungewissheit bewähren (ebd.: 965). Die schwierige Balance von Nähe und Distanz, von Entlastung und Bevormundung, ist in verschiedenen Zusammenhängen als Kernthema von Professionalität in der Sozialen Arbeit beschrieben worden, welches von den Fachkräften in der Praxis zu bewältigen ist (Dörr/Müller 2012). Im Folgenden soll erstens rekonstruiert werden, wie sich in den spezifischen Konstellationen, mit denen die OBS zu tun haben, die Uneindeutigkeit und das potenzielle Diffundieren des Auftrages als Praxisproblem zeigen. Zweitens gehe ich der Frage nach, wie sich die Berater_innen in dieser Uneindeutigkeit bewegen und im Spannungsfeld zwischen bewusster Offenheit und Begrenzung der Zuständigkeit Handlungsentscheidungen treffen und begründen.

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Die Berater_innen illustrieren die Problematik der Auftragsklärung anhand verschiedener Praxisbeispiele. Als Schlüsselkonstellation werde ich das Beratungsverhältnis zur Familie Al-Shami (vgl. Kapitel 8.2.1) diskutieren und – im Vergleich mit anderen Fallkonstellationen – Begründungsmuster für die Bestimmung der Problematik sowie ihrer Bewältigung durch die Praktiker_innen herausarbeiten. Die für die Familie Al-Shami zuständigen Berater_innen Omar und Uta schildern die Beratung der Familie als außergewöhnlich zeitintensiv. Zur Unterstützung der Familie nach der Gewalttat haben sie eine Vielzahl von Aktivitäten entwickelt.2 Auf Teamsitzungen wurde immer wieder die Frage diskutiert, ob das jeweilige Engagement der Berater_innen dem Auftrag der OBS entspreche. Es gelang den Berater_innen im Folgenden allerdings nicht, die Beratungsleistung zu begrenzen, da die Familie in immer wieder neuen Problemstellungen um Unterstützung anfragte. So bemühten sich die Berater_innen, zwischen der Familie und anderen Hilfesystemen am Wohnort (den Sozialarbeiter_innen in der Gemeinschaftsunterkunft, der Flüchtlingsberatung, dem Ausländerbeauftragten der Stadt, den zuständigen Mitarbeiter_innen der Sozial- und Ausländerbehörde) zu vermitteln und an der Schule zu intervenieren, in der sich die Kinder mit permanenten rassistischen Anfeindungen konfrontiert sahen. Sie unterstützten die Kommunikation mit den Ärzt_innen, die den verletzten Sohn und die Mutter behandelten. Die Berater_innen versuchten des Weiteren, Möglichkeiten für die Freizeitgestaltung und soziale Anbindung der Kinder zu organisieren, die sich in der engen Einrichtung eingesperrt und isoliert fühlten. Sie fanden einen Fußballverein, der die Kinder aufnahm, sowie ein Angebot der Sommerferienbetreuung, auf das die Kinder Lust hatten. Die belastende Wohnsituation der Familie war ein weiterer Beratungsgegenstand. Die Berater_innen klärten die Möglichkeiten ab, aus der Gemeinschaftsunterkunft in eigenen Wohnraum zu ziehen. Ein entsprechender Antrag in der zuständigen Kommune war bereits abgelehnt worden, und die Behörden signalisierten keine Bereitschaft, die Familie zu unterstützen. Daher unterstützten die Berater_innen die Familie, einen Antrag auf Umverteilung in eine größere Stadt zu stellen, der schließlich bewilligt wurde. Sie halfen der Familie beim Umzug, bei der Schulanmeldung der Kinder und beim Lösen von Alltagsproblemen und Konflikten in der neuen Gemeinschaftsunterkunft (in der z.B. der Raum mit den Waschmaschinen nur zwischen 7:00 und 9:00 Uhr morgens geöffnet wurde). Sie suchten wieder Möglichkeiten für die Freizeitgestaltung der Kinder, erwirkten schließlich mit Hilfe der Flüchtlingsberatung die Erlaubnis, eigenen Wohnraum zu beziehen und unterstützten die Familie bei der schwierigen Wohnungssuche.

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Die folgende Schilderung der Problemstellung und der Unterstützungsleistungen der OBS sind in den Gruppeninterviews angesprochen und ausführlich in der Falldokumentation dargestellt worden.

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„Omar: Gestern war ich ganz nachdenklich nach der Beratung mit Uta in einem unserer Fälle. Es geht um eine syrische Familie, in der der Junge wirklich schwer verletzt wurde. Und gleichzeitig gibt es um das Gewaltopfer herum eine Familie, in der es auch ganz viele Probleme gibt. Und gestern erwischte ich mich dabei, dass ich Uta in dem Fall beobachtete: Sie beugte sich gerade über die Kontoauszüge der Familie, und ihr wurden die Unterlagen vom Jobcenter gezeigt und sie wurde mit ganz vielen kleinen Problemen auch konfrontiert, um die du dich super auch gekümmert hast. [...] Wir haben einen Umverteilungsantrag gestellt, es hat ganz viel stattgefunden und es gab ganz viele Probleme, in die wir involviert waren. Und ich habe mich plötzlich gefragt: ‚Ist da vielleicht so etwas passiert, dass wir das eigentliche Gewaltopfer mit spezifischen Gewalterfahrung aus den Augen verloren haben?‘“ (Teamdis1_93-107)

Dimensionen der Offenheit im Auftrag: Krisenintervention, Aufbau eines Vertrauensverhältnisses und Abmilderung der Gewaltfolgen Die Berater_innen trafen im Fall der Familie Al-Shami auf eine akute Krisensituation, was eine umfassende Unterstützung und Entlastung der Familie erforderlich machte. Auch in Bezug auf andere Fälle schildern die Berater_innen, mit akuten Problemsituationen konfrontiert zu sein, die umfassende Unterstützungsleistungen auch in Bereichen notwendig machen, die nur mittelbar mit der Gewalt zu tun haben. So werden Unterstützungsleistungen notwendig, um eine ausreichend sichere Situation herzustellen, in der eine Beratung zu den Gewaltfolgen erst möglich wird. So sehen Berater_innen manchmal dringenden Handlungsbedarf, z.B. wenn ein Jugendlicher aufgrund von hohen Fehlzeiten kurz vor einem Schulverweis steht oder einem Betroffenen aufgrund von Mietrückständen die Kündigung droht. In anderen Fällen führt, wie im Fall von Frau Al-Shami, das Zusammenspiel verschiedener Problemstellungen mit der Gewalterfahrung zu einer Krisensituation der mittelbar Betroffenen, in der die Bewältigung von Teilen des Alltags nicht mehr gelingt. Zur Entlastung in solchen Krisensituationen begleiten die Berater_innen bspw. Betroffene zu bestimmten Terminen, übernehmen dabei die Organisation von aufwendigen Fahrten im ländlichen Raum, führen Telefonate mit öffentlichen Stellen oder füllen Formulare aus. Die Offenheit für die Beschäftigung mit vielfältigen Problemlagen ergibt sich zudem aus der Notwendigkeit, ein Beratungsverhältnis aufzubauen, das eine Beratung zu den Gewaltfolgen ermöglicht. Wie auch in anderen Bereichen niedrigschwelliger oder alltagsnaher Beratung und Unterstützung (zum Beispiel in der Streetwork) ist es für die Praktiker_innen notwendig, sich zu bewähren. Über alltagspraktische Unterstützungsleistungen kann der Raum geschaffen werden, in dem überhaupt erst bestimmt werden kann, welchen Unterstützungsbedarf die Betroffenen in Hinblick auf die Gewaltfolgen haben, und in dem auch persönliche Gewaltfolgen der Betroffenen thematisierbar werden. Im Fall der Familie Al-Shami schildern die Berater_innen,

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dass die verlässliche Unterstützung in vielfältigen lebensweltlichen Problemstellungen auch notwendig gewesen ist, um ein Vertrauensverhältnis zu der Familie aufzubauen, die sich bereits von verschiedenen Stellen zurückgewiesen fühlte. Auch aus dem Auftrag der OBS, Betroffene in der Gewaltverarbeitung zu unterstützen und die für Betroffene negativen Folgen der Gewalttat abzumildern, ergeben sich – jenseits der Unterstützung im Zusammenhang mit Ermittlungs- und Strafverfahren – nur wenige regelhafte Handlungsschritte. Vielmehr ergeben sich je nach Fall unterschiedliche Konstellationen und Unterstützungsmöglichkeiten. Die Folgen von Angriffen sind in vielen Fällen nicht eindeutig und können sehr unterschiedliche Bereiche des Lebens betreffen. Im Fall der syrischen Familie Al-Shami zielen die Interventionen darauf, die von der Familie erlebte Isolation zu reduzieren und eine möglichst sichere Wohnumgebung herzustellen. Im Fall der Schülerin Tülay (vgl. Kapitel 8.2.) schildern die Berater_innen Auswirkungen der erfahrenen Gewalt in einem anderen Lebensbereich: Das Mädchen, das in der Schule von Mitschülerinnen rassistisch beschimpft und schließlich vor den Augen der Klasse sowie der Lehrerin geschlagen worden war, fehlte nach dem Vorfall oft in der Schule. Der Berater Ben versuchte, in der Schule so zu intervenieren, dass die Betroffene ohne Angst vor weiteren Anfeindungen die Schule besuchen konnte. Mit der Betroffenen, die zum Zeitpunkt des Angriffs die 10. Klasse besuchte, führte der Berater zahlreiche Gespräche über ihre Berufs- und Bildungsperspektiven. Sie befürchtete, auch in den umliegenden Berufsfachschulen mit rassistischen Anfeindungen konfrontiert zu werden. Das hinderte sie daran, so der Eindruck des Beraters, konkrete Perspektiven zu entwerfen und sich über Möglichkeiten, ihren Bildungswünschen nachzugehen, zu informieren. Der Berater Ben recherchierte mit der Betroffenen mögliche Ausbildungswege, holte Informationen zu infrage kommenden Berufsfachschulen ein und unterstützte sie beim Schreiben von Bewerbungen. „Ben: Mir schießt die ganze Zeit das Beispiel Tülay in den Kopf. Beim ersten Treffen war klar, dass sie gerade dabei ist, ihre Schulbiografie abzubrechen. Die war ja auch in der Schule angegriffen worden. Es war also das klassische Thema, mit dem ich mich ganz gut auskannte und dann haben wir uns darum gekümmert. Das fand ich in dem Moment echt gut begründbar. Aber die ruft mich heute noch an als Berufsberater. Und das ist ganz schwer, sich da abzugrenzen. Auch wenn ich irgendwann versucht habe, ganz klar zu sagen, dass das nicht mein Feld ist. Für sie ist das einfach nicht begreifbar, wofür ist Ben zuständig und wofür sind andere zuständig.“ (Teamdis1_353-359)

Der Student Marvin (vgl. Kapitel 8.3.) schildert, als Folge der Gewalterfahrung seinen Job verloren zu haben, weil er keine Nachtschichten mehr übernehmen wollte. Er bekam Geldprobleme und nahm schließlich Jobs an, die sich nicht mit dem Studium verbinden ließen. Dadurch verlängerte sich die Studiendauer, was zu Problemen bei der Verlängerung seines Aufenthaltstitels führte. In anderen Fällen schildern

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die Berater_innen, dass im Zusammenhang mit einem Gewaltvorfall Konflikte zwischen betroffenen Jugendlichen und Eltern entstehen oder sich verschärfen. Hier, so die Berater_innen, ist es sinnvoll, die Eltern in die Beratung einzubeziehen oder auch zusätzlich getrennt von den betroffenen Jugendlichen zu beraten. So wurden in Niebrau auch die Eltern der betroffenen Jugendlichen angesprochen. Deutlich wird hier, dass die Bearbeitung des Auftrages nicht durch eindeutige Handlungsschritte operationalisierbar ist, sondern Berater_innen jeweils ausloten müssen, in welcher Weise welcher Kontext relevant wird und welche Unterstützung hier möglich ist. Die Zuständigkeit der Berater_innen, z.B. in der Beratung von Eltern im Umgang mit ihren jugendlichen Kindern oder in der Unterstützung von Geflüchteten im Umgang mit ausländerrechtlichen Restriktionen, ist hier prinzipiell nicht eindeutig zu bestimmen. 10.1.2 Dimensionen der Bewältigung der potenziellen Entgrenzung Ziel ist, nach einer umfassenden Unterstützung in akuten Krisensituationen im Beratungsverlauf ein weiteres Unterstützungsnetz aufzubauen, andere Hilfsmöglichkeiten zu finden und Aufgaben mit zunehmender Stabilisierung der Betroffenen an diese selbst zurückzugegeben. So haben sich im Fall Niebrau (vgl. Kapitel 7) die Berater_innen zunächst vielfältiger, von den Jugendlichen im Jugendzentrum Pferdestall geäußerter, Problemstellungen angenommen, da, so die Interpretation der Berater_innen, die Jugendlichen aufgrund der Vielzahl der Problemstellungen das Gefühl hatten, dass alles auf sie ‚einprasselt‘, und sie so keine Lösungswege sehen konnten. Auch war es notwendig, ein Vertrauensverhältnis aufzubauen. Die Berater_innen diskutierten mit den Jugendlichen, wie mehr Jugendliche in das Jugendzentrum eingebunden werden können, wie sie mit Konflikten mit der Polizei und dem Ordnungsamt umgehen und Unterstützung im lokalen Kontext organisieren können, um bspw. die Nutzungsverträge abzusichern. Mit der Zeit konnten allerdings andere lokale Unterstützungsstrukturen sowie das Netz AJZ-Ost als Peerstruktur alternativer Jugendprojekte reaktiviert werden. Im Verlauf des Beratungsprozesses involvierten sich die Berater_innen immer weniger in die Themen außerhalb des Kernthemas rechte und rassistische Gewalt, weil die Jugendlichen aus dem Pferdestall wieder von anderer Seite Unterstützung organisieren konnten bzw. selbst in der Lage waren, ihre Probleme zu lösen. In diesem Prozess entstehen für die Berater_innen allerdings immer wieder Handlungsunsicherheiten, und die Begrenzung gelingt in vielen Fällen weniger gut als in Niebrau. Insbesondere bei Geflüchteten, so die Berater_innen, hat man es häufig mit vielfältigen und dringlichen Problemstellungen zu tun, von denen sich Berater_innen leicht überfordert fühlen können. So beschreiben die Berater_innen im Fall der Fa-

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milie Al-Shami, anhaltend mit vielfältigen bzw. immer wieder neuen Unterstützungsbedarfen konfrontiert gewesen zu sein, wobei das schrittweise Abgeben von Aufgaben an andere Stellen bzw. an die Betroffenen selbst nicht gut gelungen sei. „Omar: Wir haben Aufgaben übernommen, die eigentlich unsere Kooperationspartner übernehmen sollten. Aber die sitzen in ihrem Büro und wir sind da. So hat Uta auch lauter Sachen, Kleinigkeiten, übernommen, für die eigentlich eine andere Beratungsstelle zuständig war.“ (Teamdis1_125-127)

Das Fehlen von Unterstützungssystemen im ländlichen Raum, die für die Zielgruppe der OBS real ansprechbar sind und auf deren spezifische Bedürfnisse reagieren, wurde bereits im letzten Kapitel als wesentliche Bedingung für die psychischen Folgen der Opfererfahrung beschrieben. Die Berater_innen nennen den Mangel an geeigneten Einrichtungen im ländlichen Raum als wesentlichen Grund dafür, dass sie Unterstützungsleistungen übernehmen, die nicht oder nicht unmittelbar zu den Aufgaben der OBS gehören. So war Teil der von den Berater_innen geschilderten Problemkonstellation der Familie Al-Shami, dass die Hilfesysteme an ihrem Wohnort nicht bereit waren, die Familie zu unterstützen. Die Berater_innen berichteten, dass die Reaktionen der im Heim tätigen Sozialarbeiter_innen sowie der Lehrer_innen an der Schule der Kinder von massiven Ressentiments gegenüber der Familie geprägt gewesen seien. So habe eine Lehrerin die Töchter der Familie als ‚Kopftuchmädchen‘ bezeichnet, obwohl diese gar kein Kopftuch tragen. Die Nichtteilnahme an einer Klassenfahrt haben die Lehrerin und die für die Familie zuständige Sozialarbeiterin als Ausdruck der Unterdrückung muslimischer Mädchen gedeutet. Gegenüber den Berater_innen erklärten die Mädchen demgegenüber, dass sie aufgrund der Anfeindungen durch andere Schüler_innen nicht mitfahren wollten; zudem hätten sie keine Möglichkeit gesehen, die Klassenreise zu finanzieren. „Omar: Ich glaube, das liegt nicht an uns, sondern an [Bundesland] [Lachen]. […] Wir bewegen uns in Regionen, wo nicht viel ist. Derselbe Fall in [Großstadt], und ich hätte sofort gewusst, wo man eine Müttergruppe für die Mutter bekommt, um sie zu stabilisieren, wo man für die Jugendlichen jetzt in den Ferien eine Betreuung finden kann. In diesem Fall wäre wichtig, dass da auch andere muslimische Jugendliche wären und Sozialarbeiter, die spezifische Problemlagen kennen. Würden wir unter Großstadt-Verhältnissen arbeiten, hätten wir für alle Familienmitglieder adäquate Hilfsangebote, die nicht an uns hängen und mit einem Gefühl: Ich muss gar nicht mehr darüber nachdenken.“ (Teamdis1_276-284)

Andere Berater_innen vertreten die Einschätzung, dass eine bessere Vernetzung der OBS mit anderen Hilfesystemen möglich und sinnvoll wäre, um Aufgaben abzugeben.

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„Ellen: Ich möchte unterstreichen, dass es tatsächlich Vernetzungsdefizite gibt, dass wir die Landschaft der sonstigen Hilfeträger nicht kennen bzw. nicht auf dem Plan haben, dass sich auch diese Landschaft verändert und zwar mit großer Geschwindigkeit und dass man da hinterher sein müsste. Das müsste man auch strukturell mehr in die Organisation einbauen. Das betrifft auch ländliche Gebiete, wo inzwischen Angebote da sind, von denen wir gar nichts wissen.“ (Teamdis1_331-335)

Kevin nimmt eine vermittelnde Haltung zwischen beiden Einschätzungen ein. Zentral sei der Zweifel der Berater_innen, dass andere Stellen den Betroffenen adäquat begegnen. Die von den Berater_innen thematisierten Bedenken beziehen sich insbesondere auf die mutmaßlich oder tatsächlich fehlende Sensibilität für unterschiedliche Formen rassistischer Diskriminierung oder andere Reaktionen der Hilfesysteme, die für die Betroffenen eine erneute Demütigung oder Bestätigung der Isolierung bedeuten könnten. Im Einzelfall müsste reflektiert werden, ob die Bedenken angemessen sind, oder ob die Tendenz‚ es selbst machen zu wollen, auf Vorurteilen gegenüber den Hilfeträgern im ländlichen Bereich beruht. „Kevin: Ich glaube, wo wir nach wie vor nicht so super gut sind – also das könnte ich für mich sagen – dass ich zu wenig gucke, welche Themen ich an andere abgeben könnte. Zu wenig gucke, was gibt es da lokal tatsächlich. Oder meine Ansprüche an diese Unterstützung sind so hoch, dass ich so denke, da kann ich die Person aber nicht hinschicken. Also, ich habe eher die Tendenz, selbst zu handeln als abzugeben.“ (Teamdis4_1316-1320)

Die Entscheidung, im Fallverlauf bestimmte Problemstellungen anzunehmen, sind zudem, so reflektieren die Berater_innen, faktisch beeinflusst von der Wahrnehmung eigener Beratungskompetenzen, mehr oder weniger Sympathien für die Ratsuchenden, zur Verfügung stehenden zeitlichen Ressourcen sowie dem Auftreten der Betroffenen. „Kevin: Und es hängt auch davon ab, mit welcher Vehemenz Klienten so was einfordern, also die setzen mich unter Druck und ich lass mich unter Druck setzen. Auch moralisch unter Druck setzen, etwas zu tun.“ (Teamdis1_262-264)

Der Berater Omar problematisiert im Fall der Familie Al-Shami, dass die Mutter des direkt geschädigten Jugendlichen im Beratungsprozess mehr Raum einnahm als der Geschädigte selbst, weil diese die Unterstützung besonders vehement eingefordert habe. Sich von Betroffenen moralisch unter Druck gesetzt zu fühlen, reflektieren die Berater_innen als eine Dimension, die Einfluss auf die Gestaltung des Beratungsverhältnisses hat. Ein solcher Druck spielt möglicherweise auch im Fall der Familie AlShami eine Rolle für die von den Berater_innen beschriebene Schwierigkeit, sich

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genötigt zu sehen, sich immer weiter und immer umfänglicher in verschiedenen lebensweltlichen Problemstellungen der Familie zu engagieren. Dieser Druck entsteht zum einen aus der realen Notlage der Betroffenen, der die Berater_innen nicht unberührt gegenüberstehen können – und wollen. Ein weiterer möglicher Begründungszusammenhang kann unter Rückgriff auf die im letzten Kapitel ausgeführten möglichen kumulativen Effekte von Rassismuserfahrungen und Entrechtung formuliert werden. So wurde ausgeführt, dass sich wiederkehrende Rassismuserfahrungen auf Sozialbeziehungen auswirken und dazu führen können, dass die Betroffenen besonderes Misstrauen auch gegenüber potenziellen Unterstützer_innen entwickeln. Ein Grund für die im Fall der Familie Al-Shami von den Berater_innen beschriebene Schwierigkeit, sich abzugrenzen, könnte vor diesem Hintergrund sein, dass ein wirkliches Vertrauensverhältnis in der Beratung nicht etablieren werden konnte und die Berater_innen sich gegenüber den vielfältigen Enttäuschungen immer wieder als verlässliche Unterstützer_innen neu bewähren mussten. Am Beispiel der Familie Mbenza habe ich als möglichen Begründungszusammenhang herausgearbeitet, dass soziale Beziehungen für Menschen, die unter asylrechtlichen und mit anderen rechtlichen Beschränkungen aufgrund ihres Status als ‚Ausländer‘ leben, eine besondere, existenzielle Bedeutung bekommen. Ihre Möglichkeiten, sich auf allgemeingültige Rechte zu verlassen und über die eigenen Lebensbedingungen zu verfügen, sind aufgrund rassistischer Strukturen in vielfältiger Weise eingeschränkt. Nur über direkte Sozialbeziehungen lässt sich zumindest teilweise Verfügung über die eigenen Lebensbedingungen gewinnen. Unter den restriktiven Bedingungen, unter denen geflüchtete Menschen leben, kann es also für diese subjektiv funktional sein, ein Beratungsverhältnis einzufordern, welches über ein rein professionelles Verhältnis hinausgeht und emotionale und soziale Verbindlichkeit von den Berater_innen einfordert und das private Leben in großem Maße in die Beratungsbeziehung einbezieht. Ellen deutet die benannte Schwierigkeit, sich gegenüber Aufgaben allgemeiner Unterstützung in asylrechtlichen Fragen abzugrenzen, als Folge der isolierten Situation vieler Geflüchteter und den unzureichenden Beratungs- und Unterstützungsangeboten. „Ellen: Wenn man sich in die Situation eines Flüchtlings hereinversetzt, der seit zwei Jahren in so einem Heim hängt und dann angegriffen wurde und dann kommt die OBS und will helfen: Natürlich ist das eine goldene Gelegenheit, so etwas kommt nie wieder. Da packt man natürlich auf den Tisch, was man hat und versucht, Hilfe zu bekommen. Das ist ja auch total vernünftig.“ (Teamdis1_348-351)

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Darüber hinaus kann eine Dimension des moralischen Drucks, den Kevin beschreibt, Ausdruck des in den restriktiven Bedingungen nahegelegten instrumentellen Beziehungsmodus sein, in dem die Betroffenen von dem Wohlwollen bzw. dem persönlichen Einsatz Einzelner abhängig sind. Die Berater_innen nehmen sich nicht aller Problemstellungen gleichermaßen an, sondern treffen Entscheidungen, in welchen Bereichen sie Unterstützungsleistungen übernehmen. Diese Eingrenzung der prinzipiellen Offenheit findet auf Grundlage von sowohl fachlichen als auch persönlichen Kriterien statt. „Kevin: Meine These dazu ist, dass es ganz viel mit uns selbst zu tun hat: In welchen Handlungsfeldern fühlen wir uns eigentlich sicher Wo kommen wir her, was ist Ausbildungshintergrund? […] Ich glaube, das hat viel damit zu tun: mit dem Auftrag, aber auch unserer eigenen Persönlichkeit. Das würde ich zumindest bei mir sagen.“ (Teamdis1_132-137)

Auch Omar beschreibt den eigenen Zugang zu Themen als wesentlichen Faktor in der konkreten Gestaltung der Offenheit. „Omar: Das hat was mit den eigenen Kompetenzen zu tun. Ich habe so einen Respekt vor allen aufenthaltsrechtlichen Fragestellungen und den Eindruck, dass ich etwas Falsches sagen könnte. Darum ist das ein Punkt, bei dem ich immer sehr schnell und klar an andere verweise. Und wenn es um Rassismus- und Diskriminierungserfahrungen, Identitätsgeschichten geht, da lasse ich mich vielleicht ein Stück mehr ein, genauso, wenn es um Familienkonflikte geht. Es hat etwas damit zu tun, wie man selbst einen Zugang zu bestimmten Themen hat und je nachdem schneller weitervermittelt, oder selbst aktiv wird.“ (Teamdis1_239-245)

Die Handlungsentscheidungen werden zudem geleitet durch individuelle und institutionell verankerte Praxistheorien zu relevanten Zusammenhängen zwischen Lebenslage und subjektiven Gewaltfolgen, aus denen sich bestimmte Schwerpunktsetzungen der Beratung und Unterstützung ergeben. Das Zusammenhangs- und Widerspruchswissen, über das die Praktiker_innen verfügen und vor dessen Hintergrund sie Handlungsentscheidungen treffen, ist zu einem Teil von den jeweiligen Ausbildungshintergründen bzw. beruflichen Praxisbereichen geprägt, die für die Berater_innen bestimmte Ausschnitte und mögliche Zusammenhänge in den Blick rücken. Zudem gibt es institutionell verankerte ‚Schienen‘, Handlungsroutinen in der Praxis und typische Bereiche der Unterstützung, die sich aus dem Erfahrungswissen der Praktiker_innen sowie der theoretisch geleiteten Problemanalyse ableiten, die sich sowohl auf psychosoziale als auch auf politische Problemsichten beziehen. Beispiele solcher typischen Themenbereiche der Beratung und Unterstützung sind, wie in Niebrau, die Unterstützung alternativer Jugendkultur oder, wie im Fall der Familie Al-Shami, die Bearbeitung asylrechtlicher Problemstellungen, insbesondere die Wohnsituation betreffend.

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„Uta: Also ich frage immer: ‚Haben Sie einen Anwalt?‘ Und wenn nicht, dann suche ich einen Nebenklageanwalt für die Gewalttat, der auch Asylrecht macht. Das ist wie ein Schema. Oder auch die Frage nach der Wohnsituation bringe ich ein.“ (Teamdis1_302-304)

So war die Beschäftigung mit dem Umverteilungsantrag und dem Umzug der Familie Al-Shami ein wesentlicher Teil der Beratungsleistung, und auch im Fall der Familie Mbenza wurde die Frage eines möglichen Umzuges aktiv von den Berater_innen eingebracht. Diese ‚Schienen‘ oder ‚Schemata‘, wie Uta sagt, entstehen sowohl vor dem Hintergrund kumulierter Erfahrungen aus der Unterstützung von Einzelfällen als auch aus der gesellschaftspolitischen Analyse und Zielstellung der OBS, die über den Einzelfall hinausweist. Im folgenden Zitat, von dem bereits ein Ausschnitt angeführt wurde, werden die von den Berater_innen benannten und in den vergangenen Abschnitten diskutierten Dimensionen des Spannungsfeldes zwischen prinzipieller Offenheit des Auftrages und notwendiger Begrenzung der Aufgaben und dessen Bewältigung im Beratungsverhältnis abschließend noch einmal zusammenfassend genannt. „Kevin: Um einen Angriff verarbeiten zu können, ist Stabilität erforderlich. Das ist auch ein zentrales Ziel von Beratung, Stabilität wieder herzustellen. Dies erfordert auch, dass die Lebensumstände des Klienten wenigstens einigermaßen stabil sind. Und es hängt auch davon ab, mit welcher Vehemenz Klienten so was einfordern, also die setzen mich unter Druck, und ich lass mich unter Druck setzen. Auch moralisch unter Druck setzen, etwas zu tun, oder überlege ich mir das auch strategisch. Also: Macht das total Sinn, weil das letztendlich auch etwas mit der Stabilisierung in Hinblick auf die Angriffsfolgen zu tun hat. Oder gibt es auch einfach keine Struktur, an die ich verweisen kann und ich sehe aber eine totale Zwangslage, und man kann einen Klienten nicht so hängen lassen in so einer Situation. In diesem Feld spielt sich das ab.“ (Teamdis1_260-268)

Die Berater_innen beschreiben hier die Herausforderung, professionelle Arbeit im Spannungsfeld zwischen dem Gegenstand angemessener Offenheit und Willkür zu gestalten. „Ellen: Und es oszilliert zwischen zwei Seiten: 1. Sich die Situation anzugucken und zu gucken, was sind die Risikofaktoren und zu entscheiden, was getan werden muss und kann. Und 2. Sympathie, bzw. man trifft so ganz subjektiv einen Fall, wo man a) den Menschen sympathisch findet und b) Gebiete angesprochen werden, in denen man sich auskennt. Ich glaube, es wäre wichtig, sich das klar zu machen und mehr in die Richtung zu kommen, eine systematische Risikoanalyse zu machen und das zu verknüpfen mit Kenntnis von Hilfestrukturen, um das dann professioneller abzustimmen.“ (Teamdis1_336-342)

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Andere Berater_innen formulieren demgegenüber ein Professionalitätsverständnis, nach dem die flexible Aushandlung von Unterstützungsleistungen und Reflexion der Handlungsentscheidungen notwendiger Bestandteil der Arbeit ist und nicht im Gegensatz zu Professionalität steht. „Kevin: Was heißt eigentlich professionell? Was ist das eigentlich, was macht das professionell aus? Leonie: Ja, menschlich zu sein ist ja nicht unprofessionell. Es ist ja immer eine Mischung aus Vielem.“ (Teamdis4_1550-1553)

Die Berater_innen reflektieren vielschichtige Handlungsbegründungen im Feld der Beratung von Opfern rechter und rassistischer Gewalt. Sie beschreiben damit das Spannungsfeld, in dem sich die Professionalitätsansprüche in der Sozialen Arbeit laut Müller generell bewegen müssen: „Es gilt nicht nur zu verhindern, dass die geforderte Offenheit, Lebensweltorientierung und Partnerschaftlichkeit in einem gegebenen Feld Sozialer Arbeit durch bürokratische Organisationsstrukturen blockiert wird. Es gilt auch zu verhindern, dass aus Offenheit Willkür und Unverbindlichkeit, aus Lebensweltorientierung unüberprüfbare Zufälligkeit der Interventionsbereiche und aus Partnerschaftlichkeit eine Privatisierung der Interventionskriterien wird.“ (Müller, B. 2012: 970)

Professionelles Handeln sei mit der hohen Anforderung verbunden, die notwendige Verstrickung in alltagsweltliche Probleme der Ratsuchenden, die Uneindeutigkeit der Handlungsaufträge und die Gefahr der Willkür zu bewältigen. Eine gelingende Bewältigung werde nicht nur durch eine in der Ausbildung erworbene fachliche Reflexionsfähigkeit der Sozialarbeiter_innen bzw. Berater_innen begünstigt, sondern auch durch eine Organisationstruktur, die Räume für „z.B. Supervision und andere Formen der kollektiven Stützung einer selbstkritischen, partizipativen, lebensweltorientierten Praxis“ (ebd.: 968) bietet. So werden auch von mehreren Berater_innen regelmäßige Teamsitzungen, kontinuierlicher kollegialer Austausch und die Fallbearbeitung in Zweierteams als wesentliche und nützliche Instrumente beschrieben, um die Herausforderung, sich immer wieder abgrenzen zu müssen und begründete Entscheidungen zu treffen, bewältigen zu können. „Kevin: Wir haben doch Instrumente für solche Fälle, also Teamsitzung und Supervision und so. Wenn man merkt, dass man mit solchen Fällen auch ins Schwimmen kommt, dann beraten wir uns gegenseitig, wie gehen wir damit um.“ (Teamdis1_435-438)

Müller nennt als weiteres wesentliches Charakteristikum einer Organisationsstruktur, die eine reflexive Professionalität befördert, das Vorhandensein einer „praktischen

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Ideologie“ der Organisation3, eine den Mitarbeiter_innen einer Organisation „gemeinsame Weltsicht“ bzw. geteilte „normative Vorstellungen, welche das Handeln der Angehörigen, z.B. von Jugendhilfeeinrichtungen, faktisch leiten.“ (Müller, B. 2012: 968-969) Die Berater_innen erleben die Schwierigkeit, vor dem Hintergrund potenziell diffundierender Aufträge Handlungsentscheidungen zu treffen und zu begründen, sehr unterschiedlich gravierend. Während ein Teil der Berater_innen den Eindruck beschreibt, dass „ein Kompass fehlt“ (Teamdis1_269) weisen andere Berater_innen diesen Eindruck zurück: „Kevin: Ich glaube, über vieles gibt es schlichtweg unterschiedliche Auffassungen. Ich glaube nicht, dass wir total kompasslos sind.“ (Teamdis4_1278-1279)

Als mögliche Begründungszusammenhänge für die unterschiedliche Wahrnehmung kann, an Müller anschließend, formuliert werden, dass die Berater_innen durch ihre jeweiligen fachlichen Ausbildungen in unterschiedlicher Weise professionelle Selbstverständnisse und praktische Kompetenzen im Umgang mit der prinzipiellen Offenheit und Unsicherheit entwickelt haben. Möglicherweise ist auch die ‚praktische Ideologie‘ der OBS für die Berater_innen unterschiedlich verfügbar. Während ein Teil der Berater_innen – vor allem die langjährigen Mitarbeiter_innen, die an der konzeptionellen Entwicklung beteiligt waren – intuitiv auf ein solches Selbstverständnis zurückgreifen können, welches die Struktur und den Sinn des Handelns bestimmt (vgl. Müller, B. 2012: 969), sind diese über die Jahre in die Institution eingeschriebenen Vorstellungen oder ‚Schienen‘ (Fahl/Markard 1993) für neuere Mitarbeiter_innen nicht offensichtlich. 10.1.3 Die Problemstellung des Grenzensetzens als Ausdruck von Professionalisierung Im letzten Abschnitt habe ich den Umgang mit dem Spannungsfeld zwischen dem spezifischen Auftrag und der prinzipiellen Offenheit des alltagsweltlichen Zugangs sowie mit dem potenziellen Diffundieren des Auftrages als Professionalitätsanforderung analysiert. Damit wurde eine Schwierigkeit beschrieben, die jede alltagsweltlich orientierte Sozialarbeit in unterschiedlichem Umfang betrifft, die sich aber im Feld der Unterstützung von Betroffenen rechter und rassistischer Gewalt in spezifischer Weise konkretisiert. Dass die Schwierigkeit, in Beratungsprozessen und -beziehungen Grenzen zu setzen, von den Berater_innen als Praxisproblem formuliert wird, kann selbst schon als Ausdruck eines Professionalisierungsprozesses der OBS gegenüber dem politischen Verständnis zur Zeit der Projektgründung gesehen werden. Den

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Müller bezieht sich hier auf Klatetzki (1993).

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frühen konzeptionellen Texten der OBS (z.B. Gruppe Opferperspektive 1999) lag ein politisches Problemverständnis zugrunde, aus dem heraus Hilfe im Einzelfall begründet wurde. Es wurde aufgrund des politischen Hintergrundes der Gewalt eine besondere moralische Verantwortung angenommen, sich an die Seite der Betroffenen zu stellen und diese zu unterstützen. So beschreibt die Gruppe Opferperspektive (1999) die in der Gesellschaft vorherrschende Gleichgültigkeit gegenüber der Situation der Betroffenen rechter und rassistischer Gewalt als wesentliche Problemstellung: „Das Ausbleiben von Solidarisierungsprozessen mit den Angegriffenen hat auch eine Wirkung auf die Täter. Es bestätigt ihre Vorstellung von der heimlichen Zustimmung der Bevölkerung für ihre Taten“ (ebd.: 50-51). Das Ausbleiben von Solidarität mit den Opfern signalisiere zudem, dass die Bevölkerung Angst vor den Tätern habe. Die „rechten Schläger“ könnten sich sicher fühlen (ebd.). Vor diesem Hintergrund wird die Unterstützung der Betroffenen vor allem als Symbol der Solidarität verstanden. Gegenüber der vorherrschenden Gleichgültigkeit könnten schon „einfache symbolische Gesten“ aus der deutschen Mehrheitsgesellschaft für die Betroffenen viel bedeuten (ebd.). „So kann ihnen deutlich gemacht werden, dass auch sie Teil dieser Gesellschaft sein sollen. Das Bild einer einheitlich rassistischen deutschen Gesellschaft wird gebrochen. Angegriffenen wie auch rechtsextremistischen Schlägern würde klar gezeigt werden, dass diese Taten nicht geduldet werden und erst recht nicht erwünscht sind.“ (Ebd.)

Das Helfen wird als Signal an die Betroffenen verstanden. Die Hilfe wird zudem als Appell an die Gesellschaft artikuliert, sich mit den Betroffenen zu solidarisieren. Neben oder vor diese politische Begründung für die Hilfe als Akt der Solidarität ist ein anderes Selbstverständnis getreten, in dem die Praxis als Leistung psychosozialer Versorgung verstanden und mit entsprechenden Begriffen beschrieben wird. So bezieht sich die im letzten Abschnitt dargestellte Problembeschreibung des Umgangs mit diffundierenden Aufträgen auf das fachliche Referenzsystem psychosozialer und nicht auf das Referenzsystem politischer Praxis, welches sich an den Leitbildern Solidarität und gemeinsame Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse orientiert. Die Frage einer fachlichen Abgrenzung der Aufgaben und der angemessenen Gestaltung des Beratungsverhältnisses zwischen Nähe und Distanz stellt sich in diesem Referenzsystem nicht, wenn gerade die spontane, solidarische Unterstützung von Betroffenen als Signal an Betroffene, Täter_innen und Gesellschaft im Mittelpunkt des Interesses steht. Einerseits könnte hier der moralische und politische Anspruch der Unterstützung in besonderer Weise zu Überforderung der Berater_innen führen. So formuliert Kavemann (1997: 205-207) in Bezug auf Konzepte sich parteilich verstehender feministischer Mädchen- und Frauenarbeit die Einschätzung, dass der Anspruch politischer Einflussnahme zu einer Überforderung der Mitarbeiterinnen führt,

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die die an sie gestellten Anforderungen kaum erfüllen können. Statt allgemeine feministische gesellschaftspolitische Ziele zu formulieren, sei es sinnvoller, „klarer zu formulieren, ob und wie die genannten Ziele erreicht werden können, statt der Pädagogin Qualifikation und Engagement überwältigenden Ausmaßes abzuverlangen. Nicht realisierbare Ansprüche führen zwangsläufig zu Versagensgefühlen und beschleunigen den Prozeß des Ausgebrannt-werdens, der die tägliche Arbeit gegen Gewalt bereits erschwert.“ (Ebd.: 207)

Im Gegensatz dazu kann als hypothetischer Begründungszusammenhang formuliert werden, dass das politische Verständnis der Arbeit für die Berater_innen der OBS gegenüber dem fachlichen psychosozialen Referenzsystem das Gefühl der Überforderung auch abmildern kann: Wird die Arbeit der OBS mit politischer Arbeit gleichgesetzt, ist es nicht der vordringliche Anspruch, durch die eigene Arbeit das (psychische) Leiden der Betroffenen zu lindern und eine möglichst flächendeckende Versorgung aller Betroffenen zu sichern. Statt sich für die (unmögliche) Lösung von psychischem Leiden verantwortlich zu sehen, ist vor dem Hintergrund eines politischen Verständnisses der Arbeit der Umgang mit z.B. Traumatisierungen Anlass und Begründung für politisches Engagement. Demzufolge könnte ein paradoxer Effekt des Professionalisierungsdiskurses darin liegen, dass die Konfrontation mit psychischem Leiden und ungelösten Lebensproblematiken als starke Belastung und potenziell eher überfordernd erlebt wird. Deutlich wurde aus den Beschreibungen der Berater_innen, dass Professionalisierungsprozesse stattgefunden haben, die psychosoziale Fachdiskurse und Professionalitätskonzepte zu einem wesentlichen Referenzsystem werden lassen. Zugleich bleiben das politische Problemverständnis und die daraus resultierenden Handlungsbegründungen bestehen. Dies kann für die Praxis der Berater_innen sowohl besonders belastend als auch entlastend sein.

10.2 V ERBINDUNG UND AUSEINANDERFALLEN VON ALLTAGSWELTLICHEN UND PSYCHISCHEN D IMENSIONEN IN DER B ERATUNGSPRAXIS Die Berater_innen thematisieren als Schwierigkeit, psychische Dimensionen angemessen zu adressieren. Diese Schwierigkeit führen sie auf das Setting der aufsuchenden und alltagsweltbezogenen Beratung sowie die vorrangig politische Problemdeutung der OBS zurück. So wurde bereits im Kapitel die Beraterin Ellen zitiert, die das Thematisieren psychischer Problemstellungen als schwierig beschreibt. „Ellen: Die Verarbeitung dessen, was die Menschen erleben, hängt natürlich ganz stark mit den einzelnen Biografien der Menschen zusammen. Und da haben wir, weil wir in der Richtung nur eine eingeschränkte Ausbildung haben, unsere Beschränkungen, das zu erfassen. Das

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merke ich ganz konkret auch im Gespräch: Also wie tief gehst Du eigentlich in die Biografie des Einzelnen, nur um auch ein Verständnis davon zu bekommen, wie dieser Angriff verarbeitet wird und was das mit der Biografie des Menschen zu tun hat.“ (Teamdis1_81-86)

Während Ellen die mangelnde psychologische Qualifikation von Berater_innen als Grund für die Schwierigkeit, psychische Problemlagen zu thematisieren, nennt, signalisieren andere Berater_innen hier explizit Kompetenz. So nennt Uta ‚Psychoedukation‘, das Aufklären über typische psychische Reaktionen auf Gewaltsituationen, als einen Standard in der Beratungsarbeit und beschreibt, explizit und regelhaft typische Symptome einer PTSD zu erfragen. Auch der Berater Volker bezieht sich positiv auf die Möglichkeiten, typische Traumasymptome zu erkennen und stabilisierende Techniken anzuwenden, die es den Betroffenen erlauben, sich z.B. während der Gerichtsverfahren weniger ausgeliefert (an die eigenen Emotionen) zu fühlen. Er bedauert allerdings, dass das Beratungssetting der OBS aufgrund enger zeitlicher Ressourcen weniger traumatherapeutische Arbeit zulasse, als er sinnvoll fände (Teamdis4_1075-1084). Der Berater Kevin äußert demgegenüber Skepsis, die Problemlagen der Betroffenen zu „psychologisieren“ (vgl. Teamdis4_251) und betont die konzeptionelle Entscheidung, sich der Problemstellung vor einem politischen Selbstverständnis zu nähern und praktische Unterstützungsangebote in den Mittelpunkt zu stellen. In allen diesen Beiträgen fällt auf, dass psychische Dimensionen als biografische Dimensionen (bei Ellen) oder als Traumasymptome getrennt von den lebensweltlichen Bezügen genannt werden. Die Berater_innen formulieren praktische und psychologische Hilfe tendenziell als Gegensatz. Mit dem Bezug auf das Konzept der Traumatisierung wird der professionelle Umgang mit Trauma als therapeutischer Zugang verstanden, der sich von der alltäglichen Praxis der OBS abhebt. Die Bearbeitung psychologischer Dimensionen wird hier als therapeutische Bearbeitung gedacht, die den Rahmen der Beratung und das professionelle Selbstverständnis der Berater_innen überschreitet. In den beschriebenen Beratungskonstellationen mit Herrn Mbenza, Oliver sowie im Fall von Juliane lässt sich auch praktisch die Tendenz erkennen, die Bearbeitung psychischer Dimensionen auszulagern, indem Betroffenen die Vermittlung zu therapeutischer Unterstützung angeboten wird. Unter Bezug auf Großmaß kann aber als ein wesentliches Potenzial der Beratung gesehen werden, den Übergang zwischen nüchterner Information und praktischer Hilfestellung und der Thematisierung psychischer Leidensdimensionen zu ermöglichen: „Gerade weil man eine Beratungsstelle auch aufsuchen kann, wenn man ‚nur‘ ein sachliches Informationsbedürfnis hat, kann man sie auch in Anspruch nehmen, wenn man in einem persönlichen Konflikt Hilfe braucht.“ (Großmaß 2000: 36) Dieses Potenzial der Praxis der OBS wurde in der Beschreibung der Beratung von Oliver in Niebrau (vgl. Kapitel 7) deutlich. Die Berater_innen Vera und Daniel schildern

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hier den Schwerpunkt ihrer Beratungstätigkeit als Bereitstellung praktischer Unterstützung und Information. Oliver erlebte die Beratung darüber hinaus als Raum, in dem er seine anhaltenden Ängste thematisieren konnte. Der Übergang zur Thematisierung psychischer Dimensionen wird hier nicht nur aufgrund einer entsprechenden Inszenierung des Beratungsangebotes ermöglicht, sondern auch, weil die Berater_innen in besonderer Weise eine Problemsicht vermitteln, die das Selbstverständnis und die Lebensbezüge der Betroffenen einbezieht. So können sich Betroffene in den eigenen Lebensbezügen verstanden und akzeptiert fühlen. Dies kann deswegen besonders wichtig sein, weil diese Lebensbezüge gerade Anlass der Gewalterfahrung waren und möglicherweise erschüttert sind. Das politische Verständnis des Kontextes der Gewalt ermöglicht zudem, eine realistische Einschätzung der Gefahren und vorhandenen Handlungsoptionen vorzunehmen, was die Betroffenen darin unterstützen kann, Umgangsstrategien mit der Angst zu entwickeln. In ähnlicher Weise formulieren die Berater_innen als spezifische Qualität des Zugangs der OBS, die Betroffenen nicht notwendig als ‚Opfer‘ ansprechen zu müssen, was einem Teil der Zielgruppe – insbesondere politisch aktiven Jugendlichen oder jungen Punks – ermöglicht, im Laufe des Beratungsprozesses psychische Probleme zu thematisieren. „Volker: Zum Beispiel hast du den total toughen Punk da sitzen. Du kannst dem aber eine Möglichkeit geben, darüber zu reden, was mit ihm passiert ist, ohne dass er das [sein Selbstverständnis, GK] aufgeben muss. […] Kevin: Die Leute gehen nicht zur [allgemeinen, GK] Opferhilfe, weil das schon der erste Punkt des Eingeständnisses ist: Ich brauche Hilfe. Und das ist bei uns ja nicht unbedingt so. Wir gehen ja erst einmal auf die zu. Und gerade bei so politischen Leuten, da sagst du vielleicht: ‚Ah, wir wollen gerne mal mit dir über den Fall reden, möchten mal wissen, was da passiert ist.‘ Wir setzen auch auf dieses politische Verständnis. Volker: Und du musst nicht diesen Schritt machen. Ogottogott ich bin Opfer, mir geht es total schlecht. Kevin: Genau, da verkaufen wir uns nicht unbedingt immer als Opferberatung. Volker: Und trotzdem haben wir die Möglichkeit, solche Sachen abzufragen, aber auf einer Ebene, wo der Betroffene sich nicht als Opfer darstellen muss, aber erzählen kann.“ (Teamdis 4_1238-1255)

In Kapitel 7 habe ich beschrieben, dass die Berater_innen Oliver angeboten haben, ihm therapeutische Hilfe zu vermitteln, und ich habe die Einschätzung formuliert, dass die Berater_innen die von ihnen geleistete emotional stützende Funktion unterschätzt haben. Auch im Fall der Jugendlichen Juliane (vgl. Kapitel 8.3.2), haben die Berater_innen der OBS sie bei der Suche nach psychiatrischer Hilfe bzw. einer Psy-

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chotherapie unterstützt. Die psychiatrischen und psychotherapeutischen Behandlungen erlebte Juliane als ambivalent, während sie sich sehr positiv auf das Beratungsverhältnis zu den Berater_innen der OBS bezieht. Möglicherweise hätte auch hier – wie im Fall von Oliver – ein Potenzial der OBS darin gelegen, psychologische Problemstellungen in die Unterstützungsleistung stärker einzubeziehen, statt diese an Therapeut_innen zu delegieren. Das von Juliane geteilte politische Problemverständnis, die Kenntnis der lokalen Situation, die damit verbundene Einschätzung von Gefahrenlage und Handlungsmöglichkeiten wäre vielleicht für Juliane ein tragfähigerer Rahmen für die Bearbeitung ihrer Ängste gewesen, als die von der Lebenswelt abgetrennte Therapie. Die politische Perspektive auf die Gewalt und der Fokus auf lebensweltliche Bezüge und alltagspraktische Unterstützung müsste nicht als Gegensatz zur Bearbeitung psychischer Dimensionen verstanden werden, sondern als Unterstützung, die psychologisch wirksam wird. Allerdings erfordert dies auch ein Verständnis für psychische Prozesse, die sich gegenüber den realen Bedingungen ihrer Entstehung verselbstständigen können und den Betroffenen selbst unverfügbar werden. So können Angstgefühle sowohl in der realen Gefahrensituation begründet sein, wie in Bezug auf Oliver argumentiert wurde, als auch darüber hinausgehend ein ‚Eigenleben‘ entwickeln. Ein Umgang damit erfordert sowohl das Verständnis der jeweiligen konkreten Situation als auch das Wissen um die Möglichkeit der Verselbstständigung psychischer Prozesse, mit denen Betroffene einen Umgang finden müssen. Techniken aus traumatherapeutischen Zugängen können Betroffenen durchaus Erleichterung verschaffen und sinnvoll zur Unterstützung von Betroffenen rechter und rassistischer Gewalt eingesetzt werden. Um aber nicht hinter den Anspruch und das Potenzial der OBS zurückzufallen, individuelle Folgen der Gewalt im Zusammenhang ihres gesellschaftlichen Kontexts zu verstehen, ist eine Reinterpretation der Wirkung therapeutischer Interventionen notwendig, um ein Verständnis zu entwickeln, was therapeutische Interventionen jeweils leisten können – und wo ihre Grenzen sind. Um psychische Dimensionen in ihren lebensweltlichen Bezügen zu bearbeiten, könnte es hilfreich sein, dass Berater_innen ihre Kompetenzen in der Anwendung therapeutischer Interventionen ausbauen, die den Betroffenen den Umgang mit z.B. sich verselbstständigenden Angst- oder Verfolgungsgefühlen erleichtern können. Das Erlernen therapeutischer Methoden müsste sich aber mit der Frage auseinandersetzen, wie diese mit den alltagsweltlichen Bezügen und dem politischen Problemverständnis vermittelt werden können. Eine andere Strategie könnte sein, mit Betroffenen konkret zu klären, welchen Nutzen sie von therapeutischen Angeboten erwarten, und sich außerdem weiterhin als Gesprächspartner_in für psychische Dimensionen anzubieten, statt das Themenfeld als delegiert zu begreifen. Dadurch könnte zwischen alltagsweltlichen und politischen Problemsichten sowie therapeutischer Intervention vermittelt werden.

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10.3 D ER V ORWURF DER I NSTRUMENTALISIERUNG DER O PFER ALS P ROBLEM IN DER PARTEILICHEN B ERATUNG In den Schilderungen der Berater_innen wird an verschiedenen Stellen deutlich, dass der Vorwurf der politischen Funktionalisierung der Betroffenen eine wesentliche Praxisbedingung ist. So taucht der mögliche Vorwurf der Instrumentalisierung im Zusammenhang mit der bereits in Kapitel 9 erwähnten Diskussion über die Schwierigkeit auf, im Beratungsverhältnis die individuelle Relevanz des Angriffs und dessen möglichen politischen Hintergrund für die Betroffenen zu bestimmen. Die Berater_innen vertreten unterschiedliche Einschätzungen dazu, ob Berater_innen einen rassistischen oder rechten Hintergrund als Deutungsangebot für die Gewalterfahrung anbieten sollten. „Viktoria: Ich musste an das thailändische Restaurant in [Stadt] denken. Da haben wir das mit dem Rassismus eher herangetragen, was aber positiv war. Ich habe das so empfunden, dass die recht verzweifelt waren über den Verlauf des Angriffs, weil alles so grundlos war. Aus dem Nichts heraus, wir haben doch nichts gemacht. Und so konnte man Muster erkennen. Das war nicht grundlos, das sind Rassisten. Die [Betroffenen, GK] haben schon gesucht nach einer Erklärung für den Angriff und da konnten wir helfen, das zu finden. Das fand ich total legitim, da ein bisschen auf die Sprünge zu helfen, das kam ja auch von anderen, auch die Polizei hat das so eingeordnet. Noch mal um zu unterstreichen: Da fand ich es total richtig, dass wir das eingebracht haben. Kevin: Vielleicht auch als eine Erklärung, dass sie nicht selber schuld sind. Viktoria: Ja, ja, die haben ja ein bisschen gesucht, was haben wir falsch gemacht. Kevin: Ja, was habe ich falsch gemacht. Und dann hast du auf einmal einen Begründungszusammenhang: Ah, es geht um den Täter und seine Einstellung. Omar: Aber die sind überhaupt nicht selbst annähernd darauf gekommen? Viktoria: Sicherlich stand das im Raum. Omar: Also, wenn das schon irgendwie Thema ist, finde ich das in Ordnung, Rassismus als Erklärungsmuster anzubieten, aber wenn es wirklich gar kein Thema ist, dann finde ich das nicht in Ordnung. Viktoria: Nein, das war wirklich nicht in den Mund gelegt. Ellen: […] Es gab mehrere Fälle, wo Imbisse angegriffen wurden und ich den Eindruck hatte, dass es total gut war, dass wir mit diesem Erklärungsmuster gekommen sind […]: Das könnte was mit Rassismus zu tun haben. Wir haben ihnen das ja nicht eingeredet, sondern haben das angeboten. Da kann ich mich an Situationen erinnern, wo sie das sehr dankbar aufgegriffen haben und verknüpfen konnten mit dem, was sie eigentlich dachten.“ (Teamdis1_676-704)

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In ähnlicher Weise wird noch an anderen Stellen der Diskussion deutlich, dass sich die Berater_innen verbal gegenüber dem Vorwurf absichern, die Gewalterfahrung der Betroffenen unberechtigt zu politisieren. „Kevin: Aber ich finde eigentlich, dass wir so etwas total offen formulieren und es eher als ein Thema anbieten als eins von mehreren Erklärungsmustern, ich finde, dass das gar nicht in so eine suggestive Richtung geht. Das würde ich weit von mir weisen!“ (Teamdis1_715-717)

In Kapitel 3.2 wurde ausgeführt, dass unter der Leitlinie parteilicher Arbeit antretende Projekte kapitalismuskritischer oder feministischer Sozialer Arbeit immer mit dem Vorwurf der unangemessenen Politisierung konfrontiert waren (vgl. Kavemann 1997: 185). Auch im Fall der OBS kann die Auseinandersetzung der Praktiker_innen mit dem Vorwurf der unprofessionellen Politisierung und Instrumentalisierung als Folge des von ihnen verfolgten Prinzips der Parteilichkeit gesehen werden. Die OBS beschreiben Parteilichkeit als Haltung den Ratsuchenden gegenüber, „die von Solidarität und Akzeptanz gegenüber den Betroffenen geprägt ist. Ihre Perspektiven, Bedürfnisse und Interessen stehen in der Beratung und bei der Entwicklung von Handlungsstrategien im Mittelpunkt.“ (AG Qualitätsstandards 2014: 10) Ähnlich wie in den feministischen Anti-Gewaltprojekten stellen sich die Berater_innen bewusst an die Seite der Betroffenen und lassen sich auf ihre Erfahrungen und Sichtweisen ein. Auch Chahal (2003) hebt in seiner Evaluation britischer Unterstützungsprojekte für Betroffene rassistischer Gewalt hervor, dass für die Nutzer_innen der Hilfsangebote zentral ist, dass ihnen zugehört wird und ihre Aussagen nicht in Zweifel gezogen werden. „Clients entering the service and seeking help require an environment where they can be assured of a empathetic and non-judgemental hearing of their experiences.“ (Ebd.: 28) Eine akzeptierende und nicht wertende Haltung den Klient_innen gegenüber als Voraussetzung für eine unterstützende Beratungsbeziehung ist dabei kein Spezifikum parteilicher Arbeit. Die von Rogers (1972) formulierten Merkmale einer klientenzentrierten Beratung – Empathie, Akzeptanz und Authentizität – gelten als Grundlage jeder gelingenden helfenden Beziehung (vgl. Nestmann 2004: 392). Eine zusätzliche Bedeutung bekommen diese selbstverständlichen Grundlagen jedoch, da die OBS davon ausgehen, dass Betroffenen rechter und rassistischer Gewalt in der Regel nicht mit einer solchen Haltung begegnet wird, wenn sie von ihren Gewalterfahrungen berichten. Sie sind stattdessen immer wieder mit gesellschaftlichen Reaktionen konfrontiert, die der Gewalt in ihren Folgen für die Betroffenen mit Desinteresse begegnen, die Gewalt verharmlosen, relativieren oder gar verleugnen. Parteilichkeit auf der Ebene der Beratungs- und Unterstützungsbeziehung bedeutet hier, auf Grundlage gesellschaftstheoretischer Überlegungen die systematische Verharmlosung, Nichtwahrnehmung und Verleugnung rechter und rassistischer Gewalt und Diskriminie-

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rung als Teil des Lebenszusammenhanges der Zielgruppe zu begreifen. Eine Beratungshaltung, die den Betroffenen mit Empathie und Akzeptanz begegnet, sich auf ihre Sichtweisen einlässt und ihre Erfahrung nicht hinterfragt, ist also auch dadurch begründet, dass die OBS davon ausgehen, dass Ratsuchende bereits Zurückweisungen erfahren haben und das Benennen von Rassismus – insbesondere gegenüber Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft – in ihrer Lebenssituation mit Risiken verbunden ist. In der Beratungssituation muss daher eine Situation erst hergestellt werden, die den Ratsuchenden Offenheit für die Benennung von Rassismuserfahrungen signalisiert. So beschreiben die Berater_innen, dass sie Rassismus als mögliche Erklärung anbieten, um den Ratsuchenden eine Verbalisierung ihrer Erfahrung und Deutung zu ermöglichen. Der Berater Ben berichtet von einem Fall, in dem Betroffene vielfältige Rassismuserfahrungen im Wohnumfeld gemacht haben, aber bei ihren Versuchen, Hilfe zu organisieren, auf Unverständnis und Ablehnung gestoßen sind und die von ihnen wahrgenommene existenzielle Bedrohungssituation lächerlich gemacht wurde. Ben beschreibt sein „Gefühl, dass es ganz wichtig war, mich ganz deutlich auf die Seite der Leute zu stellen. Ich bin derjenige, der sich erst einmal anhört, was habt ihr alles für Probleme und überlegt, ob ich euch irgendwie dabei unterstützen kann.“ (Teamdis1_413-415) Parteilichkeit als handlungsleitendes Konzept bezieht sich allerdings nicht nur auf die Gestaltung der unmittelbaren Beratungsbeziehung in Kenntnis der spezifischen Lebenszusammenhänge der Ratsuchenden, sondern ist zugleich mit der Zielsetzung verbunden, rechte und rassistische Gewalt als gesellschaftliches Problem sichtbar zu machen. Ein wesentliches, von den OBS als ein Kernbereich der Arbeit begriffenes Instrument ist hier die Dokumentation von Fällen rechter und rassistischer Gewalt in Form einer Chronologie und der Erstellung jährlicher Angriffsstatistiken (vgl. AG Qualitätsstandards 2014). Dabei lassen sich unterschiedliche Funktionen der Chronologie unterscheiden. An erster Stelle werden mit der Erstellung der Chronologie politische Ziele verbunden. Die Dokumentation rechter und rassistischer Gewalt wird als politische Intervention verstanden, um gegenüber der systematischen Verharmlosung im öffentlichen Diskurs und der unzureichenden Dokumentation durch staatliche Stellen gesellschaftliche Aufmerksamkeit für das Thema zu organisieren: „Ziel des Monitorings ist es, das tatsächliche Ausmaß rechter Gewalt darzustellen, es gesellschaftlich diskutierbar zu machen und Gegenmaßnahmen zu befördern.“ (Ebd.: 17) Neben dieser politischen Ebene werden die Chronologien von den OBS als Möglichkeit für die Betroffenen gesehen, dass ihre Erfahrung öffentliche Wahrnehmung erfährt und damit das erfahrene Unrecht gesellschaftlich anerkannt wird. Die Dokumentation von Fallzahlen ist zudem für die OBS wesentlich, um ihre Arbeit zu legitimieren. Diese Funktion ist nicht als explizite Zielsetzung der Chronologien formuliert, wird in den Gruppendiskussionen aber an verschiedener

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Stelle deutlich (z.B. Teamdis1_489), insbesondere vor dem Hintergrund der zwischenzeitlich sinkenden Fallzahlen in einigen Bundesländern im Erhebungszeitraum.4 Das Spannungsfeld zwischen der parteilichen Haltung gegenüber den Betroffenen einerseits und der parteinehmenden Interessensvertretung als politische Intervention andererseits lässt sich wie folgt beschreiben: Die Unterstützung der Betroffenen erfordert, deren Perspektive um Ausgangspunkt zu nehmen und der Schwierigkeit des Benennens von Rassismus Rechnung zu tragen, indem die Möglichkeit signalisiert wird, über Rassismus zu sprechen, indem z.B. aktiv Rassismus als möglicher Erfahrungshintergrund angesprochen wird. Im Beratungsverhältnis geht es zudem darum, die Erfahrungen, Deutungen und Handlungsstrategien der Betroffenen auch in ihrer Widersprüchlichkeit und möglichen Uneindeutigkeit zu begreifen. Die politische Seite der Parteilichkeit braucht aber Eindeutigkeit. So beschreiben die Berater_innen, dass Betroffene in manchen Fällen in ihrer eigenen Deutung der Gewalterfahrung schwanken. „Viktoria: Ich finde das interessant, weil möglicherweise die Leute ja auch ganz gut damit leben können, dass es so schwankt. Rassistisch, betrunkene Jugendliche... Vielleicht müssen sie das ja gar nicht 100%ig entscheiden und wir haben immer ganz doll den Bedarf, das eindeutig zu machen. Kevin: Ja. [abwägende Tonlage] Viktoria: Wir müssen ja irgendwann entscheiden, ob der Fall rassistisch war, oder nicht.“ (Teamdis1_738-742)

Mit der Dokumentation der Fälle in Chronologien und Statistiken durch die OBS wird die Bewertung der Fälle zum politischen Kampffeld. Die Beratungsstellen kommen mit ihrer Dokumentation in der Regel auf höhere Fallzahlen als die Landeskriminalämter, obwohl beide ähnlichen Erfassungskriterien folgen. Als Ursache für die unterschiedlichen Fallzahlen gilt die Erfassung nicht angezeigter Fälle in der Zählung der OBS. Wesentlicher Grund für die abweichenden Zahlen ist zudem die erhöhte Sensibilität der OBS für das Thema, die es den Beratungsstellen ermöglicht, typische Kennzeichen rechter und rassistischer Gewalt zu erkennen und einzuordnen. Ein weiterer Grund ist die Orientierung der Einordnung an der Wahrnehmung der Betroffenen. Damit haben die Chronologien und Statistiken der OBS die Funktion, Diskussionen über die Qualität des staatlichen Umgangs mit rechter und rassistischer Gewalt anzuregen. Auf lokaler Ebene können die Chronologien von zivilgesellschaftlichen

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Da die OBS nach wie vor keine dauerhaften Finanzierungszusagen haben, sondern jeweils zeitlich begrenzt als Projekte über Bundes- und Landesprogramme finanziert werden (vgl. Kapitel 1), hängt ihre Finanzierung daran, dass ein dringlicher öffentlicher Handlungsbedarf plausibel gemacht werden kann.

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Akteur_innen genutzt werden, um Nichtwahrnehmung oder Verleugnung von Bedrohungssituationen eine systematische Dokumentation von Fällen entgegensetzen zu können und so Handlungsbereitschaft zu organisieren. Hiermit steht die Dokumentation rechter und rassistischer Gewalt, die auf den Schilderungen der Betroffenen beruht, im Zentrum politischer Auseinandersetzung. Dass die Statistiken der OBS von den Wahrnehmungen der Betroffen ausgehen, ist eine Stärke gegenüber der Zählung der Behörden, macht sie aber auch angreifbar. Um politisch wirksam mit der Dokumentation der Fälle arbeiten zu können, sind die OBS auf möglichst belastbare, wenig angreifbare Daten angewiesen. Das hat die Konsequenz, dass Berater_innen in der konkreten Beratungssituation den Betroffenen mit einer akzeptierenden, verstehenden und glaubenschenkenden Parteilichkeit begegnen, aber zugleich an die Bewertung der Fälle externe Kriterien anlegen, die prüfen, ob die Einschätzung und Wahrnehmung der Betroffenen auch nach außen plausibel gemacht werden kann. Die Mehrzahl der Fälle ist, so die Berater_innen, in dieser Hinsicht praktisch unproblematisch, weil sich die Einschätzung der Ratsuchenden mit der der Berater_innen deckt und Fallkonstellationen eindeutig sind. Als Problemstellung taucht das Spannungsfeld nur in Fällen auf, in denen sich mögliche Tatmotivationen mischen, die Intensität der Gewalt gering ist oder Fälle betreffen, die von den Berater_innen aus anderen Gründen als ‚Grenzfälle‘ wahrgenommen werden. „Ellen: Es ist halt eine ganz spezifische Fallkonstellation, wo man einfach an Grenzen kommt, aber die sind dann aber da, aber das ist dann eben auch so. Das ist dann eben nicht der Fall, mit dem es Sinn machen würde, eine Öffentlichkeitsarbeit anzufangen. Aber ich glaube, es ist auch nicht so häufig der Fall! Kevin: Das sind eher so Grenzfälle.“ (Teamdis1_655-659)

Die Berater_innen beschreiben eine Praxis, in der ein bewusster Umgang mit der Gefahr gesucht wird, Fälle aus Interesse der Institution zu vereindeutigen. Die bewusste Thematisierung des Spannungsfeldes und ein kollegialer Austausch über die Bewertung der Fälle gehöre zur Routine. Auch schildern die Berater_innen, dass sie im Beratungshandeln die konkrete Beratungsbeziehung, in der möglicherweise das Bedürfnis der Betroffenen an der Auseinandersetzung mit ambivalenten und widersprüchlichen Erfahrungen und sich verändernden Deutungen im Mittelpunkt steht, von Überlegungen zur politischen Bedeutung des Falles trennen. „Kevin: Oder hat das [die eindeutige Bestimmung des Tathintergrundes, GK] für uns eine Relevanz zum Beispiel in Hinblick auf die Chronologieeinträge. Da muss ich sagen, dass ich das auch gar nicht unbedingt mit den Klienten diskutiere, das diskutieren wir ja oft eher auf der Teamsitzung und ich spiegele das oft gar nicht unbedingt an die Klienten zurück, was der Grund

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ist, dass ihr Fall nicht in der Chronologie gelandet ist. Da kann man sich fragen: ‚Ist das eigentlich vernünftig oder nicht?‘ So ist aber ganz oft meine Praxis.“ (Teamdis1_626-630)

In anderen Fällen schildern die Berater_innen, dass sie die Frage des ChronologieEintrages mit seinen möglichen Folgen mit den Ratsuchenden offen diskutieren. Dies ist zum Beispiel der Fall, wenn die Betroffenen die Aufnahme ihres Falles in die Chronologie wünschen, sich aber gegen eine Anzeigenstellung entschieden haben. In feministischen Projekten hat sich im Zuge ihrer Professionalisierung eine stärkere Trennung zwischen der Artikulation politischer Forderungen und der individuellen Unterstützungsarbeit durchgesetzt. Die sich davon unterscheidende Praxis der OBS kann u.a. auf Unterschiede im Gegenstand feministischer Praxis und dem Gegenstand der OBS zurückgeführt werden: Die Gewalterfahrungen von Frauen stehen zwar im Kontext gesellschaftlicher Machterfahrungen, werden aber von der Mehrzahl der Frauen als Erfahrung erlebt, die sich im privaten Bereich abspielt. Die Aufdeckung und Veröffentlichung der Gewalterfahrung hat für viele auch negative Konsequenzen. Viele Betroffene rechter und rassistischer Gewalt beschreiben aber einen öffentlichen, politischen Umgang mit der Gewalt als eigenes Anliegen. So wurde beschrieben, dass es Herrn Mbenza wichtig war, seine Perspektive gegenüber einem Medienvertreter zu schildern. Oliver betont, dass es wichtig ist, dass die Menschen in Niebrau über seinen Angriff erfahren, damit sie wissen, „wie groß die Gefahr wirklich ist“ (Niebrau_Betroffener_460), und auch der Student Marvin bezeichnet es als sein Anliegen, dass die öffentliche Auseinandersetzung mit seinem Fall zu einem veränderten Umgang mit Rassismus in der Stadt führt. In Niebrau, so wurde in Kapitel 7 herausgearbeitet, war die systematische Dokumentation und eine lokalpolitische Intervention, die die Anerkennung der Erfahrung der Betroffenen einforderte, notwendig, um die unmittelbare Situation der Betroffenen zu verbessern. Auch hier wurde herausgearbeitet, dass eine solche Intervention mit Konflikten verbunden ist, die sich wiederum auf die individuelle Beratungsbeziehung auswirken. So schildern die Berater_innen, die einzelnen Gewaltbetroffenen in Niebrau stärker zur Anzeigenstellung ermuntert zu haben als in anderen Fällen. Um politisch wirksam zu werden, muss die OBS dabei nach außen ihre Glaubwürdigkeit beweisen. Sie muss belastbare Daten präsentieren, um dem Vorwurf zu begegnen, aus eigenen politischen Interessen heraus das Ausmaß rechter und rassistischer Gewalt hochzuspielen oder nur an der subjektiven Wahrnehmung der Betroffenen und nicht an objektiven Fakten interessiert zu sein. Im Gegensatz zu feministischen Projekten, in denen das Spannungsfeld zwischen beiden Seiten der parteilichen Arbeitshaltung durch eine organisatorische Trennung bearbeitet wird, entscheiden sich die OBS vor dem Hintergrund der von ihnen bearbeiteten Problemkonstellationen, das Spannungsfeld aufrecht zu erhalten. Diese Ent-

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scheidung ist gleichwohl mit der Herausforderung verbunden, das von den Berater_innen durchaus reflektierte Spannungsfeld jeweils im Einzelfall auszubalancieren.5

10.4 W AHRHEIT UND G ERECHTIGKEIT : J URISTISCHE V ERFAHREN Ein Kernbereich des Unterstützungsangebotes der OBS ist die Begleitung juristischer Prozesse. In den Qualitätsstandards sind – neben anderen – folgende typische Unterstützungsangebote aufgeführt: „Beratung zur Anzeigeerstattung, Begleitung zu Polizei und Staatsanwaltschaft, Beratung zum Ablauf des Strafverfahrens und den Rechten und Pflichten von Opferzeug_innen sowie hinsichtlich zivilrechtlicher Ansprüche, Begleitung zum Gerichtsprozess, Vor- und Nachbereitung, […] Vermittlung, Begleitung zu und Finanzierung von Fachanwält_innen. (AG Qualitätsstandards 2014: 12-13, Spiegelstriche entf., GK)

Die Begleitung, Beratung und Unterstützung von Betroffenen vor, während und nach einem möglichen Strafverfahren beschreiben auch z.B. die im Dachverband Ado organisierten Opferhilfeeinrichtungen als zentralen Tätigkeitsbereich der psychosozialen Unterstützung von Opfern von Straftaten (vgl. Arbeitsgruppe Mindeststandards 2005-2012; Priet 2010: 177-179). Die im Rahmen dieser Arbeit befragten Nutzer_innen der OBS beschreiben die Beratung, Unterstützung und Begleitung im Zusammenhang mit der strafrechtlichen Verfolgung als wesentliche Hilfeleistung der OBS. Oliver (vgl. Kapitel 7) beschreibt die Beratung zur Anzeigenstellung als zentrale Hilfestellung und die Berater_innen der OBS als „Profis“ für diesen Bereich. Herr Mbenza (vgl. Kapitel 8) wendet sich nach dem zweiten Angriff gezielt an die OBS mit dem Anliegen, dass die OBS ihm einen Anwalt oder eine Anwältin vermittelt und ihn im Strafprozess unterstützt. Der Student Marvin schildert seine vergebliche Suche nach Orientierung und Unterstützung im Hinblick auf seine rechtlichen Möglichkeiten nach seiner Entscheidung, den Angreifer und die Polizisten, die ihn rassistisch beleidigt hatten, anzuzeigen: „Marvin: I had never been involved in a case before, something what was going to court; I have never been in a courtroom before, nothing. So I was really confused. Many people told me different things. I even went to see the [school’s, GK] lawyer. People from the [school, GK]

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Ansätze einer Trennung gibt es allerdings auch in manchen OBS, in denen die Verantwortlichkeit für die Chronologie und Statistik bei einer/einem Mitarbeiter_in liegt und andere Berater_innen stärker die individuelle Beratungsbeziehung im Blick haben.

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told me to go there. And I went there and he was not cooperative at all. He told me, he is sorry, this is not his thing and that I should go to see some other lawyer somewhere. He doesn´t know, but he could ask some colleagues who do Strafrecht. And then he asked me, if I would have money to pay these guys. I said ‚no‘ and he said ‚then they can´t really help you.‘ This confused me. I didn´t even know how this system worked in Germany. I didn´t even know that there was this Prozesskostenhilfe. I had never heard about those things before. When [a counselor, GK] called me and told me that they were from [the regional victim counseling service, OBS, GK], I thought: ‚This is probably what I need. I need to talk to such people.‘ And when I met [OBS, GK] and talked to them and I got the whole insight of everything, it really made me feel more secure. It really, really did. This is what I needed. A channel. Somebody leading me: This is what can be done, this should be done, this is like this. And they told me about their experiences and this is what they do, that is their job. And I thought: That´s it! I really felt better.“ (Marvin_477-492)

Die positive Hervorhebung der Unterstützungsleistungen im Kontext von Polizei und Justiz entspricht der Selbstwahrnehmung der Berater_innen. Diese beschreiben die Beratung und Unterstützung in Bezug auf juristische Handlungsmöglichkeiten als ‚Klassiker‘ der Beratungspraxis, der in der Beratungsarbeit verhältnismäßig breiten Raum einnimmt. „Kevin: Es ist tatsächlich so, es gehört zu den Klassikern, die Leute zu begleiten und zu beraten in Hinblick auf juristische Möglichkeiten. Und da sind wir so routiniert. Da sind wir sehr routiniert drin, weil wir den Leuten etwas ganz Praktisches anbieten können mit Anwaltsvermittlung und Begleitung und so.“ (Teamdis 4_69-74)

Die Beratung und Unterstützung im Zusammenhang mit einem Ermittlungs- oder Strafverfahren beschreiben die Berater_innen als einen ‚Lieblingsbereich‘, der mit großer Handlungssicherheit verbunden ist. „Leonie: Gerade die Prozessvorbereitung und Begleitung mache ich total gerne. Das ist für mich total handfest. Das ist so klar, irgendwie. Da habe ich vielleicht ganz selten mal das Gefühl, ich hätte einen Minipunkt vergessen, den hätte ich noch erwähnen sollen, was ich aber jetzt nicht dramatisch finde, weil immer irgendetwas hinten runter fällt. […] Und für mich selber kann ich nur sagen, dass das so eine große Dimension einnimmt in der Arbeit der Opferberatung, weil das so klar ist. Weil das so schöne Sachen sind, wie: ‚Komm, jetzt lass uns den Gerichtssaal vorher angucken.‘ Weil das so konkret ist und auch den Leuten so viel bietet.“ (Teamdis 4_1090-1100)

Aus den Schilderungen der Berater_innen sowie der Betroffenen lassen sich jeweils verschiedene Aspekte der Bedeutung juristischer Handlungsmöglichkeiten und der

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Unterstützung durch die OBS im Zusammenhang juristischer Verfahren rekonstruieren. In Bezug auf die juristische Bearbeitung rechter und rassistischer Gewalt und die Begleitung und Unterstützung von Betroffenen verfolgen die OBS eine mehrschichtige Strategie. Die Begleitung juristischer Prozesse wird als politische Strategie begriffen, als Empowerment von Betroffenen sowie als individuelle Unterstützung von Betroffenen zur Vermeidung von erneuten Opfererfahrungen bis hin zu Retraumatisierungen. Im Folgenden wird diskutiert, wie die Praxis der OBS in diesem Spannungsfeld für die Betroffenen nützlich wird und an welche Grenzen sie kommt. 10.4.1 Politische Perspektiven auf juristische Verfahren Ein zentraler Diskursstrang in der gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit rechter und rassistischer Gewalt ist die Verhandlung des Problems als kriminologisches, für das eine effektive Strafverfolgung als adäquate Antwort gilt.6 So zieht das Bekanntwerden spektakulärer Fälle in der Regel den Ruf nach schärferen Strafen nach sich. Die Bundesländer Brandenburg, Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern haben bereits 2007 eine Gesetzesinitiative zur Strafschärfung in Fällen von „Hasskriminalität“ vorgeschlagen (vgl. Bundesrat 2007: 283-285). Im Sommer 2015 sind Gesetzesänderungen in Kraft getreten, mit denen Bundesjustizminister Heiko Maas auf die Ergebnisse des NSU-Untersuchungsausschusses reagierte und nach denen „rassistische, fremdenfeindliche oder sonstige menschenverachtende Beweggründe und Ziele bei der Strafzumessung zu berücksichtigen sind.“ (BMJV 2015) Die strafrechtliche Bearbeitung des Problems spielt eine zentrale Rolle in der Entstehung des hate-crime-Konzeptes und der akademischen Auseinandersetzung mit diesem. Wie in Kapitel 2 ausgeführt, ist der Begriff im Kontext der (erfolgreichen) Forderung nach einer hate-crime-Gesetzgebung in den USA entstanden. Die Verabschiedung von Gesetzen führt jedoch nicht unmittelbar zu deren tatsächlicher Anwendung. In verschiedenen Studien wurde die Rolle der Praxis der Polizei als ‚gate keeper‘ bei der Anzeigenstellung und Einordnung der Tat beleuchtet (vgl. Levin/McDevitt 2002: 171-193; Bell 2003; Nolan/Akiyama 2004; zusammenfassend über die Rolle von Polizei im Umgang mit hate crimes Giannasi 2015). McVeigh, Welch und Bjarnason (2003) argumentieren, dass die Zahl der angezeigten hate crimes keine Auskunft über die tatsächliche Anzahl von hate crimes gibt, sondern eher als Indikator für den Erfolg sozialer Bewegungen gesehen werden kann. Als wesentliche Faktoren für die Zahl der angezeigten Fälle identifizieren die Autoren die jeweilige Stärke der politischen Bewegungen, die sich für die Verfolgung von hate

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Als Gegenstück zum kriminologischen Diskurs kann der pädagogische Diskurs gesehen werden, der rechte Gewalt als Jugendphänomen konzipiert (Dierbach 2010).

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crimes einsetzen, sowie die lokale politische Situation.7 Die Umsetzung der hatecrime-Gesetzgebung hänge daran, dass das dahinterstehende Konzept gesellschaftlich geteilt und akzeptiert werde. „Processes of meaning construction are important not only in the development of public policy, but also in gaining compliance with public policy.“ (Ebd.: 862) Hier komme „civil rights organizations“ die zentrale Rolle zu, dem Konzept zu Akzeptanz zu verhelfen. Hall (2005: 168-210) betont zum einen den zentralen Einfluss der Communities der Betroffenen und der zivilgesellschaftlichen Unterstützungsstrukturen auf die Bereitschaft von Betroffenen, hate crimes anzuzeigen. Zum anderen verweist sie auf den Erfolg dieser Anzeigen in dem Sinne, dass sie tatsächlich als hate crimes weiterverfolgt werden. Aus sozialen Bewegungen heraus wird Kritik an der juristischen Rahmung des hate-crime-Konzeptes formuliert. Bourne (2002: 83) zufolge führt ein Gesetz, welches bei bestimmten Tatmotiven höhere Strafen vorsieht, eher dazu, dass der rassistische Hintergrund einer Tat seltener benannt wird, da er in vielen Fällen nicht eindeutig zu beweisen ist. Aufgrund der Schwierigkeit, die Motivation der Täter_innen anzuführen, bekomme die Verwendung diskriminierender Sprache eine besondere Bedeutung. Die Verwendung rassistischer Sprache sei aber in hohem Grade abhängig vom spezifischen Kontext und von der sozialen Klasse. „Racist language does not always signify a deep racism but, rather, the fact that its users are less schooled than other people at exercising self-control. By being literal about the use of racist language, the prosecuting authorities have often ended up criminalising the wrong people (including black people) and, in fact, trivialising the issue of racial crime.“ (Ebd.: 84)

Rassistische Gewalt finde in einer Kultur des Rassismus statt, in der der rassistische Gehalt einer Tat in vielen Fällen nicht offensichtlich und nicht alleiniges Motiv sei, sondern als impliziter Dominanzanspruch bzw. als Erwartung der Unterordnung anderer tateskalierend wirke. Diese Kultur des Rassismus bleibe aber den Strafverfolgungsbehörden nicht äußerlich, sondern wirke auch in diesen und werde von den Vertreter_innen kaum wahrgenommen. „The simple truth is that magistrates, judges, most barristers, policemen and jury members are not attuned to the racialised world in which so many working-class black people live. Without that context, many of these grey-area crimes do not make sense.“ (Ebd.)

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An Orten, in denen bspw. Parteien an der Macht sind, die homosexuellenfeindliche Positionen vertreten, kommen, so die Autoren, weniger Fälle homophober Gewalt zur Anzeige als in liberal regierten Kommunen.

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Statt rassistische Gewalt juristisch bekämpfen zu wollen und härtere Strafen für rassistische Gewalttäter_innen zu fordern, müsse es darum gehen, politisch für Gerechtigkeit einzutreten und dafür zu kämpfen, dass rechtsstaatliche Prinzipien in vollem Umfang auch für „working-class black people“ eingelöst werden, was bislang nicht gegeben sei8. Auch die OBS haben zu den vorgelegten Entwürfen für eine Gesetzgebung zur Bestrafung von Hasskriminalität kritisch Stellung bezogen (Opferperspektive 2009; OBS 2014). Das Gesetz sei „gesetzgeberische Kosmetik“ und könne „keine umfassende Verbesserung der Situation der Betroffenen bewirken.“ (OBS 2014). Gleichwohl spielt die juristische Bearbeitung von rechter und rassistischer Gewalt eine zentrale Rolle in der politischen Zielsetzung der OBS. Dabei bewegt sich die Haltung gegenüber der strafrechtlichen Verfolgung von rechter und rassistischer Gewalt im Spannungsfeld zwischen der Nutzung ihrer strafrechtlichen Bearbeitung und Kritik an der Praxis der Strafverfolgung. So wird die strafrechtliche Sanktionierung rechter und rassistischer Gewalt als wichtiges Signal an die Täter_innen sowie an die Betroffenen betrachtet. Ohne eine solche Sanktionierung könnten sich rechte und rassistische Täter_innen in ihren Taten bestätigt fühlen (Teamdis2_460-465), während das Signal, das von einer strafrechtlichen Sanktionierung ausgehe, einen (lokalen) Rückgang rechter und rassistischer Gewaltfälle bewirken könne.9 Zentral ist für die OBS die Frage der Erfassung und angemessenen Einordnung rechter und rassistischer Gewalttaten durch staatliche Behörden. Die Dokumentation und Anerkennung des politischen Hintergrundes von Straftaten, die z.B. durch Rassismus, Sozialdarwinismus oder das Motiv der Bekämpfung ‚Linker‘ geleitet sind, gilt als wesentliche Voraussetzung für die notwendige gesellschaftliche Auseinandersetzung mit Rechtsextremismus und Rassismus und der Entwicklung gesellschaftlicher Umgangsstrategien mit dem Problem. Die Forderung, die Diskrepanz zwischen den von staatlichen Stellen gezählten Todesfällen rechter und rassistischer Gewalt und den von zivilgesellschaftlichen Organisationen und Journalist_innen10 zusammengetragenen Fällen zu prüfen, begründet Porath wie folgt: „Die staatliche Anerkennung aller Todesopfer rechter Gewalt wäre ein wichtiges Zeichen des Respekts gegenüber ihren Opfern und der Solidarität mit ihren Angehörigen und FreundInnen.

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Auch aus der Transgender-Bewegung heraus ist mit ähnlicher Argumentation Kritik an der

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Die Positionierung der OBS in diesem Spannungsfeld ist nicht eindeutig. So diskutierten

US-Gesetzgebung geübt worden (Conrad 2012). die Mitarbeiter_innen der OBS ihre Haltung zu (Gefängnis-)Strafen für Täter_innen und ihre Erwartungen an Gerichtsverfahren in verschiedenen internen Fortbildungen und Klausurtagen z.T. auch kontrovers. 10 Die OBS Opferperspektive geht von 169 Todesfällen seit 1990 aus (vgl. Opferperspektive 2015).

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Für die Gesellschaft wäre es ein deutliches Signal, rechte Gewalt nicht länger klein zu reden und zu verharmlosen, sondern ihre Dimensionen und Gefahren sichtbar zu machen.“ (Porath 2013: 84-85)

Die polizeiliche Erfassung und juristische Anerkennung rechter und rassistischer Gewalt wird also als Mittel zu ihrer Bekämpfung verstanden. Zugleich äußern die OBS Kritik am ungenügenden Umgang der Strafverfolgungsbehörden mit rechter und rassistischer Gewalt. Die Kritik an der Unzulänglichkeit polizeilicher Erfassungskriterien (Kleffner/Holzberger 2004; Holzberger 2013) sowie die Forderung nach Fortbildungen für Polizist_innen, Staatsanwält_innen und Richter_innen und die Entwicklung anderer Instrumente, um das Verständnis für die Charakteristika rechter und rassistischer Gewalt auszubauen, gilt als zentrale politische Intervention, um die gesellschaftliche Diskussion des Problems zu fördern und das Ausmaß des Problems wahrnehmbar zu machen. Darüber hinaus formulieren die OBS Kritik an institutionellem Rassismus in den Behörden – sowohl in der Polizei als auch in den Gerichten (OBS 2014).11 Während sich in den USA der Forschungszugang der ‚Critical Race Theory‘ (CRT) (vgl. Delgado/Stefancic 2012; Crenshaw 1995) seit den 1980er Jahren damit auseinandersetzt, wie rassistische Diskriminierung im und durch das sich auf Neutralität berufende Rechtssystem fortgesetzt wird, gibt es in Deutschland bislang kaum systematische Forschung zu diesem Thema. Ein wesentliches Ergebnis der CRT ist, dass gerade der liberale Anspruch, ‚color blind‘ jenseits rassistischer Unterscheidungen zu urteilen, faktisch zu einer Reproduktion rassistischer Diskriminierung führt. Erste Versuche einer Übertragung der CRT zur Erforschung von Rassismus in der Justiz wurden in den letzten Jahren von Möschel (2014), Barskanmaz (2008) und im Law and Society Institute (LSI) an der Humboldt Universität zu Berlin unternommen. Die Auseinandersetzung mit dem – auch nicht-intentionalen – Wirken von rassistischen sowie Klassen- und Geschlechterverhältnissen in der Justiz und durch die Justiz ist als Forschungsfeld bislang allerdings keinesfalls etabliert,12 so dass auch kaum auf Deutschland bezogene empirische Forschungen vorliegen, die solche diskriminierenden Effekte nachweisen. Strobl und Kolleg_innen (Strobl 1998, Strobl/Lobermeier/Böttger 2003) kommen unter Bezug auf das Kommunikationsmodell von Schulz von Thun zu dem Ergebnis, dass Kriminalitätsopfer, die ‚Minderheiten‘ angehören, mehr Schwierigkeiten haben, bei Polizei und Justiz ‚Resonanz‘ zu erzielen,

11 In besonderer Weise wird institutioneller Rassismus von Polizei und Justiz von der aus der Berliner OBS ReachOut hervorgegangenen Initiative Kampagne für Opfer rassistischer Polizeigewalt thematisiert (vgl. z.B. Friedrich/Mohrfeld 2013 12 Allerdings wird die Thematisierung von Rassismus und Justiz von Initiativen wie der Kampagne gegen rassistische Polizeigewalt verstärkt in die Debatte eingebracht und wahrgenommen.

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ermittelnde Polizeibeamte mehr Zweifel an ihren Schilderungen haben und ihnen weniger schnell den Opferstatus zuweisen bzw. bereit sind, Schutz zu gewähren. Die OBS nutzen den Rahmen der juristischen Bearbeitung des Problems als zentrales Feld der gesellschaftlichen Auseinandersetzung, um Einfluss auf den gesellschaftlichen Umgang mit rechter und rassistischer Gewalt zu nehmen, und versuchen, mit ihrer Kritik an der Praxis der Strafverfolgungsbehörden, diesen Rahmen selbst zu erweitern. Die Beratung der Betroffenen zu ihren rechtlichen Möglichkeiten, die Begleitung von Gerichtsverfahren durch die OBS und die Vermittlung von Nebenklageanwält_innen ist in dieser politischen Perspektive mit dem Ziel verbunden, die juristische Verfolgung der Gewalt zu ermöglichen. Durch die Beobachtung und Kommentierung von Prozessen sowie durch die Unterstützung der aktiven Beteiligung von Betroffenen und deren Vertretung durch Nebenklagevertreter_innen wird versucht, Einfluss auf den juristischen Umgang mit rechter und rassistischer Gewalt zu nehmen, auf die Qualität der Verfahren einzuwirken, ein erweitertes Verständnis rechter und rassistischer Gewalt in die Gerichte einzubringen und für die Bedeutung des politischen Tathintergrundes zu sensibilisieren. Diese politische Perspektive ist nicht zwingend identisch mit der individuellen Perspektive von Betroffenen. Die Perspektive der Betroffenen und die an der individuellen Unterstützung orientierten Beratungspraxis ist, wie in den folgenden Abschnitten ausgeführt wird, mit verschiedenen Spannungsfeldern verbunden, in denen allerdings die Perspektive der individuumsbezogenen Unterstützung immer wieder die politische Perspektive auf juristische Verfahren berührt. 10.4.2 Individuelle Perspektiven auf Gerichtsverfahren zwischen erneuter Erfahrung von Hilflosigkeit und Empowerment Die Berater_innen beschreiben aus der Perspektive der direkten Begleitung von Betroffenen juristische Verfahren einerseits als Belastung für die Betroffenen. Die Rolle der OBS wird hier darin gesehen, die Belastungen bzw. die negativen Effekte gerichtlicher Verfahren für die Betroffenen abzumildern und die Betroffenen in der Bewältigung der Belastungen zu unterstützen. „Ben: Ich kann ja mal hoch einsteigen. Beim drüber Nachdenken ist mir gerade kein Fall eingefallen, wo der Betroffene total glücklich darüber war, dass es jetzt ein Verfahren gibt. Es war immer eher so, [stöhnen] das kriegen wir schon hin und ist jetzt halt so.“ (Teamdis 4_25-27)

Andererseits beschreiben die Berater_innen, ein aktives Interesse von Ratsuchenden an Gerichtsverfahren.

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„Kevin: Also ich denke, dass der Großteil der Leute, die wir beraten, an einer Strafverfolgung der Täter Interesse hat und dass sie die juristische Bearbeitung als einen Weg sehen, Gerechtigkeit wiederherzustellen. Also in der Vorstellung der Leute. Dass das dann natürlich real nichts mit Gerechtigkeit zu tun hat, finde ich, ist so ein Problem, mit dem wir dann in der Beratung zu tun haben. Ich würde also sagen: Die Mehrzahl der Leute hat Interesse, dass es Strafverfolgung gibt. Und sie haben auch ein Interesse, sich darin aktiv vertreten zu lassen, also ihre Rechte selbst wahrzunehmen und das nicht einfach nur laufen zu lassen, bis sie dann irgendwann einen Brief kriegen und als Zeugen aussagen müssen, sondern da aktiv Einfluss zu nehmen. Und sie sind aber dann total frustriert über die wenigen Möglichkeiten, die sie tatsächlich haben, Einfluss zu nehmen. Und sie sind sehr frustriert, wenn sie dann doch feststellen, dass sie eigentlich dem ganzen Prozedere sehr hilflos ausgeliefert sind. Nach wie vor. Also ich denke, dass das Verfahren eigentlich für die meisten eher noch mal eine negative Erfahrung ist: Wie lange das alles dauert, dass sie nicht richtig informiert werden, dass die Zeugenaussagen unglaublich belastend sind, weil sie mit unterschiedlichen Klischees da konfrontiert sind, von Seiten der Polizei. […] Ich glaube, für viele ist das, was dann hinten rauskommt, eine frustrierende Erfahrung, die durch uns gut begleitet werden muss. Damit es nicht total frustrierend ist.“ (Teamdis 4_48-76)

Zwischen Anerkennung und erneuter Demütigung Kevin formuliert im oben stehenden Zitat als Begründungszusammenhang, dass Ratsuchende mit der strafrechtlichen Verfolgung der Täter_innen den Wunsch nach Gerechtigkeit verbinden. Dabei sei nicht einfach zu bestimmen, wie und ob Gerechtigkeit durch eine gerichtliche Entscheidung überhaupt hergestellt werden kann. Als wesentlicher Aspekt von Gerechtigkeit kann dabei die gesellschaftliche Anerkennung der Rechtsverletzung13 gesehen werden, die sich in der Festlegung des Strafmaßes widerspiegeln kann, aber nicht muss. So hebt Herr Mbenza (vgl. Kapitel 6) als positiven Aspekt des Gerichtsverfahrens hervor, dass der Richter den rassistischen Gehalt der Beleidigung benannt und verbal verurteilt hat. In entsprechender Weise schildert der Berater Volker als für die Betroffenen positive Beispiele Gerichtsverfahren, in denen „eine Richterin oder ein Richter sitzt, der klare Worte sagt. So was sagt wie: ‚Das ist unerträglich!‘“ (Teamdis 4_35-36) oder in der Urteilsbegründung den Tathintergrund benennt und deutlich als inakzeptabel bewertet. Demgegenüber beschreibt Juliane (vgl. Kapitel 8.3.2) die Gerichtsverhandlung in ihrem Fall als negative Erfahrung, die das Anliegen, Gerechtigkeit zu erfahren, nicht erfüllen konnte. Im Gerichtsverfahren, so ihre Wahrnehmung, sei der Massivität des Angriffs und der Schwere der Folgen für sie selbst und ihren

13 Strobl/Lobermeier/Böttger (2003) zufolge sei wesentlich für die Rehabilitation der Opfer, dass Polizei und Justiz als gesellschaftliche Kontrollinstanzen die mit der Gewalttat verbundene Normverletzung anerkennen und damit die Geltung der verletzten Norm durch gesellschaftliche Instanzen bekräftigen (vgl. Kapitel 3).

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Freundeskreis nicht Rechnung getragen worden. Während die Polizei im Ermittlungsverfahren sorgfältig gearbeitet habe, habe das Gericht den Eindruck vermittelt, den Fall nicht ernst zu nehmen. „Juliane: Auch dass es so lange gedauert hat. Also die Staatsanwaltschaft hat sich einfach total schlecht gekümmert. Die ist ja auf den Akten sitzen geblieben und da wurde das Verfahren dann noch mal verzögert. Und dann war beim Verfahren ein Staatsanwalt, der hatte von Tuten und Blasen keine Ahnung. Der hat, glaube ich, auch die Anklageschrift zum ersten Mal an dem Tag gelesen, als die Verhandlung losging. Also kurz vorher. Und das ist schon so was, wo ich mir denke: Ja, danke schön! Menschlich total unkorrekt. Und gerade für uns Opfer ist das dann noch mal wie ein Schlag ins Gesicht. Wenn dann eine Staatsform, na, dich so ... einfach abspeist. Für mich war es ernst und für den war das – naja – Alltag. Wir machen mal schnell, ich will mein Geld haben und dann gehe ich wieder nach Hause. So. Das war echt blöd.“ (Juliane_418-427)

Das Verfahren endete mit Freisprüchen für alle fünf Angeklagten. Juliane hatte eine deutliche Bestrafung der Täter erwartet (vgl. ebd._405-407), der Freispruch für die Angeklagten, von denen sie einige als Teil der Gruppe der Angreifer_innen identifiziert hatte, war für sie schlimm, wie sie sagt (vgl. ebd._322). Aber nicht nur der Ausgang des Verfahrens ist für sie relevant, sondern ebenso die Art, in der das Gericht dem Fall begegnet ist. So beschreiben auch die Berater_innen, dass sich für Betroffene die Herstellung von Anerkennung und Gerechtigkeit durch juristische Verfahren nicht nur in den Urteilen zeigt: „Kevin: Manchmal ist es ja auch so, dass den Leuten die Höhe des Strafmaßes gar nicht so wichtig ist, dass sie gar kein Interesse an einer besonders hohen Bestrafung der Täter haben. Sondern wichtig ist für sie, dass es einen Abschluss gibt. Und dass sie im Gerichtsverfahren mit Respekt behandelt werden. Auch vom Gericht. Und ich denke tatsächlich, dass zu dem respektvollen Umgang mit den Leuten auch gehört, danach zu fragen: ‚Warum ist das eigentlich passiert. Was haben sie für eine Idee dazu?‘ Also, genau diese mögliche politische Dimension in den Plädoyers und in dem Urteil zu thematisieren und zu würdigen.“ (Teamdis 4_182191)

Wie im Fall von Juliane erfüllt sich der Wunsch nach Anerkennung des Unrechts und Herstellung von Gerechtigkeit durch das Gerichtsverfahren praktisch für viele Betroffene nicht, so die Berater_innen. Für den aus Sicht der Betroffenen unbefriedigenden Verlauf lassen sich verschiedene mögliche Gründe nennen. Stang und Sachsse (Stang/Sachsse/Friedrichsen 2007; Stang/Sachsse 2009) führen aus, dass eine strukturelle Diskrepanz zwischen dem individuellen Wunsch von

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Opfern von Straftaten nach Anerkennung und Gerechtigkeit und den gesellschaftlichen Aufgaben, Arbeitsweisen und rechtstaatlichen Prinzipien der Gerichte besteht.14 Daraus ergebe sich, dass sich die therapeutische Perspektive auf die Betroffenen, die sich auf die individuelle Verarbeitung der Tat und Stärkung der Betroffenen richte, grundsätzlich von der gerichtlichen Perspektive unterscheide, die auf die juristische Aufklärung der Tat gerichtet sei. Notwendig sei auf jeder Seite Respekt vor der jeweils anderen professionellen Zielsetzung und den entsprechenden Handlungsperspektiven (Stang/Sachsse 2009: 121). Aus Perspektive des Gerichtes müssen sich Betroffene in erster Linie als Zeug_innen bewähren, um zur Aufklärung des Tatgeschehens beizutragen. „Das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit verlangt von der Justiz, ganz genau zu erforschen, was wann, wo, wie und von wem getan oder gelassen wurde“ (ebd.). Detailliert zum Tatablauf und genauen Angaben zu Lichtverhältnissen, Zeitangaben und Entfernungen gefragt zu werden, sei für Betroffene nicht nur anstrengend, sondern in vielen Fällen auch „peinlich, demütigend und entblößend“ (ebd.).15 Der Berater Volker beschreibt als Praxisproblem, mit Ratsuchenden zu tun zu haben, die kognitiv und sprachlich den Anforderungen des Gerichts nicht gewachsen sind. „Volker: Bei Betroffenen, die irgendwelche... ja, so ein bisschen Einschränkungen haben, die Probleme haben, sich zu konzentrieren, stelle ich immer wieder fest, dass unser Rechtssystem da überhaupt nicht drauf vorbereitet ist. Es ist katastrophal, wenn jemand, der mit Zahlen nichts anfangen kann, fünfmal gefragt wird, wie viel Uhr es war, statt flexibel zu sein und zu fragen, ob es z.B. hell oder dunkel war. Und dann ist einfach die Zeugenaussage nichts mehr Wert.“ (Teamdis4_40-47)

Die Befragung als Zeug_innen bei Polizei und Gericht erleben Betroffene zudem leicht als ungerechtfertigte Infragestellung ihrer Glaubwürdigkeit und als Mitschuldvorwurf. Während in der unterstützenden Beratungsbeziehung, wie oben ausgeführt wurde, fundamental ist, den Betroffenen mit Akzeptanz zu begegnen, ihre Erfahrung nicht infrage zu stellen und nicht zu werten, sondern den Erinnerungen der Betroffe-

14 Stang und Sachsse beziehen sich in ihren Ausführungen auch auf den Umgang mit Opfern sexualisierter Gewalt 15 Stang und Sachsse beziehen sich hier auf detaillierte Schilderungen sexualisierter Gewalt. Art und Ausmaß der Entblößung sind in Fällen rechter und rassistischer Gewalt anders. Aber auch für Betroffene rechter und rassistischer Gewalt ist die eigene Opfererfahrung oft schambesetzt und die Schilderung der Details wird als peinlich und entblößend wahrgenommen. Auch die Schilderungen der Umstände der Tat können für die Betroffenen peinlich sein, beispielsweise wenn jugendliche Opferzeug_innen gefragt werden, wie viel sie getrunken haben.

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nen Glauben zu schenken, ist es Aufgabe der Gerichte, die geschilderten Erinnerungen von Zeug_innen auf mögliche Widersprüche ‚abzuklopfen‘ und zu hinterfragen. So können gerichtliche Verfahren und Urteile, in denen die Betroffenen den Eindruck gewinnen, dass ihnen nicht geglaubt wird, die Opfererfahrung vertiefen. Die Unterstützung der OBS zielt in diesem Zusammenhang darauf, den Ratsuchenden Einblicke in gerichtliche Abläufe zu ermöglichen und darin Handlungsoptionen aufzuzeigen. „Leonie: Also ich sag meistens vorher: Also, du musst dir das vorstellen, du sitzt da vor Leuten, die waren alle nicht dabei. Niemand weiß, was da passiert ist. Und darum versuchen alle, sich irgendwie ein klares Bild davon zu machen, was ist passiert. So. Das ist anstrengend, aber das ist so, dass es passieren kann, der Richter fragt dich irgendetwas, oder die Richterin, danach fragt dich die Staatsanwaltschaft noch einmal genau das Gleiche und dann kommt auch noch der Verteidiger der Täters und fragt dich das auch noch mal. Und versuch dich dadurch nicht durcheinander bringen zu lassen, sondern das ist einfach so. Und das ist nicht böse und hat nichts mit dir zu tun, sondern alle wollen irgendwie versuchen, die Wahrheit herauszukriegen.“ (Teamdis 4_293-302)

Auch die Auseinandersetzung mit den Betroffenen über die Erwartungen und Vorstellungen von einer angemessenen Bestrafung gehört zu den wesentlichen Inhalten der Beratung. Oft, so die Berater_innen, sind Betroffene enttäuscht über die aus ihrer Sicht zu milden Strafen, z.B. bei jugendlichen Täter_innen. Die Berater_innen beschreiben hier als wesentlichen Aspekt ihrer Tätigkeit, den Betroffenen die Kriterien der Urteilsfindung und Strafzumessung zu erklären. „Leonie: Und auch ganz wichtig finde ich: Man will ihnen ja so ein realistisches Bild von der Straferwartung vermitteln. Manche haben ja ein ganz unrealistisches Bild und wünschen sich Gottwerweißwas. Ihnen dann irgendwie klar zu machen, dass das, was der für eine Strafe gekriegt hat, schon viel ist. Oder ihnen noch mal genau zu erklären, gerade bei Jugendstrafverfahren, was ist eigentlich der Sinn des Gerichts, den Erziehungsgedanken… Also ihnen das so realistisch wie möglich zu vermitteln, um ihre Erwartungen auch ein bisschen runterzuholen, wenn sie besonders hoch sind. Um das nicht in so einer Riesenenttäuschung enden zu lassen. (Teamdis 4_101-108)

Das Erklären von Zusammenhängen und typischen Verfahrensweisen hat auch die Funktion, der Tendenz mancher Betroffener, lange Verfahrensdauern, unangenehme Befragungen oder eine schlechte Beweisaufnahme im Ermittlungsverfahren als persönlichen Affront zu deuten, entgegenzuwirken.

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„Ben: Ich würde auch sagen, dass es darum geht, dass sie sich nicht noch mal zum Opfer gemacht fühlen. Also, dass sie dann nicht das Gefühl bekommen: Hier in meinem individuellen Fall wurde das verschlampt, oder so.“ (Teamdis 4_288-290)

Die Unterstützung der OBS richtet sich zudem darauf, die Möglichkeiten, innerhalb der gerichtlichen Verfahren Anerkennung und Gerechtigkeit zu organisieren, auszuschöpfen. Hier wird den Betroffenen in der Regel dazu geraten, im Verfahren als Nebenkläger_innen aufzutreten und sich von Anwält_innen vertreten zu lassen, um so Einfluss auf das Verfahren nehmen zu können. Nebenklagevertreter_innen können die Akten einsehen, Beweisanträge stellen und in der Hauptverhandlung Zeug_innen befragen. Sie können damit zu einer sorgfältigeren Beweisaufnahme beitragen, die insbesondere auch beinhaltet, einen möglichen rassistischen oder politischen Tathintergrund und die Folgen der Tat für die Betroffenen herauszuarbeiten. Nebenklagevertreter_innen haben zudem das Recht, ein Plädoyer zum Urteil zu sprechen. Hierin sehen die Berater_innen eine wesentliche Möglichkeit, die Perspektive der Betroffenen in das Verfahren einzubringen. Voraussetzung dafür ist, so der Berater Kevin, die Interessen der Betroffenen an und im Gerichtsverfahren mit diesen zu klären. „Kevin: Wir haben auch die Erfahrung gemacht, dass es wichtig ist, mit den Anwält_innen zu besprechen, dass sie den Tathintergrund im Plädoyer benennen. Das ist, finde ich, eine ganz wichtige Aufgabe von der Nebenklage und auch ein Bedürfnis der Leute! Dass da jemand für sie spricht und das auch thematisiert, warum ist das eigentlich alles passiert. Und das muss gut vorbereitet werden. Weil das natürlich auch für Betroffene unterschiedlich sein kann, darum muss man mit den Leuten besprechen, was die da eigentlich für Interessen haben. Und das vergessen die Anwälte oft, weil die so einen eher juristischen systematischen Blick auf die Prozessvorbereitung haben und z.B. die Zeugenaussage durchsprechen. Darin sehe ich aber eine wichtige Aufgabe von uns, darauf zu achten, dass die Interessen der Betroffenen auch von den Anwälten gehört werden.“ (Teamdis 4_193-202)

Immer wieder, so die Berater_innen, verlaufen Gerichtsverhandlungen für die Betroffenen auch deshalb so frustrierend, weil die Polizei schon im Ermittlungsverfahren nicht ausreichend ermittelt hat und vor diesem Hintergrund auch in der Hauptverhandlung die Beweislage nicht ausreichend ist (vgl. Teamdis4_267-273). Das Anliegen von Betroffenen, im Gerichtsverfahren Anerkennung für das erfahrene Unrecht zu bekommen, ist zudem wesentlich erschwert, wenn zwischen Tat und Gerichtsverhandlung viel Zeit vergangen ist und Zeug_innen den Tatablauf nicht mehr in den für das Gericht relevanten Aspekten und Details erinnern können.16

16 Die Berater_innen schildern, den Betroffenen zu Beratungsbeginn grundsätzlich zu raten, ein Gedächtnisprotokoll zum erlittenen Angriff zu schreiben, um es vor der Zeugenvernehmung im Gericht lesen und so die Erinnerung auffrischen zu können. Schon nach einer

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Die genannten Schwierigkeiten betreffen im Prinzip alle Opferzeug_innen in Gerichtsverfahren. Die OBS gehen davon aus, dass ihre Zielgruppe darüber hinaus mit spezifischen Schwierigkeiten konfrontiert ist. Anerkennung und Gerechtigkeit zu erfahren, sei, aufgrund von institutionellem Rassismus, einem impliziten ‚KlassenBias‘ und dem fehlenden Verständnis der meisten Jurist_innen für die Lebenswelt subalterner Gruppen und damit für den Kontext vieler Gewalttaten, besonders erschwert. „Kevin: Es werden Machtverhältnisse und Klassenunterschiede in so einem Gerichtsverfahren ja oft daran sehr deutlich, wie mit den Leuten umgegangen wird.“ (Teamdis 4_814-816)

Die Berater_innen berichten, dass Migrant_innen und alternative Jugendliche von Polizist_innen, Staatsanwält_innen und Richter_innen eher als Täter_innen und nicht als Opfer wahrgenommen werden, von Verteidiger_innen in Zeugenbefragungen rassistische Klischees aktiviert werden und der rassistische oder politische Hintergrund einer Gewalttat von Polizei und Justiz nicht wahrgenommen oder verharmlost wird. Latente (und offene) rassistische Vorurteile von Verfahrensbeteiligten können dazu führen, dass der rassistische Gehalt einer Tat nicht erkannt wird oder den Betroffenen Mitschuld zugeschrieben wird. „Kevin: Und das betrifft ja nicht nur Richter, sondern das betrifft auch die meisten Staatsanwaltschaften. Also ich meine, es gibt ein paar herausragende Staatsanwaltschaften, die wir immer als positive Beispiele heranführen, aber es gibt auch genug andere Staatsanwaltschaften, die auch genau kein Verständnis für die politische Dimension haben. Oder ein ganz anderes Verständnis. Es heißt ja nicht immer nur, dass die alle kein Verständnis haben, sondern die haben ja auch ein völlig anderes Verständnis, auch die Richter. Ben: Jetzt geben sich alle die Hände und vertragen sich wieder... Kevin: Ja, oder sagen eben: ‚Nein, das N-Wort ist kein Schimpfwort, das ist keine Beleidigung.‘ Das ist ja mitunter auch eine sehr bewusste Entscheidung und nicht einfach nur Unwissenheit.“ (Teamdis 4_853-863)

Viele Betroffene haben auch in der Vergangenheit Polizei und Justiz nicht als Instanz zur Herstellung von Sicherheit und Gerechtigkeit erlebt. Herr und Frau Mbenza begründen ihre Verunsicherung vor Beginn des Verfahrens damit, dass sie in ihrem Herkunftsland, in dem Herr Mbenza politisch verfolgt wurde, zur Lösung von Konflikten nicht auf staatliche Instanzen zurückgreifen konnten. Auch Böttger, Lobermeier und Plachta (2014: 121) beschreiben als wesentliche Konstellation, dass ins-

relativ kurzen Verfahrensdauer von bspw. einem dreiviertel Jahr erweisen sich Gedächtnisprotokolle als überaus hilfreich.

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besondere bei Geflüchteten Erfahrungen mit restriktiven und rechtsverletzenden Praxen von Polizei und Justiz im Herkunftsland und im Zusammenhang der Flucht die subjektive Einschätzung von juristischen Handlungsmöglichkeiten in Bezug auf die aktuelle Situation beeinflussen. Aber auch in Deutschland haben viele Betroffene bislang Polizei und Justiz nicht als Schutzinstanz erfahren. Im Zusammenhang mit ausländerrechtlichen Verfahren und Regelungen, der polizeilichen Praxis verdachtsunabhängiger, aber faktisch selektiver Kontrollen oder im Zusammenhang mit anderen Ermittlungen, in denen sie sich in der Rolle des Angeklagten wiederfinden, erfahren Betroffene die Praxis von Polizei und Justiz eher als Entrechtung und Repression und nicht als Gewährleistung von Schutz (ebd.). Auch alternative Jugendliche, die von Nazis verletzt werden, haben oft bereits negative Erfahrungen mit der Polizei gemacht. So wurde als zentrale Problemkonstellation in Niebrau beschrieben, dass das Verhältnis zwischen Polizei und den Nutzer_innen des Jugendzentrums Pferdestall von gegenseitigem Misstrauen geprägt war. Aufgrund solcher Erfahrungen entscheiden sich manche Betroffene gegen das Stellen einer Anzeige. Der Student Marvin betont dagegen mit Nachdruck, dass er immer wieder Fälle rassistischer Beleidigungen und Gewalt zur Anzeige bringen würde, obwohl in seinem Fall die Ermittlungen und das Verfahren nach seiner Anzeige überaus frustrierend verlaufen sind. Seine Anzeige gegen den Polizeibeamten, der ihn am Tatort rassistisch bezeichnet hatte, wurde nach kurzer Zeit eingestellt. Auch im Fall der Körperverletzung kam es zu keinem Schuldspruch. Der Angreifer hatte seinerseits Anzeige gegen Marvin gestellt. Noch bevor der Angriff auf Marvin verhandelt wurde, lud das Gericht Marvin als Beschuldigten vor. Hier schlug der Richter einen Vergleich vor und beide Verfahren wurden ohne weitere Erörterung des Tatablaufes eingestellt.17 Für Marvin steht die Erfahrung im Kontext weiterer Begebenheiten, in denen er mit Freunden rassistisch beleidigt und bedroht wurde und von der Polizei nicht den erwarteten Schutz erfuhr. „Marvin: I have also been in situations where the police did not defend me. I felt, because I was black.“ (Marvin_295-296)

Marvin erzählt u.a., dass er mit vier anderen ausländischen Studierenden, die meisten von ihnen ‚schwarz‘, ein Stadtfest besuchte. Dort seien sie bald von einer Gruppe junger Männer rassistisch beleidigt worden. Marvins Gruppe habe versucht, der anderen Gruppe aus dem Weg zu gehen, sei aber von den immer aggressiver werdenden

17 Zur Rekonstruktion dieser Zusammenhänge wurde die Falldokumentation der OBS herangezogen, in der u.a. die Einstellungsbescheide abgeheftet sind.

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jungen Männern, die sie wiederholt aufforderten, zu kämpfen, verfolgt worden. Marvins Gruppe habe einen Streifenwagen angehalten und um Schutz gebeten. Die Polizei habe daraufhin Verstärkung angefordert. Dadurch sei im letzten Moment ein Zusammenstoß zwischen Marvins Gruppe und der anderen Gruppe, die inzwischen auf zwölf bis dreizehn Personen angewachsen war, verhindert worden, so Marvin. „Marvin: The police was asking what happened and we explained it to them. […] And you know what the police said? One police officer, she told us, well, she thinks the best solution is when we finish our studies we should go back home. And than we don´t have this problem. I was like: Excuse me? And she said it again. And I was really really shocked. And than the police said, o.k., the only thing they can do now, is tell those guys to go home and then we go home and that’s it. Because they can’t do anything to anybody, because they don´t have proof of anything. So we should go home and these guys should go home as well. And I didn’t feel protected. I was happy they came and due to their presence, maybe, what could have happened did not happen. But I didn’t really feel protected, because at the end, we had to get out of there immediately. I really found that funny.“ (Marvin_323-337)

Marvin schildert, dass er sich in verschiedenen Situationen an die Polizei gewendet hat, um in konkreten Bedrohungssituationen Schutz zu erhalten. Er formuliert darüber hinaus als wesentliches Anliegen, dass die erfahrenen rassistischen Anfeindungen von Polizei und Gericht als gesellschaftliche Instanzen als Unrecht anerkannt, benannt und sanktioniert werden. Statt Anerkennung und Gerechtigkeit zu erfahren, erfährt Marvin aber immer wieder erneute Demütigung und Verletzung seines Rechtsempfindens. Er betont, dass er sich trotz der schlechten Erfahrungen immer wieder an Polizei und Justiz wenden würde. Er schildert Situationen, in denen die Polizei aus seiner Sicht angemessen auf sein Ersuchen reagiert hat und konkretisiert damit, dass er nicht davon ausgeht, dass die Polizei ihre Schutzfunktion grundsätzlich nicht wahrnimmt. „Marvin: So, if some people say, they don’t feel protected by the police, I say, well, they have the right to say so, because they might have seen or heard or experienced something like myself. But at the end of the day, I still rely on the police.“ (Marvin_355-357)

Marvin beharrt darauf, sich im Umgang mit rassistischen Anfeindungen und Gewalt an die Polizei und Justiz zu wenden. „Marvin: I see the police as people who should protect us. Who should protect me. Who should protect our rights. Because they are forces of law and order.“ (Marvin_271-272)

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Die Beleidigung durch einen Polizeibeamten wiegt vor diesem Hintergrund schwerer, so Marvin weiter. Dass das Gericht die Beleidigung nicht weiter verfolgte, beschreibt er als „Schlag ins Gesicht“ (vgl. Kapitel 5.4). Da die Strafverfolgungsbehörden in seinem Fall die Erwartung, die verletzte Norm wiederherzustellen, nicht erfüllt haben, bekräftigt er die Geltung dieser Normen unter Bezug auf England und die USA, wo aus seiner Sicht die Geltung der Normen stärkeren Bestand hat. Dieser Bezug auf die Geltung der Normen jenseits der von ihm erlebten konkreten Praxis der deutschen Strafverfolgungsbehörden ermöglicht, grundsätzlich daran festzuhalten, die Herstellung von Gerechtigkeit von Strafverfolgungsbehörden einzufordern. Darüber hinaus kann die Bedeutung der gerichtlichen Auseinandersetzung als Schritt im Zusammenhang mit dem Kampf um die Anerkennung unveräußerlicher staatsbürgerlicher Rechte verstanden werden. Marvin beschreibt die Erfahrung rassistischer Diskriminierung und Gewalt als fundamentale Infragestellung seiner Würde als Mensch, als Infragestellung seines Menschseins und der damit verbundenen unveräußerlichen Rechte (vgl. Kapitel 9). Er erlebt auch jenseits der offenen rassistischen Anfeindungen die Einschränkung seiner Rechte und Möglichkeiten. Wie beschrieben, entscheidet er sich dafür, entgegen seinem Rechtsempfinden dem Vergleich zuzustimmen, weil eine Verurteilung in einem Strafverfahren für ihn aufenthaltsrechtliche Konsequenzen haben könnte. Vor dem Hintergrund der realen Entrechtung durch ausländerrechtliche Regelungen und der Infragestellung der menschlichen Würde durch rassistische Anfeindungen und Gewalt kann das Beharren auf der Wahrnehmung rechtlicher Möglichkeiten als Versuch verstanden werden, die eigenen unveräußerlichen Rechte als Staatsbürger bzw. als Mensch zu verteidigen. Auch im Fall von Herrn Mbenza ging es bei der Wahrnehmung juristischer Handlungsmöglichkeiten möglicherweise um mehr als um den juristischen Erfolg und die Anerkennung des Unrechts im konkreten Fall, sondern zudem um die Wahrnehmung von Rechten vor dem Hintergrund ihrer Infragestellung durch rassistische Gewalt und Diskriminierung. Im Gegensatz zu Marvin folgt für Juliane aus dem negativen Verlauf des Verfahrens: „Juliane: […] Also der Justiz vertraue ich nicht mehr und auf die baue ich auch nicht mehr.“ (Juliane_396-397)

Sie setzt, wie im nächsten Kapitel ausgeführt wird, darauf, jenseits juristischer Verfahren gesellschaftliche Aufmerksamkeit für Rassismus und rechte Gewalt zu organisieren und Solidarität mit den Betroffenen einzufordern. Sie nimmt damit eine andere Deutung rechtsstaatlicher und politischer Handlungsoptionen vor. Möglicherweise ist eine Prämisse ihrer (verbalen) Absage an rechtsstaatliche Handlungsoptionen auch, dass deren Verfügbarkeit für sie real nicht infrage steht.

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Zwischen Bewältigung und Reaktivierung des Tatgeschehens Stang und Sachsse (2009: 130) betonen, dass Gerichtsverfahren keine Fortsetzung einer Psychotherapie mit anderen Mitteln sein kann. Dennoch sei das Verfahren ein Ort, an dem sich die Betroffenen mit der Tat und den Täter_innen auseinandersetzen können und müssen. Dabei sei die Konfrontation mit den Täter_innen und die Erinnerung an die Tat ein wesentlicher Aspekt, der juristische Prozesse für Betroffene so belastend mache. Stang und Sachsse beschreiben, dass die Betroffenen zu einem nicht selbstgewählten Zeitpunkt zu der Gewalterfahrung befragt werden und Erinnerungen wachrufen müssen, die sie ansonsten vielleicht lieber vermeiden würden. Sie wüssten nicht, welche Emotionen es in ihnen wachrufe, in einem ungeschützten Raum und in Anwesenheit der Täter_innen über das Erfahrene sprechen zu müssen. Die Angst und Nervosität vor einer Gerichtsverhandlung wurde am Beispiel der Familie Mbenza beschrieben. Auch die Berater_innen beschreiben die Zeugenaussage als angstbesetzt. „Kevin: Eigentlich würde ich denken, ist es bei so gut wie allen unglaublich angstbesetzt, eine Zeugenaussage machen zu müssen. Das ist auch nichts Spezifisches. Und zum Teil auch den Tätern das erste Mal wieder gegenüber stehen zu müssen.“ (Teamdis 4_119-121)

Die Berater_innen können den Betroffenen in dieser belastenden Situation durch ihre Begleitung hilfreich werden, da die Begleitung zu gerichtlichen Verfahren in einen umfassenderen und alltagsnahen Beratungsprozess eingebunden ist. Erst diese langfristige Beratungsbeziehung ermöglicht es den Betroffenen in vielen Fällen, ihre Ängste zu formulieren. Ebenso ermöglicht erst die Kenntnis des konkreten Kontextes der Tat und der Lebenswelt der Betroffenen den Berater_innen, die jeweiligen Ängste der Betroffenen in Bezug auf das Strafverfahren wahrzunehmen, die reale Bedrohungssituation einzuschätzen und entsprechende Umgangsstrategien zu entwickeln. So haben, wie in Kapitel 6 beschrieben wurde, Herr und Frau Mbenza vor Beginn des ersten Prozesses gegenüber der Beraterin Christina regelmäßig ihre Ängste thematisiert und sie in akuten Krisensituationen angerufen. Ohne ein langfristiges, vertrauensvolles Beratungsverhältnis hätten sie das vermutlich nicht getan. Ein möglichst hohes Maß an Sicherheit zu vermitteln, ist ein wesentliches Beratungsziel, das die Berater_innen im Rahmen einer sorgfältigen Prozessvorbereitung und Aufklärung über juristische Abläufe verfolgen. So beschreiben die Berater_innen, dass sie auf emotionale Unsicherheiten und Ängste vor allem auf einer sachlichen Ebene reagieren, indem konkrete Handlungsmöglichkeiten aufgezeigt werden, die die Bedenken der Betroffenen aufgreifen. „Volker: Also ich würde sagen, dass gerade dieses Versachlichen meistens ganz viel für die Stabilisierung tut. Dass du halt unaufgeregt sagst, so und so läuft das ab. Und eben nicht so: ‚Oh Gott oh Gott oh Gott‘. Das runterzubrechen auf eine sachliche Ebene, ohne das andere

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[Emotionale, GK] rauszuhalten, das macht ganz viel, das ist Teil von der Stabilisierung, von dem Auffangen.“ (Teamdis4_332-336)

Als typische Leistungen werden beschrieben, im Ermittlungsverfahren die Schwärzung aller persönlicher Daten in den Akten zu beantragen und bei Gericht ein Zeug_innenzimmer zu organisieren, damit die Betroffenen beim Warten auf ihre Zeugenaussage nicht mit den Täter_innen und ggf. mit deren Unterstützer_innen konfrontiert sind. Auch schildern einige Berater_innen, dass sie den Betroffenen Tipps für den Umgang mit belastenden Emotionen während der Zeug_innenaussage geben oder therapeutische Techniken zur Stabilisierung einüben (Teamdis4_352-359).18 Ist zu erwarten, dass zur Verhandlung auch Unterstützer_innen aus der Szene der Täter_innen kommen, die zusätzlich einschüchternd wirken, bemühen sich die Berater_innen, dass Zuschauer_innen zum Prozess kommen, die von den Betroffenen als unterstützend wahrgenommen werden. „Volker: Das anzubieten finde ich ganz wichtig, auch weil manche gar nicht so auf die Idee kommen, dass es wichtig sein könnte. Wir hatten neulich wieder so einen Fall. Da haben wir gefragt, ob jemand zur Begleitung mitkommen soll, ob wir mobilisieren sollen, oder so. Aber er sagte: ‚Ach nö, alles kein Ding.‘ […] Und dann standen da zehn Kameraden Spalier, wo er durchlaufen musste. Da wäre eine Mobilisierung echt nicht schlecht gewesen. Und demgegenüber hatte ich neulich so eine nette Erfahrung: Der Betroffene hatte im Vorfeld total Panik und ich habe ein Zeugenzimmer und alles organisiert. Und dann kamen plötzlich zehn Leute, um ihn zu unterstützen und der blühte so richtig auf, und er brauchte das Zeugenzimmer gar nicht mehr. Ja, also das macht einen ganz großen Unterschied.“ (Teamdis 4_565-578)

Die Berater_innen schildern aber auch, dass Betroffene das Gerichtsverfahren nutzen, um sich aktiv mit der Tat auseinanderzusetzen, um ‚abschließen‘ zu können. So sind manche Betroffene, so Kevin weiter, erstaunt, dass die Täter_innen gar nicht mehr so bedrohlich sind, wie sie sie erinnert hatten. „Kevin […] Das kann ja aber auch bewirken, dass man auch einmal ein realistischeres Bild von dem Täter bekommt. Dass der nämlich gar nicht so unglaublich groß und breit und was auch immer ist, sondern eher so’n Häufchen Elend, was da auf einmal sitzt. Das kann ja auch eine positive Erfahrung sein. […] Auch, dass Leute da eher erleichtert aus dem Ganzen rausgehen. Und sagen: ‚Ok, das ist jetzt abgeschlossen und das war ein guter Abschluss. Das war eine gute

18 Die Berater_innen formulieren hier eine unterschiedliche Sicht auf ihre jeweilige Praxis. Während ein Teil bedauert, aufgrund des gegebenen Arbeitssettings nicht intensiver mit psychotherapeutischen Methoden arbeiten zu können, äußern sich andere Berater_innen eher distanziert dazu und betonen den ‚sachlichen‘ Zugang. Wie sehr sich die tatsächliche Praxis unterscheidet, müsste an konkreten Fällen untersucht werden.

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Erfahrung.‘ Also ich würde denken, dass das tatsächlich nicht immer nur frustrierend ist.“ (Teamdis 4_121-128)

Auch Juliane schildert, dass sie das für sie eigentlich unbefriedigende Gerichtsverfahren für die persönliche Auseinandersetzung mit den Tätern genutzt hat. „Juliane: Ja. Aber was mir halt bei der Gerichtsverhandlung wichtig war, dass ich allen Tätern oder vermeintlichen Tätern in die Augen schauen konnte. Und das wollte ich auch. Ich habe nicht die ganze Zeit in der Nebenklage gesessen, sondern hinten auch im Publikum Platz genommen und da konnte ich sie mir auch gut angucken. Und was ich gut fand, dass keiner meine Blicke erwidern konnte, als ich Augenkontakt gesucht habe. GK: Was bedeutet das für dich? Juliane: Dass ich stärker bin. Mental stärker. Und das hat mir auch gut getan! Das hat mir noch mal Kraft gegeben. Und zwei der Angeklagten, wo ich denke, die sind dabei gewesen, die sehe ich auch noch hier auf der Straße, vielleicht so einmal in zwei Wochen. Von denen kam nie wieder was. Die weichen aus, da kommt verbal nichts und auch so blickkontaktmäßig überhaupt nichts.“ (Juliane_337-347)

Zwischen Beendung und Verschärfung der Bedrohungslage In der Forschung wird die präventive Wirkung von Strafverfolgung gering eingeschätzt (vgl. Streng 2002: 30-33). In den kleinstädtischen und ländlichen Konstellationen, in denen die untersuchten OBS arbeiten,19 ist die Hoffnung der Betroffenen, durch die strafrechtliche Verfolgung anhaltende oder sich wiederholende Situationen der Bedrohung oder Gewalt beenden zu können, in einigen Fällen allerdings durchaus begründet. Die Gewalt findet hier zwar in der Regel nicht im persönlichen Nahumfeld – wie zum Beispiel im Fall sexueller Gewalt – statt, aber Täter_innen und Opfer stehen sich auch nicht vollkommen anonym gegenüber. Angehörige unterschiedlicher Jugendszenen treffen bspw. im Alltag häufig aufeinander, ebenso die Betreiber_innen eines Asia-Imbisses und die rassistische oder rechte Clique des Ortes. Als weiteres Beispiel berichten die Berater_innen von einer Schwarzen Schülerin, die täglich am Busbahnhof mit einer Gruppe rassistischer Berufsschüler_innen konfrontiert ist. Die strafrechtliche Verfolgung von einzelnen Täter_innen kann hier dazu führen, dass eine Routine wiederkehrender Gewalt unterbrochen wird. So schildern die Berater_innen, dass die Gewaltwelle in Niebrau abbrach, nachdem die Polizei potenzielle Täter aufgegriffen hatte (vgl. Kapitel 7).

19 Ähnliche Konstellationen können sich auch in Großstädten in einzelnen Stadtteilen oder Quartieren finden.

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Auch in der Gruppendiskussion wird von den Berater_innen als möglicher Begründungszusammenhang formuliert, dass manche Betroffene sich eine Gefängnisstrafe nicht aus Gerechtigkeitserwägungen wünschen, sondern um vor den Täter_innen geschützt zu sein. „Volker: Wenn Angst vor dem Täter besteht, spielt dieser Gedanke eine Rolle: Der wird weg gesperrt. Ich bin in Sicherheit.“ (Teamdis4_ 234-235)

Aus Sicht der Betroffenen steht – wie sowohl im Fall von Herrn Mbenza als auch bei Oliver deutlich wurde – die Hoffnung auf ein Ende der Bedrohungssituation durch die strafrechtliche Verfolgung der Täter_innen im Spannungsfeld mit der Angst vor einer Zuspitzung der Gewaltsituation durch Einschüchterungsversuche und Rache aus der Clique der Täter_innen. Diese Angst ist in vielen Fällen durchaus begründet. So wurde im Fall von Herrn Mbenza geschildert, dass er vor der ersten Gerichtsverhandlung unangenehme Begegnungen mit der jungen Frau aus seiner Nachbarschaft hatte. In diesem Spannungsfeld können die OBS die Funktion wahrnehmen, die Betroffenen in der oft langen Phase zwischen Anzeigenstellung und Beginn des Strafprozesses zu begleiten und ansprechbar zu sein für befürchtete und konkrete Bedrohungssituationen. Sie können nach Möglichkeit versuchen, mit den Betroffenen eine realistische Gefahreneinschätzung zu entwickeln sowie Maßnahmen, um Sicherheit herzustellen. Zwischen Ohnmacht und Handlungsfähigkeit Die Möglichkeiten der Bewältigung einer Gewalterfahrung hängen wesentlich damit zusammen, ob sich die Betroffenen nach der Tat selbst als handelnde Akteur_innen erfahren können oder immer wieder erneut erleben, fremdgesetzten Regeln ohnmächtig ausgeliefert zu sein. Beides erleben Betroffene im Zusammenhang mit Ermittlungs- und Gerichtsverhandlungen. Eine Anzeige zu stellen, kann von den Betroffenen als Möglichkeit gesehen werden, sich gegen die Demütigung zur Wehr zu setzen. So ist im Fall von Herrn Mbenza (vgl. Kapitel 6) eine mögliche Deutung, dass sein deutliches Interesse, eine Anzeige zu stellen, damit verbunden ist, gegenüber der Demütigung durch die Jugendlichen seine Würde wiederherzustellen. Allerdings, so die Berater_innen, erleben Betroffene im Verlauf des Verfahrens oft, dass sie real sehr wenige Handlungsmöglichkeiten haben und leicht in ohnmächtige Situationen geraten. Vielen Betroffenen ist nicht klar, dass Angriffe, sobald sie als Offizialdelikte eingestuft werden, von den Ermittlungsbehörden auch unabhängig vom Wunsch des Betroffenen verfolgt werden müssen. Erfährt die Polizei z.B. von einer gefährlichen Körperverletzung, wird von Amts wegen ermittelt, und Betroffene haben keine Möglichkeit, eine gestellte Anzeige zurückzunehmen. Wenn zum Beispiel Verfahren

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mehrere Jahre dauern, fühlen sich manche Betroffenen, so die Berater_innen (Teamdis4_77-80), in dem Prozess gefangen, ohne selbst noch Einfluss auf diesen zu haben. „Kevin: Ich glaube, dass wir viel stärker unseren Anwälten vermitteln müssten, was Betroffene eigentlich vom Gerichtsverfahren erwarten. Da müssten wir noch mehr eine Schnittstelle sein. Was ist eigentlich ihr Wunsch. Ich finde, eigentlich hat das ja eine ganz große Bedeutung für ein Plädoyer, das man für seinen Mandanten hält. Und ich finde, dass von den Anwälten oft viel zu wenig danach gefragt wird, was eigentlich die wirklichen Interessen von den Leuten sind.“ (Teamdis 4_708-713)

Kevin berichtet als Beispiel von einem Fall, in dem Freund_innen des Betroffenen als Zeug_innen geladen waren und mehrere Stunden auf ihre Zeugenvernehmung warteten. Schließlich wurde das Verfahren – mit Zustimmung des Nebenklagevertreters – abgeschlossen, ohne dass die Zeug_innen gehört wurden. Der Betroffene und seine als Zeug_innen geladenen Freund_innen waren, so Kevin, enttäuscht darüber, da es ihnen wichtig war, dass ihre Geschichte gehört wird. „Kevin: Und der Anwalt hatte das gar nicht im Blick. Der hatte seine eigene Logik. Und ich glaube, da sind wir auch stärker gefragt, Einfluss zu nehmen und darauf zu dringen, dass Anwälte sich darum kümmern, was die Sichtweise ihrer Mandanten ist. Das geht in ihrer Routine eben auch unter.“ (Teamdis 4_725-728)

10.4.3 Die Qualität der Unterstützung zwischen individuumsbezogenen und politischen Perspektiven auf Gerichtsverfahren Die Zielsetzung und das Vorgehen bei der von den OBS geleisteten Unterstützung von Betroffenen im Zusammenhang mit juristischen Verfahren entsprechen den formulierten Standards (psychosozialer) Prozessbegleitung (Arbeitsgruppe Mindeststandards 2005-2012) als ein Teilaspekt professioneller Opferhilfe.20 In der allgemeinen Opferhilfe wird Neutralität gegenüber dem Ausgang des Verfahrens als Standard für die Prozessbegleitung formuliert (ebd.: 10). Im Unterschied dazu verfolgen die OBS eine mehrschichtige Perspektive auf die juristische Bearbeitung rechter und rassistischer Gewalt. Ihre Praxis zielt auf Entlastung und Unterstützung der Betroffenen im Zusammenhang mit belastenden Strafverfahren. Gerichtliche Verfahren werden

20 Zur Definition verschiedener Angebote zur Betreuung und Unterstützung von Opferzeug_innen vgl. Arbeitsgruppe Mindeststandards (2005-2012: 6-8). In Bezug auf Kinder und Jugendliche als Zeug_innen hat Fastie (2008) das Konzept der sozialpädagogischen Prozessbegleitung geprägt und beschrieben

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aber durchaus auch als politisches Instrument in der Auseinandersetzung mit rechter und rassistischer Gewalt verstanden. Strafprozesse werden als Instrument gesehen, um gesellschaftliche Aufmerksamkeit für das Thema zu organisieren und die Taten und Täter_innen zu sanktionieren und ihnen damit die gesellschaftliche Akzeptanz zu entziehen. Zugleich werden die Strafverfolgungsbehörden selbst als gesellschaftliche Instanzen verstanden, in der Rassismus und andere Formen gesellschaftlich verankerter Diskriminierung nicht nur bekämpft, sondern auch reproduziert werden. Eine nicht-neutrale Haltung der Berater_innen zum gerichtlichen Verfahren, die Bereitschaft, sich auch kritisch zum Verlauf und Ausgang von Gerichtsverfahren zu positionieren und aktiv Öffentlichkeitsarbeit zu betreiben, kann ein wichtiges Signal der Solidarität mit den Betroffenen sein. Die Berater_innen beschreiben die Begleitung von Gerichtsverfahren durch Öffentlichkeitsarbeit insbesondere dann als angemessen, wenn die Betroffenen selbst eine politische Deutung ihrer Gewalterfahrung vornehmen. Hier kann die Diskussion der jeweils mit dem Gerichtsverfahren verbundenen politischen Perspektiven dazu beitragen, dass die Betroffenen dem Verfahren und ihrer Gewalterfahrung weniger ausgeliefert sind, sondern in die Lage versetzt werden, sich strategisch und aktiv zu verhalten. Aber auch in Fällen, in denen die Betroffenen selbst keine unmittelbar politische Einordnung der Gewalterfahrung vornehmen, kann die explizit nicht-neutrale Haltung der Berater_innen, die z.B. latente Formen des Rassismus im Tatgeschehen sowie in der gerichtlichen Verhandlung wahrnehmen, als Aspekt des Verständnisses der Lebenswelt der Betroffenen aufgefasst werden. So kann zusammengefasst werden, dass aus der Praxis der OBS mit ihrer Entscheidung, das Spannungsfeld zwischen individuellen und gesellschaftlichen Dimensionen bewusst nicht aufzulösen, ein besonderer Nutzen für die Betroffenen entsteht. Die mögliche Qualität der Unterstützung und Beratung im Zusammenhang mit juristischen Verfahren ergibt sich aus dem Zusammenspiel einer sachlichen Vermittlung juristischer Zusammenhänge und einer solidarischen, unterstützenden Beratungshaltung. Die fachlich fundierte und an die speziellen Bedürfnisse und Möglichkeiten der Betroffenen angepasste Beratung reduziert die Unsicherheit und das Ausgeliefertsein der Betroffenen. Gegenüber der Ohnmacht der Opfererfahrung kann die Beratung der OBS den Betroffenen ermöglichen, eigene Entscheidungen zu treffen und zu den juristischen Abläufen eine strategische Haltung einzunehmen, sich aktiv zu den gegebenen Möglichkeiten zu verhalten. Die parteiliche, solidarische Unterstützung der Anliegen und Entscheidungen der Betroffenen kann für die Betroffenen wichtiges Signal in ihrem Kampf um Anerkennung des Unrechts und Anerkennung ihrer fundamentalen Rechte als Mensch sein. Die hinter der Solidarität stehende politische Haltung der Berater_innen darf sich aber nicht in einer Weise verselbstständigen, dass die individuellen Interessen der Betroffenen übersehen werden. Nicht zuletzt kann der Prozess der öffentlichen Verhandlung der Wahrheit als wichtige Entprivatisierung des Leides gesehen werden, die Voraussetzung und Aspekt des Heilungsprozesses ist. Dadurch wird allerdings weder die Gefahr ausgeschaltet, dass im

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Zuge der Verfahren Betroffene erneute Opfererfahrungen machen noch wird vermieden, dass die OBS das Leiden der Betroffenen politisch funktionalisiert und über den eigenen politischen Interessen die individuellen Interessen der Betroffenen aus dem Blick verliert. Die Prozessbegleitung der OBS geht über die Ermöglichung von gerichtlichen Verfahren als politischer Zielsetzung hinaus; sie geht auch über die psychosoziale Begleitung der Betroffenen hinaus. Sie ist selbst ein Aspekt der Heilung. Es stellt sich zudem die Frage, wie die für die Betroffenen potenziell positiven Funktionen gerichtlicher Verfahren – die Anerkennung der Gewalterfahrung, die Erfahrung, sich aktiv zur Gewalterfahrung verhalten zu können und die Möglichkeit, sich mit der Tat und den Täter_innen auseinanderzusetzen und den Verarbeitungsprozess abschließen zu können – auf anderem Wege organisiert werden könnten. Diese Frage stellt sich insbesondere auch vor dem Hintergrund, dass die genannten positiven Funktionen gerichtlicher Verfahren nur in den seltensten Fällen tatsächlich eingelöst werden können. Neben der anonymisierten Dokumentation der Fälle in den Chronologien und Statistiken der OBS nennen die Berater_innen Öffentlichkeitsarbeit und andere Formen politischer Intervention als alternative Formen, Anerkennung und Gerechtigkeit zu organisieren. Allerdings, so die Berater_innen, hat die bisherige Erfahrung gezeigt, dass viele Ideen und Möglichkeiten alternativer Formen jenseits der anonymisierten Dokumentation der Fälle an ähnliche Grenzen gelangen wie die Bearbeitung rechter und rassistischer Gewalt in juristischen Verfahren. So sind bspw. Fälle, in denen die rassistischen Dimensionen des Tathintergrundes eher subtil sind und daher vom Gericht nicht berücksichtigt werden, Fälle, in denen Betroffene auf eine Anzeige verzichten, weil sie selbst Repressionen fürchten oder anonym bleiben wollen und Fälle mit sehr unklaren Fallkonstellationen auch jenseits von Gerichtsverfahren nur schwer öffentlich zu bearbeiten sind. „Kevin: Ich glaube, dass viele andere Sachen, die wir klassischer Weise anbieten können, in solchen Fällen genauso viele Schwierigkeiten haben. Genauso die Gefahr besteht, dass das alles nicht so richtig funktioniert. Also so ein Klassiker wäre ja, mit Leuten zum Bündnis gegen Rechts zu gehen und von dem Fall zu berichten und darüber noch mal so eine Form von Solidarität oder Öffentlichkeit zu kriegen. Das funktioniert bei vielen Betroffenen nicht. Das ist bei einem Teil von Leuten ja immer auch mit Risiken verbunden, wo man abwägen muss: Macht das jetzt Sinn oder macht das keinen Sinn. Dann entscheidet man sich recht häufig auch dagegen. Dann wäre Medienöffentlichkeit, also Pressearbeit, auch ein üblicher Weg, dass es darüber noch mal so eine Würdigung gibt. Bei so uneindeutigen Fällen springen die Medien aber auch nicht so gerne drauf an. Die wollen ja auch irgendwie so ideale Opfer. […] Also das ist auch schwierig. Da brauchst du einen Journalisten, dem du sehr vertrauen kannst und mit dem du so etwas sehr gut vorbereiten kannst. Und dann könntest du... Also ich finde, so viel fällt uns da tatsächlich nicht ein.“ (Teamdis 4_979-994)

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Die hier von Kevin angesprochenen Handlungsoptionen und mit ihnen verbundenen Problemstellungen werden ich im nächsten Kapitel weiter vertiefen und die Möglichkeiten und Grenzen einer vom Einzelfall ausgehenden Intervention in den (lokalen) politischen Rahmen analysieren.

11 Die Praxis der lokalen Intervention als Brücke zwischen Einzelfall und Gesellschaftsveränderung

Lokale Intervention wird in den Konzeptpapieren der OBS (vgl. Koordinator der OBS 2003: 11-12; AG Qualitätsstandards 2014: 15-16) als ein Kernbereich ihres Profils benannt, der in besonderer Weise die individuelle Unterstützung von Betroffenen und die politische Intervention miteinander verbinden soll. Lokale Intervention wird hier als ‚Schlüsselprozess‘ (AG Qualitätsstandards 2014) wie folgt beschrieben: Ausgehend von einem Angriff oder einer zugespitzten Bedrohungssituation zielt lokale Intervention darauf, die Position der Betroffenengruppen im lokalen Raum zu stärken, während der Einfluss rechter Strukturen zurückgedrängt werden soll. Lokale Interventionen sollen den Täter_innen und den sie bestärkenden bzw. tolerierenden rechten Strukturen signalisieren, dass sie für ihre Taten keine Unterstützung bekommen. Sie sollen rechte und rassistische Gewalt und deren Folgen für die Betroffenen im Gemeinwesen sichtbar machen und eine die Betroffenen unterstützende Praxis im Gemeinwesen anregen. Eine lokale Intervention orientiert sich mit den konkreten Zielsetzungen und Handlungsschritten an den Wünschen und Bedürfnissen der Betroffenen und findet in enger Abstimmung mit ihnen statt. Die Zielgruppen sind – je nach konkreter Problemstellung und Zielsetzung – Verantwortungsträger_innen in Politik und Verwaltung (z.B. Bürgermeister_in, Polizei), zivilgesellschaftliche Akteur_innen, für die Betroffenen relevante Institutionen wie Schule, Sozialarbeit, lokale Medien sowie die Betroffenengruppen selbst. Als Maßnahmen lokaler Intervention werden Gespräche mit lokalen Verantwortungsträger_innen und Kooperationspartner_innen, die Unterstützung der Artikulationsmöglichkeiten von Betroffenen, z.B. bei runden Tischen, in lokalen Gremien oder Institutionen wie Schulen, genannt, aber auch die Vertretung ihrer Interessen, wenn sich die Betroffenen nicht selbst artikulieren können oder wollen. Zu den Handlungsfeldern gehört auch die Unterstützung von Betroffenen und Unterstützer_innen bei Demonstrationen, Spendensammlungen und anderen Solidaritätsaktionen, die Unterstützung und Vernetzung der

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Selbstorganisation (potenzieller) Betroffenengruppen (z.B. Jugendzentren, Flüchtlingsgruppen) sowie lokale Pressearbeit und andere Formen der öffentlichen Thematisierung. Das Tätigkeitsfeld der lokalen Intervention ist paradigmatisch für den Problemzugang der OBS, rechte und rassistische Gewalt auf individuumsbezogener sowie auf gesellschaftlicher Ebene bearbeiten zu wollen. Es spiegelt auch den konzeptionellen Ausgangspunkt der OBS wider, die Spezifik rechter und rassistischer Gewalt in der Verbindung unterschiedlicher „Wirkebenen“, der Mikro-, Meso- und Makroebene (AG Qualitätsstandards 2014: 6), zu sehen. Während die lokale Intervention für das Selbstverständnis der OBS zentral ist, beschreiben die Berater_innen, dass sich deren Umsetzung in die Praxis als höchst herausfordernd gestaltet. In Abgrenzung zur Unterstützung von Betroffenen im Zusammenhang mit Gerichtsverfahren umfasse das Handlungsfeld der lokalen Intervention weniger klar definierte, konkrete Tätigkeiten, deren Nutzen für die Betroffenen unmittelbar deutlich wird. In diesem Sinne grenzt Leonie die individuelle Unterstützung von dem Handlungsfeld der lokalen Intervention ab: „Leonie: Ich habe bei vielen Punkten in der Opferberatung Kritik an mir und denke, ‚ah... das war mir unangenehm‘. Lokale Intervention z.B. mach ich nicht gerne. Da denke ich oft, da hätte ich etwas machen sollen oder da hätte ich irgendwas besser machen können. Aber die Prozessvorbereitung und Begleitung mache ich total gerne. Das ist für mich total handfest.“ (Teamdis4_1086-1091)

Lokale Intervention überschreitet die klassischen Aufgaben einer Opferberatung und steht zudem vor dem Problem, ihre Aufgaben zu anderen gemeinwesenbezogenen Beratungsansätzen wie den Mobilen Beratungsteams gegen Rechtsextremismus (MBT) ins Verhältnis zu setzen. Die Interventionen selbst sind oft mit Konflikten im Gemeinwesen verbunden. Im Folgenden gehe ich den Fragen nach, wie die OBS in ihrer Praxis lokale Interventionen nutzen, um rechter und rassistischer Gewalt zu begegnen, wie sie damit die Betroffenen in ihrer individuellen Verarbeitung von Gewalt unterstützen, und mit welchen Schwierigkeiten und Widersprüchen sie dabei konfrontiert sind. Ich werde dabei auch diskutieren, wie die OBS das in Kapitel 3.2 vorgestellte Konzept der Gemeinwesenarbeit bzw. der Sozialraumperspektive in ihrer Praxis aufgreifen und bearbeiten. Der Fokus liegt dabei auf der Frage, welche Bedeutung eine Intervention in den lokalen Kontext für die Unterstützung von Gewaltbetroffenen hat. Nicht geklärt

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werden kann, welche Effekte die Praxis der lokalen Intervention auf den kommunalen Umgang mit rechter Gewalt hat.1

11.1 R ÄUMLICHE D IMENSIONEN RASSISTISCHER G EWALT

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Die Sozialwissenschaften sind seit den 1990er Jahren durch die Theorieperspektive des spatial turn beeinflusst. Dies schlägt sich auch in den Analysen von Rassismus und Rechtsextremismus nieder, in denen vermehrt ‚räumliche Dimensionen‘ für die Entstehung und Wirkung von Rassismus und Rechtsextremismus in den Blick rücken (vgl. Kapitel 2). Der neue Fokus auf den Sozialraum spiegelt sich auch in der Thematisierung rechter und rassistischer Gewalt durch politische Initiativen wider und fand auch im Programm CIVITAS (vgl. Kapitel 1) maßgeblich Eingang. 11.1.1 Der Sozialraum als Ort des Kampfes um kulturelle Hegemonie In der Zeit der Konzeptentwicklung der OBS Ende der 1990er und Anfang der 2000er Jahre entstand das Handlungskonzept der lokalen Intervention vor dem Hintergrund einer spezifischen Situation und Problemsicht, nach der insbesondere in Bezug auf die Situation in den ostdeutschen Bundesländern der wachsende Einfluss rechtsextremer Gruppen in alltagsweltlichen Bezügen thematisiert wurde. Rechtsextremismus wurde als soziale Bewegung beschrieben, die das Ziel verfolgt, kulturelle Hegemonie zu erlangen. Rechte Gewalt führe dazu, dass für Menschen, die nicht in das rechte Weltbild passen, ‚Angstzonen‘ entstehen und sie sich aus dem öffentlichen Raum zurückziehen. Diese Wirkung könnten Rechtsextreme jedoch nur in einem gesellschaftlichen Klima erzeugen, in dem rassistische Denkweisen, ablehnende Haltungen gegenüber alternativen Jugendkulturen und Gleichgültigkeit gegenüber Rassismus, Rechtsextremismus und Gewalt weit verbreitet seien (vgl. Gruppe Opferperspektive 1999). Im lokalen Umfeld für Empathie mit Betroffenen zu werben, Unterstützungsnetzwerke zu fördern und alternative (Jugend-)Kultur zu unterstützen, wird vor dem Hintergrund dieser Analyse mit dem Ziel verbunden, dem wachsenden Einfluss der Rechten etwas entgegenzusetzen. Diese auf konzeptioneller Ebene formulierte Perspektive auf den Sozialraum als Ort des Kampfes um Hegemonie und die Bearbeitung rechter Gewalt als „Kämpfe um Raumhoheit“ (Schulze/Weber 2011) findet sich auch in den im Rahmen dieser

1

Die Reaktionen auf rechte Gewalt im lokalen Kontext untersucht Schellenberg (2014). Sie untersucht dabei allerdings nicht die Bedeutung der öffentlichen Diskurse für die Betroffenen (vgl. Kapitel 2).

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Untersuchung von den Berater_innen beschriebenen Beispielen für die Praxis lokaler Intervention wieder. So wurde in Kapitel 7 ausgeführt, dass ein Hintergrund der lokalen Intervention in Niebrau die zunehmende Organisierung lokaler rechtsextremer Strukturen war, die von Gewalt gegen das Jugendzentrum Pferdestall als Ort alternativer Jugendkultur begleitet wurde. Die Berater_innen sahen eine Verschiebung der Kräfteverhältnisse in der Stadt, in der die langjährig ansässige und festetablierte Jugendszene in eine isolierte Lage geraten war. Die Berater_innen warben im Gemeinwesen für mehr Akzeptanz und Unterstützung für das Jugendzentrum und argumentierten dabei, dass Räume für (alternative) Jugendkultur zentral seien, um eine weitere Ausweitung rechtsextremer Strukturen, die insbesondere Jugendliche ansprechen, einzudämmen. Eine ähnliche Ausgangssituation schildern die Berater_innen einer OBS in Bezug auf den alternativen Jugendclub in Neustadt (vgl. Kapitel 8.2.5). In der Stadt, in der es seit Jahren eine auch im bürgerlichen Spektrum – insbesondere im lokalen Handwerk – verankerte rechtsextreme Szene gab, wurde der links-alternativer Jugendtreff Keller zum Ziel mehrerer Angriffe durch Neonazis. Es wurden die Tür eingetreten, vor dem Treff stehende Fahrräder beschädigt, die Hofeinfahrt mit Drohungen beschmiert und Besucher_innen im Hof und auf der Straße vor dem Treffpunkt bedroht und verletzt. Durch die häufigen Angriffe wurden auch Nachbar_innen des Jugendtreffs in Mitleidenschaft gezogen. Diese übten nun Druck auf den Vermieter aus, den Mietvertrag nicht zu verlängern. Gleichzeitig hatte es beim selbstverwalteten Jugendtreff einen Generationswechsel gegeben, so dass der Kündigungsdrohung kaum etwas entgegengesetzt wurde. „Ben: In Neustadt war es ja eher klassisch: Es gab Gewalt, Angriffe auf den alternativen Treff, und in Folge sollte dieser ganze Jugendclub gekündigt werden. Da war die Begründung ja ziemlich einfach, dass man irgendwie verhindern muss, dass dieser Jugendclub weggeht wegen der Gewalt, und dann ist man ziemlich schnell darauf gekommen, dass das nicht so einfach ist, weil die Strukturen der Jugendlichen derartig desolat sind. Und darum war man schnell dabei einzusehen, dass es nicht reicht, Appelle an die Politik zu formulieren, Lösungen mit dem Linksparteiabgeordneten zu finden, sondern man muss auch irgendwie Organisationsentwicklung machen.“ (Teamdis3_1359-1366)

Hier schienen die Konstellationen zunächst geeignet für eine lokale Intervention. Die tatsächlichen Prozesse blieben aber hinter den Erwartungen und Zielsetzungen zurück. Zwar konnte erreicht werden, dass die Kündigung zurückgezogen wurde,2 aber eine lebendige Jugendszene entwickelte sich in den Räumen nicht.

2

Neben der OBS und z.T. auf Initiative der OBS setzen sich ein Linksparteiabgeordneter, einige am Runden Tisch engagierte Bürger_innen, Streetworker_innen, das MBT und der inzwischen aus der Stadt weggezogene ehemalige Vorstand des Vereins für den Erhalt ein.

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Das Motiv, dem rechtsextremen Dominanzbestreben etwas entgegenzusetzen, findet sich auch in der Schilderung der Berater_innen eines Falles, in dem der Imbiss eines türkischen Migranten nach einem Brandanschlag komplett zerstört worden war.3 Die OBS initiierte eine Spendensammlung für den Imbissbesitzer Herrn Akgün. Durch die finanzielle und praktische Unterstützung für den Wiederaufbau des Imbisses sollte verhindert werden, dass Akgün aufgrund des Angriffs, der seine Existenzgrundlage vernichtet hatte, die Stadt verlassen musste. Es ist – auch durch die finanzielle Unterstützung durch die Stadtverwaltung – gelungen, den Imbiss wiederaufzubauen. Allerdings, so die Schilderung des Beraters, äußerten andere Gewerbetreibende sowie Vertreter der Stadtverwaltung von Beginn an ihr Missfallen an der Spendenaktion. Akgün wurde vorgeworfen, sich bereichern zu wollen. 11.1.2 Das Gemeinwesen als Lebenswelt der Betroffenen Ohne dass die Berater_innen eine lokale Intervention beschreiben, wird im Fall der Familie Mbenza (vgl. Kapitel 6) die Bedeutung des Sozialraumes in der alltäglichen Bewältigung der Gewalterfahrung deutlich. Die Gewalt wird, so wurde herausgearbeitet, vor allem dann für die Familie problematisch, wenn sie sich in der Nachbarschaft ereignet. Die subjektive Bedeutung der Gewalt stand für die Familie in engem Zusammenhang mit der erlebten Isolierung in der Stadt Grunden, durch die sie sich der bedrohlichen Situation alltäglicher Anfeindungen im Wohnumfeld schutzlos ausgeliefert fühlte. Die zunehmende Integration im Stadtteil und der Aufbau von Netzwerken über den Stadtteil hinaus (z.B. über den Kitabesuch der Kinder, das kulturelle Engagement der Familie bei lokalen Veranstaltungen und die Arbeitsstellen von Herrn und Frau Mbenza) waren wesentlich für die erfolgreiche Kampagne gegen die Abschiebung der Familie und wurde zum zentralen Aspekt für die Bewältigung weiterer rassistischer Anfeindungen. In Bezug auf die lokale Intervention in Niebrau wurde beschrieben (vgl. Kapitel 7), dass handlungsleitend nicht in erster Linie die Frage war, wie den rechtsextremen Versuchen, Einfluss auszubauen, effektiv begegnet werden könne.4 Vielmehr orientierte sich die Praxis an der Frage, wie bzw. wodurch die Handlungsoptionen der potenziell gewaltbetroffenen Jugendlichen begrenzt werden. Durch den Blick auf den sozialräumlichen Kontext neben der konkreten Bedrohungssituation traten weitere Konflikte der Jugendlichen im Gemeinwesen zutage, die zu einer Isolierung der Jugendlichen führten. In den Blick kam auch die Bedeutung des Jugendzentrums als

3

Der Fall wurde in der 3. Gruppendiskussion geschildert (Teamdis3_721-782). Ergänzend habe ich die Fallakte eingesehen, um den Beratungsverlauf nachvollziehen zu können, der in der Gruppendiskussion angesprochen, aber nicht vollständig ausgeführt wurde.

4

Im Streit um die angemessenen Aktionsformen in Bezug auf rechtsextreme Aufmärsche nahmen die Mitarbeiter_innen der OBS allerdings durchaus Stellung.

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sozialer Raum für die Betroffenen, der durch den lokalen Umgang mit den Konflikten bedroht war. Die Interventionen der OBS richteten sich darauf, Unterstützung für die Anliegen der Jugendlichen zu aktivieren, die Jugendlichen strategisch zu beraten und sie durch die Begleitung zur Anzeigenstellung und durch Interventionen bei der Polizei in der Wahrnehmung rechtsstaatlicher Mittel zu unterstützen. Ein solcher Bezug auf den Sozialraum kann – wie von Bitzan (2013) als Perspektive vorgeschlagen und im Kapitel 3 ausgeführt – als lebensweltorientierter Bezug auf das Gemeinwesen interpretiert werden, der, ausgehend von den Problemstellungen der Adressat_innen, versucht zu erschließen, wie die Handlungsmöglichkeiten der (potenziell) Gewaltbetroffenen durch die Qualität des Sozialraumes begrenzt sind und welche Möglichkeiten im Sozialraum verstellt, aber prinzipiell gegeben sind. Von der Lebenswelt auszugehen beinhaltet hier, die konkreten Macht- und Interessenskonstellationen zu erschließen, die in Bezug auf den Umgang mit der Gewalt „die sozialräumlichen Handlungsoptionen der NutzerInnen behindern oder verunmöglichen.“ (Kessl/Reutlinger 2013: 130). Das beinhaltet – und das wurde sowohl in Bezug auf Niebrau als auch auf die Familie Mbenza in Grunden deutlich –, dass der Horizont der Intervention über territoriale Dimensionen des Gemeinwesens hinausgeht. So wird in beiden Fällen die Polizei als funktionale Instanz zur Gewährleistung von Schutz und Strafverfolgung angesprochen, die allerdings in Niebrau ihren Auftrag – der Beschreibung der Berater_innen folgend – in ihrer konkreten lokalen Praxis nur unzureichend einlöste. Mit dem Ziel, die Situation des Jugendzentrums im Gemeinwesen in Niebrau zu verbessern und der befürchteten fortschreitenden Marginalisierung der Jugendlichen in der Kleinstadt entgegenzuwirken, wurden bewusst auch überregionale Netzwerke und Akteur_innen als mögliche Bündnispartner_innen angesprochen. Eine lebensweltliche Perspektive auf das Gemeinwesen findet sich auch in vielen weiteren Beispielen der von den Berater_innen geschilderten Praxis. So auch im oben geschilderten Fall des Imbissbetreibers Akgün. Hinter der von der OBS initiierten Spendenkampagne stand nicht nur das oben beschriebene politische Ziel, eine Verdrängung durch rechte Gewalt nicht zuzulassen. Mindestens ebenso wichtig war als handlungsleitendes Motiv das Anliegen des Betroffenen, den Imbiss wiederaufzubauen, um seine ökonomische Existenz zu sichern. Nach dem erfolgten Wiederaufbau des Imbisses, so schildern die Berater_innen, erkrankte Herr Akgün in Folge des Angriffs und entschloss sich, aus der Stadt wegzuziehen. Er überlegte zunächst, den Imbiss von einem Angestellten weiterführen zu lassen und beschloss schließlich – auf Anraten seines behandelnden Arztes – gar nicht mehr im gastronomischen Bereich tätig zu sein, sondern sich beruflich umzuorientieren. Die OBS war für Herrn Akgün wesentliche Ansprechpartner_in in diesem Entscheidungsprozess und bei den dazugehörigen organisatorischen Fragen. „Kevin: Wir haben uns öfter getroffen und beraten, was er machen will, ob er den Imbiss verkaufen will. Das hat er sich aber alles nicht getraut, weil er Sorge hatte, dass das in Schönberg

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bekannt wird. Er hatte Angst, dass das Bild entsteht, dass er sich an dem mit Hilfe der Stadt neu aufgebauten Imbiss bereichern würde. Die soziale Ächtung, die er eh schon erfahren hat, nach dem Motto ‚für den Ausländer macht ihr alles, aber für uns Deutsche nicht‘, das hat ihn alles sehr, sehr stark gekränkt und da wollte er nicht Öl ins Feuer werfen. Er hat dann Ende letzten Jahres beschlossen, dass er von dem ganzen blöden Imbiss nichts mehr wissen will. Er will ihn einfach nur loswerden und hat sich dazu überlegt, dass er der Stadt den Imbiss eben schenken will. Er hat mir gesagt, er will sich darum nicht alleine kümmern, er kann das nicht und braucht die Unterstützung von der OBS, um das alles für sich abzuschließen.“ (Teamdis3_734-744)

Währenddessen schrieb die Stadtverwaltung Briefe an Herrn Akgün, dass er den Imbiss weder vermieten noch verkaufen dürfe, da er durch die Spenden nun der Stadt gehöre. Aufgrund von Unregelmäßigkeiten in der Abrechnung öffentlicher Mittel wurde – unabhängig vom hier interessierenden Fall – ein Gutachten erstellt, aus welchem u.a. hervorging, dass diese Eigentumsinterpretation der Stadtverwaltung nicht haltbar war. Herr Akgün blieb allerdings resigniert dabei, den Imbiss der Stadt überlassen zu wollen. Deutlich wird in dieser Praxisbeschreibung, dass für das auf den Sozialraum bezogene Handeln der OBS die jeweils individuellen Interessen der Ratsuchenden im Vordergrund stehen – und dabei durchaus in Konflikt mit der politischen Zielsetzung geraten können. So beschreibt der Berater Kevin, dass er gerne den aus seiner Sicht empörenden Umgang von Vertreter_innen der Stadtverwaltung mit Herrn Akgün im Gemeinwesen weiter thematisiert und bearbeitet hätte. „Kevin: […] Wir hatten verschiedene Sachen überlegt: Ich hätte sehr gerne mehr gemacht und das im Ort thematisiert. [...] Da hätte ich liebend gerne etwas getan. Liebend gerne hätte ich die Leute, die damals involviert waren, angesprochen, um zu versuchen, da was in Bewegung zu setzen. Da hätte es auch Ansatzpunkte gegeben. Aber Herr Akgün will es nicht. Er sagt, er findet das schon alles richtig oder weiß, dass es richtig ist, aber er hat die Kraft nicht dazu. Ihm sind die Hände gebunden – mir sind die Hände gebunden, könnte man sagen.“ (Teamdis3_916921)

Die realisierte Unterstützung Herrn Akgüns in der Vertretung seiner Interessen gegenüber kommunalen Instanzen definiert der Berater Kevin allerdings explizit nicht als lokale Intervention. Um als solche verstanden zu werden, müsste es um mehr gehen als „einen Einzelfall, hier Herr[n] Akgün, in Bezug auf das Behördenhandeln zu begleiten“ (Teamdis3_778-779), es müssten langfristige Veränderungsprozesse angestoßen werden. Auch im Fall der Familie Al-Shami (vgl. Kapitel 8.2.) schilderten die Berater_innen verschiedene Aktivitäten, die, ausgehend von der Problemstellung der Familie, auf den Sozialraum ausgerichtet waren. So führten die Berater_innen zahlreiche Ge-

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spräche mit Vertrer_innnen (potenzieller) Hilfestrukturen, wie den Sozialarbeiter_innen in der Flüchtlingsunterkunft, der lokalen Flüchtlingsberatungsstelle, den Lehrer_innen und dem Fußballtrainer des betroffenen Jungen. Zudem bemühten sich die Berater_innen intensiv um eine soziale Einbindung insbesondere der Kinder der Familie. Geplant war auch eine Intervention an der Schule der Kinder, mit der die von den Kindern erfahrene Diskriminierung thematisiert werden sollte. Nachdem der für die Familie vordringliche Umzug in eine größere Stadt erstaunlich schnell bewilligt wurde, verfolgten die Berater_innen eine Intervention an der ehemaligen Schule nicht weiter, sondern bemühten sich am neuen Wohnort um die Aktivierung von Unterstützungsmöglichkeiten und unterstützten die Familie, wie in Kapitel 11 geschildert, auch in der Bewältigung auftauchender alltagsweltlicher Problemstellungen. Die Alltagsbewältigung erschien den Berater_innen so fordernd, dass die Intervention in die sozialräumlichen Rahmenbedingungen über den Einzelfall hinaus nach dem Wegzug der Familie in den Hintergrund rückte. In Neustadt (vgl. Kapitel 8.2.) stand schließlich für die Berater_innen der Erhalt des Jugendtreffs und damit eine über den Einzelfall hinausweisende Zielsetzung im Vordergrund der Intervention. Hier kann die fehlende lebensweltliche Anbindung als möglicher Grund für das Scheitern der lokalen Intervention gesehen werden. Die von den Berater_innen gesehene Bedeutung des Jugendtreffs entsprach nicht dem Relevanzsystem der jugendlichen Adressat_innen. „Kevin: Aber ist dann der Leidensdruck bei den Leuten nicht groß genug? Ben: Das ist eben die These. Also es gibt so eine Handvoll, 9-10 Leute, die sagen: ‚Ja wir wollen schon, dass es diesen Jugendclub gibt und den Verein gibt‘, es ist aber für niemanden das totale Herzensthema gewesen, außer für einen, den die anderen aber nervig finden. Und zusätzlich gibt es – wir haben es noch nicht richtig durchschaut – es gibt so ein paar NutzerInnen. Aber das bleibt so unbestimmt. Offensichtlich kommen ein paar Leute, wenn der Club aufhat, und trinken Bier. Aber es fällt auch keinem besonders unangenehm auf, wenn da lange 5

Zeit das Siegel vor ist. Kevin: Das heißt, die Leute vor Ort haben nicht den Handlungsdruck, den ihr eigentlich seht. Das geht auseinander, oder? Ben: Sobald man sie fragt, sagen sie ja. Aber es hat niemand einen existenziellen Druck.“ (Teamdis3_1424-1437)

5

Nach einem Brandanschlag wurde der Club für einige Wochen von der Polizei gesperrt.

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11.1.3 Exemplarische Fälle als Mittel lokaler Mobilisierung Als weitere Perspektive auf den Sozialraum in der Praxis der OBS findet sich die Idee, dass Fälle rechter und rassistischer Gewalt zu einer über den Einzelfall hinausreichenden Mobilisierung führen können. Fälle rechter und rassistischer Gewalt werden hier als Vehikel gesehen, die ein breites Engagement gegen Rechtsextremismus und Rassismus befördern können. So wurde im bereits in den Kapiteln 9 und 10 geschilderten Fall des Studenten Marvin der Angriff in der Stadt im Kontext einer Vielzahl von rassistischen Gewaltfällen innerhalb weniger Wochen wahrgenommen. Ein Bündnis, welches von der lokalen Antifa initiiert wurde und an dem sich Studierende der Hochschule sowie das zivilgesellschaftliche Bündnis ‚Runder Tisch Stadt M‘6 beteiligten, begann, mit Unterstützung der OBS, eine Demonstration ‚Gegen Rassismus und rechte Gewalt‘ zu organisieren. Im Kontext des geschilderten Angriffs auf Juliane (vgl. Kapitel 8.3.2) und ihre Freund_innen im Park entstand eine Initiative, die sich für die Schaffung eines alternativen Jugendzentrums einsetzte, damit alternative Jugendliche auf einen vor rechten Angriffen geschützten Raum zurückgreifen können. Auch in Niebrau (vgl. Kapitel 7) ist diese Dimension enthalten. So nutzten die Jugendlichen aus dem Pferdestall die rechten Angriffe, entsprechend ihrem antifaschistischen Selbstverständnis, als politisches Mittel. Die OBS berieten die Jugendlichen dahingehend, wie sie ihre politischen Ziele verfolgen und die Angriffe dabei nutzen könnten, ohne durch die eigene Öffentlichkeitsarbeit die direkt Betroffenen in problematische Positionen zu bringen. Die Möglichkeit, dass sich aus der kollektiven Dimension rechter und rassistischer Gewalt das Potenzial kollektiven Engagements gegen Rechtsextremismus und Rassismus ergibt, wurde in Kapitel 10 formuliert. Auch Perry (2015) kommt auf Grundlage von Interviews mit Betroffenen in Kanada zu dem Ergebnis, dass hate crimes nicht nur zu Isolation und Rückzug der Betroffenen führen, sondern auch das Potenzial haben, kollektive Mobilisierungs- und Veränderungsprozesse hervorzubringen: „Rather than allowing their victimization to silence them, many individuals and communities react by mobilizing themselves and their communities to counteract hate and bias crimes.“ (Ebd.: 56) Die Berater_innen schildern allerdings die Vorstellung, dass sich aus Fällen rechter oder rassistischer Gewalt Selbstorganisationsprozesse der Betroffenen in ihren Communities ergeben, als implizite Idealvorstellung lokaler Intervention, die in konzeptionellen Texten7 formuliert wurde, tatsächlich jedoch nur in wenigen Fällen realisiert wird.

6

Bestehend aus Vertreter_innen von Parteien, Kirchen, Gewerkschaften, der Stadtverwal-

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Z.B. bei Wendel (2001).

tung, der Polizei, der offenen Jugendarbeit sowie einzelnen Engagierten.

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„Kevin: Es war vielleicht auch eher ein Wunsch, also eine Theorie, die wir damals aufgestellt haben, die sich aber an der Praxis bricht, oder stärker bricht, als wir angenommen haben. Das ist eher eine Beschreibung eines Idealzustandes, der aber nicht so einzuhalten ist.“ (Teamdis3_1210-1212)

Die Zielvorstellung, dass ausgehend von Gewaltvorfällen eine politische Organisierung und Artikulation (potenziell) Betroffener über den Einzelfall hinaus gelingt, erfüllt sich nur in wenigen Fällen und hat sich in den meisten Konstellationen als unrealistisches Ziel und Überforderung erwiesen, so die Berater_innen. Dennoch halten die Berater_innen daran fest, dass manche Fälle, „die besonders skandalös, besonders spektakulär, besonders aufgeklärt, besonders durchschaubar, besonders klar sind oder uns besonders wichtig scheinen“ (Teamdis3_22-24) geeignet sind, um im lokalen Kontext Rechtsextremismus zu thematisieren und als Anlass zur Mobilisierung zivilgesellschaftlichen Engagements zu nutzen. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass der Sozialraum in der Praxis der OBS in unterschiedlicher Weise thematisiert und im Sinne der Praxis der lokalen Intervention bearbeitet wird. Die Praxis richtet sich insbesondere auf Versuche, die Betroffenen in lokale Strukturen einzubinden, konkrete Unterstützung für Anliegen zu organisieren, aber auch die Vertretung der Interessen der Betroffenen gegenüber anderen lokalen Akteur_innen zu unterstützen. Die beschriebenen stärker politisch begründeten Zielsetzungen lokaler Intervention sind praktisch dem lebensweltorientierten Bezug nachgeordnet. So betonen die Berater_innen als wesentliches Kriterium lokaler Intervention, sich unbedingt an den Interessen und Wünschen der Betroffenen zu orientieren, und im Zweifel auch in Fällen, die aus politischer Perspektive eine Intervention richtig erscheinen lassen, diese zu unterlassen, wenn die konkreten Interessen der Betroffenen damit verletzt werden könnten. Möglicherweise kommen lokale Interventionen auch praktisch an Grenzen, wenn die Interventionsziele für die Adressat_innen in ihrer Lebenswelt nicht die entsprechende Relevanz haben.

11.2 AKTIVIERUNG DES LOKALEN

DER B ETROFFENEN UND U MFELDS

In der zu Anfang des Kapitels dargestellten Konzeption lokaler Intervention als Einbeziehung des Gemeinwesens in die Problembearbeitung werden unterschiedliche Ebenen der Intervention benannt. So zielt lokale Intervention auf eine Veränderung der Diskurse und Praxen im lokalen Umgang mit rechter und rassistischer Gewalt

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sowie auf die – von den Praktiker_innen als Empowerment bezeichnete8 – Förderung von Partizipation der Betroffenen. Die praktische Realisierung der verschiedenen Ebenen ist, so wird in den Schilderungen der Praktiker_innen deutlich, mit Schwierigkeiten verbunden. 11.2.1 Widersprüche der Aktivierung der Betroffenen Die Selbstorganisation potenziell Betroffener zu fördern und Betroffene darin zu unterstützen, ihre Interessen und Anliegen im Gemeinwesen zu artikulieren, wird als Empowerment angesprochen, womit, so die Berater_innen, auf die Initiierung von Veränderungsprozessen im Gemeinwesen gezielt wird. In der lokalen ‚Rechtsextremismusdiskussion‘, in der, wie Schellenberg (2014, vgl. Kapitel 2) analysiert, um die Deutungen rechter und rassistischer Angriffe gerungen wird, soll die Perspektive der Gewaltbetroffenen Berücksichtigung finden. Empowerment als Partizipation der Betroffenen am öffentlichen Diskurs soll hier eine Verschiebung der Kräfteverhältnisse im Gemeinwesen bewirken. Als eine weitere Zielsetzung wird die Ebene des psychologischen Empowerments, unabhängig von strukturellen Veränderungen im Gemeinwesen, angesprochen: „Kevin: Es ist ja aber auch immer so eine Idee damit verbunden, Leute aus einer passiven Opferrolle herauszuholen. Leute aus einer negativen Zuschreibung und auch Selbstzuschreibung, ‚Opfer‘ zu sein, was ja schlecht ist. Und eher zu versuchen, die eigene Rolle zu drehen. Und sich als aktiver Akteur, als Individuum zu bewegen, der was zu sagen hat. Über die Opfererfahrung hinaus.“ (Teamdis3_1239-1243)

Erneute Ohnmachtserfahrung durch Beteiligung als Dilemma der Empowerment-Orientierung Die Berater_innen beschreiben allerdings die Versuche, die Betroffenen zu ermutigen und sie zu unterstützen, im Gemeinwesen – zum Beispiel bei ‚runden Tischen‘, in Institutionen wie der Schule oder gegenüber Behörden wie der Polizei – aktiv ihre Interessen zu vertreten, als praktisch schwierig. Bei solchen Gesprächen entstehe oft eine Situation, in der die Betroffenen mit Paternalismus und („positivem“) Rassismus konfrontiert seien und sie erneut die Erfahrung machen, dass ihre Sichtweisen und Interessen im Gemeinwesen nur wenig

8

Deutlich wird immer wieder die Schwammigkeit des Begriffs, so dass auch in den Gruppendiskussionen keine einheitliche Verwendung zu erreichen war. Es wird allerdings die Tendenz deutlich, den Begriff entsprechend der im Kapitel 4 benannten konzeptionellen Schwerpunktsetzung auf die aktive Beteiligung Betroffener an der Gestaltung von Veränderungsprozessen zu verwenden und die Ebene gesellschaftlicher Veränderungsperspektiven unbestimmt zu lassen.

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Gehör finden. Statt als Empowerment erleben die Betroffenen gegebenenfalls die Situation als erneute Demütigung, und das Gefühl der eigenen Marginalisierung vertieft sich, so die Berater_innen. Um solchen erneuten Ohnmachtserfahrungen durch die proklamierte gleichberechtigte Partizipation vorzubeugen, gehört die Vorbereitung, Begleitung und Unterstützung von Betroffenen zu Gesprächen, wie im Fall Niebrau geschildert (vgl. Kapitel 7), zu den wesentlichen Angeboten der OBS. Dennoch entstehe bei solchen Gesprächen oft eine Situation, in der die Betroffenen eine erneute Ohnmachtserfahrung machen, weil es – trotz der Unterstützung oder Vermittlung der OBS – nicht gelinge, die eigenen Interessen und Sichtweisen so zu vertreten, dass sie von der Gegenseite als gleichberechtigte Gesprächspartner_innen wahrgenommen werden.9 Die Beteiligung und die Unterstützung der Betroffenen in der Vertretung ihrer Sichtweisen und Interessen bleiben, so die Berater_innen, ambivalent. So beschreibt der Berater Kevin die nach dem Brandanschlag gemeinsam mit Herrn Akgün geführten Gespräche mit kommunalen Behördenverteter_innen und engagierten zivilgesellschaftlichen Akteur_innen rückblickend als unangenehm: Anliegen der OBS sei es gewesen, Herrn Akgün darin zu unterstützen, seinen Sichtweisen und Anliegen selbst Gehör zu verschaffen. Aber bei den entsprechenden Stellen – im gegründeten Bürgerbündnis oder im Kontakt mit Behörden – seien u.a. die sprachlichen Hürden so hoch gewesen, dass eine Auseinandersetzung auf Augenhöhe praktisch nicht realisiert worden sei. „Kevin: Ich hatte immer so einen ganz schalen Geschmack im Mund, wenn Herr Akgün mit da war, weil die sprachliche Hürde, überhaupt auf der gleichen Ebene mitdiskutieren zu können, viel zu hoch war. Da gab es eine totale Diskrepanz. Und da gab es eine Interessendiskrepanz und da habe ich schon immer gedacht, dass ich froh bin, wenn ich alleine bei den Treffen war und Herr Akgün nicht dabei, weil mir das immer total unangenehm war! Und so geht es mir auch jetzt, dass Herr Akgün ja immer will, dass ich mitgehe, wenn er mit der Stadt verhandelt, mit dem Bürgermeister oder der Stadtverwaltung. Und die reden dann mit mir, die reden nicht mit Herrn Akgün. Ihm ist das zwar unangenehm, aber es entlastet ihn auch. Und wir sind Fachleute, mit denen man gleichberechtigt redet und dann ist noch das kleine Anhängsel Opfer da, der nicht in der Lage ist, sich zu artikulieren. Und das hast du bei Punks auch – vielleicht nicht so sehr bei Gymnasiasten – und das ist, finde ich, echt ein richtiges Problem, zumindest in Hinblick auf Empowerment ist das ein Problem! Wir wollen Betroffene stärken, dass sie ihre Probleme selbst artikulieren können, in der Kommune. Aber wie wir es dann machen? Ist da nicht eine Grenze?“ (Teamdis3_485-497)

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So ist es für eine Schülerin, die in der Schule Rassismuserfahrungen macht und insbesondere die Reaktionen der Klassenlehrerin auf rassistische Beleidigungen in der Klasse thematisieren will, sehr schwierig, ihre Anliegen allein z.B. gegenüber der Schulleiterin und der Lehrerin zu vertreten.

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Hier wird als Ambivalenz deutlich, dass das Bemühen, den Interessen der Betroffenen im Gemeinwesen Geltung zu verschaffen, zugleich zu einer Reproduktion der Machtverhältnisse beitragen kann. Die Berater_innen beschreiben, dass sie, aufgrund der beschriebenen Schwierigkeiten, mit der Zeit zurückhaltender geworden sind, Betroffene zu ermutigen, ihre Erfahrung und Anliegen bei zivilgesellschaftlichen Bündnissen selbst einzubringen. Die Berater_innen sehen diese Entwicklung einerseits als Konsequenz der stärkeren Berücksichtigung der Auswirkungen auf die Betroffenen in bestehenden Kräfteverhältnissen. Andererseits problematisieren sie, dass sie möglicherweise gegebene Spielräume nicht nutzen, die es den Betroffenen ermöglichen würden, ihre Interessen und Sichtweisen zu formulieren, ohne erneute Ohnmachtserfahrungen zu machen. „Kevin: Trotzdem würde ich es oft gut finden, wenn wir die Zeit hätten, die Leute besser vorzubereiten, zu so einem Bündnis selber zu gehen und selber ihre Situation darzustellen. Ich glaube, da sind wir manchmal nachlässig; oder im Arbeitsalltag, wo das manchmal alles so hoppladihopp geht, ist das manchmal gar nicht so genau einbaubar. Und klar ist das so: Welchen kleinen Antifa oder Punk aus [Stadt] möchtest du zum Runden Tisch mitschleppen, das ist ja eine Zumutung. Und da könnte man die Städtenamen austauschen. Sich so einer Situation zu stellen, da gehört ja auch ganz schön viel Selbstbewusstsein zu und ganz schönes Standing. Um nicht das Gefühl zu haben, wieder aufzulaufen und wieder nicht ernst genommen zu werden. D.h., eigentlich müssen wir ganz schön viel Vorarbeit leisten, damit man das mit gutem Gewissen machen kann, und ich glaube auch, das funktioniert oft nicht. Also, weil dann schnell was gemacht werden muss und weil einfach ein Handlungsbedarf da ist.“ (Teamdis3_582-592)

Die als implizite Idealvorstellung thematisierte Zielsetzung, dass Betroffene selbst aktiv werden und ‚aus der Opferrolle herauskommen‘, wird von den Berater_innen auch als grundsätzlich problematisch diskutiert, wenn die Zielsetzung der Mobilisierung der Betroffenen von den realen Einflussmöglichkeiten abstrahiert. Die Berater_innen problematisieren, dass mit der Zielstellung Empowerment die Gefahr verbunden ist, die Verantwortung für die Veränderung der Situation, unter der die Betroffenen leiden, auf diese zu übertragen und damit das Problem zu verschieben. Mit dieser Problematisierung greifen sie die in Kapitel 3 ausgeführte Kritik an der Anknüpfungsfähigkeit der Empowerment-Perspektive an neoliberale Aktivierungs- und Eigenverantwortungsdiskurse auf. „Ben: Ich sehe dieses theoretische Dilemma: Man kann die jetzt nicht auch noch zuständig machen. Nur, weil ich Opfer geworden bin, bin ich doch nicht dafür zuständig, das Naziproblem zu lösen. Nicht mehr als andere und vielleicht sogar weniger. [...] Ich finde, die Fragestellung ist eigentlich nicht, warum wir mit unserem Anliegen so oft scheitern, Betroffene einzubeziehen. Ist das ein Scheitern, wenn man das nicht schafft, die zu aktivieren, oder ist es nicht von vornherein ein unmögliches Ansinnen, die dafür aktivieren zu wollen? [...] Ich finde, ein

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Imbissbesitzer, irgendwo auf dem Parkplatz vor Kaufland, der nicht in irgendeiner Community eingebunden ist, der hat auch das Recht, einfach Opfer zu sein, und der ist auch einfach Opfer.“ (Teamdis3_1220-1247)

Mit dieser eindeutigen Auflösung des Empowerment-Konzeptes werden allerdings möglicherweise bestehende Handlungsspielräume, die Partizipation von Betroffenen zu ermöglichen, nicht ausgeschöpft.10 Subjektive Gewaltfolgen und politische Veränderungsperspektive Eine zentrale Erfahrung aus feministischen Frauenhäusern ist, wie in Kapitel 3 ausgeführt, dass es nicht eindeutig ist, ob die von Gewalt betroffenen Frauen die politische Deutung der Fachkräfte für ihre persönliche Lage teilen oder übernehmen. Auch in Bezug auf Betroffene rechter und rassistischer Gewalt ist nicht eindeutig, ob und wie sie ihre Gewalterfahrung im Zusammenhang mit politischen Verhältnissen deuten. Ebenso wenig ist klar, ob die politische Artikulation im Gemeinwesen als Handlungsoption im subjektiven Möglichkeitsraum der Betroffenen, also vor dem Hintergrund ihrer Problemdeutungen, ihrer gesellschaftlichen Position und Lebenslage sowie vor dem Hintergrund ihrer biografischen Erfahrungen, subjektiv funktional ist. Die Berater_innen schildern, dass die Mehrzahl der Ratsuchenden kein Interesse an einer aktiven Beteiligung an Interventionen ins Gemeinwesen mit einer politischen Veränderungsperspektive hat. Dass ein aktiver politischer Umgang mit der Gewalt von den Ratsuchenden als Handlungsoption aufgeworfen wird, sei selten. Als eine mögliche Begründung wird genannt, dass es in Beratungssettings unüblich ist, politische Veränderungsperspektiven zu formulieren, die Betroffenen in vielen Fällen also nicht wissen können, dass die Berater_innen der OBS auch auf der Ebene politischer Artikulation Unterstützung anbieten. Aber auch von den Berater_innen vorgeschlagene politische Deutungsangebote und Handlungsoptionen werden von den Betroffenen in sehr unterschiedlicher Weise aufgegriffen. Während von einem Teil der Adressat_innen – genannt werden hier vorrangig linke Aktivist_innen – das politische Profil der OBS, die politische Deutung und Thematisierung der Gewalt im Gemeinwesen positiv aufgegriffen werde, spiele dies für andere Betroffenen keine Rolle: „Uta: Ich glaube, das ist bei linken Antifas total zentral, dass die uns als eine Organisation ansehen, die mit ihnen zusammen bestimmte Sachen so sieht und Kritik an bestimmten Formen

10 Auch Solomon (1987: 87-88) nennt als eine Ebene empowernder Praxis, die Interessen der Klient_innen gegenüber Institutionen zu vertreten und so für die Betroffenen zu handeln. Sie hebt hervor, dass solche Interventionen nach Möglichkeit so zu gestalten sind, dass die Klienten durch die unterstützte Intervention Strategien lernen, die sie in der Interaktion mit ähnlichen Institutionen nutzen können.

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des kommunalen Umgangs mit Rechtsextremismus teilt. […] In [Stadt] hatte ich auf jeden Fall zwei Fälle, die nicht angezeigt wurden und die Betroffenen sind nur zu uns gekommen, damit das öffentlich wird, damit das in die Chronologie kommt. Die hatten auch gar kein Interesse an irgendeiner Beratung […] Manchmal ist es so, dass manchmal die Leute nicht wollen, dass ihr Fall öffentlich wird, oft es aber auch sehr explizit wollen. Also zum Beispiel bei Migrant_innen, bei denen der Angriff eher zufällig ist, ich meine, die keine Angst haben, dass sie dem Täter jeden Tag über den Weg laufen, sondern es ist z.B. in der Tram passiert, und sie sind erzürnt darüber, dass die Leute nicht eingegriffen haben. Die sagen dann: ‚Ja, macht das öffentlich, das ist gut, das führt dann zu einer Sensibilisierung.‘“ (Teamdis1_503-514)

In der Regel führt nicht die Gewalterfahrung zum Engagement. Stattdessen wird, wie im beschriebenen Fall in Niebrau, der Vorfall rechter oder rassistischer Gewalt in das zunächst unabhängig von der Gewalttat bestehende Engagement eingebaut. So schildern die Berater_innen in Bezug auf einen weiteren Fall: „Kevin: Da [in Stadt A, GK] gibt es sozusagen politische Zusammenhänge, die an dem Thema Rechtsextremismus arbeiten, sich dazu verhalten und darin agieren. Da sind einzelne Gewaltfälle so Leuchttürme drin, mit denen man politisch arbeitet. GK: Die Motivation kommt also nicht über die Opfererfahrung, sondern... Kevin: Nee, die Motivation ist eh da, sie sind politische Akteure. Und dann wird das Thema Gewalt eben auch thematisiert. Genau, wie die rechten Strukturen thematisiert werden, wird auch das Thema Gewalt als besonders zu ächtende Form exemplarisch herangezogen. Wenn Leute in irgendeiner Gruppe, Community, einbezogen sind, die sowieso ein politisches Interesse an dem großen Thema haben und dazu etwas machen, ist es viel leichter, als wenn man jemanden hat, der isoliert und vereinzelt ist, oder einfach gar kein politisches Interesse hat.“ (Teamdis3_224-228)

Ob die Handlungsoption lokaler Intervention also aufgegriffen wird, steht, so die Berater_innen, maßgeblich im Zusammenhang mit den von den Betroffenen (oder indirekt Betroffenen) hergestellten gesellschaftstheoretischen Bezügen bzw. ihren unabhängig von der Gewalterfahrung bestehenden politischen Perspektiven. Als weitere Aspekte sprechen die Berater_innen die Eingebundenheit in soziale Netzwerke, die eine politische Artikulation realistisch macht, sowie ihre konkrete soziale Lage vor Ort an: Ob für Betroffene rechter und rassistischer Gewalt aus der Opfererfahrung heraus subjektiv funktional wird, mit einer politischen Veränderungsperspektive selbst im Gemeinwesen aktiv zu werden, hängt, so die Berater_innen, maßgeblich davon ab, inwieweit sie sich im Ort sicher und etabliert fühlen, in der Lage sind, andere Leute strategisch anzusprechen und auf Unterstützung im Gemeinwesen zurückgreifen zu können. Konkretisiert wurde das am Beispiel zweier migrantischer Imbissbetreiber, von denen einer ein gut laufendes Geschäft und eine anerkannte Po-

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sition im Ort innehat, während der andere in einer abgelegenen Kleinstadt einen Imbisswagen auf dem Parkplatz eines Supermarktes betreibt und sozial nicht eingebunden ist. „Omar: Wenn es da keine anderen Betroffenen gibt, sind die ja auch schlichtweg viel zu alleine. Anders herum wieder: Herr Ali, der ein sehr gut gehendes, großes Restaurant betrieben hat und wahrgenommen wurde vor Ort als ein wirtschaftlicher Akteur, der selbst so ein Standing für sich beansprucht hat, der hat ja dann auch später selbst agiert, obwohl er relativ allein in der Stadt ist. Das hat eher etwas mit den Gegebenheiten zu tun. Wenn welche in eine Struktur eingebunden sind, ist die Wahrscheinlichkeit größer, dass sie selbst einen Part übernehmen. […] Herr Ali hat die Kompetenz auf der sprachlichen Ebene und er hatte das Gefühl: Mir kann auch niemand was. Ich muss nur einen Anruf tätigen und dann kommen Leute, die mich unterstützen. Das ist ein relevanter Unterschied zu einem einsamen Imbissbetreiber, der Angst hat, dass er nur den Mund aufmachen muss und dann wird er platt gemacht.“ (Teamdis3_12521288)

Die Berater_innen geben zu bedenken, dass, möglicherweise entgegen der ursprünglichen konzeptionellen Überlegungen der OBS, die Gewalterfahrung ein denkbar ungeeigneter Einstieg für politisches Engagement ist, da Betroffene sich eher zurückziehen und besonders verletzlich sind. Die Angst, weitere Angriffe auf sich zu ziehen, hindere Betroffene daran, in die Öffentlichkeit zu treten. Gerade für Menschen, die z.B. durch besonders gravierende und/oder wiederholte Gewalterfahrungen und anhaltende Belastungen und Unsicherheiten als traumatisiert gelten können, sei die Einbindung in kooperative Zusammenhänge (mit politischer Zielsetzung) erschwert. So lässt sich auch in den geschilderten Fällen lokaler Interventionen ein tendenzielles Auseinanderfallen einzelfallbezogener Beratung der Betroffenen und der politischen Intervention in das Gemeinwesen feststellen. Dennoch halten die OBS an der Verbindung von Einzelfall und politischer Intervention im Gemeinwesen fest. Daher sollen im Folgenden die möglichen Prämissen-Gründe-Zusammenhänge in Bezug auf die Einbeziehung des Gemeinwesens in die Bearbeitung der Gewalterfahrung differenzierter beschrieben werden. Ich habe in den Fallanalysen (vgl. Kapitel 6 und 7) jeweils ambivalente Bezüge auf den lokalen Kontext der Tat und auf politische Problembearbeitungsstrategien herausgearbeitet. In Niebrau haben die Berater_innen Oliver als Teil der politischaktiven Jugendszene des Ortes angesprochen. In seinen Schilderungen bezieht er sich deutlich auf politische Deutungs- und Bearbeitungsweisen. Er argumentiert, dass es notwendig ist, in der Stadt Niebrau über rechte Gewalt und die Aktivitäten der rechten Szene aufzuklären. Zugleich ist diese Aufklärung mit der Angst verbunden, erneut Gewalt zu erfahren. Diese Angst vor Racheaktionen und erneuter Gewalt lässt sich als durchaus realistische Gefährdungs-Einschätzung begreifen. Zugleich be-

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schreibt Oliver aber auch eine Verselbstständigung der Angst, die wiederum tendenziell in Konflikt mit der politischen Deutung und den daraus abgeleiteten Handlungsoptionen steht. Der Schwerpunkt der Berater_innen lag in diesem Fall auf der gemeinwesenbezogenen Intervention und der – politisch-strategischen – Stärkung der im Jugendzentrum Pferdestall engagierten Jugendlichen. Möglicherweise hätten die Berater_innen in diesem Fall eine noch stärkere Rolle in der individuellen Unterstützung der Bewältigung des Betroffenen Oliver übernehmen können, wie in Kapitel 7 ausgeführt. Auch die Jugendliche Juliane (vgl. Kapitel 8.3.) ist eingebunden in einen Freundeskreis mit links-alternativem und politisch aktivem Selbstverständnis. Der rechte Angriff auf Juliane und ihren Freundeskreis wurde politisch aufgegriffen. So fand wenige Tage nach dem Angriff eine von linken Aktivist_innen aus umliegenden Städten organisierte Demonstration statt. Es entstand zudem eine langfristig arbeitende Initiative, die – als lokale Intervention – von der OBS unterstützt und beraten wurde und die einen Jugendraum als Treffpunkt für links-alternative Jugendliche in der Stadt forderte. Juliane bezieht sich im Interview deutlich positiv auf die Demonstration und die Initiative, an der sie sich aber nicht selbst beteiligt hat. Sie schildert, dass für sie nach der Gewalterfahrung die Bewältigung ihres Alltags und die aus der Gewalterfahrung resultierende massive psychische Belastung im Vordergrund stand. Sie betont im Interview die unterstützende Funktion der OBS, die sich an ihren persönlichen Bedürfnissen orientierte. Zugleich hebt sie aber die Bedeutung der politischen Thematisierung im Gemeinwesen hervor. Sie beklagt an mehreren Stellen im Interview einen verharmlosenden und zu wenig engagierten Umgang in der Stadt mit rechter und rassistischer Gewalt. Vor diesem Hintergrund bezieht sie sich positiv auf die Medienberichterstattung zur Gewalttat und dem Gerichtsverfahren. „Juliane: Das fand ich gut, das fand ich richtig gut. Ja, auf jeden Fall. Weil Medien und Presse sprechen die breite Masse an, die liest’s, die hört’s, die schaut’s. Gerade auch bei so einem Überfall fand ich auch die Pressemitteilungen richtig gut. Die waren knallhart. Und da hat mal nichts für Neonazis gesprochen, sonst wird es ja auch öfter auch verharmlost, aber da waren es knallharte Aussagen und das fand ich schon gut. Für die Bevölkerung einfach.“ (Juliane_485489)

Selbst mit Pressevertreter_innen über ihren Fall sprechen wollte Juliane aber nicht, wie sie im Zusammenhang mit der Gerichtsverhandlung schildert: „Juliane: Das fand ich auch ganz gut, dass die [Journalist_innen, GK] uns in Ruhe gelassen haben. Aber ich glaube, da hat auch die OBS gefragt, wie wir das handhaben wollen. Sie haben uns da immer freie Entscheidung gelassen, und ich denke aber, dass die OBS da die Presse bedient hat.“ (Juliane_479-482)

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Zur Zeit des Interviews mehrere Jahre nach der Tat war Juliane aktiv in antirassistischen Initiativen in der Stadt engagiert. Sie begründete dieses Engagement mit der eigenen Erfahrung. „Juliane: Und so im Nachhinein gibt der Überfall schon Kraft. Also einfach, weil ich jetzt erst recht etwas bewegen will. Weil ich jetzt weiß, wie es sich anfühlt, und ich möchte nicht, dass das anders denkenden Menschen, Migranten, Flüchtlingen auch so geht. Weil man es selber erlebt hat und da will ich jetzt halt dagegen kämpfen. GK: Nur, das ist nach einem längeren Prozess der Auseinandersetzung, oder? Juliane: Ja, das auf jeden Fall! Also erst einmal so Angst, ja, wann kann es wieder passieren. Aber nachdem das dann weg war…“ (Juliane_439-447)

In ähnlicher Weise beschreibt der Student Marvin ein Spannungsfeld zwischen seiner politischen Perspektive auf die Gewalt und seinen individuellen Bedürfnissen im Bewältigungsprozess. Marvin deutet die erfahrene Gewalt sowie die beleidigende Ansprache durch einen Polizeibeamten politisch als Ausdruck von Rassismus, mit dem er in verschiedenen Facetten alltäglich konfrontiert wird. Er benennt das politische Anliegen, dass der alltägliche Rassismus, den er auch bei Polizeibehörden und bei Gericht erlebt hat, im kommunalen Kontext bearbeitet wird, und formuliert die Hoffnung auf eine langfristige Veränderung. Marvin nimmt positiv Bezug auf die politische Resonanz auf den Angriff. Insgesamt war das Medieninteresse groß; eine von der lokalen antifaschistischen Initiative und Studierenden initiierte Demonstration als Reaktion auf diesen und andere Fälle rassistischer Gewalt war gut besucht, und Marvin erfuhr von vielen Seiten Solidaritätsbekundungen. Dies schildert er als wichtige, stärkende Erfahrung. Er beschreibt aber zugleich ein ambivalentes Verhältnis zu der öffentlichen Verhandlung ‚seines Falles‘. So formuliert er einen Unterschied zwischen seinem primären Bedürfnis nach einer individuellen Unterstützung – dabei hebt er insbesondere die juristische Bearbeitung hervor – und dem politischen Aufgreifen des Themas vor dem Hintergrund einer politischen Agenda. Als Beispiel beschreibt Marvin, dass ein Kommilitone seinen Auftritt bei einem lokalen Musikfestival wenige Wochen nach dem Angriff für ein Statement gegen Rassismus und Gewalt nutzen wollte. „Marvin: And he was really like: I am so sorry and such things have to stop, he is from [the town], he is ashamed. And what he was trying to do was that during his performance at [the local event], he talked about such things. Like this: Hey, stop the music, I want to say something. [The town] has to change, a good friend of mine was attacked. And he tried to bring me out. Like: This is the guy who was attacked and this should stop. But I didn’t want that. Because I could see that he was concerned but that was not what I needed at that moment. So I told him: ‚You can talk about it, but I am not going to be there.‘ I could see, that he was helping in his own way, but that was not my principal concern.“ (Marvin_405-412)

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Auch an der Demonstration habe er sich zunächst nicht beteiligen wollen. Das große Medieninteresse habe als belastend erlebt, obwohl er im Interview die Berichterstattung über seinen Fall als grundsätzlich notwendig beschreibt. Nach der Gewalterfahrung war für ihn, so Marvin, eine individuelle Unterstützung vordringlich, die ausschließlich seinen Interessen verpflichtet ist. Er hebt hier die Unterstützung durch die Berater_innen der OBS und durch seine Anwältin hervor. Vor dem Hintergrund der emotionalen Belastung und der Vielzahl von individuellen Problemstellungen in Folge der Gewalterfahrung und im Zusammenhang mit dem Gerichtsverfahren beschreibt er, dass ihn tendenziell überforderte, öffentlich auf ‚seinen‘ Fall angesprochen zu werden. Die zunächst ohne seine Beteiligung stattfindende politische Bearbeitung des Themas – im Sinne der von ihm geteilten Perspektive gegen Rassismus und Gewalt – habe er aber als durchaus stärkend erlebt, wie er an verschiedenen Stellen im Interview betont. Ähnlich wie Juliane begrüßt er explizit eine politische Intervention durch die OBS, z.B. durch das Führen von Pressegesprächen und Interventionen in Polizeibehörden. Und wie Juliane entwickelt Marvin später ein aktives politisches Engagement, welches er als Konsequenz aus der eigenen Erfahrung formuliert, welches aber nicht mehr im Zusammenhang mit der subjektiven Bewältigung der Gewalterfahrung steht. So stellt er sich zu Verfügung, um in der Referendariatsausbildung am Gericht über die Bedeutung rassistischer Gewalt und die Erwartungen Betroffener an Gerichte zu sprechen. Auch Herr Mbenza bezieht, wie in Kapitel 6 herausgearbeitet wurde, das Gemeinwesen aktiv in seine Problemlösung ein. Dies wird von den Berater_innen allerdings zunächst nicht als lokale Intervention wahrgenommen und unterstützt, sondern als individuelle Bewältigungsstrategie gesehen. Die von ihm gewählte Strategie ist vor dem Hintergrund seiner Lage als Asylbewerber in einer kleinen Stadt und den hier für ihn gegebenen Handlungsmöglichkeiten verständlich. Er hat gezielt in den Aufbau von Beziehungen zu Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft investiert und sich im lokalen Kontext Bekanntheit und soziales Ansehen erarbeitet, was ihm eine gewisse soziale Absicherung ermöglichte. Vor diesem Hintergrund nutzte er auch lokale Medien zur Artikulation seiner Anliegen sowohl im Zuge einer Kampagne gegen die Abschiebung seiner Familie als auch im Zusammenhang mit den erfahrenen rassistischen Angriffen. Dabei könnten die positiven (biografischen) Erfahrungen im Zusammenhang der Anti-Abschiebungskampagne dazu geführt haben, dass er in späteren Situationen auf entsprechende Strategien zurückgriff. Die Einbindung in eine Musikgruppe, seine Arbeitsstelle und seine Vernetzung im Stadtteil ist zunächst einmal (auch) als Umgangsstrategie mit der Gewalterfahrung und der grundsätzlichen Unsicherheit seiner Lebenslage zu verstehen. Er formuliert aber durchaus auch die Perspektive, dadurch aus seiner Position heraus zu einer Veränderung des rassistischen Klimas beizutragen. Die subjektiven Wege der Verarbeitung der Gewalt, so lässt sich zusammenfassen, stehen im Kontrast zu den politisch-strategischen Überlegungen einer lokalen

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Intervention. Der Unterstützungsbedarf der Betroffenen nach einer Gewalterfahrung unterscheidet sich zum Teil erheblich von der politisch-strategischen Bearbeitung desselben Falles. Eine deutliche Trennung zwischen der Initiierung und Unterstützung lokaler politischer Mobilisierung unter Bezug auf die Gewalt und der individuellen Unterstützung der Betroffenen kann hier sinnvoll sein. Zugleich stellen in den skizzierten Beispielen die Betroffenen selbst Bezüge zu der politischen Bearbeitungsebene her und formulieren die Perspektive gesellschaftlicher Veränderung. Dies muss nicht für alle Betroffenen gleichermaßen gelten. So kann die Bereitschaft der Betroffenen, sich für ein Interview im Rahmen meines Forschungsprojekts zur Verfügung zu stellen, schon ein Ausdruck einer politischen Perspektive auf die eigene Erfahrung sein.11 Die Berater_innen formulierten, dass es ein Sonderfall ist, wenn Betroffene an lokaler Intervention und vor allem an einer eigenen aktiven Beteiligung interessiert sind. Lokale Interventionen sind eine attraktive Handlungsoption, so der spontan von den Berater_innen geäußerte Begründungszusammenhang, vor allem für schon unabhängig von der Gewalterfahrung politisch gegen Rassismus und Rechtsextremismus Aktive, also insbesondere links-alternative, politisch aktive junge Leute. Dieser Zusammenhang kann jedoch dahingehend differenziert werden, dass Betroffene aus sehr unterschiedlichen Konstellationen heraus, d.h. in unterschiedlichen Lagen und Positionen, politische Perspektiven formulieren und auch – jeweils abhängig von den subjektiv erfahrenen Handlungsmöglichkeiten und -beschränkungen – aktiv verfolgen. Möglicherweise wird im Versuch, das Handlungsfeld der lokalen Intervention eng zu definieren, der Blick der OBS tendenziell eingeschränkt, so dass Strategien der Intervention in das Gemeinwesen, die Betroffene vor dem Hintergrund anderer gesellschaftlicher Lagen und Positionen entwickeln, nicht als solche wahrgenommen werden. Die Berater_innen beschreiben explizit die unterschiedlichen biografischen Erfahrungen, Lebenslagen und gesellschaftlichen Positionen der Betroffenen als relevant für die Weise, wie und welche Optionen der politischen Bearbeitung der Problemstellung im Gemeinwesen für die Betroffenen subjektiv funktional werden. Dennoch gelingt es ihnen möglicherweise nicht durchgehend, ihre eigenen soziokulturellen Bezüge in ihrer Bedeutung für die Wahrnehmung von Handlungsoptionen zu reflektieren, so dass sie eine spezifische Sicht auf politische Interventionen universalisieren. So besteht möglicherweise die Tendenz, plakative Aktionen, Demonstrationen oder skandalisierende Öffentlichkeitsarbeit und ähnliches eher als lokale Intervention mit politischer Perspektive wahrzunehmen als die alltäglichen Interventionen in der Lebenswelt der Betroffenen. So betont der Berater Kevin, die Unterstützung

11 Im Kapitel 5.2 habe ich diskutiert, dass die Betroffenen, die sich im Rahmen dieser Arbeit für ein Interview bereit erklärt haben, möglicherweise ein besonderes Interesse an einer politischen Bearbeitung ihres Falles haben, während andere Betroffene eher kein Interesse an einer Beteiligung am Forschungsprozess hatten.

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des Imbissbetreibers Akgün in der Vertretung seiner Interessen gegenüber der Stadtverwaltung nicht als lokale Intervention zu verstehen. „Kevin: Ich würde das gar nicht als lokale Intervention bezeichnen, sondern als Begleitung zu Behörden. Also einen Einzelfall, hier Herr Akgün, in Bezug auf das Behördenhandeln zu begleiten. […] Für mich wäre es eine lokale Intervention, wenn Herr Akgün Ambitionen hätte, das irgendwie öffentlich zu thematisieren.“ (Teamdis 3_777-787)

Möglicherweise hat aber die verlässliche Unterstützung des Betroffenen in der Kommunikation mit Behörden langfristige Qualifizierungsprozesse auf Seiten des Betroffenen zu Folge, die es ihm in anderen Situationen ermöglichen, effektiver für seine Rechte einzutreten. Auch ist es möglich, dass die Unterstützung und Begleitung des Betroffenen zu Veränderungsprozessen in den Behörden führt, indem diskriminierende Routinen bewusst gemacht werden. So könnte eine solche Intervention eine längerfristige Verschiebung von Machtverhältnissen bewirken als die skandalisierende Thematisierung des behördlichen Umgangs. Diese Aspekte wären in weiteren fallbezogenen Untersuchungen vertiefend zu verfolgen. Das ‚Mandat der Betroffenen‘ als problematische Figur In der konzeptionellen Beschreibung lokaler Intervention wird das ‚Mandat der Betroffenen‘ als zentrale Voraussetzung jeder Intervention formuliert. Es wird als Handlungsprinzip genannt, dass fallbezogene Öffentlichkeitsarbeit und andere Interventionen im lokalen Kontext mit den Betroffenen abgesprochen werden, dass diese nur mit deren expliziter Zustimmung stattfinden und dass die möglichen Folgen jeder Intervention für die Betroffenen sorgfältig abgewogen werden. Die Bedeutung dieses Prinzips wird in erster Linie damit begründet, den Betroffenen möglichst weitgehende Kontrolle über ihren Fall zu ermöglichen und die von den Betroffenen gewählten Bewältigungsstrategien zu respektieren und zu unterstützen. Die politischen Interventionen in den lokalen Kontext dürfen nicht dazu führen, dass den Ratsuchenden ‚das Heft aus der Hand genommen wird‘. Die Leitlinie des ‚Mandats der Betroffenen‘ soll verhindern, dass im und durch den Beratungsprozess erneute Erfahrungen der Ohnmacht und des Ausgeliefertseins erzeugt werden. In den Gruppendiskussionen wird deutlich, dass allerdings praktisch Unsicherheit darüber besteht, wie der formulierte Anspruch des Mandats bzw. der möglichst weitgehenden Partizipation der Betroffenen an Entscheidungen über Interventionen in den lokalen Kontext zu realisieren ist. So beginnt bspw. eine Beraterin ihre Fallschilderung: „Viktoria: In Erlenberg haben wir irgendwie ein Mandat von Gabriel, mit dem wir viel gesprochen haben. [...] Gabriel hat uns irgendwie ein Mandat gegeben, etwas zu tun und irgendwie gibt es ein Mandat von der polnischen Mitarbeiterin des Jugendclubs oder von Ulrich Stein oder dem Verein... ich weiß nicht so.

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Kevin: Es gibt ja verschiedene Leute, die euch angesprochen haben. Es ist nicht so, dass ihr von euch aus losgegangen seid und eure Mandate gesucht habt, sondern ihr wurdet aktiv informiert.“ (Teamdis3_134-159)

In der in den Gruppendiskussionen geführten Reflexion wird deutlich, dass das ‚Mandat der Betroffenen‘ neben der oben formulierten Begründung auch im Umgang mit dem Vorwurf der Instrumentalisierung der Betroffenen wesentlich ist. Deutlich wird dies in der Beschreibung von Konstellationen, in denen die Betroffenen entscheiden, das Gemeinwesen zu verlassen, so wie im Fall der Familie AlShami, im Fall von Herrn Akgün sowie im gerade erwähnten Fall von Gabriel. Gabriel ist nach einem rassistischem Angriff und dem Versuch, diesen und die jahrelang erfahrene rassistische Diskriminierung in der Stadt öffentlich zu thematisieren, resigniert nach Westdeutschland gezogen, was ihm im lokalen Diskurs als überzogene Reaktion ausgelegt wurde. „Kevin: Ich würde gerne noch mal auf Gabriel zu sprechen kommen. Ich finde ja, dass das auch nicht unproblematisch ist. Weil das eine lokale Intervention ist, und er ist nicht mehr da. Man sagt dann, dass er nicht mehr da ist, und dass das alles ganz schlimm ist, was ja auch total richtig ist, das zu sagen. Aber man läuft dann Gefahr, dass man so eine Stellvertreterpolitik macht. Man stärkt gar nicht die Person, weil die ja an dem Ort nicht mehr existent ist. Sondern man spricht für sie.“ (Teamdis3_472-477)

Die Problematik ‚Stellvertreterpolitik‘ entsteht m.E. dann, wenn die Kritik an den Prozessen und Reaktionen im Gemeinwesen über die Erfahrung der Betroffenen legitimiert wird. Wird die lokale Intervention über die Erfahrung der Betroffenen legitimiert, die durch die OBS vertreten werden, macht sie sich bezüglich des Vorwurfs der Instrumentalisierung der Betroffenen angreifbar. Um eine solche Instrumentalisierung zu vermeiden, braucht sie das explizite ‚Mandat der Betroffenen‘. Eine Intervention, die sich als ‚Sprachrohr der Betroffenen‘ versteht, wird aber zugleich anfällig für die Instrumentalisierung durch die Betroffenen. So können für die Berater_innen Situationen problematisch werden, in denen Ratsuchende sich wünschen, dass die OBS Kritik an Akteur_innen oder Institutionen im Gemeinwesen äußert, die die Berater_innen nicht teilen oder strategisch nicht richtig finden. So wird in der Gruppendiskussion als Problemstellung angesprochen, dass Ratsuchende ganz andere politische Perspektiven und Deutungen als die Mitarbeiter_innen der OBS vertreten können: „Omar: Aber ich habe auch Klienten erlebt, die […] die Hilfe annehmen und [ansonsten, GK] belächeln, was wir sonst machen. Für die sind wir irgendwie so Gutmenschen... Und sie selbst vertreten einen knallharten Nationalismus bis hin zu Extremismus, der sicherlich nicht einer

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ist, den wir akzeptieren. Oder welche, die für die Todesstrafe sind. Es gibt auch Leute, die sich ganz haarsträubend politisch äußern.“ (Teamdis1_561-565)

Ein Beispiel für einen Konflikt dieser Art ist die Forderung eines Mannes, der am Bahnhof aus einer sich dort regelmäßig aufhaltenden rechten, alkoholaffinen Clique heraus rassistisch angegriffen wurde, nach einem grundsätzlichen Alkoholverbot im öffentlichen Raum und seine Schlussfolgerung, sich seinerseits bewaffnen zu wollen. Deutlich wird hier m.E. die Problematik eines Handlungsauftrages, der auf Betroffenheit und Empathie setzt. Im Kapitel 3 wurde als Problem benannt, dass Soziale Arbeit nicht selten ihre politische Perspektive mit dem Mandat der Adressat_innen begründet. Sozialarbeiter_innen können, so wurde, auf Kunstreich (2014) bezugnehmend, argumentiert, sich die Gründe für eine politische Positionierung nicht bei den Adressat_innen ausleihen. Eine parteiliche Intervention in das Gemeinwesen, die weder die Adressat_innen instrumentalisieren noch sich selbst von Adressat_innen abhängig machen will, muss eine in der Sache parteiliche Haltung entwickeln und begründen und dabei auch die eigene Position im professionellen Beratungsverhältnis transparent machen. Von dort aus ist offen, ob und unter welchen Voraussetzungen Kooperationen mit Betroffenen in Bezug auf die Erreichung dieser Ziele im Gemeinwesen möglich sind. 11.2.2 Spannungsfelder der Intervention ins lokale Umfeld Neben der Unterstützung von Betroffenen und der Kooperation mit Betroffenen in Hinblick auf politische Ziele richten sich viele lokale Interventionen auf Veränderungsprozesse im Gemeinwesen. Hier sollen, so die OBS, Prozesse der Sensibilisierung für die Situation der Betroffenen und die konkrete Solidarisierung mit den Betroffenen rechter und rassistischer Gewalt angeregt bzw. diskriminierende Praxen kommunaler Akteur_innen verändert werden. So zielen viele Aktivitäten, den Sozialraum bzw. das Gemeinwesen in die Problembearbeitung einzubeziehen, darauf, symbolische und/oder praktische Unterstützung für die Betroffenen rechter oder rassistischer Gewalt zu organisieren. Dies schildern die Berater_innen aber als praktisch schwierig. Entgegen ursprünglicher konzeptioneller Überlegungen gelinge es kaum, über symbolische Bekundungen hinausgehende, konkrete Prozesse der Solidarisierung mit den Betroffenen und deren Einbindung in das Gemeinwesen zu fördern. „Ellen: Ich würde behaupten, dass heute in den meisten Fällen relativ schnell, wenn es zu Fällen rechter Gewalt kommt, sich ein Bündnis zusammenfindet und dass da dann diskutiert wird, was

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das bedeutet.12 Eine andere Frage ist die der praktischen Auswirkungen auf die Opfer. Aber ich finde, dass wir da auch eine Lücke haben. Was bedeutet eigentlich Solidarität und was bedeutet Unterstützung. Ich glaube, es ist grundsätzlich sehr, sehr schwierig, ein Opfer zu unterstützen, wenn man kein Opfer ist. Wer will das schon.“ (Teamdis2_340-346)

Die Bereitschaft eines Gemeinwesens, sich für Betroffene einzusetzen, so formulieren die Berater_innen als Erfahrungswissen, hängt maßgeblich an der Tatkonstellation sowie den jeweiligen Betroffenen. Sie sei dann größer, wenn es sich um besonders spektakuläre Fälle handelt, die sich von der Alltäglichkeit rechter und rassistischer Gewalt absetzen, und wenn sich zudem eine Verantwortung des Gemeinwesens, sich zu dem Fall zu verhalten, benennen lässt. Wenn bspw. Täter_innen oder Betroffene nicht aus dem Ort stammen, in dem der Angriff verübt wurde, sei es oft schwieriger, unterstützende Reaktionen aus dem Gemeinwesen anzuregen. Für eine lokale Intervention, so die Berater_innen weiter, eignen sich zudem nur Fälle, in denen die Fallkonstellation klar ist, es sich also eindeutig um Fälle rechter und rassistischer Gewalt handelt, und die Betroffenen eindeutig als ‚Opfer‘ wahrgenommen werden. Handelt es sich um Fälle, in denen Rassismus als Tatmotivation nicht eindeutig zu belegen ist, oder die Tat als Konflikt zwischen gleichermaßen gewaltbereiten rechten und linken Jugendlichen gesehen werden kann, lässt sich nur schwer Unterstützung organisieren. Die Mobilisierung kann sich auch ins Gegenteil verkehren, wenn etwa Betroffene öffentlich als die eigentlichen Täter_innen diffamiert werden. Als wesentlichen Faktor benennen die Berater_innen zudem personenbezogene Dimensionen der Betroffenen. Angesehene Personen im Gemeinwesen, ‚gut integrierte‘ und positiv bewertete Migrant_innen, sozial gut eingebundene Schüler_innen erfahren eher Unterstützung als soziale Randgruppen. „Kevin: Also mit einem idealen Opfer, einer, der perfekt ins Bild passt oder eine relativ bedeutende Persönlichkeit ist, da gibt es dann ganz schnell eine große Solidarisierung. Aber wir haben ja auch mit ganz vielen Leuten zu tun, die nicht zu diesen Opfergruppen gehören, sondern eher zu marginalisierten Gruppen.“ (Teamdis2_310-313)

Auch in Fällen, in denen den Betroffenen zunächst ein Opferstatus zuerkannt wird, kann die Stimmung schnell umschwenken. Die Berater_innen schildern als Beispiel

12 Hier unterscheidet sich die Situationseinschätzung der Berater_innen z.T. erheblich: Andere Berater_innen vertreten die Einschätzung, dass die positiven Veränderungen hinsichtlich der gesellschaftlichen Reaktionen auf rechte und rassistische Gewalt systematisch überschätzt werden. Auf Grundlage der in dieser Arbeit erhobenen Daten kann diese Frage nicht beantwortet bzw. die Plausibilität der jeweiligen Einschätzungen nicht bewertet werden.

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einer misslungenen lokalen Intervention einen Fall, in dem ein Jugendlicher verletzt wurde. „Ben: Z.B. wegen so Sachen wie in [Stadt C]. Das war ja auch eine tolle Geschichte, aber Steven war einfach nicht der geeignete Repräsentant.“ (Teamdis3_691-692)

Zunächst schien die Fallkonstellation durchaus geeignet: Ein Jugendlicher hatte NPD-Plakate überklebt und wurde daraufhin vor seiner Haustür abgefangen und von zwei erwachsenen Männern verprügelt. Einen von beiden erkannte er als NPDKandidaten, der zudem als prägendes Mitglied der gewaltbereiten lokalen rechtsextremen Szene bekannt und bereits mehrfach wegen z.T. schweren Körperverletzungen mit rassistischem Hintergrund verurteilt worden war. Der Betroffene beklagte, dass seine Erfahrung, als linker Jugendlicher permanent von Neonazis bedroht und verletzt zu werden, von ‚Erwachsenen‘ in der Stadt nicht wahrgenommen wird. Er selbst werde durch seine Positionierung gegen Rechtsextremismus als Verursacher von Gewalt gesehen, während rechtsextreme Akteur_innen als normale Bürger der Stadt anerkannt seien. Den Berater_innen waren aus der Vergangenheit andere Vorfälle bekannt, in denen Aktivist_innen, die rechtsextreme Strukturen in der Stadt benannten und problematisierten, im lokalen Diskurs kein Gehör fanden oder angegriffen wurden, weil sie die Stadt verunglimpfen würden. Der Betroffene wünschte sich explizit, dass sein Fall öffentlich gemacht wird, und erhoffte sich durch die OBS eine machtvolle Unterstützung der eigenen Sichtweise sowie die Anerkennung, dass sein Engagement gegen Neonazis richtig und die Gewalt gegen ihn durch dieses Engagement begründet und daher unrecht ist. Aus Sicht der Berater_innen erschien die plakative Tatkonstellation sowie der explizite Wunsch des Betroffenen als gute Voraussetzung, den Fall öffentlich zu machen, um eine Positionierung lokaler Entscheidungsträger_innen zu erreichen. Es erschien unzweifelhaft, dass aufgrund der eindeutigen Tatumstände auf ein geteiltes Unrechtsempfinden zurückgegriffen werden kann. Die Intervention misslang aber, da die Berater_innen die Position des Jugendlichen im Gemeinwesen sowie die Massivität, mit der das Thema Rechtsextremismus als ‚heißes Eisen‘ wahrgenommen wurde, falsch eingeschätzt hatten. Der Betroffene hatte einen Ruf als ‚Problemjugendlicher‘ in der Kleinstadt, und als der Täter öffentlich seine Tatbeteiligung abstritt, wurde der Betroffene als Wichtigtuer diffamiert, und niemand wollte für ihn Partei ergreifen. Er hat später den Kontakt zu den Berater_innen der OBS abgebrochen. Statt eine Stärkung seiner Position im Gemeinwesen und Anerkennung seiner Perspektive zu erfahren, erlitt der Betroffene eine erneute Stigmatisierung. Je randständiger die Betroffenen sind, so die Berater_innen, desto weniger wird ihnen mit Unterstützung, Mitgefühl oder konkreter Solidarität begegnet. Als weiteres typisches Beispiel werden Fälle genannt, in denen junge Punks von rechter Gewalt

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betroffen sind. Als Hintergrund sieht der Berater Kevin die verbreiteten Ressentiments gegenüber bestimmten Betroffenen, die dazu führen, dass zentrale lokale Akteur_innen die Betroffenen nicht als Opfer sehen wollen oder können, sondern nur als randständige Problemverursacher. „Kevin: Aber guck dir mal die Punks in [Stadt P] an. Da gab es ja eigentlich nie eine öffentliche Reaktion. Obwohl wir interveniert haben. [...] Die Punks sind so randständig, die finden eh alle abstoßend. Die sind von der Gesellschaft ausgestoßen. [...] Da gibt es ein gesellschaftliches Klima gegen so eine Lebensform. Und dementsprechend passiert auch nichts im öffentlichen Raum, um die zu unterstützen.“ (Teamdis2_602-611)

Deutlich werden in den Schilderungen die Schwierigkeiten, die mit dem Opferbegriff verbunden sind, den die OBS in ihren Selbstdarstellungen vermeidet und weitgehend durch den Begriff ‚Betroffene‘ ersetzt. Zur Markierung und Skandalisierung des mit der Gewalt verbundenen Unrechts wird jedoch auf den Begriff ‚Opfer‘ zurückgegriffen. Wenn aber in der Praxis der Appell an gesellschaftliche Institutionen und Akteur_innen, sich zu positionieren und unterstützend tätig zu werden, aus dem Opferstatus der Betroffenen abgeleitet wird, entsteht ein Problem, wenn Betroffene sich nicht entsprechend der gesellschaftlichen Erwartung an ‚Opfer‘ verhalten. Die von Kevin geschilderte Konstellation aufgreifend, problematisiert Ellen, dass die Erwartung einer generellen Solidarisierung mit Betroffenen schwierig ist, und stellt die Bereitschaft solidarischer Unterstützung in den Zusammenhang von sozialer Nähe zwischen Betroffenen und potenziell solidarischen Unterstützer_innen. „Ellen: Das gilt ja auch zum Beispiel für Obdachlose. Die sind ja auch schwer zu greifen. Wenn du es mit einer Opfergruppe zu tun hast, die von der Gesellschaft externalisiert wird und sich dann auch noch selber an den Rand der Gesellschaft stellen. Dann hast du natürlich auch ein totales Problem mit dem Opfer-Unterstützungsdiskurs. Da haben wir ein Argumentationsproblem, finde ich: Wir verlangen Solidarität von wem auch immer mit den Opfern. Und das ist natürlich einfacher, mit jemanden Solidarität zu üben, der neben mir steht, mit dem ich auf der gleichen Ebene reden kann, als wenn ich einen habe, der mir eigentlich tierisch auf den Senkel geht und immer auf der Parkbank herumhängt und besoffen ist. Und jetzt soll ich mich mit dem solidarisieren. Das ist einfach problematisch!“ (Teamdis2_628-637)

Ausgehend von Gewalttaten lasse sich nur Engagement organisieren, wenn Akteur_innen im Gemeinwesen das Engagement für Betroffene rechter Gewalt mit eigenen Interessen verbinden können, so Ellen weiter. Es sei dagegen grundsätzlich schwierig, lokale Prozesse zu initiieren, wenn soziale Differenzen u.Ä. die Verständigung erschweren. Die Mobilisierung konkreter, über symbolische Gesten hinausreichender, Solidarität und insbesondere die dauerhafte Einbindung von Betroffenen in lokale Netzwerke gelinge nur dann, wenn bereits eine soziale Nähe bestehe und

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Gemeinsamkeiten und gemeinsame Interessen über den Opferstatus der Betroffenen hinaus bestünden. Die Bereitschaft zu Solidarität wird also damit in Zusammenhang gebracht, dass man sich mit den Gewaltbetroffenen identifizieren kann oder eigene Interessen durch das Engagement verfolgt. Mit den hier zusammengefassten, von den Berater_innen formulierten, Zusammenhangsannahmen zu Bedingungen erfolgreicher lokaler Intervention werden verschiedene sozialpsychologische Erklärungen für ‚prosoziales Verhalten‘ aufgegriffen. Hier wird davon ausgegangen, dass ‚prosoziales Verhalten‘, also die Bereitschaft jenseits beruflicher Verpflichtung zu helfen, sowohl Kosten-Nutzen-Erwägungen als auch ‚altruistischen‘ Motiven folgt (Bierhoff 2007: 300). So wurden der Nutzen für die eigene berufliche Karriere, der soziale Kontakt zu anderen Helfern, der Wunsch nach Selbstaufwertung oder ein eigenes Erkenntnisinteresse als häufige ausschlaggebende Motive für die Bereitschaft, sich ehrenamtlich zu engagieren, identifiziert und als ‚egoistische‘ Motive solchen Motiven gegenüber gestellt, die sich ausschließlich am Wohl des Anderen orientieren und als ‚altruistisch‘ bezeichnet werden. Bierhoff (ebd.: 315-316) zufolge kommen Studien zu dem Ergebnis, dass bei Menschen, bei denen die ‚egoistischen‘ Motive im Vordergrund standen, das soziale Engagement länger anhält. In anderen Studien wird dagegen ein positiver Zusammenhang zwischen ‚altruistischen‘ Motiven und langfristigem Engagement hergestellt. Dieser, so Bierhoff, bestehe insbesondere dann, wenn sich die Helfenden, z.B. schwule Männer, mit den Begünstigten, z.B. den Nutzer_innen der Aidshilfe, identifizieren könnten. Als zentrales psychologisches Experiment gilt hier die Überprüfung der EmpathieAltruismus-Hypothese durch Batson und Kolleg_innen (Batson und Kolleg_innen 1981). Im Experiment wurden die Versuchspersonen glauben gemacht, dass eine angebliche Versuchsperson – ‚Elaine‘ -, die sie durch eine Scheibe beobachten konnten, angeblich als Teil eines Experiments zu ‚Lernen unter Stress‘ Stromschläge erhalte. Den (tatsächlichen) Versuchspersonen wurde die Option gegeben, die angebliche Versuchsperson von ihrem offensichtlichen Leiden zu erlösen, indem sie selbst die Stromschläge auf sich nehmen. Dass ein Großteil der Versuchspersonen bereit war, ‚Elaine‘ zu helfen, wird als Beweis gewertet, dass es „wahren Altruismus“ gibt (Bierhoff 2007: 318). Diese Bereitschaft bestand allerdings in deutlich größerem Ausmaß, wenn die Versuchspersonen glaubten, dass Elaine ihnen im Hinblick auf Werte und Interessen ähnlich sei. Empathie und daraus erwachsene altruistische Hilfe, so das zweite Ergebnis des Experiments, ist abhängig davon, wie sich die Versuchsperson situativ verpflichtet fühlt, zu helfen, sowie von der wahrgenommenen sozialen Nähe. Diese sozialpsychologischen Forschungsergebnisse finden sich auch in den von Berater_innen formulierten Erklärungsansätzen für die erlebte Schwierigkeit, im Gemeinwesen Unterstützung für die Betroffenen zu organisieren, wenn – wie oben beschrieben – formuliert wird, dass die Bereitschaft zu Solidarität damit in Zusammenhang gebracht wird, dass man sich mit den Gewaltbetroffenen identifizieren kann oder eigene Interessen durch das Engagement verfolgt.

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Problematisch ist hier, dass die Erklärungsansätze auf einer deskriptiven Ebene bleiben, das Gesehene gewissermaßen verdoppeln, ohne die Rahmenbedingungen in den Blick zu nehmen, unter denen das Verhalten beobachtet wird. So wird im experimentellen Setting die Möglichkeit ausgeschlossen, dass sich ‚Elaine‘ und die Versuchspersonen gemeinsam gegen die gesetzte Bedingung, dass eine Person Stromschläge erleiden muss, organisieren. Kann nur der eigene Nutzen oder selbstloser Altruismus als Motiv für solidarische Unterstützung gedacht werden, ist die Perspektive allgemein gerechterer, menschenwürdigerer Verhältnisse als verallgemeinertes Interesse, als Hintergrund für solidarisches Handeln, eliminiert. Einen anderen begrifflichen Rahmen stellt Durkheim (1992, zuerst 1893) her, in dem er Solidarität in den Zusammenhang mit der Entwicklung arbeitsteiliger Gesellschaften stellt. Er nennt Solidarität, die auf Ähnlichkeit beruht, ‚mechanische Solidarität‘, der er den Begriff der ‚organischen Solidarität‘ gegenüberstellt. Während erstere einem gesellschaftlichen Zusammenhang, der gemeinschaftlich organisiert ist, zugeordnet wird, versteht Durkheim letztere als Form des Zusammenhalts in entwickelten Gesellschaften, die auf Arbeitsteilung beruhen, deren Mitglieder aufgrund der arbeitsteiligen Gesellschaftsform notwendig miteinander verbunden sind, ohne ‚gleich‘ zu sein. Die Reduzierung des Verständnisses von Solidarität auf mechanische Solidarität ist möglicherweise auch durch den sozialräumlichen Bezugsrahmen lokaler Intervention in ländlichen und kleinstädtischen Kontexten nahe gelegt, in denen das Zusammenleben in größerem Maße über Gemeinschaftlichkeit organisiert wird – oder gemeinschaftlicher Zusammenhalt idealisiert wird. Die Tendenz, Gesellschaft als Gemeinschaft zu konzipieren sieht Kessl (2005) zudem als immanente Gefahr für die Gemeinwesenarbeit. Für die Praxis der OBS bietet das Ideal der Gemeinschaftlichkeit in den kleinstädtischen und ländlichen Kontexten durchaus einen Ansatzpunkt für lokale Interventionen: Der Bezug auf den gemeinschaftlichen, lokalen Zusammenhalt ist bei den OBS keinesfalls ungebrochen positiv. Vielmehr thematisieren die Berater_innen Schwierigkeiten, die damit zusammenhängen, dass Betroffene rechter und rassistischer Gewalt oft im Gemeinwesen randständige Positionen haben, bzw. gerade als nicht zugehörig wahrgenommen werden. Dennoch bietet auch hier das Motiv der Gemeinschaftlichkeit einen Ansatz, indem versucht wird, den Rahmen der Zugehörigkeit auszudehnen. Es wird dafür argumentiert bzw. geworben, auch die ‚neuen Nachbarn‘ als Teil des lokalen Zusammenhangs zu sehen, für die eine Art soziale Verantwortung besteht und für die Empathie empfunden werden kann. Die Grenzen des Bezuges auf ein solches gemeinschaftliches Verständnis und Empathie als Ansatzpunkt lokaler Intervention werden dann deutlich, wenn die Betroffenen selbst nicht in das Gemeinwesen integriert werden wollen. Während für die Familie Mbenza die Integration in das Gemeinwesen – bei allen damit verbundenen

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psychischen Kosten – eine positive Funktion hatte, verorten sich andere Betroffene selbst in Konfrontation zum Gemeinwesen. „Ben: Wobei ich das mit Punks auch manchmal ein schwieriges Beispiel finde, weil sie sich ja auch häufig gegen die Gesellschaft stellen wollen.“ (Teamdis2_613-614)

Nur dann, wenn die Betroffenen selbst ein Interesse daran haben, Teil lokaler sozialer Netzwerke zu sein, kann argumentiert werden, dass der oder die Betroffene als Teil des Gemeinwesens zu unterstützen ist. Andernfalls macht eine lokale Intervention, die auf Einbindung in lokale Netzwerke und die Aktivierung einer auf Empathie beruhenden Solidarität setzt, keinen Sinn. Auch der Appell an die Verantwortung des Gemeinwesens, mit einem rechten oder rassistischen Angriff umzugehen, ist ambivalent und kommt auch praktisch an Grenzen. Einerseits liegt in diesem Appell ein wesentlicher Ansatzpunkt lokaler Intervention. So hat die Spendensammlung für den Imbissbetreiber Akgün funktioniert, weil als lokales Anliegen plausibel gemacht werden konnte, Herrn Akgün als Teil des Gemeinwesens zu unterstützen bzw. seine Vertreibung durch Neonazis zu verhindern. In dem Moment, in dem er jedoch entschieden hat, den Ort zu verlassen, fehlte der Ansatzpunkt, mit dem Akteur_innen im Gemeinwesen mobilisiert werden können. Als häufiger Impuls lokaler Akteur_innen wird die Aussage geschildert, dass es sich bei den Täter_innen nicht um Ortsansässige gehandelt habe, was – leitet man die Notwendigkeit des Engagements allein aus einer lokalen Verantwortung ab – folgerichtig ist. Die Berater_innen schildern als häufig auftretendes Problem lokaler Intervention, dass lokale Verantwortungsträger_innen sich mit dem Argument gegen eine Thematisierung rechter und rassistischer Gewalt stellen, dass damit ‚ihr‘ Ort als ‚braunes Nest‘ zu Unrecht diskreditiert werde. Noch immer,13 so die Berater_innen, reagieren lokale Vertreter_innen mit Abwehr auf die Thematisierung von Vorfällen rechter und rassistischer Gewalt und entwickeln eine ‚Wagenburgmentalität‘. „Viktoria: Es gibt in der Stadt eine ganz große Verleugnungshaltung: Aus der Stadtverordnetenversammlung und von so anderen Akteuren wird gesagt, dass es gar keinen Rassismus und Rechtsextremismus gebe. Es ist ganz klassisch, es kommt einem schon fast absurd vor, so altbacken scheint es, wie stark die das verleugnen. [...] Es war ein ganz klarer rassistischer Vorfall in dem Jugendclub und die Polizei lässt noch über die Presse verkünden: Nein, das war kein

13 Bezug genommen wird hier auf die skandalisierende Berichterstattung in den 1990ern, die z.T. in diffamierender Weise das Problem des Rechtsextremismus ausschließlich als Problem ostdeutscher Städte beschrieb.

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rechter Vorfall, weil das war ein Dumme-Jungen-Streich. Es wird nicht geschrieben, dass der Täter 41 Jahre alt war.“ (Teamdis3_144-150)

Der Ansatz der lokalen Intervention ist mit der Gefahr verbunden, eine solche Reaktion zu befördern. So hat Schreier (2014) in Bezug auf sozialräumliche Konzepte wie dem Quartiermanagement herausarbeitet, dass diese zu einer Territorialisierung von Problemstellungen und damit zu einer Stigmatisierung von Quartieren beitragen können. So kann die Verleugnungshaltung oder ‚Wagenburgmentalität‘ von lokalen Akteur_innen durch eine solche Territorialisierung und Stigmatisierung provoziert werden. Um dieser Gefahr zu entgehen, ist es notwendig, nicht mit pauschalen Schuldzuschreibungen zu arbeiten, sondern zu klären, welche Lösungsmöglichkeiten und Handlungsspielräume es real auf lokaler Ebene gibt.14 Ein zentrales, praktisch zu bewältigendes Spannungsfeld lokaler Intervention liegt also darin, dass gerade im ländlichen und kleinstädtischen Kontext durch den Bezug auf Gemeinschaftlichkeit, lokale Verantwortung und Empathie für viele Betroffenen praktisch eine Verbesserung ihrer Situation erreicht werden kann, diese Strategie aber zugleich an die benannten Grenzen gerät. Eine Strategie, die sich weniger auf Empathie als auf universelle Rechte, Teilhabe und Schutz jenseits sozialer Zugehörigkeit bezieht, hat es dagegen in Kontexten, in denen Gemeinschaftlichkeit wesentlicher Bezugsrahmen ist, schwer, Bereitschaft, sich gegen rechte und rassistische Gewalt und für die Betroffenen zu engagieren, zu aktivieren. Die geschilderten Fallbeispiele zeigen allerdings, dass die Erfahrung mehrdeutig ist. Neben der geschilderten praktischen Schwierigkeit, die Perspektive universeller Rechte in lokalen Kontexten als Handlungsprämisse zu verankern, gelingt es immer wieder, dass lokale Initiativen und Bündnisse entstehen, die sich nicht allein auf der Basis von unmittelbaren eigenen Interessen oder auf Ähnlichkeit zu den Betroffenen basierender Empathie engagieren. So haben sich in Grunden sehr unterschiedliche Menschen gegen eine Abschiebung der Familie Mbenza eingesetzt, und in Niebrau engagiert sich ein breites Bündnis gegen die rechtsextreme Organisierung und für den Erhalt des Jugendzentrums Pferdestall – trotz großer kultureller und generationaler Differenz zu den Nutzer_innen des Pferdestalls. Marvin berichtete von einer breiten Beteiligung an einer Demonstration gegen Rassismus und Juliane von einer Initiative für einen Treffpunkt für alternative Jugendliche. Dies gelingt längst nicht immer und überall, und auch in den beschriebenen Fällen spielen persönliche Verbindungen zu den Betroffenen – die z.B. von Familie Mbenza aktiv hergestellt wur-

14 Dabei ist jeweils konkret zu überlegen, inwieweit sich die Reaktionen von lokalen Akteur_innen auf eine pauschale Verurteilung der OBS beziehen oder eher als Reaktionen auf vergangene problematische Medienberichterstattung verstanden werden können oder als Strategie, sich nicht mit der Problemstellung auseinandersetzen zu müssen.

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den – eine wichtige Rolle für die Bereitschaft zum Engagement. Aber auch die Haltung, jenseits eigener unmittelbarer Betroffenheit, rechte und rassistische Gewalt als dringliches Problem zu sehen, funktioniert als Ansatzpunkt lokaler Intervention.

12 Zusammenfassung und Ausblick

Ich habe in dieser Arbeit die Praxis der OBS unter zwei Perspektiven diskutiert: Erstens habe ich mich mit der spezifischen Erfahrung von Betroffenen rechter und rassistischer Gewalt beschäftigt und herausgearbeitet, wie diese Erfahrung mit dem gesellschaftlichen Kontext vermittelt ist. Daran anschließend habe ich diskutiert, wie die OBS mit der von ihnen intendierten Verbindung individueller und politischer Dimensionen die Bewältigungsprozesse der Betroffenen unterstützen. Meine Arbeit will damit einen Beitrag zum Verständnis der subjektiven Bedeutung rechter und rassistischer Gewalt und zu Möglichkeiten einer unterstützenden Praxis bzw. deren Reflexion und Weiterentwicklung leisten. Zweitens habe ich die OBS als exemplarisch für das für Soziale Arbeit konstitutive Spannungsfeld zwischen individuums- und gesellschaftsbezogenen Perspektiven im Problemverständnis und im Handlungsansatz diskutiert. Ich habe also Möglichkeitsräume einer Praxis herausgearbeitet, die sich explizit als soziale und politische Praxis versteht. Damit wurde an Diskussionen um Möglichkeiten und Grenzen einer kritischen Praxis Sozialer Arbeit angeknüpft, die das Politische im Sozialen nicht ausklammert. Wesentliche empirische Ergebnisse der Analyse sind in den Kapiteln 9-11 dargestellt worden. Ich werde in diesem abschließenden Kapitel) zunächst kurz den Argumentationsgang der Arbeit rekapitulieren. Anschließend gehe ich auf die spezifische Qualität der Beratungsbeziehung im Spannungsfeld zwischen individuellen und gesellschaftlichen Dimensionen ein und formuliere Vorschläge für weitere Forschungen und für die Praxisentwicklung. Im Kapitel 1 habe ich das spezifische Aufgabenfeld der OBS umrissen. Die OBS thematisieren den gesellschaftlichen Umgang mit Rechtsextremismus und Rassismus kritisch und agieren somit in einem politisch umkämpften Feld. Die OBS wurden und werden maßgeblich aus Bundesprogrammen zur Bekämpfung von Rassismus und Rechtsextremismus bzw. zur Förderung einer demokratischen Kultur finanziert. Konstitutiv für die Arbeit der OBS ist eine doppelte Zielsetzung: Es geht zum einen darum, individuumsbezogene Unterstützung für Betroffene rechter und rassistischer Gewalt zu leisten, und zum anderen, auch gesellschaftsbezogen gegen Rassismus und

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Rechtsextremismus wirksam zu werden. Diese Zielstellung ist im Auftrag der OBS verankert, also institutionell angelegt. Die institutionellen Rahmenbedingungen der Praxis werden bis heute stark von politischen und gesellschaftlichen Auseinandersetzungen um Rassismus und Rechtsextremismus beeinflusst. Diese haben nicht nur Auswirkungen auf die Arbeitsbedingungen in den OBS, die ihren Mitarbeiter_innen aufgrund der von gesellschaftlichen Stimmungslagen abhängigen Finanzierung keine Arbeitsplatzsicherheit bieten können. Deutlich wurde in meinen Interviews mit OBSMitarbeiter_innen und Gewaltbetroffenen auch, dass gesellschaftliche Diskurse, die den Islam bzw. Muslime stigmatisieren, sowie Debatten über die vermeintliche Verharmlosung ‚linksextremer‘ Entwicklungen Auswirkungen darauf haben, welche Handlungsmöglichkeiten den Betroffenen rechter und rassistischer Gewalt im Bewältigungsprozess zur Verfügung stehen.

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SUBJEKTIVE E RFAHRUNG RECHTER UND RASSISTISCHER G EWALT

Im Kapitel 2 habe ich den Forschungsstand zu rechter und rassistischer Gewalt, dem Gegenstand der OBS, ausgeführt. Die individuelle Erfahrung rechter und rassistischer Gewalt, so lässt sich als entscheidendes Ergebnis formulieren, ist nur unter Einbeziehung des gesellschaftlichen Kontextes, in dem sie stattfindet, zu verstehen. Der Zugang der OBS kann damit als grundsätzlich dem Gegenstand angemessen gelten. Allerdings wurde deutlich, dass die Frage, wie im Einzelnen die subjektive Erfahrung rechter Gewalt mit gesellschaftlichen Bedingungen zusammenhängt, wissenschaftlich bislang nicht ausreichend geklärt ist. So ist insbesondere in der nordamerikanischen und britischen Forschung herausgearbeitet worden, dass die spezifischen subjektiven Folgen von hate crimes mit der Botschaft der Gewalt zusammenhängen, die sich gegen die Gruppenzugehörigkeit bzw. ‚Identität‘ der Betroffenen richtet, sowie mit der gesellschaftlichen Lage der Betroffenen, in der sie auch jenseits unmittelbarer physischer Gewalt mit Diskriminierung und Abwertung konfrontiert sind. Der Fokus der Forschung lag allerdings bislang darauf, gemeinsame Dimensionen von hate crimes herauszuarbeiten. Demgegenüber habe ich als Anliegen meiner Forschung formuliert, die Unterschiedlichkeit der subjektiven Deutung und Verarbeitung der Gewalt im Kontext der jeweiligen lebensweltlichen Bezüge der Betroffenen zu rekonstruieren. Mit den Kategorien der Kritischen Psychologie habe ich im Kapitel 4 eine begriffliche Grundlage eingeführt, die es erlaubt, individuelle Handlungsproblematiken unter Bezug auf gesellschaftliche Bedingungen aufzuschlüsseln. Mithilfe dieses begrifflichen Instrumentariums war es möglich, die Widersprüchlichkeit der subjektiven Bewältigungsprozesse der Gewaltbetroffenen zu rekonstruieren. Auf dieser

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Grundlage konnte ich im empirischen Teil der Arbeit ein erweitertes Verständnis der subjektiven Bedeutung rechter und rassistischer Gewalt entwickeln. Die Weise, wie die Gewalt für die Betroffenen (psychologisch) relevant wird, hängt wesentlich von den konkreten Lebensumständen der Betroffenen und den ihnen darin gegebenen Handlungsmöglichkeiten ab. Die gegenüber anderer Kriminalität spezifischen subjektiven Folgen rechter und rassistischer Gewalt ergeben sich, so wurde deutlich, zum einen aus dem spezifischen Bedeutungszusammenhang der Gewalt, der allerdings von den Betroffenen in unterschiedlicher Weise aufgegriffen und für sie relevant wird, und zum anderen aus den gemeinsamen Dimensionen der jeweiligen Lebenssituationen. Die bisweilen sehr unterschiedlichen Bewältigungsstrategien der Betroffenen habe ich im Kapitel 9 beschrieben. Ein zentrales Ergebnis dieser Rekonstruktion ist, dass die Lebenslagen von Betroffenen rassistischer Gewalt oft durch den rechtlichen Status als ‚Ausländer‘ sowie eine ökonomisch prekäre Situation gekennzeichnet sind, woraus sich eine besondere Abhängigkeit von den Bedingungen im unmittelbaren lokalen Nahraum und den vorhandenen interpersonalen Beziehungen ergibt. Die im bisherigen Forschungsstand formulierte Begründung, dass hate crimes besonders schwere subjektive Folgen haben, weil sie sich gegen die ‚Identität‘ der Betroffenen richten, konnte ich in meiner Arbeit differenzieren: Der Angriff auf ihre Gruppenzugehörigkeit bzw. ihre ‚Identität‘ wird für die Betroffenen in sehr unterschiedlicher Weise bedeutsam. Entscheidend für die Bewältigung ist der jeweilige subjektive Bezug der Betroffenen auf die Gruppe, zu der sie von den Täter_innen zugeordnet werden. Verstehen die Betroffenen die Gruppenzugehörigkeit als wesentlichen Teil ihres Selbst, kann die mit der Gewalt verbundene Abwertung eine wesentliche Verletzung darstellen. Zentral für die subjektive Bedeutung der Gewalt ist auch das Wissen, aufgrund der Gruppenzugehörigkeit weitere Angriffe befürchten zu müssen. Eine darüber hinausgehende Qualität hat die Gewalt, wenn die Betroffenen sich bislang nicht als Angehörige einer bestimmten Community verortet haben und durch den Angriff auf eine zugeschriebene ‚Identität‘ zurückgeworfen werden. So erleben Betroffene, die sich bewusst in migrantischen Communities verorten, aktive Mitglieder der jüdischen Gemeinde sind oder sich alternativen Jugendkulturen zurechnen, den Angriff auf ihre ‚Identität‘ anders, als z.B. in Deutschland geborene und aufgewachsene Jugendliche, die durch die Gewalt auf eine fremdgesetzte ‚Identität‘ verwiesen werden. Der Bezug auf die eigene Gruppenzugehörigkeit kann Betroffenen soziale Unterstützung und Sicherheit ermöglichen. Deutlich wurde aber auch, dass die Verortung für die Betroffenen ambivalent sein kann, wenn eine Betroffene bspw. der jüdischen Gemeinde distanziert gegenübersteht oder ein Betroffener im Herkunftsland politisch verfolgt wurde, gleichzeitig aber die Verortung als ‚Afrikaner‘ oder als ‚Jüdin‘ Unterstützungsmöglichkeiten eröffnet.

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Die Freiwilligkeit der Gruppenzugehörigkeit ist eine wesentliche Dimension der subjektiven Bedeutung von Gewalt. Damit ist ein zentraler Unterschied zwischen Betroffenen rassistischer Gewalt und der Gewalterfahrung alternativer Jugendlicher, die sich selbstgewählt in Abgrenzung vom ‚Mainstream‘ definieren oder sich als politische Aktivist_innen bewusst gegen Rechtsextremismus positionieren, benannt. Die aktive Verortung reduziert das Gefühl des Ausgeliefertseins. Zugleich sind diese Betroffenen in spezifischer Weise mit Mitschuldvorwürfen konfrontiert, bspw. dem Vorwurf, sie hätten freiwillig die Konfrontation mit Neonazis gesucht. Entsprechend Garlands (2015) Forschungsergebnissen zu hate crimes, die sich gegen alternative Subkulturen richten, beziehen sich auch die in dieser Arbeit Befragten positiv auf ihre Zugehörigkeit zu alternativen Jugend-Szenen. Dennoch wurde auch hier deutlich, dass in der Bewältigung der Gewalterfahrung durchaus Ambivalenzen entstehen können, da die Betroffenen ihre Zugehörigkeit zu alternativen Jugendkulturen einerseits als wesentlichen Halt gebenden Rahmen begreifen, diese Zugehörigkeit andererseits mit der Gefahr erneuter Gewalterfahrungen verbunden und dadurch angstbesetzt sein kann. Die entsprechende Unterscheidung zwischen verschiedenen ‚Opfergruppen‘ nimmt für die OBS eine praxisleitende Funktion ein. Durch dieses Praxiswissen können die Berater_innen auf wesentliche Unterschiede in den Bedingungs-Bedeutungskonstellationen und die damit verbundenen unterschiedlichen Reaktionen der Betroffenen schnell angemessen reagieren. Um im Rahmen der Beratungs- bzw. Unterstützungspraxis zu verstehen, wie die Handlungsfähigkeit der Betroffenen durch die Gewalterfahrung eingeschränkt sein kann, und wo Betroffene ggf. Handlungsmöglichkeiten für sich erkennen können, ist Wissen über typische Lebenslagen von Betroffenen hilfreich. Das Wissen über Typisches darf aber, wie die Fallanalysen zeigen, nicht die Analyse der jeweils konkreten subjektiven Handlungsräume verstellen, um der Verschiedenheit der individuellen Bewertung von Bedeutungskonstellationen und individuellen Handlungsmöglichkeiten in den gegebenen Bedingungen gerecht zu werden.

12.2 D IE V ERMITTLUNG VON PROFESSIONELLER U NTERSTÜTZUNG UND POLITISCHER B EWEGUNG Das Vermittlungsverhältnis zwischen individuellen und gesellschaftlichen Aspekten (psycho-)sozialer Problemlagen wurde im Kapitel 3 als ein für die Soziale Arbeit konstitutives Spannungsfeld ausgeführt. Ich habe dargestellt, dass die Frage nach dem Politischen im Sozialen in Konjunkturen aufgeworfen, in unterschiedlichen Kontexten und mit verschiedenen Praxiskonzepten diskutiert und bearbeitet wurde. Kessl (2012b) sowie Kunstreich (2014) argumentieren, dass kritische Soziale Arbeit zwar gut beraten ist, Bündnisse mit sozialen Bewegungen einzugehen, sich aber nicht

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einfach auf die Seite sozialer Bewegungen schlagen kann. Kessl (2012b: 202) beschreibt das Verhältnis zwischen Sozialer Arbeit und sozialen Bewegungen als „konstitutiv-verkoppelte Differenz“. Werde die Differenz zwischen Sozialer Arbeit und sozialen Bewegungen verwischt, laufe erstere Gefahr, entgegen ihrem kritischen Anspruch unkritisch gegenüber den eigenen Begriffen und der widersprüchlichen Funktion Sozialer Arbeit in der Gesellschaft zu werden. Nur wenn Soziale Arbeit und soziale Bewegungen als eigenständige Felder begriffen würden, könnten die in den jeweiligen Feldern gegebenen Möglichkeiten gesellschaftspolitischer Wirksamkeit genutzt werden. Im Gegensatz dazu nehmen die OBS in ihrem Selbstverständnis keine klare Trennung zwischen Sozialer Arbeit und politischem Engagement vor und formulieren als Ziel der Arbeit sowohl die individuelle Unterstützung der Gewaltbetroffenen als auch die Einflussnahme auf die gesellschaftlichen Konstellationen, in denen die Gewalt stattfindet. Die Berater_innen haben in ihren Schilderungen die damit verbundene Gefahr der politischen Instrumentalisierung der Betroffenen explizit thematisiert. Auch wurden die praktischen Spannungsfelder, die sich daraus ergeben, dass Betroffene den Zusammenhang zwischen Gewalterfahrung und gesellschaftlichen Bedingungen möglicherweise ganz anders deuten als die OBS, von den Berater_innen benannt. Sie beschreiben eine situationsbezogene Bewältigung dieser Spannungsfelder, indem sie die Bedeutung kollegialer Beratung hervorheben, um die Beratungstätigkeit im konkreten Fall zu reflektieren. Hier werden die politische Intervention und die individuumsbezogene Unterstützung durchaus als differente Handlungsfelder begriffen. Der Verzicht auf eine organisatorisch vorgeordnete Trennung zwischen Sozialer Arbeit und politischer Bewegung im Selbstverständnis der OBS ist also damit verbunden, situativ die jeweiligen Handlungsoptionen als politische Akteur_innen und als professionelle Unterstützungsleistende zu reflektieren und einzusetzen. Die Berater_innen stehen so vor der Anforderung, in der Fallbearbeitung permanent sowohl Möglichkeiten politischer Intervention als auch Möglichkeiten der individuellen Unterstützung der Betroffenen im Blick zu haben und umzusetzen, ohne dass die Differenz zwischen beiden Feldern verwischt wird. Die Bewältigung dieser Aufgabe erfordert ein hohes Maß an Handlungssicherheit in beiden Feldern sowie die Bereitschaft, das eigene Handeln im Spannungsfeld zwischen beiden Feldern reflexiv zu gestalten. Bspw. müssen Berater_innen einen spezifischen und kontextgebundenen Umgang mit ihren Zielen und ihrer Rolle als Fachkräfte entwickeln, wenn sie alternative Jugendliche als politische Aktivist_innen im lokalen Kontext unterstützen. Eine entsprechende Reflexion ist notwendig, damit Berater_innen die Eigenständigkeit politischer Bewegungen anerkennen und zugleich den eigenen Standpunkt auch in Differenz zum Handeln politischer Bewegungen vertreten können. Die Reflexion des Spannungsfeldes zwischen gesellschaftlicher Veränderungsperspektive und individuumsbezogener Unterstützung beinhaltet auch die Reflexion der positiven wie negativen Konsequenzen (lokal-)politischer Interventionen für die

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individuumsbezogene Unterstützung von Betroffenen sowie für die zukünftige Beratungstätigkeit der OBS: So kann sich eine konfliktorientierte Intervention, die im aktuellen Fall angemessen erscheint, negativ auf die Unterstützungsmöglichkeiten in zukünftigen Fällen auswirken. Lokale Interventionen können auch dazu führen, dass sich zwar die Situation im konkreten Fall nicht verändert, aber ein Unterstützungsnetzwerk entsteht, das Berater_innen in späteren Fällen wieder aktivieren können. Trotz dieser hohen Anforderung an die Berater_innen behalten die OBS diese Art der Vermittlung bei und lösen die Verbindung zu sozialen Bewegungen nicht auf. Die Gründe dafür liegen im Feld, das die OBS bearbeiten. Die individuellen Bewältigungsprozesse sind in besonders enger Weise mit den lokalen Kontexten verknüpft, in denen die Gewalt stattfindet, und die die Lebenslagen der Betroffenen prägen. Die Interventionen in lokale Kontexte, die sich z.B. auf den Umgang der Polizei mit rechten Gewalttaten auswirken, mit denen es aber auch gelingt, Unterstützung für Betroffene zu organisieren, materiellen Schaden zu kompensieren oder akute Bedrohungssituationen zu entschärfen, wirken sich daher in vielen Fällen unmittelbar auf die Bewältigung der Gewalt durch die Betroffenen aus. Die Nähe der Berater_innen zu politischen Bewegungen kann sich hier positiv auf die Bewältigung auswirken, da die Betroffenen durch sie Akzeptanz ihrer Lebensweise erfahren, die Anlass der Gewalt war. Schließlich ist durch die enge Verbindung zu politischen Bewegungen der Aufbau eines vertrauensvollen Beratungsverhältnisses zu Betroffenen erleichtert, die sich in diesem Kontext verorten. Aber auch Betroffene, die sich nicht mit einer alternativen Jugendkultur oder politischen Bewegung identifizieren, deuten die erfahrene Gewalt als gesellschaftliche Problemstellung. Die Anerkennung der politischen Dimension der erfahrenen Gewalt im gesellschaftlichen Kontext wurde in dieser Arbeit als wesentlicher Aspekt der Rehabilitation der Betroffenen deutlich.1

12.3 D IE V ERMITTLUNG VON ALLTAGSWELTLICHER P ERSPEKTIVE UND KLINISCHEM T RAUMAKONZEPT Der Schwerpunkt der OBS liegt darauf, die Gewalterfahrung in ihren alltagsweltlichen Bezügen aufzugreifen. Dies erschwert es für die Berater_innen, auf psychische Problematiken angemessen zu reagieren. Sie beziehen sich auf das Konzept der ‚Traumatisierung‘, wenn es um den Umgang mit psychischen Dimensionen geht, die

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Nicht zuletzt ist ein Grund für die Beibehaltung der doppelten Zielsetzung, dass die OBS aus ihrer Rolle heraus durchaus politische Wirksamkeit entfalten können. Die Verbindung von politischem Engagement und individuumsbezogener Unterstützung wurde in dieser Arbeit allerdings nicht unter dem Fokus politischer Wirksamkeit diskutiert, sondern in Bezug auf die Bedeutung für die psychische Situation der Betroffenen.

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sich ihnen nicht unmittelbar aus der Gewalterfahrung und den aktuellen Lebensbedingungen der Betroffenen erschließen, d.h., wenn die Berater_innen mit besonders heftigen Reaktionen auf relativ leichte Angriffe, irritierenden Deutungen von alltäglichen Situationen oder Schwierigkeiten im Kontakt mit Betroffen, die aggressiv, misstrauisch oder mit Verfolgungsängsten auf ihre Umgebung reagieren, zu tun haben. Das Konzept ‚Trauma‘ wird in der Praxis zudem relevant, wenn die Schwere der psychischen Folgen unterstrichen und ein langes und tiefgehendes Leiden beschrieben wird, welches die Lebensführung der Betroffenen einschränkt, indem sie bspw. immer mehr Wege und Orte vermeiden und sich immer weiter aus dem sozialen Leben zurückziehen, Schwierigkeiten im sozialen Umfeld bekommen, oder wenn (z.B. juristische) Handlungsmöglichkeiten im Umgang mit der Gewalt verstellt sind, weil der Gedanke an die Gewalt zu angstbesetzt ist. In der Bezugnahme der Berater_innen auf das Konzept der ‚Traumatisierung‘ spiegelt sich dabei die in Kapitel 2.4 ausgeführte Widersprüchlichkeit des Traumadiskurses wider. So wird im Bezug der Berater_innen auf den Traumabegriff das Anliegen deutlich, komplexe psychische Prozesse zu verstehen und einen angemessenen Umgang mit ihnen zu finden. Zugleich wird der Traumabegriff verwendet, um Anerkennung für das Leiden der Betroffenen und gesellschaftliche Handlungsbereitschaft zu organisieren. Der Kampf um die gesellschaftliche Anerkennung des Leides der Betroffenen hat die Entwicklung von Traumatheorien von Beginn an begleitet. Die Aufnahme der Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) in die Diagnosemanuale und der Umstand, dass das Reden über Traumata kaum noch aus dem öffentlichen Diskurs wegzudenken ist, kann als später Erfolg der Kämpfe von Betroffenen von Gewalt, Verfolgung und Krieg gesehen werden. Dieser Sieg ist aber, so wurde argumentiert, widersprüchlich, da die Anerkennung des Traumas durch die Etablierung des Konzeptes der PTBS mit der Durchsetzung eines biologisch-medizinischen Denkens als Problemverständnis verbunden war, das die gesellschaftliche Dimension des Traumas vernachlässigt (vgl. Becker 2006: 185-187; Brenssell 2014: 27-28). Auch in der Praxis der OBS zeigt sich, dass der Bezug auf das Konzept PTBS geeignet ist, um im öffentlichen Diskurs die Schwere der Folgen zu unterstreichen und sich für einzelne Betroffene einzusetzen, die aufgrund ihrer besonderen psychischen Belastung den Wohnort wechseln, Entschädigungsleistungen beantragen oder therapeutische Hilfe in Anspruch nehmen wollen. Mit der Nutzung des Konzeptes PTBS wird aber zugleich auf ein Problemverständnis rekurriert, welches das Leiden der Betroffenen individualisiert und aus dem gesellschaftlichen Kontext herauslöst. Das Paradox besteht also darin, dass, um politisch für die Anliegen der Betroffenen wirksam werden zu können, ein Problemverständnis reproduziert wird, welches dem Anliegen der OBS, individuelle und politische Dimensionen rechter und rassistischer Gewalt in ihrer Verbindung zu bearbeiten, widerspricht. So wurde auch in den Schilderungen der Berater_innen die Tendenz deutlich, psychische Problemstellungen losgelöst von den lebensweltlichen Be-

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zügen der Betroffenen zu thematisieren und aus der alltagsorientierten Fallbearbeitung auszugliedern. Demgegenüber wurde aber aus dem empirischen Material gerade das Potenzial der OBS deutlich, durch die Orientierung an den Alltagsbezügen der Betroffenen in Bezug auf die psychischen Bewältigungsprozesse wirksam zu werden.

12.4 D IE G ESTALTUNG DER B ERATUNGSBEZIEHUNG Im Folgenden soll der Frage nachgegangen werden, welche Dimensionen der Gestaltung des Beratungsverhältnisses von den Ratsuchenden in ihrem Bewältigungsprozess als hilfreich wahrgenommen wurden.2 In Kapitel 7 wurde herausgearbeitet, dass Oliver die Fachkompetenz der Berater_innen als wesentliche Dimension der Qualität der Beratung beschreibt. Als ‚Profis‘ im Feld konnten sie ihm als Orientierungshilfe im Umgang mit dem Angriff dienen. Dabei hebt Oliver die Beratung und Unterstützung im Zusammenhang mit der Anzeigenstellung sowie die Beratung zu psychischen Folgen der Gewalt besonders hervor. Als zweite wesentliche Dimension beschreibt Oliver eine vertrauensvolle und persönlich nah und zugewandt erlebte Beziehungsqualität. Insbesondere betont er die persönliche Verbindung der Beraterin Vera zur alternativen Jugendszene in Niebrau. Die hier angesprochenen Dimensionen finden sich auch in den Beschreibungen der anderen von mir befragten Ratsuchenden. So beschreibt auch Marvin als wesentliche Qualität, dass die Berater_innen der OBS ihm in der überfordernden Situation nach der Gewalterfahrung durch ihre Fachkompetenz (insbesondere in Bezug auf Handlungsoptionen im Ermittlungs- und Strafverfahren) Sicherheit vermitteln konnten. Alle Befragten heben ähnlich wie Oliver die Zugewandtheit der OBSBerater_innen hervor. Dass die OBS für die Fahrtkosten für Anwaltsbesuche und andere notwendige Treffen aufkam, zu Gesprächen zu den Betroffenen nach Hause kam oder sie z.B. zum Gerichtsverfahren oder zu Terminen bei der Polizei zuhause abholte und begleitete, erlebten die Betroffenen als Wertschätzung. Auch die einfache und verlässliche Ansprechbarkeit über einen langen Zeitraum (oft über Jahre) wird aus den Schilderungen der Betroffenen als wichtige Qualität der Beratung deutlich.

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Die Betroffenen, die ich befragt habe, beschreiben die Beratung durch die OBS als hilfreich. Dass diese Bewertung keine Aussage darüber zulässt, dass das Angebot der OBS grundsätzlich als hilfreich wahrgenommen wird, ist bereits in Kapitel 6 angesprochen worden. Ich gehe vielmehr davon aus, dass sich nur Betroffene, die das Beratungsangebot positiv erlebt haben, für ein Interview zu Verfügung gestellt haben. Es kann auf Grundlage der Daten aber formuliert werden, wie der Beratungsprozess von den Befragten als hilfreich wahrgenommen wurde.

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Insbesondere Oliver und Juliane heben die persönliche Qualität des Verhältnisses und die soziokulturelle Nähe der Berater_innen hervor, die den Aufbau eines Vertrauensverhältnisses erleichtert habe. Durch die Vertrautheit der Berater_innen mit den Lebenswelten alternativer Jugendlicher erfahren Betroffene Anerkennung für ihre Lebensweise, mit der sie bei anderen Stellen nicht selten auf Unverständnis stoßen. Ich bin zu Beginn meiner Forschung davon ausgegangen, dass auch für Betroffene rassistischer Gewalt der Aufbau eines vertrauensvollen Beratungsverhältnisses erleichtert sein könnte, wenn sie zu den Berater_innen eine soziokulturelle Nähe wahrnehmen und die Berater_innen selbst erfahrungsbezogenes Wissen über Rassismus haben. Mit dieser Überlegung knüpfte ich auch an die in Kapitel 2.2 dargestellten Forschungsergebnisse an, dass Rassismus von Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft oft nicht wahrgenommen oder geleugnet wird, und dass dadurch das Thematisieren von Rassismus für Betroffene erschwert ist. Auch wird beschrieben, dass die (wiederholte) Erfahrung rassistischer Diskriminierung und Gewalt zu einem generellen Misstrauen gegenüber Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft führen kann (vgl. Bryant-Davis/Ocampo 2005: 488; Craig-Henderson/Sloan 2003: 483). Die Schilderungen der Betroffenen ermöglichen hier eine Differenzierung der Bedeutung der soziokulturellen Zugehörigkeit und des Erfahrungsbezuges der Berater_innen. Auf die Frage, ob es für ihn nach der Gewalterfahrung einen Unterschied gemacht habe, mit Menschen zu sprechen, die bereits ähnliche Erfahrungen gemacht haben oder in anderer Weise von Rassismus betroffen sind, antwortet Marvin, dass die Unterschiede zwischen weißen und schwarzen Freunden nicht wesentlich waren. Generell sei für ihn die die Unterstützung, die er im persönlichen Umfeld erfahren habe, wichtig gewesen. Zugleich seien die Ratschläge, Kommentare und Reaktionen seiner Freund_innen und seiner Familie für ihn aber auch problematisch geworden, weil sie jeweils durch deren persönliche Perspektiven und Umgangsstrategien inspiriert gewesen seien, die sich nicht notwendigerweise mit seinen eigenen Interessen gedeckt hätten. In Abgrenzung dazu führt Marvin aus, dass im Beratungsverhältnis mit der OBS seine individuellen Bedürfnisse und Interessen im Mittelpunkt standen. Wesentlicher als erfahrungsbezogenes Wissen über Rassismus war für Marvin, dass die Berater_innen über themenbezogene Fachkompetenz verfügten und den Beratungsprozess so gestalteten, dass er Orientierungshilfe in Bezug auf seine eigenen Handlungsentscheidungen erhielt, ohne dass diese durch eigene Anliegen der Berater_innen überlagert wurden.3 Herr Mbenza hingegen beschreibt im Interview eine deutliche Differenz zwischen der ‚Mentalität‘ der deutschen Mehrheitsgesellschaft und ‚Afrikanern‘. In seiner Beschreibung des Kontaktes mit der OBS und den Anwält_innen, von denen er

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Das schließt natürlich keinesfalls aus, dass auch Berater_innen mit erfahrungsbezogenem Wissen über Rassismus eine solche Unterstützung gewährleisten können.

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vertreten wird, differenziert er diese Beschreibung aber. Er beschreibt die Berater_innen und Anwält_innen als Menschen, die sich, obwohl sie nicht selbst betroffen sind, mit Rassismus auseinandersetzen und vor diesem Hintergrund für seine Anliegen ansprechbar sind – und nicht zuletzt praktische Unterstützung bieten. Sowohl Herr Mbenza als auch Marvin haben mit der OBS einen Rahmen gefunden, Rassismuserfahrungen zu thematisieren und Handlungsstrategien zu entwickeln, obwohl die Berater_innen der Mehrheitsgesellschaft angehören. Daran anschließend kann formuliert werden, dass der individuelle Erfahrungsbezug und die soziokulturelle Nähe der Berater_innen zu den Lebenswelten der Ratsuchenden zwar hilfreich sein können, dies aber weder ausreichend noch in jedem Fall notwendig ist,4 um den Bewältigungsprozess der Betroffenen zu unterstützen. Weiter oben in diesem Kapitel wurde die Überlegung rekapituliert, dass in der Bewältigung der Gewalterfahrung die Gruppenzugehörigkeit für Betroffene in sehr unterschiedlicher und ambivalenter Weise bedeutsam werden kann. Daraus lässt sich der Schluss ziehen, dass die Anerkennung der Lebenswelten der Betroffenen und die parteiliche Positionierung der Berater_innen gegen Rassismus und Rechtsextremismus zwar eine wesentliche unterstützende Dimension ist, dies aber zugleich nicht dazu führen darf, dass die Betroffenen auf ihre ‚Identität‘ oder Gruppenzugehörigkeit festgeschrieben werden. Es wäre lohnend, die Frage nach der Bedeutung des soziokulturellen Hintergrundes der Berater_innen für die Beratungsqualität in weiterer Forschung zu vertiefen.

12.5 AUSBLICK : P RAXISENTWICKLUNG WEITERE F ORSCHUNG

UND

Die Tätigkeit der Berater_innen ist, so ist in dieser Arbeit deutlich geworden, anspruchsvoll. Sie erfordert Fachkompetenz in sehr unterschiedlichen Feldern. Für die beschriebene Praxis an der Schnittstelle zwischen Individuum und Gesellschaft müssen Berater_innen die individuellen Bewältigungsprozesse von Gewaltbetroffenen verstehen, wofür sie (psychologisches) Wissen sowie umfassende Kenntnisse über die – gesellschaftlich vermittelten – lebensweltlichen Bezüge der Ratsuchenden benötigen. Sie brauchen Wissen über juristische und polizeiliche Abläufe, ausländerrechtliche Problemstellungen und Erscheinungsweisen von Rassismus und Rechtsextremismus. Sie müssen mit komplexen psychischen Problemlagen und vielfältigen alltagspraktischen Problemstellungen umgehen und (lokal-)politische Situationen analysieren. In all diesen Feldern müssen sie Handlungsoptionen identifizieren, und

4

In Bezug auf andere Fälle, die in dieser Arbeit allerdings nicht umfassend untersucht werden konnten, formulieren die Berater_innen die Vermutung, dass das Beratungsverhältnis gescheitert ist, da die Ratsuchenden zu den Berater_innen als Angehörige der Mehrheitsgesellschaft kein Vertrauen aufgebaut hatten.

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sie müssen ihre Rolle als professionelle Fachkräfte in der Sozialen Arbeit reflektieren. Im Forschungsprozess wurde deutlich, dass die OBS über eine Praxis der Reflexion des eigenen Handelns im Spannungsfeld zwischen individuumsbezogenen und politischen Perspektiven verfügen. Die Berater_innen fühlen sich aber in sehr unterschiedlichem Maße sicher, die verschiedenen Handlungsfelder auszufüllen. Die Handlungssicherheit in der (reflexiven) Bewältigung des Spannungsfeldes zwischen individuellen und gesellschaftsbezogenen Perspektiven in der Praxis der OBS scheint in hohem Maße von der jeweiligen Arbeitserfahrung der Mitarbeiter_innen abzuhängen. Daraus lassen sich folgende Schlussfolgerungen ziehen: Die Bewältigung dieser vielfältigen Anforderungen in einer reflexiven Praxis erfordert stabile Rahmenbedingungen, in denen Berater_innen sich die für das spezifische Feld notwendigen vielfältigen Handlungskompetenzen aneignen können, die in keiner Ausbildung vollständig vermittelt werden. Das erfordert Arbeitsplätze, auf denen Berater_innen langfristige Perspektiven aufbauen können, Möglichkeiten zur Weiterbildung erhalten sowie die umfassende Einarbeitung neuer Kolleg_innen, z.B., durch die enge Zusammenarbeit mit erfahreneren Berater_innen, gewährleistet ist. Fachliches Handeln im umrissenen Feld erfordert zudem Rahmenbedingungen, die eine reflexive Praxis fördern. Um Handlungsproblematiken zu bewältigen, die sich aus dem Spannungsfeld zwischen individueller Unterstützung und gesellschaftsbezogenen Perspektiven ergeben, sind Möglichkeiten für kollegialen Austausch ebenso förderlich wie eine Organisationskultur, die die Thematisierung von Widersprüchen, Unsicherheiten und Schwierigkeiten in der Arbeit zulässt. Um Handlungskompetenz im Umgang mit psychischen Problemlagen der Betroffenen zu erweitern, können traumatherapeutische Weiterbildungen hilfreich sein. Es wurde aber deutlich, dass diese von den Berater_innen in sehr unterschiedlicher Weise in die Praxis integriert werden. Es ist nicht eindeutig, wie therapeutische Ansätze mit der gesellschaftsbezogenen Perspektive und der alltagsorientierten Unterstützungspraxis der OBS vermittelt werden können. Ein Ansatz der Weiterentwicklung der Praxis ist vor diesem Hintergrund, gemeinsam zu erarbeiten, in welchem Verhältnis traumatherapeutische Ansätze und Techniken mit dem Wissen über die Bedeutung lebensweltlicher Zusammenhänge stehen. Die Auseinandersetzung mit therapeutischen Zugängen vor dem Hintergrund der Praxis der OBS ermöglicht es, den Anwendungsbereich therapeutischer Zugänge im Themenfeld zu bestimmen, ohne sie pauschal als ‚Psychologisierung‘ abzulehnen oder sie affirmativ, aber unverbunden mit der Praxis der OBS, zu übernehmen. Als Ergebnis einer solchen Auseinandersetzung könnten die Berater_innen mehr Handlungssicherheit im Umgang mit psychischen Reaktionen von Betroffenen entwickeln. Dazu gehört auch die Auseinandersetzung mit der Schwierigkeit, dass psychische Problemlagen der Betroffenen in vielen Fällen nicht eindeutig der Gewalterfahrung zuzuordnen sind, sondern

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sich mit anderen (psychischen) Problematiken überschneiden oder vermischen. Neben der Frage nach dem Verständnis komplexer psychischer Problemlagen stellt sich insbesondere auch die Frage des Umgangs mit Fällen, in denen nicht geklärt werden kann, in welchem Verhältnis die psychische Krise der Ratsuchenden überhaupt mit einem rechten oder rassistischen Angriff steht. Weiteren Forschungsbedarf sehe ich zudem in Bezug auf Geschlechterdimensionen in den Dynamiken rechter und rassistischer Angriffe und deren Bewältigung durch die Betroffenen. In der öffentlichen Wahrnehmung sind die Täter_innen rechter und rassistischer Gewalt männlich. In den hier beschriebenen Fällen spielten Frauen jedoch z.T. eine wesentliche Rolle. Auch in Bezug auf die Bewältigung der Gewalt hat sich angedeutet, dass geschlechtsspezifische Selbstbilder eine wichtige Rolle spielen. Der Bedeutung von Geschlechterdimensionen in der Gewalterfahrung und Beratungspraxis konnte ich im Rahmen dieser Arbeit nicht systematisch nachgehen. Schließlich wäre es lohnend, die in dieser Arbeit begonnene Analyse von Bewältigungsprozessen der Betroffenen zu vertiefen. Insbesondere wäre zu überlegen, wie subjektwissenschaftliche Forschung mit Betroffenen weitergehend realisiert werden kann, um aus der Perspektive der Betroffenen in ihren verschiedenen Lebenslagen Handlungsmöglichkeiten und -behinderungen in der Bewältigung der Gewalterfahrung herauszuarbeiten.

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Andrea Baier, Tom Hansing, Christa Müller, Karin Werner (Hg.)

Die Welt reparieren Open Source und Selbermachen als postkapitalistische Praxis 2016, 352 S., kart., zahlr. farb. Abb. 19,99 € (DE), 978-3-8376-3377-1 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation ISBN 978-3-8394-3377-5

Carlo Bordoni

Interregnum Beyond Liquid Modernity 2016, 136 p., pb. 19,99 € (DE), 978-3-8376-3515-7 E-Book PDF: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3515-1 EPUB: 17,99€ (DE), ISBN 978-3-7328-3515-7

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Soziologie Sybille Bauriedl (Hg.)

Wörterbuch Klimadebatte 2015, 332 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-3238-5 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3238-9

Silke van Dyk

Soziologie des Alters 2015, 192 S., kart. 13,99 € (DE), 978-3-8376-1632-3 E-Book: 12,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-1632-7

Ilker Ataç, Gerda Heck, Sabine Hess, Zeynep Kasli, Philipp Ratfisch, Cavidan Soykan, Bediz Yilmaz (eds.)

movements. Journal for Critical Migration and Border Regime Studies Vol. 3, Issue 2/2017: Turkey’s Changing Migration Regime and its Global and Regional Dynamics November 2017, 230 p., pb. 24,99 € (DE), 978-3-8376-3719-9

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