Zwischen Tätern und Opfern: Gewaltbeziehungen und Gewaltgemeinschaften [1 ed.] 9783666300998, 9783525300992


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Zwischen Tätern und Opfern: Gewaltbeziehungen und Gewaltgemeinschaften [1 ed.]
 9783666300998, 9783525300992

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Philipp Batelka / Michael Weise / Stephanie Zehnle (Hg.)

Zwischen Tätern und Opfern Gewaltbeziehungen und Gewaltgemeinschaften

Zwischen Tätern und Opfern Gewaltbeziehungen und Gewaltgemeinschaften

Herausgegeben von Philipp Batelka, Michael Weise und Stephanie Zehnle

Vandenhoeck & Ruprecht

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft (FOR 1101/2). Mit 4 Abbildungen und einer Tabelle Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-666-30099-8 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de. Umschlagabbildung: Gewalt und Boshaftigkeit. (Genesis 6). Kupferstich J. Sadeler nach M. de Vos, 1586. © Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, 37073 Göttingen / Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U. S. A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Satz: textformart, Göttingen | www.text-form-art.de

Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Philipp Batelka, Michael Weise, Stephanie Zehnle Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Christian Gudehus Gewalt als Handlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 Peter Imbusch Die Rolle von »Dritten« Eine unterbelichtete Dimension von Gewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 Stephanie Zehnle Sex und Dschihad Vom Opfer- und Täterwerden der islamischen Konkubinen Westafrikas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 Philipp Batelka »Kroaten und dergleichen Gesindel« Grenzkrieger als Gewalttäter im Österreichischen Erbfolgekrieg . . . . . 107 Michael Weise Grausame Opfer? Kroatische Söldner und ihre unterschiedlichen Rollen im Dreißigjährigen Krieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 Martin Rink Gewaltunternehmer im 17. Jahrhundert Nordafrikanische Korsaren zwischen (Klein-)Krieg, (Raub-)Handel und Piraterie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 Sascha Reif »How many he slays!« Täter und Opfer im Ostafrika des 19. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . 183 Richard J. Reid Revisiting »Primitive War« Die Wahrnehmung von Gewalt und Rasse im Lauf der Geschichte . . . . 203

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Inhalt

David Pratten Die ›Leopardenmorde‹ im kolonialen Nigeria . . . . . . . . . . . . . . . . 233 Michael Schellenberger Troubles and Riots Gewaltgemeinschaften in Belfast während der Zwischenkriegszeit . . . . 259 Hans Medick Der Krieg im Haus? Militärische Einquartierungen und Täter-Opfer-Beziehungen in Selbstzeugnissen des Dreißigjährigen Krieges . . . . . . . . . . . . . . . 289 Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307

Vorwort Wer sich mit dem Thema Gewalt beschäftigt, kommt – so sollte man meinen – an der Frage nach Tätern und Opfern, ihrem Verhältnis zueinander und der Reversibilität dieser Rollen(-zuschreibungen) nicht vorbei. Dennoch wurde dieser Aspekt in der bisherigen Gewaltforschung weitgehend vernachlässigt, obwohl er bei der Untersuchung und Analyse in Bezug auf die Akteure der Gewalt von herausragender Bedeutung ist. Und so liegt es gewissermaßen in der inhärenten Logik einer Forschergruppe, die Gewaltgemeinschaften untersucht, dass sie sich auch mit diesem zentralen Aspekt intensiv auseinandersetzt. Zu diesem Zweck veranstalteten die Herausgeber zusammen mit Mathis Prange unter der Leitung von Prof. Dr. Winfried Speitkamp, Prof. Dr. Horst Carl und Prof. Dr. Christine Reinle am 17.  und 18.  Februar 2014 an der Justus-Liebig-Universität Gießen einen Workshop mit dem Titel »Täter und Opfer«. An zwei Tagen referierten und diskutierten WissenschaftlerInnen unterschiedlicher Fachdisziplinen über damit zusammenhängende Fragen wie der heuristischen Sinnhaftigkeit dieses Begriffspaares, der Repräsentation und Stilisierung beider Seiten, Aushandlungsprozesse, Interaktionen und Auflösungserscheinungen in der Täter-Opfer-­ Beziehung sowie über alternative bzw. ergänzende Rollenmodelle.1 Im vorliegenden Werk sind mehrere dieser Vorträge in überarbeiteter Form versammelt. Ergänzt werden sie durch weitere Aufsätze, die die theoretische Tiefe und die inhaltliche Breite des Bandes erweitern. Bei allen ReferentInnen und AutorInnen möchten wir uns für die gute und konstruktive Zusammen­ arbeit herzlich bedanken. Am Zustandekommen dieser Publikation haben viele Hände und Köpfe mitgewirkt, denen an dieser Stelle herzlich gedankt werden soll. Zuvorderst möchten sich die Herausgeber bei Mathis Prange bedanken, der bei der Vorbereitung und Gestaltung des Workshops ein wertvoller Teil  des Organisationsteams war. Der Deutschen Forschungsgemeinschaft sind wir für die finanzielle Unterstützung bei der Organisation und Durchführung des Workshops sowie bei der Drucklegung dieses Buches zu großem Dank verpflichtet. Ein herzlicher Dank gilt allen studentischen Hilfskräften, die beim Workshop und bei der Vorbereitung des Manuskripts mitgewirkt haben. Stellvertretend für alle seien hier Franziska Urner, Sebastian Halbe und Nicole Vortanz genannt. Ebenso möchten wir dem Übersetzer der beiden englischsprachigen Beiträge (von­ David Pratten und Richard Reid), Daniel Schneider, für seine Mitarbeit danken. Unseren größten Dank dürfen wir Susanne Weber, der Koordinatorin der­

1 Vgl. dazu den Tagungsbericht von Michael Zok in: H-Soz-Kult, 22.5.2014, http://www. hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-5379 (Zugriff am 19.7.2016).

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Vorwort

Forschergruppe, aussprechen. Sie war und ist eine stets hilfsbereite, umsichtige und zuverlässige Kollegin, deren Unterstützung unersetzlich war. Zuletzt gilt unser Dank dem Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, der dieses Buch ermöglicht hat. Vor allem danken wir Kai Pätzke für seine stets freundliche und geduldige Unterstützung. Gießen und Kassel im Juni 2016 Philipp Batelka, Michael Weise und Stephanie Zehnle

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Einleitung 1. Begriffliche Annäherungen und methodische Schwierigkeiten Wenn die Begriffe »Täter«, »Opfer« und »Gewalt« in einem Zusammenhang erwähnt werden, dann denkt man in der Regel an ein asymmetrisches Verhältnis, das etwa so aussehen könnte: ein Mensch liegt verletzt am Boden, während der Täter über ihm steht und triumphiert. In dieser Szene zeigt sich ein absoluter Antagonismus zwischen Täter und Opfer, der sich körperlich, emotional und sozial manifestiert. Der Gewaltausübende ist der Täter, der Gewalterleidende das Opfer. Doch die Eindeutigkeit dieser Situation kann schon ins Wanken geraten, wenn man sie beispielsweise auf eine unübersichtliche Kampfsituation bezieht, in der Menschen sich gegenseitig verletzten. Kann man hier überhaupt von »Tätern« und »Opfern« sprechen? Und gilt dann eine vorangegangene Bedrohung, die initiale Gewalthandlung oder etwa der Ausgang des Kampfes  – im Sinne von »Siegern« und »Verlierern« – als Kriterium für die Benennung? Ausgehend von diesem Exempel lohnt es sich in einem ersten Schritt die beiden Begriffe zu hinterfragen, um anschließend über ihr Verhältnis zueinander nach­zuden­ken. Macht das Ausüben von Gewalt jemanden automatisch zum Täter und ihr Erleiden einen anderen zum Opfer? Stehen beide tatsächlich immer in einem antagonistischen Verhältnis zueinander oder gibt es auch andere Beziehungsstrukturen und wie entwickeln sich diese gegebenenfalls? Ziel ist es schließlich, die kritische Verwendung der Begriffe in der historischen Gewaltforschung zu ermöglichen. Schon semantisch ist der Täterbegriff für sich genommen keineswegs zwingend negativ oder gewalttätig determiniert. Ein Täter ist zunächst einmal lediglich »eine person, die etwas thut, ausführt, zur wirklichkeit bringt, eine that verrichtet oder verrichtet hat.«1 In dieser weiten Begriffsbestimmung bleibt offen, ob es sich um einen Wohltäter oder um einen Gewalttäter handelt. Dieser Täterbegriff entbehrt zunächst einer moralischen oder juristischen Bewertung. Erst wenn ihm ein Opfer gegenübersteht, das entweder als victim in einer Gewalthandlung unterlegen ist oder aber in seiner sakralen Dimension als der Gottheit dienend (»operari«) oder darbietend (»offere«)2 gedacht wird, verändert sich der 1 Lemma »Täter«, in: Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm. Bearb. v. Matthias Lexer, Bd. 21, Leipzig 1935, Sp. 316, online unter: http://woerterbuchnetz.de/DWB/ ?sigle=DWB&mode=Vernetzung&lemid=GT02851#XGT02851 (Zugriff am 26.9.2016). 2 Andreas Bendlin, Opfer, in: Der Neue Pauly, Bd.  8, Stuttgart 2000, Sp.  1228–1232, hier Sp.  1228. Die traditionelle Opfer-Theorie erklärt demnach die historische Entwicklung menschlicher Opferrituale von pflanzlichen hin zu menschlichen und tierlichen Blut­opfern.

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Täterbegriff nachhaltig: Sieger und Verlierer, Schuldige und Unschuldige, Gute und Böse, Täter und Opfer lenken als klassische Gegenbegriffe unsere Wahrnehmung von Gewalt und Unrecht in bestimmte Bahnen, legen eine dyadische Denkstruktur fest und wecken Assoziationen mit Domänen von Macht, Moral, Gewalt, Religion und Recht. Wie in der etymologisch-semantischen Erwähnung von Opfern einerseits als Opfer von Gewalt und Unrecht sowie andererseits als religiöse Opfer bereits angedeutet, ist auch dieser Begriff nicht eindeutig. In der religiösen Semantik gilt das Opfer als unschuldig, machtlos, zur Passivität verdammt. Es wird von anderen dargeboten oder aber es entschließt sich aktiv zur Selbstopferung etwa als Märtyrer.3 In dieser sacrifice-Bedeutung sind Opfer nur Mittel zum Zweck,4 ihre Zerstörung und ihr Schmerz dienen der Besänftigung transzendenter Wesen, ganzer kosmologischer Systeme oder durch propagierte »ethnisch-genetische Säuberungen« dem angeblichen Wohlergehen einer Gesellschaft.5 Eine solche Opfer-Semantik steht in ihrem Ursprung ganz offensichtlich dem Deutungsspektrum der Täter näher und schafft universelle Angebote, um Gewalttaten mit Sinn auszustatten. Das Sterben oder die Verletzung geschieht in dieser Denkfigur stets, um ein höheres Ziel zu erreichen, um vielleicht sogar eine Schuld zu tilgen.6 Und dieses Bedeutungsspektrum schließt auch nicht-religiös konnotierte Gewalthandlungen mit ein, sodass die Begriffsgeschichte von »Opfern« bereits erklärt, weshalb sowohl die angebliche Passivität als auch ein zu legitimierender Sinn ihrer Leiden basierend auf der Vorstellung eines sacrificiums in Diskursen im Zusammenhang mit Opfern von Gewalt immer wieder anklingen. Die Figuration von Täter und Opfer hat zudem eine zeitliche Komponente: Erst die Tat macht den Täter zum Täter und das Opfer zum Opfer. Die Untat oder Gewalttat verändert die Beziehung zwischen den Menschen zwar grundlegend, dennoch handelt es sich beim Begriffspaar Täter und Opfer nicht »um binäre Siehe zu Menschenopfern Volkhard Krech, Opfer und Heiliger Krieg. Gewalt aus religionswissenschaftlicher Sicht, in: Internationales Handbuch der Gewaltforschung, Wiesbaden 2002, S. 1255–1275, hier S. 1257. 3 Adam Seigfried, Opfer, in: Joachim Ritter/Karlfried Gründer (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 6, Basel 1984, S. 1223–1230, hier S. 1225. 4 Im Englischen und in den romanischen Sprachen verweist der ans Lateinische sacrificium angelehnte Begriff auf die Opferhandlung während von victimus abgeleitete Wörter das dargebrachte Opfer selbst benennen. Der deutsche Terminus »Opfer« meint Tat und das Ge­opferte gleichermaßen. Siehe dazu Philippe Borgeaud, Opfer, in: Hans Dieter Betz u. a. (Hg.), Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft, Bd. 2, Tübingen 2003, S. 570–572, hier S. 570. 5 Stefan Lorenz/Winfried Schröder, Der Opfer-Begriff in der neuzeitlichen Philosophie, in: Ritter/Gründer, Historisches Wörterbuch, Bd. 6, S. 1230–1237, hier S. 1236. Siehe zum­ Sündenbockphänomen und der »unendlichen Bedeutungsfülle des Opfers« außerdem Krech, Opfer und Heiliger Krieg, S. 1266 f. 6 Den Konnex von Schuld und religiösem Opfer betonen Vertreter kulturanthropologischer Opfer-Theorien über den Ursprung des Tieropfers durch die Jagd. Siehe dazu ebd., S. 1265.

Einleitung

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Begriffe von universalem Anspruch«.7 Eine Person, die kein (Gewalt-)­Täter ist, wird nicht automatisch zum Opfer, daneben gibt es Dritte, die in der ›Grammatik des Sozialen‹ in vielen Rollen auftreten können – etwa als »Unparteiische und Vermittler«, als »lachender Dritter« (»Tertius gaudens«), nach der Devise »divide et impera« Handelnde oder als Sündenbock (»Tertius miserabilis«).8 Mit dem Problem, dass sich viele soziale Beziehungen wesentlich verändern, wenn sie nicht mehr als Zweier- sondern als Dreier-Konstellationen gedacht werden, beschäftigen sich SozialwissenschaftlerInnen bereits seit Beginn des 20. Jahrhunderts. In seinem Essay »Die quantitative Bestimmtheit der Gruppe« hat Georg Simmel schon 1908 über die Folgen nachgedacht, die ein dritter Akteur für Gesellschaften haben kann. Er kommt darin zu dem Schluss, dass sein Erscheinen »Übergang, Versöhnung [oder] Verlassen des absoluten Gegensatzes«9 bedeutet, ohne jedoch zu verschweigen, dass der Dritte »gelegentlich auch die Stiftung eines solchen«10 bewirkt. Die Anstöße von Simmel werden in diesem Band in mehreren Aufsätzen weiterverfolgt, weitergedacht und weiterentwickelt.

2. Rechtsauffassung Gerade weil die Begriffe »Täter« und »Opfer« sowie daran geknüpfte Rollen­ zuweisungen so umstritten sind und drastische Sanktionierung bzw. soziale Ausgrenzungen durch eine Gesellschaft zur Folge haben können, sind Gerichte häufig Orte der ex-post-Aushandlung dieser Termini bzw. Rollen. Gerichte sind der Täter-Opfer-Beziehung in der juristischen Aufarbeitung zwischengeschaltet, widmen sich jedoch primär der Definition von Tätern und Nicht-Tätern und weniger der Opfer. In dieser triadischen Beziehung bestimmt vor allem die Frage nach der Schuld den Täterdiskurs: In der bundesrepublikanischen Rechtsprechung wird zwischen unmittelbarem und mittelbarem Täter, zwischen Täter und Nebentäter sowie zwischen Täter und dem Teilnehmer einer Straftat unterschieden.11 Um einen Täter für sein Tun bestrafen zu können, müssen mehrere Voraussetzungen erfüllt sein: Erstens muss vor der Tat gesetzlich geregelt sein, wofür der Täter mit welchen Folgen bestraft wird; zweitens muss dem Täter eine konkrete nach Zeit und Ort genau festgestellte Tat nachgewiesen werden; drittens muss das Geschehen durch eine ununterbrochene Kausalkette belegt 7 Reinhart Koselleck, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a. M. 1979, S. 213. 8 Ulrich Bröckling, Gesellschaft beginnt mit Drei, in: Thomas Bedorf u. a. (Hg.), Theorien des Dritten. Innovationen in Soziologie und Sozialphilosophie, München 2010, S. 189–212, hier S. 196. 9 Georg Simmel, Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Leipzig 1908, S. 102. 10 Ebd. 11 Lemma »Täter«, in: Klaus Weber (Hg.), Rechtswörterbuch, München 202011, S. 1173.

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sein; viertens muss sein Verhalten schuldhaft gewesen sein und fünftens muss er die Tat in Kenntnis aller Fakten und Umstände begangen haben.12 Verletzt die begangene Tat des Angeklagten das bestehende Recht, so handelt es sich bei dem der Tat Angeklagten unter den beschriebenen Voraussetzungen in juristischer Perspektive zweifelsfrei um einen Straftäter. So wird laut § 25 Abs. 1 des deutschen Strafgesetzbuchs »bestraft, wer die Straftat selbst oder durch einen anderen begeht«. Das Opfer ist dann jene Person, die Schaden durch eine Straftat erleidet. Wird vor Gericht allerdings eine Mitschuld festgestellt, so wird das Opfer seinerseits zum (Mit-)Täter. Nachgerade im historischen Kontext war die Feststellung der Schuld nicht immer unproblematisch (was selbstredend auch für die Gegenwart noch zutrifft): Was wenn zum Zeitpunkt der Tat das bestehende Recht Verbrechen gegen die Menschlichkeit nicht nur deckt, sondern geradezu gutheißt? Vor dieses Problem gestellt sah sich die Weltöffentlichkeit aufgrund des Holocaust und den darauf folgenden Nürnberger Prozessen. Die historische Aufarbeitung der Nazi-Verbrechen begründete auch die historische Täterforschung innerhalb der Geschichtswissenschaft.13 Dabei sahen sich JuristInnen und HistorikerInnen mit der Schwierigkeit konfrontiert, dass Personen verurteilt wurden, die für ihre Taten aufgrund einer Gesetzesgrundlage angeklagt waren, die zum Zeitpunkt des Tatvollzugs nicht existierte bzw. keine Rechtsgültigkeit besaß. Obwohl sich dieser Band dezidiert nicht empirisch dem Holocaust oder anderen Genoziden widmet, ist die Berücksichtigung diesbezüglicher Debatten in der Geschichtswissenschaft unabdingbar. Das historische Verständnis von Täterschaft und Opferschaft ist mit den nachfolgenden bundesdeutschen NS -Prozessen verwoben. Dabei offenbarte sich eine weitere Schwierigkeit, nämlich der konkrete Nachweis einer Straftat, selbst wenn der Angeklagte zweifelsfrei aktiver Teil des Unrechtsregimes war. Im Zuge der Aufarbeitung der NS -Geschichte wurde insbesondere durch Raul Hilberg auf die Rolle der »Zuschauer« bei der Vernichtung der europäischen Juden hingewiesen.14 Diese Zwischenposition wurde und wird vor allem in der soziologischen Forschung intensiv untersucht. Dem sogenannten »Dritten«, »Zuschauer« oder »bystander« sind eine Vielzahl von Studien gewidmet,15 womit eine Ausdifferenzierung der Begriffe »Täter« und »Opfer« einherging. In diesem Buch beschäftigen sich Peter Imbusch aus soziologischer und Christian Gudehus aus kulturwissenschaftlicher Perspek12 Ursula Solf, Wenn das Recht im Auge des Betrachters liegt. NS -Täter aus juristischer Perspektive, in: Helgard Kramer (Hg.), NS -Täter aus interdisziplinärer Perspektive, München 2006, S. 79–93, hier S. 79. 13 Frank Bajohr, Täterforschung. Ertrag, Probleme und Perspektiven eines Forschungs­ ansatzes, in: Ders./Andrea Löw (Hg.), Der Holocaust. Ergebnisse und neue Fragen der Forschung, Frankfurt a. M. 2015, S. 167–185, hier S. 167. 14 Raul Hilberg, Täter, Opfer, Zuschauer. Die Vernichtung der Juden 1933‒1945. Aus dem Amerikan. v. Hans Günther Holl, Frankfurt a. M. 1992. 15 Beispielsweise Bedorf, Theorien des Dritten; Eva Eßlinger u. a. (Hg.), Die Figur des Dritten. Ein kulturwissenschaftliches Paradigma, Frankfurt a. M. 2010.

Einleitung

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tive mit genau diesen Personen(-gruppen) und fragen nach ihrer Rolle in Ge­ walt­situa­tio­nen bzw. nach der Wechselwirkung zwischen den verschiedenen Akteuren. Im Sinne juristischer Schuld – etwa angesichts unterlassener Hilfeleistung – führt die Erweiterung um Dritte auch dazu, dass Mittäter sich gerade durch ihr Nichtstun strafbar machen können. Auch Gerichte lassen folglich ein viel größeres Rollenrepertoire zu, anstatt sich auf eine bloße Dichotomie von Täterschaft und Opferschaft zu beschränken. Besonders für die historische Bearbeitung von Gewaltgeschichte sind gerichtliche Quellen häufig bedeutende Quellenbestände16 und aus diesem Grund muss die juristische Definition der Begriffe kulturabhängig und kritisch betrachtet werden, um Täter-Opfer-Beziehungen in der Geschichte zu untersuchen. Wenn etwa im Beitrag des Anthropologen David Pratten, südnigerianische und britisch-koloniale Rechtsysteme bei der Aufarbeitung von zweifelhaften Todesfällen kollidieren, so lösen sich scheinbar definitive Kategorien von Mord, Täterschaft, Mensch und Tier rasch auf.17

3. Zwischen Selbst- und Fremdbildern In juristischen, medialen, literarischen und politischen Diskursen kollidieren nicht nur unterschiedliche Auffassungen davon, was »Opfer« und »Täter« allgemein ausmacht, sondern es treten auch disparate Selbst- und Fremdbilder in Konfrontation. Beispielsweise können Gerichte Opfer zwar als solche von jeglicher (Mit-)Schuld freisprechen, und trotzdem zweifeln diese aufgrund psychosozialer Prozesse weiter an ihrer Unschuld. Jenseits des Rechts wird das Opfersein auch von Dritten oft als Versagen und Schwäche verstanden und so direkt zum Ausdruck gebracht. Die typische Scham der Opfer von Gewalt entsteht, weil die ständig aufkommende Frage nach der Ursache für ihr Schicksal in der Regel nicht beantwortet werden kann. Warum ich, warum habe ich die Gefahr nicht erkannt, warum habe ich nicht mit den Gewalttätern kooperiert oder mich nicht besser gegen sie gewehrt? Gewaltopfer verspüren häufig eine Mitschuld an der Tat und dieser Eindruck verstärkt sich nicht selten durch Dritte 16 Siehe dazu etwa Janine Rischke, »Mit dem bloßen Pallasch ihn etliche mal über den Kopff geschlagen.« Gewalttätigkeiten von Soldaten in den Gerichtsakten des preußischen Militärs im 18. Jahrhundert, in: Christian Th. Müller/Matthias Rogg (Hg.), Das ist Militär­ geschichte! Probleme – Projekte – Perspektiven. Festschrift für Bernhard R. Kroener zum 65. Geburtstag, Paderborn 2013, S. 292–311; Jutta Nowosadtko, Militärjustiz in der Frühen Neuzeit. Anmerkungen zu einem vernachlässigten Feld der historischen Kriminalitätsforschung, in: Heinz-Günther Borck (Hg.), Unrecht und Recht. Kriminalität und Gesellschaft im Wandel 1500‒2000. Wissenschaftlicher Begleitband, Koblenz 2002, S. 638–651. 17 Siehe dazu auch Stephanie Zehnle, Wenn Tiere morden. Interkulturelle Verhandlungen über Natur und Kultur im kolonialen Westafrika. Eine historische Auseinandersetzung mit Philippe Descola, in: Iris Därmann/Stephan Zandt (Hg.), Andere Ökologien. Transformationen von Mensch und Tier, München 2017.

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oder die TäterInnen selbst, die diese Selbstbezichtigung zur eigenen Entlastung noch bestätigen und bestärken.18 Die tatsächliche Selbstbezeichnung »Opfer« ist hingegen schambesetzt und bedarf der Überwindung. In der Jugendsprache der Jahrtausendwende wird auf diese Scham angespielt, wenn andere humorvoll oder ernsthaft beleidigend mit »du Opfer!« angesprochen oder bezeichnet werden.19 Hier wird das Wort »Opfer« selbst zur Erniedrigung, welche die Demütigung im Gewaltakt entweder erinnert, metaphorisch einsetzt oder aber ankündigt. Hier wird zudem mit der als politisch korrekt geltenden Norm gebrochen, dass der Opferstatus und die Anerkennung als Geschädigter von einer staatlichen Position aus erkämpft und erstritten werden muss – gegebenenfalls sogar in einer Situation der so genannten Opferkonkurrenz.20 Unter HistorikerInnen, die sich mit dem Zweiten Weltkrieg und der NS -Diktatur sowie den entsprechenden Erinnerungskulturen beschäftigen, gilt der Opferstatus folglich eindeutig als eine erstrebenswerte Kategorie für Kollektive, um dadurch Aufmerksamkeit, Anerkennung, Mitleid und eventuell auch materielle Kompensation zu erreichen. Auch für (Nachkommen der) Opfergruppen kolonialer Kriege, Folter und Genozide ist der Weg bis zur politischen Anerkennung als Geschädigte ein steiniger.21 Ein solches Erstreiten des Opferstatus ist besonders dort präsent, wo die ausgeübte Gewalt von den Verantwortlichen oder auch der Mehrheit der Gesellschaft negiert, beschwichtigt oder gänzlich tabuisiert wird. Es geht hier also primär um individuelle und gesellschaftliche Verarbeitungsprozesse von Gewalt, in der keine Täterschaft öffentlich bestätigt und keine oder nicht ausreichend Verantwortung übernommen wird. Dadurch ist die rehabilitierende Selbstbezeichnung als »Opfer« in diesen Fällen gleichzeitig auch eine Anschuldigung und ein Zeigen auf Täter. 18 Gleichzeitig macht ein bestimmtes Verhalten des Opfers – etwa Abwehr und Widerstand im Falle sexueller Handlungen – eine Straftat häufig erst zu einer solchen. Vgl. Werner Beulke, Opfer einer Straftat und materielles Recht, in: Deutsches Rechtslexikon, Bd. 2, München 2001, S. 3120. 19 Der Begriff »Opfer-Abo« schaffte es 2012 sogar zum Unwort des Jahres. Vgl. Sprachkritische Aktion, Unwort des Jahres, http://www.unwortdesjahres.net/index.php?id=35 (Zugriff am 22.6.2016). 20 Siehe zum Begriff der »Opferkonkurrenz« Jean-Michel Chaumont, Die Konkurrenz der Opfer. Genozid, Identität und Anerkennung, Lüneburg 2001. Opferhierarchien bestehen dabei immer und sind nicht nur auf zwischenmenschliche Gewalt beschränkt. Agenturnachrichten arbeiten global unter der Systematik, Opferzahlen von Katastrophen oder Anschlägen immer nach ihren Herkunftsländern zu gruppieren und beispielsweise Frauen und Kinder häufig extra zu nennen. Auch in den Nachrichten wird die Anzahl von Opfern der eigenen Nationalität in der Regel eigens ausgewiesen. Vgl. dazu den Nachrichtenwert »Nähe« Lutz Korndörfer, 1968 im Spiegel der Presse. Die divergierenden Reaktionen deutscher und amerikanischer Printmedien auf die deutsche Protestbewegung und die Bürgerrechtsbewegung in den USA , Münster 2014, S. 80. 21 Siehe etwa zur Entschädigungsdebatte bezüglich des Genozids an den Herero durch deutsche Kolonialtruppen im heutigen Namibia Jürgen Zimmerer, Entschädigung für Herero und Nama, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 6 (2005), S. 658–660.

Einleitung

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Wenn »du Opfer« allerdings als Beleidigung eingesetzt wird, so wird die Rolle der Täter – zu der sich der Sprecher oder die Sprecherin mittelbar rechnet – glorifiziert und erscheint als positiv besetzt. Der Opferbegriff kann folglich ebenso Mitleid und Identifikation hervorrufen wie in diskriminierenden Bemerkungen ein täterhaftes Überlegenheitsgefühl. Es herrschen widersprüchliche Kämpfe um den Opferstatus: Für Holocaustopfer war und ist die Bezeichnung Opfer vor allem aus juristisch-moralischen, aber auch aus finanziellen Gründen erstrebenswert. Eine allgemeine Tendenz zu einer positiven und geradezu attraktiven Konnotation des Opferstatus hat der italienische Komparatist Daniele Giglioli für die Gegenwart diagnostiziert und in diesem Zusammenhang pointiert festgestellt: »Das Opfer ist der Held unserer Zeit.«22 In seinem streitbaren Essay »Die Opferfalle« zeigt er auf, wie das Streben verschiedener gesellschaftlicher Gruppen nach der Anerkennung als Opfer diesen Status zum allgemein »begehrenswerten Zustand« hat werden lassen, bringt er doch den Vorteil mit sich, dass »[d]as Opfer per definitionem im Recht« ist.23 Beispiele für die politische Nutzbarmachung dieser Form des Opferstatus lassen sich gerade in der Bundesrepublik ausmachen. In der Jugendsprache oder bestimmten illegalen Milieus ist »Opfersein« jedoch verpönt. Das Problem dieser Widersprüchlichkeit scheint ein Problem der Deutungshoheit zu sein: Wer bestimmt, was »Opfersein« bedeutet und welche soziale Integration oder Exklusion es nach sich zieht? Es gilt zunächst, die Deutungshoheit über die Bedeutung des Wortes zu besitzen, sodass der Opferstatus eine Aufwertung erfährt. »Tätersein« hin­gegen scheint nur dann eine beliebte Kategorie, wenn man sich »unter Gleichen« vermutet – also etwa zwischen und innerhalb von Gewaltgemeinschaften. Die bewusste Imagination, Inszenierung und Überhöhung eigener Täterschaft als Motivation zum Kampf und Abschreckungsmechanismus beschreibt Sascha Reif in seinem Beitrag am Beispiel ostafrikanischer Kriegergemeinschaften. Im gesamtgesellschaftlichen Kontext aber findet sich diese Selbstzuschreibung kaum oder nicht mehr, wobei sie als stereotype Fremdzuschreibung etwa für afrikanische Gesellschaften im kolonialistischen, rassistischen und missionierenden Europa stets für diffuse Legitimität sorgte, wie der britische Historiker Richard J. Reid in diesem Band zeigt. Ob in aktuellen oder historischen Zusammenhängen, beschäftigt man sich mit Gewalttaten, so stößt man meist sehr schnell auf die Frage nach dem »Warum«, nach der Motivation und Ursache der Tat. Genau diese Fragen halten indes die »Innovateure«24 der Gewaltforschung für überholt, da sie zentralen Aspekten wie der Anlasslosigkeit, Situationsoffenheit und Prozesshaftig22 Daniele Giglioli, Die Opferfalle. Wie die Vergangenheit die Zukunft fesselt. Aus dem Italienischen v. Max Henninger, Berlin 2016 [Rom 2014], S. 9. 23 Ebd. 24 Maren Lorenz, Physische Gewalt – ewig gleich? Historische Körperkontexte contra absolute Theorien, in: Wiener Zeitschrift zur Geschichte der Neuzeit 4 (2004), H. 2, S. 9–24, hier S. 13.

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keit von Gewalt ebenso wenig gerecht werden, wie dem Umstand, dass Gewalt eine »Jedermanns-Ressource« ist. Der »Ursachen-Reduktionismus« führe zu einer Entsubjektivierung der Handelnden und damit letztlich zu einer Soziologie von Tätern ohne Verantwortung. Um zu verstehen, wie Gewalt entfesselt wird, müsse man vielmehr die konkreten Praktiken der Gewalt unter­suchen, also eine Phänomenologie der Gewalt entwickeln.25 Diese neuen Ansätze haben der Gewaltforschung neue Perspektiven und Forschungsfelder eröffnet, die – besonders für die Analyse von Täter-Opfer-Beziehungen – vielfältige Zugänge ermöglichen. Doch auch die methodische Herangehensweise der »Innovateure« ist nicht ohne Widerspruch geblieben. Maren Lorenz wirft ihnen vor, sie verstünden Gewalt als völlig sinnentleert und mystifizierten mit ihrem voyeuristischen Blick extreme Gewaltformen wie Massaker oder Folter.26 Tatsächlich sind solche Gewaltexzesse für die Opfer – aber auch die Forscher – höchst irritierend und nur schwer zu verstehen. In der Folge, so Jörg Baberowski, »verrätseln die Fassungslosen die Gewalt« und pathologisieren die Täter oder die Gewalt wird rationalisiert und damit erklärlich gemacht.27 Dass Menschen, die extreme Gewalttaten verüben, entgegen der vielfachen Annahme jedoch keineswegs ausnahmslos psychisch deviante Triebtäter sind, sondern dass auch gewöhnliche Familienväter aus der Mitte der Gesellschaft zu solchen Taten fähig sind, diese Tatsache wurde von der NS -Täterforschung eindrucksvoll nachgewiesen. Nicht zuletzt hat sie den Blick dafür geschärft, dass die Rechtfertigung der Täter für ihre Gewalttaten nicht ohne Weiteres mit den Motiven der Handelnden gleichgesetzt werden darf. Denn häufig wurde damit die Verantwortung für die jeweilige Tat wegdelegiert und der eigene Handlungs- und Entscheidungsraum nachträglich marginalisiert.28 Darüber hinaus hat speziell die Forschung zur Gewalt im 20.  Jahrhundert die soziale Kohäsionskraft gemeinsam verübter Gewalttaten herausgearbeitet.29 Dass diese Ergebnisse durchaus übertragbar sind, zeigen mehrere Studien 25 Trutz von Trotha, Zur Soziologie der Gewalt, in: Ders. (Hg.), Soziologie der Gewalt, Opladen 1997, S. 9–56, hier S. 18 f. 26 Lorenz, Physische Gewalt, S. 14. 27 Jörg Baberowski, Gewalt verstehen, in: Zeithistorische Forschungen (Online-Ausgabe) 5 (2008), H. 1, http://www.zeithistorische-forschungen.de/16126041-Baberowski-1-2008 (Zu­ griff am 17.8.2016). 28 Dass grosso modo das Gegenteil der Fall war, hat die neuere Täterforschung gezeigt. In vielen Fällen wurde der Handlungsraum der Täter nicht begrenzt, sondern fundamental ausgeweitet, vgl. Bajohr, Täterforschung, S. 177. 29 Christian Gerlach, Extrem gewalttätige Gesellschaften. Massengewalt im 20. Jahrhundert. Aus dem Amerikan. v. Kurt Baudisch, München 2011 [Originaltitel: Extremely Violent­ Societies. Mass Violence in the Twentieth-Century World, Cambridge 2010]; Felix Schnell, Räume des Schreckens. Gewalträume und Gruppenmilitanz in der Ukraine, 1905–1933, Hamburg 2012; Sven Reichardt, Faschistische Kampfbünde. Gewalt und Gemeinschaft im italienischen Squadrismus und in der deutschen SA , Köln 2002.

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zur Vormoderne,30 wenngleich sich der dafür herangezogene Quellenkorpus zwangsläufig deutlich unterscheidet. Christopher Brownings viel beachtete Studie über »Ganz normale Männer« hat die Mechanismen, die das kollektive Gewalthandeln begünstigen und be­ fördern, anschaulich dargelegt und dabei wesentlich auf die Forschungen des Psychologen Stanley Milgram zurückgegriffen.31 Weitere Arbeiten aus dem Bereich der NS -Täterforschung haben die Bedeutung der »Kameradschaft« bei der Teilnahme an Massenexekutionen betont. Kaum einer der daran Beteiligten wollte sich dem Vorwurf aussetzen, seine Kameraden im Stich zu lassen bzw. ihnen die »Drecksarbeit« zu überlassen. Dieser sozialpsychologische Grup­pen­ mecha­nis­mus hielt die Zahl der Abweichler bei diesen Mordaktionen äußerst gering, auch weil schnell ein Gewöhnungseffekt einsetzte, der das Töten immer leichter machte und die »Mordeinheiten zu verschworenen, auf Gewalt basierenden Gemeinschaften zusammenwachsen ließ.«32 Die Bedeutung der »Gemeinschaft« für das Handeln des Einzelnen in moralischen Grenzsituationen wurde bereits vor Solomon Aschs bekannten Konformitätsexperimenten durch­ Muzafer Sherif nachgewiesen. Anhand experimenteller Studien konnte Sherif zeigen, dass die Versuchsteilnehmer gerade in Situationen, in denen sie sich ob ihrer Entscheidung unsicher waren, den eigenen Referenzrahmen besonders bereitwillig aufgaben und sich an einer von ihnen unterstellten Gruppennorm orientierten. Je größer die Unsicherheit war, desto höher war die Übereinstimmung mit der Gruppe.33 Im Zusammenhang mit dem Dritten Reich erscheint die Frage, wer dort Täter und wer Opfer war, fast schon provokativ, wenn nicht gar unanständig. Doch auch in einem totalitären System wie dem NS -Staat, das nach eigenem Verständnis nur Freund oder Feind, Zustimmung oder Gegnerschaft kannte, gab es viele Menschen, die zwischen Tätern und Opfern standen. Am eindrücklichsten lässt sich dies vielleicht anhand der Rolle (jüdischer) Funktionshäftlinge sowie der »Judenräte« nachvollziehen. An Perfidie kaum zu übertreffen, zwang die SS ihnen eine Zwischenposition zwischen Tätern und Opfern auf, die die Betroffenen vor ein unlösbares Dilemma stellte: einerseits galt es für sie »funktional nach 30 Hier kann nur ein kursorischer Überblick gegeben werden. Zuletzt erschien dazu die einschlägige Arbeit von Stefan Xenakis, Gewalt und Gemeinschaft. Kriegsknechte um 1500, Paderborn 2015. Für die Antike vgl. Hans-Ulrich Wiemer, Die Goten in Italien. Wandlungen und Zerfall einer Gewaltgemeinschaft, in: Historische Zeitschrift 296 (2013), S.  593–628. Eine exemplarische Studie aus der Mediävistik: David Nirenberg, Com­ munities of Violence. Persecution of Minorities in the Middle Ages, Princeton, NJ 1996. Zuletzt noch ein außereuropäisches Beispiel: Lance R. Blyth, Chiricahua and Janos. Communities of Violence in the Southwestern Borderlands, 1680–1880, Lincoln 2012. 31 Christopher Browning, Ganz normale Männer. Das Reserve-Polizeibataillon 101 und die »Endlösung« in Polen. Übers. v. Jürgen Peter Krause, Reinbek bei Hamburg 1993. 32 Bajohr, Täterforschung, S. 178. 33 Zitiert nach Harald Welzer, Täter. Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden, Frankfurt a. M. 52011 [2005], S. 89.

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den Vorstellungen der SS zu handeln«,34 andererseits versuchten viele die Situation ihrer Mithäftlinge bzw. der Ghettobewohner zu verbessern. Unweigerlich wurden sie damit aber in einen Tatzusammenhang mit dem NS -Vernichtungssystem verstrickt, nach dessen Logik sie selbst letztlich ebenfalls eliminiert werden sollten.35 Die überlebenden Funktionshäftlinge und Judenräte sahen sich in der Debatte um ihre Rolle bei den NS -Verbrechen z. T. harscher Verurteilung ausgesetzt, etwa durch Hannah Arendt, die meinte, dass ohne die Judenräte vermutlich mehr Juden überlebt hätten, da die Deutschen ohne deren Mithilfe schwerwiegende Personalengpässe gehabt hätten. Raul Hilberg hingegen zählt die Judenräte dezidiert zu den Opfern der Naziherrschaft.36 In der israelischen Gesetzgebung werden dagegen »verfolgte Menschen« von der Verantwortung für kriminelle Taten befreit, wenn sie sich dadurch selbst vor dem sofortigen Tod retten konnten und durch die kriminelle Tat eine noch schlimmere Folge zu verhindern versuchten.37 Während dieser besondere Aspekt des Zwischenraums von Opfer- und Täterschaft schon recht gut erforscht ist, lässt sich selbiges für frühere Epochen und Akteure nicht behaupten. Die in diesem Band versammelten Beiträge möchten gerade bisher kaum behandelte Gruppen auf ihre Position in diesem Feld hin untersuchen und analysieren, wie durch Androhung und Ausübung von Gewalt Täter und Opfer zu ihrer Rolle kamen und diese ggf. auch wieder verließen oder zwischen ihnen oszillierten. Stephanie Zehnle zeigt in ihrem Beitrag beispielsweise drastisch, wie Frauen in dschihadistischen Kriegen von Opfern sexueller Gewalt durch ihre Rollen als Konkubinen schließlich genealogisch und einem kriegerischen Kalkül folgend zu Mitgliedern der Tätergemeinschaft und zu Müttern einer weiteren Kriegergeneration wurden. Auch Martin Rink und Sascha Reif beschäftigen sich in diesem Band mit den Rollenwechseln durch Sklaverei. Manche Forschungsansätze gehen sogar soweit, eine der beiden Kategorien »Täter« oder »Opfer« ganz abzuschaffen: Johan Galtungs Begriff der »strukturellen Gewalt« etwa erweiterte den Terminus und das Verständnis von Gewalt weit über die psychische oder physische Beschädigung eines Individuums oder einer Gruppe hinaus, sodass am Ende nur noch systemische Bedingungen und Opfer, aber keine Täter mehr blieben.38 Auch der Berner Historiker Christian 34 Falk Pingel, Häftlinge unter SS -Herrschaft. Widerstand, Selbstbehauptung und Vernichtung im Konzentrationslager, Hamburg 1978, S. 165, zitiert nach Revital Ludewig-Kedmi, Opfer und Täter zugleich? Moraldilemmata jüdischer Funktionshäftlinge in der Shoah, Gießen 2001, S. 28. 35 Dan Diner, Jenseits des Vorstellbaren – der »Judenrat« als Situation, in: »Unser einziger Weg ist Arbeit«. Das Getto in Łódź 1940–1944. Eine Ausstellung des Jüdischen Museums Frankfurt a. M. Redaktion: Hanno Loewy und Gerhard Schoenberner, Wien 1990, S. 32–40; Ludewig-Kedmi, Opfer und Täter zugleich, S. 28. 36 Hilberg, Täter, Opfer, Zuschauer. 37 Ludewig-Kedmi, Opfer und Täter zugleich, S. 36. 38 Johan Galtung, Strukturelle Gewalt. Beiträge zur Friedens- und Konfliktforschung. Übers. aus dem Engl. v. Hedda Wagner, Reinbek bei Hamburg 1975. Eine pointierte Kritik

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Gerlach verzichtet in seiner breit angelegten Arbeit zu »Extrem gewalttätigen Gesellschaften« weitgehend, wenn auch nicht absolut, auf den Täterbegriff, allerdings aus völlig anderen Gründen. Gerlach will die Differenz zwischen unberührten Zuschauern und Tätern aufheben, da sie seiner Meinung nach nicht existiert. Er vertritt die Ansicht, dass z. B. in Bezug auf den Genozid an den Armeniern »auch Menschen, deren Handlungen man kaum direkt als Mord oder als verbrecherisch bezeichnen kann, in nicht geringem Maße zum Tod von Armeniern beigetragen haben.«39 Umgekehrt hat Michael Meuser in einer seiner Studien zu männlicher Gewalt in homosozialen Gruppen die Frage formuliert, ob man überhaupt sinnvollerweise von Opfern sprechen kann, wenn Gewalt die Funktion wechselseitiger Anerkennung erfüllt und der Täter- und Opferstatus grundsätzlich reversibel ist. Seiner Meinung nach könnte man in diesem Fall durchaus zu dem Schluss kommen, dass hier nur noch Täter am Werk seien, ohne dass dabei Opfer »entstünden«.40 Zwar lässt sich diese Annahme natürlich keinesfalls verallgemeinern, sie regt aber zum Nachdenken über verschiedene Aspekte von Täter-Opfer-Beziehungen an. Erstens wird dadurch implizit die Frage aufgeworfen, welche Voraussetzungen erfüllt sein müssen, damit ein Individuum oder eine Gruppe zum Opfer »wird«. Zugespitzt ließe sich also fragen, was eine Person(engruppe) überhaupt erst »opferfähig« macht. Aus der (deutschen) Gegenwartsperspektive mag diese Frage eigentümlich klingen, denn im Grundgesetz und in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte sind die Gleichheit der Rechte und Würde eines jeden Menschen festgeschrieben. Aber schon ein einfacher Blick in die täglichen Nachrichten zeigt, dass die Wahrnehmung menschlichen Leids höchst unterschiedlich ist. Es macht einen gewaltigen Unterschied, wer wo von wem Gewalt erfährt. Ob in Paris oder Beirut, ob von Terroristen oder staatlicher Seite, ob Europäer oder Nicht-Europäer, all diese Kategorien spielen für die Wahr­ nehmung und Anerkennung eines Menschen als Opfer eine zentrale Rolle. Zweitens lenkt die von Meuser beobachtete »reziprok strukturierte homo­ soziale Gewalt«,41 die z. B. im Ritual der Mensur ausgeübt wird, den Fokus auf die Instabilität und Dynamik von Rollenmustern, die sich auch in vielen anderen Konstellationen beobachten lässt. Michael Schellenberger untersucht anhand der »Troubles und Riots« im Belfast der Zwischenkriegszeit solche fluktuierenden Täter-Opfer-Konstellationen.42 Ein geradezu mustergültiges Unter­

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zu Galtungs Konzept hat Michael Riekenberg verfasst, vgl. Ders., Auf dem Holzweg? Über Johan Galtungs Begriff der »strukturellen Gewalt«, in: Zeithistorische Forschungen (Online-Ausgabe) 5 (2008), H. 1, http://www.zeithistorische-forschungen.de/1-2008/ id%3D4655 (Zugriff am 17.8.2016). Gerlach, Extrem gewalttätige Gesellschaften, S. 12. Michael Meuser, ›Doing Masculinity‹. Zur Geschlechtslogik männlichen Gewalthandelns, in: Regina-Maria Dackweiler/Reinhild Schäfer (Hg.), Gewalt-Verhältnisse. Feministische Perspektiven auf Geschlecht und Gewalt, Frankfurt a. M. 2002, S. 53–78, hier S. 67. Meuser, Doing Masculinity, S. 67. Siehe seinen Beitrag in diesem Band.

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suchungs­feld für diese rollenoffenen Konfliktsituationen bietet der Kleine Krieg der Frühen Neuzeit. Hier waren es vor allem »irreguläre« Einheiten, die einerseits für ihre exzessive Gewaltausübung berüchtigt waren, andererseits aber selbst unter besonders grausamer Verfolgung litten. Martin Rink beschäftigt sich in diesem Zusammenhang mit den nordafrikanischen Korsaren.43 Michael Weise und Philipp Batelka wenden sich dagegen dem Festland zu, wo kroatische Söldner im 17. und 18. Jahrhundert im Dienste Habsburgs in Mitteleuropa Angst und Schrecken verbreiteten, gleichzeitig aber selbst diskriminiert und attackiert wurden, weshalb sich die Frage stellt, inwiefern sie als Gewaltopfer zu apostrophieren sind.44

4. Von der Dyade zur Triade Die vielschichtigen Selbst- und Fremdzuschreibungen sind nur durch Rückkopplungen mit gesellschaftlichen Prozessen jenseits der Gewaltgemeinschaften und ihrer Opfer zu verstehen. Hier rücken also die »dritten« Akteure jenseits der Täter-Opfer-Dyade in den Fokus. Jan Philipp Reemtsma proklamiert, diese Dritten identifizieren sich generell eher mit den Opfern, weil es in den Debatten um diese binären Rollenzuschreibungen um Gerechtigkeit und ­Rache gehe, wobei die Aufmerksamkeit und der Blick aber in Richtung der Täter gerichtet sei. Ein solches Gerechtigkeitsempfinden lebe von der emotionalen Nähe zu den Opfern, während sich Rache, Strafe usw. immer auf Täter konzentrieren. Im Strafrecht wird die individuelle Opferschaft zwar tatsächlich kollektiviert  – nämlich im Sinne eines Verstoßes gegen gesamtgesellschaftliche Normen, denn ansonsten wäre nur Selbstjustiz das adäquate Mittel gegen erfahrene Gewalt – allerdings würde ein Opfer dadurch auch zum bloßen Zeugen der Tat degradiert.45 In anderen Kulturen ist der Status des Opfers durchaus anders ausgehandelt worden. Häufig entschieden und entscheiden die geschädigten Opfer bzw. die Angehörigen selbst als letzte juristische Instanz, ob und wie die Täter bestraft werden sollen oder diese Entscheidung wird als sogenanntes Gottes­urteil getroffen.46 Doch funktionierten die Rechtsprechungsorgane jenseits der historischen Gewaltgemeinschaften häufig nicht mehr oder mehrere Institutionen konkurrierten um die juristische Deutungshoheit. Außerdem fällt Gemeinschaften die intensive Beschäftigung mit Gewaltopfern in der Regel erkennbar schwer. Eine Identifikation mit Opfern von Gewalt findet nur 43 44 45 46

Siehe seinen Beitrag in diesem Band. Siehe ihre Beiträge in diesem Band. Jan Philipp Reemtsma, Die Gewalt spricht nicht. Drei Reden, Stuttgart 2002, S. 50, 70. Zur Begnadigung durch Angehörige im traditionellen islamischen Strafrecht siehe Mahmoud Cherif Bassiouni, The Islamic Criminal Justice System, London 1982. Zu trials by poison ordeals in der afrikanischen Geschichte siehe Richard Reid/John Parker, The Oxford Handbook of Modern African History, Oxford 2013, S. 288.

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dann statt, wenn diese oder ihre Fürsprecher eigene Opfernarrative gegen Tendenzen der Bagatellisierung in die Öffentlichkeit tragen können. Gewalt zerstört sicherlich die »Erwartungssicherheit«,47 doch bleibt dabei unklar, ob sie von den Gewalttätern selbst oder aber durch die Passivität der Dritten zerstört wird. Denn auf diese Dritten sind Gewaltopfer angewiesen. Die Dritten müssen ihnen einen Raum zum Opferwerden bzw. Opfersein bieten, indem sie sich kollektiv mit ihnen solidarisieren. »Opfersein« bedeutet vor allem das temporäre Ausgeliefertsein an Gewalttäter und das simultan beginnende Ausgeliefertsein an »Dritte«. In diesem Sinne sind Opfer schlimmstenfalls auf zwei Beziehungsebenen Opfer. Nach Reemtsma sind Gewalttraumata nicht heilbar, weil die Erfahrung zur Biographie gehöre. Es komme allerdings darauf an, welchen Platz das Trauma in der jeweiligen Biographie einnehme. Und so fordert Reemtsma in der Konsequenz primär die Resozialisierung der Opfer anstelle der Täter ein.48 Denn soziale Orientierungslosigkeit im Gewalt-Erinnern und -Einordnen befalle in der Regel die Opfer von Gewalt. Sie seien es, die aus dem Sozialgefüge austreten mussten. Sie haben das körperliche »Ausgeliefertsein« erfahren. Sie sind traumatisiert, verstört und müssen wieder lernen, in einem Sozialverband mit Angst und Panik physisch und psychisch zu (über-)leben. Und genau hier spielen auch die Dritten eine Hauptrolle, jedoch erst nach der Gewalterfahrung. Blickt man auf die Situation bzw. den Handlungsverlauf vor der Gewalterfahrung, dann muss hinsichtlich der Täter untersucht werden, nach welchem »komplexen Kalkül«49 diese ihre Opfer auswählen, während bezüglich der Opfer zu fragen ist, wie diese in eine Gewaltsituation geraten sind und wodurch ihre Unterlegenheit entstand. Durch die Gewalttat selbst wird eine (Gewalt-) Beziehung zwischen Tätern und Opfern geschaffen, die sich auf verschiedenen Ebenen (körperlich, symbolisch, psychisch etc.) manifestiert. Die folgenden Beiträge untersuchen solche Gewaltbeziehungen anhand unterschiedlicher Konstellationen in verschiedenen Zeiten und Räumen. Sie eröffnen ein breites Panorama, welches deutlich macht, dass das Verhältnis von Tätern und Opfern zueinander stets von einer Vielzahl von Faktoren bedingt ist, weshalb eine genaue und umfassende Analyse zu ihrer differenzierten Beschreibung notwendig ist. Nicht nur um Gewalthandeln zu verstehen,50 sondern bereits für den ersten Schritt des B ­ eschreibens bedürfen wir der Begriffe und Rollenmodelle, welche in diesem Band diskutiert, überdacht, reformiert und ergänzt werden. Die breite Auswahl der Beiträge lässt erstmals eine transkulturelle Kritik dieser Rollen von unterschiedlichen Forschungsdiskursen her zu.

47 Heinrich Popitz, Phänomene der Macht, Tübingen 21992, S. 223. 48 Reemtsma, Die Gewalt spricht nicht, S. 81. 49 Georg Elwert, Gewaltmärkte. Beobachtungen zur Zweckrationalität der Gewalt, in: Trutz von Trotha (Hg.), Soziologie der Gewalt, Opladen 1997, S. 86–101, hier S. 94. 50 Jörg Baberowski, Gewalt verstehen.

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Gewalt als Handlung 1. Täter, Opfer, Zuschauer: Von der Struktur zur Person Die Aufteilung der in Massengewalt involvierten Menschen in Täter, Opfer und Zuschauer ist spätestens seit dem gleichnamigen Buch des Holocausthistorikers Raul Hilberg in großen Bereichen der Gewalt- und Genozidforschung verbreitet.1 Die mit dieser Benennung verbundene analytische Konsequenz hatte ihre heuristische Berechtigung, war es so mit diesem auch rhetorisch gelungenen Paradigmenwechsel möglich, die Aufmerksamkeit von Kategorien wie System oder Struktur auf die Akteure der Verfolgung zu lenken. Hilberg hat schon in seiner großen 1961 erschienenen Studie zur Vernichtung der europäischen Juden die Begriffe Täter und Opfer verwendet und dabei bereits auf Dynamiken hingewiesen, die so oder so ähnlich vor allem seit den 1990er Jahren bis heute in der Literatur zu finden sind. So beschreibt er in einem mit »Täter« betiteltem Abschnitt Prozesse der Ausweitung antijüdischer Handlungen, mit denen er – ohne dies jedoch zu explizieren – zeigt, dass eine einmal erprobte Handlung nun als Lösung weiterer, als Problem definierter Fakten genutzt wird.2­ Christopher Browning und Harald Welzer verwenden das gleiche Argument in ihren Studien zu Holocausttätern.3 Susanne Beer tut dies mit Blick auf Personen, die Juden halfen, der nationalsozialistischen Verfolgung zu entkommen.4 Dort, wo solche Elemente in Hilbergs frühen Arbeiten auftauchen, geschieht dies eher beiläufig, in Andeutungen und nicht systematisch. Er diskutiert diese Dynamiken weniger im Sinne einer auf Handlung, auf Tun oder auf Tätigkeit zielenden Analyse. Sein vorrangiges Interesse gilt eindeutig dem Gesamtprozess. Im obigen Beispiel der Ausweitung spricht Hilberg etwa von einer Maschinerie, die über solche Prozesse auf Touren kam.5 Dennoch, und darum eignet sich dieser Klassiker so hervorragend als Einstieg in das Thema, finden sich bei ihm bereits Elemente dessen, was nun unter dem Stichwort »Theorien mensch-

1 Raul Hilberg, Täter, Opfer, Zuschauer. Die Vernichtung der Juden 1933−1945, Frankfurt a. M. 1996 [USA 1992]. 2 Ders., Die Vernichtung der europäischen Juden, Frankfurt a. M. 1990 [USA 1961], S. 1068 ff. 3 Christopher Browning, Ganz normale Männer. Das Reserve-Polizeibataillon 101 und die »Endlösung« in Polen, Reinbek bei Hamburg 1993; Harald Welzer, Täter. Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden, Frankfurt a. M. 2005. 4 Susanne Beer, Aid offered Jews in Nazi Germany. Research Approaches, Methods, and Problems, in: Encyclopedia of Mass Violence, 2014, http://www.massviolence.org/_BeerSuzanne (Zugriff am 24.6.2015). 5 Hilberg, Vernichtung, S. 1068.

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lichen Agierens« als paralleler Ansatz zu einer auf Gruppen, wie eben Tätern, Opfern und Zuschauern, fokussierenden Epistemologie entwickelt werden soll.6 Charakterisierende Gruppenbezeichnungen zum Ausgangspunkt des Forschens zu machen, bringt eine Konzentration darauf mit sich, was die Angehörigen dieser Gruppen wohl auszeichnen mag. Die Frage ist also, wie es kommt, dass jemand Täter (geworden) ist. Das Verb »sein« in Bezug auf Personen deutet auf etwas hin, das jemandem zu eigen ist, sie oder ihn ausmacht, Ausdruck ihres oder seines Seins ist. Das »Täter sein« im Kontext kollektiver Gewalt meint, aktiv an der Verfolgung, Beraubung und Ermordung von Menschen aus nachträglich kaum einsichtigen Gründen beteiligt gewesen zu sein; es bedarf psychologisch besonderer Anstrengungen, diese Ungeheuerlichkeit zu erklären.7 So folgte  – immer im Kontext des Holocaust, der für lange Jahre der Kristallisationspunkt der Gewaltforschung war – auf die historiographisch, politologisch und durchaus auch philosophisch geprägte Fokussierung auf das System, auf Fragen der Macht und der Organisation ein Schwenk hin zur Gewalt und schließlich zu den Gewalttätern.8 Aus der Forschung zum Nationalsozialismus und/oder zum Holo­caust entwickelt sich zunehmend eine so genannte, allerdings weit überwiegend geschichtswissenschaftlich orientierte, Täterforschung,9 die sich in un6 Es gibt einige verwandte Bemühungen; so hat, um nur ein Beispiel zu nennen, Stefan Friedrich kürzlich eine sozialtheoretisch ausgerichtete Analyse genozidaler Gewalt vorgeschlagen: »Leitthese hierbei ist, dass eine soziologische Analyse von Völkermord(en) nicht nur auf der Strukturebene verbleiben darf, sondern die Kultur- und Handlungsdimension des Sozialen gleichberechtigt in die Analyse mit einbeziehen muss.« Ders., Soziologie des Genozids. Grenzen und Möglichkeiten einer Forschungsperspektive, München 2012, S. 14. Ganz auf situationales Handeln fokussieren Wikstöm und Treiber mit ihrer vor allem in der europäischen Kriminologie diskutierten Situational Action Theory: Per-Olof H. Wikström/ Kyle H. Treiber, Violence as Situational Action, in: International Journal of Conflict and Violence 3 (2009), H. 1, S. 75–96. 7 Die historische Einordnung der Notwendigkeit, Gewalt zu erklären und die damit einhergehende Verrätselung der Gewalt hat schon vor einigen Jahren Jan Philipp Reemtsma recht detailliert vorgenommen: Ders., Vertrauen und Gewalt. Versuch über eine besondere Konstellation der Moderne, Hamburg 2008. 8 Die Gründe für diesen Schwenk sind vielfältig und rechtfertigen einen eigenen Forschungsstrang. Schon vor vielen Jahren hat Nicolas Berg die biographisch bedingte Beschäftigung vor allem mit strukturellen Elementen in der historischen westdeutschen Forschung zum Nationalsozialismus hingewiesen: Ders., Der Holocaust und die deutschen Historiker, Göttingen 2003. 9 Kürzlich haben Frank Bajohr und Thomas Kühne diesen Verlauf für die deutsche Geschichtswissenschaft mit unterschiedlicher Schwerpunktsetzung nachgezeichnet. Bajohr argumentiert zugunsten einer Gesellschaftsgeschichte zur Erklärung nationalsozialistischer Gewalt. Frank Bajohr, Neuere Täterforschung, in: Oliver von Wrochem (Hg.), Nationalsozialistische Täterschaften. Nachwirkungen in Gesellschaft und Familie, Berlin 2016, S. 19–31. Kühne beschreibt die Thematisierung von NS -Tätern – und eben ihrer Taten – tendenziell als eine Entwicklung in drei Phasen, die er mit Dämonisierung, Viktimisierung und Diversifizierung benennt. Thomas Kühne, Dämonisierung, Viktimisierung, Diversifizierung. Bilder von nationalsozialistischen Gewalttätern in Gesellschaft und Forschung

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zähligen Publikationen und Konferenzbeiträgen manifestiert.10 Aktuell (2015 und 2016) wird wieder vermehrt etwa in Panels und Buchbeiträgen nach dem »State of the Art« der Täterforschung gefragt.11 Parallel dazu hat sich keine Opferforschung gleichen Ausmaßes entwickelt, wohl unter anderem, weil der Opferstatus nicht in selber Weise, wie dies für Täter gilt, auf ein Sein zurückgeführt werden kann. Aus Perspektive einer auf Gruppenzuordnung abstellenden Forschung bleibt allenfalls zu klären, wie die als Opfer Bezeichneten mit dem ihnen Widerfahrenen umgehen.12 Zuschauer wiederum sind zumeist als »die Bevölkerung« Gegenstand des Interesses. Untersucht wird, was diese Nichttäter bzw. Nichtopfer von der Gewalt wussten, wie sie von der Verfolgung profitierten und welche Bedeutung sie für die Dynamik der Gewalt hatten, also ob beispielsweise das tatsächliche Zuschauen – z. B. wenn Menschen mit Schildern behängt durch deutsche Städte getrieben worden sind – bereits als Teil der Ermöglichung von Gewalt zu verstehen ist.13 Unabhängig von diesen Kategorien entwickelte sich eine so genannte Helfer­ forschung, die jedoch an Forschenden und Publikationen recht übersichtlich ist. Weitgehend unberührt voneinander geschah dies in der Sozialpsychologie und der Geschichtswissenschaft (hier nach vereinzelten Arbeiten schon kurz nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst in Anfängen seit den 1980er Jahren und verstärkt seit der Jahrtausendwende). Letztere war lange Zeit vor allem damit



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seit 1945, in: Wrochem, Täterschaften, S. 32–55. Nachwirkungen in Gesellschaft und Familie, Berlin 2016, S. 32–55. Alexander Korb rekonstruiert wohl erstmals eine DDR-Täter­ forschung. Ders., Ostforscher-Erforscher. Die »Abteilungen westdeutsche Ostforschung« in der DDR und ihr Blick auf die NS -Vergangenheit der Südosteuropaforschung in der BRD, in: Südosteuropa-Mitteilungen 4 (2016), S. 80–102. Beispielsweise Gerhard Paul (Hg.), Die Täter der Shoah. Fanatische Nationalsozialisten oder ganz normale Deutsche?, Göttingen 2002. So das Panel »New Horizons in Perpetrator Research« auf der Konferenz der International Association of Genocide Scholars in Jerewan, Armenien im Juli 2015, das Panel »The Margins of Perpetrations« auf der Konferenz des International Network of Genocide Scholars in Jerusalem, Israel, oder das Buchprojekt von Timothy Williams und Susanne Buckley-Zistel »Perpetrators. Dynamics, motivations and concepts for participating in mass violence«, dessen Veröffentlichung für 2017 geplant ist. Umfangreich ist die Literatur zum Trauma als Folge von Gewalterfahrung und -ausübung, in deren geisteswissenschaftlicher (und manchmal auch sozialwissenschaftlicher) Variante durchaus auch von kollektiven Traumatisierungen die Rede ist. Ein Überblick aus therapeutischer Perspektive bietet Günter H. Seidler, Gewaltfolgen – individuell, in: Christian Gudehus/Michaela Christ (Hg.), Gewalt. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart 2013, S. 243–250; gleiches für Gruppen bzw. Kollektive leistet Anika Oettler, Gewaltfolgen – kollektiv, in: ebd., S. 250–256. Z. B. Michael Wildt, Picturing Exclusion. Race, Honor, and Anti-Semitic Violence in Nazi Germany before the Second World War, in: Jürgen Martschukat/Silvan Niedermeier (Hg.), Violence and Visibility in Modern History, New York 2013, S. 137–155; Klaus Hesse/Philipp Springer, Vor aller Augen. Fotodokumente des nationalsozialistischen Terrors in der Provinz, Essen 2002.

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beschäftigt, Informationen zusammenzutragen; es gab schlichtweg nicht sonderlich viele valide Fakten.14 Seit den 1960er Jahren entstand in der Sozialpsychologie eine Forschungstradition zum »Prosozialen Verhalten«.15 Während dieser Zugang dem Credo der Disziplin entsprechend situative Faktoren erforscht, untersuchen verschiedene psychologische Ansätze etwa die Relevanz von Empathie oder suchen im historischen Material nach einer altruistischen Persönlichkeit.16 In der Geschichtswissenschaft dominierten lange Versuche über Typisierungen von Personen bzw. den Rückgriff auf demografische Informationen zu erklären, was jemanden zum Helfer hat werden lassen.17 In den letzten Jahren sind Zugänge hinzugekommen, die entweder die Bedingungen des Helfens statistisch, netzwerkanalytisch oder auch mit Blick auf Nationalcharaktere ausleuchten oder solche, die unter Rückgriff auf die sozialpsychologische Forschung individuelles Handeln rekonstruieren.18 Hier ist bereits ein Schwenk weg von den Gruppen hin zu Handlungstypen – Helfen – beobachtbar. Es sind also zwei Bewegungen zu beobachten. Erstens bildete sich aus der Forschung zum Nationalsozialismus über die Holocaust- und Genozidforschung die Gewaltforschung heraus. Zweitens geschah dies über die Verschiebung des Forschungsinteresses von der Analyse von System und Struktur,19 über die 14 So die Reihe »Solidarität und Hilfe für Juden in der NS -Zeit«, die in den Jahren 1996−2004 im Berliner Metropol Verlag von Mitarbeitenden des Zentrums für Antisemitismusforschung herausgegeben worden ist. 15 Klassiker sind Bibb Latané/John M. Darley, The Unresponsive Bystander. Why doesn’t he help?, New York 1970 sowie John M. Darley/C. Daniel Batson, From Jerusalem to Jericho. A study of situational and dispositional variable in helping behavoir, in: Journal of Personality and Social Psychology 27 (1973), S. 100–108. 16 Nancy Eisenberg/Paul A. Miller, The Relation of Empathiy to Prosocial and Related Behaviors, in: Psychological Bulletin 101 (1987), H. 1, S. 91–119; Samuel P. Oliner/Pearl M. Oliner, The Altruistic Personality. Rescuers of Jews in Nazi Europe, New York 1988. 17 Wolfgang Benz, Juden im Untergrund und ihre Helfer, in: Ders. (Hg.), Überleben im Dritten Reich. Juden im Untergrund und ihre Helfer, München 2003, S. 11–48, hier S. 43; Beate Kosmala, Retterinnen und Retter im »Dritten Reich« 1941−1945, in: Gerd Meyer u. a. (Hg.), Zivilcourage Lernen. Analysen – Modelle – Arbeitshilfen, Bonn 2004, S. 106–115. 18 Marnix Croes, The Holocaust in the Netherlands and the Rate of Jewish Survival, in: Holocaust and Genocide Studies 20 (2006), H. 3, S. 474–499; Ethan J. Hollander, The Final Solution in Bulgaria and Romania. A Comparative Perspective, in: East European Politics and Societies 22 (2008), H. 2, S. 203–248; Andrew Buckser, Rescue and Cultural Context During the Holocaust. Grundtvigian Nationalism and the Rescue of the Danish Jews, in: Shofar 19 (2001), H. 2, S. 1–25; Marten Düring, Verdeckte soziale Netzwerke im Nationalsozialismus. Berliner Hilfsnetzwerke für verfolgte Juden, Berlin 2015; Christian Gudehus, Verfolgten Helfen. Heuristiken und Perspektiven (am Beispiel des Holocaust), Online Encyclopedia of Mass Violence 2015, in: Encyclopedia of Mass Violence, http://www.sciencespo.fr/mass-violence-war-massacre-resistance/en/node/3240 (Zugriff am 24.6.2015). 19 Innovative organisationssoziologische Studien greifen die Untersuchung von Strukturen unter neuen Vorzeichen auf. Diskutiert wird unter anderem ob bzw. wie die Beteiligung an Massengewalt zu erwartbaren Aufgaben von Organisationen wie etwa den Polizei­batal­

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Gruppen der Beteiligten – Täter, Opfer, Zuschauer – hin zum Interesse an der Gewalt selbst. Dieser straffe Ritt durch einige Forschungstraditionen im Kontext der Gewaltforschung ist notwendig unvollständig  – so fehlen neben anderen Perspektiven und Ansätzen die hier im Buch ausführlich diskutierten Gewaltgemeinschaften. Wichtig war er dennoch, um zu zeigen, woran die folgend vorgestellte sozialtheoretisch fundierte Gewaltforschung anschließt und was ihr Innovationsgehalt ist. Ein weiterer Motor für die Hinwendung zur Gewalt selbst ist ein Strang der soziologischen Gewaltforschung, dessen Vertreter seit bald zwanzig Jahren die Untersuchung der ausgeübten und erfahrenen Gewalt propagieren.20 Als Konse­ quenz sind weniger die Zuschreibung Täter oder Opfer Ausgangspunkt solchermaßen inspirierter Studien. Vielmehr geraten die vornehmlich sozialen  – im Gegensatz zu psychologischen – Konstellationen der beteiligten Akteure, egal welcher Gruppe sie zu welchem Zeitpunkt angehören mögen, in den Blick.21 Und schließlich gibt es vereinzelt Studien, die noch einen Schritt weiter gehen und die Praxen selbst in den Mittelpunkt der Analyse stellen.22 Die theoretische Grundlage, gerade für solche Studien, bilden ausdrücklich sozialtheoretische Traditionen des Nachdenkens über Bedingungen menschlichen Handelns. In dieser Perspektive sind es ebenfalls nicht die diese Handlungen ausführenden Individuen, denen die Aufmerksamkeit gilt, sondern Ausgangspunkt der Analyse sind die Aktionen selbst.23

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lionen gehörte. Alexander Gruber/Stefan Kühl (Hg.), Soziologische Analysen des Holocaust. Jenseits der Debatte über »ganz normale Männer« und »ganz normale Deutsche«, Wiesbaden 2015 und Stefan Kühl, Ganz normale Organisationen. Zur Soziologie des Holocaust, Berlin 2014. Einführend Michaela Christ/Christian Gudehus, Gewalt. Begriffe und Forschungsprogramme, in: Dies. (Hg.), Gewalt, S. 1–15; Felix Schnell, Gewalt und Gewaltforschung, 2014, https://docupedia.de/zg/Gewalt_und_Gewaltforschung (Zugriff am 24.6.2015); Randall Collins, Violence. A Micro-sociological Theory, Princeton 2008. Kritisch dazu, ob es sich tatsächlich um ein neues Paradigma der Gewaltforschung handelt, äußert sich schon sehr früh Jörg Hüttermann, Review Essay: »Dichte Beschreibung« oder Ursachenforschung der Gewalt? Anmerkungen zu einer falschen Alternative im Lichte der Problematik funktionaler Erklärungen, in: Journal für Konflikt- und Gewaltforschung 2 (2000), H. 1, S. 54–69. Beispielhaft Michaela Christ, Die Dynamik des Tötens. Die Ermordung der Juden von Berditschew, Frankfurt a. M. 2011. Sven Reichardt, Praxeologie und Faschismus. Gewalt und Gemeinschaft als Elemente eines praxeologischen Faschismusbegriffs, in: Karl H. Hörning/Julia Reuter (Hg.), Doing Culture. Neue Positionen zum Verhältnis von Kultur und sozialer Praxis, Bielefeld 2004, S.  129–153; Marc Buggeln, Arbeit & Gewalt. Das Außenlagersystem des KZ Neuengamme, Göttingen 2009. Das gilt in unterschiedlicher Ausprägung bei Buggeln, Arbeit & Gewalt, weit weniger als bei Reichardt, Praxeologie und Faschismus.

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2. Von der Person zur Aktion Die aufgezeigten Tendenzen entsprechen einer analytischen Position, in der Menschen nicht dieses – zum Beispiel Täter – oder jenes – etwa Zuschauer – sind, sondern handelnde Subjekte, deren Handeln erklärt werden kann. Dies mag auf vielerlei Weise geschehen, etwa wenn das Verhältnis von Handlungen zu Normen Gegenstand der Untersuchung ist. Ein anderer Ansatz macht die Aktion zum Ausgangspunkt der Analyse. So werden nicht mehr Täter, sondern Taten, deren Genese und soziale sowie psychologische Bedeutung für die Beteiligten untersucht. Einem Verfolgten Unterschlupf zu gewähren, Zu- oder Wegschauen sind dann ebenso von Interesse wie eine Beleidigung, ein Schlag oder die Bitte um Hilfe. Ein erster Gewinn dieses Vorgehens ist, dass die Konzentration auf Handlungen eine erhebliche definitorische Schwierigkeit löst, wenn auch für den Preis einer neuen Komplikation. Um zu bestimmen, wer ein Täter ist, müssen streng genommen zunächst Handlungen oder Taten definiert werden, die jemanden, der diese ausübt, eben zu einem Täter machen. Es bedarf also eines Kriteriums juristischer, moralischer oder analytischer Natur. In vielen Fällen der Täterforschung wird auf eine solche Bestimmung zugunsten der selten explizierten Annahme, Täter sei, wer an der Verfolgung von Menschen in dem jeweils diskutierten Kontext beteiligt ist, verzichtet. Dennoch unterscheiden sich die Täter erheblich voneinander und zwar mindestens in Bezug auf (1) den tatsächlichen Tatbeitrag, also Handlungen, und (2), eng damit verwoben, in den zu diesen Handlungen führenden Faktoren. Der erste Punkt führt unmittelbar zu den Handlungen als Gegenstand des Interesses. Der Zweite tut dies indirekt und zwar dann, wenn gemäß des inzwischen dominierenden Ansatzes in der Gewaltforschung, die sorgfältige Beschreibung von Handlungen selbst Teil ihrer Analyse und Erklärung ist. Es wird somit evident, dass Täterforschung schon seit langem wesentlich Handeln betrachtet. Der Perspektivenwechsel ist weit­ gehend vollzogen, fast alle Elemente sind bereits da. Nun muss der Wechsel noch benannt werden. Statt also von Täterforschung zu sprechen, wird »Gewalt als Handlung« untersucht. Genauer noch soll nun »individuelles Handeln in Kontexten kollektiver Gewalt« Forschungsgegenstand sein. Was fehlt und woran sich der Wert eines solchen Ansatzes messen lassen muss, ist seine systematische Durchführung. Wie also, ist zu fragen, kann Gewalt ausgehend von Handlungen analysiert und, wichtiger noch, verstanden werden? Um das nochmals deutlich zu sagen, es geht um einen Schwerpunktwechsel in der Forschung, der zunächst möglichst pointiert vorzutragen ist, um die Tragfähigkeit des Ansatzes zu überprüfen. Andere Zugänge sollen weder für falsch erklärt noch abgetan werden. Ganz im Gegenteil, ist doch eine Integration der verschiedenen Verstehensweisen fundamental für eine umfassende Theorie kollektiver Gewalt. Mit der gewählten Perspektive ist, wie gesagt, das Problem der Täterdefinition gegenstandslos geworden. Nun bedarf es jedoch einer Bestimmung dessen, was

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eigentlich Handlungen sind, was also genau den neuen Gegenstand ausmacht. Aus zwei Gründen scheint diese jedoch weniger schwerwiegend als die soeben abgeschaffte Problematik zu sein. Erstens fallen nun juristische und moralische Kategorien nicht mehr ins Gewicht, es bleiben die analytischen. Und diese sind zweitens bereits umfangreich vor allem in der sozialtheoretischen und sozialpsychologisch experimentellen Literatur diskutiert worden.

3. Handeln, Praxis, Aktion? Handlungstheorien haben eine lange Tradition in mehreren geistes- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen. Besonders intensiv sind die entsprechenden Diskussionen in der Soziologie, der Psychologie und der Philosophie geführt worden. Allein die Aufzählung zeigt, dass hier nur einige Ansätze und diese auch nur in groben Zügen nachgezeichnet werden können. Ausgangspunkt soll die Handlungspsychologie sein, da sie eine vermeintlich handhabbare Differenzierung menschlicher Aktivität einführt. Dort ist die Rede von Verhalten, Handeln und Tun.24 Wie auch andere Begriffe der Handlungstheorie sind diese drei jedoch mit anderen Bedeutungen auch in der Alltagssprache in Gebrauch, was sie ein wenig unhandlich macht. Denn da sie im wissenschaftlichen Gebrauch mit klaren Attributen ausgestattet sind, fehlt es an Möglichkeiten, jenseits dieser Konzeptualisierung vom Handeln zu sprechen. Hinzu kommt noch, dass die handlungspsychologische nur eine von vielen gebräuchlichen Bestimmungen ist. Daher mag es hilfreich sein, weniger von den Begriffen zu sprechen als vielmehr darüber, was sie denn wie zu fassen versuchen. Wie gesagt gibt es im handlungspsychologischen Verständnis drei Varianten menschlichen Agierens, die sich im Grad der ihr zugrundeliegenden Rationalität, oder genauer noch, ihres Zustandekommens unterscheiden. Handeln meint ausschließlich solche Aktionen, die Ergebnis von Reflexionsprozessen sind; also hochgradig intentional. Verhalten ist im Gegenteil dazu eher das Reflexhafte, das Unwillkürliche. Tun ist eine etwas hilflos erscheinende Rest­kate­ gorie in der zwar eine Handlungsplanung vorliegt, die Motive des Tuns dem Akteur aber verborgen bleiben. Unabhängig davon, ob man dieser Differenzierung zustimmt, enthält sie bereits wesentliche Elemente einer Theoretisierung menschlichen Handelns. Zunächst sind wir erneut mit begrifflichen Problemen konfrontiert, da alle drei Bezeichnungen alltagssprachlich weitgehend synonym verwendet werden und es in eklatanter Weise an einem Oberbegriff mangelt. Hilfsweise ließe sich von Agieren sprechen. Wichtiger aber sind die an-

24 Zum Weiteren Hans-Jürgen Kaiser/Hans Werbik, Handlungspsychologie, Göttingen 2012; Jürgen Straub/Doris Weidemann, Handelnde Subjekte. »Subjektive Theorien« als Gegenstand der verstehend-erklärenden Psychologie, Gießen 2015.

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gesprochenen als wesentlich erachteten Differenzierungskriterien Rationalität und Verfügbarkeit. Rationalität meint, wie sehr Handeln als Folge von Überlegungen und somit von Planung, also auch von Intention, gelten kann. Verfügbarkeit bezieht sich darauf, was ein Individuum bezüglich seiner Handlungsmotive aber auch im Hinblick auf die Bedingungen seines Handelns weiß bzw. wissen kann. Es ist kaum eine sozial- oder kognitionswissenschaftliche Handlungstheorie denkbar, die diese Punkte nicht diskutiert. Der Hinweis auf Handlungsbedingungen öffnet ein weiteres theoretisches und konzeptionelles, von verschiedenen Disziplinen bearbeitetes Feld.

4. Rahmen oder Konzepte sedimentierter Erfahrungen Rahmen ist unglücklicherweise zugleich ein alltagssprachlicher und ein in der wissenschaftlichen Diskussion fixierter Begriff. Damit ist auf eine Schwierigkeit hingewiesen: es gibt kaum neutrale Begriffe in diesem Feld. Entweder ist ein selbst so vermeintlich eindeutiges Wort wie Handeln bereits eng mit bestimmten theoretischen Positionen verbunden oder der metaphorische Charakter vieler Begriffe macht diese unscharf. Rahmen soll hier hilfsweise als Oberbegriff für solche Konzepte Verwendung finden, die thematisieren, dass Wahrnehmungs- und Deutungsweisen und damit Handlungsoptionen nicht vollständig individuell hervorgebracht werden müssen. Vielmehr befinden sich Individuen in einem Geflecht von Bräuchen, Gewohnheiten, Regeln, Handlungsmustern, Denkbarem usf., in dem sie ihre jeweils spezifischen Weisen zu agieren entwickeln. Im ersten Moment verwirren mag, dass es neben dieser allgemeinen Verwendung der Rahmenmetapher auch eine spezifische gibt. Die Begriffswahl ist nämlich inspiriert von Überlegungen des Soziologen Erving Goffman, der diese folgendermaßen bestimmt: Jeder Rahmen »ermöglicht dem, der ihn anwendet, die Lokalisierung, Wahrnehmung, Identifikation und Benennung einer anscheinend unbeschränkten Anzahl konkreter Vorkommnisse, die im Sinne des Rahmens definiert sind. Dabei sind ihm die Organisationseigenschaften des Rahmens im Allgemeinen nicht bewußt, und wenn man ihn fragt, kann er ihn auch nicht annähernd vollständig beschreiben, doch das hindert nicht, daß er ihn mühelos und vollständig anwendet.«25 Rahmen sind demnach die Bezugspunkte jeden Wahrnehmens, Deutens und Handelns. Sie beinhalten Vorstellungen darüber, wie die Welt funktioniert und wie Menschen sind und was man tut und was nicht. Genau genommen handelt es sich bei solchen Vorstellungen durchaus um Wissen, dass in manchen Fällen explizierbar also verfügbar ist, in anderen implizit und somit nicht verfügbar vorliegt. Dieses Rahmenwissen, also die Kompetenz sich auf Rahmen zu beziehen, sie zu verstehen, in ihnen zu­ 25 Erving Goffman, Rahmen-Analyse. Ein Versuch über die Organisation von Alltagserfahrungen, Frankfurt a. M. 1977, S. 32.

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agieren, zu wissen »was ›man‹ wann, wo mit wem tut, reden und verabreden kann oder nicht kann«26 erfüllt eine Reihe psychologischer Funktionen: »Es orientiert und versorgt mit ›unproblematischen, gemeinsam und als garantiert unterstellten Hintergrundüberzeugungen‹; es verschafft ›ontologische Sicherheit‹, und es ermöglicht die angstabsorbierende Verarbeitung von Irritationen und Zurückführung auf bekannte und vertraute Muster.«27

Ein weiteres, alltagssprachlich verbreitetes Konzept ist jenes der Mentalität. Damit wird Gruppen eine typische Weise des Verhaltens zugeschrieben, das bedingt ist durch deren Art zu fühlen, zu denken, die Welt zu sehen. So oberflächlich und oft sogar falsch solche Zuschreibungen im Einzelfall sein mögen, haben sie dennoch einen brauchbaren Kern. Und dies gleich in zweifacher Hinsicht. Erstens gibt es tatsächlich kollektiv geteilte Arten und Weisen, Situationen wahrzunehmen und zu interpretieren, die das Ergebnis von ebenso kollektiven (also von allen oder von den meisten einem Kollektiv zugehörigen Individuen gemachten und dann sedimentierten) Erfahrungen sind. Zweitens ist die Deutungshilfe Mentalität (die haben eine solche Mentalität) selbst ein Beleg für die alltägliche Nützlichkeit von formatierten Wahrnehmungsweisen, helfen sie doch, Vorkommnisse mit geringem Aufwand einzuordnen, zu verstehen (durchaus auch falsch) und somit jederzeit handlungsfähig zu sein. Wie der Begriff nahelegt, geht es um mentale bzw. in diesem Fall kognitive Vorgänge. Dort, wo Mentalität akademisch gebraucht wird, in der Geschichtswissenschaft, kursieren Definitionen, die um dieses Verständnis kreisen. Es geht um Dispositionen, unbewusste Annahmen, Strukturierungen, die dem Handeln vorgeordnet sind.28 In der Mentalitätsforschung sollen die Weisen der Wahrnehmung und Deutung historischer Akteure rekonstruiert werden. So ergibt sich ein methodischer Zirkel: Die Mentalität präformiert Handlungsoptionen oder Potenziale. Genau dieser Einfluss ist jedoch schwierig empirisch zu fassen. Diesen nachzuweisen und zu beforschen erfordert die Analyse kollektiven Verhaltens. Die darin erkennbaren Muster oder Gemeinsamkeiten bieten Aufschluss über die dem Handeln in dieser Konzeption vorgeordnete Mentalität.29 Die Verwendung des Begriffs variiert allerdings. Gerhard Schreiber, der deutsche Kriegsverbrechen in Italien während des Zweiten Weltkriegs untersucht, versteht Mentalität selbst als Folge, als Bündelung gleich einer Reihe von Faktoren: 26 Hans-Georg Soeffner, Auslegung des Alltags. Der Alltag der Auslegung, Frankfurt a. M. 1989, S. 143. 27 Herbert Willems, Rahmen und Habitus. Zum theoretischen und methodischen Ansatz Erving Goffmans. Vergleiche, Anschlüsse und Anwendungen, Frankfurt a. M. 1997, S. 51. 28 Peter Burke, Stärken und Schwächen der Mentalitätsgeschichte, in: Ulrich Raulff (Hg.), Mentalitäten-Geschichte. Zur historischen Rekonstruktion geistiger Prozesse, Berlin 1989, S.  127–145; Ingrid Gilcher-Holtey, Plädoyer für eine dynamische Mentalitätsgeschichte, in: Geschichte und Gesellschaft 24 (1998), S. 476–497. 29 Volker Sellin, Mentalität und Mentalitätsgeschichte, in: Historische Zeitschrift 241 (1985), S. 555–598.

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»Erklärungen für dieses staatlich legitimierte Töten […] ergeben sich – abgesehen von situativ bedingten Motiven  – aus […] militärischen, machtpolitischen, besatzungs­ poli­tischen, völkischen und rassenideologischen Faktoren, die in ihrer Gesamtheit auf direkte oder indirekte Weise die Hemmschwelle hinsichtlich der Vernichtung italie­ nischen Lebens – insbesondere bei der Auseinandersetzung mit dem Widerstand – absenkten, das heißt eine Mentalität entstehen ließen, die auf dem Kriegsschauplatz Italien die Anordnung, Ausführung oder Duldung von Mord leicht machten.«30

Mentalität wird von Schreiber als eine Konstellation sozialer, politischer und kultureller Ausprägungen verstanden, die bestimmte Handlungsoptionen nahelegt. Der Militärhistoriker Felix Römer spricht von Mentalität ausschließlich in der Mehrzahl. Letztlich benennt aber auch er ein Faktorenbündel, das er für die Gewaltbereitschaft, auch mit Blick auf Verbrechen, verantwortlich macht. Dazu zählen Nationalismus, Rassismus, Kameradschaft und Militarismus wohl ebenso wie ein soldatischer Ethos, der Härte, Einsatzwille und Pflichterfüllung beinhaltet.31 Alles zusammengenommen ließe sich von Mentalität, als einen sozial erzeugten psychologischen Handlungsraum sprechen. Figuration ist ein wesentlich von dem Soziologen Norbert Elias anhand historischer aber auch qualitativ empirischer Arbeiten entwickeltes Konzept, wonach die Relationen von Personen, Gruppen (unterschiedlichster Größe) bzw. Institutionen zueinander Einfluss auf das Handlungsrepertoire von Individuen haben.32 Danach sind Menschen in soziale Geflechte eingebunden. Ihr Handeln resultiert unter anderem aus dem Verhältnis, das sie in ihrer Funktion als Angehörige sozialer Gruppen unterschiedlicher Art zueinander haben. Michaela Christ hat unter Bezugnahme auf Norbert Elias gezeigt, wie die Figurationen der Akteure sich in einer ukrainischen Stadt mit dem Herannahen der deutschen Truppen, dem Kampf um die Stadt, der deutschen Besetzung, der sukzessiven Umsetzung der deutschen rassistischen Politik, der Ghettoisierung der Juden, ihrer Ermordung und schließlich der Eroberung der Stadt durch sowjetische Truppen immer wieder verschieben. Daraus folgend verschieben sich auch die Situationswahrnehmungen der Akteure und somit ihre wahrgenommenen  – also überhaupt erwogenen  – Handlungsoptionen.33 So eröffnete die Zeit zwischen dem Rückzug der Roten Armee aus Berdičev und dem Einrücken der Wehrmacht ein Machtvakuum, das von den Bewohnern der Stadt genutzt wurde, um Wohnungen und Betriebe der vor den Russen Geflüchteten, oft Juden die um ihre Gefährdung wussten, zu plündern. Als Konsequenz verschob sich, so Christ, das Machtverhältnis zwischen Juden und Nichtjuden zuunguns30 Gerhard Schreiber, Deutsche Kriegsverbrechen in Italien. Täter-Opfer-Strafverfolgung, München 1996, S. 38. 31 Felix Römer, Kameraden. Die Wehrmacht von innen, München 2012, S. 470. 32 Norbert Elias, Die höfische Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1997 [1969]; Ders./John L. Scotson, Etablierte und Außenseiter, Frankfurt a. M. 2002 [engl. 1965]; Norbert Elias, Was ist Soziologie?, Weinheim 1970. 33 Christ, Dynamik des Tötens.

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ten Ersterer. Den Einen wurde die Instabilität und Verletzlichkeit ihrer Position deutlich vor Augen geführt, den Anderen ein neuer, sich zukünftig ausweitender Möglichkeitsraum der ungestraften Bereicherung eröffnet. Figurationen definieren das Denken und Handeln von Individuen jedoch noch viel grundsätzlicher. Wie Norbert Elias unter anderem am Beispiel des französischen Hofes im 18. Jahrhundert beschreibt, sind Normen nicht etwa nur Regeln, an die man sich hält oder nicht, sondern integraler Bestandteil historischer Figurationen, »dessen Geboten sich Individuen nur zu entziehen vermögen, wenn sie auf den Umgang innerhalb ihrer gesellschaftlichen Zirkel, auf die Zugehörigkeit zu ihrer sozialen Gruppe verzichten. Diese Normen lassen sich nicht erklären aus einem Geheimnis, das in der Brust vieler einzelner Menschen begraben ist; sie lassen sich nur erklären im Zusammenhang mit der spezifischen Figuration, die die vielen Individuen miteinander bilden und mit den spezifischen Interdependenzen, die sie aneinander binden.«34 Ähnlich beschreibt er Vorurteile »als ein normales Element der Glaubensvorstellungen einer etablierten Gruppe, die ihren Status und ihre Macht gegen jeden Angriff, wie sie es erlebt, von Außenseitern verteidigt.«35 In genau solchen Konstellationen offenbart sich auch ein relationales Konzept von Freiheit und Determination. Elias begreift »die ›Freiheit‹ jedes Individuums als Teil einer Kette von Interdependenzen, die ihn an andere Menschen bindet und beschränkt, was zu entscheiden oder zu tun ihm möglich ist.«36 Jede Art der Rahmung hat also befreiendes und einschränkendes Potenzial. Befreiend ist eben, in sozialen Konstellationen zu leben die relativ stabile Orientierung für Ausführung kleiner Handlungselemente (z. B. Begrüßung) bis hin zu vollständigen Lebensentwürfen bieten. Genau das mag jedoch als be­ engend, ja bedrückend empfunden werden, insbesondere abhängig davon, welche Position jemand in einem Gefüge einnimmt. Hinzu kommt die relative Stabilität solcher Formationen, die über soziale Sanktionen Abweichlern gegenüber erreicht wird. Wer sich also nicht an die geteilten Interpretationen hält, muss bereit sein, den entsprechenden Preis in der sozialen und psychologischen Währung  – Verlust von Anerkennung  – zu zahlen. In friedlichen pluralistischen, wohlhabenden und dazu noch einer geringen sozialen Kontrolle unterliegenden Gesellschaften ist Abweichung leicht. Zumal immer die Chance eines sozialen Wandelns besteht und somit die eigene Deutung Anerkennung gewinnen kann. Im Krieg, in Situationen, in denen Zugehörigkeit und Zusammenhalt, ob als Wert, Emotion oder über Handlungen (etwa Bräuche), zentral für die soziale Organisation – und wohl auch für das physische Überleben – ist, stellt sich das zweifellos anders dar.

34 Elias, Höfische Gesellschaft, S. 102. 35 Ders./Scotson, Etablierte und Außenseiter, S. 253. 36 Roger Chartier, Gesellschaftliche Figuration und Habitus. Norbert Elias und ›Die höfische Gesellschaft‹, in: Ders., Die unvollendete Vergangenheit. Geschichte und die Macht der Weltauslegung, Berlin 1989, S. 37–57, hier S. 43.

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5. Soziale Normen Die angesprochenen geteilten Interpretationen, ihre Bedeutung für empfundene oder tatsächliche Handlungsmöglichkeiten und die Rolle sozialer Sanktionierung sind bereits zentrale Elemente einer Theorie sozialer Normen. Zu klären ist, wie sich solche Normen herausbilden, in welcher Beziehung sie zu individuellen Handlungen stehen, wie sie einerseits stabilisiert werden und was andererseits zu ihrer Veränderung oder gar Ablösung führt. Der deutsche Soziologe Heinrich Popitz hat sich in seinen von expliziter soziologischer Tradi­ tionsbildung weitgehend befreiten und daher für Fachfremde gut nachvollziehbaren Schriften diesen Fragen gewidmet. Popitz definiert Normen als solche erwarteten Verhaltensregelmäßigkeiten, deren Ausbleiben oder Verletzung soziale Sanktionen hervorrufen.37 Das Repertoire reicht von Missbilligung über Repressalien und Diskriminierung bis hin zu Strafen. Nun kommt es in komplexen Gesellschaften ständig zu Dehnungen von Normen, ja zu Normbrüchen. Individuen verletzen die Erwartungen anderer aus unterschiedlichsten Gründen. Das mag ebenso intentional geschehen (ich verstoße wissend und wollend gegen eine Norm), wie als Nebeneffekt (der Normbruch war nicht Ziel meiner Handlung) oder gänzlich unbeabsichtigt (ich habe schlicht gehandelt). Es mag Folge kreativer Prozesse sein (das kann man doch auch anders machen) oder von Faulheit und Desinteresse. Menschen wissen von einer Norm, wenn sie eine Sanktion im Falle eines Verstoßes erwarten bzw. wenn sie auf Verstöße anderer mit Sanktionen reagieren. Im einfachsten Fall folgt also auf eine Normverletzung eine negative Reaktion. Als Folge ist die Norm gewahrt und die jeweilige soziale Ordnung bleibt stabil. Somit zeigt nicht nur der Grad ihrer Befolgung die Geltung einer Norm, sondern gleicher­ maßen die Bereitschaft diese zu schützen. Genau hier liegt auch der Schlüssel zu Wandlungsprozessen. Normen klingen dann ab, verlieren an handlungsleitender Kraft, wenn Sanktionen nur zögernd und irgendwann gar nicht mehr vollzogen werden. Entsprechend sinkt auch die Sanktionserwartung und somit die Verbindlichkeit. Für das Ausbleiben von Sanktionen kann es viele Gründe geben. Einer liegt darin begründet, dass die fehlende Missbilligung von Verstößen in weit geringerem Maß Sanktionen nach sich zieht als der Normbruch selbst. Aber ob Menschen aus Faulheit, Desinteresse oder Überzeugung Normen brechen bzw. deren Verletzung nicht sanktionieren, ist aus Popitz’ Sichtweise zunächst zweitranging. Viel wichtiger ist, dass all dies handelnd vonstatten geht. Normen werden durch Handlungen hergestellt, stabilisiert, in Frage gestellt, gebrochen usf. In diesem Sinne gibt es übrigens kein Nicht-Handeln. Einen Normbruch nicht zu sanktionieren, mag zu dessen Verstetigung führen. Im Vordergrund stehen also nicht Werte, an denen sich Handeln ausrich37 Auch für das Folgende Heinrich Popitz, Soziale Normen, Frankfurt a. M. 2006, S. 69–75.

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tet, sondern soziale Beziehungen, in denen handlungsleitende Normen performativ verhandelt werden. Empirisch erfasst werden können Normen demnach nicht, indem Menschen Auskunft darüber geben, welche Normen ihrer Meinung nach gelten, sondern ausschließlich über die Beobachtungen tatsächlichen Handelns. Anhand von Beispielen führt Popitz vor, inwiefern Handlungen Machtverhältnisse und soziale Ordnungen massiv verändern können. Auf einem Schiff, so eines der Beispiele, gibt es eine begrenzte Anzahl von Liegestühlen, deren Verteilung sich aber problemlos regelt.38 Sie werden nach Bedarf genutzt und da die Nutzungsweisen und -zeiten differieren, ergibt sich ein zwangloses Arrange­ ment. Indem jedoch neue Personen an Bord kommen und andere das Schiff verlassen, ändert eine Minderheit – die neu Hinzugekommenen – die Praxis. Sie hält sich gegenseitig die ungenutzten Liegestühle frei. Schon diese Handlung erzeugt Recht: Es kommt zur gegenseitigen Bestätigung von Ansprüchen. Was man tut, ist richtig, da es auch andere tun und zwar füreinander. Die Konsequenzen sind vielfältig. Zunächst werden zwei Gruppen geschaffen: die Privilegierten und die Ausgeschlossenen. Während die erste Gruppe mit ihrer Tat eine Organisationsstruktur schafft und ein Organisationsinteresse hervorbringt, fehlt dies der zweiten Gruppe, die sich organisieren, die Auseinandersetzung suchen und schließlich ihr gewonnenes Recht verteidigen müsste. Selbst im Falle eines Sieges hätten sich damit gänzlich neue soziale Ordnungen und soziale Normen qua Handeln, also performativ, etabliert. Auch dieses Beispiel zeigt die geringe Bedeutung einer spezifischen Intention für das tatsächliche Ergebnis. Ausgangspunkt war ja lediglich der Wunsch, auf jeden Fall immer über einen Liegestuhl zu verfügen, mangelndes Vertrauen in die alte Ordnung oder einfach fehlende Kenntnis über die bisherige Praxis.

6. Handlungstheorien Rahmen, Figuration und Mentalität konzeptualisieren gesellschaftliche Bedingungen individuellen Handelns. Allesamt behaupten sie zwar wie sehr Handlungsmöglichkeiten, ja sogar deren bloße Wahrnehmung, eben durch diese sedimentierten Erfahrungen beeinflusst sind.39 Zugleich betonen sämtliche solcher Konzepte, dass Individuen nicht determiniert sind, sondern sich immerwährend zu der sie umgebenden Welt ins Verhältnis setzen. Dabei finden die Rahmen ebenso Bestätigung, wie sie variiert oder gar massiv verändert werden. Gleiches gilt für soziale Normen, die ja selbst wesentliches Element solch sedimentierter Erfahrungen sind. Dieses Sich-Ins-Verhältnis-Setzen ist der Kern 38 Auch für das Folgende Ders., Phänomene der Macht, Tübingen 1992, S. 185–200. 39 Ausführlicher zu sedimentierten Erfahrungen Christian Gudehus, On the Significance of the Past for Present and Future Action, in: Gerd Sebald/Jan Wagle (Hg.), Theorizing Social Memories. Concepts and Contexts, London 2016, S. 84–97.

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dessen, was als Handeln verstanden werden kann. Handlungstheorien verbinden also konzeptionell die Bedingungen des Handelns – die Rahmen – mit dem konkreten Agieren in spezifischen Settings. Hier rückt erneut die Frage der Rationalität bzw. der kognitiven Durchdringung dieser Rahmen in den Blick. Die Orientierungsfunktion der Rahmen besteht ja überwiegend nicht darin, dass über sie nachgedacht werden muss, um dann zu handeln. Tatsächlich manifestiert sich die Relation von Individuum und sedimentierter Erfahrung – sei es Figuration oder Habitus −,40 um ein weiteres in den Sozialwissenschaften bedeutsames Konzept zu nennen, das in der Gewaltforschung durchaus Verwendung findet,41 in einem Set an so genannten Skripten, Routinen oder Automatismen ganz unterschiedlicher Stabilität und Reichweite. Die Begriffe variieren je nach theoretischer Provenienz. Sie thematisieren, dass Agieren nicht in einer steten vollständigen Neuschöpfung besteht, sondern in einer mehr oder weniger variierenden Wiederholung von erprobten Wahrnehmungs-, Verstehens- und Handlungsweisen. Oder wie Hartmut Esser  – ein Soziologe, der einen Rational Choice Ansatz vertritt – formuliert: »Frames and scripts are mental models of typical situations and sequences of action, which are stored in the memory, tied to specific contents, focused on certain aspects, and simplifying the ­›reality‹ drastically.«42 Denn auch Handlungstheorien führen diese offenbar zentrale Differenz mit sich. Selbst vermeintlich fundamental unterschiedliche Ansätze konvergieren hinsichtlich der Auffassung, dass es eher automatisierte, routinierte, nicht oder wenig der Reflektion zugängliche Modi gibt, Situationen einzuschätzen und sich diese anzueignen bzw. eine Handlung zu entwickeln43 oder auszuwählen44 und solche, die im Gegenteil ein hohes Maß an bewusster, reflexiver, im empathischen Sinne des Wortes denkender Auseinandersetzung mit der Handlungssituation notwendig machen, um den unterschiedlichen in der Situation gebündelten Anforderungen gerecht zu werden. Hartmut Esser hat Übereinstimmungen von Rational Choice Handlungstheorien mit der Sozialtheorie von Alfred Schütz herausgearbeitet. Hier interessiert vor allem jene beiden gemeinsame Differenzierung von einerseits routinierten, oft auf Habituierung beruhenden Modi zu andererseits jenen, in denen in einem abwägenden 40 Pierre Bourdieu, Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1976. 41 Als zentrales Konzept zum Beispiel in Jutta Bakonyi/Berit Bliesemann de Guevara (Hg.), A Micro-Sociology of Violence. Deciphering patterns and dynamics of collective violence, London 2012; Greta Uehling, Genocide’s Aftermath. Neostalinism in contemporary Crimea, in: Genocide Studies and Prevention 9 (2015), H. 1, http://scholarcommons.usf.edu/ gsp/vol9/iss1/4/ (Zugriff am 26.5.2015). 42 Hartmut Esser, Soziologie. Spezielle Grundlagen, Bd. 6: Sinn und Kultur, Frankfurt a. M. 2001, S. 262. 43 Aus sozialtheoretischer Perspektive: Hans Joas, Die Kreativität des Handelns, Frankfurt a. M. 1996. 44 Für einen Rational Choice Ansatz siehe Clemens Kroneberg, Die Erklärung sozialen Handelns. Grundlagen und Anwendung einer integrativen Theorie, Wiesbaden 2011.

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»choosing between projects of action like an accountant«45 vorgegangen wird. Clemens Kroneberg, ein Schüler Essers, nimmt eine vergleichbare Differenzierung vor und unterscheidet einen reflexiv-kalkulierenden Modus der Informationsverarbeitung im Rahmen von Handlungsprozessen von einem automatisch-­ spontanen.46 Und auch bei Hans Joas finden sich vergleichbare, wenn auch gänzlich anders verbalisierte, Überlegungen: »Da die elementaren Formen unserer Handlungsfähigkeit im Bereich der intentionalen Bewegung unseres Körpers im Zusammenhand der Fortbewegung, Dingmanipulation und Kommunikation liegen, baut sich unsere Welt zunächst in diesen Dimensionen auf. Sie ist nach Erreichbarem und Unerreichbarem, Vertrautem und Unvertrautem, Beherrschbarem und Unbeherrschbarem, Ansprechbarem und Nicht-Ansprechbarem gegliedert. Im Fall des Scheiterns von solchen in die Weltwahrnehmung eingebauten, handlungsbezogenen Erwartungen rücken wir tatsächlich einen Teil der Welt, der nun überraschenderweise als unerreichbar und unvertraut, unbeherrschbar oder unansprechbar erscheint, von uns ab in den Status eines objekthaften Gegenübers.«47

»Das heißt«, argumentiert Joas weiter, »daß auch Akte höchster Kreativität einen Sockel routinierter Handlungsvollzüge und schlicht für gegeben unterstellter Weltbeschaffenheit voraussetzt.«48 Der Soziologe Anselm Strauss bläst in dasselbe Horn, wenn er argumentiert, dass es letztlich kein Handeln gibt, dass nicht auf irgendeiner Art von Routinen beruht: »Routine aspects are encapsulated in even an act carried out for the first time, in form of bodily skills such as walking, culturally devised gestures, listening and speaking. Stretching the term routine, perhaps, one could claim that perception and memory, which are thoroughly social in character and which enter into and make possible most if not all nonreflexive action, have been routinized through repeated experiences with the world.«49

Spätestens diese letzten Überlegungen legen nahe, die Beziehung zwischen reflexiv und routinisiert nicht als sich ausschließende Gegensätze zu verstehen. Letztlich gilt es für die jeweils zu untersuchenden Fälle das Mischungsverhältnis zu bestimmen. Genau hier liegt auch die Differenz zu Theorien mit all­ gemeinem Geltungsanspruch – also Handeln ganz grundsätzlich zu erklären – und der verstehenden Rekonstruktion tatsächlichen Handelns in Kontexten kollektiver Gewalt. Die Theorien sollen den Blick schärfen auf Möglichkeiten, Handeln zu verstehen. Sie können nicht eins zu eins in Analysen konkreter Vor45 Hartmut Esser, The Rationality of Everyday Behavior. A Rational Choice Reconstruction of the Theory of Action by Alfred Schütz, in: Rationality and Society 5 (1993), H.  1, S. 7–31, hier S. 17. 46 Kroneberg, Erklärung sozialen Handelns, S. 145. 47 Joas, Kreativität, S. 233. 48 Ebd., S. 287. 49 Anselm Strauss, Continual Permutations of Action, New York 1993, S. 193.

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kommnisse übertragen werden. Ein leicht gemachter Fehler besteht darin, alle Akteure als gleichermaßen bestimmt oder gar determiniert von Rahmen und Routinen zu verstehen. Dagegen gilt es theoretisch aber auch in empirischen Arbeiten, erstens Räume der Kreativität aufzuzeigen und zweitens individuelle Differenzen nicht zu unterschlagen.

7. Anpassung, Aneignung und Kreativität Menschen lernen Gesellschaft  – also das Sich-Zurechtfinden in sozialen und physischen Umwelten – über vielfältige und komplexe Prozesse. Eine für viele dieser Prozesse maßgebliche Dynamik ist jene von Anpassung und Aneignung. Jede Person muss sich durchgehend zu der sie umgebenden sozialen und physischen Welt (die Beschaffenheit letzterer ist selbstverständlich auch Ergebnis analysierbarer sozialer Prozesse) ins Verhältnis setzen. Überwiegend geschieht dies letztlich in einer Mischform von Anpassung und Aneignung.50 Anpassung meint: Ich orientiere mein Agieren an den von mir vermuteten Erwartungen anderer.51 Es zeigt sich sofort, dass dieser Vorgang ein Mindestmaß von Deutungsfähigkeit und durchaus auch Kreativität in der Auslegung erfordert. Je weniger diese Erwartungen etwa in Gestalt sozialer Normen oder Rollenanforderungen52 eindeutig sind, je größer wird der Raum für Kreativität.53 An­eignung ist, strikt analytisch gesprochen, der darauf folgende Schritt. Das Fremde wird zu etwas Eigenem. Ich passe mich nicht nur an, sondern ich habitualisiere das für mich Neue. Es wird (für mich und für andere) zur Selbstverständlichkeit. Anpassung und Aneignung sind also zwei eng verbundene Aspekte derselben Sache. Beides erfordert Deutung und Kreativität. Das Ergebnis solcher Vorgänge ist allerdings nur bedingt vorhersagbar, denn diese Aneignungen geschehen dem Vokabular der Alltagsgeschichtsschreibung folgend eigensinnig. Deren einflussreichster Vertreter, Alf Lüdtke, erklärt folgerichtig die Rekonstruktion von Aneignungsformen und Aneignungspraxen zum Kern solchermaßen verstandener geschichtswissenschaftlicher Tätigkeit.54 Die Historikerin 50 Mit anderem Vokabular wird dieser Vorgang in diversen klassischen Sozialtheorien diskutiert. Wissenssoziologisch beispielsweise bei Peter L. Berger/Thomas Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, Frankfurt a. M. 1980 [Garden City, NY 1966]. 51 Diesen Aspekt etwa diskutiert Newman im Kontext einer Sozialpsychologie des Genozids: Leonard S. Newman, What is a »Social Psychological« Account of Perpetrator Behavior? The Person Versus the Situation in Goldhagen’s ›Hitler’s Willing Executioners‹, in: Ders./ Ralph Erber (Hg.), Understanding Genocide. The Social Psychology of the Holocaust, Oxford 2002, S. 43–67, hier S. 61. 52 Auch hier sei eine Lektüre von Popitz empfohlen: Popitz, Soziale Normen, S. 117–157. 53 Joas, Kreativität, S. 342. 54 Alf Lüdtke, Alltagsgeschichte. Aneignung und Akteure. Oder – es hat noch kaum begonnen!, in: Werkstatt Geschichte 17 (1997), S. 83–92, hier S. 87.

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Elissa Mailänder hat den Anpassungs-Aneignungsverlauf am Beispiel des weiblichen Aufsichtspersonals in deutschen Konzentrationslagern sehr anschaulich beschrieben.55 Die oft recht jungen Frauen traten ihre Stelle im Konzentrationslager vermutlich ohne eine genaue Vorstellung davon an, welche Verhaltens­ erwar­tun­gen dort an sie herangetragen werden.56 Entsprechend waren viele zunächst überrascht, ja vereinzelt sogar geschockt, wenn sie erstmals mit der von ihren Kolleginnen an den Häftlingen ausgeübten Gewalt konfrontiert wurden. Sie verhielten sich zunächst gemäß der im Lager geltenden sozialen Normen, die nicht mit denen außerhalb der Lager übereinstimmten, falsch. So grüßten einige Neulinge zunächst Gefangene oder gingen ihnen bei Begegnungen aus dem Weg. Innerhalb recht kurzer Zeit, einigen Tagen oder Wochen, jedoch kam es zu einer auch von den Häftlingen am Habitus wahrnehmbaren Veränderung. Die Aufseherinnen wuchsen in die Uniformen, in die Stiefel hinein, sie veränderten ihren Gang, ihren Blick, ihren Gesichtsausdruck und damit verbunden ihr Verhalten.57 Eigensinn bedeutet auch, die bürokratischen und juristischen Regeln wissentlich zu verletzen. Elissa Mailänder zeigt eben diesen Eigensinn der Aufseherinnen, die in unterschiedlichsten Kontexten Befehle verweigerten, sich beschwerten und widersetzten, ja teils heftig mit ihren männlichen Kollegen bzw. Vorgesetzten stritten.58 All diese Beobachtungen deuten auf einen Raum hin, in dem Agieren keinesfalls determiniert ist, sondern angeeignet werden kann. Übrigens gab es auch solche Frauen, die aus heute nicht mehr nachvollziehbaren Gründen die Arbeit im Lager recht schnell aufgaben. In diesen Fällen wurde der Anpassungs-Aneignungsvorgang abgebrochen. Solche Abbrüche als auch die zuvor beschriebenen Vorgänge selbst weisen auf individuelle Differenzen und Räume der Kreativität hin. Letztere kann viele Anlässe und Gestalten haben. Die wohl gängigste Form (1) ist das ständige Navigieren innerhalb von Anforderungen und Routinen. Es ist die alltägliche von Jedermann als Bewältigungsleistung zu erbringende Feinjustierung in weitgehend geregelten sozialen Kontexten. Weiter (2) bedarf es Kreativität bei der Lösung von Problemen, für die keine voll zutreffenden oder gar unterschiedliche Skripte bzw. Routinen vorliegen. Das gilt gerade in Gewaltkontexten wie Kriegen. Weit seltener ist (3) Kreativität als Innovation, also der Variation oder Weiterentwicklung einer Regel, einer Technik, eines Ablaufs usf., die über die bloße Fortschreibung oder Differenzierung hinausgeht. Die ersten beiden Varianten 55 Elissa Mailänder-Koslov, Gewalt im Dienstalltag. Die SS -Aufseherinnen des Konzentrations- und Vernichtungslagers Majdanek 1942−1944, Hamburg 2009. 56 Ähnliche Beobachtungen macht Alexander Hinton für einige im kambodschanischen Folter- und Vernichtungsort Tuol Sleng tätigen Personen: »Some Tuol Sleng cadres seem to have had an initial reluctance to brutalize prisoners«, Alexander Laban Hinton, Why did they kill? Cambodia in the Shadow of Genocide, Berkeley 2005, S. 237. 57 Eine klassische Theoretisierung solcher Prozesse findet sich bei Erving Goffman, Asyle. Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen, Frankfurt a. M. 1973 [Chicago 1961]. 58 Mailänder-Koslov, Gewalt im Dienstalltag, S. 279 ff.

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der Kreativität ereignen sich innerhalb tradierter Regelsysteme, während die dritte darüber graduell hinausgehen kann. Ein anderer idealtypischer Modus ist (4) die intentionale Infragestellung geltender Abläufe, die Entwicklung neuer Blickweisen und Fragestellungen. Neu ist stets ein relationales Konzept. Die Typen der Kreativität unterscheiden sich graduell. In der Welt des Sozialen ist nichts tatsächlich jemals exakt dasselbe. Ebenso sind Innovationen voraussetzungsvoll, beruhen sie doch beispielsweise auf Techniken, Technologien, Denkweisen, sozialen Ordnungen usf. Folglich sind Gewohnheit (oder Routine) und Kreativität handlungstheoretisch keine Gegensätze.59

8. Praxen Wie die Beschäftigung mit Heinrich Popitz gezeigt hat, sind soziale Normen und auch Machtverhältnisse nicht nur Bedingungen, sondern nachgerade Folgen individuellen Handelns. Damit nimmt Popitz eine Entwicklung vorweg, die in den Sozialwissenschaften als performative turn firmiert.60 Diese auch unter dem Begriff Praxeologie verhandelte Entwicklung ist als eine Schwerpunktverlagerung in der Betrachtung menschlicher Interaktion zu verstehen. Die Bedeutung von Ideen für menschliche Handlungsvollzüge wird zugunsten einer Fokussierung auf Handlungen als Auslegungs-, Aneignungs-, und schließlich wirklichkeitskonstituierende Prozesse relativiert. Diese Tendenzen sind in vielen der bisher referierten Theorien und Forschungsweisen durchaus angelegt. Die Praxistheorie dreht diese Schraube noch weiter. Die verschiedenen Formen sedimentierter Erfahrung – u. a. Mentalität, Figu­ ration, Habitus  – aber auch einige handlungstheoretische Konzepte sind Individuen in unterschiedlicher Weise zugänglich. Sie können begrenzt Gegenstand der Reflexion werden. Zugleich unterscheiden sich auch Individuen in der Fähig­keit, genau dies zu tun. Diese kognitive Durchdringung der eigenes Agieren motivierenden und rahmenden sozialen Umwelt sowie Voraussetzungen ist jedoch nur eine mögliche Technik der Auslegung. Eine weitere solche Weise der Bezugnahme auf die Welt ist ungleich praktischerer Natur und betrifft den Kern dessen, wie menschliche Tätigkeit verstanden wird. Was gemeint ist, lässt sich gut an den entsprechenden Überlegungen zur Kreativität illustrieren: »Im dargestellten Handlungsmodell verankern wir Kreativität im Handeln. Damit suchen wir das Veränderliche, Unbestimmte der sozialen Praktiken nicht in vorgängigen Strebungen oder Fähigkeiten von Subjekten, sondern im Ablauf der Praktiken

59 Hilmar Schäfer, Kreativität und Gewohnheit. Ein Vergleich zwischen Praxistheorie und Pragmatismus, in: Udo Göttlich/Ronald Kurt (Hg.), Kreativität und Improvisation. Soziologische Positionen, Wiesbaden 2012, S. 17–43. 60 Doris Bachmann-Medick, Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbek bei Hamburg 2006, S. 104–143.

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selbst: in ihrem Gelingen oder Misslingen, in ihrem immer wieder Neu-Ansetzen und den Modifikationen von Vorhandenem. Nicht der Akteur, sondern die Praktiken mit ihren Handlungsabläufen und -problemen sind Ausgangspunkt der Analyse.«61

Praxistheoretische Überlegungen gehen sogar noch einen Schritt weiter, in dem sie sich vom agierenden Subjekt abwenden und Praxen zum Gegenstand des Interesses machen. Andreas Reckwitz, einer der exponierten Vertreter dieses Zugangs, bestimmt Praxen folgendermaßen: »A practice is thus a routinized way in which bodies are moved, objects are handled, subjects are treated, things are described and the world is understood.«62 »It invites us to regard agents as­ carriers of routinized, oversubjective complexes of bodily movements, of forms of interpreting, knowing how and wanting and of the usage of things.«63 Nochmal: Untersuchungsgegenstand ist nicht einmal mehr eine spezifische Handlung, sondern beispielsweise das Schlagen oder die Folter als ein bereits vorhandenes Wissen »out there«64 wie Theodore Schatzki, ein weiterer führender Vertreter dieser Theorie, formuliert, das nur noch individuell angeeignet wird. Dann liegen diese Praxen als ein nicht kognitivistisches Wissen vor, »verstanden als know-how abhängige und von einem praktischen ›Verstehen‹ zusammengehaltene Verhaltensroutinen, deren Wissen einerseits in den Körpern der handelnden Subjekte ›inkorporiert‹ ist, die andererseits regelmäßig die Form von routinisierten Beziehungen zwischen Subjekten und von ihnen ›verwendeten‹ materialen Artefakten annehmen.«65 Zwei Aspekte sind hier zu betonen. Erstens die Bedeutung, die Artefakten zugesprochen wird. Das ist die gegenständliche Welt, die nicht nur benutzt und manipuliert wird, sondern selbst Handeln anleitenden, ja forcierenden Charakter haben kann. Das ist mit Bezug auf Kriegsgerät, darunter Waffen, unmittelbar einleuchtend. Zweitens sind auch Routinen Thema der Praxistheorie. Sie werden keinesfalls als unveränderbar beschrieben. »Viel wichtiger für das, was schließlich zur Routine wird, ist jedoch der ›Prozess der Abarbeitung‹ an praktischen Problemen und konkreten Situationen, in denen Widerstände erfahren, Neues gelernt und angewendet und mit anderen praktischen Wissenselementen verknüpft wird.«66 Nicht nur 61 Karl H. Hörning, Soziale Praxis zwischen Beharrung und Neuschöpfung. Eine Erkenntnis- und Theorieproblem, in: Ders./Julia Reuter (Hg.), Doing Culture. Neue Positionen zum Verhältnis von Kultur und sozialer Praxis, Bielefeld 2004, S. 19–39. 62 Andreas Reckwitz, Toward a Theory of Social Practices. A Development in Culturalist Theorizing, in: European Journal of Social Theory 5 (2002), H. 2, S. 243–263, hier S. 250. 63 Ebd., S. 259. 64 Theodore Schatzki, Social Practices. A Wittgensteinian Approach to Human Activity and the Social, Cambridge 1996, S. 106. 65 Andreas Reckwitz, Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken. Eine sozialtheoretische Perspektive, in: Zeitschrift für Soziologie 32 (2003), H. 4, S. 282–301, hier S. 289. 66 Melanie Jaeger-Erben, Zwischen Routine, Reflektion und Transformation. Die Veränderung von alltäglichem Konsum durch Lebensereignisse und die Rolle von Nachhaltigkeit, 2010, http://opus4.kobv.de/opus4-tuberlin/frontdoor/index/index/docId/2661 (Zugriff am 24.6.2015), S. 260.

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ihre individuelle Aneignung, sondern auch die Komplexität von Sozial- und Sachbeziehungen machen Variationen nötig.67 Aber mehr noch: »Abgesehen davon, dass bereits die bloße ›Anwendung‹ einer Praktik durch ihre Kontextualität und Zeitlichkeit das praktische Vermögen des Handelnden auf die Probe stellen kann, ist es vor allem die Struktureigenschaft des Subjekts als heterogenes Wissensbündel, welches ein Unberechenbarkeitselement begründet.«68

Mit anderen Worten sind Individuen so vielen unterschiedlichen Anforderungen und Möglichkeiten, diese zu bewältigen, ausgesetzt, dass sie aus reiner Notwendigkeit eigensinnig bzw. innovativ sein müssen. Ob Praxistheorie tatsächlich ein neues Paradigma ist oder eine Betonung bereits vorhandener Elemente, wird noch immer verhandelt.69 Für den Zweck, Gewalt als Handlung zu verstehen, liefert sie weitere Argumente dafür das Tun, dessen Genese, das Routinehafte und das Kreative daran in den Mittelpunkt der Analyse zu stellen. Der Historiker Sven Reichhardt, zweifellos einer der Pioniere einer tatsächlich praxeologischen Geschichtswissenschaft, entwickelte eine Epistemologie, die all die genannten Elemente beinhaltet: »Der Zusammenhang von körperlichen Verhaltensroutinen, kollektiven Sinnmustern und subjektiven Sinnzuschreibungen der historischen Akteure als auch die historische Verankerung ihrer Identitäten und Symbole wird zum zentralen Gegenstand der Analyse und Theoriebildung.«70 Aber Reichhardt theoretisiert nicht nur, er wendet auch an. In der geschichtswissenschaftlichen Analyse deutscher und italienischer faschistischer Kampfbünde erprobt er die Brauchbarkeit praxeologischer Theorien. Und tatsächlich ist es die Aktion, das gemeinsame, oft gewalthafte Handeln, das zum Spezifikum dieser Gruppen wird. »Nicht die Ideologie oder ein kohärentes, politisches Programm machte den Faschismus zu einem eigenständigen und klar unterscheidbaren Phänomen, sondern die Kombination der Formen seiner politischen Praxis mit den politischen Einstellungen.«71 Gewalt wird hier nicht als eine Folge von Ideologie oder Zwang verstanden, nicht als ein Nebeneffekt, nicht mal nur als Teil von Vergemeinschaftung. Sie ist zugleich ihr Motor und der alles verbindende Kitt. Die Körperlichkeit von Gewalt ist evident. Ihre Ausübung wird zur Routine, zum selbstverständlichen Element dieser Sozialität. »Es war die Gewalt selbst, welche Gemeinsamkeit her-

67 Reckwitz, Grundelemente, S. 294 ff. 68 Ebd., S. 296. 69 Kritisch diesbezüglich äußern sich beispielsweise Ingo Schulz-Schaeffer, Praxis, handlungstheoretisch betrachtet, in: Zeitschrift für Soziologie 39 (2010), S. 319–336; Gregor Bongaerts, Soziale Praxis und Verhalten. Überlegungen zum ›Practice Turn in Social Theory‹, in: Zeitschrift für Soziologie 36 (2007), S. 246–260. 70 Sven Reichardt, Praxeologische Geschichtswissenschaft. Eine Diskussionsanregung, in: Sozial.Geschichte 22 (2007), H. 3, S. 43–65, hier S. 44. 71 Ders., Faschistische Kampfbünde. Gewalt und Gemeinschaft im italienischen Squadrismus und in der deutschen SA , Köln 2002, S. 717.

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stellt.«72 Ähnlich wird bezüglich der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft argumentiert, die tatsächlich weit mehr als ein ideologisches Konzept war, sondern ebenfalls immer wieder performativ auch und gerade durch Gewalthandlungen unterschiedlicher Intensität hergestellt wurde.73

9. Ein Beispiel Wie sich bereits andeutet, besteht die methodische Konsequenz einer sozialtheoretisch angeleiteten Fokussierung auf Handlungen und/oder Praxen darin, eben diese zunächst konkret zu beschreiben. Wer tut also was auf welche Weise ist die erste Frage. Dann folgt die Auslegung anhand einer Analysematrix, die Erklärungsmöglichkeiten bietet, aber nicht aufzwingt. Elemente sind die Identifikation von Routinen oder Skripten, Rekonstruktionen von Figurationen oder Habitus, Aufspüren von Dynamiken, Nachvollziehen von Prozessen. Zwar geht dieser Ansatz von der zu rekonstruierenden Situation aus, er verneint jedoch keinesfalls die Bedeutung von über diese hinausgehenden Rahmen.74 Allen Kramer hat einen Fall deutscher Gewalttaten gegen Zivilisten in Belgien während des Ersten Weltkriegs mit zumindest in Teilen ähnlichen Werkzeugen analysiert.75 Deutsche Soldaten arbeiteten nahe einer belgischen Ortschaft daran, eine Pontonbrücke über den dortigen Fluss zu errichten. Zuvor war der Ort durchsucht und Zivilisten als Geiseln genommen worden. Letzteres beleuchtet bereits den Hintergrund, vor dem die Beteiligten im Weiteren agierten. Sie hatten Angst vor Heckenschützen (also Zivilisten, die aus dem Verborgenen schießen), die angeblich unrechtmäßig auf als hinterhältig oder unfair empfundene Weise deutsche Soldaten töteten. Kramer führt diesen Mythos der franc-­ tireurs auf über vierzig Jahre zurückliegende Ereignisse zurück, während solche Aktionen tatsächlich von französischer Seite ausgeübt worden waren: »German histories of the war 1870−1, historical novels, magazine article, and military education manuals all helped to ensure there was  a predisposition to expect franc-tireurs in 1914.«76 Die deutschen Offiziere waren angehalten, massiv auf 72 Ders., Praxeologie und Faschismus, S. 141. 73 Michael Wildt, Volksgemeinschaft als Selbstermächtigung. Gewalt gegen Juden in der deutschen Provinz 1919 bis 1939, Hamburg 2007; Frank Bajohr/Michael Wildt (Hg.), Volksgemeinschaft. Neue Forschungen zur Gesellschaft des Nationalsozialismus, Frankfurt a. M. 2009. 74 Ausführlicher in Christian Gudehus, Rahmungen individuellen Handelns. Ein Analysemodell, in: Harald Welzer u. a. (Hg.), »Der Führer war wieder viel zu human, viel zu gefühlvoll«. Der Zweite Weltkrieg aus Sicht deutscher und italienischer Soldaten, Frankfurt a. M. 2011, S. 26–54. 75 Allen Kramer, The War of Atrocities. Murderous Scares and Extreme Combat, in: Alf Lüdtke/Bernd Weisbrod (Hg.), No Man’s Land of Violence. Extreme Wars in the 20th Century, Göttingen 2006, S. 11–33. 76 Ebd., S. 20.

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zivilen Widerstand zu reagieren. Es kursierten diverse Narrative77 von solchen als (übrigens fälschlicherweise) illegal eingeschätzten Angriffen. Und tatsächlich wurden die deutschen Soldaten beschossen. Obwohl auch in der Situation für zumindest einige der Deutschen offensichtlich war, dass die Aggression von regulären Truppen ausging, entwickelte sich auf Grundlage des Deutungsrahmens, der Angst, der Befehlslage, der Tatsache, dass Geiseln genommen worden waren usf. eine fatale Dynamik, an deren Ende mehr als siebzig Menschen, unter ihnen Kleinkinder, Kinder, Frauen und Männer, erschossen worden waren. Kramer betont, und da ist ihm zuzustimmen, nicht der Dynamik eine Subjektrolle zukommen zu lassen. Es sind Menschen die Handeln. Sie tun dies verwurzelt in unterschiedlich stark sedimentierten Erfahrungen, die nicht nur ihre Wahrnehmungsweisen, sondern auch ihr Empfinden ausmachen. Sie greifen zurück auf Praxen, in denen Abläufe wie die Geiselnahme oder eine Massenerschießung bereits vororganisiert sind. Das dynamische Element legt keine Zwangsläufigkeit nahe. Ganz im Gegenteil, was passiert, ist solange offen, bis es geschieht. Ein vielleicht geäußerter Hinweis eines deutschen Soldaten, dass die Schüsse eindeutig nicht von Zivilisten kommen können, mag ignoriert oder aufgenommen werden. Das ist offen. Deutlich wird erneut, trotz aller Rahmungen, sozialen Verpflichtungen, Routinen usf., dass die Handlungsoptionen nicht determiniert sind. Zumal ja auch Rahmungen, soziale Verpflichtungen, Routinen usf. zugleich vorliegen, die anderes Handeln ermöglichen. Darum gibt es etwa Menschen, die Juden geholfen haben, sich der nationalsozialistischen Verfolgung zu entziehen.78

10. Täter oder lieber Verantwortung? Die moralische und rechtliche Beschäftigung mit Gewalt braucht handelnde Subjekte für ihr Geschäft. Sie muss Personen oder Institutionen identifizieren, die an Gewalttaten beteiligt waren und ihre Schuld oder Unschuld anhand diverser, sich verschiebender Kriterien bewerten. Wissenschaft, hier Gewaltforschung, hingegen will ein Phänomen oder einen Komplex von Phänomenen verstehen. Sie kann sich auf Subjekte fokussieren, sie kann analytisch jedoch auch andere Wege gehen. Im Extremfall der Praxistheorie – aber auch in methodischen Ansätzen wie der Diskursanalyse  – stehen nicht mehr die Akteure im Mittelpunkt der Analyse. Die Aufmerksamkeit gilt vielmehr Handlungen und den Kontexten, in denen sie eingebettet sind und die sie zugleich konstituieren oder wie im Falle der Diskursanalyse den Texten und nicht in erster Linie deren Autoren. 77 Zur Bedeutung von Gerüchten für Gewaltprozesse siehe Tim Buchen, Antisemitismus in Galizien. Agitation, Gewalt und Politik gegen Juden in der Habsburgermonarchie um 1900, Berlin 2012, S. 167–215. 78 Zum Helfen als Handlung: Gudehus, Verfolgten Helfen.

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Dennoch kann gerade eine sozialtheoretisch fundierte Gewaltforschung Antworten auf die mit dem Konzept der Täterschaft verbundene Frage nach individueller Zuschreibbarkeit (Y hat X getan) und Verantwortung (Y hätte X nicht tun müssen) geben. Verantwortung zu übernehmen heißt nichts anderes, als Automatismen, Routinen usf. von der kreativen Arbeit der ständigen Anpassung an die Varietät sozialer Konstellationen zu trennen. Mit anderen Worten ist Kreativität nicht Anpassungswerkzeug, sondern Modus des Erkennens und Verstehens. Das entspricht im Kern dem oben angesprochenen vierten Kreativitätsmodus: der intentionalen Infragestellung geltender Abläufe, der Entwicklung neuer Blickweisen und Fragestellungen. Fundamentale Voraussetzungen für eine Entscheidung gegen die Gewalt ist jedoch der Wunsch, nicht daran teilzunehmen. Erst dann kommt die Prüfung von Handlungsmöglichkeiten. So sehr Menschen auch in soziale Geflechte eingebunden sind, so sehr selbst ihr Wünschen davon beeinflusst ist, so sehr bleibt immer (ein unterschiedlich großer) psychologischer Raum, anders als die Anderen zu handeln. Individualität – und damit übrigens auch Identität  – ist das temporal und spatial variierende Sich-Ins-Verhältnis-Setzen zur sozialen und dinglichen Umwelt. An Gewalt teilzunehmen ist somit ebenso eine Entscheidung, wie dies nicht zu tun. Sich die Welt handelnd anzueignen, ist weit mehr als in einem Strom zu schwimmen ohne unterzugehen, anzustoßen oder auf Grund zu laufen. Auch in den Handlungskontexten kollektiver Gewalt nehmen Menschen unterschiedliche Positionen ein, wie Raul Hilberg schon früh erkannt hat: »Vor allem gab es Initiatoren, die sicher sein konnten, daß ohne sie nichts ging. Dann gab es Freiwillige, die Mittel und Wege suchten, sich an den antijüdischen Maßnahmen zu beteiligen. Und schließlich gab es die Perfektionisten, die Maßstäbe setzten und als Vorbilder für alle galten.«79 Oder mit den Worten von Eva Fogelman: »Führer wie John Weidner oder Joop Westerweel waren Männer mit festen Überzeugungen und unerschütterlichen Grundsätzen, Männer, die andere beflügeln und zu Mitarbeit animieren konnten. Sie verstanden es, die nötigen Mittel aufzutreiben, um ihre Pläne erfolgreich ausführen zu können.«80 Dass ersterer so genannte Täter beschreibt und im zweiten Auszug von ebensolchen Helfern die Rede ist, bezeugt erneut die moralische Neutralität sozialer Dynamiken. Beide Textstellen illustrieren zugleich – mal mit weniger, mal mit mehr Pathos – die Notwendigkeit von Ideenentwickelnden, von Antreibern, die fest eine Interpretation der sozialen Welt vertreten und entsprechend handeln. Auf Konzepte wie Täter, Opfer und Zuschauer in der Analyse von Gewalt zu verzichten, bedeutet ja keineswegs, individuelle Verantwortung abzustreiten, sie wird nur in spezifischer Weise thematisiert. Um ein positives Beispiel zu bemühen: Die Hilfe für Juden vor der nationalsozialistischen Verfolgung benötigte auch die Handlungen von Menschen, die bezahlt wurden oder nicht einmal von 79 Hilberg, Vernichtung, S. 65. 80 Eva Fogelman, »Wir waren keine Helden«. Lebensretter im Angesicht des Holocaust.­ Motive, Geschichten, Hintergründe, Frankfurt a. M. 1995, S. 217.

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ihrer Rolle wussten, also getäuscht worden waren. Darüber zu diskutieren, ob es sich bei diesen um Helfer handelt, Zuschauer oder gar Täter, die aus ganz besonderen Motiven helfen, ist eine Variante mit diesem Wissen umzugehen. Das Geflecht an Handlungen und Beziehungen zu untersuchen, die Hilfe (oder die Gewalt, die Hilfe erst notwendig machte) ermöglichten eine andere. Sozialtheoretische Konzepte, Handeln zu verstehen, halten Werkzeuge für solche Analysen bereit. Diese sind nicht besser als andere Zugänge, etwa sozialhistorische. Ganz im Gegenteil, befruchten sie sich im besten Falle gegenseitig.

Peter Imbusch

Die Rolle von »Dritten« Eine unterbelichtete Dimension von Gewalt All that is necessary for evil to triumph in the world is for good people to do nothing. Edmund Burke

Figuren, Rollen und Funktionen des Dritten spielen seit einiger Zeit wieder eine prominente Rolle in der sozialwissenschaftlich orientierten Forschung  – angefangen von der Soziologie und Anthropologie, über die Sozialphilosophie bis hin zu den Kulturwissenschaften.1 Es mag an der Disparatheit der Bezüge, den widersprüchlichen Erkenntnisinteressen und den Spezifika der ausgewählten Fallanalysen liegen, dass dabei so gut wie nie auf Gewalt Bezug genommen wird. Umgekehrt finden sich in der Gewalt- und Konfliktforschung, die ein weitverzweigtes Forschungsfeld umfasst, mit Ausnahme bestimmter Konfliktregelungsprinzipien2 kaum noch Bezüge auf Personen oder Gruppen als Dritte, obwohl diese den Verlauf eines Gewaltkonflikts durchaus positiv (z. B. friedensschaffend, gewaltbeendend)  oder negativ (z. B. konfliktverschärfend, eskalierend) zu beeinflussen vermögen.3 Das wiederum hat etwas damit zu tun, dass Gewalt den allermeisten Menschen zuvörderst als ein dyadisches statt triadisches Interaktionsverhältnis erscheinen dürfte, indem sich Täter und Opfer mit einer klaren Rollenverteilung gegenüberstehen, sodann die Thematik von dritten Personen vor allem auf die Rolle von Helfenden bezogen wird,4 die in der ein 1 Vgl. Thomas Bedorf u. a. (Hg.), Theorien des Dritten. Innovationen in der Soziologie und Sozialphilosophie, München 2010; Hans-Peter Krüger/Gesa Lindemann (Hg.), Philosophische Anthropologie im 21. Jahrhundert, Berlin 2006; Eva Eßlinger u. a. (Hg.), Die Figur des Dritten. Ein kulturwissenschaftliches Paradigma, Berlin 2010. 2 Scott Phillips/Mark Cooney, Aiding Peace, Abetting Violence. Third Parties and the Management of Conflict, in: American Sociological Review 70 (2005), H. 2, S. 334–354; Mark Levine/Simon Crowther, The Responsive Bystander. How Social Group Membership and Group Size can Encourage as well as Inhibit Bystander Intervention, in: Journal of Personality and Social Psychology 95 (2008), S. 1429–1439. 3 Peter Imbusch, Der Gewaltbegriff, in: Wilhelm Heitmeyer/John Hagan (Hg.), Internationales Handbuch der Gewaltforschung, Wiesbaden 2002, S. 26–57; vgl. Trutz von Trotha (Hg.), Soziologie der Gewalt, Opladen 1997; als Ausnahme: Randall Collins, Violence. A Microsociological Theory, Princeton 2008. 4 Christian Gudehus, Helfen, in: Ders./Michaela Christ (Hg.), Gewalt. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart 2013, S. 256–261.

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Peter Imbusch

oder anderen Form intervenieren, um dem Opfer beizustehen. Dieses Alltagsbild, das oft mit eindeutigen Verantwortungszuschreibungen und mit klaren Attributionen von Schuld einhergeht und aufgrund der Verteilung von Sympathie bzw. Antipathie zudem eine starke identifikatorische Komponente besitzt, soll hier ein Stück weit hinterfragt werden. Denn schaut man sich einmal Gewaltkonstellationen genauer an, dann wird nicht nur schnell deutlich, dass eine Vielzahl von Gewaltformen triadischen Charakter besitzt, sondern auch, dass die Rollen und Funktionen von Dritten sehr unterschiedlich ausfallen. Um zu zeigen, dass die Rolle von Dritten bei Gewalt eine unterbelichtete Dimension ist, werde ich zunächst die Figur des Dritten und die Gewaltkonstellationen, in der sie auftritt, in theoretischer Hinsicht differenzieren (1). Sodann werde ich an Beispielen auf unterschiedlichen Ebenen verdeutlichen wie bedeutsam, aber auch wie unterschiedlich die Rollen von »dritten Parteien« in Gewaltkonflikten ausfallen können (2). Danach werde ich etwas über die Ubiquität des Dritten und ihre ethischen Implikationen sagen (3). Abschließend werde ich in einem Resümee einige Reflexionen über die Bedeutung des Dritten für eine Soziologie der Gewalt anstellen (4).

1. Die Figur des Dritten und die sozialwissenschaftliche Gewaltforschung Gewalt ist ein vielschichtiges Phänomen mit sehr unterschiedlichen Facetten.5 In der Regel verstehen wir unter Gewalt physische, körperliche Gewalt und/oder psychische Gewalt, die sich gegen einen anderen Menschen (beizeiten gegen Sachen) richtet und dort einen Schaden (eine Verletzung, den Tod)  ver­ursacht. Gewalt stellt dabei nicht nur ein Phänomen oder ein Ereignis dar, welches aufgrund ihrer umfassenden Wirkmächtigkeit und der grundsätzlichen Verletzungsoffenheit des Menschen »verstanden« wird,6 sondern sie ist für Menschen zugleich eine sehr basale Erfahrung mit nicht unerheblichen Folgen. In dieser zentralen Dimension kann Gewalt handlungstheoretisch als ein Interaktionsverhältnis gefasst werden. Gewalt ist dabei ein »soziales Handeln« im Weberschen Sinne, da sie in ihrer Form und ihrem Vollzug auf andere ausgerichtet ist.7 Zudem ist sie ein Interaktionsverhältnis, weil zunächst zwei Parteien (Täter und Opfer) involviert sind, die sich mit unterschiedlichen Absichten und Interessen begegnen, und sodann die Interaktion, die (je nach eingesetzten Machtmitteln) in ihrem Verlauf und ihrer Dynamik unterschiedlich ausfallen können.8 5 Imbusch, Gewaltbegriff; Ders., Moderne und Gewalt. Zivilisationstheoretische Perspektiven auf das 20. Jahrhundert, Wiesbaden 2005, S. 11–52. 6 Heinrich Popitz, Phänomene der Macht, Tübingen 1992. 7 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Studienausgabe, Tübingen 1972. 8 Collins, Violence, S. 566–576.

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Die Rolle von »Dritten«

Schaut man sich aber Gewalthandlungen einmal genauer an, dann stellt man rasch fest, dass sich beispielsweise der Verlauf und die Dynamik von Gewalt nicht ausschließlich aus der Interaktion eines Täters mit einem Opfer ergeben. Auch wenn solche dyadischen Konstellationen durchaus vorkommen (z. B. bei einem im Verborgenen stattfindenden Mord, bei einem nächtlichen Überfall in einer einsamen Gegend oder bei bestimmten Formen häuslicher Gewalt), so dürften doch an einer Vielzahl – wenn nicht sogar der Mehrzahl – von Gewaltgeschehnissen auch »Dritte« in der einen oder anderen Art und Weise beteiligt sein. Diese »Dritten« treten in sehr unterschiedlicher Form in Erscheinung, sie spielen dabei sehr verschiedene Rollen und erfüllen höchst unterschiedliche Funktionen in Bezug auf die Gewalt. Je nach ausgewähltem Beispiel und je nach Handlungsebene (Mikro-, Meso- oder Makro-Ebene) lassen sich zunächst konkrete und abstrakte Dritte sowie aktive und passive Dritte differenzieren (siehe Tabelle). Konkrete Dritte sind in der Regel Personen oder Personengruppen, die eine Gewalthandlung wahrnehmen, sich in irgendeiner Weise dazu verhalten, ggf. in das Geschehen involviert werden und dieses damit direkt oder indirekt beeinflussen. Die paradigmatischen Figuren dieser konkreten Dritten sind in der aktiven Variante die »Helfer« und in der passiven Variante die »Zuschauer«. Abstrakte Dritte sind dagegen eher indirekte, nicht unmittelbar am Gewaltgeschehen Beteiligte wie z. B. die »Öffentlichkeit« oder bestimmte »Referenzgruppen«, die aktiv auf ein Geschehen (zumindest die Dispositionen der Täter) einwirken können. Abstrakte Dritte in der passiven Variante wären hingegen eher »Normen«, »Gesetze« und das »Recht«, welche jeweils einen Rahmen für bestimmte Handlungen liefern bzw. Gewalt in den Rahmen des Erlaubten oder Verbotenen stellen. Tabelle: Unterschiedliche Rollen und Funktionen von Dritten Personell

Strukturell

Aktiv

Helfer

Öffentlichkeit, Referenzgruppen

Passiv

Zuschauer/Bystander

Normen, Gesetze, Recht

Die hier aufgemachte Vierfelder-Matrix dient lediglich heuristischen Z ­ wecken und ließe sich mühelos weiter differenzieren. Dies ist insbesondere dann vonnöten, wenn wir unterschiedliche Gewaltphänomene auf den verschiedenen Ebenen näher betrachten, nach dem konkreten Beitrag einzelner Dritter fragen oder die Funktionen dieser dritten Parteien für das Gewaltgeschehen eruieren wollen. Die Komplexität der Beziehung von Dritten zu Tätern und Opfern ist in dem folgenden, erweiterten triadischen Modell (Abbildung) festgehalten.

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Peter Imbusch Täter

Opfer Täter

Dritte Opfer

Täter Dritte (Typ 3) Opfer

Dritte (Typ 1) Dritte (Typ 2)

Dritte (Typ 4)

Abbildung: Erweitertes triadisches Modell des Dritten

Die soziologische und sozialpsychologische Forschung hat sich bislang hauptsächlich mit zwei Figuren des »Dritten« auseinandergesetzt: dem Zuschauer und dem Helfer. 1.1. Passive personelle Dritte (Typ 1)

Der Zuschauer (»bystander«) ist sozusagen das Negativbild eines Dritten.9 Er gilt als jemand, der in einer heiklen Situation nicht interveniert, obwohl ein anderer dringend Hilfe benötigt. Er beobachtet das Geschehen lediglich, wartet ab, schaut mit einem wohligen Grausen zu und will sich selbst nicht in Gefahr begeben. Die Haltung des Zuschauers basiert auf der Leugnung von Verantwortung bzw. der 9 Petruska Clarkson, The Bystander Role, in: Transactional Analysis Journal 17 (1987), H. 3, S. 82–87; Bibb Latané/John H. Darley, Bystander Apathy, in: American Scientist 57 (1969), S. 244–268; Robert D. Blagg, Bystander Effect, in: John M. Levine/Michael A. Hogg (Hg.), Encyclopedia of Group Processes and Intergroup Relations, Thousand Oaks 2010, S. 63–65.

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Zurückweisung von Verpflichtungen einem möglichen Opfer gegenüber. Metaphorisch gesprochen können Zuschauer ihre Hände in Unschuld waschen, obwohl sie wissen, dass vermutlich einem Unschuldigen Gewalt angetan wird. Als Nichtbeteiligte am direkten Tatgeschehen können sie in der Öffentlichkeit auf ihre Schuldlosigkeit verweisen. In der Regel geht dies mit Rationalisierungen für das eigene Nicht-Handeln einher. Hätte der Zuschauer nämlich gehandelt, wäre das Geschehen vielleicht noch positiv zu wenden oder gar das Ergebnis der Gewalt abzuwenden gewesen. Der individuellen moralischen Entscheidung zum Nicht-Handeln, zum Nicht-Eingreifen, zum Nicht-Helfen, liegt eine Gemengelage von psychischen und sozialen Dispositionen zugrunde. Die Frage, warum wer wem in welchen Situationen nicht hilft, ist seit langem mit dem sogenannten »Zuschauer-Effekt« (»bystander effect«) erklärt worden. Darunter versteht man ganz allgemein das Phänomen, dass Augenzeugen eines Gewaltgeschehens oder einer kriminellen Handlung nur mit geringer Wahrscheinlichkeit eingreifen oder Hilfe leisten, wenn noch weitere Zuschauer (oder wie der Name »bystander« sagt: Dabeistehende) anwesend sind. Der Zuschauer-Effekt  – auch »Genovese-Syndrom« genannt  – geht zurück auf Forschungsergebnisse im Gefolge des Mordes an der US -Amerikanerin Catherine »Kitty« Genovese, die im März 1964 nahe ihrem Wohnhaus im New Yorker Stadtteil Queens vergewaltigt und ermordet wurde. Das Besondere an diesem Vorfall war, dass er sich über eine halbe Stunde hinzog, der Täter mehrfach zurückkehrte und der Ort des Geschehens gut einsehbar war, so dass es eine beträchtliche Anzahl von Zeugen für dieses Verbrechen gab. Knapp vierzig Personen bemerkten und beobachteten den Überfall, ohne dass jemand der jungen Frau zur Hilfe kam.10 Dieser und andere Fälle lösten seinerzeit eine Reihe von Forschungen aus, um das passive Verhalten der Zuschauer gegenüber einem Gewaltverbrechen zu erklären.11 Zwar hatte es auch schon zuvor sozialpsychologische, kriminologische und soziologische Forschungen zum menschlichen Verhalten im Gefolge des Zweiten Weltkriegs und des Holocausts gegeben – etwa um das Verhalten der sogenannten »rescuers« von Juden oder das passive Verhalten der Deutschen angesichts monströser Verbrechen zu erklären –, wobei auf Phänomene wie Gruppenprozesse und Gruppendynamiken, Konformität mit peer groups und die Autoritätsproblematik zurückgegriffen wurde.12 Doch 10 Abraham Michael Rosenthal, Thirty-Eight Witnesses. The Kitty Genovese Case, New York 1964. 11 John M. Darley/Bibb Latané, Bystander Intervention in Emergencies. Diffusion of Responsibility, in: Journal of Personality and Social Psychology 8 (1968), H. 4, S. 377–383; Dies., Bystander Intervention in Emergencies. Diffusion of Responsibility, in: Journal of Personality and Social Psychology 8 (1968), H. 4, S. 377–383; Bibb Latané/Steve Nida, Ten Years of Research on Group Size and Helping, in: Psychological Bulletin 89 (1981), H. 2, S. 308–324; Russel D. Clark/Larry E. Word, Why Don’t Bystanders Help? Because of Ambiguity?, in: Journal of Personality and Social Psychology 24 (1972), H. 3, S. 392–400. 12 Zum Beispiel Stanley Milgram, Obedience to Authority. An Experimental View, New York 1974; Herbert C. Kelman/Lee V. Hamilton, Crimes of Obedience. Toward a Social

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der Fall Genovese führte mit seiner alltagsnahen Verortung zu einer Fülle von neuen Erkenntnissen. Es waren insbesondere die sozialpsychologischen Forschungen von John Darley and Bibb Latané,13 die in der Folge des Mordes an Kitty Genovese durchgeführt wurden, die Licht in das Dunkel dieses Verhaltens brachten. Mittels einer Reihe von Experimenten wollten sie nachvollziehen, in welchen Notsituationen Menschen anderen zur Hilfe eilen. Um den Effekt des Nicht-Handelns von Augenzeugen besser zu verstehen, entwickelten sie ein Entscheidungs­ modell für das Hilfeverhalten, welches mit den Charakteristika einer Notsituation beginnt, diesen dann bestimmte kognitive Prozesse zuordnet und schließlich bei den erklärenden Prozessen für das pro- oder anti-soziale Handeln endet. Gemäß Darley/Latané lassen sich zunächst fünf Charakteristika von Notsituationen beschreiben: »Perhaps the most distinctive characteristic of an emergency is that it involves threat of harm or actual harm. […] The second important feature of an emergency is that it is an unusual and rare event. […] In addition to being rare, emergencies differ widely one from another, both in cause and in the specific kind of intervention required to cope with them. […] The fourth basic characteristic of emergencies is that they are unforeseen. […] A final characteristic of an emergency is that it requires immediate, urgent action.«14

Den so charakterisierten Notsituationen ordnen die Autoren nun ein Entscheidungsmodell für das Hilfeverhalten zu, das insgesamt fünf Stufen umfasst:15 –– »The bystander has to notice that something is happening.« Das Ereignis muss zunächst einmal bemerkt werden. Menschen widmen ihrer Umgebung in der Regel nur eine selektive Aufmerksamkeit, so dass die Gefahr besteht, dass ein Gewaltereignis überhaupt nicht bemerkt wird. Verantwortlich dafür sind beispielsweise eine lärmende Umgebung oder andere Ablenkungen sowie die Konzentration auf das eigene Handeln. –– »Once the person is aware of the event he must interpret it as an emergency.« Hier geht es zuvörderst um die individuelle Einstufung eines Ereignisses als Notlage, welche dann ein Eingreifen erfordert. Da aber viele Ereignisse ambiguitären Charakters sind, kann es zu Fehleinschätzungen eines Ereignisses

Psychology of Authority and Responsibility, New Haven 1989; Samuel Oliner/Pearl Oliner, The Altruistic Personality. Rescuers of Jews in Nazi Europe, New York 1988; Raul Hilberg, The Destruction of the European Jews, New York 1993; David Gushee, Many Paths to Righteousness. An Assessment of Research on Why Righteous Gentiles Helped Jews, in: Holocaust and Genocide Studies 7 (1993), H. 3, S. 372–401. 13 Bibb Latané/John H. Darley, Help in Crisis. Bystander Response in Emergency, Morristown 1976. 14 John M. Darley/Bibb Latané, The Unresponsive Bystander. Why Doesn’t he Help, Englewood Cliffs 1970, S. 29 ff. 15 Ebd., S. 31–36.

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oder des Risikos eines Eingreifens kommen. Die wichtigsten Einflüsse in Bezug auf die Bewertung einer Situation können hier in der Unklarheit des Gefahrenpotenzials, in der Untätigkeit weiterer Zeugen (»pluralistische Ignoranz«) und im Ignorieren der Anzeichen für das Vorliegen einer strafbaren Handlung gesehen werden.16 –– »If the bystander concludes that something is indeed wrong, he must next decide that it is his personal responsibility to act.« Hier geht es um die konkrete Entscheidung, ob ein Zeuge oder Zuschauer sich selbst für die Abhilfe verantwortlich fühlt oder ggf. andere bereits entsprechende Maßnahmen eingeleitet haben oder besser dazu geeignet sind. »Bystander« versagen in der Regel bei der Übernahme persönlicher Verantwortung. Darley/Latané nennen als wichtigsten beeinflussenden Grund für diese Entscheidung die Unklarheit über die Verantwortlichkeit im Sinne einer »Verantwortungsdiffusion«: Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Einzelner hilft, nimmt mit der Zahl der weiteren anwesenden Personen ab.17 –– »If the person does decide that he should help, he must next consider what form of assistance he can give.« Ist ein Zuschauer/»Bystander« zur Hilfe bereit, muss er als nächstes entscheiden, was der richtige Weg zur Hilfe ist. Soll er direkt intervenieren oder indirekte Formen der Hilfe wählen? Unterlassung von Hilfe erfolgt in der Regel aufgrund mangelnder Fähigkeiten oder mangelnden Wissens, wie eingegriffen werden sollte oder könnte (»Aktionsignoranz«). –– »Finally, of course, he must decide how to implement his action.« Hier geht es schließlich um die Implementierung der konkreten Hilfe seitens der Zuschauer. Der sozial verantwortliche Akt der Hilfe steht also am Ende einer langen Kette von Entscheidungen, die ein »Bystander« jeweils adäquat für sich beantworten können muss, damit er am Ende wirklich einschreitet. Zuschauer verweigern diesen letzten Akt in der Regel, weil sie für den Fall, dass sie vor anderen Zuschauern etwas falsch machen, Angst vor möglichen Konsequenzen haben (»Audience-Inhibition«), da sie nicht einschätzen können, ob ihr Einsatz die Situation verschlimmert, sie sich gar selbst gefährden oder weil soziale Normen dem Einsatz widersprechen. Damit sind vier zentrale Mechanismen – pluralistische Ignoranz, Verantwortungsdiffusion, Aktionsignoranz, Audience-Inhibition  – genannt, welche die Aktivierung pro-sozialen Verhaltens der »Bystander« verhindern und konstitutiv dafür sind, warum einzelne Menschen den Opfern einer Gewalttat nicht zur Hilfe kommen.

16 Vgl. ebd., S. 37–42. 17 Vgl. ebd., S. 87–91.

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1.2. Aktive personelle Dritte (Typ 2)

Der Helfer ist dagegen das Idealbild eines Dritten.18 Er interveniert in einem gewaltsam ausgetragenen Konflikt zugunsten des Opfers, indem er Hilfe ruft oder organisiert, dem Opfer zur Seite springt und den Angreifer überwältigt oder in die Flucht schlägt. Dies ist ein mutiges Eingreifen, welches je nach persönlicher Disposition und Situation ein voraussetzungsreiches und beizeiten auch nicht ungefährliches Verhalten darstellt. In der Regel wird ein solches Verhalten als Zivilcourage bezeichnet.19 Die Frage, warum wer wem in welchen Situationen hilft, lässt sich nach bisherigem Wissen nicht allein mit persönlichen Charaktereigenschaften wie Empathie, Altruismus, Hilfsbereitschaft, Humanität und Uneigennützigkeit erklären, sondern es spielen darüber hinaus v. a. Einschätzungen der Situation und der damit verbundenen Gefährdungslage, Ortskenntnisse oder das Vorhandensein anderer hilfsbereiter Dritter eine wichtige Rolle.20 Schaut man sich einmal die sozialwissenschaftliche Literatur zum Helfer an, dann stößt man neben einigen grundlegenden Erklärungsmustern auf eine erstaunliche Vielfalt von  – teils widersprüchlichen  – Differenzierungen, deren Validität und Generalisierbarkeit nicht immer gegeben zu sein scheinen. Hinzu kommt, dass vielfach auf besondere Situationen, wie beispielsweise die Rolle der »heroischen Helfer« der jüdischen Bevölkerung im Nationalsozialismus, Bezug genommen oder mit experimentellen Designs gearbeitet wird, die keinen natürlichen Ereignissen entsprechen. Im erstgenannten Fall ist eine Übertragung auf »einfache« Gewaltereignisse aber insofern schwierig, als im Falle des Holocausts 18 Hans-Werner Bierhoff, Prosoziales Verhalten, in: Wolfgang Stroebe u. a. (Hg.), Sozialpsychologie, Berlin 2002, S. 319–351; David Clarke, Pro-social and Anti-social Behavior, New York 2003; John F. Dovidio u. a., The Social Psychology of Prosocial Behavior, Mahwah 2006. 19 Hans-Werner Bierhoff, Handlungsmodelle für die Analyse von Zivilcourage, in: Gerd Meyer u. a. (Hg.), Zivilcourage lernen. Analysen – Modelle – Arbeitshilfen, Tübingen 2004, S. 60–68. 20 Albert Bandura, Self-Efficacy. The Exercise of Control, New York 1997; Victoria L. Banyard, Measurement and Correlates of Prosocial Bystander Behavior. The Case of Interpersonal Violence, in: Violence and Victims 23 (2008), H. 1, S. 83–97; Sidney Bennett u. a., To Act or Not to Act, That is the Question? Barriers and Facilitators of Bystander Intervention, in: Journal of Interpersonal Violence 29 (2014), H. 3, S. 476–496; Leonard B ­ erkowitz, Social Norms, Feelings, and other Factors affecting Helping and Altruism, in: Ders. (Hg.), Advances in Experimental Social Psychology, New York 1972, S. 63–106; Leonard B ­ ickman, Bystander Intervention in a Crime, in: Emilio C. Viano (Hg.), Victims and Society, Washington D. C. 1976, S. 144–157; Stephen M. Garcia u. a., Crowded Minds. The Implicit Bystander Effect, in: Journal of Personality and Social Psychology 83 (2002), H. 4, S. 843–853; Ders. u. a., Dual Effects of Implicit Bystanders. Inhibiting vs. Facilitating Helping Behavior, in: Journal of Consumer Psychology 19 (2009), H. 2, S. 215–224; Ted ­L . Huston/Chuck Korte, The Responsive Bystander. Why he Helps, in: Thomas Lickona (Hg.), Moral Development and Behavior. Theory, Research, and Social Issues, New York 1976, S. 269–283; Lori M. Karakashian u. a., Fear of Negative Evaluation Affects Helping Behavior. The Bystander Effect Revisited, in: North American Journal of Psychology 8 (2006), H. 1, S. 13–32.

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im Grunde ein kollektives Gewaltverständnis (inklusive Konsequenzen für den Helfer-Status) zugrunde gelegt werden müsste und nicht ein individualistisches.21 Eine unmittelbare Übertragbarkeit von Prinzipien des Helfens scheint also nicht oder nur begrenzt möglich zu sein. Im letztgenannten Fall werden dagegen Probanden einer künstlich erzeugten Notsituation ausgesetzt, um deren Verhalten zu messen. Die gewonnenen Schlussfolgerungen beruhen daher auf Simulationen und Laborbedingungen, die in der Regel nicht den essentiellen Bedingungen einer Gewaltsituation entsprechen. Damit wurde häufig nicht die direkte Intervention in ein Gewaltgeschehen untersucht, sondern Einstellungen zu einer vermeintlichen Notsituation in den Mittelpunkt gerückt. Zudem handelte es sich bei den simulierten Notsituationen nicht um wirkliche Gefahrensituationen, was ebenfalls die Ergebnisse verzerren dürfte. Die unter experimentellen Bedingungen gewonnenen unterschiedlichen Einstellungen und Persönlichkeitszüge standen nur in schwacher Korrelation mit der Neigung, in einer Notsituation wirklich zu helfen.22 Dagegen haben Studien, die Helfer in realen, gefährlichen Situationen untersucht haben, v. a. drei Gründe für deren Bereitschaft, bei gewaltsamen Ereignissen zu intervenieren, gefunden: a) »exposure to crimes and emergencies«, b) »competencies and skills they possess relevant to intervention« und c) »inclination to intervene«.23 Die positive Intervention scheint also stärker von Opportunitätsstrukturen abzuhängen als von den persönlichen und charakterlichen Qualitäten einzelner Menschen. Auch Darley/Batson24 sind in einer Untersuchung der situativen und dispositionalen Erklärungsvariablen für helfendes Verhalten zu dem Schluss gekommen, dass »personality variables are not useful in predicting whether a person helped or not. […] [C]onsiderable variations were possible in the kinds of help given […]. The clear light of hindsight suggests that the dimension helping would have been the appropriate place to look for personality differences all along; whether a person helps or not is an instant decision likely to be situationally controlled. How a person helps involves a more complex and considered number of decisions, including the time and scope to permit personality characteristics to shape them.«25 Meta-Analysen über »BystanderEffekte«26 haben sogar gezeigt, dass in gefährlichen Situationen eher geholfen 21 Imbusch, Moderne und Gewalt, S. 31–35. 22 Ted L. Huston u. a., Bystander Intervention into Crime. A Study Based on Naturally Oc­ curring Episodes, in: Social Psychology Quarterly 14 (1981), H. 1, S. 14–23, hier S. 14 f.; Alan Berkowitz, Response Ability. A Complete Guide to Bystander Intervention, Chicago 2009. 23 Huston, Bystander Intervention, S. 15. 24 John M. Darley/C. Daniel Batson, From Jerusalem to Jericho. A Study of Situational and Dispositional Variables in Helping Behavior, in: Journal of Personality and Social Psychology 27 (1973), H. 1, S. 100–108. 25 Ebd., S. 108. 26 Peter Fischer u. a., The Bystander-Effect. A Meta-Analytic Review on Bystander Intervention in Dangerous and Non-Dangerous Emergencies, in: Psychological Bulletin 137 (2011), H. 4, S. 517–537, hier S. 533.

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wird als in weniger gefährlichen. Dafür scheinen drei Dinge ausschlaggebend zu sein: erstens werden gefährliche Gewaltsituationen wirklich als akute Notlagen eingeschätzt; zweitens reduzieren weitere Anwesende die Furcht vor einer Einmischung, da sie die Möglichkeit von sozialer, physischer oder moralischer Unterstützung signalisieren; drittens lassen sich gefährliche Notsituationen effektiver durch die Koordination und Kooperation einer größeren Gruppe lösen. Neben diesen Erkenntnissen ist verschiedentlich versucht worden, helfendes Verhalten stärker mit sozialstrukturellen oder sozialräumlichen Variablen in Verbindung zu bringen. So galt es beispielsweise lange Zeit als ausgemacht, dass es bezüglich der Hilfsbereitschaft einen starken Stadt-Land-Gegensatz gibt und auf dem Lande – gegenüber der Anonymität der Großstadt mit ihren Menschenmassen  – eher geholfen wird. Neuere Untersuchungen und die Auswertungen von Meta-Analysen haben allerdings gezeigt, dass Menschen, die auf dem Lande leben, nicht per se hilfsbereiter sind als Städter. Im Gegensatz zu früheren Befunden der Chicago School zu urbanen Lebensstilen27 sind es vielmehr der konkrete soziale Kontext und die räumliche Umgebung, die einen Einfluss auf helfendes Verhalten haben. Auch hier wird davon ausgegangen, dass die Persönlichkeitsstrukturen gegenüber diesen Kontextvariablen nur einen geringen Einfluss besitzen.28 Die Frage, ob es Abstufungen hinsichtlich der Hilfsbereitschaft in gewalttätigen Notsituationen nach der sozialen Wertschätzung eines Opfers gibt, ist ebenfalls Gegenstand der Forschung gewesen. Dazu wurden etwa sozialstrukturelle Merkmale wie sozialer Status, Klassen-, Schicht- oder Milieuzugehörigkeit, Geschlecht, Bildungsstand und Einkommen erhoben und – ohne größere Signifikanz – mit der Bereitschaft zur Intervention in Gewaltsituationen zusammengebracht.29 Allerdings gilt es hier wieder auf die methodischen Beschränkungen einzelner Untersuchungen hinzuweisen, die bisher z. B. Aspekte wie Vorurteile, gruppenbezogene menschenfeindliche Einstellungen oder Faktoren wie soziale Nähe oder soziale Distanz unberücksichtigt gelassen haben. 27 Louis Wirth, Urbanism as a Way of Life, in: American Journal of Sociology 44 (1938), S. 1–24. 28 Nancy Mehrkens Steblay, Helping Behavior in Rural and Urban Environments. A MetaAnalysis, in: Psychological Bulletin 102 (1987), H. 3, S. 346–356; James M. Hudson/Amy S.  Bruckman, The Bystander Effect. A Lens for Understanding Patterns of Participation, in: Journal of the Learning Sciences 13 (2004), H. 2, S. 165–195; Bennett, To Act or Not to Act; Sarah C. Nicksa, Bystander’s Willingness to Report Theft, Physical Assault, and Sexual Assault. The Impact of Gender, Anonymity, and Relationship with the Offender, in: Journal of Interpersonal Violence 29 (2014), H. 2, S. 217–236; Sheldon Ungar, The Effects of Effort and Stigma on Helping, in: Journal of Social Psychology 107 (1979), S. 23–28; Mark Levine, The Responsive Bystander, S. 1429–1439; Marco van Bommel u. a., Be Aware of Care. Public Self-Awareness leads to a Reversal of the Bystander Effect, in: Journal of Experimental Social Psychology 48 (2012), H. 4, S. 926–930, DOI: 10.1016/j. jesp.2012.02.011. 29 Mary R. Laner u. a., Bystander Attitudes toward Victims of Violence. Who’s Worth Helping?, in: Deviant Behavior 22 (2001), S. 23–42.

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Weit weniger gut untersucht ist dagegen die Rolle sogenannter »struktureller Dritter«. Strukturell wird deren Position hier genannt, weil sie nicht direkt am Geschehen teilnehmen, aber doch auf die eine oder andere Weise mit ihm verbunden sind. Das ist unmittelbar einleuchtend bei den aktiven strukturellen Dritten in Form der Öffentlichkeit bzw. der öffentlichen Meinung oder im Hinblick auf unterschiedliche Referenzgruppen. Weniger einleuchtend scheint dies im Fall der passiven strukturellen Dritten zu sein, denen man zunächst einmal den Akteurs-Charakter absprechen könnte: gemeint sind hier Normen, Gesetze und das Recht. Im Folgenden soll jedoch gezeigt werden, dass sowohl die erstgenannte Gruppe wie auch die passiven strukturellen Dritten erheblichen Einfluss auf ein Gewaltgeschehen auszuüben vermögen, indem sie auf die Rahmenbedingungen, innerhalb derer Gewalt stattfindet, abzielen. Der Akteursbezug  – sofern er nicht wie bei den positiven oder negativen Referenzgruppen offensichtlich ist  – stellt sich hier vermittelt dar, nämlich zum einen darüber, was »die Öffentlichkeit« über Gewalt denkt bzw. wie »in der Öffentlichkeit« über Gewalt diskutiert wird (z. B. Gewaltverständnisse, Diskurse) und wie die »veröffentlichte Meinung« (z. B. in den Medien) über Gewaltereignisse berichtet. Denn hier können hinter dem unterschiedlichen Gebrauch des Wortes Öffentlichkeit institutionelle Akteure mit je spezifischen Interessen ausgemacht werden. Der Akteursbezug lässt sich zum anderen aber auch bei Normen, Gesetzen und dem Recht herstellen, indem diese als geronnene und verdichtete politische Regeln, Denk- und Handlungsanweisungen eines Gemeinwesens aufgefasst werden, die von der Gesellschaft insgesamt oder von deren politischer Repräsentanz – beispielsweise verschiedenen staatlichen Institutionen – getragen werden. Obwohl die Rolle und Funktion dieser Dritten deutlich von denen der Zuschauer und Helfer unterschieden werden kann, kommt ihnen eine beträchtliche Bedeutung zu. 1.3. Aktive strukturelle Dritte (Typ 3)

Um die Rolle aktiver struktureller Dritter zu verstehen, ist es anfangs ratsam darauf hinzuweisen, dass die Öffentlichkeit in pluralistischen Gesellschaften in der Regel keine einheitliche Öffentlichkeit ist, in der es klare und eindeutige, dazu noch homogene Diskurse über Gewalt gibt. Trotz einer gewissen Diffusität der öffentlichen Meinung lässt sich gleichwohl eine Strukturierung dieser Öffentlichkeit ausmachen, lassen sich Akteure und Interessen in ihr identifizieren, die eine gewisse Dominanz besitzen und für so etwas wie ›hegemoniale Diskurse‹ sorgen. In der Öffentlichkeit wird nicht nur verhandelt, was zu einem bestimmten Zeitpunkt als Gewalt gilt, welche Gewaltphänomene wie bewertet werden und welche Delikte unter welchen Umständen als strafwürdig angesehen werden, sondern in der Öffentlichkeit wird auch in einer je bestimmten Art und Weise über Gewalt ›gesprochen‹. Zwar kann dies je nach Medium und innerhalb einzelner Medien (z. B. Presse, Fernsehen, Rundfunk, Internet)­

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changieren, gleichwohl kann man einige zentrale Aspekte nennen, die in pluralistisch-demokratischen Gesellschaften die Eckpunkte des öffentlichen Diskurses über Gewalt abstecken: das staatliche Gewaltmonopol und das daraus resultierende Gewaltverbot für einzelne Mitglieder der Gesellschaft; das Paradigma der zivilisatorischen Moderne und seine Implikationen; eine humanistisch geprägte Gewaltaversion, die für relativ klare Sympathien und Antipathien bei Gewaltereignissen sorgt; eine moralische Haltung zugunsten der Opfer von Gewalt; das grundlegende Einverständnis, dass Täter nicht straffrei bleiben dürfen und nach Recht und Gesetz sanktioniert werden müssen. Die Öffentlichkeit bzw. die öffentliche Meinung rahmt damit ein Gewaltgeschehen, in dem sie in einer bestimmten Art und Weise über Dinge ›spricht‹ oder berichtet (z. B. Art der Gewalt, Ursachen und Hintergründe der Gewalt, Gewaltprozesse). Dieses Sprechen oder Berichten über Gewalt hat Einfluss auf die Perzeption eines Gewaltgeschehens, legt Deutungen über die Berechtigung des Gewalthandelns nahe und erzeugt oder kondensiert Stimmungen in der Bevölkerung. Den Medien als Transporteuren von politischen Prozessen kommt dabei eine wichtige Vermittlerrolle zu, die sehr unterschiedlich ausgefüllt werden kann. Im Idealfall befördern sie eine Art der Delegitimation von Gewalt, appellieren an die Hilfsbereitschaft und Zivilcourage der Bevölkerung und erklären Gewalt, anstatt sie zu pathologisieren oder zu dämonisieren.30 Im negativen Fall leisten sie der Gewaltanwendung aber auch Vorschub, indem sie stigmatisierte Gruppen produzieren, Exklusion und Segregation postulieren, Vorurteile verstärken und dann durch Dramatisierung bestehenden Verunsicherungen und Ängsten von Bevölkerungsgruppen ein ›natürliches‹ Ventil anbieten. Teils delektieren sie sich aber auch an Gewalt und breiten die Details der Grausamkeit genüsslich aus, transportieren Bilder von teuflischen Tätergruppen und tragen so zur Punitivität einer Gesellschaft bei. Der je spezifischen öffentlichen Rahmung eines Gewaltgeschehens kommt nun eine indirekte Legitimations- bzw. Delegitimationsfunktion zu, die sowohl auf die Täter wie auf die Opfer wirkt. Im erstgenannten Fall führt sie Tätern ihr abweichendes Verhalten und ihre Delinquenz vor Augen, konfrontiert sie mit der Unhaltbarkeit ihrer Handlungen, lässt sie zu Neutralisierungstechniken greifen, um ihr Verhalten zu rechtfertigen. Im letztgenannten Fall zeigt sie Tätern unter Umständen Handlungs- und Ermessensspielräume auf, eröffnet ihnen Opportunitätsstrukturen, lässt sie sich in Übereinstimmung mit einer fiktiven »moral majority« fühlen oder gar als ausführende Instanz für eine Masse sehen, die genauso denkt wie sie, aber selbst nicht so handeln würde. Täter verweisen dann gerne auf einen stillschweigenden Konsens der Mehrheitsgesellschaft. Die Opfer von Gewalt wähnen sich dabei im ersten Fall im Recht und fordern Strafe und Sanktion ein, erwarten Beistand oder eine angemessene Berücksichtigung ihrer Anliegen. Die Anerkennung als Opfer spricht sie zugleich von 30 Peter Imbusch, Enthumanisierung als Entlastung. Gesellschaftliche Diskurse über Täter und ihre Verbrechen, in: Journal für Konflikt- und Gewaltforschung 1 (2005), S. 99–122.

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Schuld frei. Unterschiede gibt es allerdings hinsichtlich der Verarbeitung einer Gewalttat: Hier eröffnet ein reflektiertes erklärendes Verstehen eher Möglichkeiten des individuellen Zurechtkommens mit und der Verarbeitung von Gewalt als unreflektierte Pathologisierung und Dämonisierung. Stehen Teile der Öffentlichkeit gar offen oder klammheimlich auf der Seite der Täter – wie im zweiten Fall –, dann kann das Opfer weder Mitgefühl noch Verständnis oder Hilfe erwarten, es wird sozusagen doppelt und dreifach degradiert, weil es nur das bekommt, was es angeblich verdient. Hier schließt sich dann die Problematik einer ›Normalisierung‹ von Gewalt an, die Öffentlichkeit selbst wird dabei zu einer Instanz ›kultureller Gewalt‹. Die Öffentlichkeit und öffentliche Diskurse liefern also nicht nur einen Rahmen für die Bewertung von Gewalt, in ihnen wird nicht nur verhandelt, was rechtlich und moralisch erlaubt ist und was nicht, sondern ihnen kommt auch eine komplexe Legitimations- bzw. Delegitimationsfunktion zu. Diesbezüglich ist sie nicht so weit entfernt von einer zweiten Bezugsgruppe, die indirekten Einfluss auf ein Gewaltgeschehen ausübt: die sogenannten peer groups. Ihre Wirkung ergibt sich dadurch, dass sie als Referenzgruppen für das Verhalten von Gewalttätern fungieren. Einzeltäter haben falsche Vorbilder oder Idole, Täter in einem Gruppenkontext sind der Wirkung von Gruppenprozessen ausgesetzt, denen sie je nach psychischer und sozialer Konstitution nicht entfliehen können, da sie Belohnungen, Anerkennung, Integration bedeuten können. Die Orientierung an subkulturellen Normen und Werten sowie die Art der ›negativen Integration‹ ermöglichen und befördern unter Umständen nicht nur deviantes Verhalten, sie wirken auch verstärkend auf die Bereitschaft, sich in Gruppenprozessen an Gewalt zu beteiligen. Im Gegensatz zur Öffentlichkeit entfalten peer groups allerdings ihre Wirkung nur in Bezug auf die Täter, nicht im Hinblick auf die Opfer. Letztere befinden sich in einer passiven Rolle, die ein Geschehen erleiden oder erdulden, während erstere Ermunterung, Anreizung und/oder Bestätigung durch Dritte erfahren, die für ihre aktive Rolle konstitutiv ist. 1.4. Passive strukturelle Dritte (Typ 4)

Recht, Gesetz und gesellschaftliche Normen bilden schließlich den vierten Typus des »Dritten« und zugleich den allgemeinsten Rahmen für ein Gewaltgeschehen, welcher nicht nur auf das Täter-Opfer-Verhältnis einwirkt, sondern auch das komplexe Beziehungsgeflecht einer triadischen Gewaltkonstellation rahmt, werden doch auch die verschiedenen zuvor genannten Typen von Dritten von ihm beeinflusst oder sind ihm unterworfen. Auf die Bedeutung von Recht und Gesetz als allgemeine Hintergrundvariablen für Gewalt muss deshalb nicht eigens hingewiesen werden. Das Recht regelt, was überhaupt unter welchen Umständen als Gewalt gilt, es trifft Unterscheidungen hinsichtlich der Rechtmäßigkeit eines bestimmten Handelns, es strukturiert (bestenfalls) das Verhalten von Menschen und es hat im Staat eine Instanz, die über eine hegemoniale Deutungs- und

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Interpretationsmacht in Bezug auf Gewalt verfügt. Denn was jeweils als Gewalt wahrgenommen wird, was als Gewalt gilt und welche Straftatbestände sich aus einer als Gewalt gerahmten Handlung ergeben, ist nicht nur historisch variabel, sondern auch von Gesellschaft zu Gesellschaft unterschiedlich. Jan Philipp Reemtsma hat gezeigt, dass alle Gesellschaften für sich einen Umgang mit Gewalt finden müssen: »Eine Zivilisationsform charakterisiert sich durch die Art und Weise, in der sie Zonen der Gewalt definiert: Bereiche, wo Gewalt entweder verboten, erlaubt oder geboten ist, oder diese Möglichkeiten regelhaft kombiniert werden.«31 Gewalt findet deshalb immer in bestimmten, historisch veränderbaren, für selbstverständlich gehaltenen Zonen bzw. anerkannten Legitimationsräumen statt. Verschieben sich diese Zonen oder werden sie instabil, hat das gravierende Konsequenzen für das Individuum und die Gesellschaft. Unter rechtsstaatlich-demokratischen Bedingungen normieren und strukturieren Recht und Gesetz menschliches Verhalten, indem sie Gebote aufstellen, Verbote verkünden, Erlaubnisse aussprechen – und im Fall von Verstößen auch Sanktionen verhängen. Das hat Konsequenzen für Täter, aber auch für Opfer und die bisher genannten Dritten. Das Recht kennt – in Analogie zum ›hegemonialen Diskurs‹ in der Öffentlichkeit – eine ›herrschende Meinung‹, welche das Terrain absteckt, in dem sich Legitimationskämpfe32 entfalten können. Denn Recht ist in besonderem Maße auf Legitimität angewiesen, die Legitimität muss immer wieder erzeugt werden, damit das Recht seine Gültigkeit behält: Nur durch die Befolgung des Rechts (etwa eines Gewaltverbots) durch die große Mehrheit der Bevölkerung kann abweichendes Verhalten festgestellt und entsprechend sanktioniert werden – wobei die Normverletzung wiederum die Norm bestätigt. Unter demokratischen Verhältnissen mit staatlichem Gewaltmonopol steht das Recht des Staates dem Verbot von Gewalt seitens der Gesellschaft gegenüber. Das steckt zunächst die Handlungsmöglichkeiten von Tätern ab. In der Regel ist ihnen ihre Devianz bewusst, sie wissen um die Regelverletzung und die damit verbundene Sanktionsdrohung. Daneben gibt es aber auch Fälle von Gewalt, in denen gewaltsames Verhalten nicht staatlich sanktioniert wird (z. B. weil es der Privatsphäre zugesprochen wird) oder bei denen erst langsam das Bewusstsein entsteht, dass bestimmte Verhaltensweisen Formen von Gewalt darstellen; schließlich existieren Grauzonen, in denen nicht klar ist, ob Gewalt überhaupt stattfindet oder nicht.33 Auch für das Opfer hält das Recht bestimmte Gewaltoptionen offen: So ist beispielsweise die gewaltsame Abwehr eines Angriffs im Sinne der Selbstverteidigung in einem bestimmten Rahmen erlaubt. Auch für aktive und passive Dritte ergeben sich aus einer Gewaltsituation bestimmte normative Gebote (z. B. Nothilfe, Zivilcourage) und rechtliche Konse31 Jan Philipp Reemtsma, Vertrauen und Gewalt. Versuch über eine besondere Konstellation der Moderne, Hamburg 2008, S. 191. 32 Peter Imbusch, Wie legitim kann Gewalt sein? Bemerkungen zu einer Ambivalenz des Politischen, Ms 2015. 33 Imbusch, Gewaltbegriff, S. 26–57.

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quenzen (z. B. Reglementierungen bezüglich des eigenen Gewalteinsatzes, unterlassene Hilfeleistung). Aktive strukturelle Dritte (in Form der Öffentlichkeit) unterliegen ebenfalls den rechtlichen Normen, Geboten und Verboten bezüglich des ›Sprechens‹ über Gewalt; und die Mitglieder von peer groups können wenigstens mittelbar sanktioniert und belangt werden. Das Recht weist hier jeweils eine Schutzfunktion für die Opfer auf. Ganz anders unter nicht-demokratischen Verhältnissen. Der rechtliche Rahmen wird hier für unterschiedliche Formen von Zwangsgewalt fungibel gemacht. Das Recht hat keine Schutzfunktion mehr für die Bürger, sondern richtet sich zum Teil  fein austariert genau gegen die Bürger, die als Feinde oder Gegner wahrgenommen werden. Zwar existiert auch im Falle autoritärer Herrschaft oder unter Unrechtsregimen in der Regel ein individuelles Gewaltverbot für die Gesellschaftsmitglieder, das staatliche Gewaltmonopol wird aber in unterschiedlichem Maße durch nicht-legitimierte, aber nach Legitimation strebenden Gewaltgruppen herausgefordert.34 Im Falle kollektiver Gewalt werden Gesetze erlassen, die das in ihnen enthaltene Unrecht nur mäßig kaschieren können, oder mittels des Aufbaus parastaatlicher Strukturen Gewalträume erzeugt, die offiziell verleugnet werden. Unrechtsregime und ihre Un­rechts­ gesetze ermöglichen Handlungsspielräume und eröffnen Opportunitätsstrukturen für Gewaltakteure, erlauben halboffiziell Gewalt, ohne dass sie geahndet oder am Ende sanktioniert würde. Die Öffentlichkeit ist dabei stark eingeschränkt oder wird gleichgeschaltet, so dass sie ihre zentralen Funktionen verliert und nur noch im Sinne der Legitimationsbeschaffung fungiert. Die Opfer sind wehrlos oder werden durch Entrechtung wehrlos gemacht – was zugleich auf die Existenz von Formen ›struktureller Gewalt‹ verweist. Recht, Gesetz und gesellschaftliche Normen besitzen unter diesen Umständen eine Ermöglichungsfunktion für unterschiedliche Formen von Gewalt, welche v. a. die Täter schützen soll.

2. Fallbeispiele und Ebenen – Differenzierungen des Dritten Versucht man nun, diese eher theoretischen Einsichten und Erkenntnisse an konkreten Fallbeispielen auszubuchstabieren, dann stößt man ob der Komplexität realer Situationen von Gewalt schnell an bestimmte Erklärungsgrenzen. So kann z. B. die Rolle von Dritten höchst unterschiedlich ausfallen; die Funktionen, die diese Dritten für das Gewaltgeschehen besitzen, können variieren. Zudem kommt manche Gewaltform gänzlich ohne (wenigstens bestimmte) Dritte aus, andere sind hingegen ohne Dritte überhaupt nicht vorstellbar. Auch die Wirkungsmechanismen und Effekte von Dritten dürften jeweils unterschiedlich sein. Mark Cooney hat deshalb zu Recht geschrieben: »Third parties 34 Klaus Schlichte, In the Shadow of Violence. The Politics of Armed Groups, Frankfurt a. M. 2009.

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shape conflict in two senses: they affect the behavior of those involved, directly and indirectly, and they alter the structure of the conflict in social space.«35 Insgesamt ist man gut beraten, wenigstens verschiedene Ebenen der Gewalt zu differenzieren, um die jeweiligen Problematiken des Dritten nicht allzu sehr zu generalisieren und den Spezifika der jeweiligen Gewaltsituationen gerecht zu werden. Im Folgenden sollen deshalb die Funktionen der je unterschiedlichen »Dritten« in Bezug auf Gewaltphänomene auf der individuellen Ebene, der Gruppenebene und der staatlichen Ebene differenziert werden, um die jeweils besonderen triadischen Aspekte einer Gewaltsituation und die durch Dritte­ heraufbeschworene Komplexität von Gewaltdynamiken zu verdeutlichen. 2.1. Individuelle Gewalt und Dritte

Auf der Mikro-Ebene der individuellen Gewalt gibt es eine Fülle von Arten und Formen der Gewalt, an denen Rollen und Funktionen von Dritten verdeutlicht werden können. Hier geht es beispielsweise um Bedrohen und Schlagen,36 Bullying,37 gewaltsame Überfälle, sexuelle Gewalt38 und Mord. Die Gewalt findet dabei entweder in einem geschützten privaten, halböffentlichen oder öffentlichen Raum statt, so dass hier ganz unterschiedliche Beteiligungen von Dritten zu finden sind. Häusliche Gewalt kommt meistens ohne direkte Dritte aus, weil sie zwischen schlagenden Tätern (z. B. Männern) und geschlagenen Opfern (z. B. Frauen) in der Privatsphäre ausgemacht wird. Sind Dritte  – wie z. B. Kinder  – zugegen, sind diese häufig hilflos und müssen aufgrund ihrer körperlichen Unterlegenheit und wegen ihres ›niedrigeren Status‹ der Gewalt zusehen. Diese Konstellation ändert sich bereits, wenn Kinder die Opfer der Gewalt von Elternteilen werden. In diesem Fall weiß zumindest der andere Elternteil in der Regel von der Gewalt und kann sich als aktiver Dritter gewaltfördernd oder gewaltmindernd einschalten. Der Dritte als »Bystander« hat hier bereits eine eindeutig legitimierende oder delegitimierende Funktion: Schaut er einfach nur zu, signalisiert er dem Täter zumindest implizit Zustimmung zum Geschehen, mischt er sich ein und engagiert sich, signalisiert dies Widerspruch und Missbilligung gegenüber dem Täter. Öffentliche Dritte erfahren hingegen häufig erst von der Gewalt, wenn die Blessuren nach einiger Zeit noch sichtbar sind oder die Be35 Mark Cooney, Warriors and Peacemakers. How Third Parties Shape Violence, New York 1998, S. 20. 36 Michael J. Parks u. a., Third Party Involvement in Barroom Conflicts, in: Aggressive Behavior 39 (2013), H. 4, S. 257–268. 37 Samuel Yi Kim, A Social Cognitive Model of Bystander Behavior and the Mediating Role of Self-Efficacy on Bullying Victimization, Ph.D. Dissertation, Georgia State University, Atlanta 2013. 38 Cathryn A. Christy/Harrison Voigt, Bystander Responses to Public Episodes of Child Abuse, in: Journal of Applied Social Psychology 24 (1994), H. 9, S. 824–847.

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troffenen sich an öffentliche Institutionen wenden. Je nachdem, um wen es sich dabei handelt, wie der öffentliche Diskurs gegenüber dieser Form der Gewalt strukturiert ist und der rechtliche Rahmen sich gestaltet, kann etwas oder auch nichts geschehen. Im einen Fall wird die Spirale der Gewalt unterbrochen, im anderen kann sie sich weiter fortsetzen. Ein klassisches Anwendungsbeispiel ist  – wie bereits oben erwähnt  – auch der Fall Kitty Genovese gewesen, an dem v. a. der Dritte als typischer »Bystander« identifiziert wurde. Dieser Fall hat zudem Eingang in die Lehrbücher der Psychologie gefunden, obwohl er sich im Nachhinein nicht als so eindeutig erwies wie zunächst in den Medien geschildert.39 Gleichwohl steht er paradigmatisch für eine Gewalttat, die quasi halb-öffentlich stattfindet. Die meisten Dritten sind dabei Zuschauer geblieben, nur einige wenige haben die Polizei gerufen, niemand hat jedoch direkt interveniert und den Täter vertrieben. P ­ etruska Clarkson schrieb dazu: »Many people participate passively in violent or oppressive situations. By not challenging or intervening they give tacit permission to the abuse of power occurring in their environment.«40 Intervenieren die aktiven Dritten jedoch rechtzeitig, dann lässt sich die Gewalt in der Regel begrenzen (wenn auch nicht immer gänzlich verhindern), weil der Täter von seinem Opfer ablässt, sein Werk nicht vollenden kann und/oder durch die Störung die Flucht ergreift. Findet die Gewalt jedoch vollkommen öffentlich statt, sind Dritte quasi automatisch involviert. Der gemeine Überfall, der brutale Bankraub, der vermeintlich unbeobachtete Diebstahl sind Beispiele dafür, dass der »Bystander« selbst ein konstitutiver, von der Täterseite in Kauf genommener Bestandteil des Geschehens ist. Der »Bystander« ist dann zunächst aufgrund von situativen Faktoren, sodann aufgrund der Spezifika der Gewaltanwendung – je nach eigenem Abstand vom Tatgeschehen – meistens zur Untätigkeit verdammt. Nur aus sicherer Distanz heraus kann er wenigstens zum indirekten Helfer werden, indem er andere Dritte oder die Polizei hinzuruft, um das Gewaltgeschehen zu klären. Wolfgang Sofsky resümierte die funktionalen Unterschiede und ihre Konsequenzen mit Bezug auf das verschiedenartige Zuschauerverhalten wie folgt: »Die Zuschauer beeinflussen den Ablauf der Gewalt. Sie betrachten und begutachten den Täter, und manchmal ist es, als säßen die Blicke ihm im Nacken. Zu fürchten jedoch hat er nichts, denn sie sind keine Augenzeugen, die ihm feindlich gesinnt wären. […] Er lässt die Gewalt gewähren. Sein Schweigen ist wie eine stille Bestätigung. Zwischen Affirmation und Negation besteht nämlich eine grundlegende Asymmetrie. Ablehnung bedarf der deutlichen Kundgabe, des unüberhörbaren Ausdrucks, Zustimmung nicht. Deshalb gilt Schweigen als Einwilligung. Die stumme Mehrheit 39 Rachel Manning u. a., The Kitty Genovese Murder and the Social Psychology of Helping. The Parable of the 38 Witnesses, in: American Psychologist 62 (2007), H. 6, S. 555–562; Kevin Cook, Kitty Genovese. The Murder, the Bystanders, the Crime that Changed America, New York 2014. 40 Clarkson, Bystander Role, S. 87.

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sichert der Gewalt das Terrain. Solange die Zuschauer sprachlos herumstehen, kann der Gewalttäter ungehindert weitermachen. Er muss keine Eingriffe befürchten, und das Opfer kann von ihnen keinerlei Hilfe erwarten.«41

Wie steht es jedoch in diesen Fällen um die genannten strukturellen Dritten? Individuelle Gewaltakte werden im dominanten öffentlichen Diskurs einhellig missbilligt und verurteilt. Es wird – manchmal sachlich, manchmal voyeuristisch – über sie berichtet, aber in der Regel gibt es keinerlei Sympathiebekundungen für die Täter. Auch in rechtlicher Hinsicht stellt eine Gewalthandlung eine eindeutige Normverletzung dar, die Strafgesetze weisen sie – mit wenigen Ausnahmen bzw. Grauzonen  – als deviantes und delinquentes Handeln aus. Mit dem Wissen um diesen Tatbestand müssen Gewalttäter – um ihr eigenes gewalttätiges Handeln vor sich zu rechtfertigen – ihren Handlungen einen Sinn geben, sie rationalisieren. Dazu stehen ihnen eine Reihe von Neutralisierungsund Adiaphorisierungsstrategien42 zur Verfügung, mit denen sie ihr (von der gesellschaftlichen Norm) abweichendes Handeln erklären. Die Bedeutung dieser strukturellen Dritten ist für den Täter und sein Handeln jedoch nur von geringer Bedeutung, sei es, weil er Recht und Gesetz ohnehin missachtet, sei es, weil er glaubt, ohne Strafe davonzukommen. Für das Opfer ist das Recht hingegen eine Art Versicherung, dass das ihm zugefügte Leid nicht ohne Sanktionierung bleibt. Es verhindert zwar nicht die Gewalttat an sich, aber es sorgt zumindest nachträglich für eine Art ausgleichende Gerechtigkeit. Das Recht reguliert allerdings auch die Handlungsmöglichkeiten und Optionen der personellen Dritten: ihrem Handeln wie auch ihrem Nichthandeln sind bestimmte Grenzen gesetzt, wobei das Spektrum von unterlassener Hilfeleistung bis zum eigenen Gewalteinsatz zugunsten des Opfers reicht. 2.2. Gruppengewalt und Dritte

Auch auf der Meso-Ebene von gesellschaftlichen Gruppen findet sich eine Fülle von Beispielen für das ambivalente Verhalten von Dritten. Im Unterschied zur individuellen Gewalt ist Gruppengewalt sehr häufig ein (halb-)öffentliches Ereignis. Die Täter handeln als Mitglieder einer Gruppe und unterliegen deshalb den typischen Gruppenzwängen und Gruppendynamiken. Recht und Gesetz spielen durch die Orientierung an subkulturellen Normen kaum eine Rolle für die Täter, sehr wohl aber peer groups als negative Referenzgruppen, an denen das eigene Handeln sich orientiert und ausrichtet. Als typische Beispiele für diese Art von Gewalt lassen sich aus der jüngeren Vergangenheit etwa nennen 41 Wolfgang Sofsky, Traktat über die Gewalt, Frankfurt a. M. 1996, S. 115 f. 42 Gresham M. Sykes/David Matza, Techniques of Neutralization. A Theory of Delinquency, in: American Sociological Review 22 (1957), H. 6, S. 664–670; Imbusch, Wie legitim kann Gewalt sein?.

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die wiederholten brutalen Überfälle von Jugendlichen in der Berliner U-Bahn, der Mord an Dominik Brunner im Münchner S-Bahnhof Solln 2009, der tragische Fall von Tuğçe Albayrak in Offenbach im Dezember 2014, die mehr als 180 Todesopfer rechtsradikaler Gewalt seit 1990, bis hin zu den massenhaften und sich über mehrere Tage erstreckenden Ausschreitungen gegen Asylbewerber in Rostock-Lichtenhagen 1992 und die einen rechtsextremistischen Hintergrund besitzenden Brandanschläge in Mölln 1992 und Solingen 1993. Hinzu gezählt werden müssen hier aber auch die etwas anders gelagerten Fälle von archaisch anmutenden Ereignissen wie öffentliche Strafrituale (z. B. Auspeitschen, Steinigen, Lynchen), die in verschiedenen Ländern unter reger Beteiligung der Öffentlichkeit stattfinden. Die Handlungssituation für die Dritten ist in diesen Fällen zunächst dadurch eine andere, weil sie sich nun nicht einem Einzeltäter, sondern einer Gruppe von gewalttätigen Menschen gegenüber sehen, was zunächst die Kräfteverhältnisse und die Bewertung der eigenen Hilfsmöglichkeiten verändert. Auch kann die Situation bei einer Gemengelage durch die Vielzahl der beteiligten Akteure leichter falsch eingeschätzt werden. Für potentielle Helfer wird die Situation dadurch gefährlicher, sofern sie nicht selbst als kohärente Gruppe handeln, was in der Regel ad hoc nicht oder nur schwer möglich ist. Die organisierte Gruppe der Täter hat demgegenüber eindeutige Vorteile, weil sie sich kennt und gleichgerichtet handelt. Bei Situationen von Gruppengewalt kann die Gewalt zudem leicht wandern und sich vom eigentlichen Opfer abwenden und den intervenierenden, aber störenden Helfer selbst treffen (wie im Falle Brunner oder Tuğçe), die ihre Zivilcourage mit dem Leben bezahlen mussten. Aber auch die Rolle der einfachen Zuschauer verändert sich durch den kollektiven Charakter der Taten. Der Druck auf den Einzelnen wird durch die Überzahl an Tätern größer, die Bewertung der eigenen Handlungsmöglichkeiten folgt den oben genannten Mustern der Verantwortungsdiffusion, die Hilfe bleibt aus, man entfernt sich vom Tatort oder schaut eine Weile aus sicherer Distanz zu. Wolfgang Sofsky hat dementsprechend den Zuschauer als eine soziale Figur identifiziert, dessen Verhalten in solchen Gewaltsituationen im Grunde ein kollektiver Vorgang und direkt an den Anlass gebunden ist. So kann er unterschiedliche Typen von Zuschauern differenzieren, von denen je eigene Effekte ausgehen:43 Der gänzlich Unbeteiligte geht beispielsweise zügig am Ort des Geschehens vorbei, er wirft allenfalls einen Blick zur Seite, will aber das Geschehen eigentlich nicht zur Gänze erfassen. Seine innere Distanz und seine moralische Teilnahmslosigkeit verstehen sich nach Sofsky aber keineswegs von selbst. Sie benötigen Maßnahmen des Reizschutzes und der Wahrneh­ mungs­abwehr und stellen deshalb für ihn eine überaus »aktive Passivität« dar. Der interessierte, bisweilen auch neugierige Zuschauer wehrt dagegen den Anblick der Gewalt nicht ab, sondern sucht ihn gezielt. Von der Gewalt geht für ihn ein Reiz aus, sie bereitet einen gewissen Nervenkitzel, der aus dem Außerall43 Sofsky, Traktat, S. 103.

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täglichen des Geschehens resultiert. Nach Sofsky ist hier eine gedämpfte Angstlust im Spiel, die Aussicht auf ein »Spektakel der Barbarei« hält diesen Typus beim Gewaltgeschehen. Der interessierte Zuschauer will etwas erleben, aber in angemessener Dosierung, die Gegenwart des Schmerzes berührt ihn dagegen nur oberflächlich. In beiden Fällen fehlt Empathie, Verantwortungsübernahme fällt aus. Befremdlicher wirken hingegen jene Situationen, in denen ein Mob seinen aggressiven Gelüsten unter Beifall der Zuschauer freien Lauf lässt. Als 1992 die Proteste gegen die zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber in Rostock-­ Lichtenhagen eskalierten und rechtsradikale Randalierer das sogenannte Sonnenblumenhaus, in dem vietnamesische Asylbewerber untergebracht waren, stürmten und anzündeten, haben mehr als 3.000 Menschen zugeschaut und Applaus gespendet. Die Bewohner konnten sich rechtzeitig in Sicherheit bringen, obwohl die Polizei nicht bzw. erst viel zu spät eingriff. Für solche Situationen hat Sofsky einen dritten Typus von Zuschauer differenziert, den er den »begeisterten Zuschauer« nennt: Der begeisterte Zuschauer lässt ihm zufolge den inneren Zwiespalt hinter sich, er applaudiert einem Gewaltereignis, treibt an und wiegelt auf, wenn die Täter zögern. Es sind hier die Zuschauer, die die Täter an­feuern und grässlichere Taten verlangen, weil Faszination und Begeisterung ständig neue Nahrung brauchen.44 Davon zu unterscheiden wären nun noch jene Fälle, in denen es um das Spektakel des Leidens selbst geht.45 Gemeint sind hier öffentliche Strafrituale, die unter Beteiligung von Zuschauern stattfinden, die für das Geschehen selbst konstitutiv sind. Die vollzogenen Strafen sind Macht- oder Rachedemonstrationen, die Gehorsam und Folgebereitschaft erzwingen sollen, sie statuieren an den Abweichlern Exempel, die all jene, die genauso denken oder handeln, einschüchtern sollen. Sie stellen im Grunde Herrschaftsanmaßungen dar und demonstrieren der Öffentlichkeit, was mit denen geschieht, die sich nicht an die Regeln einer wie auch immer gearteten Mehrheitsgesellschaft halten. Die Öffentlichkeit als strukturelles Drittes spielt in den beiden zuletzt genannten Fällen eine wichtige Rolle. Ist sie im Fall des gemeinen Überfalls noch auf Seiten der Opfer, so ist die Zuordnung bei mobartigen, gewalttätigen Ausschreitungen gegen Fremde oder bei Schauritualen nicht so eindeutig. Die öffentliche Meinung kann selber durch eine bestimmte Art der Berichterstattung als antreibendes Element gesehen werden, die bestimmte Handlungsweisen nahelegen. Lokale Öffentlichkeiten können zudem anders strukturiert sein als die allgemeine Öffentlichkeit; je nachdem wie über Gewalt gesprochen wird, erfahren die Täter eine Legitimation ihres Handelns, sie gewinnen Verständnis für ihr Tun; sie sind Täter mit gutem Gewissen, weil sie ihr Handeln an den­ subkulturellen Normen der Gruppe oder archaisch-traditionellen Normen der 44 Vgl. ebd. 45 Pieter Spierenburg, The Spectacle of Suffering. Executions and the Evolution of Repression. From a Preindustrial Metropolis to the European Experience, Cambridge 1984.

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Gesellschaft ausrichten, aber nicht an humanitären Grundsätzen. Auch hier geben jene, die passiv an Gewaltsituationen partizipieren, ihre stillschweigende Zustimmung zu einem Machtmissbrauch in ihrer Umgebung. 2.3. Staatliche Gewalt und Dritte

Auf der Makro-Ebene sind die meisten Gewaltvorkommnisse quasi-öffentliche Ereignisse: Kriege, Genozide und staatliche Gewalt gegen Regimegegner können beispielsweise nicht im Verborgenen durchgeführt werden, es gibt eine Vielzahl von Beteiligten, die zumindest etwas wissen, sehen oder mit­bekommen. Dritte spielen hier in allen Formen eine wichtige Rolle, ohne sie und ihre je unterschiedlichen Funktionen könnten staatliche Gewaltverbrechen im Grunde nicht stattfinden. Das soll nicht heißen, dass staatliche Stellen nicht danach streben würden, bestimmte Formen der Gewalt nicht öffentlich werden zu lassen, zu verschleiern oder geheim zu halten. Am Beispiel der Vernichtung der europäischen Juden durch die Nationalsozialisten lässt sich dies mustergültig zeigen; aber auch andere Genozide würden hier reichhaltiges Anschauungsmaterial bieten.46 Im Folgenden soll am Holocaust gezeigt werden, welche Bedeutung die unterschiedlichen Typen von Dritten für die Durchführung des Genozids hatten. Raul Hilberg hat seine große Monographie über die verschiedenen, am Holocaust beteiligten Gruppen in Täter, Opfer und Zuschauer eingeteilt. Er schreibt dazu: »Drei Gruppen: Täter, Opfer und Zuschauer waren in das Geschehen verstrickt. […] Jeder der Täter spielte für die Formulierung und Durchführung der antijüdischen Maßnahmen eine spezifische Rolle. […] Zudem war kein Einzelner, keine Behörde allein für die Vernichtung der Juden verantwortlich. […] Gegenüber den Tätern waren die Opfer immerfort exponiert, blieben auf Schritt und Tritt identifizierbar und zählbar. […] Doch als Ganzes gesehen, blieben die Opfer eine amorphe Masse. Millionen von ihnen erlitten […] ein kollektives Schicksal. […] Doch die Katastrophe erfasste nicht alle gleichzeitig und auf die gleiche Weise. […] Die meisten Zeitgenossen der jüdischen Katastrophe waren weder Täter noch Opfer. […] [V]iele sahen oder hörten von dem Geschehen. Sofern sie in Adolf Hitlers Europa lebten, hätten sie sich mit wenigen Ausnahmen als Zuschauer bezeichnet. Sie hatten ja mit dieser Angelegenheit ›nichts zu tun‹: wollten weder einem Opfer etwas zuleide tun noch von den Tätern misshandelt werden.«47 46 Helen Fein, Accounting for Genocide. National Responses and Jewish Victimization during the Holocaust, New York 1979; Arne Johan Vetlesen, Evil and Human Agency. Understanding Collective Evildoing, Cambridge 2005; I. William Zartman u. a. (Hg.), The Slippery Slope to Genocide. Reducing Identity Conflicts and Preventing Mass Murder, Oxford 2012. 47 Raul Hilberg, Täter – Opfer – Zuschauer. Die Vernichtung der Juden 1933−1945, Frankfurt a. M. 1996, S. 9 ff.

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Allerdings sollte man die Akteure während des Holocausts nicht schematisch auf die von Hilberg vorgeschlagene Trias reduzieren, denn nicht nur in Deutschland gab es eine Vielfalt von gesellschaftlichen Handlungsweisen, auch weite Teile der europäischen Gesellschaften waren auf unterschiedliche Weise am sozialen Prozess der Ausgrenzung der Juden beteiligt. Der Holocaust war nur durch das komplexe Zusammenspiel unterschiedlicher gesellschaftlicher Prozesse und Interaktionen möglich und je nach Situation und Zeitpunkt konnten viele Personen Opfer, Täter oder »Bystander« sein.48 Die Rollen selbst konnten im Prozess der Vernichtung wechseln. Zuschauer wurden selbst zu Tätern, oft nutzten sie das Unglück der Juden und schlugen Profit daraus, aber es gab auch jene, die den Gejagten halfen.49 Wie auch in den anderen zuvor genannten Fällen hatten die personellen Dritten die Möglichkeit, Einfluss auf die Entwicklung der zunehmenden Destruktivität der Nazis zu nehmen. Die Helfer – als erster Typus des Dritten – halfen aus unterschiedlichsten Motiven (moralische und judeophile Gründe, soziale Nähe, Netzwerke, professionelle Betroffenheit etc.)50 heraus und ermöglichten so wenigstens einigen Juden, rechtzeitig zu flüchten oder zu überleben.51 Gleichwohl wurde es für die Helfer durch die gesellschaftliche Organisation der sukzessiven Ausgrenzung, der folgenschweren Diskriminierung und Stigmatisierung der Juden sowie der Konzentration der jüdischen Bevölkerung immer schwieriger, einer nennenswerten Anzahl von Juden wirksam zu helfen.52 Neben den Helfern gab es unter den Dritten – und diese lassen sich zum zweiten Typus des Dritten zählen – allerdings auch noch Gewinner und Schaulustige. Ervin Staub53 und Götz Aly54 haben darauf hingewiesen, dass die deutsche Bevölkerung in vielfältiger Weise von der Vernichtung der Juden profitieren konnte: 48 Zygmunt Bauman, Modernity and Holocaust, Cambridge 1989; Thomas Blass, Psychological Perspectives on the Perpetrators of the Holocaust. The Role of Situational Pressures, Personal Dispositions, and their Interactions, in: Holocaust and Genocide Studies 7 (1993), H. 1, S. 30–50. 49 Victoria J. Barnett, Bystanders. Conscience and Complicity during the Holocaust, New York 2000; Steven Baum, The Psychology of Genocide. Perpetrators, Bystanders, and Rescuers, Cambridge 2008; Stefan Immerfall, Courage and Conformity in Comparative Perspective. Nazi Germany and Beyond, Paper Prepared for the Session »Moral Issues of the Shoah and Twentieth Century Genocide« at the 35th Congress of the International Institute of Sociology, Krakau 2001; William McBroom, Explaining the Holocaust. Behavior of Perpetrators, Victims and Bystanders, Bethesda 2002; Ervin Staub, The Psychology of Bystanders, Perpetrators, and Heroic Helpers, in: International Journal of Intercultural Relations 17 (1993), H. 3, S. 315–341. 50 Vgl. Eva Fogelman, Conscience and Courage. Rescuers of the Jews during the Holocaust, New York 1994, S. 158 f. 51 Ervin Staub, The Psychology of Good and Evil. Why Children, Adults, and Groups Help and Harm Others, Cambridge 2003. 52 Baum, Psychology of Genocide, S. 33–35. 53 Staub, Psychology of Bystanders, S. 315–341. 54 Götz Aly, Hitlers Volksstaat. Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus, Frankfurt a. M. 2005.

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»Most Germans participated in the system, in small ways such as using the Hitler salute […] and through organizations and group activities. Moreover, as bystanders, most Germans were not just passive: they were semiactive participants. They boycotted Jewish stores, and broke intimate relationships and friendships with Jews. Many benefited in some way from the Jews’ fate, by assuming their jobs and buying their businesses. Repeatedly the population initiated anti-Jewish actions before government orders […].«55

Hingegen blieben die meisten Zuschauer passiv, beobachteten das Geschehen oder wollten um die Vorgänge im Einzelnen lieber nicht so genau Bescheid wissen.56 So wurden sie – als Resultat der langen Passivität – immer weniger betroffen vom Schicksal der jüdischen Bevölkerung. Staub hat dazu geschrieben: »In the face of increasing suffering of a subgroup of society, bystanders frequently remain silent, passive […]. Bystanders also learn and change as a result of their own ­actions  – or inaction. Passivity in the face of others’ suffering makes it difficult to remain in internal opposition to the perpetrators and to feel empathy for the victims. To reduce their own feelings of empathic distress, passive bystanders will distance themselves from victims. […] Just world thinking will lead them to see victims as deserving their fate, and to devalue them.«57

Der passive Dritte distanziert sich von den Opfern und rechtfertigt damit quasi die Gewaltakte der Täter, er wird zu einem stillen Komplizen.58 Neben den unmittelbaren Gewinnern und Zuschauern hat Hilberg in seinem Buch »Täter, Opfer, Zuschauer« allerdings noch eine ganze Reihe weiterer Dritter dieses Typs differenziert, die zu unterschiedlichen Zeiten in verschiedenen Rollen anzutreffen waren:59 die Nationen in Hitlers Europa, die der Ausgrenzung und Vernichtung größtenteils zuschauten; die Boten als Zeugen, die von unglaublichen Gräueltaten berichteten, denen aber kein Glauben geschenkt wurde; die Alliierten, die erst spät Maßnahmen ergriffen, um der Expansion des Nazi-Regimes Einhalt zu gebieten; die neutralen Länder, die sich weigerten, den Juden einen sicheren Zufluchtsort zu gewähren; die Kirchen etc. »The reality is that most bystander responses were marked by a fundamental ambivalence to Jews and Jewish suffering.«60 Um genozidale Vernichtungsprozesse durchzuführen, reicht es in der Regel nicht, Dritte vom Typus 1 zu haben, sondern es bedarf auch eines strukturellen Kontextes, der auf die Rolle des Dritten als Typus 3 und 4 verweist. Denn die Tä55 Staub, Psychology of Bystanders, S. 327. 56 Daniel Bar-On, The Bystander in Relation to the Victim and the Perpetrator. Today and during the Holocaust, in: Social Justice Research 14 (2001), S. 125–148. 57 Staub, Psychology of Bystanders, S. 327. 58 Kristen Renwick Monroe, Ethics in an Age of Terror and Genocide. Identity and Moral Choice, Princeton 2012, S. 20 ff.; Ervin Staub, Overcoming Evil. Genocide, Violent Conflict, and Terrorism, Oxford 2011, S. 195–207. 59 Hilberg, Täter – Opfer – Zuschauer, S. 213–293. 60 David Cesarani/Paul A. Levine (Hg.), »Bystanders« to the Holocaust. A Re-Evaluation, London 2002, S. 69.

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ter müssen zur Durchführung ihrer monströsen Verbrechen zugleich strukturelle Bedingungen herstellen, die Taten eines solchen Ausmaßes ermöglichen. Die Nationalsozialisten hatten früh dafür gesorgt, dass die Pressefreiheit abgeschafft und die Öffentlichkeit gleichgeschaltet wurde. Sie hatten mit ihrer antisemitischen Propaganda und ihren völkischen Vorurteilen jede kritische Öffentlichkeit unterdrückt und durch ihre Hetzerei die öffentlichen Diskurse über Juden in einer solchen Weise strukturiert, dass jene am Ende nicht mehr als Menschen, sondern als zu vernichtendes Ungeziefer erschienen sind. Durch das diskriminierende und ausgrenzende Verhalten der Nazis hatten sie die Juden sukzessive ihrem projektiven Bild von den Juden angenähert, sie damit rekategorisiert und aus jeglichem humanen moralischen Universum ausgegrenzt. Die ›veröffentlichte Meinung‹ war damit auf Seiten der Täter, die sich auf diese Weise Unterstützung sicherten und dabei auf vielfältig vorhandene antisemitische Vorurteile in der Bevölkerung zurückgreifen konnten. Aber die Nationalsozialisten begnügten sich nicht damit, nur die öffentliche Meinung zu beeinflussen und zu manipulieren, sie änderten auch die normativen Maßstäbe der Gesellschaft selbst. Sie schufen neue Gesetze und ein neues Recht, damit ihr Handeln als »rechtmäßig« und »legal« erschien. Die Umwertung humanistischer Werte durch die rassistische öffentliche Propaganda verschob die Maßstäbe des Handelns und die Grenzen dessen, was erlaubt und was verboten war, so dass viele »mit gutem Gewissen« mitmachten, weil sie sich in Übereinstimmung mit den dominanten gesellschaftlichen Normen und Werten wähnten. Die parallel dazu veränderte Rechtsordnung – mit ihrer Spaltung in einen Normen- und einen Maßnahmenstaat – diente schlicht der Kaschierung und Legitimierung des darin nun verkörperten Unrechts.61 Sowohl die propagandistische Manipulation der Öffentlichkeit als auch die ideologische Aushöhlung des Rechts erzeugten jene genozidale Konstellation, die es gewaltbereiten Tätern angesichts einer Fülle von passiven Zuschauern schließlich ermöglichte, den Vernichtungsprozess an den europäischen Juden in Gang zu setzen. Der Holocaust – wie auch andere Genozide – folgte einem Muster, welches mit der Ausübung kultureller oder symbolischer Gewalt begann, sich dann in strukturelle Gewaltverhältnisse übersetzte, um schließlich bei der direkten physischen Gewalt zu enden. Die einzelnen konkreten Schritte bewirkten dabei ein »gradual silencing of moral inhibitions«.62 Die ethische Frage nach der Verantwortlichkeit könnte auch als eine Art »negativer Geschichte« geschrieben werden, die sich dem widmet, was gerade nicht geschah, also einer »history of inaction, indifference, and unsensitivity«.63 61 Herlinde Pauer-Studer/Julian Fink (Hg.), Rechtfertigungen des Unrechts. Das Rechtsdenken im Nationalsozialismus, Berlin 2014. 62 Arne Johan Vetlesen, Why Does Proximity Make a Moral Difference? Coming to Terms with a Lesson Learned from the Holocaust, in: Praxis International 12 (1993), H.  4, S. 371–386, hier S. 373; vgl. ebd., S. 384. 63 Michael R. Marrus (Hg.), The Nazi Holocaust. Historical Articles on the Destruction of European Jews, Part 8: Bystanders to the Holocaust, 3 Bde., Westport 1989.

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3. »Wir sind alle Dritte« In einem bemerkenswerten Buch über die Zustände der Verleugnung hat sich Stanley Cohen64 vor einigen Jahren mit den sozialpsychologischen Mechanismen auseinandergesetzt, die es Menschen ermöglichen, angesichts des Wissens um Gräueltaten und Leiden anderer nicht zu handeln bzw. einzugreifen.65 Er untersucht darin die verschiedenen Wege, wie es Menschen gelingt, das Wissen um Gewalt, um Gräueltaten, um Notsituationen anderer, das jeden Tag aus den Medien erfahrbar ist, so zu interpretieren, dass es jenseits des eigenen moralischen Universums stattfindet. Dabei unterscheidet er zunächst grundlegend drei Formen der Verleugnung in Bezug auf die Inhalte: »In literal, factual or blatant denial, the factor knowledge of the fact is denied. […] At other times, the raw facts (something happened) are not being denied. Rather, they are given a different meaning from what seems apparent to others [interpretative denial]. […] At yet other times, there is no attempt to deny either the facts or their conventio­ nal interpretation. What are denied or minimized are the psychological, political or moral implications that conventionally follow [implicatory denial].«66

Sodann differenziert er die Formen der Verleugnung in Bezug auf verschiedene Organisationsgrade: »At times, denial appears to be wholly individual, or at least comprehensible in psychological terms […]. At the other extreme are forms of denial which are public, collective and highly organized. […] Cultural denials are neither wholly private nor officially organized by the state. Whole societies may slip into collective modes of denial […]. [S]ocieties arrive at unwritten agreements about what can be publicly remembered and acknowledged.«67

Ein erstes wichtiges Resultat dieser Studie ist die Erkenntnis der unterschiedlichen und verzweigten Möglichkeiten, mit den Formen der Wahrnehmungsverweigerung gegenüber dem Leiden anderer umzugehen. Ein zweites wichtiges, aber eher indirektes Ergebnis der Untersuchung von Cohen ist die Erkenntnis, dass wir alle jeden Tag Zeugen des alltäglichen oder außeralltäglichen Leidens anderer werden, ohne dass wir uns berufen fühlen zu handeln. Wir selbst sind also auf vielfältige Art und Weise passive Dritte, die um Dinge und Tatbestände wissen, die uns einmal näher, einmal ferner, aber eben eigentlich »nicht in Ordnung« sind. Ein drittes, praktisches Resultat der Studie ist sodann die Forde64 Stanley Cohen, States of Denial. Knowing about Atrocities and Suffering, Cambridge 2001. 65 Vgl. allgemein Iain Wilkinson, Suffering. A Sociological Introduction, Cambridge 2004; Luc Boltanski, Distant Suffering. Morality, Media and Politics, Cambridge 2008; Stephen L. Esquith, The Political Responsibilities of Everyday Bystanders, University Park 2010. 66 Cohen, States of Denial, S. 7 f. 67 Ebd., S. 10 f.

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rung von Cohen, dass wir möglichst unsere emotionalen und intellektuellen Leugnungsaktivitäten aufgeben und überwinden sollten, um gegenüber Gewalt und Gräueltaten kein indifferentes Verhalten an den Tag zu legen. Für Täter können Dritte zumindest ein gewisses Widerstandspotenzial signalisieren, für die Opfer sind sie hingegen häufig die letzte Hoffnung. Damit sind bei der Diskussion um das Verhalten von Dritten in einem Gewaltgeschehen grundlegende ethische Dimensionen des Handelns bzw. Nichthandelns angesprochen, weil mit den konkreten Verhaltensweisen von Dritten Fragen nach Verantwortung und Schuld verbunden sind, die aufgrund individueller oder kollektiver historischer Erfahrungen nicht einfach zur Seite gelegt werden können. In Bezug auf die Verantwortung bzw. die Verantwortlichkeit ließe sich beispielsweise fragen: Wer trägt warum Verantwortung für was oder wen? Mit Lévinas68 könnte die Antwort zunächst lauten, dass unsere Verantwortung wächst bzw. umso größer ist, je schwächer das Opfer ist. Unsere Verantwortung erstreckt sich heute aber nicht nur auf nahe Andere, sondern auch auf distanzierte Andere, weil wir auf vielfältige Weise mit ihnen verbunden sind und wir sie in unseren humanistischen Horizont integriert haben – obwohl Verantwortungsübernahme häufig an soziale Nähe gebunden ist. Clarkson hat darauf hingewiesen, dass Verantwortung im philosophisch-humanistischen Sinne nicht bedeuten kann, jemanden anderes darauf hinzuweisen, dass er verantwortlich ist, sondern Verantwortlichkeit für sich selbst zu übernehmen und andere daran zu erinnern, gleiches zu tun: »Bystanding is predicated on the denial of obligation and responsibility for others. Metaphorically, bystanders wash their hands […] knowingly condemning an innocent to harm while publicly claiming guiltlessness.«69

Aber in der Diskussion um die Rollen und Funktionen von Dritten geht es nicht allein um Verantwortung, sondern immer auch ein Stück weit um Schuld, insbesondere die Art der Schuld, die aus unterschiedlichen Verhaltensweisen von Dritten erwachsen kann. Als Voraussetzung für Schuld wird zumeist angenommen, dass der Schuldige eine Wahlmöglichkeit hatte, die als problematisch betrachtete Handlung (z. B. das Bystanding) zu unterlassen. In normativer Hinsicht erwächst Schuld dann aus der Bewertung einer gewollten oder fahrlässigen unethischen Handlung, wobei die Wertung in der Regel anhand des Kriteriums der Vermeidbarkeit unethischen Verhaltens vorgenommen wird. Dem­gegenüber argumentiert der psychologische Schuldbegriff mit der Schuld infolge der persönlichen Beziehung des Menschen zu seiner Handlung. Diesem Verständnis zufolge hätte Schuld auch etwas mit Kenntnis bzw. Unkenntnis oder Wollen bzw. Nichtwollen des ethisch missbilligten Verhaltens zu tun. 68 Emmanuel Lévinas, Die Spur der Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie, Freiburg 31998; vgl. Pascal Delhom, Der Dritte. Lévinas Philosophie zwischen Verantwortung und Gerechtigkeit, München 2000. 69 Clarkson, Bystander Role, S. 85.

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Clarkson hat dementsprechend den Versuch unternommen, mit »racket guilt«, »authentic« bzw. »genuine guilt« und »existential guilt« unterschiedliche Verantwortungsdimensionen mit unterschiedlichen Qualitäten von Schuld zusammenzubringen.70 Für die Feststellung einer Schuld müssen jedoch Überlegungen wie persönliche Reife, Einsichtsfähigkeit, Motivationslagen und ethische Dilemmata berücksichtigt werden. Davon zu scheiden wäre noch die strafrechtlich relevante Schuld, bei der Schuld an ein Rechtsgut gekoppelt und mit der Begehung eines vorsätzlichen oder fahrlässigen Verhaltens verbunden ist. Allgemeine Schuldgefühle können hingegen entstehen, wenn ein Individuum oder eine Gruppe eine sozial unerwünschte Handlung begeht (z. B. Verstöße gegen bestimmte Normen, Ge- und Verbote) oder bestimmte ethische oder moralische Pflichten nicht erfüllt. Die komplexen normativen und ethischen Verbindungslinien zwischen Verantwortung und Schuld von sogenannten Dritten können jedoch an dieser Stelle aus Platzgründen nicht weiter vertieft werden.

4. Resümee Die Auseinandersetzung mit Rollen und Funktionen von »Dritten« hat gezeigt, dass Gewalt typischerweise kein dyadisches, sondern ein triadisches Geschehen ist. Das hier vorgestellte, erweiterte triadische Modell differenziert dabei nicht nur personelle, sondern auch strukturelle Dritte. Dritte sind ein wichtiger Bestandteil bei Gewaltereignissen. Sie erfüllen bestimmte Funktionen, übernehmen bestimmte Rollen, und haben so – zumindest potenziell und in Abhängigkeit von der konkreten Situation und der Nähe zum Gewaltgeschehen – Einfluss auf den Ausgang einer Gewalthandlung. Sie können Konflikte intensivieren und gewaltsames Handeln verschärfen, aber auch dissoziierend und befriedend auf die Konfliktparteien einwirken. Trotz allgemein hoher Erwartungen an eine positive Rolle personeller Dritter (Helfer) überwiegt die negative Rolle des personellen Dritten (Zuschauer). Wenn auch nicht zwingend erwartet werden kann, dass Dritte sich in Gefahr begeben und ihr Leben für andere aufs Spiel setzen, so kann aber von Individuen, Gruppen oder Nationen schon erwartet werden, dass sie handeln, solange die Gefahr für sie selbst noch begrenzt ist und je größer ihr Potenzial ist, einen Schaden für andere oder ein Abgleiten in zerstörerische Gewaltspiralen abzuwenden. Ausbleibendes Handeln in Anbetracht von Gewalt diskreditiert den »Bystander« umso stärker, je größer seine Potenziale und Optionen zum Handeln gewesen sind. Die hier vorgestellten strukturellen Dritten liefern dagegen eher unterschiedlich funktionierende Rahmen, in denen Gewalt stattfindet. An der inhaltlichen Rahmung eines Gewalt­geschehens durch die Öffentlichkeit, durch Bezugsgruppen oder Normen, Recht und Gesetz lässt sich beispielsweise erkennen, ob man grundsätzlich in einer »Kultur des Friedens« oder in einer »Kultur der Gewalt« lebt: Die Rahmung selbst eröffnet schon 70 Ebd., S. 86.

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Handlungsmöglichkeiten für Einzelne, Gruppen oder Staaten und schafft Opportunitätsstrukturen, die Folgen für die Täter und die Opfer zeitigt. Angesichts einer Vielzahl von Gewaltereignissen ganz unterschiedlicher Art und Schwere scheint es mit Blick auf die unterschiedlichen Funktionen von Dritten also geboten zu sein, in Alltagssituationen »Hilferufe« ernst zu nehmen und im Kleinen wie im Großen Sensibilität gegenüber Äußerungen zu zeigen, die Individuen oder Gruppen ihrer Humanität berauben oder ihnen das Recht auf ein anständiges Leben absprechen. Denn Diskurse der Missachtung, der Anerkennungsverweigerung oder Ideologien der Ungleichwertigkeit können rasch den Boden für Gewalt bereiten. Gefährlich wird es insbesondere dann, wenn Formen von hate speech durch Regierungen oder öffentliche Sprecher autorisiert werden, weil auf diese Weise eine Entgrenzung von Gewalt erfolgen kann. Die unterschiedlichen Dritten haben in jedem Fall einen hohen Stellenwert hinsichtlich der Legitimierung oder Delegitimierung eines Gewaltgeschehens. So wie der Helfer durch seine Handlung symbolisiert, dass er mit einer Gewalttat nicht einverstanden ist, so demonstriert umgekehrt der Zuschauer, dass ihm ein Gewaltgeschehen reichlich gleichgültig ist. Reagiert der »Bystander« mit Nicht-Handeln oder mit Passivität angesichts eines Gewaltereignisses, dann trägt er dazu bei, die ausgeübte Gewalt zu legitimieren. Die Opfer der Gewalt werden dann in einem zweifachen Sinne zu Opfern von Indifferenz: Sie leiden direkt unter der durch fehlende Empathie gekennzeichneten Indifferenz des­ Täters und sie leiden indirekt durch die Indifferenz der »Bystander«.

Stephanie Zehnle

Sex und Dschihad Vom Opfer- und Täterwerden der islamischen Konkubinen Westafrikas 1. Die Rückkehr der sex slaves1 Lange waren sich Experten darüber einig, dass heutige Formen von Sklaverei auf dem afrikanischen Kontinent nichts mehr mit Kriegsführung zu tun hätten. Aktuelle Sklaverei äußere sich vielmehr als domestic slavery, das heißt nur noch als quasi ererbter Sklavenstatus im häuslichen Bereich, nicht in Form systematischer Verschleppung und Erstversklavung im Krieg. Sie sei eher als eine Art Dienerschaft oder ökonomisches Abhängigkeitsverhältnis zu verstehen, in das Menschen einer bestimmten sozialen Schicht – etwa heute noch in Teilen Mauretaniens oder Nigers – hineingeboren werden.2 Doch seit einiger Zeit fordern islamistische Terroristen und aufständische Milizen diese Theorien postmoder­ ner Sklaverei heraus. In Nigeria entführte die Terrorgruppe »Boko Haram«3 bislang über 500 Mädchen und Schülerinnen. Viele von ihnen konvertierten zwangsweise zum Islam und bereits Vierzehnjährige wurden an Mitglieder der Gruppe verheiratet. Diese Zwangsverheiratung kann als eine Form der Versklavung genannt werden, denn die Mädchen werden auch zu nicht-sexuellen Diensten gezwungen: Sie müssen für die Boko-Haram-Mitglieder Wasser holen, kochen, Wäsche waschen und Äcker bewirtschaften. Sie sind besonders umfassender Zwangsarbeit ausgesetzt, die jedoch im Verständnis der Täter legitim ist. Ihr Sklavinnenstatus wurde weder vererbt, noch lässt er sich überhaupt aus der sozialen Stellung ihrer Familien ableiten. Sie sind schlichtweg Kriegsgefangene und Kriegsbeute. Innerhalb der Gruppe gilt der Geschlechtsverkehr zwischen Ehemann und »Ehefrau« dann nicht als Gewalt oder Missbrauch, sondern als regelkonformer Vollzug der religiösen Ehe. Und werden die Mädchen schließlich nicht mehr als Jungfrauen anerkannt, sind sie innerhalb ihrer konserva1 Konkubinen in islamischen Gesellschaften werden in der englischen Literatur häufig als sex slaves beschrieben, weil diese Art (erzwungener) körperlicher Dienstleistung vorrangig war. 2 Vgl. dazu etwa E. Ann McDougall, Living the Legacy of Slavery. Between Discourse and Reality, in: Cahiers d’Études Africaines 45 (2005), S. 957–986. 3 Der Begriff ist eine nigerianische Fremdbezeichnung aus dem Hausa und kann als »westliche Schriften sind religiös verboten« übersetzt werden. Boko stammt vom kolonial-englischen Lehnwort book und bezeichnet alles Geschriebene in lateinischer Schrift im Gegensatz zur arabischen Schrift, genannt ajami. Die Eigenbezeichnung der Gruppe lautet »Vereinigung der Sunniten für den Aufruf zum Islam und zum Dschihad«. Sie existiert seit etwa 2009 im Norden Nigerias.

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tiven Dorfgemeinschaften unabhängig von der exakten konfessionellen Zugehörigkeit im multireligiösen Nigeria kaum noch zu verheiraten. Wenn sie erst einmal zusammen mit den Ehemännern Kinder haben, wird die Wahrscheinlichkeit ihrer Flucht als besonders gering eingeschätzt. Die ersten durch Boko Haram entführten Mädchen haben Berichten zufolge bereits Kinder der Dschihadisten geboren. Im Verständnis des nigerianischen Staates und der globalen Medienöffentlichkeit sind diese Mädchen eindeutig Opfer physisch-sexueller sowie psychischer Gewalt. Auf regionaler Ebene und innerhalb der Boko Haram stellt sich dies aber weniger eindeutig dar. Ziel ist es, die jungen Frauen durch Gewalt und Isolation in die fast ausweglose Lage zu versetzten, sich der Gewaltgemeinschaft der Täter anschließen zu müssen und dauerhaft Teil ihres sozialen Gefüges zu werden. Ähnlich wie beim Phänomen Kindersoldaten, müssen die Mädchen sogar bei Kampfeinsätzen helfen: »[They participated] in military operations, including carrying ammunition or luring men into ambush […]. Others served as porters, carrying the loot stolen by the insurgents from villages and towns they had attacked.«4

Diese Mädchen sind zugleich körperliche Opfer und Täter dieser Gewaltgemein­ schaften. Eine solche Gewaltform gilt vielen Terrorismus-Experten als völlig neu, da sie nicht mehr dem Anschlagsprinzip des islamistischen Terrorismus der vergangenen Jahrzehnte folgt. Neu ist scheinbar auch der konstruktive und nachhaltige Aspekt dieses Handelns: Die vorhandenen sozialen Strukturen sollen nicht einfach nur zerstört, sondern durch eine neue, eine islamische Gesellschaftsform ersetzt werden. Dabei ist das Phänomen der Verschleppung von Frauen sowie Mädchen und ihrer Integration durch Zwangsheirat kein genuin westafrikanisches. Auch über den so genannten Islamischen Staat (IS) weiß man, dass Mädchen aus Europa sich freiwillig als Bräute für die Kämpfer anwerben lassen und gleichzeitig junge Frauen in den eroberten Gebieten zwangsweise als Ehefrauen unter den Dschihadisten verteilt werden. In Teilen Syriens und des Iraks sind bereits regelrechte Märkte für Sexsklavinnen entstanden. Der weibliche Beitrag zum Dschihad sei der sexuelle Dienst für die männlichen Kämpfer, erklären radikale islamische Gelehrte immer wieder. Durch den Geschlechtsverkehr mit einem Kämpfer würden auch die Frauen ewiges Leben im Paradies erlangen. So wie die Männer ihre Körper im Kampf Gott opfern, würden sich Frauen wiederum im Geschlechtsakt als religiöses Opfer darbieten. Als skandalöser »Sex-Dschihad« wurden diese Vorfälle im Sommer 2014 in den globalen Medien verhandelt und Islamwissenschaftler sprechen von gezielter IS -Sexualpolitik.5 4 Human Rights Watch, »Those Terrible Weeks in their Camp.« Boko Haram Violence against Women and Girls in Northeast Nigeria, 27.10.2014, http://features.hrw.org/features/HRW_ 2014_report/Those_Terrible_Weeks_in_Their_Camp/index.html (Zugriff am 5.1.2015). 5 Siehe etwa Mathieu Guidere, ISIS ’ Politics of Sex, 30.1.2015, http://www.sicherheitspolitikblog.de/2015/01/30/isis-politics-of-sex/#more-6711 (Zugriff am 10.3.2015).

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Überall ist in der IS -Propaganda von Opfern die Rede, nirgends von Tätern. Aus der Perspektive der IS -Kämpfer, die klassischen Dschihad-Konzepten folgen, sind in diesen Gewaltakten alle Taten Vorgänge religiöser Opferung. Mittelbar opfern sich die männlichen Dschihadisten und ihre weiblichen Sexpartnerinnen für eine göttliche Sache. Daher würden sie als Gegenleistung von Gott mit dem Eintritt ins Paradies belohnt. Täter sind dabei immer nur die »ungläubigen« Feinde, weil sie sich eben keiner höheren transzendenten Macht als Opfer selbst darbringen könnten. Gewalttäterschaft ist in diesem Verständnis also immer als »weltliche« Rolle zu beurteilen. Indes sind diese Gewaltformen weder neu noch im historischen Sinne »unislamisch«, wie viele gemäßigte islamische Vereinigungen und Autoritäten immer wieder betonen. Selbstverständlich folgen diese Auslegungen islamischer Ideen aber nur kriegerischen Interpretatio­ nen des Dschihad-Konzepts. Tatsächlich reaktivierten und reinterpretierten die IS -Kämpfer »old legal rules and fatwas that were utilized from the Middle Ages until the 18th century.«6 Und auch die Dschihadisten selbst wollen sich so verstanden wissen, dass man im Wesentlichen das gewaltsame Vorgehen des Propheten Muhammad und der islamischen Eroberungskriege im 7. und 8. Jahrhundert imitiere. Der erste offizielle Sprecher des Islamischen Staates und früheres Al-Qaida Mitglied Abu Mohammad Al-Adnani ließ im eigenen Propagandamagazin verlauten: »We will conquer your Rome, break your crosses, and enslave your women, by the permission of Allah, the Exalted. […] If we do not reach that time, then our children and grandchildren will reach it, and they will sell your sons as slaves at the slave market.«7

Al-Adnani verweist immer wieder auf seine christlichen Gegner, die er als Kreuzfahrer anspricht. Frauen und Kinder dieser Feinde sollten im Dschihad versklavt und als Ehefrauen oder Konkubinen genommen, die Männer hingegen getötet werden. Umgekehrt werfen die IS -Pamphlete dem amerikanischen Militär vor, rücksichtslos muslimische Frauen und Kinder zu töten.8 Die Versklavung von ›ungläubigen‹ Frauen und Kindern sei jedoch durch die Hadithe, Sammlungen überlieferter Aussagen und Taten des Propheten Muhammad, legitimiert.9 Für ›ungläubige‹ Frauen wird die sexuell-religiöse Opferschaft also grundsätzlich in Aussicht gestellt, was wiederum den feindlichen Männern verwehrt wird. Sklavinnen werden im Dschihad als Beute neben weiteren Gütern betrachtet. Dem »Revival of Slavery« widmete das IS -Magazin sogar einen gan6 Ebd. 7 Foreword, in: DABIQ 4 (2014), S. 3–5, hier S. 4. Das Zitat wird auch auf S. 8, 17 und S. 37 in der gleichen Ausgabe wiederholt. 8 Excerpts from »Indeed your Lord is ever watchful« by the official Spokesman for the Islamic State, in: ebd., S. 6–9, hier S. 9. 9 Vgl. den Hadith-Kommentar von Ibn Rajab Al-Hanbali, My Provision was placed for me in the Shade of my Spear, in: ebd., S. 10–13, hier S. 10. Der hier paraphrasierte Autor Al-Hanbali lebte im 14. Jahrhundert im Irak und in Syrien.

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zen Artikel, in dem der Status gegnerischer Frauen einer differenzierteren theologischen Erörterung unterzogen wird. Vom islamischen Glauben abgefallene Frauen (Apostatinnen) könnten nicht als Sexsklavinnen genommen werden, Christinnen und Jüdinnen hingegen problemlos. Man müsse ihnen wie in Nigeria oder jesidischen Gemeinden ein Ultimatum stellen: Tötung oder Konversion und Verheiratung. Stolz wird erklärt, dass das Wiederaufkommen dieser Sklavereiform zur Endzeit, in der Epoche vor dem Jüngsten Gericht, bereits in einem Hadith vorhergesagt wurde: »The slave girl gives birth to her master.«10 Damit ist vor allem gemeint, dass ungläubige Frauen irgendwann als Konkubinen die Kinder gebären, die gemäß islamischem Recht den freien Status des Vaters (»master«) erben: »The slave girl becomes a slave to her master while his children have the status of her master over herself. This is because the child of the master has the rank of the master, and thereby the child of the slave girl has the status of her owner and master.«11

Auch mittelalterliche islamische Gelehrte würden diese heilige Ankündigung dahingehend interpretieren, dass vor dem Jüngsten Gericht die Anzahl der Dschihad-Kriege und der Konkubinen rasant ansteige, so die IS -Autoren. Die Gewaltphänomene der Entstehungszeit des Islams würden wiederkehren und jenes prophezeite Ende der Welt einläuten. Die Frauen der Ungläubigen zu versklaven sei Inhalt der Scharia und jeder Muslim, der dies bestreite, falle damit selbst vom Glauben ab. Gesellschaftlich seien Konkubinen wichtig, um ansonsten verbotenen, außerehelichen Sex zu ersetzen. Und genau darin liege das religiöse Opfer der Frauen: Sie verhindern, dass unverheiratete IS -Kämpfer oder Ehemänner fern ihrer Frauen durch Sex mit anderen Frauen eine Sünde gegen Gott begehen. In der IS -Propaganda wird auch behauptet, die Abschaffung der Sklaverei in den vergangenen zwei Jahrhunderten habe außerehelichen Sex insgesamt stark gefördert, weil sich viele Personen keine freien Ehefrauen bzw. den erforderlichen Brautpreis leisten könnten. Vielfach hätten Hausmädchen in muslimischen Familien mit den Hausherren geschlafen, obwohl doch der Konkubinenstatus dies hätte legitimieren können.12 Das Hauptargument liegt also darin zu zeigen, dass institutionalisiertes und rechtlich sanktioniertes Konkubinentum die schiere Anzahl illegitimen Geschlechtsverkehrs muslimischer Männer drastisch senken würde. Zwischen der Ehe und dem Konkubinentum macht diese Argumentation keinen wesentlichen Unterschied.

10 Ibn Rajab Al-Hanbali, The Revival of Slavery before the Hour, in: ebd., S. 14–17, hier S. 15. 11 Ebd., S. 16. 12 Ebd.

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2. Konkubinen: »Was eure rechte Hand besitzt« In den einschlägigen IS -Magazinen wird natürlich auch auf den Koran als Rechtfertigung von Sexsklavinnen rekurriert.13 Dort werden diese Frauen und Mädchen 14-mal mit der Wendung »was eure rechte Hand besitzt« (arabisch mā malakat aymānukum) umschrieben. Nur ihr Besitzer darf mit ihnen schlafen, um die Klärung einer eventuellen Vaterschaft zweifelsfrei zu gewährleisten. Die Konkubinen konnten zwar nicht ohne den Gnadenakt des Besitzers zu Freien werden, aber in der Geschichte der Sklavinnen in islamischen Gesellschaften entwickelte sich ein verbesserter Status dieser Frauen durch Mutterschaft: Sobald sie ein Kind des Herrn zur Welt brachten, wurden sie umm al-walad (arabisch »Mutter des Kindes«) genannt. Sie wurden dadurch unverkäuflich und kamen beim Tod des Sklavenhalters frei.14 Diese – wenn auch marginale – soziale Mobilität wurde von den Frauen oft als gute Altersvorsorge betrachtet, da sie im Alter nicht verkauft werden durften und außerdem nach dem Tod des Herren grundsätzlich wieder heiraten konnten. Solche Privilegien sollten die Frauen motivieren, sexuelle Dienste freiwillig zu leisten und ihre Körper sowie Reproduktionspotentiale initiativ und dauerhaft zur Verfügung zu stellen. Die IS -Kämpfer fassten die Regeln zur Versklavung von Frauen unlängst auf einem mittlerweile gesperrten Twitter-Account zusammen: Nur ungläubige Frauen dürften akquiriert werden und ein Imam müsse sie als Beute verteilen oder verkaufen. Sie berufen sich auch auf bestimmte Koranstellen (23,5−6), die den Geschlechtsverkehr mit dem »Besitz der rechten Hand« rechtfertigen. Die Sklavinnen könnten als Kriegsbeute verkauft und gekauft, nur kleine Kinder dürften nicht von ihren Müttern getrennt werden. Das Recht zur sexuellen Ausbeutung könne aber nicht unter mehreren Käufern aufgeteilt werden, denn dann könnte es zu unklaren Vaterschaftsverhältnissen kommen. Konkubinen dürften zur Disziplinierung geschlagen werden. Den größten medialen Schrecken verbreitete jedoch eine Anweisung bezüglich junger Sklavinnen vor der Geschlechtsreife: »It is permissible to have intercourse with the female slave who hasn’t reached puberty if she is fit for intercourse; however if she is not fit for intercourse, then it is enough to enjoy her without intercourse.«15 13 Ebd., S. 17. 14 Im Gegensatz dazu wurden freie Mütter von Kindern umm al-banin genannt. Auch wenn nicht alle Rechtsschulen des Islam die Freilassung der Frauen vorschreiben, so gilt doch der freie Status ihrer Kinder mit dem freien Besitzer einheitlich als geboten. Vgl. Joseph Schacht, umm al-walad, in: The Encyclopaedia of Islam. New Edition, Bd. X (T‒U), Leiden 2000, S. 857–859, hier S. 857. 15 Middle East Media Research Institute (MEMRI) Jihad and Terrorism Threat Monitor (JTTM), Islamic State (ISIS) Releases Pamphlet On Female Slaves, 4.12.2014, http://www. memrijttm.org/islamic-state-isis-releases-pamphlet-on-female-slaves.html (Zugriff am 5.1.2014).

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Diese Erlaubnis des Kindesmissbrauchs überlässt es offensichtlich der Einschätzung des Dschihadisten bzw. des zuständigen Imam, ob ein Mädchen körperlich zum Verkehr geeignet scheint. Auch wenn diese extreme Haltung durch islamische Rechtsgutachten sicherlich kaum zu legitimieren ist, so ist dieser Umgang mit Sklavinnen doch ohne Bedenken bezüglich der Psyche dieser Mädchen angeordnet worden. Einschränkungen des sexuellen Zu- und Übergriffs wurden im Allgemeinen in der Dschihad-Praxis nur dann postuliert, wenn eine mögliche Vaterschaft hätte unklar bleiben können oder körperliche Schäden für die Frau als möglich erachtet wurden. Daher gilt eine Wartezeit für Sklavinnen, auf die auch der IS -Twitter-Account hinwies: »If she is a virgin, he [her master] can have intercourse with her immediately after taking possession of her. However, if she isn’t, her uterus must be purified [first].« Diese ›Reinigungsphase‹ bedeutet, dass der neue Besitzer mit dem Geschlechtsverkehr bis zum Ende der nächsten Menstruation warten soll, sodass eine Schwangerschaft durch früheren Verkehr ausgeschlossen werden kann. Es ist vor allem der wissenschaftliche, zum Teil mit medizinischen Fachtermini versehene Duktus, der bei der islamischen Debatte um Sklavinnen erschreckt – ob nun Aussagen von IS -Kämpfern des 21. Jahrhunderts oder islamische Grundlagentexte des 8. Jahrhunderts gelesen werden. In dieser Hinsicht ähneln die Texte Schilderungen von Sklavenhändlern des atlantischen und indischen Dreieckshandels: Über die Sklavinnen wird nur als Ansammlung von Körpern und Körperfunktionen gesprochen.16 In einem entscheidenden Punkt aber unterscheiden sich die Praktiken der verschiedenen Versklaver: Die Händler und Käufer europäischen Hintergrunds ächteten zumindest vordergründig sexuelle Kontakte mit schwarzen Sklavinnen. Die Dschihadisten hingegen nutzen das Konkubinentum bewusst als Instrumentarium der zwangsweisen Integration der Gegnerinnen. Durch gemeinsame Nachkommen sollen Bande geknüpft werden, die Revolten und Bürgerkriege verhindern sollen, weil sie ethnisch-kulturelle Unterschiede zwischen Eroberern und Eroberten innerhalb einer Generation nivellieren. Auch religiöse Divergenzen zwischen Muslimen und »Ungläubigen« sollten qua Genealogie zügig ausgeräumt werden. Der Sex Jihad kann also ein Teil eines – hier nicht positiv konnotierten  – Staatsaufbaus sein, der auf der umfassenden Homo­genisierung einer Nachkriegsgesellschaft basieren soll. Kämpfer des Dschihads sollen später durch feminine »Beute« belohnt und zu Familienvätern werden. Profitieren sollen vom Konkubinentum die Kampfmoral der Soldaten und das utopische, islamische Kollektiv der Umma auf Kosten der Psyche und Physis einer Generation von Frauen und Mädchen.

16 Im Atlantik zwischen Afrika, Europa und den Amerikas; im Indischen Ozean zwischen Ostafrika, Arabien/Persien und Indien.

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3. Genealogie und Dschihad in Westafrika Dieser Rückbezug auf die moralisch-juristischen Weisungen des Koran und des Propheten Muhammad haben eine lange Tradition in der Geschichte islamischer Reformbewegung und organisierter Gewalt im Dschihad. Für die Gründung neuer Staaten islamischer Prägung kämpften etwa in Westafrika im 18. und 19. Jahrhundert viele spirituelle Initiatoren. Entlang des südlichen Randes der Sahara waren einzelne Priester und islamisch-mystische Sufi-Bruderschaften aktiv, die immer wieder Angriffe gegen etablierte Herrscher und Eliten organisierten und in einigen Fällen sogar Kalifate bzw. Emirate errichteten. Dabei war keine Dschihad-Bewegung des Sahels so erfolgreich wie der Dschihad von Sokoto. Im Norden Nigerias, wo aktuell Boko Haram Mädchen entführt und Anschläge organisiert, wurde 1804 eine als Dschihad verkündete Kriegsserie eingeleitet. Um radikale islamische Gelehrte herum versammelten sich Kämpfer, besiegten die bestehenden Stadtstaaten und gründeten selbst Emirate. Diese standen ideell und steuerpolitisch unter der Vorherrschaft des »Herrschers der Gläubigen« und ­Sultans in der Hauptstadt Sokoto (an der heutigen Grenze Niger-­Nigeria). Das quasi staatliche Gebilde expandierte in den darauffolgenden Jahren stetig nach Westen, Süden und Osten (vgl. eine Karte von 1888 in Abbildung 1). Das so genannte Kalifat von Sokoto bestand bis zur Zerschlagung durch das britischkoloniale Militär im Jahr 1904 im heutigen Nordnigeria, im Niger und in Teilen Kameruns und des Tschads fort.17 Und noch immer sind dort Reminiszenzen und Revitalisierungen islamischer Staatlichkeit (etwa der Scharia als Rechtsgrundlage) und reformislamisch inspirierter Rebellion (etwa der Boko Haram) vorhanden. Von 1804 bis in die 1840er Jahre hinein wurden Kriege gegen sezessionistisch eingestellte Emirate und neu zu erobernde Gebiete geführt.18 Ständiger Krieg gegen als »ungläubig« diffamierte Feinde bedeutete wiederum auch einen ständigen Zuwachs an legitimen Sklavinnen und Konkubinen, da man sich streng an die Grundsätze islamischer Kriegsführung hielt: Männer töten, Frauen und Kinder gefangen nehmen. Viele Versklavte wurden entweder durch die Sahara nach Nordafrika oder über den Atlantik bis in die amerikanischen Plantagen verschleppt.19 Der Anthropologe Tidiane N’Diaye bezeichnete den massenhaf­ ten arabisch-islamischen Sklavenhandel 2008 als »génocide voilé«, als verschlei­ erten Völkermord, der den transatlantischen Sklavenhandel quantitativ weit übertreffe.20 Um afrikanische Opferschaft und den Grad afrikanischer Mittä17 Chinedu N. Ubah, The British Occupation of the Sokoto Caliphate. The Military Dimension, 1897−1906, in: Paideuma 40 (1994), S. 81–97. Andere Emirate wurden von deutschen und französischen Kolonialtruppen eingenommen. 18 Joseph P. Smaldone, Warfare in the Sokoto Caliphate. Historical and Sociological Perspectives, Cambridge 1977. 19 Paul E. Lovejoy, Transformations in Slavery. A History of Slavery in Africa, Cambridge 1983. 20 Tidiane N’Diaye, Le Génocide voilé, Paris 2008.

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Abb. 1: Friedrich Handtke, Karte von Afrika, Glogau 1888, 65 × 72 cm, http://hdl.library. northwestern.edu/2166.DL/inu-afrmap-4221612-recto-ah (Zugriff am 6.1.2015).

terschaft, wie N’Diaye ein Kapitel überschreibt, soll es hier jedoch nicht gehen. Sicherlich profitierten die Dschihadisten von Sokoto von diesem Fernhandel mit mehrheitlich weiblichen Sklaven, aber ihr Hauptinteresse galt zunächst viel mehr der direkten Verteilung neuer sex slaves im eigenen Umfeld, in diplomatischen Netzwerken und im regionalen Handel. Im Folgenden wird daher analysiert, welche islamisch-westafrikanischen Konzepte und Praktiken von Gewalt, Sex und Geschlecht welche Lebensbedingungen  – oder besser ausgedrückt: Überlebensbedingungen – für die kriegsgefangenen Konkubinen schufen, die eine Täter-Opfer-Dichotomie sprengen. Es wird untersucht, wie in diesen Fällen Opfer von Entführung und sexueller Gewalt zu Täterinnen wurden.

4. Virilität und Askese Weil zahlreiche Dschihad-Kämpfer Sokotos zumindest eine islamische Elementarbildung erfahren hatten, besteht die für die vorkoloniale afrikanische Geschichte außergewöhnliche Möglichkeit, den dschihadistischen Täterdiskurs besonders dicht anhand von Selbstzeugnissen aus dem Kontext dieser Gewaltgemeinschaften zu untersuchen. Jedoch muss berücksichtigt werden, dass Beschreibungen idealtypischer Weiblichkeit und Männlichkeit sowie über Sexualität nur in den Gedichten (und in sehr wenigen Prosa-Texten) der männlichen Dschihadisten zu finden sind. Die zeitgenössischen Autorinnen, von denen einige zwar besonders umfangreiche Konvolute hinterließen, beschäftigten sich

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in ihren Schriften hingegen überhaupt nicht mit Sexualität. Dies führt zu der Erkenntnis, dass es für Frauen nicht der sozialen Norm entsprach, sich über sexuelle und geschlechtsbezogene Themen literarisch, also öffentlich, zu äußern. Ihr Wissen darüber, ihre Zweifel und Fragen kommunizierten sie wahrscheinlich nur mündlich und anderen Frauen gegenüber. Die männlichen Autoren widmeten sich diesen Themen indes besonders intensiv. Das große maskuline Vorbild der Dschihadisten war der islamische Prophet Muhammad, den sie in zahlreichen Lobgedichten schwärmerisch beschrieben. Auf ihn wurden all jene Männlichkeitsideale projiziert, die ein Mann verkörpern sollte: Ein tapferer Krieger ohne Furcht und mit unendlichem Gottvertrauen, emotional stets ausgeglichen, wütend nur wenn Gottes Vorschriften übertreten werden, gerecht und vor allem wunderschön.21 Seine angeblich strahlend weiße Kleidung, seine Sandalen und sein Turban wurden von den Dschihadisten als eine Art Uniform allen Mitkämpfern vorgeschrieben.22 Als besonderes Merkmal galt sein lieblicher Duft, der ohne Parfum doch einem solch wohlriechenden gleiche. Mit der verstärkten Islamisierung Nordnigerias um 1800 hielt auch der Parfumhandel Einzug; daher kreierten lokale Religionen neue Geisterwesen mit islamischen Namen, deren Erkennungsmerkmal arabische Parfums waren.23 Sauberkeit und ein angenehmer Duft waren außerdem wesentliche und erwünschte Merkmale des Auftretens männlicher Herrscher. Sultane und Emire sollten sich stets in tadelloser Kleidung und parfümiert sowie still stehend oder sitzend präsentieren. Sie sollten im Beisein anderer nie laut sprechen oder gähnen.24 Und dennoch war es ein schmaler Grat zwischen gera21 Dies ist in Elegien auf verstorbene Dschihadisten überliefert: Boyd Jean/Beverly B. Mack (Hg.), Asma’u, Nana. Collected Works of Nana Asma’u, Daughter of Usman dan­ Fodiyo (1793−1864), East Lansing 1997, S.  87. Auch der erste Sultan Sokotos Uthman dan Fodio predigte einen emotional ausgeglichenen Charakter: Uthman dan Fodio, Ulum al-muamala (Archiv Niamey 410 (14)); englische Übersetzung: Aisha Abdarrahman Bewley, Handbook on Islam, Granada 2004, S. 13–84, hier S. 67. 22 Der britische Reisende Hugh Clapperton berichtete über die Dschihadisten in den 1820er Jahren: »In addition to the white flag, the Fellatas were to wear a white tobe, as an e­ mblem of their purity, and their war-cry was to be Allahu Akber! or, God is Great! That every one who was wounded, or fell in battle, was sure to gain paradise.« Vgl. Ders., Journal of  a Second Expedition into the Interior of Africa, from the Bight of Benin to Soccatoo, London 1829, S. 203. Aus Sokoto verschleppte Sklaven berichteten einem deutschen Missionar in Sierra Leone davon, dass den Bewohnern eroberter Städte diese Kleidung auf­erlegt wurde: Sigismund Wilhelm Koelle (Hg.), African Native Literature, or Proverbs, Tales, Fables and Historical Fragments in the Kanuri or Bornu language. To which are Added a Translation of the Above and a Kanuri-English Vocabulary, London 1854, S. 91, 221. 23 Über parfümierte Geisterwesen berichtete Paul Krusius, Die Maguzawa, in: Archiv für Anthropologie 14 (1900), S. 288–315, hier S. 294 f. 24 Vgl. zum Männlichkeits- und Herrscherideal der Dschihadisten die edierte Quelle von Muhammad Isa Talata Mafara (Hg.), Sheikh Usman B. Foduye. Usulul-adliliwullatil Umuri, Sokoto [o. D.], S. 12.

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dezu »prophetenhaft« schönem Auftreten und sündiger Eitelkeit, denn der Auftritt musste schlicht sein sowie ohne Gold, Silber und Seide auskommen.25 Ebenso dürften sich die Herrscher nicht zahllose Konkubinen in ihren Palästen leisten, denn sie sollten auch einfache Kämpfer von der weiblichen Beute profitieren lassen. Ein Herrscher sollte sich auch sexuell »mäßigen« und auf diese Form des Luxus verzichten. Die Dschihadisten kritisierten daher die Unterbrin­gung zahlreicher Konkubinen in den Palästen, die sie gerade erst erobert hatten. Seit dem 15. Jahrhundert sollen die vor-dschihadistischen Könige im zentra­len Sahel Zugriff auf mehrere Hundert Sklavinnen als Geliebte in ihren Residenzen gehabt haben.26 Nach dem Dschihad von Sokoto sank die Anzahl der höfischen Konkubinen also wahrscheinlich, nahm jedoch durch die Phase der staatlichen Konsolidierung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wieder stark zu, was unter anderem aus einer Diversifizierung verschiedener Status von royalen Konkubinen und entsprechend unterschiedlichen Privilegien und Pflichten abzuleiten ist.27 Da wegen der schlechten Quellenlage für die vorkoloniale Zeit verlässliche Zahlen fehlen, sind dazu jedoch nur generelle Tendenzen erkennbar. Jedenfalls riefen die Dschihadisten mit Verweis auf den verschwenderischen Luxus vorheriger Herrscher dazu auf, die eigene Virilität zu zähmen, worin ein religiöser Fortschritt liege, durch den sich Menschen überhaupt nur von Tieren abgrenzen könnten.28 Durch die intensive Islamisierung im Dschihad wurden auch bestehende Kriegernarrative umgedeutet. Waren die Helden der regionalen Epen zuvor hauptsächlich Jäger aus den Wäldern,29 wurden diese bald durch islamische Helden aus der Zeit der Eroberungskriege gegen das nordafrikanische Byzanz ersetzt. Ein Krieger tauchte in den Ursprungsmythen nicht mehr als Jäger auf, sondern bezog seine Ehre durch islamisch-spirituelles Wissen und religiöse Symbolik. Eine wesentliche Eigenschaft männlicher Helden blieb allerdings deren Mobilität. Der Jäger wurde als Migrant betrachtet, der neue Gebiete erschloss und eroberte sowie lokale matriarchale Dynastien durch Heirat oder Unterwerfung der lokalen Herrscherinnen übernahm. Auch die islamischen 25 Ebd., S. 11. 26 Vgl. dazu die geographisch-archäologischen Forschungen von Heidi J. Nast, Islam, Gender, and Slavery in West Africa circa 1500. A Spatial Archaeology of the Kano Palace, Northern Nigeria, in: Annals of the Association of American Geographers 86 (1996), H. 1, S. 44–77, hier S. 66. 27 Siehe dazu ebenfalls Dies., The Impact of British Imperialism on the Landscape of Female Slavery in the Kano Palace, Northern Nigeria, in: Africa 64 (1994), H. 2, S. 34–73. 28 Raubtiere standen dabei für ungezügelten Zorn, domestizierte Tiere für hemmungslose Sexualität. Vgl. Uthman dan Fodio, Tahdhib al-insan min khisal al-shaytan; eine arabische Edition wurde von Muhammad Shareef angefertigt: http://www.siiasi.org (Zugriff am 13.2.2013). Mittlerweile ist die Edition online nicht mehr zugänglich. 29 Diese Narrative finden sich in frühkolonialen Editionen lokaler Herkunftsmythen. Vgl. dazu etwa Gottlob Adolf Krause, Erzähltes und Geschriebenes bei den Negern, in: Neue Preußische Zeitung (=Kreuzzeitung). Sonntagsbeilage, 15.11.1885.

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Helden waren Migranten (Pilger und Eroberer), die nicht-islamische Königinnen oder Prinzessinnen schwängerten und sich somit der Stadtstaaten bemächtigten. Nur lokal überlieferte Erzählungen und Fabeln gaben diese reisenden Islam-Gelehrten subversiv der Lächerlichkeit preis, indem sie deren Armut und Bettelei thematisierten.30 Mit Pferden ausgerüstet sollten die idealen islamischen Krieger mobil und überraschend bei Angriffen vorgehen. Der Dschihad-­ Anführer Muhammad Al-Bukhari formulierte das in einem Kriegsgedicht von 1820 wie folgt: »In ihren Händen sind Schwerter, die Köpfe und Hände ab­ schlagen, und unter ihnen sind flinke Pferde, die wie eine Taube scheuen.«31 Die Dominanz über die Pferde ist ein Wesensmerkmal männlich-militärischer Überlegenheit in der Dschihad-Poesie. Sie waren die mobilen Gewalttäter, die Tiere und Feinde bezwangen. Den Frauen kam in diesen Dichtungen hingegen eine sehr immobile und äußerst passive Rolle zu. Dies entspricht generell der sozialen Stellung einer muslimischen Konkubine oder Ehefrau im dschihadistischen Sokoto: Je höher ihr Status, desto größer war ihre räumliche Isolation im Haus oder Palast bzw. desto geringer ihre räumliche Mobilität. Konkubinen konnten zwar immerhin auch als Vermittlerinnen und Gastgeberinnen auftreten, die bis zu vier Ehefrauen wurden aber gänzlich in den abgeschiedensten Palastteilen versteckt. Dort verbrachte der Herrscher und Besitzer im rotierenden System die Nächte, während er seine Konkubinen nur tagsüber aufsuchen durfte.32 Frauen waren auch in dschihadistischen Liebesgedichten stets an einen bestimmten Ort, z. B. ein Haus, gebunden. Sehnsüchtig suchte der Dichter dort seine Geliebte und fand typischerweise immer nur eine leere Behausung vor. An diesem Punkt konzentriert sich der frustrierte Protagonist anstatt auf die Geliebte auf sein treues Kamel, das entweder als männlich oder weiblich stark erotisierend dargestellt wird.33 Zum Beispiel besteigt dann das männliche Reitkamel als narrative ›Ersatzhandlung‹ für den Verkehr des Protagonisten mit der verschwundenen Geliebten brutal seine Artgenossinnen. In einem weiteren Schritt wird der nicht vollzogene Liebesakt schließlich weiter abstrahiert und auf einen berühmten Gelehrten oder den Propheten selbst übertragen: 30 Vgl. dazu etwa eine überlieferte Erzählung in Rudolf Prietze, Pflanze und Tier im Volksmunde des mittleren Sudan, in: Zeitschrift für Ethnologie 43 (1911), H. 6, S. 865–914, hier S. 886, 897. 31 Übersetzt nach einer Edition in Sambo Wali Junaidu, The Sakkwato Legacy of Arabic Scholarship in Verse between 1800−1890, London 1985, S. 167. 32 Nast, Islam, Gender, and Slavery, S. 65. 33 Vgl. dazu Abdul-Samad Abdullah, Arabic Poetry in West Africa. An Assessment of the Panegyric and Elegy Genres in Arabic Poetry of the 19 th and 20th Centuries in Senegal and Nigeria, in: Journal of Arabic Literature 35 (2004), H. 3, S. 368–390, S. 377 f. Literarische Vorbilder dieser so genannten ghazal-Poesie wurden ediert und ins Deutsche übersetzt von Friedrich Rückert, Amrilkais der Dichter und König, Stuttgart 1843; eine englische Übersetzung ist zu finden bei Wilhelm Ahlwardt, The Divans of the Six Ancient Arabic Poets, London 1870.

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»Kann einen die große und schlanke Kamelstute zu ihm [hier: der Gelehrte Al-Kunti] bringen? Die dünne, flinke mit kurzen Zitzen? Sie ist grazil, mit einem langen Hals, hoch, kraftvoll, verrückt beim Rennen, leicht und schnell.«34

Es ging dabei entweder um die Thematisierung menschlich-männlicher Domi­ nanz über ein weibliches Kamel oder aber  – in einer Art doppelten Stellvertreterschaft  – um die physische Hegemonie eines Kamelhengstes unter seinesgleichen. Im Gegensatz zu den mehrheitlich weiblichen Kamelen in diesen erotischen Gedichten waren die hoch gelobten Pferde in der dschihadistischen Kriegspoesie zumeist Hengste. Kamele galten als zarte und sensible Tiere, die durch Zureden und erotische Zuneigung gezähmt werden konnten, Pferde sollten hingegen durch pure physische Kraft dominiert werden. Im Allgemeinen gleichen sich männlich-prophetische und weibliche Attraktivitätsmerkmale in dieser Form der Dichtung aber stark. Eine ideale Frau sollte eine eloquente Gesprächspartnerin und natürlich auch wohlriechend sein. Jugendlich und groß gewachsen (wie ein Kamel), überzeuge eine schöne Jungfrau mit schlichtem schwarzem Gewand anstatt mit Schmuck und bunter Kleidung. In erotischen Gedichten ist von einer Jungfrau mit fruchtbarer Vagina wie reife Datteln, großem Rücken und Hintern, weiten Kuhaugen, runden Wangen und kurzen Beinen die Rede. Ihre Zähne sollten scharf wie Dornen sein und Lücken aufweisen, ihr Gang einer Gazelle gleichen, ihr Speichel wie Wein schmecken.35 Das dschihadistische Weiblichkeitsideal war kein speziell körperliches, sondern vor allem ein räumliches: Frauen sollten sich im privaten Raum und nicht in der Öffentlichkeit aufhalten – sie waren zur Immobilität bestimmt. Der Initiator des Sokoto-Dschihads, Uthman dan Fodio (1754–1817), kritisierte folgendes Fehlverhalten: »Unter den schlechten Taten findet sich das Betreten von Häusern ohne Erlaubnis [für Männer]. Außerdem fehlt oft der Schleier, wenn Frauen [das Haus] der Schwäger, der Vetter, Onkel oder eines Freundes des Ehemanns betreten. Eine Frau und einen fremden Mann ohne Stellvertreter des Ehemanns [oder Vaters] allein reisen zu lassen, ist auch nicht erlaubt. Frauen gehen auf Märkte und tummeln sich mit Männern. Sie gehen nach draußen und kaufen Fußringe, Armringe, verzierte Kleider und Baumwolle. Dies geschieht nicht ohne Begierde. […] Und der Ehemann wird über die Treue seiner Frau getäuscht; er ist pflichtvergessen mit ihr, indem er sie mit fremden Männern allein lässt.«36

Immer geht es bei geschlechtlich festgelegten Normen um Einschränkungen. Eine Frau wurde in ihrem Bewegungsradius eingeschränkt, ihr Körper zum Privatbesitz erklärt, den es vor der Öffentlichkeit zu schützen galt. Die männliche Sexualität wurde dahingehend beschnitten, dass der sexuelle Zugriff auf 34 Junaidu, Sakkwato Legacy, S. 151. 35 Ebd., S. 168 f. 36 Übersetzt nach Uthman dan Fodio, Hisn al-afham min juyush al-awham. Ediert von­ Fazlur Rahman Siddiqi (Hg.), Hisn al-afham min juyush al-awham, Kano 1989, S. ٨۹.

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Frauen dauerhaft institutionalisiert werden sollte, um Beliebigkeit und Geburten von Halbwaisen zu verhindern. Weibliche Körper seien die potentiellen Opfer sexueller Freizügigkeit in Friedenszeiten, die es stets zu verbergen, und die Verletzungsoffenen in Kriegszeiten, die es zu beschützen galt. Bei Männern ging es hingegen auch um die innere Standfestigkeit und den religiösen Gehorsam, der zur Zügelung der Sexualität führen sollte. Bei Frauen könne dieselbe Zügelung jedoch nur durch räumliche Segregation und Supervision erreicht werden.

5. Sexuelle Trophäen Weil die autoritäre Sanktionierung sexueller Übergriffe auf Frauen ein wirkungsvolles Herrschaftsinstrument war, verteilten die Dschihadisten von Sokoto die Sklavinnen als Sold oder Belohnung. Betroffene Frauen schwiegen sich über diese Vorgänge aus, Kämpfer äußerten sich aber mitunter über Geschlechtsverkehr direkt nach einem Raubzug. Ein gegnerisches Oberhaupt der Sokoto-Dschiha­ disten, und ebenfalls ein gebildeter Muslim (vgl. Abbildung 2), beschrieb den Sex mit seiner neuen Konkubine oder Ehefrau in einem Gedicht über einen erfolgreichen Angriff: »Welch glorreiche Expedition! Aber die größte Freude und das größte Glück ist das Wiedersehen meiner verlorenen Liebe, einem Teil von mir. Ihre hohe und noble Stirn, wie der Neumond, eine Nase wie ein Regenbogen. […] Große Augen mit eindeutigem Blick, Lippen süßer als Honig und kälter als klares Wasser. […] Oh meine Favoritin, ich war so aufgeregt als ich den Schleier von deinem Gesicht nahm. Du kanntest mich nicht in deiner Panik, du warst starr vor Angst. Du wusstest nicht was geschehen würde und deine Augen waren in Verzweiflung geschlossen. […] Sie belebte mich wie eine blut-rote Sonne. […] Der Anführer ist zurück, siegreich. Gott hat uns den Feind bezwingen lassen, sie sind alle gefallen und ihre Städte Ruinen.«37

Zwischen den Zeilen dieses romantisierenden sexuellen Eroberungsgedichts ist die Gewalt der körperlichen Inbesitznahme leicht aus den schwülstigen Metaphern zu extrahieren. Deutlich wird die Verletzung und Tötung von Feinden mit der Erniedrigung der (Jung-)Frau im erzwungenen Geschlechtsakt verglichen. Krieger und Liebhaber sind gleichermaßen selbstbewusst und erregt, die Gegner und die neuen Ehefrauen (oder Konkubinen) hingegen starr vor Angst. Töten im Kampf gleicht der Entjungferung, weil beide Vorgänge von blutenden Körpern gezeichnet sind. In der gegenwärtigen IS -Propaganda wird die Vergewaltigung von Jungfrauen sogar als Vorgeschmack auf das Paradies verherrlicht.38 37 Al-Kanemi, der Sultan von Bornu, verfasste dieses Gedicht angeblich nach einer Schlacht im Jahr 1821. Siehe Hugh Clapperton u. a., Narrative of Travels and Discoveries in Northern and Central Africa, Bd. 2, London 1826, S. 409–411. 38 Vgl. Guidere, ISIS ’ Politics of Sex.

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Abb. 2: Hugh Clapperton u. a., Narrative of Travels and Discoveries in Northern and Central Africa, Bd. 1, London 1826, Titelbild.

Das Verletzen, das »Öffnen« des Körpers der Opfer und das Ausströmen des Blutes belebten laut dem oben zitierten Gedicht den Täter sogar – das Leben, das er nimmt, gehe quasi in ihn über. Der getötete Kriegsgegner und die entjungferte Frau verlieren ihr Leben bzw. ihre ›Unschuld‹ und fürchten diese Vorgänge und Übergänge. Diese »Verzweiflung« und Angst der Opfer würden den Täter nur noch weiter bestärken. Opfer sind hier eindeutig die Passiven, während die Täter agieren. Der Krieger und der Liebhaber verschmelzen zu einem idealtypischen Repräsentanten hegemonialer Männlichkeit als Täter. Auch wenn die neuen Ehefrauen in der Hochzeitsnacht oder die Konkubinen nach ihrer Versklavung nicht getötet wurden, so freute sich der dichtende Kriegsherr doch darauf ihren Körper zu verletzen. Auf die Heimkehr der Dschihadisten folgte – nicht nur literarisch-poetisch – der Geschlechtsverkehr mit kriegsgefangenen Ehefrauen und

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versklavten Konkubinen.39 Sie waren die Ängstlichen und die Belebenden. So wurde die Gewaltordnung des Kampfes auf die häusliche Ordnung übertragen und der Wohnbereich durch Gewalt in Besitz genommen. Was im oben zitierten Gedicht als individuelle Erfahrung eines Paares anmutet, war wohl tatsächlich oft eine kollektive Tat. Die Quellen belegen jedenfalls, dass junge Frauen nach der Tötung ihrer Männer von Reitern zusammengetrieben und entblößt wurden. Muhammad Bello (1781–1837), der Sohn Uthman dan Fodios, beschrieb diesen Vorgang in einem für ihn typischen, eher in lakonisch-berichtendem Stil gehaltenen Kriegsgedicht: »Die Kavallerie kreiste die zusammengetriebenen Frauen ein; junge Mädchen, die wir als Beute erhielten. An diesem Tag wurden sie ausgezogen und als Strafe nicht vor der Sonne geschützt.«40

Noch waren sie dem Kollektiv der männlichen Gewaltgemeinschaft ausgeliefert und standen weder unter ehelichem Schutz noch unter dem eines Konkubinen-Besitzers, denn sie waren noch keinem exklusiven körperlichen Übergriff eines Einzelnen zugeordnet worden. Als Dschihad-Anführer konnte der Dichter nicht über kollektive Vergewaltigungen von Frauen sprechen, waren diese doch – eine Vaterschaft könnte später nicht aufgeklärt werden – nach islamischem Recht untersagt. Andere Formen sexueller Erniedrigung und Gewalt waren jedoch für die Täter nicht nur machbar, sondern offensichtlich auch schreibbar. Diese wurden dann als legitime »Bestrafungen« ihres zuvor definierten Unglaubens beschrieben. Sie waren in den Augen der Dschihadisten von Sokoto vielleicht nicht islamisch genug gekleidet und sollten erfahren, welche Konsequenzen dies nach sich zog – gemäß der These einer Täter-Opfer-­Umkeh­ rung (victim blaiming): Wer als Frau aufreizende Kleidung trägt, provoziert sexuelle Übergriffe und ist daher mit schuld oder gar allein schuld an sexueller Gewalt gegen sich. Jedenfalls sollte das Verhalten der Täter nicht etwa auf die schiere Befriedigung sexueller Machphantasien, sondern nur auf rational-erzie­ herische Motive zurückgeführt werden. In der dschihadistischen Kriegspoesie war die Versklavung der Ehefrauen und Töchter der Feinde eine besondere Machtdemonstration, eine völlige Inbesitznahme des Gegners und seiner zu-

39 Erwiesen ist durch Gewaltforschungen zum Beispiel, dass kriegstraumatisierte Soldaten nach ihrer Heimkehr stark zu häuslicher Gewalt neigen und Vergewaltigungen innerhalb von bestehenden Beziehungen mit höherer Wahrscheinlichkeit vorkommen. Siehe etwa Gaby Zipfel, Schlachtfeld Frauenkörper, in: Peter Gleichmann/Thomas Kühne (Hg.), Massenhaftes Töten. Kriege und Genozide im 20. Jahrhundert, Essen 2004, S. 244–264. Eine sexuelle Belohnung wurde bekanntermaßen auch den muslimischen Märtyrern im Paradies in Gestalt schöner Jungfrauen versprochen. Vgl. dazu etwa Friederike Pannewick, Tödliche Selbstopferungen in der arabischen Literatur. Eine Frage von Macht und Ehre?, in: Christina von Braun u. a. (Hg.), ›Holy War‹ and Gender. ›Gotteskrieg‹ und Geschlecht, Münster 2006, S. 93–119. 40 Junaidu, Sakkwato Legacy, S. 156.

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künftigen Generationen bzw. seiner Reproduktionsmöglichkeiten. Ein Sohn Uthman dan Fodios, der für seine erotische Poesie von anderen Gelehrten stark kritisiert wurde, schrieb in einem Gedicht: »Und unter meinen Geliebten war auch eine Jugendliche, ihr Ehemann war ein Schafbock. Wir schlachteten ihn, um das große und elegante Mädchen an einen Mann zu verheiraten.«41 Gemäß tradierter Prinzipien des Dschihads wurden Frauen versklavt, die als Ungläubige galten. Legitimatorische Strategien wurden also entwickelt, um ihren Männern diesen Status zuzuweisen, der wiederum auf die nur bedingt als mündig betrachteten weiblichen Angehörigen übertragen wurde. Ihre Männer und Väter wurden daher rechtmäßig getötet und die Frauen und Kinder entführt. Der westafrikanische und der nordafrikanisch-arabische Sklavenhandel favorisierte klar weibliche Sklaven, weil diese sowohl als Arbeitskräfte als eben auch als sex slaves einsetzbar galten.42 Welcher Mann aber als ungläubig definiert wurde, ist im Dschihad-Recht davon abhängig, ob er sich gerade im »Land der Ungläubigen« befand, dessen Verortung wiederum den selbst ernannten Dschihadisten oblag.43 Ein Zirkelschluss aus Rechtfertigungen setzte ein, die am Ende doch immer beliebig blieben und sexuelle Trophäen islamisch zu rechtfertigen versuchten. Vergewaltigung und sexueller Missbrauch haben tatsächlich mehr mit Gewalt als mit Sexualität zu tun, denn Studien haben gezeigt, dass »Vergewaltigung kein aggressiver Ausdruck von Sexualität, sondern ein sexueller Ausdruck von Aggression ist.«44 Damit hat diese Gewaltform auch mehr mit der kriegerischen Umsetzung des Dschihads als mit Sex zu tun. Zumindest in der Psyche der Opfer (und meist auch der Täter) wird eine Vergewaltigung nicht als sexuelle Handlung, sondern als demütigende Gewalt erfahren (und eingesetzt). Der Theorie nach ist die erzwungene Penetration eine Methode zur Demütigung der gegnerischen Männer, wobei die weiblichen Opfer nur als depersonalisiertes und körperliches Mittel zu diesem Zweck dienen.45 Verhandelt wird demnach in erster Linie die Ehre der Männer und eben nur in Abhängigkeit davon die Ehre der zugehörigen Frauen.46 Im Dschihad von Sokoto wurde diese Demüti­gung

41 Ebd., S. 198. 42 Zum Konkubinentum in der Geschichte Nord- und Westafrikas siehe Chouki El Hamel, Black Morocco. A History of Slavery, Race, and Islam, Cambridge 2013, S. 22–35. 43 Emile Tyan, Djihad, in: Bernard Lewis u. a. (Hg.), Encyclopaedia of Islam. New Edition, Bd. 2: C−G, Leiden 1965, S. 538–540. 44 Ruth Seifert, Krieg und Vergewaltigung. Ansätze zu einer Analyse, in: Das Argument 35 (1993), H. 1, S. 81–90, hier S. 81. 45 Ebd., S. 84. 46 »Die Keuschheit der Frau [nach dem Dschihad] war aus Sicht der Männer nun auch Bedingung männlicher Ehre, ja der Ehre der lineage überhaupt.« Winfried Speitkamp, Ohrfeige, Duell und Ehrenmord. Eine Geschichte der Ehre, Stuttgart 2010, S. 302. Siehe außerdem zum neuen Ehrverständnis im Zuge der Islamisierung West- und Ostafrikas im 19. Jahrhundert John Iliffe, Honour in African History, Cambridge 2005, S. 31–53.

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durch institutionalisiertes Konkubinentum sogar noch verstetigt: Auch hier ging es nicht um das Wohl der kriegsgefangenen Frauen, sondern um die dauerhafte Inbesitznahme gegnerischer Fertilität.

6. Warten auf die »Reinheit« der Konkubinen Während die Dschihadisten die unmittelbare Versklavung und Verschleppung von Frauen häufig in ihrer Kriegspoesie behandelten, war das weitere Schicksal dieser Opfer wiederum Bestandteil der juristischen Analysen. Dieses Thema wurde aber meist separat vom Rechtsdiskurs über die generelle Legitimität von Sklaverei erörtert. Konkubinen wurden im Textaufbau und durch inhaltliche Argumentation eher in die Nähe von erbeuteten Sachgütern gerückt. Es war schlichtweg zu klären, wie die Sklavinnen unter Offizieren und Kämpfern aufgeteilt werden sollten, wer sie also erwerben oder erbeuten durfte. Außerdem befassten sich die Dschihadisten in zweiter Linie auch mit dem erlaubten Zeitpunkt des sexuellen Kontakts mit ihnen. Ob die sexuelle Nötigung an sich und unter ethischen Gesichtspunkten erwünscht sein kann, wurde an keiner Stelle diskutiert. Und leider fehlen weibliche Stimmen unter den Sklavenbiographien, die in der Ära der Anti-Sklaverei-Bewegung Mitte des 19. Jahrhunderts von christlichen Missionaren und Diplomaten dokumentiert wurden, völlig.47 Doch auch wenn ihnen ein gewisser Spielraum zugestanden worden wäre, sich über ihr Schicksal der Versklavung und die erlebte Gewalt zu äußern, so bleibt immer noch zweifelhaft, ob sie diese traumatischen Erfahrungen überhaupt mit fremden und offiziösen Interviewern geteilt hätten. Den Dschihadisten ging es ganz nach der islamischen Rechtsauslegung nicht um das psychische und physische Wohl der Sklavin, sondern um die angebrachte Wartezeit bis zum Geschlechtsverkehr mit ihr. Diese Wartezeit sollte daher nicht die Sklavin vor impulsiven und gewaltsamen Übergriffen schützen. Wer noch in der »Reinheitsperiode«, der so genannten istibra’,48 mit ihr schlafe, begehe in den Worten von Uthman dan Fodio »Sünde und Frevel gegen Gott«.49 Bestreitet der Besitzer aber den Geschlechtsverkehr und kann die Sklavin das Gegenteil nicht stichhaltig beweisen, so gelte hier, dass im Zweifel die Anklage

47 Vgl. etwa Koelle, African Native Literature; James Frederick Schön (Hg.), Magana Hausa. Native Literature or Proverbs, Tales, Fables and Historical Fragments in the Hausa Language, London 1885; Francis De Castelnau, Renseignements sur L’Afrique Centrale et sur une Nation d’Hommes a Queue qui s’y trouverait, Paris 1851. 48 Arabisch ‫االستب راء‬. 49 Vgl. Uthman dan Fodios Text Masa’il muhimma; übersetzt von Aisha Bewley, Handbook on Islam, Granada 2004, S. 101 f. Dan Fodio paraphrasiert hier Al-Maghilis Antworten an den Herrscher Askiya Muhammad aus Timbuktu aus dem 15. Jahrhundert. Siehe dazu das Manuskript von Uthman dan Fodio, Siraj al-ikhwan, Bibliothèque Nationale Paris, Manuscrits Arabes 5528, f. 255−238, hier f. 230b.

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fallen gelassen wird. Außerdem sei laut Uthman dan Fodio ein angeklagter Mann immer dann zu entlasten, wenn die Vorwürfe von »einem jener [weiblichen] Ungeheuer kommt, mit denen der Geschlechtsverkehr nicht üblich ist«; es komme nur dann zur Anklage, wenn es sich um Frauen handle, die »gewöhnlich für das Bett genommen werden, ob sie nun unansehnlich oder Schönheiten seien.«50 Um die Einhaltung dieser Gesetze sicherzustellen, schlugen die Dschihadisten vor, versklavte Frauen zunächst einem Treuhänder zu überreichen, der zuerst das Ende ihrer Menstruation feststellen und sie danach dem eigentlichen und neuen Besitzern übergeben sollte, da während der Monatsblutung der Geschlechtsverkehr nach islamischen Prinzipien generell abgelehnt wurde.­ Uthman dan Fodio fasste aber zusammen, dass es am sichersten sei eine Sklavin noch während ihrer Menstruation zu erhalten und dann selbst bis zum Beginn der neuen »Reinheitsperiode« zu warten.51 Verstöße gegen dieses, die Interessen der Frauen in erster Instanz ignorierende Regelwerk wurden von den Dschihadisten nur selten angesprochen, da man nach außen ein frommes Image pflegte. Von Vergewaltigung ist überhaupt nie die Rede, weil in diesem Diskurs die Einwilligung einer Frau zum Geschlechtsverkehr nicht rechtsrelevant war. Nur der immer wieder publizierte Kanon islamischer Kriegsnormen mit den Verweisen auf die religiös vorgeschriebene Wartezeit zwischen der Versklavung einer Frau und dem Geschlechtsverkehr zeugt davon, dass im eigenen Rechtsverständnis illegitimer Geschlechtsverkehr und im heutigen Verständnis sexuelle Gewalt vorkam. In dschihadistischen Propaganda-Texten wurde immer wieder gemahnt, die istibra’-Wartezeit einzuhalten. Dies ist auch einem um 1812 verfassten Text von Uthman dan Fodio zu entnehmen: »Wenn eine Stadt erobert wurde, tyrannisiert sie nicht. Das ist nicht angemessen für uns. Manche von uns handeln so. […] Wenn ein Krieg es zeitlich erlaubt, werden auch Sklavinnen gemacht. Manche folgen nicht dem Pfad der Scharia. Manche missbrauchen die Sklavinnen leidenschaftlich ohne die Menstruation zu beachten.«52

Als sexuelle Missbrauchsopfer wurden die Sklavinnen nur dann erachtet, wenn eine Schwangerschaft ohne eindeutigen Vater riskiert wurde oder ihr Besitzer noch nicht festgelegt war. Ihr Wunsch oder Wille war keine relevante Größe in diesem Normengefüge und wurde – weil dies allgemein bekannt war – von Sklavinnen öffentlich wahrscheinlich kaum geäußert. Sogar Anklagen gegen die Missachtung der Wartezeit wurden sicherlich nur von wenigen Konkubinen erhoben, weil dafür ein Beweis zu erbringen war. Dadurch wurden Vergewaltigungen und sexuelle Ausbeutung tabuisiert. Nicht immer wurden die Sklavinnen verschleppt. Oft übernahmen Krieger mit ihnen gleich das ganze Haus und 50 Vgl. die Edition von Ulrich Rebstock (Hg.), Lampe der Brüder (Sirag al-ihwan) von Utman b. Fudi, Walldorf 1985, S. 107. 51 Ebd., S. 108. 52 Dieser Text wurde von Uthman dan Fodios Tochter überliefert. Vgl. Boyd/Mack, Collected Works, S. 52, 429.

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das Land ihrer Familie. Eine Chronik des Gelehrten Alhaji Umaru (1858–1934) auf Hausa in arabischer Schrift wurde über den deutschen Kolonialbeamten Gottlob Adolf Krause (1850–1938) nach Europa transportiert. In dieser Chronik werden die Dschihadüberfälle auf die Region Kebbi von 1831 rekapituliert:53 »Die [Dschihadisten] kamen nach Kebbi und wurden Machthaber. Die [ehemals] Machtlosen eroberten jetzt alles und waren dabei nicht vorsichtig. Wenn sie in einem Haus wohnen wollten, banden sie die Zügel [der Pferde] im Hof an.54 Wenn es eine junge Frau gab, schlief der Kämpfer des Sultans in ihrem Zimmer und der Ehemann wurde davongejagt.«55

In dieser Überlieferung eines Nachkommens der Dschihad-Opfer wurde weder die erforderliche Wartezeit berücksichtigt, noch gab es eine formelle Versklavung oder Eheschließung, die auf Dauer angelegt war. Oft war die islamische Warteperiode also eher ein frommer Wunsch der Gelehrten und nicht tatsächliche Kriegspraxis.

7. Zwangsintegration: Über das Täterinnen-Werden Die kriegsgefangenen Frauen tauchen in den Quellen erst dann wieder auf, wenn sie als Ehefrauen und Konkubinen Kinder der Dschihadisten geboren hatten. Sie konnten sogar die Mütter von Offizieren sein, die dann in die dschihadistischen Dynastien aufgenommen wurden. Während ihre Männer gleich umgebracht wurden, galten die Frauen als durch Versklavung und Heirat integrierbar in die eigene Gemeinschaft. Doch weder die Dichter noch die Dichterinnen der Dschihadisten schrieben über diesen Prozess der Eingliederung explizit, obwohl sich doch die Ehefrauen und Konkubinen zwangsläufig kennenlernten. Diese wurden als Kriegsbeute und Nebenfrauen ihrer Männer und Söhne oft in den eigenen Haushalt aufgenommen. Nur fiktive Erzählungen und subtile Andeutungen zeugen allerdings von den Konflikten zwischen den Ehefrauen und Konkubinen oder Nebenfrauen. Nana Asmau (1793–1864), eine Tochter U ­ thman dan Fodios, verurteilte in einem religiösen Text alle nicht islamischen magischen Praktiken. Sie verkündete, alle Magier würden in der Hölle landen, und beschuldigte im Besonderen Frauen der Hexerei gegen ihre Männer und Nebenfrauen: »Frauen, die ihre Männer mit Magie an sich binden, […] und jede Frau, die Magie gegen ihre 53 Die westafrikanische Manuskriptsammlung von Krause wurde während der deutschen Teilung in der DDR aufbewahrt, galt unter Afrikanisten als verschollen und wurde deshalb nie historisch untersucht. Heute wird sie in der Preußischen Staatsbibliothek Berlin archiviert. 54 Dieser Bereich durfte üblicherweise nicht von Tieren betreten werden. 55 Transkription: »Fillani suna shiga Kabi, suna alfarma ba mai-iko shi chi babban yau ne, sai su ba maichin da kulawa. Sai su son safka gida, su gina turki bisa dabi. In akoi amarya, dan sarki shi kwana dakinta a kori maigidan.« Preußische Staatsbibliothek Berlin, Krause Nachlass, Ms. 844, Text 29, f. 44.

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Rivalinnen anwendet«,56 hätten Strafen im Jenseits zu fürchten. Offenbar unterstellte man diesen Frauen als Fremde im eigenen Haushalt wirkungsvolle und verbotene Praktiken, durch die Ehemänner und Ehefrauen Schaden nehmen könnten. Oft wurden die Söhne der Konkubinen wider islamischer Rechtsnorm als illegitime Erben von den Hauptfrauen verhöhnt. Auch die Weigerung von Sklavinnen, mit dem Besitzer zu schlafen, erweist sich in fiktiven Geschichten und überlieferten Mythen stets als hoffnungslos, weil nur die Zeugung gemeinsamer Kinder eine gewisse soziale Absicherung gewährte. In einer Version der Schlangentöter-Legende über den muslimisch geprägten Bayajidda wird dies beispielsweise ausgedrückt. Als fremder Eindringling erobert Bayajidda eine Stadt und verlangt, die bis dahin herrschende Königin zu heiraten. Dabei verweist die zur Heirat gezwungene Herrscherin zunächst auf ihre traditionelle sexuelle Abstinenz. Als Bayajidda aber droht stattdessen mit anderen Frauen eine neue Dynastie zu errichten, willigt die royale Konkubine schließlich doch ein: »Sie nahm allen Schmuck von ihrem Kopf und legte ihn zur Seite. Dann öffnete sie ihre Haare und rieb sie mit Indigo ein und sagte zu ihrem Mann: ›Heute schlafe ich mit dir.‹«57 Erzählungen wie diese suggerierten den Konkubinen drastisch, dass sie den sexuellen Kontakt eventuell hinauszögern könnten, ihnen letztlich aber keine andere Möglichkeit zur Integration in die dschihadistische Gemeinschaft und Familie blieb. Weil diese Einsicht all­gemeiner Konsens war, war physische Gewalt wahrscheinlich meist gar nicht vonnöten, um die Konkubinen zum Geschlechtsakt zu zwingen. Die sozial institutionalisierte Versklavung sah für Frauen einer bestimmten Altersgruppe nur dieses Schicksal vor, das wahrscheinlich viele der ungewissen und oft tödlichen Verschleppung durch die Sahara vorzogen. Der führende Dschihadist Uthman dan Fodio selbst besaß nur eine offizielle Konkubine, weil auch sein Vorbild, der Prophet Muhammad, nur eine Konkubine hatte. Dessen christliche Sklavin wurde in den arabischen Quellen Maryam Al-Qibtiyya (dt. »die Koptin Maria«) genannt und wurde vermutlich 628 aus Ägypten auf die arabische Halbinsel nach Medina verschleppt. Angeblich hatte sich in ihrer Heimat ein koptischer Anführer der Islamisierung widersetzt und dem diplomatischen Schreiben an die Muslime als »Geschenke« christliche Sklavinnen beigegeben. Eine der Frauen schenkte der Prophet einem Freund und Maryam behielt er als Konkubine bei sich in Medina. Dort kam es zu einer Auseinandersetzung zwischen Muhammad und seinen Ehefrauen über sie, deren Resultat schließlich sogar in den Koran Eingang fand. Die Ehefrau Hafsa, die Muhammad als 20-jährige und verzweifelte Kriegswitwe geheiratet hatte, 56 Transkription: »Masu damre miji su ƙara da kwarce. Hakanan mace wadda ta tara ƙishi. An yi horonta babu kyau ta barshi. Hakanan mace mai fa kwarcen kiyushi.« Vgl. School of Oriental and African Studies (im Folgenden SOAS) Archive, Jean Boyd PP MS 36, A70−A72, S. 55. 57 Übersetzt aus dem Hausa nach einer Edition von Frank Edgar (Hg.), Litafo na Tatsuni­yoyi na Hausa 1, Belfast 1911, S. 229.

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konnte als einzige unter den Ehefrauen lesen und schreiben. Als Hafsa ihren Mann und dessen Konkubine Maryam angeblich beim Geschlechtsverkehr antraf, verbündete sie sich mit den anderen Gattinnen gegen Muhammad. Dieser versprach, nicht mehr mit Maryam zu schlafen, wurde aber gemäß der Überlieferung später von Gott für diesen Eid getadelt, weil Sex mit einer Sklavin doch qua göttlichem Recht erlaubt war. Folgendes verkündete daher Gott laut Koran dem Propheten, als sich dieser – ausgesperrt von seinen Ehefrauen – in einen Obstgarten zurückgezogen hatte:58 »Prophet! Warum erklärst du denn im Bestreben, deine Gattinnen zufriedenzustel­ len, für verboten, was Gott dir erlaubt hat? Aber Gott ist barmherzig und bereit zu vergeben. Gott hat für euch angeordnet, dass ihr solche Eide annulliert. Gott ist euer Schutzherr. Er ist der Allwissende und Allweise. Und als der Prophet einer seiner Gattinnen [Hafsa] etwas unter dem Siegel der Verschwiegenheit anvertraute. Als sie es dann weitererzählte und Gott ihn darüber aufklärte, gab er es teils bekannt, teils ließ er es auf sich beruhen. Und als er es ihr dann mitteilte, sagte sie: ›Wer hat dir das kundgetan?‹ Er sagte: ›Er, der Allwissende und Allkundige.‹ […] Wenn er [Muhammad] sich von euch [Ehefrauen] scheidet, wird sein Herr ihm vielleicht an eurer Stelle bessere Gattinnen geben; Musliminnen, die gläubig sind, gottergeben, reuig, gehorsam, fromm, asketisch – Geschiedene und Jungfrauen.«59

Im Jahr 630 kam Maryams Sohn Ibrahim auf die Welt und einige Quellen wollen bezeugen, dass der Prophet die umm al-walad daher freiließ.60 Ob nun befreit oder gefangen  – Maryam blieb seine Konkubine und wurde nie eine offizielle Ehefrau. Lediglich ein eigenes Haus fern der Ehefrauen wurde ihr und ihrem Sohn Ibrahim zugestanden. Ebenfalls ist ungeklärt, ob sie bis zu ihrem Tod 637 – also fünf Jahre nach dem Tod ihres Mannes – zum Islam konvertierte. Und obwohl viele muslimische Theologen bestreiten, dass die oben genannte Sure überhaupt in Zusammenhang mit Maryam steht,61 so haben zumindest die Dschihadisten von Sokoto diese Koranstelle entsprechend ausgelegt.62 Maryam Al-Qibtiyya steht dementsprechend für die Legitimität von Sexsklavinnen im Islam dschihadistischer Prägung, angeordnet durch Gott selbst und durchgesetzt durch den Propheten Muhammad gegen die Einwände seiner Ehefrauen. 58 Vgl. Barbara Freyer Stowasser, Wives of the Prophet, in: Jane Dammen McAuliffe (Hg.), Encyclopaedia of the Quran, Bd. 5, Leiden 2006, S. 513. 59 Koran 66,1−5. Hier wurde auf folgende arabische Ausgabe zurückgegriffen: Muhammad Kāmil Daher (Hg.), The Holy Qur’an. Arabic Text. Pronunciation in Latin Characters. Meanings in English, Beirut 1998, S. 803 f. 60 Siehe dazu etwa John L. Esposito (Hg.), The Oxford Dictionary of Islam, Oxford 2003, S. 194. 61 In manchen Fußnoten in Koran-Editionen wird etwa behauptet, der Prophet wurde lediglich beim Honigessen erwischt. Vgl. dazu Mohammad M. Khatib (Hg.), The Bounteous Koran. A Translation of Meaning and Commentary, London 1984, S. 745. 62 Sie folgten der Auslegung von Al-Tabari (839−923), der die Sure 66 auf einen Streit um die Konkubine Maryam zurückführte.

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Auch deshalb nannte der Sokoto-Dschihadist Uthman dan Fodio seine Konkubine in Anlehnung an den Propheten Maryam. Welchen Namen die Konkubine vor ihrer Versklavung in den frühen Dschihad-Kriegen Sokotos getragen hatte, ist nicht überliefert. Noch vor ihrer Gefangenschaft soll sie zwei Kinder geboren haben, die nach ihrer Verschleppung wahrscheinlich nicht mehr bei ihr lebten. Von Sklavinnen, die in und durch die Sahara verschleppt wurden, weiß man, dass sie üblicherweise von ihren Kindern getrennt wurden. Der britische Forschungsreisende George Francis Lyon (1795–1832) traf im Haus eines Händlers in Murzuk (Libyen) eine Sklavin aus dem Dschihad-Gebiet an. Sie hatte mit ihrem Ehemann und einem Säugling zusammengelebt, als sie auf ihrem Weide­ land gefangen genommen und an Sklavenhändler verkauft wurde. Laut Lyons Bericht weinte sie aus Sorge darüber, ob und wer nun ihr Baby versorgt und stillt.63 Doch die meisten Forschungsreisenden dieser Zeit interessierten sich nicht für das Schicksal dieser Frauen. Auch diese junge Mutter wurde nur interviewt, weil der Forscher mit ihrer Hilfe Vokabellisten westafrikanischer Sprachen vervollständigen wollte. Die zweifache Mutter Maryam geriet vermutlich 1808 in Kriegsgefangenschaft. 1810 wurde die gemeinsame Tochter von ihr und ihrem Besitzer ­Uthman dan Fodio geboren, die nach ihr auch Maryam benannt wurde. Zu diesem Zeitpunkt war Uthman dan Fodio 56 Jahre alt, mit vier Frauen verheiratet und hatte bereits zahlreiche Scheidungen und Todesfälle früherer Ehefrauen erlebt. M ­ aryams erster Sohn von Uthman wurde dann wie Maryam Al-Qibtiyyas Sohn »Ibrahim« genannt. Daher wurde sie wie schon die Konkubine des Propheten zur umm Ibrahim (»Mutter von Ibrahim«). Neben Maryam hatte sie drei weitere Töchter (Amina, Hajara und Khadija) sowie neben Ibrahim noch zwei Söhne (Ibrahim Dasuki und Isa).64 Ihr letztes Kind Isa brachte sie ca. 1817, kurz nach dem Tod des Kindsvaters, zur Welt, dem schon früh eine militärische Karriere gelang.65 Die Konkubine Maryam wurde zeitlebens auf den Status als Unfreie reduziert. Durch ihre Mutterschaft konnte sie aber immerhin zur umm al-walad aufsteigen, also zur unfreien Mutter freier Kinder. Doch schon ihre Kinder waren genealogisch in die Familie des Besitzers integriert. Sie waren frei und sogar Teil der dschihadistischen Elite. Männliche Sklaven hingegen wurden den ­»Makel« der Unfreiheit nur in Ausnahmefällen los. Nur höchst selten gelang ihnen der soziale Aufstieg aufgrund von Freilassung durch den Besitzer. So gut wie nie wurden sie und ihre Nachkommen als quasi biologischer Teil der Familie aufgenommen. Die Tochter der Sokoto-Konkubine, die jüngere Maryam, erlebte 63 George Francis Lyon, A Narrative of Travels in Northern Africa in the Years 1818−1819 and 1820, London 1821, S. 135. 64 Jean Boyd, A Preliminary Outline Account of the Life of Maryam, Daughter of Shehu dan Fodio, in: SOAS Archive, Jean Boyd PP MS 36, WW6/10a, S. 1–11, hier S. 1. 65 Mit etwa zwanzig Jahren regierte Isa bereits die Festung Kware bis er dort um 1872 starb. Vgl. John O. Hunwick, (Hg.), The Writings of Central Sudanic Africa, Leiden 1995, S. 172.

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auch heiratspolitisch keinerlei Diskriminierung. Sie heiratete im Alter von etwa 15 Jahren einen angesehenen Gelehrten und hatte zwei Kinder mit ihm. Den Konkubinennamen »Maryam« gab sie wiederum an ihre erstgeborene Tochter weiter. Nach dem frühen Tod ihres ersten Mannes heiratete Maryam die Jüngere mit 20 sogar den Emir von Kano – einen der mächtigsten Herrscher innerhalb der Dschihad-Staaten. Witwen wurden selten als erste Frau gewählt und so war auch sie nicht die erste Ehefrau des Emirs. Als dieser schließlich 1846 starb, widmete sie sich gemeinsam mit ihrer Halbschwester Nana Asmau dem Studium des Islams und der Ausbildung anderer Frauen in Sokoto. Einen Statthalter hatte sie in Kano nicht hinterlassen, denn ihr einziger Sohn aus zweiter Ehe starb schon als Kind. Allerdings heiratete ihr Bruder Isa eine Tochter ihres verstorbenen (zweiten) Mannes.66 Die zum zweiten Mal verwitwete Maryam begleitete die junge Braut von Kano nach Sokoto und blieb dann bis zu ihrem Tod als über 70-Jährige in den 1880er Jahren in ihrer ursprünglichen Heimatregion. Ihre eigene Tochter aus erster Ehe konnte sie sogar an den Sultan Atiku verheiraten. In ihrem langen Leben verfasste sie verschiedene Texte zu islamischen Themen und über den glorreichen Verlauf des Dschihads ihrer Söhne und Ehemänner.67 Sie wurde Teil  der Gemeinschaft der Täter und Täterinnen und produzierte selbst jene Narrative, die die Versklavung ihrer Mutter als Konkubine und die Gewalt an ihrer Herkunftsgesellschaft der »Ungläubigen« rechtfertigten.

8. Cheerleader 68 für den Dschihad Viele Ehefrauen und Töchter der Dschihadisten brachten sich sehr aktiv als Schriftstellerinnen und Lehrerinnen in die kriegerischen Abläufe ein. Es ist besonders den nigerianischen HistorikerInnen Jean Boyd und Isaac A. Ogunbiyi zu verdanken, dass deren Schriften unter Einfluss der neu entstehenden Frauenforschung in den 1980er Jahren zusammengetragen und erschlossen wurden.69 Eine Studie über Nana Asmau ist mit »One Woman’s Jihad«70 betitelt, um auf ihren Beitrag zum Dschihad hinzuweisen. Allerdings verwiesen die Autorinnen 66 Boyd, Life of Maryam, S. 2. 67 Hunwick, Writings, S. 175 f. 68 Vgl. zur Verwendung des Begriffs cheerleading für Frauen, die Männer aktiv zur Gewalt ermutigen, Cilja Harders, Krieg und Frieden. Feministische Positionen, in: Ruth Becker/ Beate Kortendiek (Hg.), Handbuch der Frauen- und Geschlechterforschung. Theorie, Methoden, Empirie, Wiesbaden 32010, S. 532–537, hier S. 534. 69 Beide forschten hauptsächlich über Nana Asmau. Vgl. dazu Boyd/Mack, Collected Works; Isaac A. Ogunbiyi (Hg.), The Arabic Writings of Nana Asmā. Daughter of Shehu Uthman Dan Fodio, […] 1993. Boyd recherchierte auch zu anderen Dschihadistinnen, deren Schriften sich im umfangreichen Nachlass der Historikerin in London befinden (SOAS , Jean Boyd PP). 70 Jean Boyd/Beverly B. Mack, One Woman’s Jihad. Nana Asmau, Scholar and Scribe, Bloomington 2000.

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Boyd und Mack damit nur auf die Teilhabe der Frauen am so genannten »Großen Dschihad«, der im Islam als innerer und spiritueller Kampf für den Glauben verstanden wird. Nana Asmau und andere Frauen waren besonders als Lehrerinnen für andere Frauen aktiv. Sie kopierten und übersetzten außerdem zahlreiche Texte der Dschihadisten vom Arabischen in westafrikanische Sprachen. Sie waren aber gerade nicht am »Kleinen Dschihad«, der physischen Gewalt gegen Feinde, beteiligt.71 Der idealen Frauenrolle entsprechend, sollten die Dschihadistinnen sich im Haus und innerhalb der Familie aufhalten und dieses nur bei dringender Notwendigkeit verlassen. Die Dschihadistinnen waren auch bei der ersten großen Flucht dabei, während der sich die islamischen Reformer mitsamt ihren Anhängern vom Territorium des Herrschers des Staates Gobir (Südniger) zurückzogen und damit die ersten Kriegshandlungen provozierten. Sie reisten zudem häufig mit ihren Männern zu den provisorischen Militärcamps und waren so unmittelbar an der Vor- und Nachbereitung der Gewalt beteiligt. Ihre Lebenswelt bestand zu einem großen Teil aus der Beobachtung der Kriege aus der Peripherie und aus Kriegserzählungen der Kämpfer. Daher wurden einige dieser des Arabischen mächtigen Frauen zu Chronistinnen des Dschihads. Als Cheerleader der Gewalt priesen sie in ihren Kriegsgedichten die mitunter grausamen und demütigenden Handlungen ihrer Männer und Söhne an ihren Feinden und verlachten ihre Gegner, deren Leichenreste von Aasfressern in Stücke gerissen wurden. Nana Asmau, die Tochter des ersten Dschihad-Führers Uthman dan Fodio, ermahnte die Krieger sich an das Vorbild des Propheten zu halten: »Schaut auf den tapfersten aller Krieger, schaut auf den unübertrefflichen Mut von Muhammad.«72 Auf Details der Gewalt beriefen sie sich, anders als ihre männlichen Dichterkollegen, nicht. Wahrscheinlich kannten sie diese ohnehin nur aus zweiter Hand. Mit schauerlicher Akribie widmeten sie sich hingegen den Szenen, die sich nach einem Kampf auf den Schlachtfeldern zutrugen. Die Körper der getöteten Männer – in ihren Dichtungen natürlich nur die Leichen der Feinde – würden von Aasfressern zerstückelt und von Hyänen und Geiern »das Fleisch und das Gehirn herausgerissen und verspeist.«73 Nana Asmau rekapituliert über eine Schlacht von 1836 etwa: »Die Geier und die Hyänen sagten sich gegenseitig: ›Wem gehört dieses Fleisch?‹ Und sie antworteten sich: ›Es gehört euch. Heute müssen wir uns nicht darum streiten.‹«74 Auch Nana Asmaus Halbschwester Maryam, also die Tochter der gleichnamigen Sklavin, verfasste Gedichte auf Hausa. Unter anderem äußerte sie sich dabei 71 Vgl. dazu etwa Tyan, Djihad. Siehe außerdem Douglas E. Streusand, What Does Jihad Mean?, in: Middle East Quarterly 4 (1997), H. 3, S. 9–17. Im Englischen wird Dschihad in »greater« und »lesser jihad« unterteilt. 72 Transkription: »Hakana ga zarumci zama duka zarumi, bai kai ga zaruncin fiyayye­ Ahmada.« SOAS Archive, Jean Boyd PP MS 36, A70−A72, S. 193. 73 Übersetzt aus dem Fulfulde in arabischer Schrift. Vgl. SOAS Archive, Jean Boyd PP MS 36, A70−A72, Bd. 2, S. 138. 74 Ebd., S. 136.

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über die Eigenschaften eines geeigneten Imams: Dieser musste ein erwachsener Mann sein, dessen Mutter zwar Sklavin sein konnte, dessen Vater jedoch auf keinen Fall ein Sklave (bawa) sein durfte. Auch er selbst sollte weder Sklave noch Eunuch (daddakake)  sein.75 Dies betonte die Tochter einer Sklavin wohl deshalb, um widerspruchslos zu beweisen, dass sie über die mütterliche Linie den Sklavenstatus nicht geerbt hatte. Maryam übernahm dschihadistische Normen und verlachte die feindlichen »Lämmer«, die von den dschihadistischen »Löwen« gerissen wurden. Die Gegner hätten eine Erniedrigung erfahren, indem sie Schmuck, Kleidung, Töpfe, Pferde und Kamele als Beute zurücklassen mussten. Ironischerweise macht die Dichterin hier ausgerechnet die Feinde aus ­Gobir lächerlich, aus deren Gebiet ihre Mutter wahrscheinlich stammte. M ­ aryam pries die erfolgreichen Kriegszüge ihres Vaters Uthman und betete: »Möge Gott unsere Truppen über alle Nicht-Araber siegen lassen – wo immer sie auch sein mögen.«76 Die Konkubinentochter weist hier explizit auf ihre angeblich arabische Herkunft hin. Und tatsächlich betonten die Dschihadisten von Sokoto stets, dass ihr Clan im Gegensatz zu den Gegnern über die väterliche Linie aus Arabien stamme, ja dass die Clan-Mitglieder letztlich sogar Nachkommen des Propheten seien.77 Maryam behauptete, ihre Abstammung verlaufe über ihren berühmten Vater Uthman dan Fodio, und nicht etwa mütterlicherseits über die Sklavin aus Gobir. Genealogie war nur patrilinear zu verstehen. Und tatsächlich waren Maryam und ihr Bruder Isa gegenüber den Halbgeschwistern aus ehelichen Verbindungen nicht nachweislich benachteiligt. Durch die Islamisierung sollten ethnische Unterschiede zwischen Gesellschaften nivelliert werden. Eine ethnisch ähnliche Herkunft der Geschlechtspartnerinnen war daher nicht nötig. Die Zwangsintegration der Konkubinen diente der ethnischen Homogenisierung einer zu errichtenden islamischen Gesellschaft: der Umma. Man war offensichtlich besonders bemüht, die Töchter der Sklavinnen zu integrieren, die sich daher wie Maryam zu Cheerleadern der dschihadistischen Kämpfer entwickelten. Niemals widmeten sie sich schriftstellerisch dem Schicksal der versklavten Frauen oder sogar ihrer Mütter. Lediglich unter den Beutegütern erwähnten sie diese hin und wieder kurz. Sie schrieben aber lange Elegien für die verstorbenen Väter und Männer und besuchten die Grabstätten dieser Märtyrer des Dschihads. Als Frauen der Elite waren sie nicht etwa für die materielle Versorgung der Soldaten zuständig, sondern für deren intellektuelle Ermutigung. Sie motivierten, provozierten und heroisierten 75 Ebd., WW17, Textbook 5, S. 54. 76 Edition in Junaidu, Sakkwato Legacy, S. 285. 77 Vgl. dazu etwa Abdullah dan Fodio, Asl al-fulatiyin, Archiv: Institut de Recherche en Sciences Humaines Niamey (Niger), Nr. 11. Eine Analyse dieser dschihadistischen Herkunftstheorien findet sich in Stephanie Zehnle, Unter weißer Flagge. Religiös-militärische Migration im Dschihad von Sokoto (Westafrika), 1804−1837, in: Christoph Rass (Hg.), Krieg, Militär und Mobilität, Paderborn 2016, S. 91–110. Siehe außerdem ausführlicher Dies., A Geography of Jihad. West African Concepts of Space and Jihadist Warfare in­ Sokoto (ca. 1800–1850), Universität Kassel 2015, bes. Kapitel IV.1.

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die Dschihad-Krieger. Die Gewalt der Kämpfe erfuhren sie erst dann, wenn verwundete und tote Männerkörper zurückgebracht wurden. Und sie lebten mit den im Krieg versklavten Frauen und Kindern zusammen, ohne je auf den Alltag mit ehemaligen Feinden und Opfern des Dschihads zu verweisen.

9. Kriegerinnen und Kannibalinnen Die freien Dschihadistinnen und die jungen Konkubinen sollten der Gefahr exogener Gewalt nicht ausgesetzt werden. Sie sollten sich vom Schlachtfeld und wenn möglich überhaupt von den Augen der Öffentlichkeit fernhalten. Was es zu schützen galt, waren hauptsächlich ihre Reproduktionsfähigkeiten, weshalb sich besonders der Status von Konkubinen nach der Menopause drastisch verschlechtern konnte. Wenn sie durch gemeinsame Nachkommen mit einem freien Dschihadisten nicht das nötige soziale Prestige erworben hatten, konnten sie im mittleren Alter zur physischen Arbeit eingesetzt werden. Unter Umständen war nun sogar ihr Einsatz an einem Kriegsschauplatz möglich, worüber der britische Afrikareisende Hugh Clapperton in den 1820er Jahren berichtete. Er hatte sich während seiner Reise an einem Kampf der Dschihadisten beteiligt, deren Gast er immer wieder war, und traf eine »alte« und »besonders mutige« Sklavin an, die die Kämpfer mit Trinkwasser versorgte und sich um Verwundete kümmerte. Sie sei früher bereits Konkubine im Nachbarland Zamfara gewesen und kam im Dschihad als Kriegsbeute nach Sokoto: »She was mounted on a long-backed bright bay horse, with a scraggy tail, crop-eared, and the mane as if the rats had eaten part of it; and he was not in high condition. She rode a-straddle [»Männersitz«]; had on a conical straw dish-cover for a hat, or to shade her face from the sun, a short dirty white bedgown, a pair of dirty white loose and wide trowsers, a pair of Houssa boots, which are wide, and came up over the knee, fastened with a string round the waist. She had also a whip and spurs.«78

Diese Sklavin trug offenbar Männerkleidung bzw. Reiterausrüstung (vgl. Abbildung 3) und konnte daher am Ort der Gewalt agieren. Ihr Aufgabenfeld schien bereits institutionalisiert zu sein, da Clapperton notierte: »At her saddle-bow hung about half a dozen gourds, filled with water, and a brass basin to drink out of; and with this she supplied the wounded and the thirsty. I certainly was much obliged to her, for she twice gave me a basin of water. The heat and dust made thirst almost intolerable. Numbers went into the shade as they got tired, and also to drink at the river.«79 78 Clapperton, Second Expedition, S. 188. 79 Ebd. Ehemalige Konkubinen arbeiteten auch als Kurierbotinnen und Gesandte für Herrscher. Clapperton traf eine Gesandte, die zwischen einem lokalen Herrscher und dessen Wesir Nachrichten überbrachte. Der Reisende nannte sie »Yargoorma« und beschrieb sie als »kluge und alte Sklavin«, ebd., S. 249.

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Abb. 3: Lederne Reiterstiefel aus der Hausa-Region (um 1900), Völkerkundliches Museum Witzenhausen, Foto: Jan Grebenstein (2015).

Sie übernahm damit keineswegs eine typisch ›weibliche‹ Rolle, wie man ausgehend von Sanitäterinnen in der europäischen Kriegsgeschichte meinen könnte. Vielmehr erfüllte sie eine geradezu klassische Aufgabe männlicher Sklaven im Dschihad, die für den Transport von Waffen und Beute sowie die Ernährung der Kämpfer zuständig waren. Sie brach vielleicht mit ihrer Geschlechterrolle, nicht aber mit der sozialen Klasse der Sklaven, der sie immer noch angehörte. Wegen ihres Alters und weil sie wahrscheinlich keine Kinder von einem Dschihadisten hatte, verlor sie ihre Stellung als sexuelle Dienstleisterin und/oder Mutter und damit auch ihre Weiblichkeit im Sinne dschihadistischer Rollen­ modelle. Anders als beispielsweise Kindersoldaten, waren Konkubinen aber primär für den Geschlechtsverkehr und für die Fortpflanzung der Dschihadisten zuständig. Nur wenn diese Aufgabe nicht (oder nicht mehr) erfüllt werden konnte, führten sie andere Hilfsdienste im Militär aus.

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Lediglich in Bezug auf einen Angriff der »Ungläubigen« gegen eine befestigte Stadt, würdigten die Dschihadisten, wie mutig die eigenen Frauen die Feinde gemeinsam mit ihnen abwehrten und töteten.80 In einem solchen Falle von ›Selbstverteidigung‹, wenn also der Krieg die häusliche Sphäre direkt bedrohte, war die Ausübung von Gewalt durch Dschihadistinnen durchaus erwünscht. Als die Sokoto-Krieger in den 1830er Jahren aber verstärkt in den südlichen Grenz­ gebieten Raubzüge unternahmen, trafen sie auf Dörfer und Gesellschaften, deren Frauen weit aktiver an Kämpfen beteiligt waren, als die Dschihadisten dies gewohnt waren. Soldatinnen waren ihnen suspekt und galten als Reminiszenzen vorislamischer Gesellschaften. Der zweite Sokoto-Sultan Muhammad Bello betonte voller Verwunderung, dass in den südlichen Grenzregionen lange vor dem Dschihad sogar kriegerische Königinnen an der Macht waren: »Diese sieben Regionen erfuhren mancherlei ungewöhnliche und seltsame Vorkomm­ nisse. Es wird gesagt, dass die erste, die hier regierte, Aminatu war, eine Tochter des Emirs von Zaria. Sie unternahm Kriegszüge in diesen Ländern.«81

Sie soll auf den Beutezügen bis zum Meer (Atlantik) gekommen sein. Der Dschihadist Bello empfand eine Frau auf Kriegszügen als besonders exotisch. Auch einfache Dschihad-Soldaten äußerten Erstaunen über kämpfende Frauen. Doch bei bloßer Verblüffung sollte es nicht bleiben, denn aufgrund dieses Verhaltens wurde diesen Frauen und ihren Gemeinschaften seitens der Dschihadisten ihr Menschsein abgesprochen. Die gleichberechtigte Beteiligung von Frauen am Kampf bedeutete für die Soldaten ein Normverstoß von solchem Ausmaß, dass diese Frauen und deren Familien als Tier-Mensch-Mischwesen betrachtet wurden. Oft war die Guerilla-Kriegsführung dieser Gesellschaften sogar recht erfolgreich und in ihrer Verwirrung ob dieser siegreichen weiblichen Aktivität im Krieg machten die Dschihad-Kämpfer diese Gesellschaften als Ganzes in ihren Erzählungen zu animalischen Kannibalen, deren Frauen nur darauf aus gewesen seien, das Fleisch der Gegner zuzubereiten. Dem Missionar Sigismund Wilhelm Koelle (1820–1902) wurde dies von einem ehemaligen Dschihad-­ Soldaten berichtet, der durch den atlantischen Sklavenhandel verschleppt worden war: »Als der Angriff anfing, begannen die Niam-Niam [Kannibalen] die Soldaten des Scheichs [der Dschihadisten] zu töten, und dann, wenn sie einen getötet hatten, schnitten sie sein Fleisch ab ehe er überhaupt gestorben war: Wenn sie einen Mann fingen, schnitten ihm manche einen Arm ab, der Mann immer noch stehend, und andere schnitten ein Bein ab und packten es in ihre Tasche, und andere schnitten 80 Übersetzt nach einer Edition der Chronik Taqyid akhbar jamat al-shaykh alladhina biKanu von Muhammad Zangi Ibn Salih’s (1806−1869). Vgl. dazu Ibrahim Ado-Kurawa (Hg.), The Jihad in Kano, Kano 1989, S. 28. 81 Übersetzt aus dem Arabischen. Muhammad Bello, Infaq al-maysur, Northwestern University, Africana Collection, Falke 2641, f. 26.

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den Kopf ab und steckten diesen in ihre Tasche: Wenn sie einen erwischten, schnitten sie ihn sofort wegen des Fleisches auf, und sowohl Frauen als auch Mädchen sammelten die Innereien in ihren Körben. Genauso schlachteten sie ein Pferd bevor es wirklich gestorben war.«82

Diese Kannibalen trügen behaarte Schwänze am Rücken und spitze Raubtierzähne. Für die Gewaltpraktiken der Dschihadisten hatten diese Konzepte von Spezies und Geschlecht schließlich drastische Folgen – und zwar im Besonderen gegenüber den potentiellen Sklavinnen. Die Männer sollten gemäß islamischer Kriegsführung ohnehin umgebracht werden, die Frauen aber wurden nicht als solche anerkannt und sollten daher ebenfalls getötet werden. Die dschihadistischen Opferkategorien »Männer« und »Frauen« wurden bezüglich der Gewalt um jene der »Kannibalen« erweitert. Dies bedeutete eine radikale Abkehr von der bisherigen dschihadistischen Kriegsführung, die auf der Versklavung von Konkubinen beruht hatte. Ungläubige Frauen galten als potentielle Sklavinnen und konnten somit in der nachfolgenden Generation genealogisch islamisiert werden, doch für die angeblichen »Bestien« galt diese Option nicht. In den wenigen erhaltenen soldatischen Erlebnisberichten über Kriegsexpeditionen in die so genannten südlichen »Kannibalenregionen« wird daher mit Schrecken erwähnt, dass man angewiesen wurde ganze Dorfbevölkerungen inklusive der Frauen zu töten. Ein ehemaliger Kämpfer einer solchen Expedition erklärte einem französischen Diplomaten: »Der Chef der Niam-Niam bat um Erbarmen, aber der Sultan von Kano ließ alle umbringen, die wir gefangen genommen hatten, weil sie Schwänze hatten und er annahm, dass niemand solche Sklaven kaufen würde.«83

Dieser Quelle nach zu urteilen richteten sich Praktiken der Versklavung von Frauen im Sokoto-Dschihad offensichtlich stark nach ökonomischen Maßstäben von Angebot und Nachfrage, und nicht primär nach dem islamischen Recht. Frauen und Kinder erzielten auf Sklavenmärkten die höchsten Preise, doch wurden die Bewohnerinnen der südlichen Grenzgebiete dafür nicht in Betracht gezogen. Zumindest lehnte man diese Frauen als Beute innerhalb der politischen Elite ab. Lediglich privat operierende Sklavenhändler, die direkt mit dem transsaharischen Sklavenhandel vernetzt waren, kauften diese »halb82 Koelle, African Native Literature, S.  239 f. Koelle trat 1845 in die Church Missionary­ Society (CMS) ein und reiste 1847 als Missionar nach Sierra Leone. Dort sammelte er Geschichten und Vokabellisten verschiedener afrikanischer Sprachen durch Gespräche mit befreiten Sklaven. Siehe Ders. (Hg.), Polyglotta Africana, London 1854 sowie P. E. H. Hair, The Enslavement of Koelle’s Informants, in: The Journal of African History 6 (1965), H. 6, S. 193–203. 83 De Castelnau, Renseignements, S.  15. De Castelnau traf seinen Informanten in Bahia (Brasilien), wohin dieser mittlerweile aus Westafrika über den Atlantik als Sklave verschleppt wurde. Der französische Reisende befragte mehrere ehemalige Dschihad-Kämp­ fer, die über ähnliche Erlebnisse berichteten.

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nackten jugendlichen Sklavinnen aus den Bergen, die als Konkubinen sehr geschätzt und zu hohen Preisen verkauft wurden.«84 In diesem Kontext entstanden im Großraum des transsaharischen Sklavenhandels trotz der körperlichen und sozialen Unterwerfung der Konkubinen Schauergeschichten darüber, dass schwarze Sklavinnen, die in arabischen Haushalten für die Versorgung der Kinder ihres Besitzers und den Haushalt zuständig waren, diese fremden Kinder heimlich töten und essen würden.85 Schon Ende des 18.  Jahrhunderts wurde dem britischen Orientreisenden William George Browne (1768–1813) im Sudan berichtet, weiter südlich kämpften die wilden »Gnum Gnum« (Niam-Niam) mit vergifteten Pfeilen, für deren Herstellung allein die Frauen dieser Gruppen zuständig seien.86 Imaginierte weibliche Gewalt war wieder einmal die hinterlistige Gewalt: Sie würden wehrlose Kinder oder Gegner durch vergiftete Pfeile töten und somit Kriegspraktiken ausüben, die einen Bruch mit Normen der Dschihad-Kriegscodices darstellten. Weibliche Verletzungsmacht war nicht der ehrliche und offene Kampf, sondern die physisch-magische Herstellung von tödlichen Giften. Solche Gerüchte über Kämpferinnen beeinflussten auch die Ökonomie des Sklavenmarktes, weil Sklavinnen aus den angeblichen »Kannibalengebieten« gefürchtet und somit nur schwer als Konkubinen und Haussklavinnen verkäuflich waren. So wie es aus speziezistischen Gründen verboten war diese Frauen als Konkubinen zu nehmen, wurden umgekehrt auch Geschichten darüber erzählt, dass ihre tiergleichen Männer wiederum ›richtige‹ Menschenfrauen zu ihren Sexsklavinnen machten. In überlieferten Geschichten wurde erklärt, Allah habe einst einige Menschen aus der Trockensavanne des Sahel in die tropischen Wälder Westafrikas verbannt, wo ihnen Schwänze und ein langes Fell wuchsen. Die männlichen Kannibalen, die oft auch als Affen bezeichnet wurden, würden regelmäßig muslimische Männer töten und deren Frauen und Töchter als Konkubinen in ihren Waldhäusern einsperren und immer wieder vergewaltigen.87 Einerseits diente diese fiktive Geschichte in vielerlei Hinsicht als Gegenkonzept zum eigenen Normsystem der Dschihadisten: Menschliche Frauen sollten nur Konkubinen von menschlichen Männern und nicht von kannibalischen »Tieren« werden. Andererseits drücken solche Erzählungen auch die Ängste und Zweifel der dschihadistischen Gemeinschaften aus, die sich selbst Sexsklavinnen auf Raubzügen erbeuteten und deren Ehefrauen  – ob aus eigener traditioneller Norm oder direkter Rache heraus  – das gleiche Schicksal drohen 84 Clapperton, Narrative of Travels, S. 338. 85 Vgl. dazu die umfangreiche Studie von Paola Ivanov, Cannibals, Warriors, Conquerors, and Colonizers. Western Perceptions and Azande Historiography, in: History in Africa 29 (2002), S. 89–217. 86 William George Browne, Travels in Africa, Egypt, and Syria, from the Year 1792 to 1798, London 1799, S. 310. 87 Rudolf Prietze, Pflanze und Tier im Volksmunde des mittleren Sudan, in: Zeitschrift für Ethnologie 43 (1911), H. 6, S. 865–914, hier S. 904.

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könnte. Mit dieser Erzählung wurde das eigene Gewalthandeln aber auch als Verteidigungskampf zum Schutz der eigenen Frauen umgedeutet: »Und einer der zentralen Legitimationstitel männlicher Kriegs- und Tötungskompetenz bestand von jeher in dem Anspruch, Frauen vor der Gewalt des Krieges zu bewahren. Dieser Topos stellte freilich nur die halbe Wahrheit dar, denn der Schutz der Frauen des Gegners war damit selten gemeint. Diese wurden im Gegenteil über Jahrhunderte und bis zur Gegenwart zur Kriegsbeute der Siegerpartei.«88

Wie leblose Beute wurden die weiblichen Opfer in die eigene (sexuelle) Ökonomie integriert. Der »Schutz« dieser Frauen bedeutete in diesem Sinn die kontrollierte sexuelle Ausbeutung durch nur einen Besitzer oder Ehemann. Trotz dieser genealogisch-patrilinearen Eingliederungsmechanismen blieb aber offensichtlich eine Angst davor, dass diese Frauen sich an ihren Tätern durch ihre magischen Fähigkeiten rächen könnten, die ihnen qua ihrer kulturellen Andersartigkeit zugeschrieben wurden. Der Geschlechterdualismus findet sich sehr deutlich in den dschihadistischen Opfer-Täter-Konstruktionen unter gewalthaften und kriegerischen Rahmenbedingungen wieder: »Frauen sind als Täterinnen nach wie vor undenkbar.«89 Weibliche Täterschaft galt für sie – wie auch in den Gewalt-Diskursen Europas – »als besonders skandalös, exzessiv und anormal.«90 Normale Weiblichkeit und Gewalttäterschaft schließen sich in diesem Denksystem aus. Sobald die Frauen zweifelsfrei nicht nur als bloße Gehilfin oder Mittäterin agierten, wurden sie als animalische und triebgesteuerte Exzesstäterinnen beschrieben. Im Zuge des Dschihads von Sokoto wurden daher auch Gesellschaften ausgemacht, denen eine so drastische Alterität unterstellt wurde, dass Sexualität mit ihnen als verwerflicher Akt der Sodomie galt. Konkubinen sollten zwar anders sein, aber nicht zu sehr, denn man wollte sie durch ihren Nachwuchs innerhalb einer Generation zum Teil der Gemeinschaft der Täter machen. Diese Nutzbarmachung ihrer Körper war ihr religiöser Beitrag und ihr religiöses Opfer für den Dschihad. Mangels einer Alternative erwartete man von den Frauen eben diese devote Akzeptanz ihres Schicksals. Aber es ist durchaus wahrschein­ lich, dass die Dschihad-Kämpfer mitunter auf Frauen trafen, die diese passive Opferrolle nicht annahmen, vielleicht sogar gezielt die Rolle eines Mensch-­Tier-­ Misch­wesens einnahmen, um nicht verschleppt zu werden. Manche Eth­nologen nehmen beispielsweise an, dass verschiedene afrikanische Gesellschaften zum Schutz vor muslimischen Sklavenhändlern Möglichkeiten ausschöpften, um die Mädchen im Sinne eines islamischen Schönheitsideals unattraktiv zu machen. 88 Klaus Latzel u. a., Soldatinnen in der Geschichte. Weibliche Verletzungsmacht als Herausforderung, in: Dies. (Hg.), Soldatinnen. Gewalt und Geschlecht im Krieg vom Mittelalter bis heute, Paderborn 2011, S. 11–49, hier S. 16. 89 Andrea Nachtigall/Anette Dietrich, (Mit-)Täterinnen. Weiblichkeitsdiskurse im Kontext von Gewalt, Krieg und Nation, in: Ariadne 47 (2005), S. 6–13, hier S. 7. 90 Ebd., S. 9.

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Darunter könnte etwa der so genannte Lippenteller der Mursi (Äthiopien) fallen.91 Vielleicht kann man dazu auch die Präsenz von Frauen am Kampfort angreifender Dschihadisten rechnen, da diese durch die Entnahme von Gliedmaßen und Organen der getöteten Feinde die überlebenden Dschihadisten wirkungsvoll vom Sklavenraub abbringen konnten, dabei jedoch selbst Überlebenschancen als Konkubinen einbüßten und lieber die eigene Tötung riskierten. Schließlich wurden sie tatsächlich als religiös-sexuelle Opfer des Dschihads abgelehnt, indem – mit oder ohne ihr Zutun – eine Grenze zweier Spezies konstruiert worden war.

10. Fazit Dschihadisten der Vergangenheit und Gegenwart eint ein ganz bestimmter Täter-­Opfer-Diskurs, indem sie sich selbst stets als Opfer anti-islamischer Taten sehen, die sie als Märtyrer rächen müssten. Der sich selbst als so genannter Schahid (wörtlich »Zeuge«) opfernde Dschihadist deutet Täterschaft und Opferschaft religiös. Das Opfer der Frauen ist in dieser Auffassung die Zurverfügungstellung des Körpers zur Motivation, Ablenkung und Fortpflanzung der männlichen Dschihadisten. Im westafrikanischen Sokoto sowie im IS -Staat fanden und finden diese erzwungenen Opferungen der als Ungläubige definierten Frauen in institutionalisierter Konkubinenschaft statt. Die Untersuchung des historischen Falles konnte durch differenzierte Analyse einer dschihadistischen Staatsgründung zeigen, dass auch der IS -Staat nicht nur unüberlegte und grausame Gewalt walten lässt, wenn er gegnerische Frauen versklavt und zur sexuellen Ausbeutung freigibt. Vielmehr ist das Ziel, diese Opfer von Gewalt schließlich ideologisch und körperlich zu Unterstützerinnen der Tätergemeinschaft zu machen. Es wird einem durchdachten – wenn auch erschreckenden – Plan zum Aufbau einer sich vergrößernden Dschihadgesellschaft gefolgt.

91 Diese »Sklaverei-These« ist durchaus umstritten. Siehe etwa den Widerspruch von Shauna LaTosky, Reflections on the Lip-Plates of Mursi Women as a Source of Stigma and SelfEsteem, in: Ivo Strecker/Jean Lydall (Hg.), The Perils of Face. Essays on Cultural Contact, Respect and Self-Esteem in Southern Ethiopia, Berlin 2006, S. 382–397, hier S. 386.

Philipp Batelka

»Kroaten und dergleichen Gesindel« Grenzkrieger als Gewalttäter im Österreichischen Erbfolgekrieg 1. Einleitung In der kriegerischen Auseinandersetzung darum, wer den Ende Oktober 1740 verstorbenen Kaiser Karl VI. beerben würde, standen sich Bayern, Frankreich und Preußen auf der einen und Habsburg-Lothringen auf der anderen Seite gegenüber. Nachdem die Bayern im Kriegsjahr 1741 bis nach Niederösterreich1 vorgestoßen waren, war es den Habsburgern nicht nur gelungen, effektiven Widerstand zu organisieren, sondern ihrerseits in die Offensive zu gehen: Unter Führung des Feldmarschalls Ludwig Andreas Graf von Khevenhüller besetzten die Österreicher weite Teile Bayerns und erreichten im Februar 1742 München, das sie schließlich eroberten. Von dort aus wandten sich die Österreicher nach Böhmen und besetzten Ende des Jahres Prag. Das Kriegsjahr 1743 sollte sich für Bayern als katastrophal erweisen. Im Mai wurden gleich mehrere Städte – darunter Dingolfing, Landau und Deggendorf – geplündert und in Brand gesteckt. Einheiten von der österreichischen Militärgrenze, einem Verteidigungsgürtel, der sich von der Adria bis nach Siebenbürgen erstreckte, zeigten sich in diesem Zusammenhang als besonders gewalttätig. Versuche, dieses Gewalthandeln zu erklären, speisen sich bislang aus zwei Perspektiven: In der älteren Literatur herrscht die Ansicht vor, die Grenzer hätten aufgrund ihrer zivilisatorischen Rückständigkeit zu extremen Gewaltexzessen geneigt. Jüngere Publikationen betonen hingegen den ständigen kriegerischen Kontakt mit den Osmanen, der bei den Grenzern zu einer auf Mitteleuropäer fremd wirkenden Gewaltkultur geführt habe. Beide Standpunkte halte ich für höchst kritikwürdig. Im folgenden Aufsatz soll das analytische Blickfeld über die Geschichtswissenschaft hinaus erweitert und Theorien und Methoden der Sozialwissenschaften in die Gewaltanalyse integriert werden, um informierte Aussagen über die inneren Mechanismen von Gruppengewalt anhand des Fallbeispiels der Kroaten und Panduren2 im 18. Jahrhundert treffen zu können.

1 Österreich unter der Enns. 2 Sowohl »Kroaten« wie auch »Panduren« sind hier als vorherrschende Quellenbegriffe zu verstehen. Unter diesen Begriffen wurden etliche Ethnien mit unterschiedlichen konfes­ sionellen Zugehörigkeiten, vielen sprachlichen Eigenheiten und zum Teil deutlich diffe­ renten kulturellen Prägungen zusammengefasst.

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2. Historiographie Obwohl ihre gewaltsamen Aktionen besonders im Österreichischen Erbfolgekrieg3 und im Siebenjährigen Krieg (1756‒1763) breit rezipiert4 wurden, blieb der Stand der Forschung5 in Bezug auf die Kriegsvölker von der Militärgrenze und ihre Einsätze auf verschiedenen europäischen Kriegsschauplätzen bisher übersichtlich. Spätestens ab 1805 setzte die regionalgeschichtliche Verarbeitung der Ereignisse durch historisch interessierte Laien, Archivare, Geistliche und Historiker ein.6 In diesen Arbeiten spielen Kriegserfahrungen zwar eine große Rolle, dennoch halten sich die Autoren mit konkreten Gewaltdarstellungen zurück. Ihren Schwerpunkt legen die meisten Arbeiten allerdings auf Franz Freiherr von der Trenck7 und sein Pandurencorps. Trenck stand als Obrist einem Regiment vor, das er aus Bewohnern der Militärgrenze selbst zusammengestellt hatte. Mit einer Stärke zwischen 1.000 und 5.000 Mann war es aber nur eine Einheit unter vielen aus dem Gebiet der Militärgrenze. Zehntausende Soldaten aus Ungarn, Kroatien, Slawonien und Dalmatien kämpften auf habsburgischer Seite.8 Dennoch fand die Person des Pandurenobristen in der frühen Publizistik den größ3 Kriegsgeschichtliche Abteilung des k.k. Kriegsarchivs (Hg.), Oesterreichischer ErbfolgeKrieg 1740–1748. Nach den Feld-Acten und anderen authentischen Quellen bearbeitet in der kriegsgeschichtlichen Abtheilung des K. und K. Kriegs-Archivs, Bd. 1, Teilbd. 1, Wien 1896. 4 Siehe Gottlob Naumann (Hg.), Sammlung ungedruckter Nachrichten, so die Geschichte der Feldzüge der Preußen von 1740. bis 1779. erläutern, 5 Bde., Dresden 1782–1785; vgl. auch Janine Rischke, Kriegsbericht oder Gaukeley? Militär und Gesellschaft in Berliner Zeitungsartikeln in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, in: Militär und Gesellschaft in der Frühen Neuzeit 14 (2010), H. 2, S. 318–347, hier S. 344. 5 Siehe dazu Martin Rink, Vom »Partheygänger« zum Partisanen. Die Konzeption des klei­ nen Krieges in Preußen 1740–1813, Frankfurt a. M. 1999 oder Michael Hochedlinger, Austria’s Wars of Emergence, 1683–1797. War, State, and Society in the Habsburg Monarchy, London 2003. 6 Vgl. Anton Hartl, Oesterreichische Räuberey in Baiern im Jahre 1742, [o. O.] 1805; Joseph von Mußinan, Befestigung und Belagerung der bayerischen Hauptstadt Straubing in den Jahren 1633, 1704, 1742, Straubing 1816; Wolfgang Joseph Eberl, Ereigniße aus den Annalen der Stadt Dingolfing, Landshut 1840; Joseph Rudolf Schuegraf, Das französische Lager bei Hengersberg 1742. Aus dem Tagebuche des Herrn Abtes Marian Pusch von Niederalteich gezogen und neu bearbeitet, in: Verhandlungen des Historischen Vereins für Nieder­ bayern 5 (1856), H.  1, S.  4–48; Joseph Rudolph Schuegraf, Das österreich’sche Lager bei Hengersberg 1742. Aus dem Tagebuche des Herrn Abtes Marian Pusch von Niederaltaich, in: Verhandlungen des Historischen Vereins für Niederbayern 7 (1861), H. 1, S. 3–116. 7 Julian Pallua-Gall, Trenck, Franz Freiherr von der, in: Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 38, Leipzig 1894, S. 568 f. 8 Genauere Angaben bietet Hans Bleckwenn, Der Kaiserin Hayduken, Husaren und Grenzer – Bild und Wesen 1740–1769, in: Joachim Niemeyer (Hg.), Zum Militärwesen des Ancien Régime. Drei grundlegende Aufsätze (Neugedruckt zu Ehren des Verfassers anläßlich seines 75. Geburtstags am 15.12.1987), Osnabrück 1987, S. 23–42, hier S. 31.

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ten Widerhall. Was die Versuche einer systematischen Aufarbeitung anbelangt, erweist sich die Trenck-Historiographie auf der einen und die Einordnung der Einsätze der Grenzer in Mitteleuropa auf der anderen Seite als ein in sich widersprüchliches Stück Wissenschaftsgeschichte. Bereits 1745 – und somit noch zu Trencks Lebzeiten – erschien die erste Biographie »Merckwürdiges Leben und Thaten des Welt-berühmten Herrn Francisci Frey-Herrn von der Trenck, Ihro Königl. Majestät in Ungarn und Böhmen etc. etc. würcklicher Cammer-Herr, wie auch Obrister über ein Corpo Banduren und Sclavonischer Husaren etc.«.9 Angeblich lag dieser Biographie ein Tagebuch Trencks zugrunde. Zweifel am Wahrheitsgehalt des Buches hielten sich in der Folge in Grenzen, im Gegenteil – es beeinflusst den Diskurs über Taten und Untaten der Panduren bis heute, was insofern verwunderlich erscheint als spätestens seit 1975 bekannt sein dürfte, dass es sich bei dieser Trenck-Biographie, die zudem in späteren Auflagen als Autobiographie10 vermarktet wurde, um eine Fälschung handelt. In seinem Aufsatz »Die gefälschten Memoiren des Pandurenobristen Franz von der Trenck. Kritische Untersuchung einer historischen Quellenschrift«11 hat sich der Münchner Historiker Alfred Kosean-Mokrau dieser Schrift in großer Ausführlichkeit angenommen. Das Fazit: Zum einen lasse sich der größte Teil  der darin beschriebenen Exzesse und Gewalttätigkeiten quellenmäßig nicht nachweisen, zum anderen weise das der Biographie angeblich zugrunde liegende Tagebuch Trencks derart große zeitliche und inhaltliche Lücken auf, dass Trenck selbst kaum als Autor dafür infrage kommt.12 Tatsächlich bezieht sich ein nicht unerheblicher Teil älterer sowie neuerer Arbeiten13 auf Angaben aus der ersten Lebensbeschreibung Trencks. Die Schwierigkeit an der Sache besteht nun darin, wie man mit der Frage umgeht, ob es sich bei der Biographie um eine Fälschung handelt oder nicht. Bejaht man diese, so ist ein guter Teil der bisher veröffentlichten Literatur in einigen wichtigen Aus9 Merckwürdiges Leben und Thaten des Welt=berühmten Herrn Francisci Frey=Herrn von der Trenck, Ihro Königl. Majestät in Ungarn und Böhmen etc. etc. würcklicher Cammer=Herr, wie auch Obrister über ein Corpo Banduren und Sclavonischer Husaren etc., Frankfurt 1745. 10 Bereits in der Ausgabe des Jahres 1747: Merckwürdiges Leben und Thaten Des Welt­ berühmten Herrn Francisci Frey-Herrn von Trenck, Ihro Römisch-Kayserl. und Königl. Majestät in Ungarn und Böhmen etc. etc. würcklichen Obristen über ein Corpo Banduren und Sclavonischer Husaren etc. Von ihm selbst bis zu Ende des Jahres 1745. fortgesetzet, Leipzig 1747. 11 Alfred Kosean-Mokrau, Die gefälschten Memoiren des Pandurenobristen Franz von der Trenck, in: Jahrbuch des Instituts für deutsche Geschichte 4 (1975), S. 13–51. 12 Ebd., S. 41 f. 13 Zum Beispiel (Hptm.) Alexich, Das slawonisch-syrmische Aufgebot. Die Trenckschen Panduren, in: Mitteilungen des k.u.k. Kriegsarchivs, NF., Jg. 1891, S. 63 ff.; Ferdo Sišić, Franjo barun Trenk i njegovi panduri [Franz Baron Trenk und seine Panduren], Zagreb 1900; Martin Bertling, Die Kroaten und Panduren in der Mitte des XVIII . Jahrhunderts und ihre Verwendung in den Friderizianischen Kriegen, Berlin 1912; Johannes Kunisch, Feldmarschall Loudon. Jugend und erste Kriegsdienste, Wien 1972.

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sagen diskreditiert. Diese Möglichkeit macht die Beschäftigung mit dem Forschungsstand auf der einen Seite so interessant, auf der anderen Seite nötigt sie zur Kritik. Stellt man wiederum Kosean-Mokraus Zweifel an der Authentizität der Trenck-Biographie in Abrede, so eröffnet sich ein breiter Fundus an gedruck­ ter Literatur. Letztere Auffassung scheint sich durchzusetzen: Im Vorwort der im April 2015 erschienenen kommentierten kroatischen Übersetzung der Ausgabe von 1745 beurteilt der Zagreber Historiker Alexander Buczynski die Biographie folgendermaßen: »Authentizität und Genauigkeit der Trenck-Biographie wurden niemals ernsthaft infrage gestellt. Einer der wenigen Historiker, der dies getan hat, war der bayerische Historiker Alfred Kosean-Mokrau. Jedoch ist er die sprichwörtliche Ausnahme geblieben, welche die Regel bestätigt [Übers. P. B.].«14

Ganz unabhängig davon, welchen Standpunkt man hinsichtlich dieser Frage einnimmt, eine systematisch-vergleichende Untersuchung des Gewalthandelns der kaiserlichen Kriegsvölker von der Militärgrenze steht noch aus. Bedarf die Einordnung dieser fremden Gewalt daher einer grundlegenden Revision?

3. Kleiner Krieg Dem Historiker Johannes Kunisch zufolge beherrschten die Kroaten ihr Handwerk »von Natur aus«.15 Dieses bestand in Informationsbeschaffung, Feindaufklärung und Bewegung hinter feindlichen Linien, kurz, der Kleine Krieg zählte zu ihren Hauptaufgaben: »Diese Grenzer, wie sie allgemein genannt wurden, fochten aus einem gleichsam angeborenen Instinkt heraus und es bedurfte deshalb keiner schriftlichen Instruktionen und Regelbücher, wie sie bei ihren Gegnern in ansehnlicher Zahl gebräuchlich waren, um sie für den Vorposten- und Patrouillendienst verwenden zu können.«16

Hinzu kommt, dass den Kroaten, Panduren, Sklavoniern, Likanern, Heyducken, Raitzen und Grenzern, wie sie je nach Quelle genannt wurden, spätestens seit dem Dreißigjährigen Krieg (1618‒1648) ein gewisser Ruf vorauseilte –17 sie galten als räuberische Bande brutaler Krieger, die sich aller möglichen Gewaltakte

14 »Autentičnost i točnost Trenckove biografije nikad nisu ozbiljno dovedene u pitanje. Jedan od rijetkih povjesničara koji je to učinio bio je bavarski povjesničar Alfred KoseanMokrau, no on je samo ostao poslovična iznimka koja potvrđuje pravilo.« Alexander Buczynski (Hg.), Memoari baruna Franje Trencka [Die Memoiren des Barons Franz von der Trenck], Slavonski Brod 2015, S. 9. 15 Johannes Kunisch, Der Kleine Krieg. Studien zum Militärwesen des Absolutismus, Wiesbaden 1973, S. 26. 16 Ebd. 17 Siehe hierzu den Aufsatz von Michael Weise in diesem Band, S. 127–148.

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schuldig machten. Während des Österreichischen Erbfolgekrieges (1740‒1748) wurden sie gleichsam zum Sinnbild des Gewalttäters.18 In der Forschung wurde das Verhalten der leichten Truppen, zu denen in der österreichischen Armee des 18. Jahrhunderts vor allem die Grenzer gehörten, mit den inneren Strukturen des Kleinen Krieges erklärt: Kunisch identifiziert zunächst »das wahllose und eilige Aushebungsverfahren«,19 dann die »unbesehene Einreihung von Deserteuren«20 unter ihre Reihen und schließlich den geringen Sold und die damit verbundene Aussicht auf Beute21 als Hauptgründe für das Verhalten der leichten Truppen und dem daraus folgenden schlechten Ruf, der ihnen in der Erinnerungskultur bis heute anhaftet. Auch Martin Rink sieht in Logistik, taktischem Einsatz und Gewaltexzessen einen inneren Zusammenhang,22 daneben schreibt er »ein[en] große[n] Teil  der Verantwortung«23 für das grausame Handeln der Grenzer charismatischen Führungspersonen, wie etwa Franz von der Trenck zu.

4. Gewaltdiskurse oder Gewaltphänomene? Viele der Zeitgenossen sahen einen engen Zusammenhang zwischen der Fremdheit der Grenzer und ihrem Gewalthandeln. Schnell wurde den Grenzern das Stigma der Grausamkeit angeheftet.24 Ihr Einsatz im Kleinen Krieg drängte sie geradezu in die Rolle von Außenseitern – Erving Goffman hat bereits 1963 gezeigt, dass aus Stigmatisierungen nicht selten Subkulturen entstehen: »Those who come together into a sub-community or milieu may be called social deviants, and their corporate life a deviant community.«25 Angehörige einer solchen ›Abweichler-Gemeinschaft‹ zeichnen sich Goffman zufolge oft genug durch »open disrespect for their betters« aus; »they lack piety; they represent failures […]«.26 Diese Zeilen Goffmans hätten geradezu für die Grenzer geschrieben sein kön18 Dies zeigt sich besonders im überlieferten Liedgut, worin die Kroaten und Panduren abwechselnd als Mordbrenner, Bauernsterb und als diebisches Raubgesindel bezeichnet werden, die selbst vor Frauen und Kindern nicht Halt machten. Vgl. Christoph Thoma, Auf den Spuren der Panduren von Waldmünchen nach Passau. Im Gefolge des Freiherrn Franz von der Trenck, in: Charivari 21 (1995), S. 38 oder Willibald Ernst, Historische Personen und Ereignisse in Kinderliedern, Reimen und Abzählversen, in: Ostbairische Grenzmarken. Passauer Jahrbuch für Geschichte, Kunst und Volkskunde XLIV (2002), S. 187–210. 19 Kunisch, Der Kleine Krieg, S. 36. 20 Ebd., S. 37. 21 Ebd., S. 38 f. 22 Rink, Vom »Partheygänger« zum Partisanen, S. 18. 23 Ebd., S. 21. 24 Vgl. hierzu Kurt Sonntag, Trenck der Pandur und die Brandschatzung Bayerns, München 1990, S. 15. 25 Erving Goffman, Stigma. Notes on the Management of Spoiled Identity, Englewood Cliffs, NJ 1963, S. 143. 26 Ebd., S. 144.

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nen. In einem Schreiben aus Kopreinitz27 vom 19. Mai 1734 ermahnt der dortige Generalamtsverwalter Karl Graf Galler die Varaždiner Grenzer zum Gehorsam: »Währenddessen erscheint es uns verwunderlich, dass selbst wenn eure Offiziere nicht zugegen sind, ihr willens seid, neben eurer Pflicht ihnen alle pflichtschuldige Ehrerbietung zu erweisen. Dass Ihr hierauf fremde Offiziere, die nicht von eurer Nation sind, anzunehmen und kennen zu lernen keinerlei Wille habt […] [Übers. P. B.].«28

Noch 1780 charakterisierte Joseph Friedrich von Sachsen-Hildburghausen die Grenzer »durch lange unterdrückung und bevortheilung aber zu argwohn und widerspenstigkeit gebildet, der heiligsten unverletzlichsten treue und ergebenheit fähig und doch durch vorsetzlich greaitzte und schwach bestrittene versuche ihrer kraft zum aufbrausenden vngestüme, zum aufruhr gewohnt«.29 Für die Grenzer lassen sich gleich mehrere Gründe für abweichendes Verhalten identifizieren. Erstens waren sie durch ihre Einsätze im Kleinen Krieg gewisser­ maßen Soldaten zweiter Klasse (»members of the lower class«30); Irreguläre, die vom Kriegsrecht31 ausgenommen waren. Zweitens wurden sie nicht selten als ethnisch homogene Gruppe dargestellt, was sie im Heer oftmals zu einer »ethnic and racial minority« machte, die eine »common history and culture«32 verband und woraus Beobachter und nachfolgende Generationen – wie bereits gezeigt – deren Gewalthandeln ableiteten. Goffman räumt zwar ein, dass Abweichler, die außerhalb ihres Milieus agieren, – eben wie die Grenzer in Bayern – nicht unter Gesichtspunkten des Stigma-Managements analysiert werden können, da sie »not particularly concerned about their social acceptance«33 seien. Dennoch erscheint die Vermutung, die Grenzer hätten außerhalb ihres soziokulturellen 27 Das heutige Koprivnica in Slawonien war zwischen 1731 und 1765 Sitz des Varaždiner Generalkommandos. 28 »Med tem toga, nami se čudno vidi, da vaši oficiri pri vas niesu, ako prem vi polag vaše dužnosti vse dužno poštenje njima izkazati volju imate. Da vi pako stranjske oficire, koteri od vašega naroda niesu, prijeti i spoznati nikakovu volju niemate […].« Radoslav Lopašić (Hg.), Acta historiam confinii militaris croatici illustrantia. Monumenta spectantia historiam Slavorum meridionalium, CXC . U Koprivnici 1734., maja 19., General grof Karlo Galler poručuje Varaždinskim Krajišnikom da su dužni slušati strane častnike u Krajini postavljene, pa da ne dozvoljuje Krajiškim častnikom, da zbog toga kakove tegobe podpisuju [Anschauliche Akten der Geschichte der kroatischen Militärgrenze. Denkmale der Geschichte der südlichen Slaven, CXC , In Kopreinitz am 19. Mai 1734, General Graf Karl Galler unterrichtet die Varaždiner Grenzer davon, dass sie verpflichtet sind, den in der Militärgrenze stationierten ausländischen Offizieren zu gehorchen, und dass er jenen Offizieren nicht erlaube, in diesem Zusammenhang Beschwerden zu unterschreiben], Zagreb 1889, S. 344. 29 Ebd., CXCVI. oko g. 1780., S. 382. 30 Goffman, Stigma, S. 145. 31 Karl-Heinz Ziegler, Art. »Kriegsrecht«, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte (HRG), Bd. III, Berlin 2016, Sp. 261–265. 32 Goffman, Stigma, S. 145. 33 Ebd.

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Milieus, also von gewalthemmenden Faktoren der Heimatgesellschaft befreit, ein extremes Gewalthandeln entwickelt, durchaus plausibel. Karl VII. notierte in seinem Tagebuch, die Österreicher seien – wenn auch mit Hilfe von außen – in die Lage versetzt worden: »[…] Krieg zu führen und die barbarischsten und am wenigsten bekannten Nationen aufmarschieren zu lassen, derer man in Ungarn hätte habhaft werden können. Sie setzten Diebe auf freien Fuß, die als Panduren rekrutiert wurden und ganze Corps bilden. Mit diesem Gesindel wurde Bayern überschwemmt, das Land auf den Kopf gestellt und ruiniert auf eine Art, die bisher unter Christenmenschen unbekannt war. Es gab wohl kaum eine Grausamkeit, die sie nicht verübt hätten, sie zu beschreiben reichten ganze Bände nicht aus [Übers. P. B.].«34

Gleich zwei Superlative bemüht Karl VII. für die Beschreibung der Panduren: »les plus barbares« und »les moins connus«35 – je unbekannter, desto barbarischer. Dadurch, dass kriminelles »Ungeziefer« zum Einsatz gekommen sei, erkläre sich von selbst und quasi im Voraus, dass Bayern nicht nur auf den Kopf gestellt, sondern in Karls VII. eigenen Worten, auf eine Weise ruiniert worden sei, die  – zumindest bisher  – unter Christen unerhört war. Dieses Labeling36 von außen bestimmte schnell den zeitgenössischen Diskurs, wie auch eine Eintragung in der Chronik des Landshuter Ursulinenklosters zeigt: »Solche wilde Leute, dergleichen in Bayern niemals gesehen worden, als Panduren, Raitzen, Tollpatschen, Warasdiner, Kroaten und dergleichen Gesindel, alle so zerrissen und zerlumpt, daß es ein Grausen war, anzusehen, und man meinte, es hätte sich die Hölle aufgethan, solche Leute heraus zu lassen; sie waren so voll des Ungeziefers und üblen Geruchs, daß die Bürgersleute vermeinten, unmöglich solches ausstehen zu können, dazu war die Menge so groß, daß einige Bürger 40 und mehr in Quartier haben mußten.«37

Die fremden Kriegsvölker stießen bei ihrem Einzug in bayerische Städte auf wenig Gegenliebe. Hier mischten sich verschiedene Wahrnehmungen: Zum einen 34 »[D]e souttenir la guerre et de faire marcher les nations les plus barbares et les moins connus qu’on pouvoit trouver en Hongrie. On y donna la liberté aux voleurs, qui sous le nom de Pandours furent enrollés et composerent des corps entiers. C’est avec cette vermine qu’on inonda la Baviere et que ce païs fut sacagé et ruiné d’une façon inouie parmis les chretiens. Il ni eut point de cruautés qui ne commirent, des volumes entiers ne scauroit suffir pour en faire la description.« Karl Theodor Heigel (Hg.), Das Tagebuch Kaiser Karl’s VII . aus der Zeit des österreichischen Erbfolgekriegs, München 1883, S. 53. 35 Ebd. 36 Sowohl die Identität wie auch das Verhalten von Menschen werden der Labeling-­Theorie zufolge dadurch beeinflusst, wie sie von der Gesellschaft beurteilt werden. Durch soziale Zuschreibungen wird demnach abweichendes Verhalten konstruiert, das der Theorie nach objektiv nicht vorhanden ist. 37 Alois Staudenraus, Das Kloster der Ursuliner-Nonnen in Landshut. Geschichtlich geschildert nach Urkunden und Schriften des Klosterarchivs, in: Der Seelsorger. Eine katholische Zeitschrift (1840), S. 800–817, hier S. 803, Anm. *).

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drangen die von den langen Märschen mitgenommenen Kriegsvölker den Beobachtern als fremd und unzivilisiert ins Bewusstsein, zum anderen wurden sie umgehend zu Gestalten der Hölle dämonisiert. Es handelt sich dabei um Vorstellungen, die in der Publizistik in der Folge immer wieder bemüht wurden und die Grenzer als »[…] abscheulich wüste Leuth, dergleichen das Land noch nie gesehen«38 beschrieben. Es müsse »nothwendig eine andere Höll unter der Erde der Ungarn sein, aus welcher solche fürchterliche Menschen herfürkommen.«39 Werden Fremde zu Geschöpfen der Hölle stilisiert, so wird ihre Fremdheit gewissermaßen essentialisiert, d. h. sie werden zu Fremden von Natur aus. Solch eine in Form von Ausgrenzung erfolgende Affirmation der Fremdheit mag auf der einen Seite der eigenen Selbstvergewisserung als moralisch überlegene Gesellschaft dienen. Auf der anderen Seite kann Ausgrenzung gewaltbegünstigende Folgen haben und zu »konfliktorientierten Subkulturen« führen,40 die »durch große Banden mit komplexer Organisation, Rollendifferenzierung, altersspezifischer und territorialer Gliederung sowie einem eigenen Ehrenkodex gekennzeichnet«41 sind. Auch wenn bei den Grenzern nicht von delinquenten Jungendbanden die Rede sein konnte, so ist eine gewisse Nähe zu solchen ›klassischen‹ Gewaltgemeinschaften42 schwer zu leugnen. Hinzu kommt, dass besonders den Panduren und Trenck nicht nur von Seiten der bayerischen Landbevölkerung, sondern auch aus der österreichischen Generalität Antipathien entgegen schlugen. Deutlich zeigt sich dies im Tagebucheintrag des Abtes von Niederalteich vom 27. August 1742: »Heute kam Baron Trenk hier an, überlieferte mir eine Quittung, worin stand, als hätte ich ihm, weil er so gute Mannszucht hielt, drei Ziegen und zwei Pferde von freien Stücken geschenkt mit der inständigen Bitte, ihm solche zu unterschreiben. Je mehr ich mich weigerte, dieß zu thun, desto dringlicher wiederhollte er seine Bitten; endlich unterschrieb ich sie. Diese Quittung schickte der Feldmarschall der Königin als eine Vertheidigungsschrift für den Baron. Bei der Majestät hob ich damit eine Ehre auf, bei der Generalität aber, die den Trenk verabscheute, eine Unehre.«43 38 Zitiert nach Karl Spengler, Zwischen Versailles und Ismaning. Bayerische Lebensbilder, München 1974, S. 59. 39 Ebd. 40 Siehe Cohen, Albert und James Short, Zur Erforschung delinquenter Subkulturen (1957), abgedruckt in: Fritz Sack/Rene König (Hg.), Kriminalsoziologie, Frankfurt a. M. 1968, S. 372–394, hier S. 378 f. 41 Bernd Dollinger/Jürgen Raithel, Einführung in Theorien abweichenden Verhaltens. Perspektiven, Erklärungen und Interventionen, Weinheim 2006, S. 89. 42 In der Einleitung des Sammelbands Gewaltgemeinschaften stellt Winfried Speitkamp Fragen, die in eine ähnliche Richtung deuten: »Wie bilden sich Gruppen, die von Gewalt leben und sich durch sie definieren? Wie werden die Hierarchien, Rollen, Regeln und Handlungen innerhalb derartiger Gruppen festgelegt?« Ders., Einleitung, in: Ders. (Hg.), Gewaltgemeinschaften. Von der Spätantike bis ins 20.  Jahrhundert, Göttingen 2013, S. 7–13, hier S. 9. 43 Bayerisches Hauptstaatsarchiv München (BayHSt AM), Kriegsarchiv HS 540, Fol. 11 f.

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Die Tatsache, dass Trenck eine Quittung über die Wegnahme von drei Ziegen und zwei Pferden brauchte, um einer Strafe zu entgehen, deutet darauf hin, dass die Akteure des Kleinen Krieges nicht über quasi unbeschränkte Handlungsfreiheit verfügten. Allerdings sind gerade Ausgrenzungsmechanismen in der Sozialforschung immer wieder als gewaltbegünstigende Begleitumstände für die Entstehung von Subkulturen und devianten peer groups identifiziert worden.44 Hinzu kamen Verhaltensweisen, die auf Beobachter durchaus verstörend gewirkt haben mussten: »Wie Soll ich ietz erst beschreiben, die niemahl erhörte, mehr alß Teuflische bosheit einiger Dolpatschen und Croaten, die mehrer einem besti und vich, alß einem Menschen ähnlich Sich aufgefiehrt, indem Sie Sich nit geschichen vor der unschuldigen Jugent, vor dem andern geschlecht, vor mehreren Keuschen augen ganz blos und Muet­ter­nackhent, wie sie erschaffen worden, in denen quartieren herumzulauffen wie die Seu. De quibus plane in specie possent produci plura, nisi abhorreret natura de talium diabolica figura.«45

Hier zeigt sich der Versuch, das Verhalten der Kroaten mit deren Unzivilisiertheit und Wildheit zu erklären. Bleibt die Aussage von Beatus Höckh, Guardian46 des Franziskanerklosters in Dingolfing, unkommentiert stehen, besteht zwar kaum das Risiko, »durch Versuche des Erklärens und Be-Greifens, des Verstehens und der Aneignung, das Fremde hierin letztlich aufzuheben, anzueignen, bzw. in das Eigene/das Bekannte einzuordnen und hierauf zu reduzieren«,47 doch lässt sich so schwerlich eine Verbindung zwischen Fremdheit und daraus resultierendem (Gewalt-)Handeln herstellen. Ebenso wenig lassen sich Aus­ sagen über den Fremdheitsdiskurs selbst treffen. Sieht man die Entstehung dieses Diskurses, der die ›kroatische Soldateska‹ fortan begleitete, als Versuch der Bewältigung von Gewaltakten, die gewissermaßen über das Vorstellungsvermögen der Opfer hinausgingen, so lassen sich die vielen Beschreibungen von sinnloser Barbarei der Grenzer nicht nur als zeitgenössische Übertreibungen sondern als handfeste Hinweise auf die fremde Gewaltkultur der Grenzer lesen, die von manchen Zeitgenossen, seien es Opfer oder Dritte, schreibend verarbeitet wurden.48 44 Siehe Dollinger/Raithel, Einführung in Theorien abweichenden Verhaltens, S. 93. 45 Wovon durchaus mehr Details insonderheit vorgebracht werden könnten, wenn nicht die natürliche Ordnung vor solch teuflischer Gestalt zurück schreckte [Übers. P. B.], in: e Beatus Höckh, Relation oder Beschreibung, was sich beÿ Öestereichischen feindlichen e e e e Einfall umb das Jahr 1742. und 1743 in= und umb Dinglfing hat zuegetragen (Manuskriptensammlung des Historischen Vereins für Niederbayern, Faszikel 4/4), hg. v. Historischer Verein für Niederbayern, Dingolfing 1898, S. 24. 46 Klostervorsteher eines Franziskanerklosters. 47 Andrea Wilden, Konstruktion von Fremdheit. Eine interaktionistisch-konstruktivistische Perspektive, Münster 2013, S. 44. 48 Peter Imbusch, Enthumanisierung als Entlastung. Gesellschaftliche Diskurse über Täter und ihre Verbrechen, in: Journal für Konflikt- und Gewaltforschung 1 (2005), S. 99–122.

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Dass der Westbalkan noch lange nachdem die Grenzer als Kriegsvolk in Bayern, Böhmen, Preußen und Schlesien aktiv waren, als Kontrastfolie und Raum kultureller Rückständigkeit beschrieben wurde, hat die Kulturwissenschaftlerin Mirna Zeman anhand deutschsprachiger Reiseliteratur gezeigt. Zeman zufolge handelte es sich um einen kolonialen Diskurs, der sich über den gesamten Westbalkan erstreckte. Demnach erklärten sich die Autoren des 18. und 19. Jahrhunderts Gewalttaten seitens der Grenzer mit deren kultureller Inferiorität.49 So gewinnbringend derartige Überlegungen sein mögen, Zugang zu den inneren Logiken von Situationen, in denen es zu Gewaltexzessen kam, bieten weder diskursanalytische noch interpretativ-psychologische Lesarten von ›Opferliteratur‹. Dazu bedarf es einer Handlungstheorie, die Gewalttätigkeit als vielschichtiges Phänomen wahrnimmt, das sich nicht auf wenige Faktoren reduzieren lässt. Diese Sichtweise entspricht durchaus dem Fundamentaltheorem der Handlungstheorie nach Talcott Parsons: »The most fundamental theorem of the theory of action seems to me to be that the structure of action consists in institutionalized (in social and cultural systems) and/or internalized (in personalities and organisms) patterns of cultural meaning.«50 Besteht die Struktur von Handlungen tatsächlich aus Mustern, die mit kultureller Bedeutung aufgeladen sind, so müssten analog zum gewalttätigen Handeln kulturelle Muster gefunden werden, die dazu führen, dass sich bestimmte Situationen zu Gewaltsituationen entwickeln. Diese blieben in systematischer Hinsicht in der Forschung bislang vollständig unbeachtet. Den kulturellen Wurzeln für das Gewalthandeln der Grenzer wurde hingegen größere Aufmerksamkeit geschenkt: In der Folge des Österreichischen Erbfolgekrieges hat sich ein regelrechter Diskurs über die Gewaltexzesse der Grenzer-Soldateska entwickelt, der sich im Laufe der Zeit verselbständigte und zunehmend drastischer wurde.51 Spätestens ab der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts änderte sich der Diskurs grundlegend. Dies hat damit zu tun, dass etwa mit Beginn der 1960er Jahre eine stärkere Beschäftigung mit dem Herkunftsraum52 der Grenzer ein49 Mirna Zeman, Reise zu den »Illyriern«. Kroatienstereotype in der deutschsprachigen Reiseliteratur und Statistik (1740–1809), München 2013, S. 26 f., 86 f., 151 f. 50 Talcott Parsons, The Point of View of the Author, in: Max Black (Hg.), The Social Theories of Talcott Parsons. A Critical Examination, Englewood, NJ 1961, S.  311–363, hier S. 342. 51 Bereits 1977 hat sich der kroatische Germanist Zdenko Škreb der mühevollen Aufgabe unterzogen, die deutsche Belletristik vom 16. Jahrhundert bis in die 1950er Jahre nach Erwähnung von Kroaten durchzusehen. Berichte und Beschreibungen ihrer militärischen (Un-)Taten überwiegen deutlich und ziehen sich durch den gesamten betrachteten Zeitraum. Siehe Ders., Name und Gestalt des Kroaten in der deutschen Dichtung, in: Anzeiger für Slavische Philologie IX (1977), H. 2, S. 281–299. 52 Zur Militärgrenze siehe Gunther Rothenberg, The Austrian Military Border in Croatia, 1522–1747, Urbana 1960; Ders., The Military Border in Croatia, 1740–1881. A Study of Imperial Institutions, Chicago 1966; Ernest Bauer, Glanz und Tragik der Kroaten. Ausgewählte Kapitel der kroatischen Kriegsgeschichte, Wien 1969; Stanko Guldescu, The

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setzte. Aus den ständigen Kämpfen zwischen Osmanen und Grenzern seit dem 15.  Jahrhundert leiteten die Autoren verschiedentlich eine der Militärgrenze eigene, andersartige Gewaltkultur53 ab, die ihre Entsprechung in Quellenberich­ ten zeitgenössischer Provenienz hatte: »Ihre, in der Gewöhnung an unaufhörliche, grausam geführte Grenzkämpfe mit den Türken begründete natürliche Wildheit streiften sie [die Grenzer, Anm. P. B.] freilich nicht so rasch ab, als sie das Exercitium leicht erlernten.«54

Die These vom Gewaltimport unterscheidet sich aber in ihrer Stoßrichtung nur insoweit vom älteren Inferioritätsansatz, als nun nicht mehr ein niedriger Entwicklungsstand als Grund für ausschweifende Gewalt gesehen wurde, sondern ein im Kontakt mit den Osmanen angelerntes Verhalten. Obwohl sich argumentieren ließe, es handle sich dabei um die Parsonschen »internalized […] patterns of cultural meaning«55, scheint eine derartige Erklärung von Gewalthandeln einer tiefgehenden Analyse bisher nicht zuträglich gewesen zu sein. Ein Grund dafür liegt möglicherweise darin, dass solche Erklärungen voraussetzen, dass es sich bei den Grenzern um Gewalttäter handelte, die aufgrund ihrer erworbenen Gewaltdisposition zu Gewaltakteuren wurden. Im Fall der Grenzer enthält die Liste der belegten Gewalttaten Erpressung und Entführung, Mord und Totschlag, Raub und Vergewaltigung und somit Handlungen, die sich schwerlich monokausal auf die Gewaltkultur der Militärgrenze reduzieren lassen. Vielmehr bewegen sich die Grenzer im Spannungsfeld von Devianz, Alterität, Gruppendynamik bzw. -identität sowie Situations-56 und Gewaltlogik. Die These vom Import der Gewaltkultur im Gebiet der Militärgrenze, im Grunde eine Sozialisationstheorie, soll dabei keineswegs grundsätzlich in Abrede gestellt werden. Zweifel bestehen hinsichtlich der Reichweite einer solchen Theorie für die Beschreibung von Gewalthandeln im Allgemeinen, und Zweifel bestehen hinsichtlich ihres bisher maßgeblichen Anspruchs auf Gültigkeit als das Handeln der ›Kroaten‹ beeinflussende Konstante. Bestärkt werden diese Zweifel in der vor allem innerhalb der Soziologie geführten Debatte zwischen den ›Innovateuren‹ der Gewaltforschung und ihrem Widerpart, den ›Mainstreamern‹. Stark vereinfacht gesprochen handelt es sich bei den Innovateuren um Gewaltphänomenologen, während die Mainstreamer oftmals als Ursachenforscher disqua-

53 54 55 56

Croatian-Slavonic Kingdom 1526–1792, Den Haag 1970; Nikolaus von Preradovich, Des Kaisers Grenzer. 300 Jahre Türkenabwehr, Wien 1970 oder Winfried Schulze, Die österreichische Militärgrenze. Ein Literatur- und Forschungsbericht, in: Militärgeschichtliche Mitteilungen 9 (1971), S. 187–196. Vgl. Kunisch, Der kleine Krieg, S. 28. Kriegsgeschichtliche Abteilung des k.k. Kriegsarchivs (Hg.), Oesterreichischer ErbfolgeKrieg, Bd. 1, S. 501, Anm. 1. Parsons, Point of View, in: Black, Theories of Talcott Parson, S. 342. Zur Logik der Situation siehe ausführlich Hartmut Esser, Soziologie. Spezielle Grundlagen, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1999, S. 15 ff.

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lifiziert werden. Eine Verengung von Gewalthandeln auf gelerntes Verhalten, führt den Innovateuren zufolge weg vom »Handlungs- und Verlaufsaspekt«57 der Gewalt und hin zu einer Betonung der Gründe für Gewalt. Aufgrund der Quellenlage in Bezug auf die Grenzer scheint ein vermittelnder Standpunkt, wie ihn etwa P ­ eter Imbusch einnimmt,58 für eine möglichst umfassende Analyse ihres Gewalthandelns vielversprechend. Denn so geraten nicht nur die Körperlichkeit physischer Gewalt sondern auch symbolische, kausale und strukturelle Faktoren in den Blick wie auch – soweit die Quellen dies zulassen – Täter und Opfer. Bis auf eine Ausnahme59 verfügen wir im Zusammenhang mit Gewalttaten der Grenzer im 18.  Jahrhundert über keinerlei Täterquellen. Obwohl die Beschreibungen von Opfern und Dritten deutlich überwiegen, ist die Beschäftigung mit den Grenzern in den Kabinettskriegen hauptsächlich Täterforschung geblieben. Dies hat paradoxerweise dazu geführt, dass weder Opfer noch Täter als Akteure in Gewaltsituationen einer angemessenen Analyse unterzogen wurden: »Die Situationsanalyse zielt auf die Untersuchung der typischen Anpassungen der Akteure an die aktuell gegebene äußere Situation angesichts eines jeweils vorliegenden Repertoires an inneren Tendenzen und Zielen des Handelns, die der Akteur vorher kulturell erworben oder biologisch geerbt hat.«60

Für die Grenzer im Österreichischen Erbfolgekrieg ist eine große Zahl an Gewaltsituationen überliefert, die einer systematischen Auswertung harren. Für den Vergleich solcher Situationen ist nicht nur der Verlaufsaspekt von größter Bedeutung, sondern auch ob ähnliche Situationen immer einen gewalttätigen Verlauf nahmen oder aber friedvoll ablaufen konnten. Vor dem Hintergrund der These des Gewaltimports scheint letzteres geradezu undenkbar: Weshalb sollte sich bei kulturell oder biologisch erworbenen Zielen und Tendenzen der Ausgang von ähnlichen Situationen unterscheiden? Darauf könnte man mit Heinrich ­Popitz einwenden, »die Rückführung von Gewalt auf bestimmte auslösende Situationsmerkmale« lasse sich nicht »einfach ableiten aus objektiven Merkmalen der Situation, die der Forscher nur zu registrieren« hätte.61 Folgerichtig spricht P ­ opitz der »Suche nach objektiven Situationsmerkmalen als Auslöser begrenzte Erfolgschancen«62 zu. Ob sich diese These bewahrheitet, kann im Hinblick auf die Grenzer nur ein phänomenologischer Durchgang 57 Peter Imbusch, ›Mainstreamer‹ versus ›Innovateure‹ der Gewaltforschung. Eine kuriose Debatte, in: Wilhelm Heitmeyer/Hans-Georg Soeffner (Hg.), Gewalt. Entwicklungen, Strukturen, Analyseprobleme, Frankfurt a. M. 2004, S. 125–148, hier S. 130. 58 Ebd. 59 Simeon Piščević, Memoari, hg. v. Živan Milisavac, aus dem Russischen übers. v. Svetozar Matić, Novi Sad 1972. 60 Esser, Soziologie, S. 56. 61 Heinrich Popitz, Gewalt, in: Mittelweg 36 (1995), H. 5, S. 19–40, hier S. 22 f. 62 Ebd., S. 23.

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durch möglichst viele einander ähnliche Gewaltsituationen klären – eine Probe, die bisher noch aussteht.63

5. Gewaltsituationen in phänomenologischer Perspektive Die bisherigen Darstellungen der Kriegsaktionen der Grenzer haben stets entweder den Inferioritätsansatz oder die These vom Gewaltimport übernommen oder aber gänzlich auf eine Untersuchung des Gewalthandelns der Grenzer verzichtet. Allerdings lässt sich die Frage, inwieweit mit dem Einsatz der Militärgrenzbevölkerung in Mitteleuropa eine differente Gewaltkultur importiert wurde, erst dann beantworten, wenn geklärt wurde, wie deren Gewalthandeln konkret ausgesehen hat. Während sich die Konzentration auf Mikrodynamiken,64 Logiken, Ordnungen und Grammatiken der Gewalt65 in der Soziologie bereits verschiedentlich bemerkbar gemacht hat,66 haben erst in den letzten sieben Jahren systematische Entwicklungen gezeigt, wie diese Ansätze für die frühneuzeitliche Gewaltforschung nutzbar zu machen sind.67 Die Bestimmung dessen, was Gewalt ausmacht, wie sie am besten zu erforschen ist und ob es sich bei ihr um eine anthropologische Konstante, angelerntes Verhalten handelt oder sich Gewalt aus spezifischen Situationen ergibt, sorgt seit etwa zwanzig Jahren für eine rege Debatte über die Fachgrenzen hinweg.68 Für Zeitgenossen blieb die Frage unstrittig: Die Grenzer waren »diebisches Raubgesindel«. Höckh bietet eine beeindruckende Liste der Gewalttaten der Grenzer: »Wegen der gottlosen und unchristlichen blinderung kan die Trauervolle Zeugschafft geben die ganze umb Dinglfing herumbligente Nachbarschafft […] welche orthe das diebische Raubgesindl, die Croaten, Räzen, pandurn, nit nur allein genzlich auß­ 63 Eine derartige Analyse wird derzeit vom Verfasser erarbeitet. 64 Randall Collins, Violence. A Micro-sociological Theory, Princeton 2008. 65 Herfried Münkler, Grammatik der Gewalt, in: Ronald Hitzler/Jo Reichertz (Hg.), Irritierte Ordnung. Die gesellschaftliche Verarbeitung von Terror, Konstanz 2003, S. 13–29. 66 Georg Elwert, Gewaltmärkte. Beobachtungen zur Zweckrationalität der Gewalt, in: Trutz von Trotha (Hg.), Soziologie der Gewalt, Opladen 1997, S. 86–101. 67 Seit August 2009 die DFG -Forschergruppe »Gewaltgemeinschaften«, die mit Trutz von Trotha einen bedeutenden Vertreter einer Gewaltphänomenologie zu ihren Teilprojektleitern zählte. Nichtsdestoweniger plädierte etwa Francisca S. Loertz noch 2012 für eine historische Gewaltforschung. Dies., Sexualisierte Gewalt 1500–1815. Plädoyer für eine historische Gewaltforschung, Frankfurt a. M. 2012. Verwunderlich hier auch das Urteil von Teresa Koloma Beck und Klaus Schlichte: »Obwohl in vielerlei Hinsicht innovativ und inspirierend, konsolidierte sich das gewaltphänomenologische Projekt nicht im Sinne eines eigenständigen akademischen Forschungsfeldes.« Dies., Theorien der Gewalt zur Einführung, Hamburg 2014, S. 123. 68 Vgl. von Trotha, Soziologie der Gewalt; Zygmunt Bauman, Alte und neue Gewalt, in: Journal für Konflikt- und Gewaltforschung 2 (2000), H. 1, S.  28–42; Jörg Baberowski, Gewalt verstehen, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 5 (2008), H. 1, S. 5–17.

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geblindert, und Ruinieret, sondern auch alle pferd, alleß vich, fourage, hinweggestollen, dan ihre Maisten Thaten bestunden aus Rauben, Stellen, Sengen und Brennen, in welcher gottlosigkeit absonderlich einen Maister gespillet der Obrist Menzl mit seinen flüchtigen Burschen […].«69

Plünderung, Zerstörung, Raub, Diebstahl und Brandstiftung sind nur einige der Taten, die zum Gewaltrepertoire der Grenzer gehörten, Erpressung, Entführung und Vergewaltigung machen das Bild komplett. Die geschilderte Szene spielt im niederbayerischen Dingolfing Anfang 1742. Diese Stadt stellt ein lohnendes Untersuchungsobjekt dar, da sich über Okkupation und Abzug der Österreicher 1742 sowie Belagerung samt anschließender Eroberung 1743 zwei ausführliche Augenzeugenberichte erhalten haben. Beide sind von Geistlichen verfasst worden, die als Franziskanermönche nicht nur Einquartierungen aus nächster Nähe erlebten, sondern auch Zugang zu vielen Gesprächen und Orten hatten, die dem ›Normalbürger‹ verschlossen waren. Zum einen hat Höckh,70 der mit der gesamten anwesenden Generalität des österreichischen Heeres in Kontakt kam, auf 65 handgeschriebenen Seiten ausführlich über den Alltag der Okkupation sowie verschiedene Kriegsereignisse berichtet.71 Antigonus Schaur, ebenfalls ein Franziskaner, hat unabhängig von Höckh seine Erlebnisse im »Diarium Belli Bavarici ab anno 1742 Pro Archivio Conventûs Dinglfingani«72 niedergeschrieben. Schaur unterschrieb sein Tagebuch als F. Antigonus, also als Bruder Antigonus, hatte zu diesem Zeitpunkt die Priesterweihe wohl noch nicht erhalten und bietet demzufolge innerhalb der Ordenshierarchie den Blick von unten. Wenn auch Geistliche nicht vor Übergriffen durch die Grenzer verschont blieben und besonders Klöster für Einquartierungen genutzt wurden, nehmen Höckh und Schaur in ihren Beschreibungen nicht selten die Position Dritter73 ein. Nachdem die Österreicher in der zweiten Januarhälfte Schärding und Plattling besetzt hatten, näherten sie sich Anfang Februar 1742 den Städten Deggendorf und Dingolfing. Man hatte bereits aus Schärding und Plattling Nachricht über das Vorgehen der Österreicher erhalten und wusste daher, dass Geld und Nahrungsmittel eines ihrer ersten Ziele nach dem Einrücken in Städte und Ortschaften waren. Gegenmaßnahmen bestanden in der Regel darin, die Stadtkasse sowie die Salz- und Getreidevorräte zu verstecken: e

69 Höckh, Relation oder Beschreibung, Dingolfing 1898. 70 Zu Höckh oder Höck finden sich in der Literatur kaum nähere Informationen. Von seinem Tagebuch berichtet Joseph Eberl in der Einleitung zur Beschreibung über den feindlichen Einfall im Oesterreichischen Erbfolgekrieg in Dingolfing und Umgebung und über die Einäscherung der Stadt in den Jahren 1742 und 1743, hg. v. Konrad Sixt, Dingolfing 1898, S. 3–6. e 71 Höckh, Relation oder Beschreibung. 72 Frater Antigonus Schaur OFM [= ordo fratrum minorum], Diarium Belli Bavarici ab anno 1742 Pro Archivio Conventûs Dinglfingani [Tagebuch des bayerischen Krieges vom Jahr 1742 für das Archiv des Dingolfinger Konvents](= cgm 5830). 73 Siehe hierzu den Aufsatz von Peter Imbusch in diesem Band, S. 47–74.

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»Kaum alß die gersten salviert war, Ruckhte schon an der geld-, gold- und Raub Begierige Bärnklau mit einem Ser zahl Reichen geschwader ungarischen fues volkh von underschidlichen liederlichen und zerrißenen gesindl und Zwar mit gröster Beträngnus der Burgerschaft, alß welche mit unerträglichen quartieren Belegt und mit Täglichen portionen zu 7 kr. graviert worden.«74

Obschon durchaus gängige Kriegspraxis, bargen Einquartierungen von (feindlichen) Soldaten und Söldnern nicht selten das Risiko von Übergriffen, Raub und Zerstörungen und konfrontierten Stadt- und Dorfgemeinschaften mit erheblichen logistischen und sozialen Schwierigkeiten.75 Bereits am 6.  Februar 1742, zwei Tage nachdem die ersten österreichischen Husaren Dingolfing erreicht hatten, wurde der Stadt eine hohe Kriegs- und Brandsteuer abgepresst: »Des andern Tag in der frueh Schickhte er [General Bärnklau] gleich Seinen adjutanten zu Hr. Dechant, Ihm zue Bedeuten, daß er Inerhalb 24 stunden 1000 fl. ohne außred erlege, wo nit, so Soll der Pfarhoff durch 50 Croaten geblindert werden.«76

Die Drohung, Städte und Dörfer durch Kroaten plündern zu lassen, wenn nicht bis zu einer bestimmten Zeit Geld geflossen war, ist ein wiederkehrendes Element. Es findet sich in gleicher Weise während des Siebenjährigen Krieges, beispielsweise nach der Eroberung Berlins 1757 durch den Generalfeldmarschall Lieutenant Freiherr von Hadick.77 Das obige Zitat ist auch deshalb von besonderem Interesse, da mit der Androhung von Plünderungen durch Söldner oder Soldaten für sich bereits die Spitze des Drohpotentials frühneuzeitlicher Armeen erreicht war. Dass die Drohung durch den Zusatz, die Plünderung würde durch ›Croaten‹ erfolgen, offenbar schon 1742 eine deutliche Steigerung erfuhr, ist insofern bemerkenswert, als gerade Kroaten und Panduren aufgrund ihres Gewalthandelns erst später78 ein Nimbus von Grausamkeit begleitete. Demnach mussten die Kriegsvölker von der Militärgrenze über ein Gewaltrepertoire verfügen, das jenes einheimischer Plünderer überstieg und die Stadtoberen eher dazu bewegte, die geforderten Geldsummen zu erbringen. Suchten sie hingegen nach Ausflüchten, so ließen sich die Drohungen steigern: »Weill die 24 stundt ihm nit Recht Seind, so soll er die 1000 fl. Inerhalb 6 stundt erlegen, oder anstatt 50 soll er 100 Croaten haben […].«79 Obwohl es sich bei der occupatio bellica Dingolfings Anfang 1742 um eine feindliche Besatzung handelte, gingen dem Einzug der Österreicher keine von e

74 Höckh, Relation oder Beschreibung, S. 14. 75 Zu Einquartierungen vgl. analog hierzu für den Dreißigjährigen Krieg den Beitrag von Hans Medick in diesem Band, S. 289–305. e 76 Höckh, Relation oder Beschreibung, S. 16. 77 Nikolaus von Preradovich, Art. Hadik von Futak, Andreas Graf, in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 7, Berlin 1966, S. 417. 78 Besonders nach der Eroberung, Einäscherung und anschließenden Plünderung Chams im September 1742. e 79 Höckh, Relation oder Beschreibung, S. 16.

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Dingolfing unmittelbar ausgehende Kriegshandlungen voraus: Weder verwehrten die Dingolfinger den Österreichern den Einzug in die Stadt, noch widersetzten sie sich der Einquartierung – entsprechend glimpflich80 kamen Stadt und Bürger davon. Verschiedentlich wurde geäußert, leichte Truppen und Zivil­ bevölkerung hätten in einer großen »Bandbreite« an »Erscheinungsformen« zusammengewirkt,81 womit sicherlich das Spannungsfeld von Kooperation und Repression gemeint ist: »›Kulturelle Rückständigkeit‹ und kleiner Krieg gehörten zusammen.«82 Ähnlich äußert sich Michael Sikora, wenn er im Zusammenhang von leichten Truppen und Disziplin von »Anspruchslosigkeit«83 spricht. Dabei unterschieden sich Ansprüche und Vorschriften, die das Verhalten der Grenzer regelten, beileibe nicht von denen anderer Truppenteile. Ein Artikelbrief aus dem Jahr 1745 für das Varaždiner Generalat macht unmissverständlich klar, dass »alle Räubereyen und Blinderungen, sie geschehen im Land, oder Feld, […] bey Leib, und Lebens-Straffe verbothen«84 seien. Ob und wie gerade dieses Verhalten sanktioniert wurde, ist für die Grenzer nicht überliefert. Auch im 18. Jahrhundert war der Graben zwischen gelehrtem Kriegsrecht, faktisch geltendem Recht der Kriegsartikel und Kriegswirklichkeit keinesfalls überwunden.85 Antigonus Schaur beschreibt, wie ›Croaten‹ und ›Räzen‹ an neuralgischen Punkten ihren Gelderwerb organisierten und sich dem größten Teil der Kriegsartikel widersetzten: »Vom Anfang des Monaths Juli, fast bis zu endt des Sept.[ember] war allhiesiger orth von feindtl. theills Croaten, theills Räzen immerzu besetzt. Diese Leuth hielten täglich wacht bey der Iser, und erpressten ungemein vill gelt von denen, welche wolten yberfahren.«86

Eine Ausnahme von den Regulierungsbestrebungen87 der österreichischen Militärführung bildeten höchstens die Panduren Trencks, wobei in Hinblick auf 80 Sowohl Höckh als auch Schaur berichten über die Zeit der Einquartierung der Öster­ reicher und auch von dieser Zeit ließen sich – ein weiter Gewaltbegriff vorausgesetzt – etliche Täter-Opfer-Konstellationen beschreiben. 81 Rink, Vom »Partheygänger« zum Partisanen, S. 81. 82 Ebd., S. 97. 83 Michael Sikora, Disziplin und Desertion. Strukturprobleme militärischer Organisation im 18. Jahrhundert, Berlin 1996, S. 40 84 Österreichisches Staatsarchiv (im Folgenden OeStA) KA HKR SR KzlA VII, 286: Articuls-­ Brief für das Warasdinische gräniz-Volckh zu Fuß, und zu Pferd. De Anno 1745, Articulus Vigesimus. 85 Dieses Trikolon ist entnommen aus Ronald G. Asch, Kriegsrecht und Kriegswirklichkeit in der Epoche des Dreißigjährigen Krieges, in: Osnabrücker Jahrbuch Frieden und Wissenschaft 5 (1998), S. 107–122, hier S. 114. 86 Schaur, Diarium Belli Bavarici, Fol. 27. 87 Davon geben zahlreiche Kriegsartikel und Regelbücher Auskunft, wie etwa die »Instruction für die Obersten und sämmtliche Officiere von den Regimentern Husaren«­ Friedrichs II ., in: Johann David Erdmann Preuss (Hg.), Œuvres de Frédéric le Grand Roi de Prusse, Bd. 30, Berlin 1856, S. 59–70.

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Prozesse gegen Franz von der Trenck und gegen andere Panduren88 selbst fraglich ist, inwiefern gerade seine Truppe vom faktischen Kriegsrecht unbehelligt agieren konnte. So berichtet der serbische Pandurenadjutant Simeon Piščević in seinen Memoiren davon, wie sein eigener Vater sich Anschuldigungen stellen musste, wonach er zur Meuterei aufgerufen habe: »Später hat die Befragung begonnen. Sie haben ihn Dinge gefragt, von denen er nicht einmal geträumt hätte. Sie beschuldigten ihn, er habe die Soldaten wegen nicht gezahltem Sold zum Aufruhr überredet und sie dazu bringen wollen, den Dienst zu verlassen und zu fliehen. Auf diese Anschuldigungen hat mein Vater geantwortet, dies sei unmöglich. Er sagte, er habe niemals auch nur gehört, die Soldaten seien wegen des nicht ausbezahlten Solds unzufrieden, dass der militärische Sold nicht verfallen könne und sehr wohl ausbezahlt worden sei. Im Gegenteil, sagte Vater, handle es sich um jemandes Bosheit und Ränkeschmiede (so wie sich dies später auch herausstellen wird) [Übers. P. B.].«89

Nichtsdestoweniger trafen aus dem Umland Nachrichten ein, die den Dingolfingern mehr als deutlich vor Augen führten, was sie im Falle einer Plünderung zu erwarten hätten: »Umb die Zeit [23. Juni 1742] ist der Marckht Pilsting, dan auch das benachbarte Cölnbach von etwelchen Croaten welche bey Landtau theills in kleinen fahrschiffen, theills durch schwimmen yber die Iser gesezt, geplündteret, und anbey vill horn vich, und schaff erbeuttet worden, welches unseren, damahls in dem recht entlegnen ­Leonsperg sich befündtlich Dragoneren zu geringer ehr, dem armen Landtsmann aber zu größten schaden gereichte.«90

Plünderungen als »Vollzug harten wirtschaftlichen Kalküls«91 zu werten, ist für deren Analyse sicherlich zielführend. Doch was, wenn die Situation der Plünderung in einen Gewaltexzess umschlägt und neben die Aneignung fremden Eigentums die Verletzung und Tötung der Geplünderten tritt? Ein Menschenbild, das den Plünderer als rationalen Akteur zeichnet, hält keinerlei Ausweg aus der Schwierigkeit parat, wieso es sich beim Soldaten während der Plünderung um einen kalkulierenden homo oeconomicus handelt, wenig später jedoch um einen im Blutrausch befindlichen Berserker, der damit beginnt, ein Massaker unter der Bevölkerung anzurichten. 88 Vgl. Piščević, Memoari, S. 100. 89 Ebd., S. 100: »После је почела истрага. Њега су питали за такве ствари о којима он ни сањао није; окривили су га да је наговарао војнике да се буне због неиздате плате и да их је наговарао да оставе службу и беже. На те оптужбе мој отац је одговорио чисто и јасно да је то немогуће. Говорио је да никад није ни чуо да су војници незадовољни због неиздатих плата, да војничка плата и не може пропасти и да је исплаћена. Него, говорио је Отац, то је само нечија злоба и клевета (као што ћe се то касније и потврдити).« 90 Schaur, Diarium Belli Bavarici, Fol. 27. 91 Xenakis, Gewalt und Gemeinschaft, S. 283.

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Dazu sollte es gut ein Jahr später, im Mai 1743, kommen. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich die Lage Dingolfings grundlegend gewandelt: Ein starkes französisches Heer im Rücken waren weder die bayerische Heeresleitung noch der Dingolfinger Stadtrat zur kampflosen Übergabe der Stadt bereit. Am 16. Mai 1743 begann die österreichische Einkreisung der Stadt. Die Franzosen mussten rasch einsehen, dass sie den Österreichern strategisch sowie zahlenmäßig unterlegen waren – sie zogen sich zurück und überließen Dingolfing seinem Schicksal: »Dan, so bald sich die Franzosen yber die Bruckhen retirieret und solche abgebrannt, ist der Feind darauf zwischen 4 und 5 Uhr in Dinglfing eingebrochen und hat gleich auf gottlose, unerhörte teuflische Arth, wider alles Gewißen, wider alle Kriegsmanier, ja wider das Völckherrecht selbst, angefangen zu blindern, zu rauben, zu stehlen, und zwar nit nur 6 Stundt, die sonst erlaubt wären, sondern 9, 10, ja 14 Täge.«92

Die Härte, mit der gerade die Kriegsvölker von der Militärgrenze auf militärischen Widerstand reagierten, stellt ein wiederkehrendes Element im Österreichischen Erbfolgekrieg dar.93 Bisher ist unklar, ob es sich dabei um Strafaspekte,94 die Demonstration von Stärke,95 die dazu diente, potentielle Gegner und Opfer durch einen Ruf extremer Grausamkeit einzuschüchtern, oder um eine durch die Plünderung in Gang gesetzte Gewaltspirale handelte oder ob hier tatsächlich aus den Konflikten der Militärgrenze gewohnte Verhaltensweisen zum Zug kamen oder ob diese beiden Aspekte insofern eng zusammen hängen als die Grenzer bei Plünderungen auf osmanischem Gebiet ebenfalls Gewalt eskalieren ließen. Dem Soziologen Wolfgang Sofsky zufolge ist »der Exzeß nicht zu verwechseln mit einem Zustand der Ekstase«96, die Täter wissen dabei genau, was sie tun, so dass sich die im Folgenden zitierten Ereignisse nicht allein auf Mechanismen der Entgrenzung von Gewalt reduzieren lassen:97 »[…] [N]achdem Sie schon die ganze statt außgeblindert, Sie erst noch vill heuser, ja einige gassen auß lauter Teuflischer muethwillen und bosheith in brand gestöckht; mit etlichen unschuldigen zuruckhgeblibenen Burgern seint Sie ärger und grausamer alß die Türckhen und Tyrannen verfahren, indem Sie Solche in stuckhen zerhauet oder erschoßen, auf den Tod geschlagen oder auf eine andere arth erbermlich umb das leben gebracht […].«98

e

92 Höckh, Relation oder Beschreibung, S. 66. 93 Ähnliches lässt sich für Deggendorf, Cham, das Schloss Au und die Burg Weißenstein konstatieren. 94 Vgl. Xenakis, Gewalt und Gemeinschaft, S. 290 f. 95 Michael Kaiser, »Ärger als der Türck«. Kriegsgreuel und ihre Funktionalisierung in der Zeit des Dreißigjährigen Kriegs, in: Sönke Neitzel/Daniel Hohrath (Hg.), Kriegsgreuel. Die Entgrenzung der Gewalt in kriegerischen Konflikten vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert, Paderborn 2008, S. 155–183, hier S. 183. 96 Wolfgang Sofsky, Traktat über die Gewalt, Frankfurt a. M. 1996, S. 57. 97 Vgl. ebd. e 98 Höckh, Relation oder Beschreibung, S. 66 f.

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Derartige Szenen der Raserei gegen wehrlose Bürger stellen für die Analyse unwegsames Terrain dar. Sie lassen sich weder mit ökonomischem Kalkül der Plünderer erklären noch scheint es sich um ein provoziertes, befohlenes oder gar ritualisiertes Vorgehen gehandelt zu haben. Dass die verschiedenen Einheiten des österreichischen Heeres unterschiedliche Ziele und Motivationen gehabt haben mussten, zeigt die Beschreibung des Versuchs, auch das Franziskanerkloster Dingolfing zu plündern: »Bey diser so fataler unchristlicher begebenheith […], da gleich ein gottloser schwarm von disem Raub- und Diebsgesindl, absonderlich denen banduren dem Closter zu­ geloffen, willenß, solches zu blindern; weillen aber alle Thüren, und porten verschlossen waren, haben Sie Sich gleich erkeckhet, daß große Thor bei der einfahrt aufzuhauen. Zu allem glickh kame ein raisonabler offizier, Treibte Solche ab und stellte eine schildwacht zu dem Thor. Da aber dise auch an dem Raub wolten participieren, haben Sie die Wacht verlaßen, und Ihr glickh mit dem andern gesindl gemacht, worauf das Closter widerumb auf ein Neues attaquiert, Jedoch abermahl durch eine angeschaffte stärckhere Mannschaft defendieret worden […].«99

Höckh scheint es nicht im Geringsten zu verwundern, dass die Panduren nicht nur von einem Offizier des österreichischen und somit eigenen Heeres daran gehindert werden mussten, das Kloster zu stürmen, sondern dass zusätzlich eine Schildwacht notwendig war, um Teile der eigenen Leute davon abzuhalten, die Klosterpforte zu sprengen. Dabei sollte, wie es in einem Artikelbrief aus dem Jahr 1732 heißt, sich kein Soldat des Varaždiner Generalats »vermessen, Kirchen, Clöster, Spittäller, Pfarrhöf, allmoosen Kästen, gottgeweihte Sachen, oder Persohnen zu verunehren, zu belästigen, oder zu bequaltigen […]. Wer darwider handlet, […] der solle […] an Ehr, Guett, Leib, und Leben gestraffet werden«.100 Ökonomisch gefärbte Handlungstheorien kontrastieren den Nutzen von Handlungen mit deren Kosten. Könnte der in Aussicht stehende Gewinn für die Akteure ein Nutzen gewesen sein, der die Bestrafung im Falle einer regelwidrigen Plünderung des Klosters überstiegen hat?

6. Fazit Diese Frage lässt sich ohne Täterquellen nicht abschließend beantworten. Daher können nur Interpretationsangebote gemacht werden: Heinrich Popitz und im Anschluss daran Trutz von Trotha haben Gewalt als Phänomen gedacht, »wogegen andere nicht gefeit sind« und damit als »Macht, andere etwas erdulden zu lassen«.101 Diese Aktionsmacht ist »an dem Handeln des anderen gar nicht interessiert« und deshalb »gibt es kein Motiv, keine Situation, keinen Gegner, die 99 Ebd., S. 67 f. 100 OeStA KA ZSt HKR SR KzlA VII, 242, Articulus 2dus. 101 Popitz, Gewalt, S. 19.

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uns mit zwingender Automatik zur Gewalt veranlassen.«102 Die Gewaltspirale könnte also in Gang gesetzt worden sein, als sich die Grenzer mit Widerstand konfrontiert und die eigene Aktionsmacht beschnitten sahen, deren Wiederherstellung sich in ihren Augen nur durch eine extreme Machtdemonstration bewerkstelligen ließ. Dies würde zumindest im Ansatz erklären, weshalb manchen Bürgern ihre bloße Anwesenheit zum Verhängnis wurde. Eine andere Interpretation zielt auf die Tatsache ab, dass Widerstand durch extreme Gewalt auch im Vorhinein gebrochen werden kann, dass allein schon die Möglichkeit des Untergangs einer Stadt dafür sorgt, dass Gegenwehr ausbleibt. Diese These lässt sich mittels Archivquellen nicht erhärten – im Gegenteil, übermäßige Gewalt entsprach weder den Regeln des Kleinen Krieges noch den Grundsätzen der Aufklärung, wonach Feldschlachten möglichst weit entfernt von Dörfern und Städten ausgetragen werden sollten. Dementsprechend wurde die Härte der ›Kroaten‹ immer wieder von der Generalität getadelt103 und von weiten Bevölkerungsteilen als fremd empfunden. Bedeutet dies, dass sich eine historische Untersuchung extremer Gewalt mit deren dichter Beschreibung begnügen muss? Würde dies außerdem bedeuten, Gewalteskalationen lassen sich lediglich konstatieren, nicht aber einordnen? Die Abfolge von Plünderung und anschließendem Töten widersetzt sich hergebrachten Erklärungsmustern und bedarf neuer Herangehensweisen, die sich nicht in der bloßen Zuschreibung zivilisatorischer Inferiorität oder aber in Thesen von erworbenem Gewalthandeln und dessen Import erschöpfen. Die Grenzer sind keine geborenen Täter, vielmehr erschließen sich die Hintergründe ihrer Gewalttaten erst durch ein Zusammenspiel von Labeling und übernommener Außenseiterrolle, wirtschaftlichem Kalkül und fremder Gewaltkultur.

102 Ebd., S. 22. 103 Bleckwenn, Der Kaiserin Hayduken, S. 39.

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Grausame Opfer? Kroatische Söldner und ihre unterschiedlichen Rollen im Dreißigjährigen Krieg 1. Einleitung und Fragestellung Zu Beginn des Jahres 1637 rückte der schwedische Obrist Carl Gustav Wrangel mit dem Leibregiment seines Oberbefehlshabers Johan Banér auf die hennebergisch-sächsische Stadt Meiningen vor, um den Ort gegen zwei herannahende kaiserliche Regimenter zu verteidigen. Nachdem sich die schwedische Vorhut bei Walldorf (Werra) bereits ein Gefecht mit den kaiserlichen Verbänden geliefert hatte, verfolgte die kaiserliche Kavallerie Wrangels Reiter, wobei die Jäger jedoch die Ordnung verloren. So gelang es dem schwedischen Haupttrupp in die offene Flanke der Kaiserlichen einzudringen. In der Folge wurden die Soldaten des Kaisers so erbarmungslos niedergestreckt, dass ein nach Wasungen zurückkehrender Leutnant später erzählte, er wäre auf der Straße fast nicht vorangekommen, so viele Tote hätten dort gelegen. Besonders gnadenlos gingen die schwedischen Kämpfer gegen die drei kroatischen Kompanien der kaiserlichen Truppen vor. Während sich ein Großteil der deutschen Soldaten in die Gefangenschaft retten konnte, wurden die Kroaten fast völlig vernichtet, getreu der Maßgabe der schwedischen Heerführung, den Kroaten kein Pardon zu gewähren.1 Für diese spezielle Gruppe galten keine kriegsrechtlichen Bestimmungen, sie war gewissermaßen vogelfrei. Dieser extralegale Status stellt im Kontext des Dreißigjährigen Krieges durchaus eine Besonderheit dar. Zwar lag ein verbindliches, von allen Kriegsparteien kodifiziertes Kriegsrecht zu diesem Zeitpunkt noch in weiter Ferne,2 dennoch gab es auch im 17.  Jahrhundert bereits Normen und Grenzen der Kriegsführung, die u. a. von Philosophen (z. B. Hugo Grotius), Militärtheoretikern (etwa Johann VII. von Nassau-Siegen und Moritz von Oranien) sowie in Kriegsarti1 Friedrich Tenner, Generalfeldmarschall Georg Derflinger und das Gefecht bei Wasungen, Meiningen und Mellrichstadt am 12./22. Januar 1637, in: Jahrbuch des HennebergischFränkischen Geschichtsvereins 2 (1938), S. 71–88, hier S. 77. 2 Erst 1856 wurde die Pariser Seerechtsdeklaration verabschiedet, 1864 die Genfer Konvention, 1899 und 1907 fanden die Haager Friedenskonferenzen statt. Martin Kintzinger spricht dagegen schon für die Frühe Neuzeit von einem »Kriegsvölkerrecht«, ohne jedoch näher auf dessen Genese, Verbreitung oder Akzeptanz einzugehen, vgl. Ders., Brigands. Gewaltformationen im französischen Spätmittelalter, in: Winfried Speitkamp (Hg.), Gewaltgemeinschaften. Von der Spätantike bis ins 20. Jahrhundert, Göttingen 2013, S. 75–102, hier S. 88.

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keln, Patenten und Mandaten formuliert wurden3 und die in den Werken zeitgenössischer Künstler eine kritische Reflexion fanden.4 Ideell erfuhr der Krieg damit eine gewisse Einhegung, realiter nur sehr bedingt.5 Dennoch bleibt es erklärungsbedürftig, wie es dazu kam, dass eine bestimmte Söldnergemeinschaft explizit aus dem ius in bello ausgenommen wurde – und dass gerade von schwedischer Seite, der im Bereich des Militärrechts doch eine Vorreiterrolle für die Entwicklung im Alten Reich zukam.6 Die eingangs geschilderte Kriegsszene bildet den Ausgangspunkt für meine Überlegungen, wie sich innerhalb des Krieges das Verhältnis von Täter und Opfer wandeln konnte bzw. wie dieser Rollenwechsel induziert wurde und in welchem Kontext er vonstattenging. Daran knüpft sich die Frage an, ob eine Gewaltgemeinschaft wie die Kroaten, die selbst für ihre grausame Art der Kriegsführung berüchtigt war, überhaupt in die Kategorie der Opfer eingeordnet werden kann, in der typischerweise Personengruppen rubriziert werden, die 3 Zu den Kriegsartikeln vgl. die Arbeit von Siegfried Pelz, Die preussischen und reichsdeutschen Kriegsartikel. Historische Entwicklung und rechtliche Einordnung, Diss. masch., Hamburg 1979. Die kaiserlichen Kriegspatente aus der Zeit des Dreißigjährigen Krieges befinden sich im Wiener Kriegsarchiv: Österreichisches Staatsarchiv/Kriegsarchiv (im Folgenden OeStA/KA) ZSt HKR SR Norm Militärimpressen 1 (1−70). Mark Hengerer hat zuletzt darauf hingewiesen, dass die Grundlagen für eine Theorie der Kriegsführung, die den rasanten technischen und taktischen Entwicklungen der Zeit angemessen war, erst nach dem Dreißigjährigen Krieg durch die beiden Offiziere Raimondo Montecuccoli und Sébastien Le P ­ restre de Vauban gelegt wurden, vgl. Ders., Ferdinand III . (1608−1657). Eine Biographie, Wien 2012, S. 201. 4 Bernd Roeck hat anhand der berühmten Kupferstichserie »Les miseres et les malheurs de la guerre« gezeigt, dass ihr Urheber, Jacques Callot, durch die paarweise Anordnung der Bilder jeder Übertretung des Rechts eine entsprechende Bestrafung gegenüberstellte, vgl. Ders., So ist das Leben. Der kalte Blick des Völkerrechts: Jacques Callot, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 198, 27. August 2003, S. N 3. 5 Die tatsächliche Begrenzung des Krieges auf die militärischen Kombattanten und die Schonung der Zivilbevölkerung waren Errungenschaften des 19.  Jahrhunderts, so Jörg Baberowski, Moderne Zeiten? Einführende Bemerkungen, in: Ders. (Hg.), Moderne Zeiten? Krieg, Revolution und Gewalt im 20. Jahrhundert, Bonn 2006, S. 7–11, hier S. 9. Zur Schwierigkeit der Klärung der Frage, inwieweit rechtliche Theorie und Praxis im 16. und 17. Jahrhundert kongruent waren vgl. Heinhard Steiger, Ius bändigt Mars. Das klassische Völkerrecht und seine Wissenschaft als frühneuzeitliche Kulturerscheinung, in: Klaus Garber/Jutta Held (Hg.), Der Frieden. Rekonstruktion einer europäischen Vision, Bd. 2: Frieden und Krieg in der Frühen Neuzeit. Die europäische Staatenordnung und die außereuropäische Welt, hg. v. Ronald G. Asch u. a., München 2001, S. 59–85, hier S. 67. 6 Maren Lorenz, Das Rad der Gewalt. Militär und Zivilbevölkerung in Norddeutschland nach dem Dreißigjährigen Krieg (1650−1700), Köln 2007, S. 105 f.; Ulrike Ludwig, Ritual der Vergemeinschaftung? Das Duell als Phänomen einer militärischen Gewaltkultur, in: Ralf Pröve/Carmen Winkel (Hg.), Übergänge schaffen. Ritual und Performanz in der frühneuzeitlichen Militärgesellschaft, Göttingen 2012, S. 67. Der Begriff »Militärrecht« selbst setzte sich allerdings erst mit Beginn des 19. Jahrhunderts durch. Davor sprach man fast durchgehend von Kriegsrecht, vgl. Diethelm Klippel, Art. Militärrecht, in: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 15, Stuttgart 2012, Sp. 766–770, hier Sp. 766.

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sich gerade durch ihre (vermeintliche) Wehrlosigkeit auszeichnen, also in erster Linie Frauen, Kinder, Alte und Geistliche. Der Beitrag greift damit ein Monitum auf, das der Potsdamer Militärhistoriker Bernhard R. Kroener in seinem programmatischen Aufsatz »Soldat oder Soldateska« formuliert hat, wenn er anmerkt, dass die Historiografie die Soldaten bislang fast ausschließlich in ihrer Rolle als Täter in den Blick genommen habe, wohingegen die Opferrolle der Kombattanten weitgehend ausgeblendet worden sei.7 Eine Ausnahme bildete hierbei lediglich die Rolle der Soldaten im Verhältnis zur eigenen Obrigkeit. Hier dominierte lange die Vorstellung – die vor allem durch Gustav Freytag im 19.  Jahrhundert wirkmächtig geprägt wurde – die einfachen Militärangehörigen seien von der Militärjustiz grausam gezüchtigt worden.8 Im Umkehrschluss wurde das übermäßig gewalttätige Verhalten der Soldaten gegenüber der Zivilbevölkerung oft als eine Art Ventil gedeutet: Die Soldaten ließen die angestauten Aggressionen demnach an denjenigen aus, die ihnen nichts anhaben konnten9 und agierten in diesem Kontext dann doch wieder als Täter.

2. Forschungsstand Seit Kroeners Kritik hat sich eine Vielzahl von Tagungen, Aufsätzen und Monographien eingehend gerade auch mit dem sozialgeschichtlichen Aspekt des Soldatentums beschäftigt und dadurch ein differenzierteres Bild vor allem des einfachen Soldaten gezeichnet. Damit einher ging eine Perspektiverweiterung, die gerade die Soldaten des 20. Jahrhunderts nicht mehr ausschließlich in ihrer Täterrolle betrachtete, sondern auch Opfererfahrungen miteinbezog. Zuletzt hat der Literaturwissenschaftler Norman Ächtler anhand einer Analyse westdeutscher Kriegsromane gezeigt, wie innerhalb dieses Mediums ein wirkmächtiger Topos vom Wehrmachtssoldaten als Opfer des Krieges und der NS Diktatur etabliert wurde, der erhebliche Breitenwirkung entfalten konnte.10 Allerdings war der Soldatenbegriff für dieses Interpretament auch anschlussfähig, was für den Terminus Söldner nicht gilt, denn mit dieser Bezeichnung ist seit dem Ende des 18. Jahrhunderts eine negative Konnotation verbunden, die sich 7 Bernhard R. Kroener, Soldat oder Soldateska? Programmatischer Aufriß einer Sozialgeschichte militärischer Unterschichten in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts, in: Manfred Messerschmid (Hg.), Militärgeschichte. Probleme – Thesen – Wege, Stuttgart 1982, S. 100–123, hier S. 122. 8 Jutta Nowosadtko, Militärjustiz in der Frühen Neuzeit. Anmerkungen zu einem vernachlässigten Feld der historischen Kriminalitätsforschung, in: Heinz-Günther Borck (Hg.), Unrecht und Recht. Kriminalität und Gesellschaft im Wandel 1500−2000. Wissenschaftlicher Begleitband, Koblenz 2002, S. 638–651, hier S. 638. 9 Ebd., S. 643. 10 Norman Ächtler, Generation in Kesseln. Das Soldatische Opfernarrativ im westdeutschen Kriegsroman 1945−1960, Göttingen 2013.

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im 19.  Jahrhundert nachhaltig durchsetzte.11 Im Zeitalter des Nationalismus etablierte sich eine klare Unterscheidung zwischen Söldnern und Soldaten, die auf einer historischen Rückprojektion beruhte, wobei der fremde Charakter des Söldners und das Motiv des Gelderwerbs dem nur aus Vaterlandsliebe kämpfenden Soldaten gegenübergestellt wurden.12 Damit waren Söldner faktisch nicht im gleichen Maße »opferfähig« wie Soldaten und noch viel weniger im Vergleich zu zivilen Bevölkerungsgruppen. Kroener selbst hat sich aktiv für eine Revision des einseitigen Söldnerbildes eingesetzt, indem er z. B. dezidiert auf die prekären Lebensumstände der gemeinen Soldaten hinwies, deren Leidensdruck oft ebenso hoch war wie der der Zivilbevölkerung.13 Diese setzte sich mitunter nicht nur in Form von Suppliken und Gravamina gegen die anwesende Soldateska zur Wehr, sondern bisweilen auch mit Waffengewalt. Es sind durchaus Fälle exzessiver Gewalt von Bauern gegen meist kleinere Söldnertruppen bekannt,14 insbesondere dank der zahlreichen bildlichen Kriegsdarstellungen, z. B. von Jacques Callot oder Hans Ulrich Franck.15 Der in diesem Zusammenhang diskutierte »lebensweltliche Antagonismus« zwischen der – insbesondere ländlich-bäuerlichen – Zivilbevölkerung und der militärischen Gesellschaft, den Kaiser und Wevelsiep bejahen,16 Kroener, Burschel 11 Stilbildend wirkte in diesem Zusammenhang die Marseillaise, die die Mobilisierung gegen fremde Kohorten, die im Dienste von Tyrannei und Despotie ständen, forderte, vgl. Martin Rink, Art.  Söldner, in: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd.  12, Stuttgart 2010, Sp. 174–184, hier Sp. 180. 12 Ebd., Sp. 182. 13 Bernhard R. Kroener, »Kriegsgurgeln, Freireuter und Merodebrüder«. Der Soldat des Dreißigjährigen Krieges. Täter und Opfer, in: Wolfram Wette (Hg.), Der Krieg des kleinen Mannes. Eine Militärgeschichte von unten, München 1992, S. 51–67, hier S. 57. Außerdem hat Kroener die Begriffe »Söldner« und »Soldat« in seinen Arbeiten synonym verwendet, um die damit verbundenen ideologischen Wertungen aufzuheben. Diesem Ansatz folgt auch dieser Beitrag. 14 Als Beispiel mögen hier die »Harzschützen« bzw. Harzbauern genügen, die im Dreißigjährigen Krieg eine Art Guerillakrieg gegen Tillys Armee führten, vgl. Hermann Boettcher, Halberstadt im Dreißigjährigen Krieg, in: Zeitschrift des Harz-Vereins für Geschichte und Altertumskunde 47 (1914), S. 161–196, hier S. 181. Umfassend zu dem Thema aus marxistischer Perspektive: Frank Boblenz, Die Aktionen der Harzschützen 1625/27. Eine bäuerliche Widerstandsbewegung gegen Krieg und feudale Ausbeutung, Diss. masch., Haale (Saale) 1989. 15 Markus Meumann, Einspruch und Widerstand bei militärischer Besetzung im 17. Jahrhundert. Komparatistische Überlegungen zur Kategorisierung einer Interessenbehauptung zwischen Recht und Gewalt, in: Cecilia Nubola/Andreas Würgler (Hg.), Praktiken des Widerstandes. Suppliken, Gravamina und Revolten in Europa (15.−19. Jahrhundert), Bologna 2007, S. 131–175, hier S. 136. Meumann formuliert hier die These, dass der gewaltsame Widerstand der Bauern gegen die Soldateska die im kollektiven Gedächtnis und der historischen Forschung präsenteste Form der Interessenbehauptung gegenüber dem Militär sei. 16 Michael Kaiser, Die Söldner und die Bevölkerung. Überlegungen zu Konstituierung und Überwindung eines lebensweltlichen Antagonismus, in: Stefan Kroll/Kersten Krüger (Hg.), Militär und ländliche Gesellschaft in der frühen Neuzeit, Münster 2000, S. 79–120, hier S. 86; Christian Wevelsiep, Sinnkriterien der Gewalt. Der erinnerungsgeschichtliche

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und Asche dagegen verneinen,17 wurde nicht zuletzt anhand von Beispielen extremer Gewalt der einen Gruppe an der anderen exemplifiziert und mit verschiedenen Erklärungsmodellen untermauert. Auch die konkrete Funktion von Kriegsgräueln wurde untersucht – besonders prominent am Beispiel der Magdeburger Hochzeit –,18 wobei es hier schlussendlich ebenfalls um den Konfliktaustrag zwischen zivilen und militärischen Gemeinschaften ging.19 Der Fokus dieses Aufsatzes soll hingegen auf Gewaltsituationen liegen, in denen Söldner gegenüber anderen Söldnern zu exzessiver Gewalt griffen oder konkreter: Auf Gewaltsituationen, in denen eine bestimmte Gruppe von Kombattanten geradezu zum Jagdziel einer anderen wurde. Dadurch soll die klassische Vorstellung einer statischen Täter-Opfer-Dichotomie aufgebrochen und stattdessen ein interdependentes, mehrstufiges Rollenmodell entworfen werden. Im Kontext des Dreißigjährigen Krieges lässt sich diese Konstellation besonders gut anhand des schwedischen Vorgehens gegen die leichte Reiterei des römisch-deutschen Kaisers und der mit ihm verbündeten Katholischen Liga untersuchen. Die leichte Kavallerie firmierte meist unter dem Oberbegriff »Kroaten«, wodurch die Fremdheit dieser Einheiten schon durch die Benennung signalisiert wurde. Diese kroatischen Reiter wurden in vielen Gegenden des Alten Reichs zum Inbegriff der Schrecken des Krieges. Im Erinnerungsphänomen der »Kroatenjahre« wurden die Überfälle und Plünderungen dieser Truppen zum Teil noch jahrhundertelang im kollektiven Gedächtnis der betroffenen Orte und Regionen tradiert und memoriert.20

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Wert des langen Krieges, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 61 (2013), H.  7/8, S. 581–600, hier S. 586. Kroener, Soldat oder Soldateska, S. 113; Peter Burschel, Söldner im Nordwestdeutschland des 16. und 17. Jahrhunderts. Sozialgeschichtliche Studien, Göttingen 1994, S. 87; Matthias Asche, Krieg, Militär und Migration in der Frühen Neuzeit. Einleitende Beobachtungen zum Verhältnis von horizontaler und vertikaler Mobilität in der kriegsgeprägten Gesellschaft Alteuropas im 17. Jahrhundert, in: Ders. u. a. (Hg.), Krieg, Militär und Migration in der Frühen Neuzeit, Berlin 2008, S. 11–36, hier S. 18. Als »Magdeburger Hochzeit« wird die Eroberung und anschließende Verwüstung der »Heiligen Wehrstadt des Protestantismus« durch die vereinigten kaiserlich-ligistischen Truppen unter General Tilly am 20. Mai 1631 bezeichnet, vgl. dazu Michael Kaiser, »Excidium Magdeburgense«. Beobachtungen zur Wahrnehmung und Darstellung von Gewalt im Dreißigjährigen Krieg, in: Markus Meumann/Dirk Niefanger (Hg.), Ein Schauplatz herber Angst. Wahrnehmung und Darstellung von Gewalt im 17. Jahrhundert, Göttingen 1997, S. 43–64. Ders., Die Magdeburgische Hochzeit (1631). Gewaltphänomene im Dreißigjährigen Krieg, in: Eva Labouvie (Hg.), Leben in der Stadt. Eine Kultur- und Geschlechtergeschichte Magdeburgs, Köln 2004, S. 195–213; Ders., »Ärger als der Türck«. Kriegsgreuel und ihre Funktionalisierung in der Zeit des Dreißigjährigen Krieges, in: Daniel Hohrath/Sönke Neitzel (Hg.), Kriegsgreuel. Die Entgrenzung der Gewalt in kriegerischen Konflikten vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert, Paderborn 2008, S. 155–183. Vor allem in Franken, Württemberg, Thüringen und Hessen war die Erinnerung an die »Kroatenjahre« bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts in vielen Orten und Regionen präsent. Eine eingehende Auseinandersetzung mit der Entstehung und Tradierung dieses Phänomens wird in meiner Dissertation stattfinden.

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Im Folgenden soll nun erläutert werden, wodurch sich die Kroaten in ihrer Art der Kriegsführung auszeichneten, wie der schwedische König Gustav II. Adolf und seine Nachfolger gegen sie vorgingen und wie diese Gewaltgemeinschaft dadurch neben ihrer primären Rolle als Gewalttäter noch eine zweite Rolle als Gewaltopfer einnahm. Außerdem soll diskutiert werden, inwiefern das besondere Aufgabengebiet der leichten Kavallerie und die spezifische Kriegsführung der Kroaten ausschlaggebend waren für ihre gezielte Diskriminierung auf schwedischer Seite. Weiterführend muss eruiert werden, auf welcher Ebene die Schweden sich gegen die Kroaten zur Wehr setzten und wie diese Ebenen ineinandergriffen und sich gegenseitig beeinflussten.

3. Diskussion und Erläuterung der Begriffe »Kroaten« und »Gewaltgemeinschaft« Vorab bedarf es jedoch zweier Begriffsklärungen, denn die Bezeichnung »Kroate« bzw. »Kroaten« wurde in der Frühen Neuzeit und speziell im militärischen Kontext keineswegs deckungsgleich mit seiner heutigen Bedeutung verwendet. Im Gegensatz zu den »Kroaten« ist der Terminus »Gewaltgemeinschaft« kein Quellenbegriff. Er ist insofern erklärungsbedürftig, als dahinter ein spezifisches Forschungskonzept steht, dessen Anwendung auf die kroatischen Söldnergemeinschaften des Dreißigjährigen Krieges begründet werden muss. Zunächst soll jedoch erläutert werden, um wen es sich bei den »Kroaten« eigentlich handelte und wie und warum diese Söldner aus der südosteuropäischen Peripherie auf den mitteleuropäischen Kriegsschauplatz gelangten. Als infolge des Zweiten Prager Fenstersturzes 1618 der böhmisch-pfälzische Krieg ausbrach, musste der römisch-deutsche Kaiser innerhalb kurzer Zeit ein schlagkräftiges Heer zusammenstellen, um sich der böhmischen Streitmacht entgegenstellen zu können. Nach dem Ende des vorangegangenen »Langen Türkenkrieges« im Jahre 1606 hatte die Habsburgermonarchie ihre Truppen so stark abgerüstet, dass »von der kaiserlichen Armee […] so gut wie nichts, aber auch schon gar nichts übrig geblieben [war]«.21 Nun musste auf die Schnelle und mit begrenzten finanziellen Ressourcen ein Heer auf die Beine gestellt werden, das der Herausforderung durch die böhmischen Stände gewachsen war. Zunächst wurden die noch verfügbaren Einheiten aus dem im Vorjahr beendeten Uskokenkrieg – auch als Gradiscakrieg bekannt – reaktiviert: Zusammen stellten sie allerdings wenig mehr als 1.000 Mann. Eilig wurden neue Bestallungen ausgegeben und im Laufe des Jahres 1618 wuchs die kaiserliche Streitmacht auf 14.200 Mann an (bestehend aus 9.900 Mann Infanterie und 4.300  Mann Reiterei). Da aber auch die böhmischen Stände intensiv neue Truppen anwarben, erließ die Wiener Regierung in den ersten Monaten des Jahres 1619 den 21 Johann Christoph Allmayer-Beck/Erich Lessing, Die kaiserlichen Kriegsvölker. Von Maximilian I. bis Prinz Eugen, 1479−1718, München 1978, S. 58.

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Befehl Kämpfer aus Flandern, Lothringen, Italien, dem Alten Reich selbst sowie aus Ungarn und Kroatien zu rekrutieren.22 Gerade im Bereich der Militärgrenze war der personelle Bedarf an Soldaten infolge des im Vertrag von Zsitvatorok geschlossenen Friedens mit dem Osmanischen Reich deutlich gesunken, sodass hier militärische Kapazitäten frei wurden. Gleichzeitig handelte es sich bei den Bewohnern dieser Region um kampferprobte Männer, die mit dem Kriegshandwerk bestens vertraut waren. Anfangs dienten die kroatischen Soldaten noch vor allem in Infanterie-Regimentern,23 doch spätestens seit dem Kriegszug gegen den aufrührerischen siebenbürgischen Fürsten Gábor Bethlen im Jahre 1623 war Wallenstein der Wert der leichten Kavallerie bewusst geworden,24 die fortan vorwiegend aus Kroaten bestand, da diese sich aufgrund ihrer Kampferfahrungen mit den Osmanen an der habsburgisch-osmanischen Militärgrenze besonders für diese Aufgabe eigneten. Zudem kannte Wallenstein ihre Qualitäten aus eigener Anschauung, die er in den Kriegen gegen die Türken und Uskoken gewonnen hatte.25 Daneben wurden hauptsächlich Ungarn und Polen für den Dienst der leichten Reiterei rekrutiert. Da das nur relativ dünn besiedelte kroatische Grenzland den ständigen Nachschubbedarf an neuen Söldnern für die katholisch-ligistischen Truppen dauerhaft nicht decken konnte,26 wurden die Regimenter der leichten Kavallerie nach und nach auch mit Soldaten nicht-kroatischer Herkunft aufgefüllt.27 Aus diesem Umstand resultiert die Verwirrung, ob sich die Bezeichnung »Kroaten« in Bezug auf die kaiserlich-ligistischen Truppen nun auf eine bestimmte Herkunftsregion bzw. Ethnie oder auf eine gewisse Waffengattung bezieht. Schon Grimmelshausens Romanheld Simplicius Simplicissimus, der von einem Streiftrupp des Kroatenoberst Marcus Corpes entführt wird, berichtet, dass die Söldner miteinander böhmisch sprächen.28 Was sich zuerst nach einem Widerspruch anhört, verweist bei näherer Betrachtung auf die zunehmende Vermischung der anfangs tatsächlich ethnisch 22 Peter Broucek, Feldmarschall Bucquoy als Armeekommandant 1618−1620, in: Der Dreissigjährige Krieg. Beiträge zu seiner Geschichte, hg. v. der Direktion des Heeresgeschichtlichen Museums in Wien, Wien 1976, S. 25–57, hier S. 31. 23 Alphons Freiherr von Wrede, Geschichte der K. und K. Wehrmacht. Die Regimenter, Corps, Branchen und Anstalten von 1618 bis Ende des 19.  Jahrhunderts, 5 Bde., Wien 1898‒1903, hier Bd. II, S. 11. 24 Aladár Ballagi, Wallenstein’s Kroatische Arkebusiere, 1623−1626. Aus unbenützten, archivalischen Quellen, Budapest 1884, S. 10. 25 Ernest Bauer, Glanz und Tragik der Kroaten. Ausgewählte Kapitel der kroatischen Kriegsgeschichte, Wien 1969, S. 30. 26 Ballagi, Arkebusiere, S. 9; vgl. dazu auch den Brief des kaiserlichen Hofkriegsrats Gerhard von Questenberg an Wallenstein vom 7.12.1633, abgedruckt in: Hermann Hallwich (Hg.), Wallenstein’s Ende. Ungedruckte Briefe und Acten, Bd. 2, Leipzig 1879, S. 133–135. 27 Ballagi, Arkebusiere, S. 9, 37; Felix Konze, Die Stärke, Zusammensetzung und Verteilung der Wallensteinischen Armee während des Jahres 1633. Ein Beitrag zur Heeresgeschichte des 30jährigen Krieges, Frankfurt a. M. 1906, S. 34. 28 Hans Jacob Christoph von Grimmelshausen, Der abenteuerliche Simplicissimus Teutsch, Stuttgart 2008, S. 172.

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weitgehend homogenen Kroatenregimenter. So erlebte der Terminus »Kroaten« im Laufe des Dreißigjährigen Krieges eine Transformation von einer National­ bezeichnung hin zu einem Waffengattungsbegriff.29 Zwar kämpften auch in den späteren Jahren des Dreißigjährigen Krieges noch aus Kroatien stammende Söldner in den Reihen der leichten Kavallerie, ob sie jedoch dauerhaft die Mehrheit stellten, ist unklar. Über die genaue Zusammensetzung der kroatischen Regimenter lassen sich leider keine validen Aussagen machen, da keine Musterlisten erhalten sind.30 Wahrgenommen wurden die leichten Reiter der kaiserlich-ligistischen Armee jedoch meist summarisch als Kroaten, was sicherlich nicht zuletzt damit zusammenhängt, dass auch die landsmannschaftlich hete­ ro­gen gewordenen Reiterkompanien die spezifisch »kroatische« Art der Kriegsführung übernommen hatten und daher von den gegnerischen Truppen wie auch von der Bevölkerung weiterhin als Kroaten identifiziert wurden. Auch in den kaiserlich-ligistischen Akten wurden sie nach wie vor als Kroaten bezeichnet.31 Die Benennung der kroatischen Reitereinheiten als »Gewaltgemeinschaften« mag auf den ersten Blick kaum verwundern, ja sogar offensichtlich erscheinen, schließlich war und ist die Ausübung von Gewalt die Kernkompetenz jedes Söldners schlechthin. Dennoch bedarf die Verwendung dieses Terminus einer kurzen Erläuterung, denn dahinter steht ein theoretisches Konzept mit bestimmten Prämissen und Eingrenzungen, das vor allem Träger von obrigkeitlicher Gewalt wie Polizei und Militär exkludiert. Der Mitbegründer des Gewaltgemeinschaften-Konzepts, der Historiker Winfried Speitkamp, betont den Zusammenhang zwischen »Konstellationen unvollständiger Staatlichkeit« und dem Handeln von Gruppen, »die durch permanente Gewaltausübung oder Gewaltandrohung« ihren Lebensunterhalt verdienen und deren Zusammenhalt und Identität auf kollektiver Gewaltausübung beruhe.32 Zu den Arche­t ypen solcher Gemeinschaften gehören Grenzkriegertruppen, die in aller Regel in Gebieten operierten, die der staatlichen Durchdringung entzogen waren, weshalb diese Gruppen eigene Formen des Konfliktaustrags und des Gewalteinsatzes entwickeln konnten. Diese Situation trifft voll und ganz auf die kroatischen Krieger zu, die sich durch die Grenzlage zum Osmanischen Reich einerseits permanent mit Gewaltsituationen konfrontiert sahen, wodurch sie anderer29 Konze, Stärke, S. 15; Ballagi, Arkebusiere, S. 9 f. 30 Ob es diese Musterlisten überhaupt gegeben hat, ist zumindest nach Peter Burschel fraglich. Er vertritt die Ansicht, dass für Eliteeinheiten, zu denen er die Kroaten zählt, wahrscheinlich keine Namensverzeichnisse angelegt wurden, Ders., Söldner im Nordwestdeutschland, S. 150. 31 Vgl. dazu die durchgehende Verwendung des Begriffs in den Alten Feldakten (im Folgenden AFA) des Wiener Kriegsarchivs, OeStA/KA AFA 48−132. Darin wird bei der Auflistung der leichten Kavallerieeinheiten in der Regel zwischen Kroaten, Ungarn und Polen differenziert. 32 Winfried Speitkamp, Art.  Gewaltgemeinschaften, in: Christian Gudehus/Michaela Christ (Hg.), Gewalt. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart 2013, S. 184–190, hier S. 184.

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seits eine relativ unabhängige und egalitär strukturierte Gesellschaftsform entwickeln konnten.33 Die auch nach dem Frieden von Zsitvatorok im Jahre 1606 andauernden Scharmützel mit den Osmanen prädestinierten die Kroaten für ihren Einsatz als leichte Kavallerie auf kaiserlich-ligistischer Seite im Dreißigjährigen Krieg. Und auch hier, im Alten Reich, fanden sie keinen vollentwickelten Staat im modernen Sinne vor, ganz im Gegenteil: dem Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation »fehlte fast alles von dem, was moderne Staatlichkeit kennzeichnet«34 und der Dreißigjährige Krieg selbst zeichnete sich nicht zuletzt durch ein Nebeneinander staatlicher und nicht-staatlicher Kriegsakteure aus.35 Da die kroatische Reiterei zudem meist als Vor- oder Nachhut des jeweiligen Heeres agierte, entzog sie sich der Aufsicht der Militärjustiz oftmals, was ihre Handlungsräume und -möglichkeiten deutlich erweiterte. Dieser Sonderstatus hatte aber nicht nur Vorteile, sondern beinhaltete anfangs auch eine rechtliche Benachteiligung: Die kroatischen Regimenter besaßen kein eigenes Regimentsgericht und ihre Obristen waren nicht berechtigt, das ius gladii auszuüben.36 Ferner sahen sich die leichten Reiter zu Beginn des Dreißigjährigen Krieges 33 Karl Kaser, Freier Bauer und Soldat. Die Militarisierung der agrarischen Gesellschaft an der kroatisch-slawonischen Militärgrenze (1535−1881), S. 97 f. und S. 648 f. 34 Barbara Stollberg-Rilinger, Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation. Vom Ende des Mittelalters bis 1806, München 42009, S. 7. 35 Anuschka Tischer, Kriegstyp »Dreißigjähriger Krieg?« Ein Krieg und seine unterschiedlichen Typologisierungen von 1618 bis zur Gegenwart, in: Maria-Elisabeth Brunert/­ Maximilian Lanzinner (Hg.), Diplomatie, Medien, Rezeption. Aus der editorischen Arbeit an den Acta Pacis Westphalicae, Münster 2010, S.  1–20, hier S.  6. Inwiefern die Verwendung des Staatsbegriffs für die Herrschaftsgebilde der Frühen Neuzeit überhaupt sinnvoll ist, kann an dieser Stelle nicht diskutiert werden. Grundlegend dazu: Wolfgang Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt. Eine vergleichende Verfassungsgeschichte Europas von den Anfängen bis zur Gegenwart, München ³2002. Für die Frühe Neuzeit bieten der instruktive Artikel der Freiburger Historiker Ronald G. Asch/Jörn Leonhard, Art.  Staat, in: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd.  12, Stuttgart 2010, Sp.  494–518 und der Aufsatz von Luise Schorn-Schütte, Staatsformen in der Frühen Neuzeit, in: Alexander­ Gallus/Eckhard Jesse (Hg.), Staatsformen von der Antike bis zur Gegenwart. Ein Handbuch, Köln ²2007, S. 123–152 sowie der Sammelband von Ronald G. Asch/Dagmar Freist (Hg.), Staatsbildung als kultureller Prozess. Strukturwandel und Legitimation von Herrschaft in der Frühen Neuzeit, Köln 2005 einen guten Überblick über den Stand bzw. die unterschiedlichen Positionen der Forschung. 36 Freiherr von Wrede, Geschichte der K. und K., Bd. I, S. 33. Das ius gladii (Schwertrecht) bezeichnete ursprünglich (d. h. in der Antike)  das vom römischen Kaiser übertragene Recht zur Kapitalkoerzition als Teil der militärischen und zivilen Befehlsgewalt, später beschreibt der Begriff die juristische Vollmacht eines Gerichtsherrn, Todesurteile auszusprechen und vollstrecken zu lassen, Detlef Liebs, Das ius gladii der römischen Provinzgouverneure in der Kaiserzeit, in: Zeitschrift für Papyrologie und Epigraphik 43 (1981), S. 217–223; Joachim Ermann, Ius gladii. Gedanken zu seiner rechtshistorischen Entwicklung, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte: Romanistische Abteilung 118 (2001), S. 365–377. Zur Rechtssymbolik des Schwertes siehe Dagmar Hüpper, Art. Schwert, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd.  IV, Berlin 1990, Sp. 1570–1574.

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auch finanziell benachteiligt, denn sie erhielten keine reguläre Bezahlung, sondern mussten sich ihre Nahrung und ihren Sold selbst beschaffen.37 Der exzessive Gewalteinsatz der Kroaten steht also mindestens zum Teil auch in einem Zusammenhang mit ihrer schlechten Versorgungslage. Die rechtlichen Einschränkungen, die anfangs lose Organisationsstruktur und die Ausgrenzung aus dem regulären Soldsystem sind sicherlich die ausschlaggebenden Faktoren dafür, dass die kroatischen Reiter in der Forschung häufig als »irreguläre Einheiten« bezeichnet werden. Allerdings hat Martin Rink erst kürzlich darauf hingewiesen, dass die eindeutige Unterscheidung zwischen regulären und irregulären Kriegsakteuren ein Phänomen der Moderne sei, nicht der Frühen Neuzeit.38 Die nachträgliche Differenzierung der Armeeeinheiten anhand dieser Kategorien ist insofern problematisch, als von der militärischen Verfasstheit zumeist auf die soziale geschlossen wird –39 was dem Stereotyp der wild, unbändig und grausam kämpfenden fremden Horden auch im Falle der Kroaten Vorschub geleistet hat. Inwiefern dieses Stereotyp zutreffend war und wo es falsche Vorstellungen evoziert hat, muss an anderer Stelle untersucht werden.40

4. Die Kroaten als Gewalttäter im Kontext des Kleinen Krieges Als Akteure des Kleinen Krieges wurden die kroatischen Reiter oft auf Streifungen ausgeschickt und waren damit in vielen Regionen die ersten Vorboten der kommenden Belastungen. Neben ihrer Schnelligkeit waren die kroatischen Reiter vor allem für ihre exzessive Gewalttätigkeit und eine unstillbare Beutegier bekannt. Passenderweise sollen ein Wolf und das Motto »Ich dürste nach Beute« 37 Spätestens mit dem Beginn des ersten Generalats Wallensteins waren auch die kroatischen Reiter in Regimentern organisiert und wurden regulär in den Verpflegungsordinanzen aufgeführt. Danach sollten ihnen die gleichen Verpflegungsmengen zukommen wie den Kürassieren, allerdings betrug ihr Monatssold nur sechs Gulden anstatt neun, vgl. die Verpflegungsordinanz vom 5.1.1632, OeStA/KA ZSt HKR SR Norm Militär­ impressen 1 (1−70), Nr. 10. Für die oberen Chargen lässt sich bereits für das Jahr 1624 feststellen, dass ihre Besoldung nahezu deckungsgleich mit der der Dragoner und der Arkebusiere war, vgl. F. Spigl, Die Besoldung, Verpflegung und Bekleidung des kaiserlichen Kriegsvolkes im dreissigjährigen Kriege, in: Mitteilungen des k.k. Kriegs-Archivs 44 (1882), S. 444–465, hier S. 451 f. 38 Martin Rink, Korsaren im Mittelmeer. (Ir)reguläre Akteure zwischen Großmachtpolitik, kleinem Krieg und Lösegeldökonomie vom 16. Jahrhundert bis 1830, in: Martin H ­ ofbauer (Hg.), Piraterie in der Geschichte, Potsdam 2013, S. 63–84, hier S. 66. 39 Marian Füssel, Die Aasgeier des Schlachtfeldes. Kosaken und Kalmücken als russische Irreguläre während des Siebenjährigen Krieges, in: Stig Förster u. a. (Hg.), Rückkehr der Condottieri? Krieg und Militär zwischen staatlichem Monopol und Privatisierung. Von der Antike bis zur Gegenwart, Paderborn 2010, S. 141–152, hier S. 147. 40 Die Frage nach dem Zusammenhang von Fremdheit, Gewalteinsatz und Gewalterfahrung wird in meiner Dissertation ausführlich behandelt werden.

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die Fahnen der Kroaten-Regimenter im Krieg geziert haben.41 Der Ruf der Kro­ aten, unmenschliche Barbaren zu sein, gründet sich in erster Linie auf einige spektakuläre Gewaltexzesse, u. a. in Pisek/Tschechien (1620), in der Schlacht bei Stadtlohn (1623), in Höchstädt und Fürth (1634) sowie Eschwege (1637), die publizistisch bereitwillig aufgegriffen und verbreitet wurden. Durch das Zusammenspiel von spektakulären Gewaltausbrüchen, deren medialer Verbreitung und Verstärkung sowie einer generellen Skepsis von weiten Teilen der Bevölkerung gegenüber »Fremden« im Allgemeinen und ausländischen Söldnern im Speziellen entwickelte sich im Laufe des Krieges eine regelrechte Kroatenfurcht,42 die auch über die Grenzen des Alten Reichs hinauswirkte. So findet sich im Reise­ bericht des Engländers William Crowne, der im Gefolge des königlichen Gesandten Thomas Lord Howard, Earl of Arundel, 1636 das Deutsche Reich besuchte, bei fast jeder Durchquerung eines Waldes die Befürchtung, die Gruppe könne von marodierenden Kroaten überfallen werden.43 Noch sehr viel drastischer fielen die Schilderungen seines Landsmanns Philip Vincent aus, der das Alte Reich ebenfalls während des Dreißigjährigen Krieges kennen­gelernt hatte und nach seiner Rückkehr einen Reisebericht veröffentlichte, der die Zustände in Deutschland in den düstersten Farben zeichnete. Den kroatischen Söldnern des Kaisers kam dabei eine besonders grausame Rolle zu: Sie folterten ihre Opfer nicht nur auf bestialische Weise, sondern verzehrten sie auch, selbst Kinder verschonten sie nicht. Doch damit nicht genug, sogar ihre Pferde hatten die Kroaten laut Vincent so dressiert, dass diese ebenfalls Menschenfleisch fraßen.44 Da diese Gewaltpraktiken aber in keiner anderen Quelle erwähnt werden, was aufgrund ihres exzeptionellen Charakters höchstwahrscheinlich der Fall gewesen wäre, hätte sie jemand erlebt, mitangesehen oder davon gehört, so liegt der Schluss nahe, dass hier keine konkreten Tatbestände wiedergegeben werden, sondern eher bezeugt wird, was Vincent den Kroaten alles zutraute. Seiner vor allem theologisch-eschatologisch aufgeladenen Deutung nach, ­handelte es sich bei den kroatischen Reitern um eine von Gott gesandte Plage zur Bestrafung der sündigen Menschheit. 41 Hermann Meynert, Geschichte der k.k. österreichischen Armee, Bd. 3: Geschichte des Kriegswesens und der Heeresverfassung in der österreichischen Monarchie während des dreißigjährigen Krieges und bis zum Tode des Kaisers Leopold I., Wien 1854, S. 53. 42 Kroener, Kriegsgurgeln, S. 63 f.; Holger Schuckelt, Kroatische Reiter. Schrecken und Faszination in Sachsen, in: Uwe Fiedler (Hg.), Der Kelch der bittersten Leiden. Chemnitz im Zeitalter von Wallenstein und Gryphius, Chemnitz 2008, S. 100–108, hier S. 103. 43 William Crowne, Blutiger Sommer. Eine Deutschlandreise im Dreißigjährigen Krieg. Ein wahrhafter Bericht aller bemerkenswerter Orte und beobachteten Etappen der Reisen des recht ehrenwerten Thomas Lord Howard, Earl of Arundel und Surrey, Primer Earl und Earl Marshall of England, Sonderbotschafter für seine geheiligte Majestät, Ferdinand II ., deutscher Kaiser, im Jahre 1636. Von William Crowne, Ehrenmann, London 1637, hg. v. Alexander Ritter und Rüdiger Keil, Darmstadt ²2012, S. 39, 59, 74. 44 Philip Vincent, The Lamentations of Germany. Wherein, as in a glasse, we may behold her miserable condition, and reade the woefull effects of sinne / composed by Dr. Vincent theol. an eye-witnesse thereof, and illustrated by pictures, the more to affect the reader […], London 1638, S. 14, 29 f.

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Das tatsächliche Aufgabengebiet der leichten Kavallerie nahm sich dagegen geradezu profan aus: Es bestand neben der Proviantbeschaffung und der Auskundschaftung der eigenen und der feindlichen Marschroute sowie dem Einfangen der feindlichen Spione (dem sogenannten »pigliar lingua«) vor allem aus dem ständigen »Battiren« und »Travalliren«,45 also dem permanenten Beunruhigen und Attackieren des Feindes. Denn trotz der vielen bekannten Schlachten des Dreißigjährigen Krieges bestand ein Großteil der Kriegsführung aus taktischen Manövern, die der Schlachtvermeidung dienten.46 Unter den fortwährenden Überfällen hatte neben der schwedischen Armee vor allem die lokale Bevölkerung zu leiden. Exemplarisch dafür kann der Fall Eschweges stehen. Die zur Rotenburger Quart – eine abgeteilte Unterherrschaft der Landgrafschaft Hessen-Kassel – gehörige Stadt wurde im April 1637 Opfer einer umherstreifenden Gruppe von Kroaten und brannte (in Teilen) nieder.47 Zwar waren die Bürger der Stadt vorab gewarnt worden und ein Großteil von ihnen konnte in die umliegenden Wälder flüchten, alle hatten es jedoch nicht geschafft. Das Schicksal der Zurückgebliebenen ist durch eine Gedenkschrift des Gerbermeisters Cyriakus Kompenhanß überliefert, der selbst allerdings zur Gruppe der Flüchtenden gehörte. Kompenhanß schildert drastisch, wie die Kroaten in die Stadt einfielen: »Gegen alte und junge Frauenpersonen, welche in ihre Hände fielen, übten sie [die Kroaten] ihre viehische Lust so lange aus, bis gar manche den Geist elendiglich aufgab; einzelne gebrechliche und bresthafte Leute hingen sie über dem Herdfeuer in den Rauchfang, das sie von Blut und Rauch ersticken mußten; an 28 alte Hospitaliten und Siechenleute quälten sie in Backöfen oder sonst mit Feuer zu Tode. Selbst in den Kirchen schändeten und mordeten sie diejenigen, so sich dahin geflüchtet hatten.«48

Selbst die Toten waren vor der Gewalt der kroatischen Söldner nicht sicher. Laut Kompenhanß exhumierten diese sogar die Leichen zweier schwedischer Offiziere und verbrannten sie anschließend unter höhnischem Gelächter.49 Auch wenn an der Akkuratesse der Quelle einige Zweifel bestehen  – Kompenhanß war beim Überfall selbst nicht anwesend und schrieb die ihm zugetragenen Er45 Vgl. die Anordnungen zum »Battiren« und »Travalliren« seitens der kaiserlichen Militärführung in Wien: OeStA/KA AFA 74 V fol. 17, AFA 76 X fol. 129, AFA 77 XI fol. ad 173b, AFA 81 II fol. 74, AFA 108 II fol. ad 5, AFA 114 XI fol. 28. 46 Rolf-Dieter Müller, Militärgeschichte, Köln 2009, S. 138. 47 Vgl. dazu Herbert Fritsche/Thomas Wiegand, Eschwege 1637. Die Zerstörung der Stadt im Dreißigjährigen Krieg, Eschwege 1987. 48 Gedenke daran Eschwege. Beschreibung und Konterfey des jämmerlichen Verderbens welches vor, in und nach der Charwoche des 1637sten Jahres nach unseres Herrn Geburt über die Stadt Eschwege a.d. Werra hereingebrochen ist. Aufgeschrieben im Winter des Jahres 1648 durch Cyriakus Kompenhanß den älteren, der löblichen Gerberzunft daselbst mehrmals gewesenen Obermeister, auch der Stiftung Korporis Christi wohlbestallten Spendenmeister, Eschwege 1900, S. 9. 49 Ebd., S.  10. Neuerdings hat sich Klaus Theweleit anhand moderner Beispiele mit dem Zusammenhang zwischen dem Lachen und grausamer Gewalt auseinandergesetzt, vgl. Ders., Das Lachen der Täter; Breivik u. a. Psychogramm der Tötungslust, St. Pölten 2015.

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innerungen überdies erst neun Jahre später auf – so tritt neben der Grausamkeit der Gewalthandlungen auch eine besondere Abneigung der kroatischen Söldner gegenüber ihren schwedischen Widersachern zutage. Diese zeigte sich beispielsweise auch, als kroatische Reiter nach der Schlacht von Nördlingen 1634 in Süddeutschland einfielen und dabei Oberst Melchior Freiherr von Wurmbrand in der Nähe von Neresheim (Ostalb) in die Hände bekamen. Der Erfinder der schwedischen Lederkanone, dem das Gebiet von Ottobeuren übertragen worden war, wurde von seinen Peinigern mit einem Strick gebunden, als »Abt von Ottobeuren« herumgeführt und verspottet, anschließend gefoltert und am Ende getötet.50 Diese Form der Folter und Erniedrigung war nicht zuletzt deshalb außergewöhnlich, weil sie sich nicht gegen einfache Bauern oder Bürger wendete, sondern gegen einen Adeligen. Dass ein Vertreter der Aristokratie auf solch entwürdigende Weise behandelt wurde, stellte in den Augen der Zeitgenossen einen eindeutigen Tabubruch dar. Inwiefern das respektlose Verhalten der Kroaten gegenüber der Nobilität daher rührte, dass die Gesellschaft der Wehrbauern an der Militärgrenze relativ egalitär strukturiert war und die Kroaten weniger habitualisierte Ehrfurcht vor adeligen Personen besaßen als andere Söldner, kann an dieser Stelle nicht geklärt werden, könnte aber einen lohnenswerten Untersuchungsgegenstand für künftige Forschungen darstellen. Kennzeichnender als die Gewalt gegen Aristokraten war jedenfalls die sich verfestigende Feindschaft zu den Truppen Gustav Adolfs und Axel Oxenstiernas.51 Diese gegenseitige Aversion lässt sich auch anhand mehrerer Briefe des Schweizer Söldnerführers Franz Peter König, der als Gouverneur von Lindau in habsburgischen Diensten stand, nachvollziehen. In seinen Schreiben an unterschiedliche Adressaten schildert er mehrfach, wie kroatische Reiter reihenweise Schweden niedermachten.52 Es nimmt also kaum wunder, wenn die Kroaten unter ihrem Anführer Oberst Goan Lodovico Isolani innerhalb kürzester Zeit zu den gefürchtetsten Feinden der schwedischen Truppen avancierten.53

50 Joseph Philipp Brunnemair, Geschichte der Königl. Baierischen Stadt und Herrschaft Mindelheim im Zusammenhange mit andern wichtigen Weltbegebenheiten, Mindelheim 1821, S. 401. 51 Axel Oxenstierna übernahm nach dem Tod Gustav Adolfs in der Schlacht von Lützen am 16.11.1632 als amtierender Reichskanzler zusammen mit den vier anderen Direktoren der fünf Reichsämter die politische Führung Schwedens, da die Tochter und Thronerbin des gefallen Herrschers, Königin Christina, zu diesem Zeitpunkt noch minderjährig war, Jörg-Peter Findeisen, Axel Oxenstierna. Architekt der schwedischen Großmacht-Ära und Sieger des Dreißigjährigen Krieges, Gernsbach 2007, S.  270–283; Alexander Zirr, Axel Oxenstierna – Schwedens Reichskanzler während des Dreißigjährigen Krieges. Studien zu seiner Innen- und Außenpolitik, Leipzig 2008, S. 62–65. 52 Vgl. die Briefe Königs vom 20.7.1632, 31.7.1632, 7.8.1632 und 23.8.1632, alle abgedruckt in: Daniel Bitterli (Hg.), Franz Peter König. Ein Schweizer im Dreißigjährigen Krieg. Quellen, Fribourg 2006, S. 239–241, 243–246 und S. 253. 53 Hermann Hallwich, Art. Isolano, Johann Ludwig Graf, in: Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 14, Leipzig 1881, S. 637–640, hier S. 639.

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5. Rollenumkehr: Die Kroaten als Opfer Um der Bedrohung Herr zu werden, attackierte Gustav Adolf die kroatischen leichten Reiter, die immer wieder seine Nachschubkolonnen und Warentransporte überfielen, seine Marschrouten ausspionierten und seine Kundschafter gefangen nahmen und verhörten, auf mehreren Ebenen, die miteinander verschränkt waren und sich gegenseitig beeinflussten. Auf der militärischen Ebene setzte der schwedische König eine Art Spezialeinheit auf die Kroaten an, die diese gnadenlos jagen sollten. Dabei handelte es sich um finnische Reiter, die sogenannten »hackapeliter«,54 unter Oberst Torsten Stållhandske. Diese Reiter ähnelten den Kroaten in vielerlei Hinsicht. Auch sie kamen aus einem Grenzgebiet der europäischen Peripherie, wurden von der Bevölkerung des Alten Reichs aufgrund ihres Aussehens und ihrer Sprache als Exoten wahrgenommen (und häufig mit den Lappen verwechselt), waren bekannt für ihre wilde und brutale Art der Kriegsführung, führten mitunter fremdartige Waffen mit sich (z. B. polnische Säbel und Streithammer), agierten sehr beweglich und schnell und gaben im Kampf ebenfalls kein Pardon.55 Gewissermaßen wurden die Kroaten also mit ihren eigenen Waffen bekämpft und geschlagen. Immer wieder lauerten Stållhandske und seine Männer den kroatischen Reitern auf und verfolgten sie anschließend erbarmungslos.56 Die Effektivität der finnischen Reiter sollte 1643 dem schwedischen Thronprätendenten Karl G ­ ustav (dem späteren König Karl X. Gustav von Schweden) vorgeführt werden. Als dieser einer solchen »Kroatenjagd« in der Nähe der böhmischen Stadt ­Melnik allerdings tatsächlich beiwohnte, wäre die Vorführung beinahe in einem Fiasko geendet, weil die finnischen Truppen zahlenmäßig viel zu schwach waren.57 Generell erwiesen sich die Finnen aber als recht erfolgreich in der Jagd auf ihre kroatischen Widersacher, wobei es nicht unwahrscheinlich ist, dass durch die kontinuierliche militärische Konfrontation zwischen den beiden Reitergruppen eine habitualisierte Feindschaft entstand, die eine eigene Gewaltdynamik entwickelte. Darüber hinaus können durchaus auch materielle Reize handlungsleitend­ gewesen sein, denn die kroatischen Reiter galten eben nicht nur als besonders 54 Die Bezeichnung »hackapeliter« wurde abgeleitet von ihrem Schlachtruf »hakkaa päälle« (Schlagt sie nieder), Richard Brzezinski/Richard Hook, Die Armee Gustav Adolfs. Infanterie und Kavallerie, Königswinter 2006, S. 56. 55 Ebd., S. 56–59 und S. 90 f. 56 Eine beispielhafte Schilderung einer solchen Jagd findet sich in der »Deutschen Kriegs­ chronik« von Christian Lehmann, die von Leo Bönhoff neu herausgegeben wurde, vgl. Ders., Das sächsische Erzgebirge im Kriegsleid. Erzgebirgische Kriegschronik, nach dem Originale der »Deutschen Kriegschronik« Magister Christian Lehmanns, bearb. und hg. v. Leo Dr. Bönhoff, Annaberg 1911, S. 65. 57 Detlev Pleiss, »Wer zählt die Völker, nennt die Namen …«. Teil  4, in: Frankenland 55 (2003), H. 6, S. 459–467, hier S. 459.

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gewaltbereite Kämpfer, sondern auch als ökonomisch äußerst umtriebige und erfolgreiche Kriegsunternehmer, bei denen es folglich viel Beute zu holen gab.58 Der deutsche Historiker August Friedrich Gfrörer machte dies anschaulich, wenn er schrieb: das »räuberische Volk« der Kroaten sei »mit reichem Schmuck und schönen Waffen versehen gewesen, Viele hätten mit Silber und Gold gefüllte Gürtel um den Leib getragen, die Knöpfe an ihren Wämsern seien von Silber, Pferdezäume, Sättel, Pistolen und Säbel mit demselben edlen Metalle beschlagen gewesen. Andere hätten massiv goldene und silberne Platten auf der Brust getragen«.59 Seine an einen Bericht aus dem zweiten Band des Theatrum Europaeum angelehnte Beschreibung der Kroaten60 mag zwar weder allgemein zutreffend noch bar jeder Übertreibung gewesen sein, sie veranschaulicht aber eindrücklich, welcher Ruf den Kroaten vorauseilte. Auf der einen Seite profitierten sie von ihrem Nimbus als gefürchtete Gewalttäter, wenn z. B. wie im Falle Eschweges auf Seiten der Bevölkerung gar kein Widerstand mehr geleistet wurde und die Stadt ohne vorherigen Kampf von den Kroaten geplündert werden konnte. Auf der anderen Seite lockte gerade ihr Erfolg andere Beute­ jäger an, die dann selbst Jagd auf die Kroaten und ihre Beute machten. In adeligen Kreisen scheinen Beutestücke von den kroatischen Reitern sogar einen ganz besonderen Stellenwert besessen zu haben. Darauf deutet zumindest das hohe Ansehen hin, das ein eigentlich relativ schlichter Säbel eines kroatischen Kommandanten am kursächsischen Hof genoss, nachdem ihn Johann Georg I. 1635 als Geschenk eines Obristen erhalten hatte.61 Manche der Kriegsgegner zogen aus der Beutegier der Kroaten auch einen taktischen Vorteil. So schickte die von kaiserlichen Truppen bedrängte französisch-weimarische Armeeführung im September 1635 einen Teil ihres Gepäcks voraus, in der Hoffnung, dadurch die kroatischen Reiter abzulenken und selbst Zeit zu gewinnen.62 Flankiert wurde das militärische Vorgehen der Schweden bzw. Finnen von rechtlichen Maßnahmen, mittels derer Gustav Adolf (und seine Nachfolger) die Kroaten auch auf juristischer Ebene bekämpften. Schweden galt zwar im 58 Hallwich, Isolano, S. 638. 59 August Friedrich Gfrörer, Gustav Adolph, König von Schweden, und seine Zeit. Nach dem Tode des Verfassers durchgesehen und verbessert von Onno Klopp, Stuttgart 41863, S. 584. 60 Dort heißt es, die Kroaten trügen »theils Gürtel von Gold unnd Silber umb den Leib / auch ganze Blatten von Gold und Silber geschlagen vor der Brust / auff den Stirnen und dem Gezäum der Pferde / auch an den Sattlen / Pistolen unnd Säbeln / welches manchem / der es besser anzulegen wuste / zu guten statten kam«, Historische Chronick Oder Warhaffste Beschreibung aller vornehmen und denckwürdigen Geschichten: so sich hin und wider in der Welt / von Anno Christi 1629. biß auff das Jahr 1633. zugetragen; Insonderheit / was auff das im Reich publicirte Kayserliche […] / Johann Philipp Abelinus, Frankfurt a. M. 1633, S. 315. 61 Schuckelt, Kroatische Reiter, S. 104. 62 Bernhard R. Kroener, Les Routes et les Étapes. Die Versorgung der französischen Armeen in Nordostfrankreich (1635−1661). Ein Beitrag zur Verwaltungsgeschichte des Ancien Régime, Münster 1980, S. 87.

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17. Jahrhundert, wie bereits erwähnt, als eine Art Vorreiter im Bereich des Militärrechts, auf die Kroaten wurden diese rechtlichen Regelungen jedoch ausdrücklich nicht angewendet. Die kroatischen Kämpfer wurden explizit aus dem Quartierabkommen in Pommern 1630/1631 und dem darauffolgenden Leipziger Quartierabkommen vom November 1632 ausgenommen,63 ihnen wurde also kein Recht auf Kriegsgefangenschaft eingeräumt. Die Wirkung der Verschränkung von Exklusion auf juristischer und Exekution auf praktischer Ebene zeigte sich exemplarisch am 18.  Juli 1632 als französische Dragoner in schwedischen Diensten in der fränkischen Reichsstadt Windsheim alle Kroaten, die sie erst kurz zuvor gefangen genommen hatten, erschossen.64 Zwar war der Moment der Gefangennahme für beide Seiten stets eine riskante Situation, denn einerseits konnte es sich ja auch um eine Finte der scheinbar unterlegenen Kämpfer handeln, andererseits dürfen auch die entstehenden Kommunikationsprobleme bei diesem Vorgang gerade zwischen Soldaten unterschiedlicher Herkunft nicht übersehen werden, doch wurde die Tötung von Kombattanten, die sich bereits ergeben hatten, im Laufe der Frühen Neuzeit zunehmend geächtet (was nichts daran änderte, dass diese Praxis auch im 18. Jahrhundert noch vorkam).65 Und auch wenn sogar der Philosoph und Rechtsgelehrte Hugo Grotius in seinem einflussreichen Werk »De jure belli ac pacis« aus dem Jahre 1625 ein weitgehendes Tötungsrecht nicht nur gegenüber kriegsgefangenen Kämpfern, sondern auch gegenüber feindlichen Kindern und Frauen einräumte,66 so wurde der Umgang mit Kriegsgefangenen im 17. Jahrhundert zunehmend in Form von sogenannten »Quartieren«, später »Kartellen«, zwischen den kriegführenden Parteien geregelt und auf eine juristische Grundlage gestellt.67 In diesen anfangs nur vereinzelt, später dann regelmäßig bei jeder kriegerischen Auseinandersetzung abgeschlossenen Verträgen wurde nicht nur die Freilassung Kriegsgefangener durch Lösegeld oder Austausch geregelt, sondern auch die Behandlung der Gefangenen während ihrer Zeit in feindlichem 63 Johann Ludwig Gottfried, Inventarium Sueciae. Das ist Beschreibung des Königreichs Schweden sampt der Regierung, Leben unndt Thaten der Schwedischen und Gotischen Königen biss uff unser Zeiten, Frankfurt a. M. 1632, S. 254. 64 Stadtarchiv Bad Windsheim, A 2a. Chronik des Andreas Dienst, S.  238. Bei den französischen Dragonern handelt es sich wohl um die Kompanie von Jean de Gassion, vgl. ­Brzezinski/Hook, Armee, S. 59. 65 Michael Kaiser, Kriegsgefangene in der Frühen Neuzeit. Ergänzungen und Perspektiven, in: Arbeitskreis Militärgeschichte e. V. Newsletter 17 (2002), S. 11–14, hier S. 12; Daniel Hohrath, Art. Kriegsgefangenschaft, in: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 7, Stuttgart 2008, Sp. 184–186, hier Sp. 185. 66 Hugo Grotius, Drei Bücher vom Recht des Krieges und des Friedens, Paris 1625. Nebst einer Vorrede von Christian Thomasius zur ersten deutschen Ausgabe des Grotius vom Jahre 1707, hg. und übers. v. Walter Schätzel, Tübingen 1950, S. 452. 67 Wolfgang Wunderlich, Das Kriegsgefangenenrecht im Deutschen Reich vom 16.  Jahrhundert bis 1785. Mit einem Überblick über das römische und mittelalterliche Kriegs­ gefangenenrecht, Köln 1968, S. 39. Vgl. dazu z. B. Akten aus dem OeStA/KA Wien AFA 116 VII, fol. 12 und 16 sowie VIII, fol. 29.

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Gewahrsam.68 Zwar erfuhren auch kroatische Gefangene in späteren Kriegsjahren insofern eine bessere Behandlung, als sie am Leben gelassen und ausgetauscht wurden,69 doch in den (frühen) 1630er Jahren war der Status eines kroatischen Soldaten als extralegaler Kriegsgefangener höchst prekär. Eine interessante Abweichung von dieser Praxis der Kriegsgefangenenexekution ist allerdings im Zusammenhang mit Gustav Adolfs Eroberung von Frankfurt an der Oder dokumentiert. Nachdem die unter Tilly vereinte kaiserlich-ligistische Armee 1631 an die Oder gezogen war, um einen befürchteten schwedischen Vormarsch nach Schlesien zu verhindern, hatten Tillys Soldaten einige Plünderungszüge unternommen, u. a. im März 1631 gegen die Stadt Neubrandenburg, wo die Verteidiger und insbesondere auch die Bevölkerung eine wahre Schreckensnacht erlebten, die noch lange in der lokalen Erinnerung haften blieb. Die Schweden antworteten mit einem Überfall auf Frankfurt an der Oder, wo eine kaiserlich-ligistische Garnison stationiert war. Ohne großen Widerstand wurde die Stadt am 13. April 1631 erstürmt. Anschließend richteten die schwedischen Soldaten unter den um Gnade flehenden Soldaten ein Massaker an und raubten die protestantische Bevölkerung aus.70 Von Frankfurt aus zogen Gustav Adolfs Truppen weiter nach Landsberg an der Warthe. Auf dem Weg dorthin trafen sie auf kroatische Truppen unter dem Obersten Peter Losy. Die Schweden siegten, töteten in diesem Fall aber nicht ausnahmslos alle Kroaten, sondern nahmen den Kroatenoberst selbst und 300 seiner Söldner gefangen. Die gefangenen Soldaten wurden nach Schweden verschleppt, wo sie zu schwerer Arbeit in Kupferbergwerken gezwungen wurden,71 die wohl keiner überlebte. Dies war keineswegs ein gewöhnlicher Vorgang. Üblicherweise wurden Kriegsgefangene entweder gegen eigene Männer ausgetauscht, nach Zahlung eines Lösegelds freigelassen oder »untergesteckt« respektive »untergestellt« – also dem eigenen Heerkörper inkorporiert.72 Gerade letztere Methode 68 Wunderlich, Kriegsgefangenenrecht, S. 40. 69 Vgl. z. B. OeStA/KA Wien AFA 116 VII, fol. 12. 70 Moriz Ritter, Deutsche Geschichte im Zeitalter der Gegenreformation und des Dreissigjährigen Krieges, Bd. 3: Geschichte des Dreissigjährigen Krieges, Stuttgart 1908 [ND Darmstadt 1962], S. 479. Eine ergänzende Quelle zu diesen Ereignissen bei: Rudolf Hanncke, Cosmus von Simmerns Bericht über die von ihm miterlebten Geschichtsereignisse zur Zeit des Wallensteinischen und Schwedischen Volckes in Pommern, in: Baltische Studien 40 (1890), S. 17–67, bes. S. 47–64. 71 Bayerische Staatsbibliothek München, Collectio Camerariana 46:9, Extraect Schreibens aus Cüstrin vom 5./15. April 1631; Emmanuel van Meteren, Meteranus Novus. Das ist Warhafftige Beschreibung Deß Niederländischen Historien Vierdter Theil, Amsterdam 1640, S. 87. Den Zusammenhang zwischen der Kupfererzeugung und -ausfuhr auf der einen, und schwedischer Großmachtstellung auf der anderen Seite hat Kjell Kumlien aufgezeigt, Ders., Staat, Kupfererzeugung und Kupferausfuhr in Schweden 1500−1650, in: Hermann Kellenbenz (Hg.), Schwerpunkte der Kupferproduktion und des Kupferhandels in Europa 1500−1650, Köln 1977, S. 241–259. 72 Kaiser, Kriegsgefangene, S.  11–14; Ders., Cuius exercitus, eius religio? Konfession und Heerwesen im Zeitalter des Dreißigjährigen Krieges, in: Archiv für Reformations­

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wurde gerne genutzt, um die Verluste in den eigenen Reihen – verursacht durch Tod und Verwundung in der Schlacht, Krankheit oder Desertion  – zu kompensieren. So frohlockte Gustav Adolf nach der Ersten Schlacht von Breitenfeld 1631, dass er mittels der 6.000 gefangenen kaiserlichen Soldaten nicht nur die eigenen Regimenter auffüllen, sondern darüber hinaus sogar noch neue Einheiten aufstellen konnte.73 Warum den Kroaten unter Losy eine völlig andere Art der Behandlung zu Teil wurde, aus welchem Grund also ausgerechnet sie nach Schweden zur Bergbauarbeit geschickt wurden, ist in den Quellen nicht überliefert. Dieses Beispiel zeigt jedoch deutlich, dass den kroatischen Söldnern eine signifikant schlechtere Behandlung zuteilwurde als den meisten anderen Kriegsgefangenen. Indem der schwedische König die Kroaten immer wieder der unmenschlichen, barbarischen Kriegsführung bezichtigte, ging er auch auf einer dritten, publizistisch-propagandistischen Ebene wirkungsvoll gegen sie vor. Er drohte dem katholischen Heerführer Tilly, er wolle diesem »mit seiner eigenen Münze bezahlen, und ihm weisen, daß er wie ein menschlicher Soldat, nicht aber wie ein Croate, Krieg führen solle.«74 Und auch in seiner berühmten Strafpredigt von 1632 fungierten die leichten Reiter der katholischen Seite als abschreckendes Beispiel, wenn der schwedische König seine eigenen Truppen ermahnte: »Lasset euch, wie es Soldaten gebühret, an eurem Sold begnügen und lebet nicht wie Banditen und Croaten vom Stehlen und Plündern. Widrigfalls werdet ihr vom höchsten bis zum niedrigsten allemal in einem üblen Nachruf stehen und ich werde mit solchen Helfern nie siegen können.«75

Um gerade auch die ethisch-moralischen Defizite der Kroaten deutlich herauszustellen, sprach ihnen Gustav Adolf in seinen Ansprachen nahezu alle klassischen Eigenschaften des Barbarentopos zu, die der navarresische Humanist ­Johannes Ravisius Textor in seinem 1541 postum erschienen Werk »Epithetorum« aufführte, also Wildheit (barbaries furens), Schrecken (barbaries horrida), Rohheit ihres sozialen Verhaltens (barbaries cruda), permanente Normverletzung (barbaries scelerata) und raue Umgangsformen (barbaries dissona).76 Der produktive Effekt dieses gezielt aufgebauten Feindbildes war die Beförderung des Zusammenhalts der eigenen Armee und der Aufbau einer gemeinsamen Identität des ethnisch heterogenen schwedischen Heeres.77

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geschichte 91 (2000), S. 316–353, hier S. 334 f.; Burschel, Söldner im Nordwestdeutschland, S. 158. Jörg-Peter Findeisen, Gustav Adolf von Schweden. Der Eroberer aus dem Norden, überarb. TB -Ausgabe, Gernsbach 2005, S. 194. Walther Harte, Das Leben Gustav Adolphs des Großen, Königs von Schweden, Bd. 1. aus dem Engl. übers. v. Georg Heinrich Martini, Leipzig 1760, S. 444. Günter Barudio, Gustav Adolf. Eine politische Biographie, Frankfurt a. M. ²1982, S. 573. Johannes Ravisius Textor, Epithetorum, Lyon 1558, S. 54 f. Zur produktiven Funktion von Feindbildern vgl. Martin Wrede, Art. Feindbild, in: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 3, Stuttgart 2006, Sp. 878–890, hier Sp. 880.

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Die Perhorreszierung des Feindes diente aber nicht nur der eigenen Gruppenkohäsion, sondern auch der Disziplinierung und Mobilisierung der untergebenen Soldaten.78 Die Strafpredigt Gustav Adolfs exemplifiziert diesen Doppelzweck eindrücklich: einerseits wurden die Kroaten als illegitim handelnde Banditen markiert, andererseits die eigenen Soldaten ermahnt, nicht genauso zu handeln.79 Wenn der schwedische König die Kroaten aufgrund ihres Gewalthandelns also von den »normalen« Soldaten unterschied, dann machte er sie damit zum negativen Bezugspunkt seiner eigenen Vorstellung einer legitimen Kriegsführung. Für den schwedischen Eroberer war es nämlich durchaus wichtig, die Kriegsführung seiner Soldaten einigermaßen im Zaum zu halten,80 um der Glaubwürdigkeit seiner Rolle als Beschützer des Protestantismus bzw. der »teutschen libertät« nicht jegliche Grundlage zu entziehen. Letztlich kam der delegitimierenden Propaganda des schwedischen Königs gegenüber den Kroaten auch eine legitimierende Funktion für das eigene Handeln zu. Indem die Kriegsführung der kroatischen Söldner außerhalb des Kriegsrechts gestellt wurde, war es fortan nicht mehr notwendig, ja nicht mehr angebracht, im Rahmen des ius in bello­ gegen die leichte Reiterei des Kaisers vorzugehen. Da die Kroaten durch ihre extreme Gewalttätigkeit gezeigt hatten, dass sie nicht demselben Normen- und Wertesystem verpflichtet waren wie die anderen Kriegsteilnehmer, war es nach schwedischer Auffassung nur legitim, gegen sie mit Methoden vorzugehen, die man selbst offiziell ächtete.81 Die besondere Gewalthaftigkeit mit der die Finnen nachgerade gegen die Kroaten vorgingen, sollte dabei aber nicht als ultima ratio missverstanden werden, sondern vielmehr als eine aus schwedischer Sicht legitime und angemessene Reaktion auf das Verhalten der Kroaten. Immerhin lässt sich dieses Verhaltensmuster  – also dass auf eine als besonders barbarisch empfundene Tat der einen Seite eine mindestens ebenso grausame Aktion der anderen folgte – gerade im Dreißigjährigen Krieg immer wieder beobachten. Als Gustav Adolf 1632 in Bayern einfiel und die dortige Landbevölkerung gnadenlos ausplündern und viele ihrer Siedlungen niederbrennen ließ, reagierte der bayerische Kurfürst Maximilian I. mit der Anordnung, seine Untertanen sollten jeden schwedischen Soldaten, den sie fangen konnten, umgehend erschlagen.82

78 Ebd. 79 Barudio, Gustav Adolf, S. 571–573. 80 So erwähnt der schwedische Historiker Peter Englund z. B., dass Gustav Adolf seine Soldaten den Angriff auf Kirchen und Schulen explizit untersagte, vgl. Ders., Verwüstung. Eine Geschichte des Dreißigjährigen Krieges. Aus dem Schwedischen v. Wolfgang Butt, Hamburg 2013, S. 220. 81 Ein vergleichbares Vorgehen lässt sich in den Kolonialkriegen beobachten, bei denen europäische Kriegsstandards für indigene Kontrahenten keine Geltung hatten, vgl. Jürgen Osterhammel, Kolonialismus. Geschichte, Formen, Folgen, München 42003, S. 50. 82 Johannes Arndt, Der Dreißigjährige Krieg 1618−1648, Stuttgart 2009, S. 112.

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Zugute kam Gustav Adolf in diesem Fall, dass die Bevölkerung des Alten Reichs gegenüber exotischen Kriegsvölkern tendenziell eine skeptische bis xenophobe Grundeinstellung hegte,83 die sich durch geschickte publizistische Maßnahmen relativ leicht in offene Abneigung steigern ließ. Durch die geographische Nähe zu den Türken, die oft als »Geißel Gottes« verunglimpft wurden, boten die Kroaten darüber hinaus ein besonders breites Angriffs- bzw. Anknüpfungsfeld für angstbesetzte Vorurteile.84 So wurden aus den kognitiv F ­ remden schnell normativ Fremde.85 Die besondere Exotik der Kroaten – immerhin kamen sie vom äußersten Rand des christlichen Europas, kommunizierten in einer fremden Sprache und kleideten sich ungewöhnlich – hat das Stereo­t yp der grausamen Barbaren und eine Essentialisierung von Ethnizität noch befördert. Zur Verfestigung des ausgeprägten Feindbildes trugen die vielfach dokumentierten Gewaltexzesse der Kroaten im Dreißigjährigen Krieg natürlich substantiell bei, sodass ihr negatives Image langfristig festgeschrieben wurde.86 Horst Carl hat für fremde Kriegergruppen, wie beispielsweise die Kroaten im Alten Reich, den Begriff »Exotische Gewaltgemeinschaften« vorgeschlagen, zu denen er im Kontext des Dreißigjährigen Krieges auch Iren, Schotten, Finnen und K ­ osaken zählt.87 Carl betont in seinem Aufsatz, dass es eben nicht nur die fremde,­ exotische Herkunft der Söldner war, die diesen Gewaltgemeinschaften einen so prominenten Platz in der Wahrnehmung der Zeitgenossen bescherte, sondern dezidiert auch ihre besondere, deviante Art der Kriegsführung, die als »exzessiv, unkalkulierbar und unkontrollierbar«88 erfahren wurde. Aber selbst innerhalb dieser ›exklusiven‹ Gruppe stachen die Kroaten noch hervor, was sich schon daran festmachen lässt, dass keine der anderen Gewaltgemeinschaften ein den »Kroatenjahren« vergleichbares Erinnerungsphänomen evoziert hat. 83 Wolfgang Harms, Feindbilder im illustrierten Flugblatt der Frühen Neuzeit, in: Franz Bosbach (Hg.), Feindbilder. Die Darstellung des Gegners in der politischen Publizistik des Mittelalters und der Neuzeit, Köln 1992, S. 141–178, hier S. 155; Kroener, Kriegsgurgeln, S. 63; Burschel, Söldner, S. 48. 84 Die Kroaten wurden teilweise sogar selbst als Türken bezeichnet, vgl. z. B. Christian Waas (Hg.), Die Chroniken von Friedberg in der Wetterau, Friedberg 1937, S. 193. 85 Die Unterscheidung zwischen kognitiv und normativ Fremden geht zurück auf den Kölner Literaturwissenschaftler Norbert Mecklenburg, Ders., Über kulturelle und poetische Alterität. Kultur- und literaturtheoretische Grundprobleme einer interkulturellen Germanistik (1987), in: Dietrich Krusche/Alois Wierlacher (Hg.), Hermeneutik der Fremde, München 1990, S. 80–102, hier S. 81. 86 Zum Bild der Kroaten in Deutschland siehe Mirna Zeman, Kroatische Imagothemen. Deutschsprachige Fremddarstellungen »illyrischer« Völkerschaften, in: Mirosława­ Czarnecka u. a. (Hg.), Frühneuzeitliche Stereotype. Zur Produktivität und Restriktivität sozialer Vorstellungsmuster. V. Jahrestag der Internationalen Andreas Gryphius Gesellschaft Wrocław 8. bis 11. Oktober 2008, Breslau 2010, S. 129–150. 87 Horst Carl, Exotische Gewaltgemeinschaften. Krieger von der europäischen Peripherie im 17. Jahrhundert, in: Philippe Rogger/Benjamin Hitz (Hg.), Söldnerlandschaften. Frühneuzeitliche Gewaltmärkte im Vergleich, Berlin 2014, S. 157–180. 88 Ebd., S. 163.

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6. Fazit Die bisherigen Ausführungen sollten aufzeigen, dass und wie die kroatischen Söldner von Seiten des schwedischen Königs Gustav Adolf und seinen Nachfolgern auf mindestens drei Ebenen massiv attackiert wurden, womit sie auf jeder dieser Ebenen eine Opferrolle einnahmen. Dass die Kroaten sowohl in der Forschung als auch in der (deutschen) Erinnerungskultur nahezu ausschließlich als Täter präsent sind, hängt erstens selbstredend damit zusammen, dass sie dies auch vorwiegend waren und gerade von der Zivilbevölkerung meist – aber keineswegs immer – als solche erfahren wurden.89 Zweitens liegt die einseitige Rollenwahrnehmung der Kroaten auch darin begründet, dass sie selbst kaum schriftliche Quellen hinterließen, die ein anderes Bild von ihnen hätten zeichnen können. In dieser Hinsicht siegten die Opfer über die Täter insofern, als sie die Erinnerung an die Ereignisse prägten und dominierten. Zuletzt muss beachtet werden, dass die Kroaten ins »klassische Opferschema« nicht ohne Weiteres eingefügt werden können. Denn ein zentrales Zuschreibungsmerkmal der Opfer scheint mir neben den Attributen der Unschuld (v. a. in Bezug auf Kinder) und des Ansehens (v. a. in Bezug auf Geistliche, Adelige und auch bürgerliche Amtsträger) der Aspekt der Wehrlosigkeit hinsichtlich der gegen sie gerichteten Angriffsmittel zu sein. Die ersten beiden Eigenschaften, Unschuld und hohes Ansehen, treffen auf die Kroaten sicherlich nicht zu, das letzte Merkmal dagegen in gewisser Weise schon. Militärisch konnten sich die angegriffenen Söldner zur Wehr setzen, auf der juristischen und publizistischen Ebene waren sie dagegen mittellos. Das oben angeführte Beispiel Windsheims macht deutlich, wie das Ineinandergreifen der einzelnen Ebenen handlungspraktische Folgen zeitigen konnte. Die Diskriminierung auf der Repräsentationsebene spiegelte sich auf der Handlungsebene wider, ja sie prädisponierte diese insofern, als sie den Rahmen dafür schuf. Die Kroaten waren also weder nur grausame Täter des Kleinen Krieges noch ausnahmslos Opfer schwedischer Aggression. Ihr Rollenmuster war fluid und je nach Ebene unterschiedlich. Auf der einen Ebene waren sie grausame Gewalt­ täter, wobei in diesem Zusammenhang auch ihre besondere Aufgabenstellung als leichte Reiterei zumindest mitgedacht werden muss. Ihre militärischen Gegner reagierten mit einem besonders aggressiven und unnachgiebigen Verhalten ihnen gegenüber und nutzten darüber hinaus die produktive Funktion eines wirkungsvollen Feindbildes. So waren die kroatischen Reiter im Dreißigjährigen Krieg in vielen Fällen grausame Gewalttäter, unter manchem Gesichtspunkt auf anderer Ebene aber auch Opfer. Viele weitere Rollen der Kroaten sind 89 Vor allem in Situationen der Koexistenz, in erster Linie also im Winterquartier, verhielten sich die Kroaten meist friedlich und gaben wenig Anlass zur Klage, vgl. z. B. die Berichte aus dem Hauptstaatsarchiv Stuttgart A 573 Bü 5618, 5623 oder dem Thüringischen Staatsarchiv Meiningen GHA III Nr. 898, 975.

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bisher unberücksichtigt geblieben, so z. B. ihre Rollen als Gewaltunternehmer, als Heiratspartner einheimischer Frauen oder als innermilitärische ›Feldjägereinheit‹. Eine Untersuchung ihres gesamten Rollenspektrums soll aufzeigen, dass auch eine Gemeinschaft deren Existenz und Identität in erster Linie durch die Ausübung von Gewalt bestimmt wurde, fast immer auch andere Handlungs- und Verhaltensweisen im Repertoire hatte. Wann und warum sie sich für eine bestimmte Handlungsoption entschieden, bedarf einer genauen und umfassenden Analyse, die weiteren Forschungen vorbehalten ist.

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Gewaltunternehmer im 17. Jahrhundert Nordafrikanische Korsaren zwischen (Klein-)Krieg, (Raub-)Handel und Piraterie 1. »Krieg, Handel, Piraterie« – Inhaltliche Grenzüberschreitungen »Man fragt ums Was, und nicht ums Wie. Ich müßte keine Schiffahrt kennen: Krieg, Handel und Piraterie, Dreieinig sind sie, nicht zu trennen.«1

Die oft zitierte Prahlerei des Mephistopheles aus dem Hauszitatenschatz von Goethes Faust II weist auf Grenzüberschreitungen, auf die Aufsprengung vermeintlich fester Kategorien: Wer staatliche Gewalt ausübt, kann kein ›Pirat‹ sein; wer Handel treibt kein Krieger, weder legitimiert als Soldat noch irregulär als ›Partisan‹ zu Lande oder als ›Korsar‹ zur See. Offenkundig spiegelt das im 19.  Jahrhundert ausgeformte Gewaltmonopol der Staatsgewalt nach westlicher Art Trennungen wider,2 deren Aufhebung nur vom Teufel selbst stammen kann. Doch werden dadurch die Grenzzonen erst sichtbar: einerseits zwischen regulärem Krieg, Kleinkrieg und irregulären Gewaltaktionen, für welche die Wortverbindungen mit »Krieg« unangemessen scheinen. Andererseits stellt sich die Frage nach den fluiden Übergängen zwischen friedlichem Geschäftsverkehr, Raubhandel und Gewaltverbrechen. Beide Gesichtspunkte zusammen werden seit den 1990er Jahren unter dem Aspekt der Gewaltökonomie zunehmend von der Forschung beleuchtet,3 nicht zuletzt unter dem Eindruck der zeitgebunden als neuartig erscheinenden Konfliktformen.4 Die klassische Mi-

1 Johann Wolfgang von Goethe, Faust. Der Tragödie zweiter Teil, 5. Akt, 2. Szene (Palast), http://www.gutenberg.org/cache/epub/2230/pg2230.txt (Zugriff am 1.6.2015). 2 Vgl. Max Weber, Politik als Beruf, in: Ders., Gesammelte Politische Schriften, Tübingen 1971 [1919], S. 505–560, hier S. 506. 3 Georg Elwert, Gewaltmärkte. Beobachtungen zur Zweckrationalität der Gewalt, in: Trutz von Trotha (Hg.), Soziologie der Gewalt, Opladen 1997, S.  86–101; François Jean/JeanChristophe Rufin, Ökonomie der Bürgerkriege, Hamburg 1999 [frz. 1996]. Zu den »neuen Kriegen«: Mary Kaldor, New and Old Wars. Organized Violence in a Global Era, Cambridge 32001; Herfried Münkler, Die neuen Kriege, Reinbek bei Hamburg 52003. 4 Douglas R. Burgess Jr., The Dread Pirate Bin Laden. How thinking of terrorists as pirates can help win the war on Terror, in: Legal Affairs. The Magazine at the Intersection of Law

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litärgeschichtsschreibung fokussierte sich auf Strategie, Taktik und Operationsführung. Diese Betrachtungsweise blendete die private oder teilstaatliche Gewaltökonomie meist ganz aus oder nahm sie als »Entartung« wahr.5 Nicht zuletzt wegen der semantischen und historiographischen Professionalisierung der militärischen Gewaltakteure erscheint der Handel als zutiefst friedliches Gewerbe. Entsprechend pflegte die Historiographie im Zeitalter des Nationalstaats bisweilen die Allmacht des Staates teleologisch in eine Vergangenheit­ hineinzulesen, deren Lebenswelt noch stark vorstaatlich geprägt war.6 Piraten und ihre durch Kaperbriefe legitimierten Gegenstücke, die Korsaren,7 sind »Grenzverletzer«.8 In der dem Zeitalter des Nationalstaats verhafteten Sichtweise des späteren 19. und 20. Jahrhunderts galten beide Erscheinungsformen der Seebeutefahrer pauschal als illegale Seeräuber. Ihre Geschichte musste somit vom »Bordbuch des Satans« handeln.9 Diese Beziehungsfelder zwischen Tätern und Opfern in Gewaltgemeinschaften treten bei den nordafrikanischen Korsaren der sogenannten Barbareskenstaaten – oder besser: Regentschaften – des 16. bis frühen 19. Jahrhunderts besonders klar zu Tage.10 Ihre Aktivitäten



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and Life, Juli/August 2005, http://www.legalaffairs.org/issues/July-August-2005/feature_ burgess_julaug05.msp (Zugriff am 1.6.2015); Heinz-Dieter Jopp/Roland Kaestner, Analyse der maritimen Gewalt im Umfeld der Barbaresken-Staaten vom 16. bis zum 19. Jahrhundert (PiraT-Arbeitspapier zur Maritimen Sicherheit Nr.  5), Mai 2011, http://www. maritimesecurity.eu/fileadmin/content/news_events/workingpaper/PiraT_Arbeitspapier_ Nr5_2011_ISZA .pdf (Zugriff am 1.6.2015). Zitat: Carl Hans Hermann, Deutsche Militärgeschichte. Eine Einführung, Frankfurt a. M. 21968, S. 82–86. Hierzu: Jutta Nowosadtko, Krieg, Gewalt und Ordnung. Einführung in die Militärgeschichte, Tübingen 2002, S. 57–64; Ralf Pröve, Militär, Staat und Gesellschaft im 19. Jahrhundert, München 2006, S. 47–49; Gerhard P. Groß, Mythos und Wirklichkeit. Geschichte des operativen Denkens im deutschen Heer von Moltke d. Ä. bis Heusinger, Paderborn 2012, S. 44–59. Markus Meumann/Ralf Pröve, Die Faszination des Staates und die historische Praxis. Zur Beschreibung von Herrschaftsbeziehungen jenseits teleologischer und dualistischer Begriffsbildungen, in: Dies. (Hg.), Herrschaft in der Frühen Neuzeit. Umrisse eines dynamisch-kommunikativen Prozesses, Münster 2004, S. 11–49, hier S. 16–23. Robert Bohn, Freibeuter, in: Enzyklopädie der Neuzeit (im Folgenden EdN), 16 Bde., Stuttgart 2005−2012, hier Bd. 3, Sp. 1123–1129; Ders., Korsaren, in: ebd., Bd. 7, Sp. 81–85; Michael Kempe, Piraten, in: EdN, Bd. 10, Sp. 30–33. Eva Horn (Hg.), Grenzverletzer. Von Schmugglern, Spionen und anderen subversiven Gestalten, Berlin 2002. Hans Leip, Bordbuch des Satans. Eine Chronik der Freibeuterei vom Altertum bis zur­ Gegenwart, Berlin 1960. Michael Kempe, Fluch der Weltmeere. Piraterie, Völkerrecht und internationale Beziehungen 1500−1900, Frankfurt a. M. 2010, S.  245–286; Salvatore Bono, I corsari barbareschi, Turin 1964; Ders., Corsari nel Mediterraneo. Cristiani e musulmani fra guerra, schiavitu e commercio, Mailand 1993 [dt. = Piraten und Korsaren im Mittelmeer. Seekrieg, Handel und Sklaverei vom 16. bis 19. Jahrhundert, Stuttgart 2009]; Ders., Lumi e corsari. Europa e Maghreb nel Settecento, Perugia 2005; Fernand Braudel, La Méditerranée et le monde méditerranéen à l’époque de Philippe II, Bd. 2, Paris 81987, S. 190–212.

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waren eingebettet in einen labilen Gleichgewichtszustand: zwischen Raubhandel und Marktwirtschaft, Krieg der Großmächte und maritim-amphibischem Kleinkrieg. Diese Gewaltgemeinschaften beruhten auf gesellschaftlich-politischen (Des-)Integrationsfaktoren mit ›zivilisatorischer‹ Konnotation. Das Wort Piraterie war im Mittelmeerraum bis zum Beginn des 17. Jahrhunderts weniger geläufig als der Begriff Korsarentum (ital./span. corso, frz. course), der hier seit der Antike bekannt war. Kurzgefasst, handelt es sich bei Korsaren um autorisierte Seebeutefahrer, was natürlich das Perspektivenproblem bei der Legitimitätswahrnehmung aufwirft.11 Die gängige Bezeichnung »usanza del mare«, widerspricht den negativen Deutungsgewohnheiten. Solche aber waren auch zeitgenössischen Quellen durchaus zu eigen: Die mit der Materie bestens vertrauten Geistlichen Diego de Haedo und Pierre Dan beschrieben die nordafrikanischen Korsaren als Agenten des Teufels. In seiner im Jahr 1612 erschienenen »Topographia e Historia General de Argel« beschrieb sie Haedo als »infernale Harpien«, die die christlichen Reiche mit kontinuierlichen Raubzügen heimsuchten.12 Ein Vierteljahrhundert später beschrieb sie Dan als »nichtsnutzige Leute« ohne die Neigung einer ehrenwerten Arbeit nachzugehen. Dagegen rühmten sich die Korsaren ihrer Raubzüge, aus denen wiederum eine Vielzahl weiterer Laster resultiere, die ungestraft in ihren Ländern ausgeübt werden dürften.13 Zwar hätten früher alle Nationen solche Räubereien autorisiert, doch heute – also 1637 – sei es in den großen Städten der »Barbarei«, also des nordafrikanischen Maghreb, vor allem Algier, Tunis, Tripolis und Salé, nicht nur jedem erlaubt, sondern geradezu glorreich, sich dieser Tätigkeit zu widmen.14 Und an anderer Stelle, nun bezüglich der Korsarenmetropole Algier, heißt es, dass deren Bewohner Barbaren seien, Feinde des Friedens und der Eintracht.

11 Braudel, La Méditerranée, S. 191. 12 Fray Diego de Haedo, Topographia e Historia General de Argel, Valladolid 1612, S. 116: »[E]l oficio, arte, y co[n]tinuo exercicio destos barbaros, no es si no robar por todas las tierras y playas, de los estados, y Reynos Christianos: y como vnas harpias infernales no viuen sino de rapiña continua«, http://purl.pt/14495/4/hg-2621-a_PDF/hg-2621-a_PDF_24-C-R0150/ hg-2621-a_0000_capa-capa_t24-C-R0150.pdf (Zugriff am 26.1.2017). 13 Pierre Dan, Histoire de Barbarie et de ses corsaires, divisé en six livres, ou il est traitté de leur gouvernement, de leurs moeurs, de leurs cruautez, de leurs brigandages, de leurs sortileges, et de plusieurs autres particularitez remarquables, Paris 1637, https://books. google.de/books?id=L2AVAAAAQAAJ&printsec=frontcover&dq=Pierre+Dan,+Histoire+ de+Barbarie+et+de+ses+corsaires+gallica+pdf&hl=de&sa=X& ved=ahUKEwiLu YKJ4N_RAhVEDJoKHf7jCYAQ6AEIGjAA#v=onepage&q&f=false (Zugriff am 26.1.2017). S. 77: Des »gens faineans, qui n’ont point d’industrie à gaigner leur vie par vn honneste trauail«; »A ces brigandages, don’t il font gloire, est joint vn amas de toute sorte de vices qui regnent impunément parmy eux«. 14 Ebd., S. 76: »[D]es nations toutes entieres authorisoient autrefois ce larcin, puis qu’elles auoient assez de tolerance pour le permettre. Mais dans les principales villes de Barbarie, qui sont Alger, Tunis, Salé, Tripoly, & quelques autres, il es ensemble permis, voire glorieux à quiconque s’en mesle [mêle], j’endends pour l’effet de la Pyraterie«.

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Ihre ganze Politik stütze sich einzig auf die Maxime des Krieges.15 Das spiegelt die Vorstellung Ciceros vom Piraten als »Feind aller« wider.16 Natürlich gilt es die Zielsetzung der schreibenden Kleriker zu berücksichtigen. Trotz ihrer ausgeprägten Sachkunde galt ihr Interesse der Befreiung von in nordafrikanische Korsarenhand geratenen christlichen Gefangenen. Ihre Darstellung folgt damit implizit der Opferperspektive; natürlich in der Absicht, die eigene Rolle bei der Gefangenenauslösung hervorzuheben.17 Kulturelle und religiöse Stereotypen überlagerten somit die Deutung.

2. Korsaren als Thema der Militärgeschichte? – Methodische Grenzüberschreitungen Die buchstäblich fluide Schnittstelle zwischen »Krieg«, »Handel« und »Piraterie« trat im maritimen Bereich deutlicher hervor als zu Lande. Doch betrifft das zumindest die ›entwickelten‹, bevölkerungsreichen Landregionen; die wie die See ebenfalls als Grenzzonen fungierenden Wüsten- und Steppenregionen – wie die Sahara oder das »wilde Feld« (diko[j]e pol[j]e) in der heutigen Ukraine – wiesen Formen der kollektiven Gewalt auf, die denen im Nexus Piraterie/Korsarentum in vieler Hinsicht ähnelten. Schon daher kann die Betrachtung dieser Gewaltaktionen nicht auf rein maritime Aspekte beschränkt bleiben. Zudem würde die Trennung zwischen ›Heeres‹- und ›Marinegeschichte‹ weder den militärischen Großoperationen der habsburgischen (»spanischen«) Flotten und Heere im Mittelmeerraum gerecht,18 noch dem Charakter der Korsarenaktivitäten. Beide waren im Mittelmeer bis zum Ende der Frühen Neuzeit durch amphibische Operationen gekennzeichnet. Davon zeugt die Bezeichnung der spanischen »armada«.19 Und noch im 17.  Jahrhundert firmierten die englischen Flottenführer unter der Bezeichnung »generals of the sea«. (Dagegen dürfte spätestens seit Beginn der Hochmoderne kaum ein Admiral seine Titulierung als »General« durchgehen lassen.) 15 Ebd., S. 105: »Ceux d’Alger […], comme Barbares qu’ils sont, & ennemis de la Concorde, ont […] mis toute leur Politique dans les armes, & fondé sur les seules maximes de la guerre l’entier gouuernement de leur Ville, & de leur Royaume.« 16 Marcus Tullius Cicero, De officiis. Vom pflichtgemäßen Handeln, übers. und hg. v. Heinz Gunermann, Stuttgart 1976, Buch 3, S. 107. 17 Dan, Histoire, S. 464–514. 18 Horst Pietschmann, Frühneuzeitliche Imperialkriege Spaniens. Ein Beitrag zur Abgrenzung komplexer Kriegsformen in Raum und Zeit, in: Tanja Bührer u. a. (Hg.), Imperialkriege. Strukturen – Akteure – Lernprozesse, München 2011, S. 73–92, hier S. 77 f. 19 D[avid] J. B. Trim/Mark Charles Fissel, Amphibious Warfare 1000−1700. Commerce, State Formation and European Expansion, Leyden 2006. Zur Begrifflichkeit: Dies. (Hg.), Amphibious Warfare, 1000−1700. Concepts and Contexts, in: ebd., S. 1–50, hier S. 7 f., 27–32. Auch in diesem Band tritt das Korsarentum entweder nur implizit hervor oder aber eingebettet in die Gesamtoperationen oder strategische Zielsetzungen der Akteure. Dies belegt zugleich die Schwierigkeit, das Typische dieser Konfliktformen abseits der Groß-

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Maritimer (Raub-)Handel und (Klein-)Krieg bedurften der Stützpunkte, also der Häfen und ihrer regionalen, politischen und kommerziellen Netzwerke. Diese bildeten Schnittstellen zwischen Krieg und Markt als regionale Verdichtungszonen des Korsarentums, analog zu den terrestrischen »Söldnerlandschaften«. Die das Korsarentum begünstigenden Hafenstädte waren somit deren notwendige Vorbedingung.20 Dies wiederum stützte sich politisch und ethnisch auf komplexe Migrationsgesellschaften – auch hinsichtlich der Gewaltaffinität oder deren Erdulden. Diasporagesellschaften mit ihren trennenden und verbindenden Zügen zwischen den ›Kulturkreisen‹ auf beiden Ufern des Mittelmeers gehörten somit untrennbar zum Phänomen dazu.21 Quer zu den im 19.  Jahrhundert gewonnenen und im 20. Jahrhundert verabsolutierten Rechtsnormen brachten Migrationsgesellschaften gleichsam »fliegende Fische« hervor: in beiden Aggregatzuständen anzutreffen, doch nicht vollständig assimiliert.22 Als eine institutionalisierte Form der Gewaltausübung folgte das Korsarentum einer von den Konfliktparteien zumindest implizit anerkannten Handlungslogik – als Kriegsbrauch.23 Das ermöglichte Marktmechanismen, die erst im changierenden Feld zwischen Krieg und Handel gedeihen konnten. Nachdem die mediterrane Welt Ende des 16. Jahrhunderts gleichsam aus der »großen Geschichte« heraustrat,24 bildeten diese Formen von Gewaltausübung, Gewaltökonomie und Rechtskultur zwischen Norm und Normbruch bis ins 18. Jahrhundert hinein ein komplexes, doch stabiles Gleichgewicht der Kräfte.25 Daraus ergab sich gewissermaßen ein »Marktgleichgewicht«, das eine teils sehr fluide Beziehung zwischen Tätern und Opfern ermöglichte. In zeitlicher Hinsicht herrschte dieses Gleichgewicht im Gewaltmarkt in der Zeit zwischen der Seeschlacht von Lepanto 1571 und dem Wiener Kongress 1815. operationen zu beschreiben. Vgl. John Guilmartin, Jr., The Siege of Malta (1565) and the Habsburg-Ottoman Struggle for Domination of the Mediterranean, in: ebd., S. 149–180; R. B[ruce] Wernham, Amphibious Operations and the Elizabethan Assault on the Spanish Atlantic Economy, 1585−1598, in: ebd., S. 181–215; Guy Rowlands, The King’s two Arms. French Amphibious Warfare in the Mediterranean Under Louis XIV, 1664 to 1697, in: ebd., S. 263–311. 20 Braudel, La Méditerranée, S.  193–195. Zu Begriff und Erscheinungsformen: Philippe Rogger/Benjamin Hitz (Hg.), Söldnerlandschaften. Frühneuzeitliche Gewaltmärkte im Vergleich, Berlin 2014. 21 Desanka Schwara u. a., Kaufleute, Seefahrer und Piraten im Mittelmeerraum der Neuzeit. Entgrenzende Diaspora  – verbindende Imaginationen, München 2011. Mit Bezug auf die Zeit nach dem Kalten Krieg und Indiz für das Interesse der rezenten Forschung: Aline Angoustures/Valérie Pascal, Diaspora und Konfliktfinanzierung, in: Jean/Rufin, Ökonomie der Bürgerkriege, S. 379–400. 22 Giovanna Fiume, Schiavitù mediterranee. Corsari, rinnegati e santi di età moderna, Mailand 2009, S. 115–119. 23 Vgl. Martin Hofbauer/Raimond W. Wagner, Kriegsbrauch und berufliches Selbstverständnis des Soldaten, Freiburg 2012. 24 Braudel, La Méditerranée, S. 469–514. 25 Kempe, Fluch, S. 245.

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Das klassische nordafrikanische Korsarentum fiel nahezu exakt zusammen mit der für Europa geltenden Epochenzuschreibung der Frühen Neuzeit – ein Zufall? In diesem Zeitraum entwickelten sich die Aufschwünge der Korsaren­ metropole Algier: Noch ganz im Rahmen des großen Krieges zwischen dem rasch expandierenden Osmanischen Reich und der territorial weitgespannten Habsburgermonarchie unter Karl V. wurde Algier durch den Korsaren Hızır (später bekannt als Khair-ed-­Din, arabisch: Wohl des Glaubens, oder Barbarossa, ital.: Rotbart) im Jahr 1511 eingenommen und später der Hohen Pforte unterstellt. Die Stadt erlebte durch Erfolge ihrer Seebeutefahrer im Kaperkrieg, aber auch in größeren Seegefechten einen Aufschwung. Nach dem für die Flotte Barbarossas erfolgreichen Seegefecht bei Prevesa am 28. September 1538 waren die Korsarenflotten auch im westlichen Mittelmeer zeitweilig dominierend; eine weitere Hochphase des nordafrikanischen Korsarentums war das Jahrzehnt vor dem Seesieg der europäischen Flotten bei Lepanto. Einen erneuten Aufschwung erlebte das Korsarentum nun unter Bedingungen der allgemeinen Waffenruhe zwischen den Großmächten. Die große Zeit der Korsaren – und also die schreckliche Zeit für ihre Opfer – fiel somit in die erste Hälfte des 17. Jahrhunderts. Allein im Zeitraum von 1613 bis 1621 wurden 936 europäische Schiffe von Korsaren aus Algier gekapert.26 Gerade auf dem Gewaltmarkt des Korsarentums und der mit diesem verbundenen Sklaverei war das zwischen den großen Akteuren herrschende Gleichgewicht die Voraussetzung für wechselseitige Raubhandelsund Kleinkriegsaktionen, für gegenseitige Verschleppungs- und Auslösungs­ aktivitäten; einschließlich wandelbarer Rollen zwischen Aufstieg und Fall. Das Beziehungsfeld zwischen Krieg, Handel und Piraterie war ein drei­faches: Erstens, im »Krieg« traten Korsaren als Hilfstruppen staatlicher Gewalt im kleineren Rahmen in Erscheinung. Genau daher stellte die kriegerische Gewalt in kleinem Maßstab eine engere, weil (relativ gesehen) alltäglichere Schnittstelle zur Bevölkerung dar. Dies ergab sich nicht nur aus der kriegerischen Logik. Denn zweitens, im »Handel« im Rahmen einer Gewaltökonomie traten viel­ fältige Wechselbeziehungen zu den umliegenden politisch-gesellschaftlichen Akteuren in Erscheinung: angefangen von Vorfinanzierung und Mobilisierung der Kriegsmannschaft, der Seeleute, der Ruderer und des sonstigen Hilfspersonals, bis hin zur Abwicklung der Geschäfte und Beute- und Gewinnverteilung. Dabei spielte insbesondere die Lösegeldökonomie zur Auslösung Kriegsgefangener und Verschleppter eine hervorgehobene Rolle. Drittens erschien die »Piraterie« als nach See- und Völkerrecht illegale Variante der oben aufgeführten Aktivitäten – oder aber deren laut Kriegsbrauch als illegitim eingestuften 26 Braudel, La Méditerranée, S. 203–208; Magnus Ressel/Cornel Zwierlein, The Ransoming of North European Captives from Northern Africa. A Comparison of Dutch, H ­ anseatic and English Institutionalization of Redemption from 1610−1645, in: Nikolas Jaspert/­ Sebastian Kolditz (Hg.), Seeraub im Mittelmeerraum. Piraterie, Korsarentum und maritime Gewalt von der Antike bis zur Gegenwart, Paderborn 2013, S. 377–406, hier S. 382. Zeitgenössisch: Haedo, Argel, S. 47–61.

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Ausprägung. Als Abschluss einer Reihe von Übereinkünften der europäischen Mächte im Anschluss an den Wiener Kongress stellte die Pariser Seerechts­ deklaration vom 16. April 1856 die Kaperei endgültig unter Strafe. Freilich trat auch hier das alte Problem in neuer Form hervor: Denn bereits die Definition der Piraterie – und deren nunmehrige Gleichsetzung mit der Kaperei – folgte dem Prinzip universal gedachter europäischer Rechtskonzepte; einschließlich der Selbstermächtigung zu deren Bekämpfung.27 Ziel dieser Betrachtung kann es nicht sein, die Phänomene quellennah erschöpfend auszuloten. Die vor allem in der romanischsprachigen Literatur anzutreffenden Studien28 haben lange Zeit nur zögerlich Verbreitung in den deutschen Sprachraum gefunden.29 Bei der Schließung dieser Lücke sind seit den späten 1990er Jahren (und natürlich angesichts aktueller Sensibilisierung für das Thema)  offenkundige Fortschritte erzielt worden.30 Auch kann keine juridisch-juristische Erörterung zum Unterschied von illegaler Piraterie und legitimer Kaperei erschöpfend geleistet werden. Dieser Aspekt wurde jüngst in überzeugender Verknüpfung von historischer und juridischer Perspektive abgehandelt.31 Zudem folgte auch die juristisch-juridische Differenzierung von Piraten und Korsaren (und die spätere Subsumierung der letzteren unter erstere) letztlich dem westlichen Deutungsnarrativ. Der Fokus dieser Betrachtung soll vielmehr auf der Auslotung der Schnittstellen von Raubhandel und Kleinkrieg liegen. Die Bezeichnungen und Konnotationen dieser (vermeintlich oder real) irregulären Gewaltkateure eröffnet die Möglichkeit, die gängigen Begriffe zu problematisieren und Grau- und Grenzzonen zu beleuchten. Hier treten die 27 Julia Angster, Erdbeeren und Piraten. Die Royal Navy und die Ordnung der Welt 1770−1860, Göttingen 22012, S. 253; Kempe, Fluch, S. 343–351; Déclaration concernant le droit maritime euroéen en temps de guerre, 16.4.1856, https://www.admin.ch/opc/fr/ classified-compilation/18560001 (Zugriff am 1.6.2015): »La course est et demeure abolie«. 28 Klassiker: Braudel, La Méditerranée (zuerst erschienen 1949); Roger Coindreau, Les corsaires de Sale, Paris 1948; Bono, I corsari. 29 Bono, Corsari nel Mediterraneo. Die zwischenzeitlich parallel zum Interesse fortgeschrit­ tene Methodenlastigkeit (zumindest) der deutschsprachigen Literatur bezeugt die Kritik von Rainer Plumpe bezüglich der Anekdotenhaftigkeit in Bonos Werk (die insbesondere aber auch das Werk Braudels beträfe): http://www.sehepunkte.de/2010/01/17224.html (Zugriff am 1.6.2015). 30 Andreas Rieger, Die Seeaktivitäten der muslimischen Beutefahrer als Bestandteil der staatlichen Flotte während der osmanischen Expansion im Mittelmeer im 15.  und 16.  Jahrhundert, Berlin 1994; Daniel Panzac, Les corsaires barbaresques. La fin d’une epopée 1800−1820, Paris 1999; Jacques Heers, Les barbaresques. La course et la guerre en Mediterranee, XIVe−XVIe siècle, Paris 2001; Bono, Lumi; Marco Lenci, Guerra, schiavi, rinnegati nel Mediterraneo, Rom 2006; Claire Jowitt (Hg.), Pirates? The Politics of Plunder, 1550−1650, Basingstoke 2007; Wolfgang Kaiser (Hg.), Le Commerce des captifs. Les intermédiaires dans l’échange et le rachat des Prisonniers en méditerranée, XVe−XVIIIe siècle, Rom 2008; Schwara, Kaufleute; Volker Grieb/Sabine Todt (Hg.), Piraterie von der Antike bis zur Gegenwart, Stuttgart 2012; Jaspert/Kolditz, Seeraub. 31 Kempe, Fluch, S. 153–190; Magnus Ressel, Zwischen Sklavenkassen und Türkenpässen. Nordeuropa und die Barbaresken in der Frühen Neuzeit, Berlin 2012, S. 252–275.

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Ambivalenzen zwischen »Tätern« und »Opfern« besonders klar hervor. Diesen Doppelcharakter bringen Korsaren als Hybridwesen besonders gut zum Ausdruck. Das zeigen ihre Karrieren vom Opfer zum Täter und umgekehrt. Beides wurde ermöglicht durch das Zusammenspiel von ökonomischer Potenz, (para-) militärischer Gewalt und an- oder aberkanntem sozialen Status. Es handelt sich um Grenzgänger, um Grenzverletzer.32 Interessanterweise hat die auf »Verflechtung« rekurrierende Forschung33 das Militär, also die Spezialorganisation zur Sicherstellung der äußeren Sicherheit – und somit ›Abgrenzungsorganisation‹ der Gesellschaften nach außen – wenig beleuchtet. Dies aber machte nur dann Sinn, wenn Heere und Marinen in klassisch-überkommener Weise als Paradebeispiel national-homogener Vergemeinschaftungsformen verstanden würden. Doch gerade die vom Militär und anderen Gewaltakteuren zu sichernden Grenzzonen erwiesen sich als Räume von besonders intensiven Austausch- und Verflechtungsbeziehungen. Angesichts der machtpolitischen, religiösen und kulturellen Konfliktträchtigkeit dieser Interaktionen zwischen den ›Verflechtungszonen‹ gilt dies umso mehr für die irregulären Derivate der maritimen oder terrestrischen Gewaltakteure.34 Durch die Fokussierung auf ›konventionelle‹ und staatliche Gewaltakteure wurde wohl auch das Narrativ einer Priorität der westlich-nordeuropäisch-atlantischen Perspektive gepflegt.35 Dies gilt nicht nur für die in der (nord-)europäischen Historiographie lange fokussierte Seekriegsführung und die kolonialen (Raub-) Handelsbeziehungen im nordatlantischen Raum, sondern auch für die damit verknüpfte Geschichte der Sklaverei als Extremform der Ausbeutung von Menschen als Opfer. Implizit war die Dominanz der euro-atlantischen Erzählung geeignet, die mediterrane Sklaverei zu einer »legenda aurea« zu verzeichnen – und zwar durch eine implizite Ausblendung des Mittelmeerraums und seiner (vermeintlich) nebensächlichen Konflikte. Denn trotz der zu Recht hervor­geho­ 32 Ralf Pröve/Carmen Winkel (Hg.), Übergänge schaffen. Ritual und Performanz in der frühneuzeitlichen Militärgesellschaft, Göttingen 2012. 33 Heidrun Friese, Unité et histoire croisée de l’espace méditerranéen, in: Michael Werner/ Bénédicte Zimmermann (Hg.), Le genre humain. De la conparaison à l’histoire croisée, Paris 2004, S. 119–137. Zum Konzept der Verflechtungsgeschichte: Dies., Penser l’histoire croisée. Entre empirie et réflexivité, in: ebd., S.  15–52; Dies., Vergleich, Transfer, Verflechtung. Der Ansatz der Histoire croisée und die Herausforderung des Trans­natio­ nalen, in: Geschichte und Gesellschaft. Zeitschrift für Historische Sozialwissenschaft 28 (2002), S.  607–636. Militärgeschichtliche Themenkreise führen in diesem Rahmen noch ein »Schattendasein«. Jörg Echternkamp/Stefan Martens, Militärgeschichte als Vergleichs- und Verflechtungsgeschichte, in: Dies. (Hg.), Militär in Deutschland und Frankreich 1870−2010. Vergleich, Verflechtung und Wahrnehmung zwischen Konflikt und Kooperation, Paderborn 2012, S. 1–21, hier S. 9. 34 Horst Carl/Hans-Jürgen Bömelburg (Hg.), Lohn der Gewalt. Beutepraktiken von der Antike bis zur Neuzeit, Paderborn 2011; Winfried Speitkamp (Hg.), Gewaltgemeinschaften. Von der Spätantike bis ins 20. Jahrhundert, Göttingen 2013; Rogger/Hitz, Söldnerlandschaften. 35 Jeremy Black, War in the World. A Comparative History, 1450−1600, Houndmills 2011, S. 193, 217 f.

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be­nen menschenausbeutenden ›Effizienz‹ der Sklaverei auf dem amerikanischen Kontinent und seiner vorgelagerten Inseln wurde dadurch die angebliche Insignifikanz der mediterranen Welt miterzählt. Offenbar wurde die (nord-) afrikanische Sklaverei »vergessen«, genauso wie diejenige, die auch noch in den frühneuzeitlichen Gesellschaften Südeuropas fortbestand; auch dieses »Vergessen« gehört zum (nord-)europäischen Modernitätsmythos.36 Erst die Semantik der Moderne unterscheidet klar zwischen regulären und irregulären Akteuren. Das frühneuzeitliche Verständnis von »Krieg« umfasste dagegen eine ganze Bandbreite: Gängige Lexika fassten bis zum Ende des 17. Jahrhunderts noch Aspekte hierzu, die im 19. und 20. Jahrhundert gerade nicht als »Krieg« definiert wurden, wie beispielsweise Aufstände oder Adelsfeh­den.37 In der historiographischen Nachzeichnung dieser kriegerischen Aktivi­täten im kleinen Maßstab ergibt sich ein Darstellungsproblem: Wohl fanden die größeren Gefechte einen prominenten Platz in der Historiographie. Sie bleiben als herausgehobene Einzelfälle jedoch singulär. Umgekehrt müssen die kleinmaß­stäbigen Kriegsaktionen, schon weil sie nur in ihrer Masse, nicht aber einzeln von Bedeutung sind, zurücktreten. Hinter diesem narrativen Problem verbirgt sich indessen zugleich ein methodisches: Die für die Thematik geradezu konstitutive Vielschichtigkeit des Phänomens ist entweder nur in eindeutiger Diktion darstellbar, dann aber folgte diese notwendigerweise zeitgebundenen Narrativen und trüge damit die Gefahr historiographischer Teleologie in sich, oder aber die Darstellung bliebe anschaulich-quellennah, dann aber eben episodenhaft.38 Noch die sich als »modern« begreifende Militärgeschichte der späten 1960er bis 1980er Jahre handelte vom »Soldaten«.39 Die mehrfachen thematischen und methodischen Erweiterungen der Militärgeschichte mündeten letztlich in einer »Kulturgeschichte der Gewalt«,40 wobei jedoch der Daseinszweck militärischer Akteure, die Gewalt, oder zumindest deren Fähigkeit zu ihrer Ausübung, teilweise in den Hintergrund zu geraten droht.41 Dass die Formen des Krieges ge36 Fiume, Schiavitù, S. 23 im Anschluss an Robert C. Davis, Christian Slaves, Muslim Masters White Slavery in the Mediterranean, the Barbary Coast and Italy, Houndmills 2003, S. 23–26. 37 Markus Meumann, La semantica di ›guerra‹ e ›pace‹ nella prima età moderna, in: Claudio Donati/Bernhard R. Kroener (Hg.), Militari e società civile nell’Europa dell’età moderna (secoli XVI−XVIII), Bologna 2007, S. 643–679, hier S. 662–664. 38 Das relativiert die Kritik von Rainer Plumpe an Bono erheblich (vgl. Anm. 29). 39 Rainer Wohlfeil, Wehr-, Kriegs- oder Militärgeschichte?, in: Militärgeschichtliche Mitteilungen 1 (1967), S. 21–29. 40 Thomas Kühne/Benjamin Ziemann (Hg.), Was ist Militärgeschichte?, Paderborn 2000; Jörg Echternkamp u. a. (Hg.), Perspektiven der Militärgeschichte. Raum, Gewalt und Repräsentation in historischer Forschung und Bildung, München 2010; Christian Th. Müller/ Matthias Rogg (Hg.), Das ist Militärgeschichte! Probleme − Projekte − Perspektiven, Paderborn 2013. 41 Michael Geyer, Eine Kriegsgeschichte, die vom Tod spricht, in: Thomas Lindenberger/Alf Lüdtke (Hg.), Physische Gewalt. Studien zur Geschichte der Neuzeit, Frankfurt a. M. 1995, S. 136–161; Bernd Wegner, Wozu Operationsgeschichte, in: Kühne/Ziemann, Was ist Mi-

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nauso multipel waren wie seine Akteure, ist in der Historiographie des frühen 21. Jahrhunderts vielfach dargelegt worden.42 Um die kollektive Gewalt abseits der auf den Staat bezogenen Militärgeschichte zu untersuchen, wurde der Begriff der »Gewaltgemeinschaften« eingeführt: verstanden als Gemeinschaften von Gewaltakteuren in den von Georg Elwert thematisierten »gewaltoffenen Räumen«. Dieses Konzept fokussiert sich auf die Betrachtung der Verbindung von tendenziell staatsfernen Organisationsformen mit ihrer jeweiligen ökonomischen Handlungslogik.43 Gewaltgemeinschaften waren Beutegemeinschaften.44 So gilt es, sich von der staatlich-rechtlichen Monopolperspektive zu lösen: Denn als »politisch« muss dann auch die von nichtstaatlichen Akteuren verfolgte Zielsetzung verstanden werden. Und in diesem erweiterten Sinne politikfrei sind Gewaltakteure kaum zu denken: Denn auf der Grundlage reiner Anarchie ließen sich nicht einmal Gewaltakteure zu Gemeinschaften organisieren; so urteilte schon Augustinus von Hippo in seiner Gleichsetzung von großen Räuberbanden mit Großreichen.45 So einfach die (graduelle)  Staatsunabhängigkeit von Gewaltgemeinschaften zu konstatieren ist, so sehr müssen aber auch die Faktoren ermittelt werden, welche die Kohäsion dieser Gemeinschaften ermöglichten. Schwächer organisierten oder einfach nur im Kampf unterlegenen Gewaltgemeinschaften kann keine lange Existenz beschieden sein. Zudem setzt das Definitionsmerkmal »Gewalt« die Existenz von Gegengewalt voraus: Die von Carl von Clausewitz betonte Wechselwirkung zwischen Angreifer und Verteidiger schließt, zu Ende gedacht, eine unverbundene Dichotomie von Tätern und Opfern genauso aus wie deren einfache, unidirektionale Beziehung zueinander: Wer am Lohn der Beute interessiert ist, strebt genau deswegen nicht nach der Gewalt als ­solcher;

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litärgeschichte?, S.  105–114; Sönke Neitzel, Militärgeschichte ohne Krieg? Eine Standortbestimmung der deutschen Militärgeschichtsschreibung über das Zeitalter der Weltkriege, in: Hans-Christof Kraus/Thomas Nicklas (Hg.), Geschichte der Politik. Alte und neue Wege, München 2007, S. 287–308, hier S. 292–295, 304–308; Stig Förster, The Battle­ field. Towards a Modern History of War. The Annual Lecture, German Historical Institute, London 2008. Dietrich Beyrau u. a. (Hg.), Formen des Krieges. Von der Antike bis zur Gegenwart, Paderborn 2007. Winfried Speitkamp, Einführung, in: Ders., Gewaltgemeinschaften, S.  7–13; Philippe Rogger/Benjamin Hitz, Söldnerlandschaften. Räumliche Logiken und Gewaltmärkte in historisch-vergleichender Perspektive, in: Dies., Söldnerlandschaften, S. 9–43; vgl. Elwert, Gewaltmärkte. Horst Carl/Hans-Jürgen Bömelburg, Einleitung. Beutepraktiken – Historische und systematische Dimensionen des Themas »Beute«, in: Dies., Lohn der Gewalt, S. 11–30, hier S. 23–25. Klassisch bereits Fritz Redlich, De praeda militari. Looting and Booty 1500−1800, Wiesbaden 1956. Aurelius Augustinus, Vom Gottesstaat [426 n. Chr.], aus dem Lateinischen übertragen von Wilhelm Thimme, hg. v. Carl Andresen, München 31991, Kap. IV, 4, S. 173 f. Vgl. Charles Tilly, War Making and State Making as Organized Crime, in: Peter B. Evans u. a. (Hg.), Bringing the State Back In, Cambridge 1985, S. 169–187, hier S. 170.

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wer aber angegriffen wird, löst den Konflikt durch seine Gegenwehr erst aus.46 Umgekehrt erschöpft(e) sich ökonomisches Handeln am »freien« Markt nicht in friedlichen Tätigkeiten. Die für das Marktgeschehen an Gewaltmärkten konstitutiven Tätlichkeiten können das Phänomen jedoch nicht ausschließlich ausmachen: Bei reiner Gewaltausübung aller gegen alle drohte jedem Marktgeschehen ein Ende in Anarchie. Dass der Krieg als ein Geschäftsfeld betrieben wurde, genauso wie Piraterie und Kolonisation, betonte bereits Fritz Redlich in den 1960er Jahren.47 Dies verweist, trotz der unterschiedlichen Rechtsphären von Land und See, auf strukturelle Ähnlichkeiten zwischen maritimen und terrestrischen Freibeuter- oder Freitruppenunternehmern. Somit kann die Geschichte des frühneuzeitlichen Korsarentums zwar nicht ohne Bezug zur Militärgeschichte dargestellt, aber auch nicht auf sie reduziert werden. Bei den »Söldnermärkten« im frühneuzeitlichen Europa konnten die Marktregeln nur unvollständig beachtet werden; bei ihnen handelte es sich »keinesfalls um freie Märkte oder um ›Freihandelszonen‹ mit unbeschränktem Marktzugang«.48 Dabei besteht jedoch ein Problem der Diktion bezüglich der freien (Gewalt-)Marktwirtschaft: Zum einen ist ein total freier Markt unmöglich, da die Ausübung von Gewalt notwendigerweise auch marktfremde Störgrößen, zumindest des Kriegsgegners mit ins Spiel bringt. Zum anderen ist ein fester Normrahmen für das Zustandekommen des Marktgeschehens gefährdet, da Gewaltakteure die Möglichkeit besitzen, konkurrierende Gewaltmärkte zu erobern, zu übernehmen oder zu unterminieren; zumindest aber durch ihre Gewaltaffinität Einfluss auf die Spielregeln zu nehmen, die deswegen latent in Frage gestellt bleiben. Die klassische Wirtschaftstheorie muss diesbezüglich genauso an ihre Grenzen stoßen wie die Webersche Konzeption vom Gewaltmonopol als Kernmerkmal des Staates. Die Spielräume für Gewaltunternehmer bestanden innerhalb der von Klientel- und Patronagenetzwerken durchwirkten Markt- und Machtstrukturen.49 Wo Gewalt ausgeübt wird, ist Leid; wo Täter sind, entstehen Opfer. Die Rollenverteilung bei dieser Polarität kann bei letzteren eindeutig sein, nicht aber bei ersteren: Wohl kann es Opfer der Gewalt geben, die ohne die Chance auf Gegenwehr beraubt, versklavt, gepeinigt oder massakriert werden. Bei reinem Opferstatus ohne Gegengewalt, kann von »Krieg« oder Kampf keine Rede sein. Doch wer sich wehrt verkehrt, zumindest tendenziell, die Rolle vom Opfer zum Täter: physisch, mental und semantisch. Nicht selten wurde der Opferstatus der eige46 Carl von Clausewitz, Vom Kriege [1832], hg. und eingeleitet v. Werner Hahlweg, Bonn 18 1973, Buch VI, Kap. 5, S. 634. 47 Fritz Redlich, The German Military Enterpriser and his Work Force, 2 Bde., Wiesbaden 1964‒1965, hier Bd. 2, S. 142–147, 270. 48 Rogger/Hitz, Söldnerlandschaften, S. 36. 49 Frank Göse, Riflessioni sulla professionalizzazione degli ufficiali nobili di alcuni territori tedeschi dell’Impero nel secolo XVII, in: Donati/Kroener, Militari, S. 103–131; vgl. Max Weber, Politik als Beruf [1919], in: Ders., Gesammelte Politische Schriften, Tübingen 1971, S. 505–560, hier S. 506.

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nen Landsleute oder Glaubensgemeinschaft als Argument für eigene Expansion zur Geltung gebracht. Wo die Opferperspektive bei Ausübung von Gegengewalt thematisiert wird, muss die Täterperspektive mitberücksichtigt werden. Entsprechend der changierenden Identitäten der Gewaltakteure ist die Gewalt im Rahmen der legitimen Notwehr mit zu berücksichtigen: Solche ›humanitäre Interventionen‹ erfolgten bereits in der Frühen Neuzeit, etwa zur Verteidigung alter Rechte und Privilegien oder der freien Religionsausübung gegen interne oder externe »Tyrannen«.50 Die Thematik der Piraten oder Korsaren ist damit aus westlich-nordatlantischer Perspektive in doppelter Weise verknüpft: Zum einen verband sich das Auftreten von Freiheitsbewegungen, so der Niederländer gegen die »spanische Tyrannei« im Achtzigjährigen Krieg (1568−1648), mit irregulären Gewaltphänomenen maritimer und amphibischer Art. Als solche konnte im späten 16. und im 17. Jahrhundert der Kampf britischer und holländischer Freibeuter gegen die spanische Seemacht erscheinen.51 Zum anderen widmete sich insbesondere die britische Marine im 18. und 19. Jahrhundert der Jagd auf Piraten und Sklavenhändler (und die als solche galten), um dem freien Handel und der (westlichen) »Zivilisation« den Weg zu bahnen; durchaus unter Verfolgung imperial(istisch)er Ziele.52

3. Exkurs: Vom Militärunternehmer zum Soldaten Wenn die Täter-Opfer-Beziehungen eingebettet in die Gewalt-, Beute- und Sklavenökonomie zu betrachten sind, so ist die Rolle der dort hervortretenden Gewaltunternehmer zu beleuchten. In der auf militärgeschichtliche Fragestellungen fokussierten Betrachtung traten hier die Akteure im Großen prominent hervor: Militärunternehmer firmierten als Generale oder Admirale. Deren funktionale Entsprechung im Kleinen waren Schiffseigner oder Kapitäne zur See und Inhaber von Regimentern oder Kompanien zu Lande. Bis ins 17. Jahrhundert und insbesondere im Mittelmeerraum waren daher die Sphären von »privat« und »staatlich« genauso verflochten wie diejenigen zwischen Landund Seekrieg sowie diejenigen zwischen regulärer Kriegsführung, legalisierter 50 D[avid] J. B. Trim, Humanitarian Intervention, in: Hew Strachan/Sibylle Scheipers (Hg.), The Changing Character of War, Oxford 2011, S. 151–166; Ders., ›If a prince use tyrannie towards his people‹. Interventions on behalf of foreign populations in early modern Europe, in: Brendan Simms/D[avid] J. B. Trim, Humanitarian Intervention. A History, Cambridge 2013, S. 29–66; Andrew C. Thompson, The Protestant interest and the history of humanitarian intervention, c. 1685‒c. 1756, in: ebd., S. 67–88; D[avid] J. B. Trim, Intervention in European history, c. 1520‒1850, in: Stefano Recchia/Jennifer M. Welsh, Just and Unjust Military Intervention. European Thinkers from Vitoria to Mill, Cambridge 2013, S. 21–47. 51 Robert Bohn, Durch Seeraub zur Seemacht, in: Martin Hofbauer (Hg.), Piraterie in der Geschichte, Potsdam 2013, S. 27–38; Kempe, Fluch, S. 153–190; Ders., Piraten. 52 Julia Angster, Erdbeeren und Piraten, S. 247–282.

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Kaperei und illegaler Piraterie. Diese Bewertung war letztlich eine Angelegenheit der legitimierenden Mächte. Ihre Entsprechung zur See fanden die Aktivitäten der Korsaren im kleinen Krieg zu Lande. Auch halbstaatlich organisierte Freitruppenunternehmer sowie insbesondere ethnisch konstituierte (oder so konnotierte) Gewaltgemeinschaften fanden ihre Betätigungszonen vor allem in imperialen Randzonen.53 Zeitlich operierten sie in postimperialen oder präimperialen Phasen, räumlich an den – kulturell so definierten – »Rändern Europas«, die sich zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert entlang eines Saums sich überlagernder maritimer und terrestrischer Frontierzonen erstreckten: vom Kaukasus- und Schwarzmeergebiet über den Balkan, von dort aus weiter zum Ionischen Meer und südlich von Malta und Sizilien, weiter westlich bis zur Straße von Gibraltar.54 Wenn die Metropolen sonst als Gegensatz zu den Frontierzonen gedacht werden,55 fungierten Korsarenmetropolen wie Algier, Tunis, Tripoli oder Salé, aber auch Malta, geradezu als deren Rückgrat. Die Untersuchung von Gewaltmärkten eröffnet die Möglichkeit strukturelle Ähnlichkeiten zwischen terrestrischen und maritimen Beuteunternehmen aufzuzeigen, von denen erst dann die Unterschiede abgegrenzt werden können: Erstens ist das Konzept der Frontierzone am Beispiel der »Kulturgrenze« zwischen »Okzident« und »Orient« darzulegen. Diese aus europäischer Sicht nach Osten offene geographische Grenze war nach Süden hin, zum Mittelmeer, buchstäblich fluide. Dies gilt nicht nur im geographischen Sinne, sondern auch hinsichtlich der Formen von Handel, Alltagskultur und Krieg.56 Zweitens sind die Kleinkriegsphänomene zu erörtern. Hier eröffnet der Seitenblick vom Korsaren zum terrestrischen »Partisan« möglicherweise eine Folie für Parallelen – im Wortsinn: als getrennte Stränge, die in struktureller Hinsicht zumindest streckenweise in dieselbe Richtung wiesen. Der sich im 18. Jahrhundert als terrestrischer Ge­walt­a kteur im sogenannten Kleinen Krieg betätigende Gewaltunternehmer stellte ein Residuum des Militärunternehmertums dar, das noch im Jahrhundert zuvor für Mobilisierung, Einsatz und Vergütung der großen Heere konstitutiv war. Analog agierten auch Korsaren als Residualgrößen des ins Kleine geschrumpften großen Krieges. Bezeichnenderweise unterlag der Partisan in den Jahrzehnten um das Jahr 1800 einer bezeichnenden semantischen 53 Rogger/Hitz, Söldnerlandschaften, S. 16 f.; Horst Carl, Exotische Gewaltgemeinschaften. Krieger von der europäischen Peripherie im 17. Jahrhundert, in: ebd., S. 157–180; Marian Füssel, Panduren, Kosaken und Sepoys. Ethnische Gewaltakteure im 18. Jahrhundert, in: ebd., S. 181–199. 54 Andrew C. Hess, The Forgotten Frontier. A History of the Sixteenth-Century Ibero-African Frontier, Chicago 1978, S. 1–10, 207–211; Black, War, S. 186, 197 f., 210–212; Ressel, Sklavenkassen, S. 26. 55 Zum Konzept: Jürgen Osterhammel, Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19.  Jahrhunderts, München 32009, S.  410–412, 464 f., 473; John B. Wolf, The Barbary­ Coast. Algiers Under the Turks 1500 to 1830, New York 1979, S. 92–111. 56 Klassisch: Braudel, La Méditerranée. Weiterhin: Salvatore Bono, Un altro mediterraneo, Rom 2008; David Abulafia, Das Mittelmeer. Eine Biographie, Frankfurt a. M. 2013.

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Verwandlung;57 und wohl nicht zufällig endeten um dieselbe Zeit die Aktivitäten der Korsaren. Drittens bildeten Handhabung und Bewertung der Beute- und Lösegeldökonomie für Kriegsgefangene einen Gradmesser für die dem Gegner jeweils zugestan­dene Regularität.58 Die Aktivitätsfelder von Gewaltunternehmern erhielten zum Ende des 15. Jahrhunderts eine neue Dynamik: Zum einen eröffnete die europäische Expansion auf dem amerikanischen Kontinent einen neuen Schauplatz, wobei insbesondere die Seegebiete in der Karibik und die Kontrolle der Edelmetallströme aus Peru und Mexiko Bedeutung erlangten. Zum anderen, und lange Zeit zentral, blieb der Großkonflikt um die Dominanz im Mittelmeer von Beginn des 16.  Jahrhunderts bis zum Friedensschluss 1581: Zwischen der Habsburger­ monarc­hie, insbesondere den spanischen Königreichen mit seinen italienischen Nebenlanden unter Karl V. und Philipp II., einerseits und dem ins westliche Mittelmeer ausgreifenden Osmanischen Reich andererseits. Sowohl die Armeen als auch die Schiffe wurden hierfür teils in erheblichem Maß von Privatleuten vorfinanziert und kamen für Handels-, Kriegs- oder Kaperaktivitäten zum Einsatz  – idealerweise zum Nutzen beider vertragschließender Parteien, also der Krone sowie den die Kriegszüge kofinanzierenden Privatleuten. Dabei sind jedoch die komplexen Spielräume und Begrenzungen zu beachten, die sich zwischen Auftraggebern und Auftragnehmern sowie ihrer intermediären Gewalten ergaben. Insbesondere in Finanzangelegenheiten musste sich die Krone auf die Stände ihrer Territorien stützen; genauso wie einzelne Gewaltunternehmer über ständische Lehns- oder Familienbeziehungen mit der Krone verbunden waren. Bei geringen Fixkosten war die Indienstnahme von kapitalstarken oder kreditwürdigen Privatakteuren für kriegerische Zwecke ein etabliertes Verfahren im Mittelmeerraum, und nicht nur hier. Auch in der Frühen Neuzeit blieb es charakteristisch, dass die Söldnerwerbung von Kriegs­unter­nehmern betrieben wurde, die über entsprechende finanzielle und organisatorische Fähigkeiten verfügten: insbesondere Kapital und Marktkenntnis über soziale Netzwerke.59 57 Martin Rink, Die Verwandlung. Die Figur des Partisanen vom freien Kriegsunternehmer zum Freiheitshelden, in: Förster, Condottieri, S. 153–169. 58 Sibylle Scheipers, The Status and Protections of Prisoners of War, in The Changing Character of War, S. 394–409; Daniel Hohrath, ›In Cartellen wird der Werth eines Ge­ fangenen bestimmet.‹ Kriegsgefangenschaft als Teil der Kriegspraxis des Ancien R ­ égime, in: Rüdiger Overmans (Hg.), In der Hand des Feindes. Kriegsgefangenschaft von der­ Antike bis zum Zweiten Weltkrieg, Köln 1999, S. 141–170. 59 Stephan Selzer, Deutsche Söldner im Italien des Trecento, Tübingen 2001, S. 47–52, 77–96; Uwe Tresp, Söldner aus Böhmen. Im Dienst deutscher Fürsten. Kriegsgeschäft und Heeresorganisation im 15.  Jahrhundert, Paderborn 2004, S.  96–123, 190–360; Ders., Böhmen als Söldnermarkt/»Böhmen« als Söldnertypus im späten Mittelalter, in: Rogger/ Hitz, Söldnerlandschaften, S.  119–139; Reinhard Baumann, Landsknechte. Ihre Geschichte und Kultur vom späten Mittelalter bis zum Dreißigjährigen Krieg, München 1994, S. 14–71; Ders., Süddeutschland als Söldnermarkt, in: Rogger/Hitz, Söldnerlandschaften, S. 67–83.

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Solche Netzwerke von Angebot und Nachfrage existierten auch im Kleinen beim landsässigen Adel60 und beim (hafen-)städtischen Patriziat. Solche Beziehungsfelder kamen natürlich auch in den Auseinandersetzungen der iberischen Monarchien mit ihren nordafrikanischen Kontrahenten zur Geltung: So bei der Vorbereitung und Durchführung des zum Kreuzzug stilisierten Feldzugs des portugiesischen Königs Sebastian nach Marokko, der am 4. August 1578 in der Dreikönigsschlacht bei Alcazarquvir (Alcácer-Quivir, al-Qasr al-Kabīr) im Desaster für die Expeditionsarmee und dem Tod aller drei beteiligten Monarchen endete. Zur Streitmacht von insgesamt 16.000 Mann zählten neben 10.000 portugiesischen und 2.000 spanischen Soldaten auch 3.000 Niederländer, Wallonen und Deutsche, deren Anwerbung durch Wilhelm I., Fürst von Oranien, vermittelt worden war. Zuvor war die Anwerbung von 12.000 Landsknechten des Herzogs Adolph von Holstein ernsthaft geprüft worden, aber an der Frage der freien Ausübung des protestantischen Bekenntnisses gescheitert. Über entsprechende Vermittler im Rheinland und den Niederlanden wurden für das Unternehmen Waffen und Ausrüstungsgegenstände beschafft. Eine wichtige Rolle im Heer Sebastians spielte der englische Militärunternehmer Thomas Stukley, der eine Anzahl von englischen, irischen und italienischen Soldaten angeworben hatte.61 Zur Finanzierung ihrer Flotten stützte sich die spanische Krone auf genuesisches Kapital, Schiffe und Admirale, die ihrerseits mit ›privat‹ angeworbenen­ Galeeren als Teilhaber von Krieg, Kredit und Beuteökonomie in Erscheinung traten.62 Der genuesische Patrizier, Entrepreneur und Admiral Andrea Doria stellte die von ihm selbst finanzierte Flotte von zwölf Galeeren im Jahr 1528 Karl V. zur Verfügung. Zehn Jahre später, im Seegefecht von Prevesa gegen die Flotte des nordafrikanischen Korsarenadmirals Barbarossa, waren 28 auf Privatbasis aufgebotene genuesische Schiffe beteiligt, 22 davon durch Andrea Doria. Dieser blieb bis in die 1550er Jahre zur Aufstellung von zwanzig Schiffen unter Vertrag. Freilich strebte Philipp II. danach die Gewaltmittel in die eigene Hand zu bekommen: In den 1570er Jahren wurden 100 der 146 spanischen Galeeren direkt von der Krone finanziert. Die finanzielle Überlastung Kastiliens infolge der Kriege Karls V. führte indes 16 Mal zur Aussetzung der Zahlungen durch die Krone. Dieser wiederholte ›Staatsbankrott‹ zeigte einerseits die imperiale Überdehnung, führte andererseits aber durch die Erfindung von »bonds« zu einer Revolution des Finanzierungssystems: Statt asientos, kurzfristigen Anleihen zu hohem Zinssatz, wurden nun mit juros langfristige Anleihen zu niedrigem Zins geschaffen. 60 Göse, Riflessioni. 61 D[avid] J. B. Trim, Early-modern Colonial warfare and the campaign of Alcazarquivir, 1578, in: Small Wars and Insurgencies 1 (1997), S. 1–34, hier S. 13–19. 62 David Parrott, The Business of War. Military Enterprise and Military Revolution in Early Modern Europe, Cambridge 2012, S. 83–86, 207–211; zur transkulturellen Dimension: Daniel Hohrath, Soldiers and Mercenaries, Protagonists in Trans-Cultural Wars in the Modern Ages, in: Hans-Henning Kortüm (Hg.), Transcultural Wars from the Middle Ages to the 21st Century, Berlin 2006, S. 249–260, hier S. 253–255.

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Diese eigneten sich auch als Investitionsmöglichkeit für Kleinanleger.63 Damit ließ sich auch Risikokapital zur Ausstattung von Schiffen im Rahmen der Beuteökonomie aufbringen. Nach dem Ende des großen Krieges in den 1580er Jahren verstärkte sich erneut die Abstützung auf private Auftragnehmer, die mit ihren vertraglich gestellten Flotten neben dem ›staatlichen‹ Krieg ihre ›privaten‹ Interessen verfolgen konnten – solange sie sich nicht direkt gegen die königlichen Auftraggeber richteten. Noch zwischen 1617 und 1623 wurden so 18 spanische Kriegsschiffe durch genuesische Privatinvestoren finanziert. Abseits seiner maritimen Aktivitäten und nach demselben Muster agierte Andrea Doria als Condottiere in den Konflikten zu Land. Dieser Begriff knüpft sich, zumal in der deutschsprachigen (wiederum: ex post-)Wahrnehmung, an den Begriff des »Söldners«. Strukturelle Ähnlichkeiten zum Korsarentum sind hier vorangelegt, wurden aber interessanterweise kaum in ihrem wechselseitigen Zusammenhang betrachtet; auch dies eine Folge organisatorischer, rechtlicher und semantischer Ausdifferenzierungen zwischen Land- und Seestreitkräften im Verlauf der Neuzeit.64 Als Definitionsmerkmale für Söldner gelten deren relative Fremdheit gegenüber der Zivilbevölkerung sowie ihr materielles Gewinnstreben als Gewaltakteure.65 Beide Kriterien – und auch deren zeitlich und semantisch fluide Zuschreibungen  – können ohne Weiteres auf die Figur des Korsaren angewandt werden. Auch hier war die relative Fremdheit schon aufgrund der polyethnischen Diasporagemeinden in den Hafenstädten, besonders in den nordafrikanischen Korsarenmetropolen, gegeben. Dies gilt im Speziellen für die unter den Flaggen der maghrebinischen Barbaresken-Regentschaften operierenden Renegaten; Korsaren also, die aus dem christlichen Europa stammten. Die für das Europa der Frühen Neuzeit charakteristischen Mobilisierungs- und Demobilisierungsprozesse und damit die Durchlässigkeit von »ziviler« und »militärischer« Sphäre66 erscheinen hier einerseits bestätigt, andererseits aber in einer spezifischen Ausprägung: Das signifikante Hervortreten von Renegaten als Korsaren zeigt die Rolle von ›Fremden‹, die ihre Karrieren in aller Regel einer Verkehrung ihrer Opferrolle verdankten. Zum einen war dies der Fall, wenn sich vormalige Gewaltakteure als Opfer einer abebbenden Beuteökonomie auf den europäischen Schauplätzen auf die Suche nach lohnenden Betätigungsfeldern anderswohin begaben, analog zu den gartenden Knechten der Heere zu Land. Dies war der Fall bei dem als Erzpiraten verschrie63 Giovanni Muto, Apparati militari e fabbisogno finanziario nell’Europa moderna. Il caso della Spagna ›de los Austrias‹, in: Donati/Kroener, Militari, S. 23–52, hier S. 43–48. 64 Zum Konzept der Epochenverortung: Friedrich Jaeger, Einleitung, in: EdN, Bd.  1, S. VII−XXIV; Ders., Neuzeit, in: ebd., Bd. 9, Sp. 158–181. 65 Michael Sikora, Söldner. Historische Annäherungen an einen Kriegertypus, in: Geschichte und Gesellschaft 29 (2003), H. 2, S. 210–238; Ders., Söldner, in: Grenzverletzer, S. 114–135; Rink, Söldner, in: EdN, Bd. 12, Sp. 174–183. 66 Bernhard Kroener, Das Schwungrad an der Staatsmaschine?, in: Krieg und Frieden. Militär und Gesellschaft in der frühen Neuzeit, hg. v. Bernhard Kroener und Ralf Pröve,­ Paderborn 1996, S. 1–23, hier S. 9.

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nen Engländer John Warde (1553−1620), der nach dem Ende der englisch-spani­ schen Auseinandersetzungen unter Jakob I. seine Heimat mit einem erbeuteten Schiff verließ und sich ab 1605 im Mittelmeer als Pirat betätigte. Nachdem er sich unter den Schutz des Bey von Tunis gestellt hatte, galt er unter dem Namen Yusuf Reis als Korsar.67 Zum anderen aber bildeten die Opfer der Versklavung selbst eine Rekrutierungsquelle für das Korsarentum. Diese Möglichkeiten zum Rollentausch aus der Position der persönlichen Unfreiheit unterschied das mediterrane Korsarentum klar vom frühneuzeitlichen Söldnerwesen. Gleichwohl bestanden hinsichtlich der Gewaltökonomie gewisse Parallelen. Auch hier waren die Streitkräfte ethnisch polyglott; auch hier ergaben sich durch Abstützung auf Subkontraktoren Shareholder-Verflechtungen auf mehreren Ebenen; auch hier konnte sich durch die Nähe zum Hof der gesellschaftliche Status erhöhen und als geldwerter Vorteil zur Anbahnung weiterer militärischer Unternehmungen umgemünzt werden. Somit bestanden gleitende Übergänge zwischen dem Streben nach Profit und dem nach Prestige.68 Auch im Europa des 17.  Jahrhunderts  – und hier trotz der absolutistischen Rhetorik eines Ludwigs XIV. – erlangten Militärvorfinanzierer Mitspracherechte als Gläubiger.69 Freilich waren die europäischen Territorialherren der größeren (im Bildungs­ prozess befindlichen) Staaten bestrebt, ihr Gewaltpotential ohne die dazwischen­ liegende Instanz von Kriegsunternehmern anzuwerben. Damit professionalisierte sich die (Militär-)Administration genauso wie das Offizierkorps.70 Erst daraus ergab sich eine (so wahrgenommene) Sonderstellung des Söldnertums, dessen Elemente aber fortbestanden: So bei Offizierkarrieren in wechselnden Diensten und unter Aufwendung teils erheblicher Summen zum Kauf einer Stelle, einer Kompanie oder eines Regiments; so im Werbesystem und in der Kompaniewirtschaft. Dies galt analog für Schiffseigner und Kapitäne. Dies entlastete gleichzeitig die Zentralgewalt von der Sorge um die im latenten (Klein-) Kriegszustand befindlichen imperialen Randzonen. Die Führer von Freitruppen des 18. Jahrhunderts traten an Land als letzte Vertreter der freien Gewaltökonomie in Erscheinung, freilich mit immer begrenzterem Spielraum. Dieses Muster aus verstaatlichter stehender Truppe im Zentrum bei fortbestehenden taktisch wie ökonomisch teilautonomen irregulären Kräften an der Peripherie existierte­ spiegelverkehrt auch im Osmanischen Reich.71 67 Adrian Tinneswood, Pirates of Barbary. Corsairs, Conquests and Captivity in the Seventeenth-Century Mediterranean, London 2010, S. 38–50. 68 Angelantonio Spagnoletti, Onore e spirito nazionale nei soldati italiani al servizio alla monarchia spagnola, in: Donati/Kroener, Militari, S. 211–253, hier S. 225–227. 69 Parrott, The Business, S. 261–279. 70 Giorgio Chittolini, Il ›militare‹ tra tardo medioevo  e prima eta moderna, in: Donati/ Kroener, Militari, S. 53–102. 71 Redlich, Military Enterpriser, Bd. 1, S. 103; Gerhard Papke, Von der Miliz zum Stehenden Heer. Wehrwesen im Absolutismus [1979], in: Deutsche Militärgeschichte, 1648−1939 (Studienausgabe des Handbuchs zur deutschen Militärgeschichte 1648 bis 1939), hg. v.

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Im Verlauf des 17. und vor allem des 18. Jahrhunderts wurden die militärökonomischen Vertragsbeziehungen in den europäischen Territorien in ein immer engeres Regelungskorsett eingebunden. Die Militärreformen des frühen 19.  Jahrhunderts machten ihm den Garaus – semantisch und legitimatorisch, wenn auch nicht immer in der Praxis (und in der schleppenden Umsetzung dieser Reformen im Osmanischen Reich und seiner Vasallenstaaten liegt der bezeichnende Unterschied zu West- und Mitteleuropa).72 Diese Lesart setzte sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts als liberale Leitvorstellung durch und fand so Eingang in die Rechtsnormen. Nach der gängigen Lesart vom Absolutismus war dies ein Spezifikum Europas. So unbestritten die Ausprägung der Verstaatlichung der Gewaltmittel in Modellstaaten wie Frankreich, Savoyen-Piemont und Preußen voranschritt, so überdauerten auch hier Reste des Militärunternehmertums bis zum Ende des 18. Jahrhunderts; während in Nordafrika gleichzeitig ähnliche (wenngleich letztlich weniger wirkungsmächtige)  Prozesse der Herrschaftsverdichtung erfolgten. Auch wenn der im 19. Jahrhundert aufkommende Begriff Absolutismus herrschaftskritisch gemeint war, beinhaltet das mit ihm verbundene Narrativ ein europäisches Fortschrittsdenken.

4. Vom kleinen Krieg zur Lösegeldökonomie: Die Barbaresken Glaubt man den geistlichen Zeitzeugen des frühen 17.  Jahrhunderts, bestand eine europäische Überlegenheit zu dieser Zeit mitnichten. Nach dem Zeugnis Haedos ging von Nordafrika eine dauernde Gefahr aus. Während die großen christlichen Marinen untätig im Hafen blieben und deren Seeleute die Zeit mit Kartenspielen und Banketten vertrödelten, gehörte den Korsaren das Meer, wo sie zwischen den Küsten der Levante und des Westens unbehelligt ihren Räubereien nachgingen. Wie bei einer »Hasenjagd« sei es deren Zeitvertreib fremde Schiffe ungeachtet ihrer Herkunft auszuplündern: Gold und Silber aus Amerika, Perlen, Korallen, Zucker, Eisen sowie ungezählte weitere Waren. Auch weiter landeinwärts überfielen die Korsaren bei helllichtem Tag arglose Christen in ihren Dörfern, entrissen Müttern ihre Säuglinge, raubten alle Sorten von Beute­ gut und verschleppten Gefangene. Bei den Korsaren handle es sich neben geborenen Türken (turcos de nación) und Nordafrikanern (moros oder Mauren) vor

Militärgeschichtlichen Forschungsamt, München 1983, Bd. I., Abschnitt I, S. 210; Mesut Uyar/Edward J. Erickson, A Military History of the Ottomans. From Osman to Atatürk, Santa Barbara 2009, S. 57–66; Virginia H. Aksan, Ottoman Wars 1700‒1870. An Emprie Besieged, Harlow 2007, S. 56–59. 72 Ralf Pröve, Militär, S.  15–17; Rink, Verwandlung, S.  164–166; Ders., Das Ende des Partisanen als Soldat und Militärunternehmer. Militärische Taktik, Ökonomie und Semantik am Beispiel des kleinen Krieges, 1650−1815, in: Andreas Bihrer/Dietmar Schiersner (Hg.), Reformverlierer 1000−1800. Zum Umgang mit Niederlagen in der Geschichte der europäischen Vormoderne, Berlin 2016, S. 217–252.

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allem um Renegaten aller Nationen.73 Eine besondere Indignation galt denjenigen, die die Korsaren mit Informationen über lohnende Ziele versahen oder sie vor Ort an die Stätte ihrer Beutezüge führten. Dies galt insbesondere für die Morisken, in Spanien ansässige und zum Christentum konvertierte vormalige Muslime, die der besonderen Unzuverlässigkeit bezichtigt wurden.74 Dieses ethnisch-religiös konnotierte Misstrauen war die Kehrseite der transmediterranen und transkulturellen Verflechtungen zwischen einschlägig ausgebildetem Fachpersonal, Diasporagesellschaften und interessierten (Risiko-)Kapitalgebern. Somit ist die von Cicero propagierte Vorstellung vom »Feinde aller« nicht haltbar. Und auch die römischen Anti-Piratenkampagnen etwa unter Pompeius verbanden damit eine legitimatorische Absicht zur Bemäntelung der eigenen Expansion.75 In seinen Dialogen über die Gefangenschaft in Algier sowie die Märtyrer wob Haedo zahlreiche Geschichten über die Aktivitäten der Korsaren ein, so zum Beispiel die Ausfahrt von neun Korsarenschiffen, Galeeren und Galeoten unter »Morat Raez«, einem albanischen Renegaten aus Algier am 19. September 1577. Mithilfe eines Verräters vor Ort sei diesem zwei Monate später die Gefangennahme von 200 Menschen in Policastro in Kalabrien geglückt. Zahllose derartige Einzelereignisse charakterisierten die Aktivitäten der Korsaren aus den Regentschaften des Maghreb. 73 Haedo, Argel, S. 15: »[E]stando las galeras Christianas trompeteando en los puertos, y muy de reposo cozie[n]do [cogendo] la haua, gastando, y consumiendo los dias y las noches en banquetes, en jugar dados, y naypes, ellos [die Korsaren] a plazer pasean por todos los mares de Leuante, y Poniente, sin ningun temor, y como libres y absolutos señores dellas: y aun como quien anda a caça de liebres por passatiempo; aqui toman vna naue cargada de oro, y plata que viene de Indias, y alli otra que viene de Fland[r]es, y a culla otra de Inglaterra: y luego otra de Portugal, y mas adelante otra de Venecia, y despues otra de Sicilia, o Napoles, o Liorna, o Genoua, cargadas todas, abundentemente de grandes, y admirables riquezas. Y otras vezes lleuando por guias Renegados (de que ay en Argel grandissimo numero de todas las naciones Christianas) y aun no siendo casi todos los cossarios, otros que renegados, y todos platicos en las tierras, y marinas de la Christiandad, muy a bel plazer, y en mitad del dia, o quando se les antoja, desembarcan, y saltan en tierra, y caminan, sin temor ninguno por ella 10[,] 12 [o] 15 leguas, y mas, y estando los pobres Christianos descuydados, saquean muchos pueblos, cautiuan infinitos hombres, toman muchachos sin numero, mamado a los pechos de las madres, y cargan de toda suerte de ropa, muchas, y muy buenas riquezas. […] Los Cossarios son aquellos que viuen de robar de continuo por la mar: y dado caso que dellos ay algunos que son turcos de nation, y algunos moros, pero casi todos son renegados de todas las naciones«. 74 Ebd., S.  116: »Desta manera […] tiene[n] aruynado y destruydo [alle Küsten des westlichen Mittelmeers, ausführlich aufgezählt] y la costa de toda España: en la qual particularmente les va muy bien, por causa de los Moriscos q[ue] habitan en ella: los quales siendo mas Moros, que los que viuen en esta barbaria, los recogen, acarician y auisan de todo lo que queren y dessean saber«. 75 Philip de Souza, Pirates and Politics in the Roman World, in: Grieb/Todt, Piraterie, S. 47–73, hier S. 55 f., 64–66, 71–73; Bernhard Linke, Meer ohne Ordnung. Seerüstung und Piraterie in der Römischen Republik, in: Jaspert/Kolditz, Seeraub, S. 265–280.

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Die Ausbildung der drei bedeutsamsten nordafrikanischen Regentschaften lässt sich anhand von drei markanten Biographien nachzeichnen:76 Khair edDin/Barbarossa (1466−1546), Dragut (Turġud Re’īs, ca. 1508−1565) und Uluç Ali (Uluj Ali Reis bzw. Paşa; auch Eulj Ali oder Occhiali/Ochali, 1519−1587).77 Angesichts der Etablierung eines Netzwerks von spanischen Stützpunkten (presidios) an der nordafrikanischen Küste gelang es den aus der Ägäis stammenden Brüdern und Kaperfahrern Arudsch (Oruç) und Hızır (Barbarossa) im Jahr 1516 ­A lgier aus spanischer Hand zu erobern. Freilich etablierten die Neuankömmlinge ihre Macht mit brutaler Gewalt gegen die bis dahin herrschenden muslimischen Eliten.78 Nach dem Tod seines älteren Bruders zwei Jahre später proklamierte sich Hızır aus eigener Initiative zum Vasallen der Hohen Pforte. Damit verschaffte er dem Sultan eine Hilfsstreitmacht und sich selbst die Legitimität eines etablierten Herrschers. Spätestens die Einnahme des spanischen Stützpunktes von el Peñon vor der Hafeneinfahrt Algiers im Jahr 1529 sicherte Algier als Stützpunkt nordafrikanischer Korsaren. Seine Raids führten Khair ed-Din unter anderem nach Kalabrien (1512, 1526 und 1543), den liparischen Inseln, nach Capri und an die ligurische Küste (alle 1544). Nach seinem Sieg bei Prevesa erhielt er vom Sultan den Titel kapudan als oberster Admiral der osmanischen Flotte. Die Biographie Draguts, Nachfolger als Befehlshaber der osmanischen Flotte und Vizekönig von Algier, Tripolis und al Mahdia (Tunesien), umfasst die ganze Skala zwischen Karriere und Risiko eines Korsarenführers  – vom Täter zum Opfer und zurück: 1540 wurde er nach der Rückkehr von einem Überfall auf Pantelleria bei Gozo gefangen genommen und diente für vier Jahre als Rudersklave auf dem genuesischen Flaggschiff. Nach seiner Auslösung durch Khair ed-Din unternahm er Raids an die Straße von Messina (Palmi 1537) sowie die ligurische Küste (Rapallo 1549) und eroberte 1550 das von Karl V. in die Obhut der Malteser übergebene Tripolis. Im Folgenden unternahm er Überfälle auf Gozo (1551), die toskanische Küste (1553) und Cosenza (1555). Seinen Tod fand Dragut 1565 während der (letztlich erfolglosen) osmanischen Belagerung der Inselfestung Malta. Der Lebenslauf seines Nachfolgers im Amt des osmanischen Flottenbefehlshabers, Uluç Ali, vermittelt das Bild einer geglückten Renegatenkarriere. In ärmlichen Verhältnissen als Giovanni Dionigi Galeni im kalabresischen Le Castella geboren, avancierte der vormalige Fischer später als Kılıç Ali zum kapu­ dan. Im Jahr 1536 wurde er im Rahmen eines Unternehmens Khair ed-Dins gefangen genommen. Als Rudersklave wurde er aufgrund einer Hautkrankheit 76 Dieser Abschnitt greift zuvor publizierte Gedanken auf: Martin Rink, Korsaren im­ Mittelmeer. (Ir)reguläre Akteure zwischen Großmachtpolitik, kleinem Krieg und Lösegeldökonomie vom 16. Jahrhundert bis 1830, in: Martin Hofbauer (Hg.), Piraterie in der Geschichte, Potsdam 2013, S. 63–84. 77 Bono, I corsari, S. 16–32; Fiume, Schiavitù, S. 10–12; Coulet du Gard, La course, S. 34–105, 120–158; Rieger, Die Seeaktivitäten, S. 103–122; Mirella Mafrici, Mezzogiorno e pirateria nell’età moderna (secoli XVI−XVIII), Neapel 1995, S. 45–55. 78 Heers, Les barbaresques, S. 68–76.

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von seinen Rudergenossen angeblich gemobbt und von einem Seesoldaten des Korsarenschiffs geschlagen. Um als Muslim das Recht auf vergeltende Gewaltausübung zu erlangen, konvertierte der Sklave Giovanni Dionigi/Uluç Ali zum Islam.79 Der Renegatenstatus erwies sich somit als Möglichkeit für Freiheit, Aufstieg und Rache. Zumindest implizit kann hier eine Brutalisierung infolge eigener Gewalterfahrung vermutet werden. Die Optionsmöglichkeit zum Glaubenswechsel weist auf Spielräume hin: Beim Verbleib als christlicher Sklave hätte der Versuch, sich gewaltsam zu wehren, die Todesstrafe nach sich gezogen. Im Dienst eines ihm zugetanen Patrons kamen ihm seine seemännischen Kenntnisse aus seinem Vorleben offenkundig zustatten. Im Rahmen der Flotten- und Seebeuteaktivitäten von »Dargut Raez« gelang Uluç Ali der Aufstieg zum Korsarenkapitän. Im Jahr 1565 zum Bey von Alexandria ernannt, designierte ihn der Sultan in Konstantinopel drei Jahre später zum osmanischen Statthalter (Beylerbey) über das von inneren Machtkämpfen geschwächte Algier. Nach heftigen Kämpfen im Süden des heutigen Tunesiens um Mahdia und die Insel Djerba gelang ihm zweimal die Einnahme von Tunis aus spanischer Hand: zuerst 1569, dann endgültig 1574. Mit seiner Flottille entkam er als einziger dem osmanischen Desaster von Lepanto. Darauf initiierte er Seebeuteoperationen zwischen den Küsten Marokkos und der Krim. Zugleich herrschte er über Algier, Tunis und Tripolis, aus denen die Barbareskenstaaten hervorgingen.80 Die drei Regentschaften unterstanden formal dem Sultan in Konstantinopel, agierten de facto jedoch weitgehend autonom. In Algier wurde ab Beginn des 17. Jahrhunderts der Herrscher nicht mehr direkt von der Hohen Pforte eingesetzt, sondern wurde als Dey von der Gemeinschaft der Kapitäne (Taifa) und jener der Janitscharen (Divan) gewählt. Damit ergaben sich dreifache Überlagerungen der Akteure: Auf den Sultan in Konstantinopel bezogen sich staatsrechtliche Souveränität und religiöse Legitimation. Vor Ort selbst übten der Dey von Algier und die Beys von Tunis und Tripolis – mit ähnlichem Autonomie­status – die Regentschaft aus. Der ihnen lange Zeit von der Hohen Pforte beigesellte Pa79 Haedo, Argel, S. 77–80, hier S. 77: »Este es natural del Reyno de Napoles, de la provincia de Calabria, de vn lugar pequeño, que esta cerca del cabo de las Colonas, y que se dize Licasteli, de padres muy pobres y miserables. De su mocendad se dio al oficio de pescar, y de barquero: hasta que fue tomado y captiua do de vn cosario principal, que se fue muchos años capitan de Argel en la mar. Y como era y mancebo y recio y en la mar criado y curtido, el Ali Amet, le puso luego al remo de su galeota, en que bogo mucho año, y como era tiñoso [Grinde, Wundschorf], con la cabeça toda calba, recibia mil afrentas de los otros christianos, que no querian a vezes comer co[n] el, ni vogar en su bancada, y de todos era lamado fartax, que en turquesco quere lo mismo dezir, que tiñoso. Al vltimo dandolo vn dia vn leuante (esto es vn soldato cosario) vn bofeton, el se hizo turco y renegado, con ­intencio[n] de vengarse del, pues siendo christiano no lo podia hazer. Hecho turco su­ patron sabiendo como era gentil marinero, le hizo a poco tiempo su comitre, en el qual oficio gano en pocos años buenos realses, con los quales, y en compañia de otros tales armo en Argel vna fragata o bergantin, y con este robado por essos mares, vino a hazer vna galeota y a ser uno de los mejores Araezes [raïs = ra’îs, pl. ru’asâ’) de Argel.« 80 Heers, Les barbaresques, S. 68–78.

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scha blieb ohne eigentliche politische Gestaltungsmacht. Auf der Akteursebene konnte auch der Kapitän (ra’īs) als (teil-)autonomer Unternehmer der Beutefahrerei in Erscheinung treten. Die Gesellschaften in den Regent­schaften waren jedoch keine homogenen Gebilde. Den Kapitänen stand die Gruppe der aus dem europäischen Gebiet des Osmanischen Reichs fortwährend nachrekrutierten Janitscharen (oder deren Nachkommen, den kouloughlis) oft in offener Rivalität gegenüber. Der tatsächliche Einfluss der von der Hohen Pforte entsandten Paschas trat gegenüber den Herrschern vor Ort zurück, sodass die Beys bzw. der Dey letztlich auch im diplomatischen Verkehr als weitgehend souveräne Handlungsträger anerkannt wurden. Freilich gilt es hier zu berücksichtigen, dass auch in Europa nur von multiplen, sich überlappenden Souveränitätsvorstellungen gesprochen werden kann:81 Ebenso führte in Algier das konfliktträchtige Gegenüber der Taifa der Kapitäne und dem Divan der Janitscharen zu komplexen Aushandlungsprozessen und Herrschaftskompromissen. Damit blieb die politische Stabilität in der Regentschaft stets latent gefährdet. Im klaren Unterschied zu Europa erfolgten daher oft gewaltsame Machtwechsel. Gleichzeitig unterstreicht dies die Parallelen dahingehend, dass Wirren infolge von Regierungswechseln die Spielräume für Gewaltökonomien öffneten. Doch ermöglichte die Kaperfahrt einen gewissen Zusammenhalt auf Basis der Verfolgung gemeinsamer Interessen. Gleichzeitig zog die in Algier geradezu institutionalisierte Instabilität der politischen Herrschaft auch eine unscharfe Trennungslinie zwischen legaler und illegaler Seebeutefahrt. Spielräume bestanden zum Vorteil der Korsarenkapitäne, aber auch zu deren Nachteil. Wenn sich die politischen Verhältnisse nach der Ausfahrt eines Korsarenschiffs änderten, konnte der Kaperbrief noch während der Fahrt seinen Wert verlieren. Die gleitenden Übergänge zwischen Raub, Handel und Krieg zeigen sich bei der Betrachtung der Kaperfahrt als unternehmerischer Tätigkeit. Hierzu bedurfte es auch der Einbindung der politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Akteure der jeweiligen Regentschaft: Es war ein Kaperbrief des Souveräns (des Dey, Bey oder Paschas) erforderlich; zudem war es geboten, die Konsuln verbündeter europäischer Mächte zur Ausstellung eines Passports zu veranlassen. Zur (Vor-)Finanzierung des Unternehmens waren außerdem die Kreditgeber zu kontaktieren, die etwa in Algier breit gestreut waren: von den Angehörigen der verschiedenen Elitegruppen – auch der Janitscharen oder angesessenen Notabeln – bis hin zu Handwerkern und Bürgern als Kleinanlegern. Zur Ausrüstung des Schiffes waren die Zulieferer, für die Crew die entsprechenden Fachleute anzuwerben. Nach einer erfolgreichen Kaperfahrt war eine Abgabe an den Herrscher zu entrichten: an den Dey von Algier 15 Prozent und an den Bey von Tunis oder den Pascha von Tripolis je zehn Prozent des Beute­ werts. Hinzu kamen Gebühren für Umschlag, Bewachung und Transaktion der Beute von ca. zwanzig Prozent. An die Imame der örtlichen Moscheen gin81 Bono, I corsari, S. 91–103; Mafrici, Mezzogiorno, S. 36–45; Lenci, Guerra, S. 29–32. Zur europäischen Frühen Neuzeit: Chittolini, Il ›militare‹, S. 53–102.

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gen Abgaben von je einem Prozent des Beutewerts. Danach konnte die Verteilung des Gewinns an Kapitän und Crew erfolgen: Der Rais erhielt 15 Anteile, der Janitscharenkommandeur (Aga)  sowie die Offiziere und nautischen Spezialisten – wie Steuermann, Segel- und Artilleriemeister – je drei Anteile; qualifizierte Seesoldaten und Seeleute erhielten je zwei Anteile, während einfache Matrosen je einen Anteil des verbliebenen Beutewerts erhielten.82 Diese Regeln zeigen, dass sich ab dem 17. Jahrhundert ein ökonomisiertes Korsarentum herausgebildet hatte. In demselben Maße wie sich der Großkonflikt zum maritimen Kleinkrieg entwickelte und daher eine irreguläre Gestalt annahm, regulierte sich das Korsarentum zur Freibeuterwirtschaft. Auch daher konnte es sich nicht um »Piraten« als Einzeltäter handeln. Wie in der frühneuzeitlichen Militärgeschichte Europas knüpfte sich hieran das in der Wirtschaftswissenschaft als »Agency-Theorie« bekannte Problem: Dass die (militär-)ökonomische Beziehung zwischen »Prinzipal« (also der den Kaperbrief ausstellenden Autorität) und dem »Agenten« (also dem Korsaren) bei asymmetrischen Informationsvorteilen zur gegenseitigen Übervorteilung genutzt werden kann.83 Institutionalisierte Instabilitäten zwischen Auftraggebern und -nehmern gehörten genauso zum etablierten Korsarentum wie die Anlehnung an den Souverän. Letzterer war freilich nicht derart souverän, wie es der europäischen und modernen Diktion entspricht. Das Charakteristikum der  – eurozentrisch-modern so konzipierten – Irregularität gehörte somit zum System. Das Korsarentum war kein muslimisch-nordafrikanisches Monopol. Ihnen gegenüber traten auf der christlichen Seite neben den Marinen Spaniens und Portugals (später) diejenigen Frankreichs, Englands und der Niederlande, ferner die Ritter des Johanniter-/Malteserordens auf Rhodos, dann Malta und des Stefansordens (die cavalieri di Santo Stefano) in Livorno.84 Das Aufbringen von nordafrikanischen Korsarenschiffen belieferte die christlichen Marinen mit Rudersklaven; auch zu deren Auslösen erfolgten diplomatische Tauschgeschäfte, ohne jedoch in derselben Weise institutionalisiert zu werden, wie von den europäischen Mächten und den christlichen Ordensgemeinschaften. Zu den politischen Beziehungen zwischen den Ufern des Binnenmeeres gehörte ein im Verlauf des 17. Jahrhunderts zunehmender diplomatischer Verkehr mit den europäischen Mächten, trotz weiterhin bestehender formaler Unterstellung unter die Hohe Pforte. Die transmarine Rechtskultur zwischen dem christlichen Europa und den muslimischen Regentschaften Nordafrikas verlief letztlich auf 82 Bono, I corsari, S. 110–116; Lenci, Guerra, S. 41–46. Zur späteren Zeit mit ausgiebigem Zahlenmaterial: Daniel Panzac, Les corsaires barbaresques. La fin d’une épopée 1800−1820, Paris 1999, S. 88–112. 83 Zur Agency-Theorie im Zusammenhang mit frühneuzeitlichen Freitruppen: Rink, The Partisan’s Metamorphosis, S. 31; Gerhard Kümmel, Wag the Dog. Private Sicherheits- und Militärunternehmen, der Staat und die Prinzipal-Agent-Theorie, in: Gregor Richter (Hg.), Die ökonomische Modernisierung der Bundeswehr. Sachstand, Konzeptionen und Perspektiven, Wiesbaden 2007, S. 171–188, hier S. 180–186. 84 Peter Earle, Corsairs of Malta and Barbary, London 1970.

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einer schillernden Skala zwischen Gewalt und Diplomatie; einschließlich veränderlicher Verhältnisse infolge von Herrschafts- oder Bündniswechseln oder taktisch motivierter Wort- und Vertragsbrüche: Diese sind letztlich »nicht als externe Störgröße, sondern als interne Bestandteile dieser Rechtskultur«85 anzusehen.

5. Opfer und Täter: Sklaven, Renegaten und Korsaren In dem Maße wie der Aspekt des »Krieges« hinter das Phänomen des »Handels« zurücktrat, folgte das Korsarentum als Kleinkrieg zur See der Logik des Raubhandels. Mit dieser »Ökonomisierung« wandelte sich der Charakter der Sklaverei. Diese war während der Frühen Neuzeit im Mittelmeerraum auch in den christlichen Territorien noch verbreitet; auch europäische Seefahrer profitierten von diesem Geschäft.86 Anders als in den europäischen Mittelmeeranrainern blieb die Sklaverei aber am nordwestafrikanischen Küstensaum prägend für die Wirtschaftsstruktur, insbesondere durch die Etablierung eines Auslösesystems zur Befreiung gefangener Christen, das in dieser institutionalisierten Weise für Nordafrikaner fehlte – und erst recht für schwarzafrikanische Sklaven. Gleichwohl ermöglichten die diplomatischen Beziehungen der Regentschaften, teils auch der Hohen Pforte und den marokkanischen Herrschern, den Abschluss von Bündnissen mit Transaktionen einschließlich der Regelungen zum Gefangenenaustausch mit den europäischen Mächten. Die Wege der Sklaverei zwischen der Nord- und Südküste des Mittelmeeres verbanden sich mit jenen aus den Schwarzmeergebiet, die von den Beute- und Sklavenzügen der Krimtartaren aus den Grenzgebieten zu Polen-Litauen und Russland genährt wurden – bis das russische Vordringen an das Schwarze Meer ab den 1770er Jahren diese (Menschen-)Handelsnetzwerke zerstörte. Zudem gelangten Sklaven bis ins späte 19. Jahrhundert über Ägypten oder die Trans-­ Sahara-­Routen in die Häfen an der Südküste des Mittelmeeres. Trotz schwieriger Messbarkeit im vorstatistischen Zeitalter könnten zwischen 1530 und 1780 um die ein bis 1,25 Millionen Europäer von nordafrikanischen K ­ orsaren in die Sklaverei verkauft worden sein. Jüngere Schätzungen gehen eher von einer Größenordnung von 350.000 bis 700.000 aus. Von den rund 130.000 Einwohnern Algiers zu Anfang des 17. Jahrhunderts waren bis zu 30.000 Sklaven; der Zeitgenosse Haedo ging von 25.000 aus. Diese sowie die zahlreichen Renegaten stammten aus nahezu allen europäischen Ländern: Neben Gefangenen aus dem gesamten Mittelmeergebiet zählten dazu auch »Moskowiter«, Norweger, Deutsche, Engländer und Flamen sowie indios aus den portugiesischen und

85 Kempe, Fluch, S. 274. 86 Bono, I corsari, S. 87; Fiume, Schiavitù; Davis, Christian Slaves; Salvatore Bono, Schiavi musulmani nell’Italia moderna. Galeotti vu’ cumpra’, domestici, Perugia 1999.

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spanischen Überseebesitzungen Amerikas.87 Diese Schätzungen zur Sklaverei ver­decken jedoch die enorme Spannbreite ihrer Ausprägungen: von lebenslänglicher Qual in den Sklavengefängnissen (Bagnos), auf den Ruderbänken oder in den Steinbrüchen über familiäre und sogar freundschaftliche Verhältnisse von Sklaven zu ihrem Patron, bis hin zu freiwilligen Konversionen und Aufstiegschancen, die in der europäischen Heimat unerreichbar gewesen wären. Nach dem Abebben der Kriege gewann die Kaperfahrt zwecks Lösegeld­ erpres­sung an relativer Bedeutung. Zudem ergab sich infolge des (nicht zuletzt durch Renegaten vermittelten) technisch-nautischen Wandels zum Segelschiff im Verlauf des 17.  Jahrhunderts auch bei den Korsarenflotten eine geringere Nachfrage nach menschlichem Ruderantrieb. Die Zahl der Sklaven ging zurück, dafür erhöhte sich ihr Preis; möglicherweise auch deshalb, weil der institutionalisierte Freikauf über Sklavenkassen und geistliche Ordensgemeinschaften, wie den Trinitariern und Mercedariern, eine gesicherte Einnahmequelle gewährleistete. Zunächst waren die von Korsaren verschleppten Personen nur »provisorische Sklaven«. Daher rührt die Unterscheidung zwischen den potentiell auslösbaren »Gefangenen« (frz. captif, ital. captivo, span. cautivo) und den Sklaven (frz. esclave, ital. schiavo, span. esclavo).88 Bereits die Karriere des Uluç Ali belegt die soziale Mobilität von in die Sklaverei verschleppten Menschen: zuerst nach unten, dann teilweise auch nach oben. Auch das verknüpft die Betrachtung der­ Täter eng mit derjenigen ihrer Opfer. Die soziale Mobilität nach unten zeigt sich klar am Schicksal der Galeerensklaven, die zu Lande in den Bagnos eingeschlossen wurden. In Algier wurde das größte dieser Sklavengefängnisse vom Dey (le roy) unterhalten; daneben bestanden fünf weitere größere Anstalten dieser Art, je eine davon im Verantwortungsbereich des »Generals der Galeeren« sowie der »türkischen« Janitscharen. Diese Infrastruktur diente zum Einschließen der menschlichen Ware über Nacht oder außerhalb der Seefahrtsaison zur Verwahrung für diejenigen Sklaven, die in Steinbrüchen, an den Stadtbefestigungen oder am Ausbau der Hafenmolen zu arbeiten hatten. Daneben ent­faltete sich auch in den Bagnos ein eigenes Leben, zu dem auch Läden und Tavernen gehörten, die die Sklaven im Auftrag ihrer Herren betrieben.89 Dem polyethnischen Profil der Opfer entsprach das der Täter. Gewisserma­ ßen verkörperten die Renegaten die fluide Übergangszone zwischen Opfer und 87 Haedo, Argel, S. 8, 10; Davis, Christian Slaves, S. 3–26, insbes. S. 15, 22; Kempe, Fluch, S. 267; Fiume, Schiavitù, S. 23; Ressel, Sklavenkassen, S. 32 f. 88 Wolfgang Kaiser, Sprechende Ware. Gefangenenfreikauf und Sklavenhandel im frühneuzeitlichen Mittelmeerraum, in: Zeitschrift für Ideengeschichte 3 (2009), S. 29–39, hier S. 32; Michel Fontenau, Esclaves et/ou captifs. Préciser les concepts, in: Kaiser, Le Commerce, S.  15–24 sowie die weiteren Einzelstudien in diesem Band; Wolfgang Kaiser, Frictions profitables. L’économie de la rançon en Méditerranée occidentale (XVIe−XVIIe siècles), in: Simonetta Cavaciocchi (Hg.), Ricchezza del mare, ricchezza dal mare, secc. XIII−XVIII, Florenz 2006, S. 689–701. 89 Dan, Histoire, S. 405–407.

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Täter, sowie gleichzeitig die Chance sozialer Mobilität nach oben. Als gängige Umgangssprachen wurden neben Arabisch in seiner lokalen Ausprägung Türkisch und die im Kern auf die romanischen Sprachen zurückgehende Lingua Franca verwendet. An den Orten mit größeren Ansiedlungen von Morisken wurde auch Spanisch verstanden und gesprochen. Bei den Besatzungen spielte das europäischstämmige Element insbesondere bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts eine hervorgehobene Rolle: Für das Jahr 1581 zählte Haedo 35 Korsarenkapitäne in Algier auf, unter denen nur zehn als turcos firmierten. Abgesehen von einem Juden waren die restlichen renegados: elf aus den italienischen Territorien, drei Griechen, je zwei aus Frankreich und Spanien sowie je ein Albaner, Ungar und ein zum islamischen Geistlichen (Marabut) Gewandelter (renegado morabuto) ohne nähere Herkunftsangabe. Drei der Korsaren waren Söhne von Renegaten.90 Die Renegaten verkörperten geradezu die Anknüpfungspunkte für Handelsbeziehungen und Profite beiderseits des Meeres; so etwa wenn Renegaten mit ihren Familien in der Heimat über die Auslösung von verschleppten Landsleuten korrespondierten. Neben den infolge ihrer Verschleppung konvertierten Seebeutefahrern gab es Fälle, in denen europäische Kapitäne aus eigenem Antrieb den Übertritt auf die nordafrikanische Seite wählten. So ließ sich der Niederländer Simon »de Danser« Simonszoon (oder Danzeker, um 1577−1611) als Simon Raïs im frühen 17. Jahrhundert in Algier nieder und trug hier zum nautischen und artilleristischen Technologietransfer bei, indem er den Schiffbau nach nordeuropäischer Art vermittelte. Nach erfolgreichen Seebeutefahrten kehrte er jedoch zurück zu seiner in Marseille gebliebenen (oder dort gegründeten) Familie und geriet dann zwischen die Stühle der Mächte: Nach erneuter Überfahrt – nun in französischem Dienst – wurde er in Algier eingekerkert und schließlich enthauptet.91 Erfolgreicher verlief die Karriere seines Lands­mannes Jan Jansen aus dem holländischen Haarlem (um 1570−1641). Bei Lanzarote wurde er 1618 von Korsaren gefangen genommen und nach Algier verschleppt. Dort trat er zum Islam über. Nachdem sein Landsmann (und wohl Kompagnon) Soliman Raïs verstorben war, wählte er als Morat Raïs die junge »Korsarenrepublik« im marokkanischen Salé als neue Betätigungsstätte, wo sich bereits zahlreiche niederländische und englische Seeleute befanden. Im Jahr 1622 unternahm er eine Fahrt in den Kanal und in die niederländische Provinz Seeland, wo er sogar im Hafen von Veere anlegte, sein Schiff versorgen ließ und seine Mannschaft durch einheimische Seeleute verstärkte. Im Folgejahr kaperte er drei holländische Schiffe. Wohl unter dem Eindruck dieser Erfolge ernannte 90 Haedo, Argel, S. 18. 91 Braudel, La Méditerranée, S. 88; Lenci, Guerra, S. 62, 154; Fiume, Schiavitù, S. 14; Tinneswood, Pirates, S.  51–65; Robert Bohn, Von Sklavenkassen und Konvoifahrten. Die arabischen Seeräuber und die deutsche Seefahrt im 17. und 18. Jahrhundert, in: Geschichtsbilder. Festschrift für Michael Salewski, hg. v. Thomas Stamm-Kuhlmann u. a., Stutt­gart 2003, S. 25–37, hier S. 28–30.

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ihn der marokkanische Sultan Mûlây Zidân im Jahr 1624 zum Admiral von Salé. Von dort aus begann er 1627 einen Raubzug nach Island und kehrte mit rund 400 (oder möglicherweise bis zu 1.000) verschleppten Personen zurück.92 Im Jahr 1631 unternahm er einen Raid nach Irland, wo er die Stadt Baltimore plünderte und 237 Personen erbeutete. Auch er selbst wurde von den Malteserrittern gefangen genommen und später ausgelöst. Im Jahr 1640 gelangte ­Morat Raïs zurück nach Marokko, wo er zum Kommandanten eines kleineren Hafenplatzes ernannt wurde. Auch der von der nordfriesischen Insel Amrum stammende Hark Olufs wurde am 24. März 1724 als Sechzehnjähriger vor den Scilly-Inseln vor England von einem Korsarenschiff gefangen genommen, in Algier verkauft und geriet an den Hof des Beys von Constantine, wo er zu dessen Schatzmeister avancierte und bald auch dessen 500 Mann starke Leibgarde kommandierte. Seine mit hoher Wahrscheinlichkeit erfolgte Konversion wurde in seinen Memoiren indessen nicht thematisiert. Diese durch die Überlieferung ihrerseits gebrochene ›Konvertierung‹ von Namen, Kleidung und (vermutlich) Glaubensbekenntnis zeigt, wie sehr äußerlicher Habit und verinnerlichter ­Habitus im jeweiligen gesellschaftlichen Kontext ineinandergriffen. Diese interkulturellen Gemengelagen offenbarten »brüchige religiöse Identifikationsmuster«, wobei es den Betroffenen »zugemutet wurde, sich kreativ immer wieder neu zu erfinden«.93 Somit formten sich bereits im Rahmen vormoderner Gewaltstrukturen Persönlichkeitsstrukturen aus, die landläufig eher mit dem postmodernen Menschenbild in Verbindung gebracht werden. Während die Erlangung des Status als Freigelassener zumeist an die Konversion zum Islam geknüpft war, ermöglichte die Einheirat in (muslimische) Familien die Konsolidierung des Status. Darauf weisen die Vermählungen des Morat Raïs und auch Uluç Alis mit Töchtern anderer aufgestiegener Renegaten. In diesem Zusammenhang zeigt gerade die weitgehend »verborgene Geschichte« der Sklavinnen eine breite Skala zwischen Fremdheit, wirtschaftlicher und sexueller Ausbeutung einerseits und Anpassung, (begrenzter) Integration bis zur Einheirat andererseits. Den auffälligsten Fall bilden natürlich die Mütter der osmanischen Sultane (Valide Sultan), die an der Spitze des Harems auch über politische Einwirkungsmöglichkeiten verfügten.94 Auch diese Karrieren beruhten oft auf ihrer vorherigen Verschleppung durch Korsaren und analoge Gewaltunternehmer an Land. Die als »Weiberherrschaft« denunzierte Phase einflussreicher Frauen begann mit Hürrem Sultan (oder Roxalane), die als Alexandra Gavri92 Coindreau, Les corsaires de Salé, S. 66–68; Leïla Maziane, Salé et ses corsaires (1666−1727), Caen 2007, S. 173–175. 93 Martin Rheinheimer, Identität und Kulturkonflikt. Selbstzeugnisse schleswig-holsteinischer Sklaven in den Barbareskenstaaten, in: Historische Zeitschrift 269 (1999), S. 317–369, hier S. 344–347; Zitate: Michael Kempe, Piraterie, Sklaverei, Konversion. Zur Frage nach der Relevanz von Religion im mediterranen Kaperkrieg (17.−18. Jahrhundert), in: Jaspert/ Kolditz, Seeraub, S. 105–114, hier S. 106. 94 Josef Matuz, Das Osmanische Reich. Grundlinien seiner Geschichte, Darmstadt 52008, S. 124, 136, 169 f.

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lowna Lisowskaja (um 1506−1558) im heute ukrainischen Rohatin (Rogatyn) geboren wurde. Nach ihrer Versklavung durch Krimtataren und dem Verkauf nach Konstantinopel gelang ihr der Aufstieg von einer Konkubine zur vierten und schließlich Lieblingsgemahlin Süleymans I. Trotz ihres Übertritts zum Islam zeigt ihr Ruf als »Hexe« die ambivalente Rolle der Konvertit(in)en. Ihr Sohn Selim II. nahm eine venezianische Adlige zur Lieblingsfrau. Ein anderes Beispiel liefert eine Cousine zweiten Grades von Josephine de Beauharnais: Die auf Martinique geborene Aimée du Buc de Rivéry (1776−1817), wurde 1781 von nordafrikanischen Korsaren in die Sklaverei verschleppt und gelangte als Geschenk des Beys von Algier an Sultan Abdülhamid I. (1725−1789) nach Konstantinopel, wo ihr der Aufstieg zur Valide Sultan gelang. Als Adoptivmutter des Sultans Mehmed II. (1785−1839) spielte sie eine wichtige Rolle im osmanisch-französischen Spiel um die Expedition Napoleon Bonapartes nach Ägypten.95 Die infolge der Sklaverei zunächst erfolgende »Entpersonalisierung« und »Dekulturation« des verschleppten Individuums veranschaulicht die Wirksamkeit kultureller Verflechtungen besonders deutlich. Hierdurch entstanden – je nach Umständen und den betroffenen Akteuren  – Voraussetzungen für eine neue Identität durch Inkulturation (»inculturazione«).96 Die Transition des Menschen zur Ware wurde rituell und in der Öffentlichkeit vollzogen: durch die Vorführung der Sklaven in Ketten beim Triumphzug durch die Stadt nach dem Einlaufen des Korsarenschiffs im Heimathafen, durch öffentlichen Verkauf der (männlichen) Sklaven auf den Marktplätzen genauso wie durch das Kahl­scheren der Köpfe und das Anlegen der Sklavenkleidung. Auch die Befreiung aus der Sklaverei markierte einen neuen Status, ja eine neue Geburt.97 Dies zeigte sich in doppelter Weise anhand Gemeinschaft stiftender Zeremonien: Nach der Rückkehr ausgelöster Sklaven in ihre Heimatstädte erfolgten unter breiter Teilnahme der Stadtbevölkerung große Umzüge, die diese Heimkehr mit dem öffentlichen Bekenntnis zum christlichen Glauben bekräftigten. Umgekehrt hatten auch zum Islam konvertierte Freigelassene ihren Status durch P ­ rozessionen in ihrer neuen Heimat zur Schau zu stellen; namentlich dann, wenn hochstehende oder gar geistliche Personen den Glauben wechselten. Gleichwohl hingen Konversionen oft von der Interessenlage des Sklavenhalters ab; bei qualifizierten Sklaven im Haus war sie eine andere als bei einem Kapitän, der auf die Ruderkraft des menschlichen Antriebs angewiesen war und daher keine Konversionen förderte. Wiederum ambivalent waren Konversionen hinsichtlich der Lösegelderwartungen, die dadurch schwanden. Die menschliche »sprechende Ware« war natürlich selbst bestrebt durch Briefe in die Heimat Verwandte oder kirchliche (ggf. fürstliche) Autoritäten zur Aufbringung der erforderlichen Finanzmittel zu motivieren. Ihre Überlieferun95 Paul Strathern, Napoleon in Egypt. The Greatest Glory, London 2007, S. 229 f. 96 Fiume, Schiavitù, S. 16. 97 Haedo, Argel, S. 100: »los juris Consultos […] dizen que el hombre de esclauo y cautiuo, buelto [vuelto] libre, es ho[m]bre hecho de nueuo.«

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gen und die der im Auslösegeschäft tätigen Geistlichen prägten die europäische Sicht entscheidend mit, sowohl in den Medien der Betrachtungszeit als auch in der späteren kulturellen und memorialen Verarbeitung. Schließlich waren drastische Schilderungen barbarischer Praktiken geeignet Gläubige und Mitbürger zu Spenden in die Auslösekassen zu motivieren. Dadurch waren sowohl die Berichte der im Auslösegeschäft tätigen Geistlichen Dan und Haedo als auch die Selbstzeugnisse durch ethnographische und kulturelle Topoi gekennzeichnet, in die sich auch fiktionale Elemente und Seemannsgarn mischen konnten.98 Selbstverständlich hoben die europäischen Zeitzeugen den Opfercharakter, das Leiden hervor, das ihnen selbst, ihren Landsleuten oder Glaubensbrüdern widerfahren war. Meist war von Frauen nur am Rande die Rede. Doch unterließ es Pierre Dan nicht, die »unkeuschen und schmutzigen Liebschaften« anzuprangern, denen sich der Sultan in Konstantinopel mit den verschleppten Sklavenmädchen hingab. Dan schilderte auch die entsetzlichen Arten von Folter und Todesarten, denen insbesondere Kirchenleute oder solche Sklaven ausgesetzt waren, die ihren christlichen Glauben offensiv gegen Anfechtungen verteidigten.99 Gegenüber dem Wechsel der Religion aus Überzeugung oder Opportunismus existierten Fälle, in denen dieser standhaft abgeschlagen wurde; teils trotz verlockender Angebote wie Freiheit, Karriere, Reichtum oder die Aussicht auf eine Vielzahl schöner Mädchen. Bei nachhaltiger Verweigerung und besonders bei Rekonversion vom Islam zum Christentum drohte ein oft entsetzliches Martyrium.100 Natürlich verfolgte solch inszenierte Grausamkeit ein doppeltes Kommunikationsanliegen: zum einen suchten die Sklaven ihr Schicksal gegenüber ihren Angehörigen drastisch darzustellen, um diese zum Aufbringen der Auslösesumme zu bewegen; und für die im Freikaufgeschäft aktiven Geistlichen gehörte diese Absicht gewissermaßen zur Geschäftsgrundlage. Zum anderen war die öffentliche Strafpraxis im frühneuzeitlichen Europa wie im Orient Ausweis der herrscherlichen Gewalt. In den Sklavereigesellschaften Nordafrikas (aber auch auf dem amerikanischen Kontinent) diente dies der Demonstration der Ordnungsverhältnisse und sollte zugleich Sklaven vor Fluchtversuchen oder Widersetzlichkeit abschrecken. Auch hierdurch traten die Korsaren als Gewaltgemeinschaft in Erscheinung, zumal sie den von ihnen verbreiteten Schrecken in bare Münze umzuwandeln suchten. Der geschäftliche wie kriegerische Zusammenhalt in den Netzwerken des Raub- und Menschenhandels beruhte trotz seines fluiden Charakters letztlich auf kulturellen Faktoren: Erst die gemeinsame Zugehörigkeit – oder auch nur das äußere Bekenntnis  – zur Welt des »christlichen Abendlandes« oder des »muslimischen Orients« ermöglichte das Vertrauen innerhalb der Binnengruppe, das den Zusammenhalt der Gewaltgemeinschaften begründete. Dem 98 Kaiser, Sprechende Ware, S. 30, 34 f.; Fiume, Schiavitù, S. 22, 35–41; Heers, Les barbaresques, S. 251 f. 99 Dan, Histoire, S. 381 (»impudiques et sales amours«), 408–413, 450 f. 100 Ebd., S. 385 f.; Fiume, Schiavitù, S. 68–70, 78–80, 86–90; Bono, Schiavi, S. 503–515.

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entsprach die proklamierte Feindschaft zur Außengruppe. Die Wandelbarkeit der Identitäten, sowohl auf individueller wie auf kollektiver Ebene, war dabei unerlässlich. »Grenzgänger« wie Renegaten, Morisken und Juden ermöglichten Vermittlungsprozesse, gerieten aber auch in den Ruch der Unzuverlässigkeit. Auch am nördlichen Mittelmeerufer existierte die Sklaverei fort. Neben kriegsgefangenen muslimischen Kämpfern (ghuzat) fielen Menschen der örtlichen Küstenbevölkerungen gezielten Raids christlicher Schiffe zum Opfer.101 Obwohl das relative Gewicht der christlichen Sklavenwirtschaft nicht die Dominanz wie in den Barbareskenstaaten erreichte, war das Halten »maurischer« Sklaven in den iberischen Ländern und in Italien geläufig. Auch in einer christlichen Umgebung existierten teils Möglichkeiten für die Ausübung des muslimischen Glaubens. Auch hier erfolgten Konversionen, wovon etwa die »schwarzen Heiligen« Zeugnis ablegen.102 Sogar die den muslimischen Sklavenhaltern zugeschriebene Exklusivität der sexuellen Ausbeutung relativiert sich: Auch in europäische Hände gefallene Sklavinnen dienten als Konkubinen; mitunter bekleideten sie führende Positionen im Haushalt des Patrons, teils erhielten sie die Möglichkeit einer späteren Heirat.103 Auf der kollektiven Ebene lässt sich der Wandel vom Opfer- zum Täterstatus besonders gut am Beispiel der marokkanischen Stadt Neu-Salé (heute das Zentrum der marokkanischen Hauptstadt ar-Ribāt) darlegen. Sie erfuhr im 17.  Jahrhundert einen Aufschwung zum führenden Korsarenhafen der nordafrikanischen Atlantikküste. Zu dieser Zeit wurden hier sechs ethnische Gruppen unterschieden. Neben »geborenen Türken«, also Menschen aus dem marokkanischen Hinterland, prägten Juden, schwarze (Militär-)Sklaven, europäische Christen, europäischstämmige Renegaten und Morisken das Bild der Stadt. Mit dem Eintreffen letzterer erfuhr die teilweise in Verfall geratene alte Stadt Ribāt einen Neuaufschwung, nachdem die Dekrete Philipps III. von Spanien im September 1609 und im Januar 1610 die Vertreibung aller noch auf der Iberischen Halbinsel befindlichen Morisken verfügt hatten. Neben Kryptomuslimen zählten hierzu auch alle diejenigen, die nur im Verdacht der Zugehörigkeit standen. Insgesamt siedelten in Salé 13.000 Flüchtlinge aus Spanien. Entscheidend war hier offenbar der Einfluss der bis zu 3.000 sogenannten Hornacheros. Die aus der Stadt Hornachos in der Estremadura Stammenden hatten sich in ihrer alten Heimat das königliche Privileg des Waffentragens gegen die Zahlung einer erheblichen Geldsumme bewahrt und standen entsprechend im Ruf der Ge101 Nabil Matar, Piracy and Captivity in the Early Modern Mediterranean. The Perspective from Barbary, in: Jowitt, Pirates?, S. 56–73, hier S. 61; Mohamed Cherif, La piraterie en Méditerranée d’après les sources hagiographiques maghrébines, in Jaspert/Kolditz, Seeraub, S. 83–103; Albrecht Fuess, Muslime und Piraterie im Mittelmeer (7.−16. Jahrhundert), in: ebd., S. 175–198, hier S. 176 f. 102 Bono, Schiavi, S. 241–303; Fiume, Schiavitù, S. 121–195. 103 Bono, Schiavi, S. 331–341; Fiume, Schiavitù, S. 47 f.; Alessandro Stella, Des esclaves pour la liberté sexuelle de leurs maîtres (Europe occidentale, XVIe−XVIIIe siècles), in: Clio. Histoire, femmes, sociétés 5 (1997), S. 2–14.

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waltaffinität. Damit konnten sie auch in der neuen Heimat als Gewaltgemeinschaft in Erscheinung treten, nun im Dienst des marokkanischen Sultans Mûlây­ Zidân. Das komplexe und durchaus nicht konfliktfreie Zusammenspiel der in der Qasba siedelnden Hornacheros und der im Rest der Stadt untergebrachten, weitaus zahlreicheren andalusischen Zwangsmigranten sowie der altansässigen Bewohner der Region prägte ein eigenes Profil der Gemeinde. Diese erklärte im Jahr 1627 ihre Unabhängigkeit als »Korsarenrepublik«, in der das komplexe innere Mit- und Gegeneinander der verschiedenen ethnischen Gruppen – wie in Algier – die Grundlage für eine Betätigung im Raubhandelsgeschäft bot. Dieses erfolgte auch unter reger Beteiligung niederländischer und englischer Seefahrer, wie die Karriere des Morat Raïs/Jan Jansen eindrücklich belegte. Mit der Reetablierung der Macht des Sultans ab 1666 wurde das Gemeinwesen in den marokkanischen Territorialstaat integriert. Der vom marokkanischen Sultan eingeforderte Beuteanteil von fünfzig Prozent sowie das von ihm beanspruchte Monopol auf den Besitz von Sklaven reduzierten die Attraktivität des Korsarentums erheblich. Diese Maßnahmen zur Herrschaftsverdichtung entzogen diesem letztlich den Markt.104

6. Fazit und Ausblick: Kulturelle Verflechtungen und Stereotypen Mit der Spätaufklärung und namentlich mit Beginn des 19. Jahrhunderts wich das »Barbaresken-Trauma« einem europäischen Überlegenheitsgefühl, in das sich zivilisatorische, teils auch rassistische Züge mischten.105 Dies bildete die Basis für jenen Orientalismusdiskurs, der die eurozentrisch ausgerichtete Wahrnehmung der Weltgeschichte lange Zeit bestimmt hat.106 Dieser Umschwung folgte der Verschiebung der militärischen Kräfteverhältnisse ab dem späten 17. Jahrhundert. Während die Republik Venedig, der Malteserorden sowie die spanischen Teilreiche auf der Iberischen und Apenninhalbinsel weiterhin zum traditionellen Gegner- und Beuteschema der Barbaresken gehörten, schlossen die neuen Seemächte – die Niederlande, England und Frankreich – in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts Verträge mit den Regentschaften, die auch vertragliche Regelungen zum Gefangenenfreikauf beinhalteten. Nach einer durch den Dreißigjährigen Krieg mitbedingten Unterbrechung war die Phase der »Diplomatenadmirale« (Panzac) von 1650 bis 1720 durch gewaltsame europäische Expeditionen gekennzeichnet. Zwischen 1670 und 1675 operierte wiederholt ein 104 Leïla Maziane, Salé au XVIIe siècle, terre d’asie morisque sur le littoral Atlantique marocain, in: Cahiers de la Méditerranée 79 (2009), S. 359–372; Dies., Salé, S. 218–220. 105 Rheinheimer, Identität, S. 364–367; Salvatore Bono, Lumi, S. 193, 200 f. (hier am Beispiel des Göttinger Gelehrten August Ludwig Schlözer). 106 Edward Said, Orientalism, New York 1979; Jürgen Osterhammel, Die Entzauberung Asiens. Europa und die asiatischen Reiche im 18. Jahrhundert, München 1998, S. 21–27, 409–412.

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englisches Geschwader vor Algier und Tripolis, bombardierte die Städte und versenkte einen erheblichen Teil ihrer Flotten. In den Jahren 1681, 1682 und 1688 erschien die französische Flotte nach ähnlichem Muster vor Algier. Wiederholte Beschießungen erfolgten auch vor Salé.107 Erst ab dem zweiten Viertel des 18. Jahrhunderts schlossen auch andere Mächte Verträge; beginnend 1725 mit der österreichischen Habsburgermonarchie, sodass die Maghrebstaaten und Europa um die Jahrhundertmitte diplomatische Beziehungen unterhielten. Entsprechend ging die Kaperfahrt einem langsamen Ende entgegen, während sich die nordafrikanischen Flotten in den transmediterranen Handel integrierten. Das verstärkte aber auch die wirtschaftlichen und technologischen Abhängigkeiten zu den Handelspartnern auf der Gegenküste, namentlich zu Frankreich. Während sich die nordafrikanischen Regentschaften zu quasisouveränen Territorien wandelten, wurde ihr Korsarentum gleichsam sukzessive in den Dienst der Staatsmacht gestellt; besonders ausgeprägt in Marokko. Das verdeutlicht auch die spätere (Wieder-)Eingliederung der meisten der zahlreichen Presidios, der befestigten spanischen und portugiesischen (phasenweise auch englischen) Hafenstützpunkte an der nordafrikanischen Mittelmeer- und Atlantikküste, aus europäischer Hand in die muslimischen Herrschaftsbereiche. Auch in den Regentschaften im Mittelmeer erfolgten gleichsam staatliche Regulierungsprozesse, die sich auf die Kaperfahrt auswirkten. In Tripolis etablierte sich ab 1711 die Dynastie der Qaramanli, in Tunis ab 1730 die der Husseiniden. Die Versuche der Hohen Pforte, die Regentschaften zu direkt verwalteten Provinzen umzuformen, fruchteten erst 1835 in Tripolitanien. Erst als die Kriege im Zuge der Französischen Revolution mit der britischen Flotte auch den »großen Krieg« ins Mittelmeer zurückbrachten, erlebte die Kaperfahrt zwischen 1793 und 1815/18 einen ephemeren Aufschwung.108 Die Feldzüge des Revolutionsgenerals Napoleon Bonaparte in Italien und nach Ägypten beseitigten mit Venedig (1797) und der Ordensherrschaft über Malta (1798) jene Akteure, die bislang die muslimischen Kaperfahrer in Schach gehalten hatten. Das zeigte der spektakuläre tunesische Raid nach Carloforte auf der Insel San Pietro, wo rund 800 Menschen verschleppt wurden.109 Mit den Vereinigten Staaten von Amerika trat während der napoleonischen Kriege eine junge maritime Macht ins Mittelmeer ein, die sich nicht bereit zeigte, die Regeln der bisherigen Lösegeldökonomie zu respektieren. Diese ›Barbary Wars‹ richteten sich von 1801 bis 1805 vor allem gegen Tripolis und erweiterten sich 1815 um den Konflikt mit Algier.110 107 108 109 110

Maziane, Salé, S. 247–254. Panzac, Les corsaires, S. 13–37; Kempe, Fluch, S. 252–262; Bono, I corsari, S. 179–192. Bono, Lumi, S. 239–248; Uyar/Erickson, A Military History of the Ottomans, S. 116–119. Frank Lambert, The Barbary Wars. American Independence in the Atlantic World, New York 2005; Frederick C. Leiner, The End of Barbary Terror. America’s 1815 War against the Pirates of North Africa, New York 2006; Seton Dearden, A Nest of Corsairs. The Fighting Karamanlis of Tripoli, London 1976, S. 151–210.

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Diese letzte Hochphase bestätigt ein gemeinsames Muster für das komplexe und in sich so heterogene Phänomen von Piraterie und Korsarentum. Offenbar boten postimperiale Räume Chancen für »Täter«: Was um 1800 für Malta und Venedig galt, war analog anwendbar auf Spanien und seine italienischen Nebenländer, die aus dem großen Krieg des 16. Jahrhunderts geschwächt hervorgingen. Mit dem Abflauen der ›staatlichen‹ Durchdringungsdichte und des ›regulären‹ Krieges im 17.  Jahrhundert sowie der Konzentration auf andere Kriegsschauplätze, blieb Raum für ›irreguläre‹ Akteure – in der Gemengelage zwischen den konkurrierenden Mächten, Religionen und dezentral(er) organisierten Akteuren. Die Rekonzentration der staatlichen Gestaltungsmacht im 18. und frühen 19. Jahrhundert ließ das Thema als aktuelle Gefahr zurücktreten und bot Stoff für die mediale Verarbeitung, vom lächerlichen Buffo-Türken bis zum edlen Piraten und Korsaren in Oper, Roman und Film.111 Dies konnte freilich erst erfolgen, nachdem die Korsaren selbst zu ›Opfern‹ der Staatsgewalt und der durch diese gesicherten ›zivilen‹ Marktverhältnisse geworden waren; nicht nur in Europa. Korsaren als Täter waren Profiteure der Ambivalenz. Nachdem die fluiden Übergangszonen im frühen 19. Jahrhundert den klaren rechtlich-semantischen Trennungsprozessen der ›Moderne‹ unterworfen wurden, war ihr Geschäftsfeld ruiniert. Wenn nur der Staat und seine regulären Akteure in Armee und Flotte Krieg führten, wurde alles andere entweder verboten oder aber umbenannt. Zu Lande ermöglichte dies die Um­ prägung des Begriffs »Partisan« vom Gewaltunternehmer zum Freiheitshelden. Der ›staatliche Krieg‹ wurde von der ›privaten Wirtschaft‹ abgegrenzt. Dadurch wurden beide Ausdrücke fortan zu Pleonasmen: Nach dieser Diktion macht nur der Staat den Krieg, die Ökonomie gilt als rein friedliche Veranstaltung. Nach der – ebenfalls in den Jahrzehnten um 1800 – ausgeformten klassischen Wirtschaftstheorie fielen diesbezüglich beschreibende Theorie und normative Setzung in eins. Während der Krieg mit dem friedlichen Wirtschafts­leben (angeblich) nichts mehr zu schaffen hatte, wurde die ökonomische Tätigkeit fürderhin als exogene Größe für die Kriegsführung gedacht. Die Abstützung auf Share­holder einschließlich der dadurch implizit oder explizit erwirkten Mit­ bestimmungsmöglichkeiten bei Gewaltausübung und Verteilung des Ressour­ cen­zuflus­ses – also der Beute – konnte der militärgeschichtlichen Fachliteratur im 19. und noch des 20. Jahrhunderts nur als abwegig erscheinen. Dennoch blieben hier dezentrale Akteure im Spiel, um ihr Geld in Risikokapital zu lenken. Die Partnerschaft von privaten und staatlichen Akteuren endete nur auf dem ersten Gebiet, bei Militärunternehmern. Auf dem zweiten Gebiet, den Schiffsausrüstern, blieben auch im 19. Jahrhundert Kofinanzierungen bestehen. Auf dem dritten Gebiet jedoch, bei kolonialen Handelsgesellschaf111 Manfred Schneider, Poesie der Piraterie. Lord Byrons »The Corsair« und das Auftauchen des comunis amicus omium, in Jaspert/Kolditz, Seeraub, S.  115–129; Johannes Marbach, Piraterie in Literatur, Oper und Film, in: Grieb/Todt, Piraterie, S. 271–292, hier S. 279–288.

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ten, war auch im 19. Jahrhundert das Zusammenspiel von Staat und privaten Akteuren keineswegs antiquiert. Das belegen das Wirken der britischen East India Company und später die Durchdringungsmuster in der Zeit des Hochimperialismus ab 1880. Labilität im Dreieck von Krieg, Handel und Piraterie ermöglichte die Geschäftsgrundlage des Korsarentums. Sie kennzeichnete die Macht- und Marktverhältnisse in den nordafrikanischen Regentschaften in ausgeprägter Weise. Auch in der Raub- und Lösegeldökonomie blieben die Akteure um ihre Legitimation bemüht. Sie avancierten bei Erfolg zu Admiralen und beriefen sich auf Kriegsrecht und Kriegsbrauch (usanza del mare) und bedienten sich der Kaperbriefe oder Passporte bei der Ausübung ihres Geschäfts. Bevor sich der moderne Staat ausprägte, war dabei der religiös konnotierte Konflikt – so fluide dieser auch auf der persönlichen Ebene ausfallen konnte –112 die Grundlage. Verbunden mit der Ausformung des Seerechts und dem europäischen Mächtekonzert bildete das die Legitimitätsgrundlage für eine europäische Dominanz, die nun das Korsarentum als »Feind aller« bekämpfte – zur Förderung des Freihandels auf den Meeren, wobei menschliche Ware nunmehr als Handelsgut aus­geschlos­sen wurde. Die einstigen institutionalisierten Auslöseverfahren von Sklaven wandelten sich zu Seeversicherungen bei Schadensfällen; Voraussetzung für alles wurde die Existenz von stehenden Flotten auf Basis des Steuerstaats. Korsaren waren Pionierunternehmer. Ihre beuteökonomischen Pionier­ gewinne konnten sich in ›staatsfernen‹ Räumen einerseits besonders gut entwickeln, waren andererseits aber auf den Import von Waffen, Technologie, Handelswaren und Menschen angewiesen – von Sach- und Humankapital; im besten wie im zynischen Sinn dieser Worte. Neben der Spanne zwischen Reichtum und Ruin gehörte hierzu stets die Gefahr oder Chance die Opfer-TäterRolle zu vertauschen. Dieser teils mehrmalige Rollenwechsel beruhte auf der fluiden Verortung des Korsarentums zwischen Krieg, Handel und Piraterie auf der Täterseite; auf der Skala zwischen dem (in sich breit gefächerten Status) als Sklave, als Lösegeld- oder Kriegsgefangener, als Freigelassener oder/und als Renegat auf der Opferseite. Die damit einhergehenden Prozesse von Ent­perso­na­ lisierung und gesellschaftlicher Wiedergeburt, zwischen Dekulturation und Inkulturation offenbaren eine Verflechtungsgeschichte im Medium der Gewalt. Deren schillernder Gegenstand der Seebeutefahrer bot (und bietet) genau daher die Projektionsfläche für die mediale und kulturelle Verarbeitung in nahezu alle Richtungen: vom stigmatisierten ›Anderen‹, der die Feindschaft ›aller‹ auf sich zog, bis hin zum romantisierten Antihelden. Diese Umdeutungen boten sich indessen vor allem für eine Nachwelt an, deren Zeitgenossen kaum mehr selbst Gefahr laufen konnten Opfer zu werden – oder aber in die ambivalente Rolle von Tätern zu geraten.

112 Kempe, Piraterie, S. 105–114.

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»How many he slays!« Täter und Opfer im Ostafrika des 19. Jahrhunderts 1. Im Klima der Gewalt Das 19. Jahrhundert Ostafrikas war von einer dauerhaften und vielgestaltigen Gewalterfahrung geprägt. Diese steht im Zusammenhang mit einer Reihe von historischen Umwälzungen, die sich auf verschiedenen Ebenen abspielten. Die Ausweitung des Sklaven- und Karawanenhandels im Hinterland der ostafrikanischen Küste, Migrationsströme aus dem Südwesten und Dürreperioden sowie Ausbrüche von Tierkrankheiten setzten große Menschenmengen in Bewegung und sorgten für die Entstehung dynamischer Begegnungsräume, in denen kultureller und wirtschaftlicher Austausch eine ebenso große Rolle spielten wie die ständig präsente Möglichkeit der Gewaltausübung. Verschiedene Gewaltkulturen trafen aufeinander, was zu einer Diffusion akzeptierter Regeln und Grenzen führte. Dabei entstanden unterschiedliche Konstellationen und Konstruktionen von Täterschaft und Opferstatus. Aufgrund sprachlicher und kultureller Unterschiede, des Zusammenbruchs bzw. der grundlegenden Umformung bestehender Kommunikationsnetzwerke sowie einer weitreichenden Mobilisierung der Bevölkerung existierten keine allgemeinen Regeln der Gewaltnutzung, die von allen Aufeinandertreffenden akzeptiert wurden. Grundlage der vielschichtigen Umwälzungen waren zunächst wirtschaftliche Veränderungen. Bereits im 18. Jahrhundert hatte sich Sansibar zu einem bedeutenden Handelszentrum entwickelt. Als der Sultan von Oman im Jahr 1850 seinen Herrschaftssitz von der arabischen Halbinsel nach Sansibar verlegte, brachte dies eine Konzentration swahili-arabischer Händlereliten auf der Insel mit sich. Die Folge war eine massive Ausweitung wirtschaftlicher Aktivitäten in der gesamten ostafrikanischen Küstenregion. So stieg die Zahl von Plantagen im Sansibar-Archipel und an der Küste Ostafrikas in der Zeit von 1820 bis 1850 von ca. 2.000 auf über 5.000 an. Die anfallende Arbeit wurde von Sklaven bewältigt, die von Sklavenkarawanen gewaltsam in den Dörfern des Hinterlandes ausgehoben und während ihrer Tätigkeit auf den Plantagen von bewaffneten Milizen bewacht wurden. Die große Nachfrage nach abgepresster Arbeit entfaltete eine solche Zentrifugalkraft, dass in den Jahrzehnten nach 1850 auch entfernte Regionen im Landesinneren massiv von den Gewaltpraktiken der Sklavenhändler betroffen waren. Das spiegelte sich ebenso in den Zolleinnahmen Omans für Sklaven wie in der Zusammensetzung der Bevölkerung Sansibars: Für das Jahr 1860 wurde die dortige Bevölkerung auf insgesamt 300.000 geschätzt, zwei Drittel davon wa-

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ren Sklaven.1 Der britische Autor Alan Moorehead betont die Omnipräsenz von Sklaven im Stadtbild Sansibars der 1850er Jahre.2 Schätzungen zum Gesamtvolumen des Sklavenhandels in und mit Ostafrika gehen von ca. 1,25 Millionen Menschen aus.3 Gleichzeitig stieg der weltweite Handel mit Elfenbein an. Die Nachfrage nach dem weichen, leicht zu verarbeitenden Rohstoff aus den Stoßzähnen der Elefanten machte Ostafrika sukzessive weltweit zur Export­region Nummer Eins für Elfenbein. Immer mehr Gruppen professioneller Elfenbein­ jäger machten eine neue, potenziell auch gegen Menschen gewalttätige Elite aus. Ihr Handelsgut musste, wie auch andere Güter die ihren Weg ins Landesinnere fanden, von Menschen transportiert werden, denn die verbreitete Tsetsefliege übertrug die Nagana-Tierseuche und machte die Nutzung von Lasttieren in diesem Gebiet unmöglich.4 Die Teilnahme an Karawanenreisen wurde besonders für junge Männer zu einem festen Bestandteil der eigenen Lebenserfahrung. Eine solch weitreichende Mobilisierung großer Bevölkerungsteile schuf ein breites Spektrum von Begegnungen, die immer stärker auch von Gewalt­ erfahrungen geprägt waren, sich in der mündlichen Überlieferung niederschlugen und ostafrikanische Erinnerungskulturen prägten. In den dort dokumentierten Erzählungen erscheinen Täter in Form von Ogerfiguren (Amanani bzw. Eimu), die Dörfer überfallen und die Bewohner entführen.5 Während diese Darstellungsform für eine unbestimmte externe Bedrohung lokaler Gemeinschaften steht, enthalten die überlieferten Narrative oft auch Strategien, wie die Täter bekämpft und die entführten Gemeinschaftsmitglieder befreit werden können. So bricht der Protagonist einer Erzählung aus dem Gebiet des heutigen nördlichen Ugandas nach einem Überfall auf sein Dorf auf, um eine Gruppe von Ogern zu verfolgen. Er rüstet sich zunächst mit besonderen Waffen aus und muss bei seiner Rückkehr ins Dorf feststellen, dass die Oger in der Zwischenzeit auch seine Schwester entführt haben, die als einzige Person neben ihm selbst dem vorherigen Überfall entkommen konnte. Nachdem der Protagonist die Oger verfolgt und deren Anführer in einem dramatischen Kampf getötet hat, kann er schließlich alle Entführten retten.6 Solche Erzählungen stehen für eine weit verbreitete, vielschichtige Gewalterfahrung und zeigen eine enge narrative Verflechtung von Täter- und Opfercharakterisierungen.

1 Vgl. Michael Mann, Sahibs, Sklaven und Soldaten. Geschichte des Menschenhandels rund um den Indischen Ozean, Darmstadt 2012, S. 124. 2 Vgl. Alan Moorehead, The White Nile, London 1960, S. 11. 3 Vgl. Mann, Sahibs, S. 72. 4 Die in weiten Teilen Afrikas verbreitete Nagana-Seuche führt bei betroffenen Tieren zunächst zu Schwäche und endet meist tödlich. Siehe R. J. Connor, The Impact of Nagana, in: Onderstepoort Journal of Veterinary Ressearch 61 (1994), S. 379–383. 5 Siehe z. B. Kavetsa Kabira u. a. (Hg.), Kenyan Oral Narratives. A Selection, Nairobi 1985, S. 14 ff. und Gerald Lindblom, Kamba Folklore, Uppsala 1928, S. 28 f. 6 Vgl. Charles Okumu, The Genres of Acholi Literature. Vol. one, Analysis and Evaluation, M. A. Thesis, University of Nairobi 1975, S. 66.

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Im ostafrikanischen Hinterland traf im Laufe des 19. Jahrhunderts eine Vielzahl unterschiedlicher Gewaltakteure aufeinander. Es entstand eine Überlagerung von präexistenten und an neue situative Kontexte angepasste Gewaltlogiken, die verschiedene Mischformen zuließ und förderte. Die Pluralität verschiedener Gewaltsituationen ging mithin mit einer Vielfalt von Täter-/Opfer-Konstellationen, Zuschreibungen und Selbstinszenierungen einher. Allgemein stand eine ausdifferenzierte Gewalterfahrung für verschiedene Kontexte und Konstellationen, in denen man zum Täter bzw. Opfer werden konnte. Täterschaft war charakterisiert durch eine situative Aktionsmacht, die von Gewalthandeln bestimmt war und sich bis zum Bestimmen über Leben und Tod des Gegenübers ausweiten konnte. Der Status des Opfers war komplementär dazu ein Verharren in erzwungener Passivität, die sich in Kooperation erschöpfte oder im Tod der Betroffenen endete. Aus dieser situativ bestimmten Beziehung ergibt sich die Frage nach der Einpassung von Gewalt in soziale, politische, juristische, kulturelle und moralische Kontexte.

2. Bildsprachen der Gewalt: Inszenierungsformen von Täterschaft in dezentralen Gewaltkulturen Abseits zentralistischer Strukturen (wie der Königreiche Buganda und Bunyoro) basierte die Organisationsform ostafrikanischer Gemeinschaften auf lockeren Verbindungen zwischen lokal und regional agierenden Gruppen. In diesem Kontext wurde inszenierte Täterschaft als Basis für die Etablierung, Verteidigung und Bestätigung des Status eines Kriegers innerhalb der Gemeinschaft genutzt. Sie äußerte sich anhand von Kriegernamen und anderen Ehrenzeichen, die als Elemente einer Bildsprache der Gewalt angesehen werden können, welche Täterschaft kulturell ausformte. Das bezieht sich sowohl auf die Einübung wie auch auf die Ausübung von Gewalt. Das Einüben und langfristig tragbar machen von Gewalt fand vor dem Hintergrund tradierter Konzepte von Lebensalter statt. Die Bevölkerung war und wurde durch Rituale in Alterssegmente unterteilt, die für ihre Mitglieder verschiedene Aufgabenbereiche in der Gesellschaft vorsahen. Solche Altersorganisationen waren die Basis für das Erlernen eines Umgangs mit Gewalt, der mit der dezentral organisierten Lebensweise ostafrikanischer Gemeinschaften eng verflochten war. So wurden junge Männer im Rahmen eines festgelegten Zeitraums der Seklusion mit akzeptierten Formen kollektiver Gewaltnutzung vertraut gemacht und ihnen wurden deren Regeln, Grenzen und Praktiken gelehrt. Ältere Krieger fungierten dabei als rituelle Paten, die ihr Wissen mündlich weitergaben und die Jüngeren anleiteten. Dabei wurde ein gesellschaftlich akzeptierter aggressiver Habitus junger Männer gefördert, der in Form regelmäßiger »Theater der Aggressivität« ein- und in tradierten Formen kollektiver Gewaltpraktiken ausgeübt wurde. Die Initiation als Krieger bot einen Startpunkt für regelmäßig durchgeführte rituelle Feste (ngoma bzw. nzua), die einen vorgege-

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benen Rahmen für die Distinktion junger Männer boten. Dabei wurden standardisierte Angriffspraktiken wie aggressives Springen, Stechen und andere körperliche Aktivitäten eingeübt sowie kriegerische Handlungen inszeniert, die sich im Rahmen vergangener Gewaltaktionen ereignet hatten. Der Missionar Johannes Rebmann beobachtete solche »Exercitien« im Rahmen seiner Reise in das Hinterland der ostafrikanischen Küste: »Am Abend sah ich sie im Schritt heimmarschiren, worauf sie auf einem freien Wiesengrund eine Art Exercitium hatten. Die Hauptübung schien im bloßen Springen, Angriff auf den Feind und Rückzug vor demselben, zu bestehen.«7

Die tradierte Gewaltpraxis wurde somit regelrecht in die Körper der jungen Krieger eingeschrieben.8 Hinzu kamen Federn, Bemalungen, Bänder und andere Artefakte, die als Ehrenzeichen fungierten und als Belohnung für geleistete Taten vergeben wurden. Inszenierte Täterschaft bildete dabei eine Grundlage für die Binnengliederung der Kriegergruppen innerhalb einer Gesellschaft. Wie die Reisende Mary French-Sheldon erfuhr, entstanden dadurch Hierarchien und Untergliederungen der unterschiedlichen Kriegergruppen: »[Warriors] divide themselves up into little bevies, almost clubs, and they wear as an insignia or badge of fellowship or brotherhood little armlets made of a strip of cowhide, upon which are sewn beads in special devices and chosen colours, which seem to indicate their particular faction or club.«9

Besonders deutlich begleitet wurde der aggressive Habitus in Form von Noms de Guerre, die die kriegerischen Taten und Fähigkeiten ihrer Träger priesen. So verweist der Name ole Naado Soit (»He of the bright red stone«) auf die Tötung eines Gegners auf felsigem Untergrund. Das Blut des Getöteten habe rubinrot in der Abendsonne geglänzt, worauf sich der anschließend vergebene Nom de Guerre bezieht.10 Das Blut getöteter Feinde betont auch der Name ol-leLangoi, durch dessen Taten die Erde mit großen Mengen Blut rot gefärbt worden sei.11 Weitere Namen verweisen etwa auf die Tapferkeit (kitissa, »der Tapfere«), Schnelligkeit (meschuggo, »der Schnellfüßige«) oder den Übermut (sabonjo, »der Ungestüme«) des Trägers oder unterstreichen dessen Grausamkeit (ol oipuki,

7 Johannes Rebmann, Tagebuch des Missionars vom 14. Februar 1848 – 16. Februar 1849, Goerlingen 1997, S. 39. Siehe auch Henry S. Mwaniki, The living history of the Embu and Mbeere to 1906, Nairobi 1985, S. 78 sowie Johann Ludwig Krapf, Kurze Beschreibung der Massai, in: Ausland 30 (1857), S. 437–443, 461–466, hier S. 440 und Waldemar Werther, Zum Victoria Nyanza. Eine Antisklaverei-Expedition und Forschungsreise, Berlin 1894, S. 167. 8 Vgl. Hartmut Rosa, Identität und kulturelle Praxis. Politische Philosophie nach Charles Taylor, Frankfurt a. M. 1998, S. 147. 9 Mary French-Sheldon, Sultan to sultan, Boston, Mass. 1892, S. 230. 10 Vgl. Claude Hamilton, Maasai Tales, Songs and Texts. Typoskript, Rhodes House Library, Oxford, MSS Afr s 1810/1, o. S. 11 Alfred C. Hollis, Masai. Myths, Tales and Riddles, New York 2003, S. 111.

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»der Furchtbare, vor dem alles flieht«).12 Mit Kriegernamen wird jedoch nicht nur die Täterschaft herausgestellt, sondern auch auf deren Status als Opfer verwiesen: so wird an erlittene Verletzungen etwa durch die Vergabe des Namens mepanja, »der Schwerverwundete«,13 erinnert. Die Vergabe und Aktualisierung von Kriegernamen erfolgte im Rahmen ritueller Tanzfeste (ngoma bzw. nzua), die regelmäßig im Zentrum der Siedlung durchgeführt wurden. In den Quellen werden sie als wilde »Kriegstänze« geschildert. Die Inszenierung kriegerischer Taten machte Tanzfeste zu Foren der Einübung eines aggressiven Habitus, der entsprechende Gebärden, Kriegsschreie und Bewegungsmuster beinhaltete.14 Der Geologe John Walter Gregory bezeichnete das Gebaren der Krieger entsprechend als »Spiel des Prahlens und Aufplusterns«.15 Solche Theater der Aggressivität dienten somit der Herausprägung von Kriegeridentitäten, die der Gewalt einen »festen Platz […] in der männlichen Biographie«16 (Dagmar Ellerbrock) zuschrieb. So sahen ostafrikanische Altersordnungen eine Lebensphase als Krieger (moran) vor, welche die jungen Männer zu Trägern akzeptierter Gewaltpraktiken innerhalb der dezentralen Gemeinschaft machte. Ngomas waren Foren für die regelmäßige Bestätigung und Aktualisierung des Status der Krieger. Der britische Reisende William Astor Chanler beobachtete ein solches Tanzfest und beschrieb das Verhalten der jungen Krieger: »The young people, […] in leaping into the air, and indulging in tumultuous shouts, they work themselves to such a pitch of fury as apparently to lose their reason; they foam at the mouth and hurl themselves upon the ground, where they writhe. The facility with which a warrior enters into this epileptic condition is accepted as evidence of the degree in which he possesses the martial spirit; and it is said of experts in this line, that their enemies will vanish before them as dew before the rising sun.«17

Verweise auf den Akt des Tötens erscheinen in den überlieferten rituellen Liedtexten und Gesängen als wichtiges Element der Kriegeridentität. Der Missionar Johann Ludwig Krapf dokumentierte die dialogisch gesungenen Texte eines Initiationsritus (nzua) aus dem Hinterland der ostafrikanischen Küste: »ku ulaga kavana haya, ku kumbuka mkue kavana haya, hailondaro halo. […] mkuafu mza na rungu, d. h. zu tödten ist keine Schande, das ist es, was wir wollen.«18 Die Initiation als Krieger war ein ritualisierter Übergang in den Status eines vollwertigen 12 Moritz Merker, Die Massai, New York 1968, S. 58. 13 Ebd. 14 Siehe z. B. John Walter Gregory, The Great Rift Valley, London 1896, S. 353. 15 »Game of brag and bluster«, ebd., S. 100 [Übersetzung S. R.]. 16 Dagmar Ellerbrock, Generation Browning. Überlegungen zu einem praxeologischen Generationenkonzept, in: Geschichte im Westen 26 (2011), S. 7–34, hier S. 8. 17 William Astor Chanler, Through Jungle and Desert, London 1896, S. 283. Siehe auch Hans Meyer, Zum Gipfel des Kilimandscharo, Leipzig 1890, S. 204 f. sowie Egbert Brewin, The Memories of Mrs. Rebecca Wakefield, London 1888, S. 142 f. 18 Johann Ludwig Krapf, Reisen in Ostafrika ausgeführt in den Jahren 1837−1855, 2 Bde., ND Münster 1994 [1858], hier Bd. 1, S. 337.

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Gemeinschaftsmitglieds mit zugeschriebenen Rechten und Pflichten. Während des zentralen Rituals, das analog zur biologischen Geburt mit entsprechenden symbolischen Bezügen aufgeladen war und einer sozialen Geburt gleichkam, wurde an die jungen Krieger auch ein neuer Name vergeben. Nachdem sie sich in Gewaltaktionen bewährt hatten, erhielten sie einen zusätzlichen Beinamen, der sich auf ihr Verhalten als Krieger bezog und bei späteren ngoma-Festen verändert werden konnte. Krieger, die während Gewaltaktionen andere Menschen getötet hatten, erhielten zusätzlich einen besonderen killer name (moi).19 Solche Konzepte von Kriegertum und Männlichkeit umfassten die frühe Gewöhnung an Waffennutzung ebenso wie symbolisch aufgeladenen Schmerz, das Ausstatten von Gewalthandeln mit Sinnhaftigkeit und die innere Gliederung der einzelnen Kriegergruppen durch Abzeichen und Trophäen.20 Die Inszenierung als Täter im Rahmen tradierter Gewaltpraxis spielte also eine zentrale Rolle für die Stellung einzelner Krieger sowie ganzer Gruppen innerhalb der sozialen und politischen Organisation dezentraler ostafrikanischer Gemeinschaften. Innerhalb dieser kulturellen Einpassung der Gewalt kam es jungen Männern zu, in festgelegten Kontexten und unter Kontrolle von Ältestenräten Gewalt auszuüben. In ihrer Verbindung zu etablierten Männlichkeitskonzepten musste der Status der Krieger immer wieder durch akzeptierte Formen der Gewalt bestätigt und gefestigt werden.21 So wurde Täterschaft im Rahmen tradierter Gewaltkulturen in Form von Ehrenzeichen, Noms de Guerre und durch einen aggressiven Habitus dauerhaft in der Lebensweise ostafrikanischer Krieger verankert. In der kollektiven Ausübung von Gewalt war die Form des Raid als schneller Angriff aus dem Hinterhalt besonders verbreitet, die im Wesentlichen auf das Erbeuten von Vieh ausgerichtet war. Die angreifenden Kriegergruppen waren nach Altersstufen unterteilt und hatten verschiedene Aufgaben. So gab es Kundschafter, die in Kleingruppen mögliche Ziele erkundeten und Verstecke vorbereiteten. Ältere Krieger und rituell eingesetzte Respektspersonen (elders) bereiteten die Aktionen beratend vor und gaben rituelle Segnungen. Meist schlug man im Morgengrauen los und wählte damit den Zeitpunkt, zu dem das Vieh einer Siedlung aus den Stallungsanlagen auf die Weiden getrieben wurde. Die Gruppe der jüngsten angreifenden Krieger hatte die Aufgabe unter lautem Geschrei und mit aggressivem Habitus die Bewacher des Viehs zu verjagen, während erfahrenere Krieger möglichst viel Vieh stehlen sollten. Gustav Fischer sowie Johann Krapf beobachteten während ihrer Reisen immer wieder umherziehende Krie19 Vgl. Onyango-Ku Odongo/John Webster, The Central Lwo during the Aconya, Nairobi 1976, S. 196 sowie Charles Okumu, Acoli Oral Literature, S. 62 ff. 20 Vgl. Jörg Baberowski, Gewalt verstehen, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 5 (2008), S. 5–17, hier S. 7. Siehe auch Henry Morton Stanley, Wie ich Livingstone fand, Wiesbaden 1955, S. 71. 21 Siehe auch John Tosh, Was soll die Geschichtswissenschaft mit Männlichkeit anfangen? Betrachtungen zum 19. Jahrhundert in Großbritannien, in: Christoph Conrad u. a. (Hg.), Kultur und Geschichte. Neue Einblicke in eine alte Beziehung, Stuttgart 1998, S. 160–206, hier S. 186.

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gergruppen und dokumentierten ausgefeilte Taktiken der plötzlichen kollektiven Gewalt sowie einen »kriegerischen Geist«,22 der den Hintergrund für die Gewaltnutzung dezentral organisierter Gesellschaften bildete.23 Für solche Angriffe wurden allgemein akzeptierte Regeln und Grenzen der Gewalt überliefert. So galt es als unzulässige Eskalation fliehende Bewacher zu misshandeln, Felder oder ganze Dörfer in Brand zu setzen oder das gesamte verfügbare Vieh zu erbeuten und der angegriffenen Siedlung damit einen Großteil der Grundversorgung zu nehmen. Bei der Vorbereitung der Raids wurden die Krieger durch verschiedene Praktiken in einen aggressiven emotionalen Zustand versetzt: Körperteile wurden mit vorbereiteten Tinkturen (luduno) eingerieben, welche Leistungsfähigkeit und Treffsicherheit erhöhen oder vor Verwundungen schützen sollten.24 Zudem wurden Kriegerlieder gesungen, Kampfschreie ausgestoßen und Substanzen konsumiert, welche ein aggressives Verhalten verstärken sollten. Trotz dieser Verstärkungsmechanismen kamen auch Methoden der Eindämmung zum Einsatz: So beobachtete Gustav Fischer während einer Forschungsreise wie Krieger an Bäumen festgebunden wurden, die sich unmittelbar vor einem Raid in einen Zustand unkontrollierbarer Rage versetzt hatten.25 Als Kontrollinstanz fungierten ehemalige Krieger, deren Autorität sich aus einer Ehrenposition innerhalb der Gemeinschaft speiste. Kriegerische Taten dienten somit nicht nur während der aktiven Zeit als Krieger zur Distinktion, sondern wurden auch nach dem rituellen Übertritt in die Kaste der elders zu wertvollem sozialen Kapital, welches zur Untermauerung gesellschaftlicher Positionen genutzt werden konnte. Der eigene Täterstatus wurde somit im Laufe des Lebens eines Kriegers inszeniert, ausgeformt, kultiviert und zur Basis eines Ehrenstatus gemacht. In diesem Umfeld erscheint die gewalthafte Aktionsmacht von Täterschaft eingehegt durch eine Ehrkultur, die an lokale Institutionen gebunden war und durch anerkannte Autoritätsfiguren kontrolliert wurde. Grenzüberschreitungen und extreme Gewaltaktionen wurden durch Reinigungsrituale sanktioniert, die eine Zeit der Isolation vorsahen, bevor die entsprechenden Personen wieder in die Gemeinschaft integriert wurden.26 Auf regionaler Ebene diente die Verbreitung von Noms de Guerre durch Geschichten, Lieder und Gerüchte der Abschreckung potenzieller Angreifer und formte 22 Krapf, Massai, S. 439. 23 Vgl. ebd. sowie Gustav Adolf Fischer, Bericht über die im Auftrage der Geographischen Gesellschaft in Hamburg unternommene Reise in das Massai-Land, Hamburg 1892, S. 70. 24 Vgl. Fragebogenbeantwortung Mads Hansen Löbner, Missionar. Usoke, Bezirk Tabora, den 1. März 1910, in: Achim Gottberg, Unyamwesi. Quellensammlung und Geschichte, Berlin 1971, S. 175. Siehe auch G. B. Mwaita, Mwangeka wa Malowa. Manuskript, University of Nairobi. Dept. of History and Anthropology Archives, Signatur: UCN/HD – RPA B/2/4, S. 9. 25 Fischer, Bericht, S. 69 f. 26 Siehe z. B. Simon Simonse, Kings of Disaster. Dualism, Centralism and the Scapegoat King, Leiden 1992, S. 152 und Henry Okello Ayot, Historical Texts of the Lake Region of the East Africa, Nairobi 1977, S. 295.

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die Kooperation zwischen einzelnen Siedlungen, die sich gegenseitig zu defensiven Bündnissen verpflichteten oder ihre Kriegergruppen zu gemeinsamen Aktionen zusammenschließen konnten. In den Hochländern um den Mount Kenya verstetigten sich solche Bündnisse (gichiaro) zu rituell immer wieder bekräftigten und dauerhaften Zusammenschlüssen.27 In ostafrikanischen Mythen und Erzählungen werden zudem regulierte Kommunikationsformen und etablierte Streitkulturen geschildert. So gab es symbolische Gesten zur Signalisierung von Feindschaft, rituelle Handlungen vor Beginn von Kampfhandlungen und Gremien von akzeptierten Schiedsrichtern, die bei ausufernder Gewalt einschreiten konnten.28 Der Missionar Alfred C. Hollis dokumentierte ein Ritual vor Beginn der Kampfhandlungen: »On their arrival at the enemy’s country, should the enemy offer fight, the warriors plant their sword in the earth and stand by them, saying at the same time: ›I am the son of so-and-so; whether I die or conquer, it will be in his place.‹«29

Bei Schädigungen gab es die Möglichkeit durch bekannte Vermittler in Verhandlung mit den elders der Gemeinschaft zu treten, deren Kriegergruppen Viehraub oder Entführung begangen hatten. Johann Ludwig Krapf notierte in seinem Tagebuch eine erfolgreiche Verhandlung im August 1849. Die beteiligten Siedlungen einigten sich auf die Kompensation und vereinbarten in einem Pakt, dass sie sich zukünftig nicht mehr gegenseitig angreifen würden.30 Diese Verhältnisse wurden im Laufe des 19. Jahrhunderts von dauerhaften Verände­ rungsprozessen erfasst. Zum einen traten neue Gewaltakteure auf, die bisher unbekannte Waffen nutzten, zum anderen brachte das Aufeinandertreffen unterschiedlicher Konzepte, Regeln und Grenzen von Gewaltnutzung weitreichende Unsicherheiten und Eskalationen mit sich. Etablierte Konventionen und Institutionen gerieten dabei unter Druck, veränderten sich grundlegend oder zerbrachen vollständig. Das brachte ambivalente Täter-Opfer-Konstellationen und -Zuschreibungen mit sich.

3. Vielfalt der Gewalt. Neue Gewalteliten, Amalgamierung und Inszenierung Im Begegnungsraum Ostafrikas kam im 19. Jahrhundert ein dynamisches Nebeneinander von in tradierte Kontexte und Strukturen eingebundenen und neuen Gewaltakteuren sowie -situationen auf. Täter-Opfer-Beziehungen lassen sich dabei aus unterschiedlichen Perspektiven betrachten. Ein tiefgreifender Mo27 Vgl. Jeffrey Fadiman, When we began, there were witchmen. An Oral History from Mount Kenya, Berkeley 1993, S. 91. 28 Siehe z. B. Löbner, Fragebogenbeantwortung, S. 175 sowie Hollis, Myths, S. 109 ff. 29 Hollis, Myths, S. 109. 30 Siehe Krapf, Reisen, Bd. 1, S. 223 ff.

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bilisierungsprozess sorgte für kulturellen Austausch, beförderte neue Waren ins Landesinnere und brachte neue Technologien. Mit der sukzessiven Verbreitung von Schusswaffen wandelte sich auch der Umgang mit Gewalt grund­legend. Professionelle Elfenbein- und Sklavenhändler waren Trägergruppen neuer Gewaltformen, die auch Schusswaffen beinhalteten. Besonders Sklavenkarawanen hinterließen einen markanten Eindruck und treten innerhalb der ostafrikanischen Erinnerungskultur als besonders brutale Gruppen von Tätern auf. Ihr Vorgehen bei der Entführung von Frauen, Kindern und jungen Männern prägte nicht nur Erzählungen und Lieder, sondern findet sich auch in der Selbstdarstellung der Protagonisten wieder. Der bekannte Sklaven- und Elfenbeinhändler Hamed bin Juma bin Rajab bin Mohammed bin Said el-Murjebi, genannt Tippu Tip, betonte in seiner Autobiographie die Wichtigkeit, die »Kunst des Krieges«31 zu beherrschen, falls man sich zu einer Tätigkeit als Karawanenhändler im ost­ afrikanischen Raum entschließen sollte.32 Sklavenhändler erscheinen auch in den Schriften europäischer Beobachter als rücksichtslose Täter. Der britische Afrikaforscher Samuel White Baker schildert seine Erfahrungen während eines Aufenthalts in Gondokoro im heutigen Südsudan in düsteren Farben: »Gondokoro was  a perfect hell. […] There were about six hundred of the traders’ people at Gondokoro, whose time was passed in drinking, quarrelling, and ill-treating the slaves. The greater number were in a constant state of intoxication, and when in such a state, it was their invariable custom to fire off their guns in the first direction prompted by their drunken instincts; thus, from morning till night, guns were popping in all quarters, and the bullets humming through the air sometimes close to our ears, and on more than one occasion they struck up the dust at my feet. Nothing was more probable than a ball through the head by ACCIDENT, which might have had the beneficial effect of ridding the traders from a spy. A boy was sitting upon the gunwale of one of the boats, when a bullet suddenly struck him in the head, shattering the skull to atoms. NO ONE HAD DONE IT. The body fell into the water, and the fragments of the skull were scattered on the deck.«33

Besonders in den Schriften der Antisklavereibewegung erscheinen die entführten Kinder und Jugendlichen als hilf- und namenlose Opfer, die rücksichtslos aus ihren Familien gerissen und in ein von Zwangsarbeit geprägtes Leben getrieben wurden. In einem Brief des berühmten Missionars und Forschers­ David Livingstone an seinen Freund und Verleger Richard Waller berichtete dieser von der Begegnung mit einer Gruppe von Sklaven im Manyema-Gebiet, die ihm ihre Absicht mitgeteilt hätten, sich als Tote an denen zu rächen, unter deren Unterdrückung sie als Lebende zu leiden hätten.34 Der Status als Opfer 31 Francois Bontinck, L’autobiographie de Hamed ben Mohammed el-Murjebi, Tippo Tip (ca. 1840−1905), Brüssel 1974, S. 45. 32 Vgl. ebd. 33 Samuel White Baker, The Albert N’Yanza, London 1863, S. 89 f. 34 David Livingstone, Livingstone an Waller, 5. Februar 1871, http://livingstone.library.ucla. edu/bambarre/1rtext_notes.htm (Zugriff am 1.3.2015).

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bzw. Sklave erschien ihnen so unüberwindbar und die Macht der Täter so groß, dass sich ihnen erst nach ihrem Tod eine Möglichkeit eröffnen würde, Rache zu üben. So dramatisiert und endgültig festgelegt war der Status als Opfer jedoch nicht. Mit der zwangsweisen Eingliederung in den Sklaven- und Karawanenhandel oder in die Plantagenwirtschaft bot sich den Sklaven auch die Möglichkeit sich als Mitglied der Miliz eines Plantagenbesitzers zu etablieren oder sich als Träger bzw. bewaffnete Eskorte von Karawanen anwerben zu lassen. Viele Jugendliche nahmen freiwillig am Karawanenhandel teil, um eine Schusswaffe als Lohn zu erhalten. Diese ermöglichte neue Handlungspotenziale für junge Männer und ließ die als Kind Entführten nicht selten von Opfern zu Tätern werden. Das Verschwimmen dieser Kategorien zeigt sich auch in der Bezeichnung für die Betroffenen. So dokumentierte Johannes Rebmann den Begriff »[…] Msoro, welches Wort in Kidschagga Soldat und Sclave zugleich bezeichnet […]«.35 Während in den 1820er und 1830er Jahren lediglich selten Schusswaffen an lokale Herrscher des Hinterlandes verschenkt wurden, sind seit den 1850er Jahren Fachleute für die Reparatur der Waffen belegt, die ihre Dienste vorwiegend an Handelsstützpunkten anboten. Auch traditionelle Schmieden spezialisierten sich sukzessive auf die Reparatur oder die Herstellung von Gewehren.36 Seit den 1880er Jahren wurde Ostafrika regelrecht mit Schusswaffen aus den Beständen europäischer Armeen überflutet.37 Das britische Generalkonsulat in Sansibar kalkulierte Ende der 1880er Jahre eine jährliche Einfuhr von ca. 100.000 Schusswaffen. Weitere Kanäle für die Waffeneinfuhr boten sich in Form südlicher Handelsrouten ab Delagoa Bay sowie von nördlicher Richtung über Handelsstützpunkte wie Khartoum.38 Der Mobilisierung der Bevölkerung durch Sklaven- und Karawanenhandel folgte mit der massenhaften Verbreitung von Schusswaffen ein weiterer potenzieller Faktor der Destabilisierung ganzer Regionen. Die neue Waffentechnik wurde in bestehende Gewaltkulturen integriert; sie war aber auch ein elementarer Bestandteil bisher unbekannter Arten der Gewaltnutzung. Besonders in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts traten immer häufiger mobile Kriegergruppen auf, deren soziale Basis sich aus entlaufenen Sklaven und den Milizen lokaler charismatischer Anführer speiste. Diese meist unter dem Namen ruga-ruga bekannten Gruppen stehen für eine neue Art von Gewalteliten, deren Lebensweise ausschließlich auf Gewaltausübung fußte. Sie nutzten bestehende Konzepte, Strategien, Hierarchien sowie Strukturen und mischten sie mit neuen kulturellen und technischen Einflüssen. So wurden sie zu den Protagonisten einer neuen Gewaltökonomie, die es 35 Johannes Rebmann, Tagebücher, in: Krapf, Reisen, Bd. 2, S. 40. 36 Vgl. Reinhard Klein-Arendt, Vielfältige Erinnerung, zwiespältige Erinnerung. Feuerwaffen im vorkolonialen Ostafrika, in: Winfried Speitkamp (Hg.), Kommunikationsräume – Erinnerungsräume. Beiträge zur transkulturellen Begegnung in Afrika, München 2005, S. 37–64, hier S. 38. 37 Siehe ebd. sowie Richard Reid, War in Pre-Colonial Eastern Africa, Oxford 2007, S. 50 f. 38 Siehe R. W. Beachey, The Arms Trade in East Africa in the Late Nineteenth Century, in: The Journal of African History 3 (1962), H. 3, S. 451–467, hier S. 453.

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ermöglichte, den Lebensunterhalt durch Gewalt zu bestreiten sowie Reichtum und Macht zu erlangen. Ein gewalthafter Habitus stand dabei im Mittelpunkt: Abgetrennte Körperteile, die am Körper getragen wurden, oder Halsketten aus menschlichen Zähnen bzw. Gürtel aus menschlichen Eingeweiden stehen für eine Intensivierung von Kriegerkulturen und deren Abwandlung im Kontext neuer Gewaltökonomien. Besonderes Kennzeichen von ruga-ruga-Kriegern waren rote Bekleidungsstücke (ngazia), die Blutvergießen signalisierten und das Blut der Opfer in Form solcher Insignien am Körper der Täter symbolisch sichtbar machten.39 Die akustische Facette der gewalthaften Inszenierung bildete der Lärm von Schusswaffen, die zu Beginn eines Überfalls abgefeuert wurden. Das Wissen um deren tödliche Wirkung intensivierte die Schockwirkung auf die Angegriffenen zusätzlich. Einzelne charismatische Anführer brachten es zu einer dauerhaften Gefolgschaft, die über Jahre ein Auskommen durch Gewaltausübung sichern konnte. Der Missionar August Schynse berichtete in seinem Tagebuch von einer Gruppe professioneller Krieger um ihren Anführer Munye Mtwana, der im westlichen Gebiet des heutigen Tansania durch Überfälle auf Karawanen und Dörfer sowie die Erpressung von Wegzoll (hongo) von sich reden machte: »Munye Mtwana ist ein Mgwana, welcher sich in Mgunda mkali [ein Waldgebiet südlich von Tabora] angesiedelt hat und nun seit 10 Jahren, durch verlaufenes Gesindel verstärkt, die Karawanen im Mgunda mkali brandschatzt oder ausraubt. Er unterwarf sich eine Anzahl […] Dörfer bei Mdaburu und machte sich den Arabern, seinen Todtfeinden, so furchtbar, daß die Straße von Mdaburu überhaupt nicht mehr begangen wird […]. Gegen Europäer benahm er sich im Allgemeinen freundlich; die Missionare, welche von 1880−82 in Mdaburu lebten, standen mit ihm auf gutem Fuße und hatten sich nicht über ihn zu beklagen, sie wohnten selbst eine Zeit lang in seinem Tembe; arabische Karawanen dagegen mußten sich durch schwere Hongo ihren ungestörten Durchmarsch durch den Mgunda mkali erkaufen, weshalb sie diese Straße vermieden.«40

Solche Formen der Gründung unabhängiger Siedlungen durch entlaufene Sklaven (Marronage) prägten das Umfeld der Handelsnetzwerke Ostafrikas. Entflo­ hene Sklaven aus den Plantagen-Großbetrieben der Küstenregionen bauten in unzugänglichen Regionen Siedlungen auf oder schlossen sich bereits bestehenden an. So wurde beispielsweise die Siedlung Makorora am Pangani-Fluss 39 Aylward Shorter, Nyungu-Ya-Mawe, Nairobi 1969, S. 13. Siehe auch Robert Bennett (Hg.), From Zanzibar to Ujiji. The Journal of Arthur W. Dodgshun 1877−1879, Boston 1969, S. 72 f. 40 August Schynse, Mit Stanley und Emin Pascha durch Deutsch-Ostafrika. Reise-Tagebuch von P. August Schynse, Köln 1890, S. 24 f. Ein ähnliches Vorgehen wurde über Kisabengo in der Gegend Uluguru sowie über Mashombo in Mbaga berichtet, siehe Andrew Roberts, Political Change in the Nineteenth Century, in: Isaria N. Kimambo u. a. (Hg.), A History of Tanzania, Nairobi 1969, S. 57–84, hier S. 63 ff. Siehe auch G. O. Ekemode, Kimweri the Great. Kilindi King of Vuga, in: Obaro Ikime (Hg.), Leadership in 19th Century Africa, London 1974, S. 22–32, hier S. 31.

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zum Rückzugsraum für entflohene Sklaven. Sie war durch ihren drei Meter hohen Schutzwall derart stark befestigt und ihre Bewohner so gut mit modernen Schusswaffen ausgerüstet, dass Makorora selbst den professionellen Milizen der Plantageneigentümer erfolgreich Widerstand leisten konnte.41 Neben solchen Siedlungen gab es auch mobile Stützpunkte, die ihren Standort je nach Lage und Veränderung der Handelsaktivitäten anpassen konnten. Zum Beispiel gründeten professionelle Krieger um ihren Anführer Merere mehrere befestigte Siedlungen, die jeweils utengule genannt wurden und eine Operationsbasis für Überfälle auf Karawanen und die Erhebung von Wegzöllen waren. Auf diese Weise konnte flexibel auf veränderte Machtverhältnisse in der Region oder zu großen Widerstand seitens der ansässigen Bevölkerung reagiert werden.42 Das Aufkommen solcher neuer Gewalteliten steht für einen tiefgreifenden Wandlungsprozess in der Gewaltpraxis des 19.  Jahrhunderts.43 Die Basis für solche Dynamisierungen boten jedoch präexistente Gewaltkulturen, deren Elemente sich auch in der Selbstdarstellung, dem Aussehen und in den Praktiken professioneller Kriegergruppen finden lassen. Die Bezeichnung ruga-ruga wurde semantisch mit der Figur eines rasenden Bullen in Verbindung gebracht und mit Stärke und Schnelligkeit assoziiert.44 Die Träger dieser Bezeichnung hatten aufgrund ihres neu gewonnenen Reichtums einen Ehrenstatus inne und galten als Experten im Umgang mit Schusswaffen.45 August Schynse trug selbst diesen Titel und vermerkte in seinem Tagebuch: »Ruga ruga heißt Jemand, der frisch auf seinen Beinen ist, nicht bloß die Spitzbuben im Busch. Das geht freilich meistens zusammen; wenn einer flott auf den Beinen ist, benutzt er es hier, um seinen Nächsten auszuplündern. Im Allgemeinen ist es aber ein ehrendes Prädikat und wird den angesehensten Häuptlingen beigelegt.«46 41 Vgl. Mann, Sahibs, S. 70 sowie Jonathon Glassman, Feasts and Riot. Revelry, Rebellion, and popular Consciousness on the Swahili Coast, 1856−1888, Portsmouth, NH 1995, S. 112. 42 Elise Kootz, Sichyajunga. Ein Leben in Unruhe, Herrnhut 1938, S. 14; Julius Richter, Die Konde, ein Missionsvolk, in: Die Evangelischen Missionen. Illustriertes Familienblatt 2 (1908), S. 25–35, hier S. 30 ff. und Elise Kootz-Kretschmer, Abriß einer Landesgeschichte von Usafwa in Ostafrika, in: Koloniale Rundschau 4−6 (1929), S. 1–30, hier S. 10. 43 Siehe hierzu auch Michael Pesek, Ruga-ruga. The History of an African Profession, 1820–1918, in: Alain Patrice Ngangang u. a. (Hg.), German Colonialism Revisited. African, Asian, and Oceanic Experiences, Ann Arbor 2014, S. 85–100, hier S. 88 f. sowie Karin Pallaver, Nyamwezi Participation in Nineteenth-Century East African long-distance Trade. Some Evidence from Missionary Source, in: Africa. Revista trimestriale di studi e documentazione dell’Istituto italiano per l’Africa e l’Oriente 61 (2006), H. 3/4, S. 513–531, hier S. 522 f. 44 Siehe Alfred C. Hollis, Notes on the History of Vumba, East Africa, in: The Journal of the Anthropological Institute of Great Britain and Ireland 33 (1903), S. 275–297, hier S. 284 sowie Karl Hespers (Hg.), P. Schynses letzte Reisen, Köln 1892, S. 84. 45 Vgl. Paul Reichard, Die Wanjamuesi, in: Zeitschrift der Gesellschaft für Erdkunde zu Berlin 24 (1889), S. 246–259, 304–330, hier S. 307. 46 Vgl. Hespers, Letzte Reisen, S. 84.

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Die unterschiedlichen Übersetzungen und Deutungen des Begriffs kreisen um die Aspekte Schnelligkeit, Ehre, Expertise im Umgang mit Schusswaffen und ökonomische Vorteile. Besonders gegen Ende des 19. Jahrhunderts vermehrte sich die Zahl von Männern, die sich vorher »[…] mehr mit Ackerbau und Elephantenjagden abgegeben, in neuerer Zeit aber den Rugaruga-Beruf als lukrativer erkannt […]«47 hatten. Die Logik der Gewalt solcher Gruppen unterschied sich von den auf Viehraub ausgelegten Praktiken lokaler Gemeinschaften und zielte auf Plünderung, Raub von Wertgegenständen und die Entführung möglichst vieler Menschen. Entsprechend wurden brutale Methoden genutzt, an die man sich noch zu Beginn der Kolonialzeit mit Schrecken erinnerte: »Sengend, brennend, mordend und Sklaven machend, zogen diese Raubhorden zunächst der Küste entlang bis in die Nähe von Ujiji; dann wendeten sie sich nach Uvinza und kehrten durch das Innere Ukabendes nach Süden zurück. Noch heute sprechen die Leute mit Schrecken von den Greueln jener Raubhorden […].«48

Zeugnisse von Opfern dieser Raubzüge sind rar. Eine seltene Ausnahme bilden die Aufzeichnungen der Missionarin und Völkerkundlerin Elise KootzKretschmer. Zu Beginn der Kolonialzeit war sie im Dienst der Herrnhuter Brüdergemeine im Usafwa-Gebiet tätig und dokumentierte mehrere Lebensgeschichten der lokalen Bevölkerung. In ihrem Bericht über »Tatu, das geraubte Movembakind«49 schildert sie den Überfall auf dessen Heimatdorf als traumatische Kindheitserinnerung.50 Nach der Entführung seien die Kinder in eine Siedlung in Karonga, am Nordende des Njassa-Sees, gebracht worden. Unter dem dortigen charismatischen Anführer Mlozi habe man die Entführten jedoch stets gut versorgt und in das alltägliche Leben integriert.51 Auch Bruno Gutmann, Missionar der Leipziger Mission und Völkerkundler, beschrieb eine Praxis der Integration entführter Kinder, die er mit dem Begriff »Beutekind« charakterisierte: »Das Beutekind tritt in die gleichen Erbrechte mit den eigenbürtigen Kindern des Mannes […]. In der Entstehung verwandt mit diesen Beutekindern sind die Hörigen der vornehmen Wadschagga gewesen, die man fälschlich wohl auch als Haussklaven bezeichnet. Sie heißen masinga oder auch makiro. Ikiro bedeutet der Übriggelassene. Dieser Name weist deutlich auf eine Entstehung im Kriege zurück. Sein Träger hat um Pardon gebeten und gesagt: ›Ich bin kein Mann, ich bin ein Rind‹. Mit dieser Formel hat er sich selbst versklavt, um am Leben zu bleiben.«52 47 Werther, Victoria Nyanza, S. 71. Siehe auch Erick J. Mann, Mikono ya Damu. African Mercenaries and the Politics of Conflict in German East Africa, 1888−1904, Frankfurt a. M. 2002, S. 164. 48 O. A., BArch R 1001/Bd. 4999 Deutsch-Ostafrika. 49 Marie-Elise Kootz, Tatu, das geraubte Muvembakind, Herrnhut 1927. 50 Vgl. ebd., S. 3 ff. 51 Vgl. ebd., S. 4. 52 Bruno Gutmann, Das Recht der Dschagga, München 1926, S. 229 f.

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Gutmann schilderte zudem eine Form ritueller Bindung der Entführten an den neuen Familienverband, durch welche sie zu allgemein akzeptierten Mitgliedern der Gemeinschaft wurden. Der semantische Bezug zu Rindern in der Gewaltsituation selbst weist auf die tradierte Form des Viehraubs als präexistente Form der Gewaltnutzung hin, die nun auch auf Menschen angewandt wurde. Durch das Aussprechen der entsprechenden Formel charakterisierte sich der Sprecher selbst als Opfer und signalisierte damit, dass der Angreifer nun berechtigt war die Entführung durchzuführen. Das spiegelt sich auch in den überlieferten Bezeichnungen für die Einwohner des Hinterlandes der ostafrikanischen Küste, die von den Karawanenhändlern pauschal metaka, »Beute«, genannt wurden.53 Doch auch deren Status als Opfer war nicht lebenslang festgelegt. Neben der Möglichkeit der Flucht boten sich auch Aufstiegschancen in die Position bewaffneter Eskorten oder Milizen sowie die Integration in die Händlereliten. Ehemalige Entführte konnten die Swahili-Kultur der Küste annehmen, profitierten selbst vom Handel oder erlernten handwerkliche Fähigkeiten, die ihnen ein Auskommen ermöglichten. Häufig wurden sie fortan auch als »Kinder« bezeichnet und galten somit als vollständig integriert.54 Während der Status als Opfer somit oft lediglich einen traumatischen Bruch in der Biographie, aber keineswegs einen dauerhaft festgelegten Zustand repräsentierte, nahmen besonders ostafrikanische Inszenierungen als Täter eine eskalierende Dynamik an. Vor dem Hintergrund einer dynamisierten Umgebung mit hoher Mobilität und eines sich auf weite Teile Ostafrikas ausbreitenden Handels­ netzwerks formten sich auch die Logiken der Gewaltnutzung um. Während ein traditioneller Kontext saisonaler Raids und etablierter, regionaler Netzwerke eine Kriegerkultur förderte, die auf den langfristigen Aufbau einer anerkannten Stellung innerhalb der Gemeinschaft ausgelegt war, erforderte die neue Umgebung von »Frontier Zones of Competition«55 (Richard Reid)  eine punktuelle und exzessiv wirkende Inszenierung von Gewalt, um eine möglichst große Schockwirkung zu erzielen. Dabei wurden Elemente etablierter Bildsprachen der Gewalt mit neuen Inhalten gefüllt: Körperbemalungen und Ausstattungen mit brutal wirkenden Insignien bezogen sich nun ebenso auf diese neue Erfahrung gesteigerter Gewaltdynamik wie Noms de Guerre, die auf Elemente extremer Gewalt verwiesen. Beispiele bieten etwa die im Kimbu-Gebiet dokumentierten Namen Kafupa-Mugazi, »Spitter of Blood«, sowie Itovela-Mbesi, »Feeder of Vultures«.56 Im Nyamwesi-Gebiet Tansanias gab sich der bekannte Anführer Nyungu-Ya-Mawe den Beinamen Sipemba, »Einer, der Dörfer niederbrennt«,57 und im Südwesten Tansanias hatte im Jahr 1894 ein Anführer von 53 Vgl. Mann, Sahibs, S. 69. 54 Vgl. ebd. sowie Iris Hahner-Herzog, Tippu Tip und der Elfenbeinhandel in Ost- und Zentralafrika im 19. Jahrhundert, München 1990, S. 285. 55 Richard J. Reid, Frontiers of Violence in North-East Africa, Oxford 2011, S. 23. 56 Aylward Shorter, Nyungu-Ya-Mawe and the ›Empire of the Ruga-Rugas‹, in: The Journal of African History 9 (1968), H. 2, S. 235–259, hier S. 242. 57 Aylward Shorter, Nyungu-Ya-Mawe, Nairobi 1969, S. 10.

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sich reden gemacht, der sich Mpali-walingwa, »How many he slays!«, nannte.58 Auch in der Namensgebung für Siedlungen griff man auf Gewaltmotive zurück. So wurde die aus Lehmziegeln errichtete Befestigungsanlage, die der berüchtigte Anführer Mirambo als Unterkunft für seine Krieger errichten ließ, mit dem Namen isela magazi, »Blutstrom«, belegt.59 Die traditionelle Ritenpraxis wurde ebenfalls von den Veränderungen des 19. Jahrhunderts erfasst. Der britische Reisende John Haning Speke erwähnte in seinem Reisebericht, dass er bereits im Juli 1861 die Nutzung von Schusswaffen im Rahmen ostafrikanischer Tanzfeste (nzua bzw. ngoma) beobachtet hatte.60 Nach 1870 und einhergehend mit der massiven Einfuhr europäischer Schusswaffen setzte sich dieser Trend fort, so dass auch abseits vielgenutzter Handelsrouten Gewehre und Pistolen immer häufiger in tradierte Formen der Gewaltinszenierung integriert wurden. Sowohl die ansässige Bevölkerung als auch neue, mobile Gewalteliten nutzten nun eine amalgamierte Form der Gewaltdarstellung, die traditionelle und neuartige Waffen, Praktiken sowie Insignien kombinierte. Der Ort der Darstellung war ferner nicht mehr auf die Sphäre der lokalen Gemeinschaft beschränkt, sondern konnte auch im Rahmen von Karawanenreisen ausgeweitet werden. Besonders mobile Kriegergruppen nutzten die Darstellung kriegerischer Akte im Rahmen von Tanzfesten auch im Kontext des Karawanenwesens, um ihre Professionalität anschaulich unter Beweis zu stellen. So wurde beispielsweise August Schynse am 11. November 1889 in Mpapwa Zeuge eines »Kriegstanzes« von professionellen Ngoni-Kriegern, welcher das ortsansässige Publikum »mit Grausen erfüllt«61 habe: »[…] [I]n der Mitte führt der eine oder andere […] Scheinkämpfe auf mit einem unsichtbaren Feinde unter den tollsten Sprüngen, welche eine ungemeine Körperbeweg­ lichkeit beweisen; je nach der Kampfesart wechselt der Gesang der Runde; bald springt ein mit einem Stocke bewaffneter Neger hervor, und die Stöße seiner unsichtbaren Gegner in geschickten Sprüngen vermeidend, durchbohrt er einen nach dem andern, dann folgt ein anderer schlangengleich mit angelegtem Gewehr und großer Geschwindigkeit über die Erde hingleitend; ein anderer fordert seinen Gegner mit einem mächtigen Säbel heraus, ihm mit nicht mißzuverstehender Miene das Kopfabschneiden vorhersagend, was er denn auch nach kurzem Gefechte unter dem Beifallsjubel der Umstehenden ausführt; dann springt ein stämmiger Bursche mit gezogenem kurzen Seitengewehr aus den Reihen, und hin und her springend entledigt er sich unter heftigem Zischen, was von Allen im Tacte nachgeahmt wird, seiner unsichtbaren Gegner […].«62

Neben solchen Inszenierungen als brutale Gewaltexperten wurden Mythen, Lieder und Gerüchte verbreitet, die im Falle des berüchtigten Mirambo suggerier­ 58 59 60 61 62

Vgl. o.A., Nyasa News, Februar 1894, No. 3, S. 79. Vgl. Spellig, Wanjamwesi, S. 205. John H. Speke, Journal of the Discovery of the Source of the Nile, London 1864, S. 139. Schynse, Stanley und Emin Pascha, S. 64. Ebd., S. 64 f.

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ten, er könne fliegen und gleichzeitig an mehreren Orten sein.63 Ostafrika war als Begegnungsraum unterschiedlicher Gruppen geprägt von Unsicherheit und einer ständigen Präsenz von Gewalt als Handlungsoption. Die möglichst effektive und schockierende Inszenierung als Gewalttäter bestimmte zunehmend die Kommunikation zwischen den unterschiedlichen Akteuren. Mobile Kriegergruppen boten Karawanen und Dörfern ihre Dienste an, nachdem sie ihr Können als Gewaltexperten wie in dem von August Schynse beschriebenen Rahmen unter Beweis gestellt hatten. Aber auch bei der Erpressung von Wegzöllen brachte eine entsprechend überzeugende Inszenierung höheren Profit ein. Als weitere Handlungsoption bot sich die Nutzung eines aggressiven Habitus, um die Träger von Karawanen zu verjagen und anschließend eigene Männer zu höheren Löhnen anzubieten. Einen solchen Vorfall beschrieb der deutsche Arzt Dr. Schwesinger und schloss seine Klage darüber an, dass er die neuen Träger leider unter für ihn ungünstigeren Konditionen habe einstellen müssen.64 Begegnungen zwischen Karawanen und lokalen Siedlungen wurden zur Gelegenheit für den Aufbau von Drohkulissen, in denen wechselseitig das jeweilige Gewaltpotenzial demonstriert wurde. Die Anführer lokaler Kriegergruppen wurden zu gate-keepers65 (Justin Willis), die nun eine nach außen wie innen stark auf­gewertete Rolle einnahmen. Traditionelle Vermittlerfiguren traten in den Hintergrund und verloren auch innerhalb ihrer Herkunftsgemeinschaft an Einfluss. Besonders das Verhältnis zwischen den Generationen wurde durch die verschobenen Autoritätsverhältnisse verändert. Junge Krieger konnten als neue Gewalteliten in Machtbereiche vordringen, die nach traditionellen Maßstäben nur den Ältesten vorbehalten waren. So war die Regionalgeschichte des Kavirondo-Gebiets westlich des Mt. Elgon im 19.  Jahrhundert geprägt vom Zusammenbruch existierender Regulierungsmechanismen und dem Agieren zahlreicher plündernder Kriegergruppen, die sich ihren Killer Name ohne Rückbindung an traditionelle Strukturen selbst verliehen hatten. Anführer wie Ojuku Taruku, Olal Telerumu und Lacung Lukermoi verschmolzen traditionelle Ämter mit einer stark militärisch aufgeladenen Symbolik.66 Gegenüber fremden Besuchern inszenierten sie sich, wie es etwa der regionale Anführer Mandara gegenüber der amerikanischen Forschungsreisenden Mary FrenchSheldon tat, als »the greatest warrior«.67 In einem von Gewalterfahrungen geprägten Umfeld, wie es Ostafrika im 19. Jahrhundert darstellte, versprach der Status als mächtiger Krieger eine Basis für die Gründung und Stabilisierung persönlicher Machtbereiche, die mit einer Gefolgschaft von Elitekriegern gesi63 Siehe Hermann von Wissmann, Unter deutscher Flagge quer durch Afrika von West nach Ost, Berlin 1902, S. 259. 64 Vgl. Gottberg, Unyamwesi, S. 356 ff. 65 Justin Willis, Potent Brews. A Social History of Alcohol in East Africa 1850−1999, Oxford 2002, S. 77 ff. 66 Vgl. Odongo/Webster, Central Lwo, S. 330 f. 67 French-Sheldon, Sultan to Sultan, S. 400.

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chert werden konnte. Die Bevölkerung suchte bisweilen Schutz im Einflussbereich solcher charismatischer Anführer, die in befestigten Anlagen (tembe) lebten und durch ihr Wirken im Rahmen einer Gewaltökonomie reich geworden waren.68 Sie inkorporierten entführte Jugendliche in die Reihen ihrer Truppen und übernahmen deren Ausbildung.69 Mit ihrem Erfolg als Gewaltexperten und ihrer Inszenierung als mächtige Krieger standen sie für neue soziale Formationen, die auf der Basis dauerhafter Gewalterfahrungen entstanden waren. Die Inszenierungsformen und -strategien wurden jedoch auch von europäischen Akteuren genutzt, um die eigenen Interessen gegenüber der afrikanischen Bevölkerung durchzusetzen. Der Biologe Gustav Adolf Fischer nutzte seine Signalraketen zur Machtdemonstration, um lokale Kriegergruppen in die Flucht zu schlagen und drohte, den gesamten Viehbestand mittels dieser »Waffe« zu vernichten, falls man seinen Forderungen nicht nachkäme.70 Mündliche Traditionen berichten über den Kolonialisten Carl Peters, dass er zu noch drastischeren Maßnahmen griff, indem er einen Krieger vor den Augen der Dorfbewohner erschoss, um seine Macht zu demonstrieren und die Zahlung von Wegzoll zu umgehen.71 Dessen von Justus Brandes überlieferter Ratschlag an deutsche Reisende lautete dementsprechend, im Zweifel »[…] rechts und links alles niederzuschießen […]«72 und sich somit als brutaler Gewaltakteur zu erweisen. Auch deutsche Kolonialtruppen nutzten die Strategie der gezielten Einschüchterung, wie Kolonialoffizier Friedrich Fülleborn erklärte: »Da die Wangoni friedlich gestimmt waren (zumal nachdem wir ihnen in aller Freundschaft die Wirkung der Hinterlader und unseres Maximgeschützes demonstriert hatten […]), gelang es, sie ohne Kampf zur Herausgabe einer grossen Anzahl geraubter Sklaven und zur Auslieferung desjenigen Mannes zu bewegen, welcher den letzten Karawanen-Ueberfall verschuldet hatte […].«73

Zu Beginn der 1890er Jahre berichtete August Schynse von der dauerhaften Wirkung extremer kolonialer Gewalt und deren Inszenierung gegenüber der ostafrikanischen Bevölkerung. Ein Jahr vorher habe man nur sehr schwierig und unter Zahlung hoher Wegzölle reisen können, nun werde man jedoch unter 68 So wurde z. B. über Chilimira berichtet er sei »recht gut befestigt« und »eine Zuflucht für jedes verlaufene Gesindel, und seine Raubzüge waren an der Tagesordnung. Dadurch gewann er Ansehen, viele schlossen sich ihm an, um sicher vor ihm zu sein […].« Hespers, Letzte Reisen, S. 31. 69 Siehe z. B. Norman Robert Bennett, Mirambo of Tanzania 1840?−1884, London 1971, S. 39 f. sowie Ronald Harvey, Mirambo, »The Napoleon of Central Africa«, in: Tanganyika Notes and Records 28 (1950), S. 10–28, hier S. 21. 70 Fischer, Bericht, S. 56 ff., 81. 71 Vgl. Isaac Tarus, An Outline of the Keiyo People from c. A. D. 1700 to 1919, M. A. Thesis, University of Nairobi 1981, S. 81. 72 Justus Brandes, Erinnerungen an Ostafrika 1865−1889, Hamburg 2004, S. 171. 73 Friedrich Fülleborn, Das deutsche Njassa- und Ruwuma-Gebiet. Land und Leute, nebst Bemerkungen über die Schire-Länder, Berlin 1906, S. 15.

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deutscher Fahne reisend entsprechend behandelt und die lokalen Anführer seien »[…] dieses Mal sehr zuvorkommend, verlangten durchaus nichts, sie baten nur, man solle sie nicht ganz mit einem Mal auffressen, sie wollten in allem den Bedingungen der [Deutschen] folgen.«74 Gegenüber Missionaren und den Vertretern der Kolonialmacht wurden besonders die Leiden der Bevölkerung unter den Raubzügen professioneller Krieger und Sklavenhändler betont, was von den Autoren von Missionstagebüchern, Briefen und anderen Berichten als Ausdruck eines Bedürfnisses nach Schutz angesehen wurde.75 Entsprechend des Bewusstseins eines kolonialen Zivilisierungsauftrags erscheinen die Taten der Kriegergruppen entsprechend brutal, die Leiden der Opfer als besonders schwerwiegende Elemente einer »Geschichte des Jammers und der Trauer«76 und die Notwendigkeit der Etablierung eines vermeintlich regulierenden Kolonialstaats als besonders dringend auszuführende Maßnahme. Allerdings brachte der Versuch einer Etablierung zentralstaatlicher Strukturen weitere Eskalationen mit sich. Gruppen professioneller Krieger wurden von deutschen wie britischen Kolonialarmeen entweder zerschlagen, verdrängt oder in Teilen in die eigenen Reihen eingegliedert. Die damit verbundenen »Straf­expeditionen« bzw. »Punitive Expeditions« wurden nicht selten zu besonders extremen Gewalterfahrungen, Gewalt in Form des Massakers wurde »[…] systematischer Bestandteil der Entstehung des Gewaltmonopols«.77 Die bereits mit der Nutzung von Schusswaffen vertrauten Kriegergruppen Ostafrikas wurden durch die Eingliederung in Kolonialarmeen zusätzlich in der Waffennutzung ausgebildet und mit aktueller Waffentechnik ausgerüstet. Zudem sorgte die militärische Ausbildung dafür, dass die Schusswaffen nicht mehr vorwiegend zur Erzeugung einer Kulisse des Terrors verwendet, sondern zur gezielten Tötung eingesetzt wurden.78 Die als koloniale »Hilfskrieger« rekrutierten Truppen verfolgten nicht selten eigene Interessen und verübten Massaker an der Bevölkerung, um Tributzahlungen zu erpressen oder Raub zu begehen. Dabei entstand eine Ordnung des Schreckens und der Gewalt, welche einen Typus rücksichtsloser Täter als Vertreter der kolonialen Strukturen erscheinen ließ: »Das Massaker stiftet Ordnung, weil die überwältigende Gewalt schlicht durch sich selbst überzeugt«.79 Die Massaker von Kolonialtruppen stehen zum einen für eine weitere Facette langfristiger 74 Hespers, Letzte Reisen, S. 10. 75 Siehe z. B. Carl Falkenhorst, Schwarze Fürsten. Bilder aus der Geschichte des dunklen Erdteils, Leipzig 1892, S. 58. 76 Ebd. 77 Trutz von Trotha, Koloniale Herrschaft. Zur soziologischen Theorie der Staatsentstehung am Beispiel des »Schutzgebiets Togo«, Tübingen 1994, S. 28. 78 Vgl. Bernhard Gißibl, Die »Treue« der askari. Mythos, Ehre und Gewalt im Kontext des deutschen Kolonialismus in Ostafrika, in: Nikolaus Buschmann u. a. (Hg.), Treue, Politische Loyalität und militärische Gefolgschaft in der Moderne, Göttingen 2008, S. 214–252, hier S. 246. 79 Wolfgang Knöbl, Imperiale Herrschaft und Gewalt, in: Mittelweg 36. Zeitschrift des Hamburger Instituts für Sozialforschung 3 (2012), S. 19–44, hier S. 36. Vgl. auch Trutz von

»How many he slays!«

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Gewalterfahrungen, zum anderen für einen Entfremdungsprozess zwischen Bevölkerung und Gewalteliten, der eine klare Zuweisung von Täter- und Opfercharakterisierungen aufweist.80

4. Zusammenfassung und Fazit Konzepte, Zuschreibungen und Inszenierungen von Tätern und Opfern waren dynamisch und so wechselhaft wie die vielgestaltige Gewalterfahrung Ost­ afrikas im 19. Jahrhundert. Gewalttaten waren im Kontext dezentral organisierter Gemeinschaften Elemente eines Selbstverständnisses, welches Täterschaft in festgelegtem Rahmen und unter regulierten Bedingungen nicht nur erlaubte, sondern auch zur notwendigen Vorbedingung für die soziale Anerkennung von Kriegern werden ließ. Tiefgreifende Umwälzungsprozesse und Mobilisierungsschübe boten den Rahmen für eine Intensivierung der Gewaltkulturen, die immer intensivere Formen der Inszenierung von Täterschaft und eine Herauslösung aus traditionellen Ehrkulturen mit sich brachte. Wirksame und terrorisierende Schockwirkung war das Kennzeichen einer Umformung langfristig angelegter gedanklicher Konzepte von legitimer Aktionsmacht und Gewalt im Rahmen dauerhafter sozialer Ordnungen. Mobile Gruppen professioneller Krieger nutzten Schockeffekte und brutal anmutende Gewaltinszenierungen zum Nachweis eines Machtpotenzials, das sie einerseits selbst nutzten um Wegzöllen zu erheben, es aber andererseits auch als Dienst gegen Bezahlung anboten. Der dynamische Begegnungsraum Ostafrika war besonders im Laufe der zweiten Hälfte des 19.  Jahrhunderts charakterisiert vom Aufeinandertreffen unterschiedlicher Gruppen und geprägt von situativ aufgebauten Drohkulissen, die als Basis für die Durchsetzung eigener Interessen dienten. Der Sklaven- und Karawanenhandel sowie die expandierende Plantagenwirtschaft sorgten für eine große Zahl von Gewalt- und Entführungsopfern, deren Status jedoch nicht auf Lebenszeit festgelegt war. Viele wurden von Opfern zu Tätern, indem sie aus der Umgebung abgepresster Arbeit flohen und selbst Mitglieder neuer Gewalteliten oder von ihren Entführern als vollwertige Gemeinschaftsmitglieder angenommen wurden. Dauerhafte Gewalterfahrungen brachten ferner eine Umformung etablierter Autoritätsverhältnisse mit sich und sorgten gleichzeitig für die Aufwertung militärischer Fähigkeiten und die Verschiebung von Autoritätsverhältnissen zugunsten junger Krieger. Deren Wirken steht für die Intensivierung einer traditionell angelegten, im 19. Jahrhundert dynamisierten, Gewaltkultur, mit der Trotha, Genozidaler Pazifizierungskrieg. Soziologische Anmerkungen zum Konzept des Genozids am Beispiel des Kolonialkriegs in Deutsch-Südwestafrika, 1904−1907, in: Zeitschrift für Genozidforschung 2 (2003), S. 28–57, hier S. 45. 80 Gißibl, Die »Treue« der askari, S. 246.

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eine Auflösung präexistenter Normen in Verbindung stand. Mit dem Aufkommen kolonialer Kräfte verstetigten sich die Konzepte von Täterschaft und Opferstatus vor dem Hintergrund eines dauerhaften Antagonismus zwischen kolonialstaatlichen Kräften und deren Kollaborateuren einerseits sowie der afrikanischen Bevölkerung andererseits. Während diese als brutale Akteure extremer Gewalt erscheinen, zeichnete sich im Bewusstsein der Kolonisierten ein Unrechtsempfinden ab, das an die Gewalterfahrung des aufkommenden Kolonialismus anknüpfte. Im Laufe des aufkommenden Antikolonialismus und der Dekolonialisierung wurden die Protagonisten ostafrikanischer Gewalteliten des 19.  Jahrhunderts neu entdeckt und nehmen mittlerweile eine zentrale Stellung in den Erinnerungskulturen der jeweiligen Staaten ein. Während heute eine Straße im tansanischen Daressalam den Namen Mirambos trägt, wurden Krieger- und Herrscherpersönlichkeiten wie Horombo in die Reihe der »Makers of Kenya’s History«81 aufgenommen. Die historiographischen Werke der 1960er und 1970er Jahre präsentieren Figuren wie Mirambo, Nyungu-Ya-Mawe, Kimweri u. a. als state-­ builder und Protagonisten eines Antikolonialismus avant la lettre. Sie wurden zu Identifikationsfiguren für afrikanische Handlungspotenziale im Schatten kolonialer Unterdrückung und boten einen historischen »Nabel« für postkoloniale Konzepte selbstbestimmter afrikanischer Herrschaft.82 Insgesamt erscheint ein komplexes Geflecht zeitgenössischer Täter-OpferKonstellationen und Charakterisierungen neben einer Reihe von ex post-Konstruktionen. Ersteres weist auf wechselndes Aufeinandertreffen unterschiedlicher Akteure hin, während letztere einen Interpretationsspielraum spiegeln, der von rekonstruierten traditionellen Kriegerkonzepten und deren Intensivierung über europäisches Superioritätsverständnis und humanitär-religiöses Sendungsbewusstsein bis zu antikolonialer Denkposition reicht. Die Nutzung einer Täter-Opfer-Dichotomie verweist zudem auf ein Bedürfnis nach Eindeutigkeit, das auch bei der Frage nach einem spezifisch »afrikanischen« Opferstatus bzw. einer »afrikanischen« (Mit-)Täterschaft in Phänomenen wie Kolonisation und Sklavenhandel zutage tritt. Blickt man allerdings auf die Dynamiken des 19. Jahrhunderts, müssen Versuche eindeutiger Zuweisungen jedoch an der historischen Vielfalt der Interaktionen scheitern und können bestenfalls situativ zu Ergebnissen führen. Mit der Verschiebung der entsprechenden Sichtachse geht somit eine Offenheit von Täter- und Opferkonzepten einher, die stets verschiedene Deutungen zulässt.

81 Anza A. Lema, Horombo. The Chief who united his People, London 1977. 82 Grundlegend siehe Ernest Gellner/Anthony D. Smith, The Nation: Real or Imagined? The Warwick Debates on Nationalism, in: Nations and Nationalism 2 (1996), H. 3, S. 357–370.

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Revisiting »Primitive War« Die Wahrnehmung von Gewalt und Rasse im Lauf der Geschichte

Da die Wahrnehmung von Kriegsformen fremder Gesellschaften Rückschlüsse auf generelle Wahrnehmungsmuster der Betrachter gegenüber diesen erlaubt, wird der Aufsatz verschiedenen, eng miteinander verknüpften Themen nachgehen. So beeinflusste die um das Thema ›Krieg‹ in anderen Gesellschaften und Kulturen entwickelte Bildwelt wesentlich das europäische Verständnis der eigenen Methodik und Kultur der Kriegsführung, wobei (unterbewusst oder unabsichtlich) stets ›primitive‹ und ›andersartige‹ Kulturen mit der europäischen Gesellschaft kontrastiert wurden. Darüber hinaus ist die sich wandelnde Bewertung von nicht-europäischen Kriegsformen und Vorstellungen wie ›Unzivilisiertheit‹ oder ›Primitivität‹ eng mit dem sich ändernden Verständnis von Gewaltausübung und Gewaltpraktiken in Europa verbunden. Der zweite Teil des Beitrages wird sich vor allem auf das subsaharische Afrika konzentrieren. Menschen waren schon immer von fremden Kriegsmethoden fasziniert, und diese Faszination wurde zweifellos durch – gewaltvollen ebenso wie friedlichen – interkulturellen Austausch intensiviert. Man kann sicherlich darüber diskutieren, ob das Bedürfnis nach einem barbarischen und unzivilisierten Anderen als ein unbewusster, naturwüchsiger Fehler betrachtet werden muss, oder vielmehr als bewusstes politisches und kulturelles Kalkül; in jedem Fall ist die Wahrnehmung von Barbarei so alt wie die menschliche Ordnung der Dinge selbst. Wie Michel de Montaigne erklärte, wird »gewöhnlich […] all das als Barbarei bezeichnet, was den eigenen Gewohnheiten zuwiderläuft.«1 Aber ab dem 15. und 16. Jahrhundert, als Kolumbus in die Karibik segelte und Heinrich der Seefahrer seine Aktivitäten an der afrikanischen Atlantikküste begann, wurde die ›zivilisierte‹ Einbildungskraft in diesem Bereich von immer fieberhafteren Träumen heimgesucht. Das Verständnis von Gewalt in der nichteuropäischen Welt spiegelte dabei die sich wandelnde Perspektive auf die ›Ureinwohner‹ wider; angefangen bei Machiavellis eher melancholischen Überlegungen zu den Gründen für Niedergänge und Desaster in menschlichen Unterfangen über die Vorstellungen vom ›edlen Wilden‹, die zwar v. a. mit der Aufklärung verbunden werden, aber eigentlich bereits in den Schriften Morus’ und M ­ ontaignes aus dem 16. Jahrhun* Dieser Beitrag basiert auf dem englischen Text von Richard Reid, Revisiting Primitive War. Perceptions of Violence and Race in History, in: War and Society 26 (2007), H. 2, S. 1–25. 1 Michel de Montaigne, On Cannibals, übers. v. John M. Cohen, in: Michel de Montaigne, Essays, London 1993, S. 105–118, hier S. 108.

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dert wurzeln, bis hin zu dem gefestigteren, pseudo-wissenschaftlichen Verständnis menschlicher Kultur des 19. Jahrhunderts. Das Studium und Verständnis des europäischen Kriegs hatte sich also im 16. und 17. Jahrhundert in vielen Fällen unauflöslich mit der außereuropäischen Welt verbunden. Zahlreiche Ideen und Philosophien, die zu jener Zeit aufkamen, speisten sich direkt oder indirekt aus den Vorstellungen von Kulturen an oder jenseits Europas immer ferner rückenden Grenzen. Asien, die neu ›entdeckten‹ Amerikas und später auch Afrika ragten also – wenn auch unbewusst – weit ins europäische Denken hinein.

1. Utopische Horizonte: Der ›edle Wilde‹ und andere Kampfmodelle Es wurde behauptet, dass Thomas Morus beim Schreiben von Utopia durch »frühe Berichte indianischer Gesellschaften«2 beeinflusst wurde. Doch auch wenn dies nicht stimmen sollte, so besteht kein Zweifel darüber, dass das vorkolumbianische Amerika bis in die Anthropologie des frühen 20. Jahrhunderts hinein immer wieder einen vitalen Bezugspunkt darstellte. So beginnt die moderne Wahrnehmung primitiver Kriegsführung in Nordamerika, die zahl­reiche Autoren, denen es um das große Ganze ging, zu wechselnden und ineinander verschwimmenden Vorstellungen von Zivilisation und Barbarei anregte. In seiner Studie über die europäischen Invasionen von Nord- und Südamerika beschrieb Ronald Wright, wie sich die Interpretation und Analyse ›uramerikanischer‹ Kulturen und Geschichten eines »vollständig von Vorurteilen und Herablassungen durchdrängten Vokabulars« bediente. Wright bemerkte, dass »Weiße Soldaten sind, Indianer jedoch Krieger«, dass »Weiße Könige und Generäle haben und Indianer Häuptlinge«3 Beobachtungen, denen über das vorkoloniale Afrika Forschende bereitwillig beipflichten werden. Überdies zitierte er den Grand Fire Council der amerikanischen Indigenen, der dem Bürgermeister von Chicago 1927 zu bedenken gab, dass in Schulbüchern »alle weißen Triumphe als Schlachten, alle indianischen Triumphe hingegen als Massaker bezeichnet werden […]. Und während Weiße, die sich erheben, um ihr Eigentum zu verteidigen, als Patrioten gelten, werden Indianer, die dasselbe tun, als Mörder bezeichnet.«4 Wie wir sehen werden, wird eine ähnliche Sprache auch im Afrika des 18. und 19. Jahrhunderts zum Einsatz kommen. Es gibt jedoch auch zahlreiche Interpretationen nicht-europäischer Gewalt, die anhaltend ohne Vorurteile auskamen. Für einige Denker des 16. Jahrhunderts stellte Amerika sogar eine Inspirationsquelle dar, aus deren ›neue Welt‹Modellen die ›alte Welt‹ einiges lernen konnte. In seinem Essay »Über die Kannibalen« aus den 1570er Jahren etwa zeigte sich Montaigne regelrecht besessen 2 Ronald Wright, Stolen Continents. The Indian Story, London 1993, S. 188. 3 Ebd., S. x. 4 Ebd.

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von seiner Verehrung für die angeblich ›barbarischen‹ Völker entlang der brasilianischen Atlantikküste. Er stützte seine Erkenntnisse offensichtlich auf Gespräche mit Tupinamba-Gefangenen: »Ihr Kampf ist nobel und interesselos. Er ist so entschuldbar und schön, wie es dieses menschliche Übel überhaupt nur zulässt, denn die einzige Motivation, die sie zum Kriege treibt, ist der Wunsch, ihren Heldenmut zur Schau zu stellen. Ihnen ist auch nicht daran gelegen, Land zu erobern, schließlich verfügt ihr eigenes von Natur aus über eine solche Fruchtbarkeit, dass sie dort ohne Arbeit oder Umstände alles Lebensnotwendige in einer solchen Fülle vorfinden, dass eine Ausweitung ihrer Grenzen für sie keinerlei Sinn hätte. Wenn ihre Nachbarn die Berge überqueren, um sie zu attackieren und dabei siegreich sind, erhalten die Sieger nichts als Ruhm und die annehmliche Gewissheit, die Überlegenheit ihrer Tapferkeit und Tugenden unter Beweis gestellt zu haben. Darüber hinaus haben sie keinerlei Interesse an den Besitztümern der Besiegten und kehren so schlicht in ihr eigenes Land zurück, wo ihnen alles Lebensnotwendige zur Ver­f ügung steht […]. Auch verlangen sie für ihre Gefangenen kein Lösegeld, sondern lediglich das Eingeständnis, besiegt worden zu sein.«5

Montaigne ging es bei alldem um abstrakte Begriffe wie Heldenmut und Tapferkeit; das Denken dieser Völker war deshalb nur in begrenzter Weise von materiellen Belangen durchwoben, weil sie ohnehin in einem wirtschaftlichen Paradies lebten. Ihnen ging es um Wichtigeres als Wirtschaftliches oder Materielles. Folglich lässt Montaigne seiner Bestandsaufnahme eine Herabsetzung euro­ päischer Kriegsführung folgen: »Viele der Vorteile, die wir über unsere Feinde haben, sind nur ausgeliehen und nicht wirklich die unsrigen. Kräftigere Beine und Arme zu haben ist nicht Zeichen eines besonderen Heldenmutes, sondern Eigenschaft eines Trägers. Der Wert und Ruf eines Mannes jedoch hängt von seiner Courage und seiner Entschlossenheit ab, nur dort liegt wahre Ehre. Heldenmut bedeutet nicht, kräftige Beine oder Arme, sondern ein tapferes Herz und eine starke Seele zu haben; Heldenmut liegt nicht in der Güte unseres Pferdes oder unserer Waffen, sondern in unserer eigenen Güte.«6

Diese Ausführungen lassen sowohl auf ein von der europäischen Expansionspolitik geplagtes Gewissen als auch auf eine Verehrung der nicht-europäischen Welt schließen, in deren Weltbild Kriegsführung in ihrer Einfachheit und Reinheit der Festigung der größten menschlichen Tugenden gedient hatte. Obwohl natürlich auch in solchen Kriegen Menschen starben, seien sie nicht destruktiver Natur gewesen, sondern von unverdorbenem Geist und Denken und ignorierten in ihrer Beschränkung auf reinen Funktionalismus alles Materielle, von dem die europäischen Kriege mittlerweile abhingen. Anders als in Europa­ handele es sich nicht um von Habgier geleitete Territorialkonflikte, die durch 5 Montaigne, On Cannibals, S. 114 f. 6 Ebd., S. 115 f.

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die destruktivsten und effektivsten Waffen entschieden wurden; diese Art von Krieg war nobel, interesselos, ja sogar schön. Ganz gleich ob sich Morus ein halbes Jahrhundert zuvor nun wirklich von Berichten aus Amerika leiten ließ oder nicht, es gibt kein klareres oder sorgsamer romantisiertes Kampfmodell in der Frühen Neuzeit als seine Beschreibung der Utopisten und ihrer zugleich ängstlichen und tragischen Nachbarn, der Zapoleten. Hierin treten bereits einige große Themen, welche die folgenden Jahrhunderte maßgeblich prägen sollten, hervor. So ist es bedeutsam, dass die Utopisten selbst Kriege »hassen und verabscheuen« und »für sie nichts so verächtlich an Ruhm ist, wie dass er im Kriege erlangt werden kann.«7 Davon ausgehend konnte Morus eine Form des gerechten Krieges beschreiben, dem nur an der Berichtigung von Missständen und der Befreiung unterdrückter Völker gelegen war.8 Der utopische Krieg wurde nicht mit materieller Überlegenheit, sondern mit Intelligenz und Raffinesse geführt und wenn Ziele durch Blutvergießen erreicht wurden, gab dies nicht bloß Anlass zu bedauern, sondern zu Scham. Im Geiste von Sun Tzus Maxime, der zufolge »der kampflose Sieg der beste« ist, jubeln die Utopisten, »wenn sie ihre Feinde durch Geschicklichkeit und Raffinesse überlisten und niederdrücken […], denn mit Körperkraft (so sagen sie) kämpfen Bären, Löwen, Wildschweine, Wölfe, Hunde und andere wilde Kreaturen.«9 Am relevantesten ist jedoch, dass Morus den Utopisten die Zapoleten zur Seite stellt, benachbarte Wilde, welche die im Schatten zivilisierten Denkens lau­ernden ›primitiven Menschen‹ verkörpern. Ein aufschlussreiches Kennzeichen der utopischen Zivilisation war der Einsatz von Zapoleten für ihre Kämpfe: »Dieses Volk ist […] abscheulich, wild und unerschütterlich, haust in wilden Wäldern und hohen Gebirgen, wo sie geboren und großgezogen wurden. Sie müssen hart sein und dazu in der Lage, Hitze, Kälte und harte Arbeit zu ertragen, Leckereien verschmähen, dürfen keinerlei Landwirtschaft oder Bodennutzung betreiben, sie müssen sowohl beim Bau ihrer Häuser als auch in ihrer Bekleidung einfach und roh bleiben und außer beim Züchten und Aufziehen von Vieh dürfen sie keinerlei Güte zeigen. Den größten Teil ihrer Lebensmittel beschaffen sie sich durch Jagd und Raub. Sie werden einzig zum Zwecke des Krieges geboren, den sie folglich voller Fleiß und Aufrichtigkeit suchen […]. In großen Gruppen ziehen sie aus ihrem Land und bieten ihre Dienste gegen geringes Entgelt an, wo immer gerade Soldaten gebraucht werden. Das ist das einzige Handwerk, durch das sie ihren Lebensunterhalt bestreiten dürfen. Sie halten sich am Leben, indem sie den Tod suchen.«10

Damit beschreibt Morus, wie die Utopisten, für die »dieses Volk […] gegen alle Länder kämpft«, ein vollkommen zynisches und auf brutale Weise pragmatisches Arrangement getroffen haben. So interessieren sie sich auch nicht im Geringsten dafür, wie viele Zapoleten dabei sterben, denn »sie glauben, dass sie der 7 8 9 10

Thomas More, Utopia, übers. v. Ralph Robinson, Ware 1997, S. 105. Ebd., S. 105 f., 108. Ebd., S. 106 f. Ebd., S. 108 f.

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gesamten Menschheit eine große Wohltat bereiten, wenn sie die Welt von der faulen, stinkenden Lasterhöhle dieses nieder­trächtigen und verfluchten Volkes befreien.«11 Zu derselben Zeit, zu der Morus diese idealisierte Art von Konflikt reflektierte, formulierte Niccolò Machiavelli eine pessimistischere Kriegsvorstellung, die sich in mancherlei Hinsicht aus Platons Griechenland-Vision speiste. Es ging ihm dabei in erster Linie um Ordnung, denn schließlich brachte jede Art der Unordnung während eines Krieges soziales und politisches Chaos mit sich. Der größte Fluch bei alldem war Geldgier. Menschen, die mit Krieg ihr Geld verdienen, »müssen entweder auf Friedlosigkeit hoffen oder in Kriegszeiten so viel Profit abschlagen, dass sie in Friedenszeiten davon zehren können«, sagt F ­ abrizio in Machiavellis 1521 veröffentlichtem fiktivem Dialog düster zu Cosimo.12 Mit Fabrizio, der selbst ein geldgieriger Kommandant ist, unterstreicht der Autor also die Notwendigkeit von Reinheit im Krieg. Und das sicherste Mittel zum Erreichen von Reinheit war es, lediglich Staatsbürgern zu gestatten, Krieg zu ihrem Beruf zu machen.13 Immerhin müssten diese ausgezeichnete Anführer haben, denn schließlich könne nur der Staat großartige und tapfere Soldaten und Generäle hervorbringen – eine Denkweise, die sich in den nachfolgenden Jahrhunderten aus der Betrachtung der außereuropäischen Welt weiterentwickeln sollte. Hierzu erneut der Veteran Fabrizio: »Während es in Europa zahlreiche berühmte Kämpfer gab, gab es nur äußerst wenige in Afrika und noch weniger in Asien. Das liegt daran, dass diese beiden Kontinente nur ein oder zwei Fürstentümer und wenige Republiken besaßen; in Europa gab es dagegen viele Königreiche und unzählige Republiken. Menschen streben nach Exzellenz und demonstrieren ihre Fertigkeiten, damit sie von ihrem Fürst, ihrer Republik oder ihrem König engagiert und gefördert werden; daraus folgt, dass es dort, wo es viele Herrscher gibt, auch an tapferen Männern nicht mangelt; wo jedoch nur wenige Führer sind, wird auch die Anzahl solcher Männer geringer sein.«14

Demnach konnten die staatenlosen, unorganisierten und barbarischen Regionen der Welt keine großartigen Männer oder Kämpfer hervorbringen. In »Der Fürst« führt Machiavelli die intrinsischen Verbindungen von Zivilisation und Militär sowie von Krieg und Ordnung weiter aus: »Das wichtigste Fundament jeden Staates […] sind gute Gesetze und gute Waffen. […] Ohne gute Waffen kann es keine guten Gesetze geben, und wo gute Waffen vorhanden sind, dort werden unweigerlich auch gute Gesetze folgen.«15 Hobbes wäre damit in der Mitte des 17. Jahrhunderts sicherlich einverstanden gewesen, und wie wir sehen werden, stößt seine Sichtweise in der imperialisti11 Ebd., S. 109. 12 Niccolo Machiavelli, The Art of War, übers. und hg. v. Peter Bondanella und Mark Musa, London 1979 [1995], S. 14. 13 Ebd., S. 18. 14 Ebd., S. 37. 15 Niccolo Machiavelli, The Prince, übers. v. George Bull, London 1999 [1961], S. 39 ff.

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schen Literatur des späten 19. Jahrhunderts auf zahlreiche Echos. Für Hobbes war Krieg das Ergebnis einer prä-zivilisierten Gesellschaft, der ›Natur‹ sowie verschiedener negativer Umstände, mit denen Menschen konfrontiert werden können: »Im Zustand reiner Natur werden die unterschiedlichen Machtverhältnisse nicht sichtbar, sie treten erst im Kampf zutage. Folglich kann eine Friedensvereinbarung in der Zeit vor einer bürgerlichen Gesellschaft oder während ihrer Außerkraftsetzung durch einen Krieg in keiner Weise vor den Versuchungen von Gier, Ehrgeiz, Lust oder anderer starker Begehren geschützt werden.«16

Laut Hobbes gab es so etwas wie »Krieg als natürliche Daseinsbedingung«17, ein Zustand, in dem es keinerlei Sicherheit durch eine universelle Moralität gab und die Menschen vor keiner großen Macht zurückschreckten, die ihre primitiven Gefühle und Verlangen im Zaum hielt. Um »ein zufriedeneres Leben« zu führen, mussten sich die Menschen also »selbst aus diesem miserablen Kriegs­ zustand befreien, der notwendigerweise […] aus ihren Instinkten folgt, wenn keine sichtbare Macht sie in Schranken hält und keine Angst vor Bestrafung sie an die Einhaltung ihrer Zusagen bindet.«18 Freilich sind diese Abkommen selbst wiederum »ohne das Schwert nur Wörter und besitzen keinerlei Kraft, einen Menschen berechenbar zu machen.« Wenn sie jedoch nicht durch eine souveräne Instanz garantiert werden, »wird und kann sich jeder Mensch aus Misstrauen gegenüber den anderen auf seine eigene Stärke und sein eigenes Können verlassen.«19 Hobbes’ Grundidee, dass Krieg das Symptom einer nicht durch Ordnung, Gesellschaft und Herrschaft regulierten Menschheit und daher ihr Naturzustand ist, hat ihre Ursprünge klar in antiken Schriften zu diesem Thema. Und auch wenn sie sich noch stark auf die Interpretation von Konflikten in den folgenden Jahrhunderten auswirken sollte, sollte man an dieser Stelle Montesquieu erwähnen, der nicht von Hobbes’ Theorie überzeugt war. Beinahe ein Jahrhundert nach ihm erklärte er: »Ist es nicht offensichtlich, dass [Hobbes] der Menschheit vor der Einrichtung einer Gesellschaft etwas zuschreibt, das nur nach ebenjener Einrichtung eintreten kann, die den Menschen zahlreiche Gründe für feindliche Angriffe und Selbstverteidigung liefert?«20 In anderen Worten schaffe erst die Gesellschaft selbst die Neigung zum Krieg, und Krieg und Eroberung stellten folglich das ›Gesetz der Nationen‹ dar.21 Wie sein Landsmann Montesquieu betrachtete auch Rousseau Krieg nicht als eine ›natürliche‹ oder ›primitive‹ Daseinsbedingung, sondern als das Produkt 16 Thomas Hobbes, Leviathan, or the Matter, Forme & Power of a Common-Wealth, ecclesiasticall and civil, London 1651, S. 109. 17 Ebd., S. 110. 18 Ebd., S. 128. 19 Ebd. 20 Baron de Montesquieu, The Spirit of the Laws, übers. v. Thomas Nugent, New York 1949, S. 4. 21 Ebd., S. 5.

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von Zivilisationen und Gesellschaften, also als eines der großen Übel des angeblichen ›Fortschritts‹. Er ging jedoch noch einen Schritt weiter und erinnerte damit an die Überlegungen von Montaigne nahezu 200 Jahre zuvor. Im Jahr 1754 schrieb er, der ›wilde Mensch‹ war »frei von Fleiß, von Sprache, zog ohne festen Wohnort durch die Wälder und war dem Kriege ebenso fremd wie jeder sozialen Anbindung«.22 Der ›Mensch in den Kinderschuhen‹ war mit diesen stillen Beschäftigungen zufrieden, und gewaltvolle Konflikte entstanden erst, als die Gesellschaft Vorstellungen wie Eigentum und Wohlstand hervorbrachte. Denn im gleichen Maß, indem Wohlstand anwuchs, »nahmen auch […] Herrschaft und Sklaverei sowie Gewalt und Raubwirtschaft zu. Kaum hatten die Reichen Gefallen am Befehlen gefunden, begannen sie es jeder anderen Tätigkeit vorzuziehen; und nachdem sie bald dazu übergegangen waren, ihre alten Sklaven zur Beschaffung neuer einzusetzen, dachten sie an nichts anderes mehr als an die Unterwerfung und Versklavung ihrer Nachbarn.«

Das Ergebnis all dessen war ein Krieg zwischen den ›Mächtigsten‹ und den ›Armseligsten‹, wie Rousseau es ausdrückte, aus dem der Mensch »habgierig, niederträchtig und von Ehrgeiz zerfressen« hervorging. »Ein andauernder Konflikt kam auf […], der immer wieder aufs Neue in gewaltvollen Übergriffen und Blutvergießen endete. Die junge Gesellschaft wurde zum Schauplatz schrecklichsten Kriegstreibens.«23 Am Ende des 18. Jahrhunderts sollten Rousseaus romantische Vorstellungen bezüglich des ›Wilden‹ jedoch von neuen Konzepten – oder zumindest neuen Variationen der alten Vorstellungen – überholt werden. Als Edward Gibbon in den 1780er Jahren die verschiedenen ›Wilden‹ in den Randgebieten der Zivilisation beschrieb, schlug er bereits zahlreiche Töne vom Beginn des folgenden Jahrhunderts an. Ähnlich wie die antiken Klassiker, von denen er sich – zumal sie nicht selten als seine Quellen genannt werden – zweifellos inspirieren ließ, schrieb Gibbon, dass die kümmerlichen, schäbigen und barbarischen Armeen am Nil diese Bezeichnung auch aufgrund ihrer primitiven Arroganz und körperlichen Widerwärtigkeit kaum verdient hätten.24 Die Äthiopier, die sich dem Christentum gegenüber geöffnet hatten, wurden mit geringfügig größerem Respekt bedacht: »Man hat Justinian sein Bündnis mit den Äthiopiern vorgeworfen, als hätte er versucht, ein Volk wilder Neger in das System der zivilisierten Gesellschaft einzugliedern. Dabei müssen die Aksumiten oder Abessinier als Freunde des Römischen Imperiums stets von anderen Ureinwohnern Afrikas unterschieden werden. […] Das Christentum hatte diese Nation schließlich über die afrikanische Barbarei erhoben.«

22 Jean-Jacques Rousseau, Discourse on the Origin of Inequality, hg. v. Greg Borosen, New York 2004, S. 24. 23 Ebd., S. 37. 24 Edward Gibbon, The History of the Decline and Fall of the Roman Empire, 8 Bde., London 1983, hier Bd. 2, S. 31 f.

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Zuletzt jedoch »war der äthiopische König nicht mehr zur Verteidigung seines Reiches imstande« und seine begrenzten militärischen Möglichkeiten sollten schließlich auch den Aufstieg des Islam in Arabien erleichtern.25 Die islamische ›Revolution‹ führte zu jenem wohlbekannten »nahezu tausendjährigen Schlaf der Äthiopier, den sie in Weltvergessenheit zubrachten und dabei selbst in Vergessenheit gerieten.« In diesem narkotischen Zustand setzte ein allgemeiner Verfall ein, der auch eine Unfähigkeit zur Selbstverteidigung ebenso wie zu jeder anderen Art von Kriegsführung mit sich brachte. Dies änderte sich erst wieder mit der Ankunft der Portugiesen, auf deren Quellen­ Gibbons imaginierter Bericht beruht: »Nach langer Einsamkeit standen die Äthiopier kurz davor, in ihre frühere Unzivilisiertheit zurückzufallen. […] [D]ie Ruinen von Aksum waren verwaist, das Land verteilte sich auf einzelne Dörfer und der Kaiser begnügte sich trotz seiner prunkvollen Amtsbezeichnung in Friedens- wie in Kriegszeiten mit einem unbeweglichen Feldlager als Residenz. […] Aber die Bedrohung durch die das gesamte Binnenland verwüstenden Barbaren und die sich von der Küste her nähernden, bestens aufgestellten Türken und Araber ließ bald einen schnellen und wirksamen Einsatz von Waffen und Soldaten notwendig werden, um dieses unkriegerische Volk zu verteidigen. Letztlich wurde Äthiopien durch den europäischen Heldenmut von 450 Portugiesen sowie die zusätzliche Stärke ihrer Flinten und Kanonen gerettet.«26

Diese Nebeneinanderstellung von Heldenmut und Bewaffnung der Europäer auf der einen und der – vom Eingreifen der ›dunklen Macht‹ des Islam befreiten  – Wilden auf der anderen Seite markiert einen Paradigmenwechsel. Die Überlegenheit europäischer Waffen und Kriegskunst wurde nun anhand ihrer Entsprechungen bei den Wilden gemessen; Gibbon beurteilte die europäische Kriegsführung durch Vergleiche mit der nichteuropäischen.

2. Gewalt, Rasse und Sklaven in Afrika Die im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert anschwellende Debatte um den atlantischen Sklavenhandel wirkte sich auch auf Vorstellungen von afrikanischer Gewalt im Allgemeinen und afrikanischer Kriegsführung im Besonderen aus: Unter dem Einfluss des aufkommenden Rassendenkens kreisten die Polemiken um die Frage, ob der Afrikaner an sich zur Gewalt neige oder ob diese Gewalt durch äußere Einflüsse wie vor allem den Sklavenhandel bedingt wurde. Im Großen und Ganzen zeichneten die Gegner der Sklaverei den ›Afrikaner‹ dabei als einen zwar von Natur aus primitiven und wilden, aber noch zu

25 Ebd., Bd. 5, S. 204–206. 26 Ebd., Bd. 6, S. 81. Zu den Kriegen der Äthiopier siehe Fr. Jerome Lobo, A Voyage to Abyssinia, übers. v. Samuel Johnson, London 1789.

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rettenden Menschen. Unter dem erkennbaren Einfluss Rousseaus bildete sich dabei die Tendenz heraus, ein ›fröhliches Afrika‹ und ein ›goldenes Zeit­a lter‹ zu beschreiben, in dem primitive Stämme in einer von Ignoranz und Glück geprägten Idylle lebten, die nun gewaltsam durch den Sklavenhandel zerstört wurde. Er selbst brachte folglich erst jene Brutalität und ausgedehnten Kampfhandlungen hervor, zu deren Beendigung sich Großbritannien berufen fühlte und aus denen sich eine Perspektive auf afrikanische Gewalt ergab, die sich im Laufe des 19.  Jahrhunderts verfestigen sollte.27 Der Abolitionist (und befreite Sklave) Olaudah Equiano bemerkte im späten 18. Jahrhundert, dass der Krieg um Gefangene und Beute in seinem Heimatland »wohl durch jene Händler, die die europäischen Waren zu uns brachten, angestoßen wurde.« An einer späteren Stelle impliziert er zwar, dass Krieg und Landwirtschaft dort von jeher völlig natürliche Betätigungen waren, in denen auch er selbst von Kindesbeinen an geschult wurde, lässt das Wort »Krieg« dabei jedoch angenehm und völlig unschuldig klingen.28 Apologeten des Sklavenhandels teilten zwar die Ansicht vom Afrikaner als Wilden, bestritten jedoch jeglichen Einfluss des Sklavenhandels darauf und argumentierten, dass Afrikaner von Natur aus zur Gewalt neigten und dass Krieg – ebenso wie Sklaverei selbst – schon immer bei diesen Barbaren vorgekommen sei. So versuchten einige Sklavenhändler im 18. und 19. Jahrhundert in ihren Berichten nachzuweisen, dass Gewalt und Krieg den afrikanischen Gesellschaften schon immer eigen gewesen seien. Das Königreich Dahomey in Westafrika stellte dabei ein wichtiges Fallbeispiel dar: Der Sklavenhändler William Snelgrave wies in den 1730er Jahren auf den inhärenten Militarismus dieses Staates hin,29 wohingegen Archibald Dalzel in seinen Schriften über­ Dahomey aus den 1790er Jahren dessen König Kpengla mit folgenden Worten zitierte: »Niemand aus Dahomey ist je allein mit dem Ziel in einen Krieg getreten, das für den Kauf eurer Waren Nötige zu beschaffen […]. [H]atten wir nicht schon Keulen, Bögen und Pfeile, bevor wir die Weißen trafen?«30 Dabei bewegten sich jedoch beide Lager in der Annahme, dass über das nunmehr hinsichtlich des Ausmaßes seiner Gewalt und seines Blutvergießens definierte Afrika gesprochen werden musste. Im Laufe des 19. Jahrhunderts wuchs die Faszination, ja die Aufregung der viktorianischen Gesellschaft gegenüber archaischer, blutiger und wilder Macht an. In einem breiteren Sinne zeichnete sich die europäische Erkundung Afrikas – auf theoretischer wie auf praktischer Ebene – durch die Suche nach jenem von Hobbes beschriebenen Staat aus. Die Europäer suchten nach Anzeichen für Ordnung, insbesondere in Form von Despotismus, Absolutismus, Omnipotenz oder Militarismus. So wurden ›barbarische‹ oder ›allmächtige‹ Herrscher denn 27 Vgl. etwa Thomas Fowell Buxton, The African Slave Trade and its Remedy, London 1840. 28 Oloudah Equiano, The Interesting Narrative and Other Writings, hg. v. Vincent Carretta, London 1995, S. 39, 46. 29 William Snelgrave, A New Account of Some Parts of Guinea, London 1971, S. 5. 30 Archibald Dalzel, The History of Dahomey, London 1967, S. 218 f.

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auch ›Karl der Große‹ oder ›Napoleon‹ genannt und die verschiedenen Völker als Israeliten, Goten oder Vandalen kategorisiert. In einem angeblich inhärent unzivilisierten Land wurde starke Herrschaft  – wenn auch von den üblichen rassistischen Vorurteilen durchdrungen – dabei umso mehr bewundert, denn immerhin hatten es diese Herrscher fertig gebracht, Chaos und Dunkelheit in Ordnung zu überführen. Hieraus entwickelte sich die Vorstellung, dass diese Herrscher überlegener Herkunft waren. Das vom Forscher John Hanning Speke gezeichnete Königreich Buganda war der Inbegriff davon. Spekes Beschreibung der frühen Geschichte der Region stützte sich auf die Hamitentheorie, der zufolge die bestimmende und staatenbildende Elite der Ganda von hellhäutigeren Völkern aus dem Norden abstammte. Typisch daran war Spekes Akzentuierung des Konzepts einer erobernden Rasse, die die einfacheren und wilderen Völker der Region unterwarf.31 In gleicher Weise rief ›Äthiopien‹ als Quintessenz des altertümlichen und hegemonialen ›Orient-Despotismus‹ Bewunderung hervor. So wurden seine führenden Eliten, ob sie nun amharisch- oder tigrinyasprachig waren, als große Erbauer von Staaten, Zivilisationen und dominanten Kulturen mit den Mitteln des Krieges und der Eroberung betrachtet. Am Ende Yohannes’ Herrschaft tätigte der britische Diplomat Gerald Portal hierzu die maßgebliche Äußerung,32 dass die alte christliche Macht im Laufe der Geschichte die islamischen Horden zurückgedrängt und gesetzeslose Gebiete in die Zivilisation überführt hätte. Wie Morus’ Utopisten war Äthiopien demnach von wilden, anarchischen Völkern umgeben, von quasi-muslimischen und paganen Barbaren, die mit wütendem Knurren auf die Überlegenheit der äthiopischen Militärmacht reagierten. Wenngleich diese also zu einem nicht un­ erheblichen Teil auf Vergleichen mit den ignoranten Völkern ruhte, von denen Äthiopien angeblich umgeben war, wurde ihr Status letztlich doch durch Siege auf dem Schlachtfeld untermauert: Vor allem der äthiopische Triumph über die italienische Armee bei der Schlacht von Adwa im Jahr 1896 brachte neue Höhen der Bewunderung, neue Mythen, neuen ›Nationalismus‹ mit sich. Im Jahr 1902 fühlte sich ein Beobachter zu der Erklärung berufen, dass die Äthiopier sich in ihrem Organisationstalent und ihrem politischen Weitblick als ›recht europäisch‹ erwiesen hätten. Berkeley erklärte, dass Äthiopien »mächtig war, als das Buch Genesis geschrieben wurde, und bereits christlich, als unsere Vorfahren noch Thor und Odin huldigten.«33 Diese Beschreibungen und Sichtweisen aus den europäischen Quellen sprechen Bände über die Haltung des 19. Jahrhunderts und v. a. des viktorianischen England zu afrikanischen Gesellschaften. Sie geben uns auch Aufschluss darüber, wie zeitgenössische Beobachter versuchten, die politische Ordnung Afrikas 31 John Hanning Speke, Journal of the Discovery of the Source of the Nile, Edinburgh 1863, Kap. IX . 32 Gerald H. Portal, My Mission to Abyssinia, London 1892, S. IV. 33 George Fitz-Hardinge Berkeley, The Campaign of Adowa and the Rise of Menelik, London 1902, S. viii, 35.

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umzuinterpretieren, und welch tiefreichenden Einfluss sie damit auf die spätere Entwicklung und Verwaltung der Kolonialreiche ausübten. Noch heute hallen sie in der allgemeinen Wahrnehmung der afrikanischen Zivilisation und Gesellschaft nach. Afrika war als ein Ort ›ständigen‹, ›unabschließbaren‹ und ›unaufhörlichen‹ Krieges bekannt. Die rassistischen Annahmen, die diesen europäischen Quellen zugrunde liegen, sind wohlbekannt und müssen von jedem Historiker dieser Ära berücksichtigt werden. Von größerem Interesse für uns ist jedoch der Grad der rassischen Differenzierungen, die zwischen afrikanischen Kulturen und Gesellschaften gemacht wurden und so zu Beurteilungen der Verbindungen von Rasse, Kultur und Konflikten führten. So kommen Interpretationen von männlichen, kriegerischen und ›überlegenen‹ Völkern, die alles vor sich aus dem Weg räumen, ebenso vor wie solche von besonderen Anführern, die durch die Überlegenheit ihrer Gene oder schlicht durch Talent stramm über ihren Völkern stehen. Speke behauptete, von jeher der Meinung gewesen zu sein, dass »die hellhäutigeren Wilden ungestümer und kriegerischer seien als diejenigen von schmuddeligerem Farbton. Die schwarz-rötlichen, fleischartig anmutenden Wazaramo und Wagogo sind von einer deutlich helleren Hautfarbe als die anderen Stämme und besitzen zweifellos einen weit überlegenen, männlicheren, kriegerischeren und unabhängigeren Geist und Habitus als die anderen.«34

Der Händler Philippe Broyon stellte eine ähnliche Verbindung zwischen Krieg und ›Rasse‹ her: Während er die ›nördlichen‹ Völker  – ›die Galla, die Masai, die Watussi‹ – als ›Krieger‹ ansah, war die südliche ›Rasse‹ weniger tapfer und ›kriegstauglich‹. Die Nordvölker waren männlich, schön und meisterlich; die einheimischen ›Neger‹ dagegen waren, wenn auch mit bemerkenswerten Ausnahmen wie dem erfolgreichen zentralafrikanischen Kriegsherren Mirambo, auf den wir noch zu sprechen kommen werden, in ihrem Auftreten um einiges schmutziger, hässlicher und weniger soldatisch.35 So wurde kriegerische Männlichkeit mit rassischer Überlegenheit gleichgesetzt. Kampflust wurde auch jenen Völkern zugeschrieben, die vor der Welt versteckt lebten und über die folglich nur wenig bekannt war. Ruanda ist hierfür das klassische Beispiel: In der zeitgenössischen Literatur – die sich vermutlich zumindest zum Teil aus lokalen Gerüchten speist – verkörpert Ruanda jene mysteriöse, kriegerische Nation, die im tiefen Inneren jeder Volksfantasie lauert. Arabische Geschäftsmänner, die versuchten dort Handel zu betreiben, waren stets gescheitert. So berichtete einer von ihnen dem Forscher Henry Morton Stanley, wie einige seiner Männer beim Erreichen des Königshofes einer Vergiftung erlegen waren. Doch bei allem 34 John Hanning Speke, What Led to the Discovery of the Source of the Nile, Edinburgh 1864, S. 330. 35 Philippe Broyon-Mirambo, Description of Uyamwesi, the Territory of King Mirambo, and the Best Route Thither from the East Coast, in: Proceedings of the Royal Geographical Society 22 (1877‒1878), H. 1, S. 31 f.

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Schrecken, den Ruanda hervorrief, wurden seine Einwohner auch für ihre große Tapferkeit und seine Königsfamilie für ihre Abstammung von »hellhäutigen Leuten aus dem Norden, womöglich Arabern« bewundert.36 Auf die gleiche Weise zogen Reisende, Missionare, Kolonialoffiziere und Soldaten Vergleiche zwischen ›kriegerischen‹ und ›friedliebenden‹ (womit meistens eher ›fügsamen‹ gemeint war) Völkern. Eine der gängigsten stereotypen Darstellungen zeigte einen kriegerischen, feindlich gesonnenen Hirten im Kampf mit einem friedlichen und freundlichen Farmer. Wie die Anthropologen Fukui und Turton zur Geltung bringen, »ist der ostafrikanische Hirte einem breit akzeptierten Vorurteil zufolge ein angriffslustiger und aggressiver Krieger, ein schneller Rächer, im Kampfe gnadenlos und von jetzt auf gleich imstande, sowohl seinen eigenen Bestand zu verteidigen als auch denjenigen seines Nachbarn zu stehlen.«37 Baxter machte die treffende Bemerkung, dass »sich das Hirtendasein […] kulturell mit der Kriegerexistenz überschneidet, da sich beide Lebensmodelle besonders für aggressive, leistungsfähige, unkomplizierte und sozial ungebundene sowie verantwortungsfreie Junggesellen eignen.«38 Im 19. Jahrhundert wurden ganze Gesellschaften im Stile des archetypischen, jähzornigen, kriegerischen Einheimischen karikiert. Der Missionar Alexander Mackay etwa sah in den (hauptsächlich) landwirtschaftlich geprägten Gemeinden Buganda und Bunyoro die zwei am meisten von Gewalt und Sklavenraub durchsetzten Staaten des nördlichen lakustrischen Inneren. Da diese natürlich von Arabern unterstützt und finanziert wurden, waren sie auch zur Ernährung einiger hilf­loser Gemeinden aus der Umgebung, die nur aus Frauen und Kindern zu bestehen schienen, in der Lage.39 Die Massai verkörperten dagegen jenen ›kriegerischen Stamm‹, der am Horizont der Fantasie jedes Reisenden lauerte.40 Die Vuma wurden als besonders aggressiv und unerbittlich wahrgenommen, wohingegen die Sukuma als friedlich galten und Stanley zufolge niemals irgendjemanden bedrängten.41 Große Staaten riefen bei manchen eher gemischte oder sogar widersprüchliche Gefühle hervor. Obwohl Mackay ­Bugandas harte Gewalt beklagte, bewunderte er zugleich dessen zivilisatorisches Potential: Nachdem der Reisende über hunderte Meilen hinweg immer wieder auf ›kleine Sultanate‹ gestoßen war, erreichte er schließlich Buganda, wo »eine Macht in absoluter Weise

36 Henry Morton Stanley, Through the Dark Continent, Bd. 1, London 1899, S. 356 f. 37 Katsuyoshi Fukui/David Turton, Introduction, in: Dies. (Hg.), Warfare Among East African Herders, Osaka 1979, S. 4. 38 Paul Trevor William Baxter, Boran Age-Sets and Warfare, in: Fukui/Turton, Warfare, S. 78. 39 Alexander Murdoch Mackay, A. M. Mackay. Pioneer Missionary of the Church Missionary Society to Uganda, hg. v. seiner Schwester, London 1890, S. 434 f. 40 Ainsworth to the Administrator, 30 December 1892, FO 2/57, IBEAC Bd. 2, The National Archives, Kew; Smith to Wright, 14 October 1876, C/A6/M/1, Church Missionary Society Archives, University of Birmingham. 41 Stanley, Dark Continent, Bd. 1, S. 118 f., 141 f.

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herrscht, wenn auch mit bestimmten Anstandsvorstellungen und Verbesserungswünschen.«42 Während ›kriegerische‹ Staaten bewundert wurden, war Verachtung denjenigen vorbehalten, denen jenes militärische Rückgrat zu fehlen schien, das (ironischerweise) als klare Voraussetzung jeder zivilisierten Gemeinde betrachtet wurde.43 Der russische Priester Remedius Prutky spottete, dass »die äthiopische Nation, wenngleich sie robust, stark und erbittert daherkommt, eigentlich furchtsam, unwissend und ungeschickt in kriegerischen Belangen ist, dass es ihr an Waffen mangelt und sie zur hastigen Flucht neigt, sodass sie selbst von einem schwachen und nicht besonders kriegerischen Feind bezwungen werden kann.«44 In vielen Fällen nahmen Missionare jedoch von der Vorstellung Abstand, dass sie so etwas wie eines ›Krieges‹ ansichtig wurden. Nicht frei von einer gewissen Herablassung merkte ein Missionar in der Beschreibung einer kurzen Auseinandersetzung mit einigen einheimischen Kriegern an: »Aus dem ›Krieg‹, wie sie es nennen, wurde nichts mehr.«45 Wir können nicht wirklich wissen, ob ›sie‹ es tatsächlich ›Krieg‹ nannten, aber es ist bemerkenswert, dass der Missionar überhaupt einen solchen Kommentar abgab. Die  – in verschiedenen Gestalten und Zusammenhängen wiederholte  – Vorstellung hinter all dem war, dass emotionale und nervöse Einheimische ständig ›übertrieben‹, ›in Panik ausbrachen‹, Dinge generell unverhältnismäßig behandelten und folglich bereits kleine, örtliche Meinungsverschiedenheiten als ›Krieg‹ darstellten. Stanley machte sich über die »zahme Kampfweise« lustig, die er am nördlichen Ende des Tanganjikasees beobachten konnte, wo einem Viehdiebstahl erst nach Monaten und ohne erkennbaren Gewinn mit einem Gegenschlag (und so weiter) begegnet wurde. »Da Afrikaner ihrer Verfassung nach nicht allzu sehr zu energischer Kriegsführung neigen, reifen sie sich nur äußerst selten mit Mut und wackerem Willen an«, erklärte Stanley,46 dem es dabei offensichtlich gleich war, dass sein Tagebuch voll mit Einträgen war, die das Gegenteil belegten. »Die unendlichen Kriege dieser abessinischen Häuptlinge verdienen es ebenso wenig, schriftlich festgehalten zu werden wie die Gerangel von Krähen und Milanen«, schrieb auch Clements Markham im Jahr 1869, nur um sie anschließend doch festzuhalten.47 ›Krieg‹ war eine große und mächtige Angelegenheit und eine der Interpretationsschwierigkeiten in den europäischen Quellen ergibt sich daraus, dass sie

42 Mackay, Pioneer Missionary, S. 216. 43 Siehe auch Heather Streets, Martial Races. The Military, Race and Masculinity in British Imperial Culture 1857‒1914, Manchester 2004, für eine differenziertere und detailliertere Untersuchung dieser Themen mit besonderem Augenmerk auf schottischen Hochländern, Sikhs und Gurkhas des 19. Jahrhunderts. 44 Prutsky’s Travels to Ethiopia and Other Countries, hg. und übers. v. J. Henry Arrow­ smith-­Brown, London 1991, S. 88. 45 Smith to Wright, 2 February 1877, Church Missionary Society C/A6/M/1. 46 Henry M. Stanley, How I Found Livingstone, London 1872, S. 495. 47 Clemens Robert Markham, A History of the Abyssinian Expedition, London 1869, S. 52.

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zwar die der soziopolitischen Umgebung Afrikas inhärente Gewalt darstellen, dabei aber in der Regel den Terminus ›Krieg‹ vermeiden wollten. Copplestone, ein anderer Missionar, war »bezaubert« von den »einfachen und harmlosen« Einheimischen, die er mit ihren Gewehren, Pfeilen und Bögen in Küstennähe herumschlendern sah.48 Mackay dagegen betrachtete diese Auseinandersetzungen in ernsthafterer Weise: »Selbst diese kleinen Kriege, die in Europa von keinerlei Bedeutung sind, reichen doch dazu aus, das Leben zahlreicher Betroffener einzufordern und ganze Nachbarschaften zu verwüsten.«49 Größere Bedeutung wurde den gewaltvollen Erschütterungen der äthiopischen Geschichte beigemessen, vor allem der »grausamen« und »barbarischen« muslimischen Invasion von Ahmed Gran im 16. Jahrhundert50 sowie dem Vorrücken der ›Galla‹ gen Norden, welche die alte christliche Zivilisation zu zerstören drohten. James Bruce beschrieb all dies in (manchmal im Wortsinne) unglaublichen Details. Im zweiten Band seiner Arbeit hatte er sich offensichtlich, vielleicht absichtlich, vorgenommen, für Äthiopien das zu leisten, was sein Zeitgenosse Gibbon für Rom tat. Bruce maß dabei Armeen, Generälen und Schlachten große historische Bedeutung bei.51 Diese ›Ereignisse‹ wurden häufig in dramatischen, lebendigen Farben gezeichnet und mit einer historischen Relevanz versehen, die  – aufgrund der Rassenkonzepte der Äthiopier selbst sowie der­ Anwesenheit der christlich-muslimischen Einflüsse – den meisten anderen Teilen Ostafrikas vorenthalten blieb.52 Henry Salt erinnerten die Galla bei ihrem Einströmen in die äthiopische Region an Goten und Vandalen. Die Metaphern begannen sich jedoch zu vermischen, als er sie auch mit Philistern verglich: »Ich kam nicht umhin, gelegentlich zu denken«, reflektierte er, »dass ich mich zwischen Israeliten aufhielt […]. Es wird für mich kaum nötig sein zu bemerken, dass die Gefühle der Abessinier gegenüber den Galla vom selben eingefleischten Geist der Animosität sind, wie er die Israeliten hinsichtlich ihrer feind­ lichen Nachbarn geprägt zu haben scheint.«53

Die Ansichten über die ›Galla-Invasion‹ gingen jedoch auseinander. In einer Quelle heißt es, die Äthiopier seien »schön, stark und aktiv, aber befanden sich permanent in lästigen Kriegen mit ihren grausamen Nachbarn, den Galla.« Diese wilden Horden, die ein »scharfsinniger und starker Gegner« waren, hatten »das einst mächtige Imperium Abessinien in Stücke gerissen, und […] das Voranschreiten von Christentum, Zivilisation und kultureller Verfeinerung aufge48 49 50 51 52

Copplestone to Wright, 16 February 1878, Church Missionary C/A6/M/1. Mackay, Pioneer Missionary, S. 386. Samuel Gobat, Journal of Three Years’ Residence in Abyssinia, New York 1969, S. 60 ff. James Bruce, Travels to Discover the Source of the Nile, Bd. 2, London 1790. Alexander Bulatovich, Ethiopia Through Russian Eyes. Country in Transition 1896‒98, übers. v. Richard Seltzer, Lawrenceville 2000, S. 53. 53 Henry Salt, A Voyage to Abyssinia and Travels into the Interior of that Country, London 1814, S. 299, 306.

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halten.«54 Laut einer anderen Quelle handelte es sich bei den Wollo Oromo dagegen um »eine feine Rasse, die den Abessiniern an Eleganz, Männlichkeit und Heldentum weit überlegen war« und vom ›Inneren Afrikas‹ aus alles zusammenkehrte sowie alles vor ihnen eroberte, um in der Folge »zahlreiche Bräuche der unterworfenen Völker« aufzunehmen.55 Darüber hinaus fällt es nicht schwer, Belege für die klassische europäische Gegenüberstellung zu finden, in der ›Hochland‹ und ›Küste‹ in Begriffen der Militärkultur wahrgenommen wurden, wobei umstritten war, ob das Leben an der Küste etwas ›Positives‹ oder eher Verachtenswertes war. Lord Valentia etwa meinte im Jahr 1808, die Bewohner einer Insel in Annesley Bay an der eritreischen Küste seien »derart anständig und friedfertig, dass nicht einer von ihnen irgendwelche Waffen mit sich trägt.« In dieser Weise stellen sich diese kleinen Gesellschaften gewissermaßen als ›utopisch‹ und bewundernswert dar. Zugleich muss aber auch der den Naib von Massawa geltende Ton der Verachtung berücksichtigt werden: »Ihre Einheit geht nicht über eine Größe von 200 Mann hinaus, die mit wurmzerfressenen und nutzlosen Speeren, Luntenschlössern und einigen wenigen Messinggeschützen bewaffnet sind.«56 Diese Wahrnehmung sagt einiges darüber aus, was militärische Kraft und Kultur eigentlich darstellen. Der Versuch der Massawa-Gesellschaft, eine Armee zu schaffen und ihr Scheitern dabei sind verabscheuungswürdig; kleine, ›anständige‹ Gesellschaften, die nicht einmal versuchen, Waffen zu tragen, sind jedoch aus irgendeinem Grunde akzeptabel. Hier wurde also die semi-zivilisierte Verderbtheit der küstennahen Araber einer idealisierten Form des ›einheimischen Staates‹ gegenübergestellt. Auch in den Verweisen auf die Unterschiede zwischen dem Küsten- und Binnengebiet des östlichen Zentralafrikas sowie in der bis in unsere heutige Zeit nachhallenden Debatte über das Eindringen der Außenwelt in die afrikanische Gesellschaft und Kultur ist rassistisches Denken erkennbar. Den Europäern ging es darum, die ›natürliche‹ Entwicklung der Afrikaner zu verstehen und die Bedingungen für Reinrassigkeit auszumachen. Beispielsweise glaubte man verstanden zu haben, dass die außer-afrikanische Welt nicht bloß massive Zerrüttung sowie Chaos und Gewalt über den Kontinent gebracht und hierdurch seine ›natürliche‹ Stabilität untergraben hatte, sondern ebenso rassische Verunreinigung, da die ›Laster der Zivilisation‹ zur Schwächung der Einheimischen und zu deren kulturellem Niedergang führten. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde ›die Außenwelt‹ in Ostafrika in Rückgriff auf den Küsteneinfluss mit dem Begriff ›Araber‹ versehen. Der Missionar ­Edward Hore beobachtete, wie sich in Küstennähe »kleine einheimische Stämme unter niedrigstes semi-zivilisiertes Halbblut mischten und so rasch ihr spezifisches Volkstum verloren.« Diese »zweifelhafte orientalische Zivilisation« habe »das Blut aus den Gemein54 Gobat, Three Years’ Residence, S. 21, 52. 55 Henry Blanc, A Narrative of Captivity in Abyssinia, London 1970, S. 290. 56 Valentina, Observations on the Trade of the Red Sea, 10, Valentia & Salt: letters & documents, FO 1/1, The National Archives, Kew.

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den gesaugt, die einheimischen Wurzeln dieser Zivilisation mehr oder weniger gelähmt.« Beim Vordringen ins Binnenland treffe man jedoch auf Stämme, »die in ihrer Isolation von den Vorteilen einer Kommunikation mit der Außenwelt, aber gleichermaßen auch vom schädlichen Einfluss solcher Kommunikation verschont geblieben sind und so in Ruhe und Frieden beträchtliche Fortschritte bei der Nutzung der Erzeugnisse ihrer Länder und in gewissem Maße auch bei der Herstellung einer sozialen Ordnung und eines sozialen Friedens machen konnten.«57

Je tiefer man also ins Landesinnere vordrang, desto mehr glaubte man nicht auf »Ignoranz und Barbarei«, sondern auf »den echten, gesunden und tatkräftigen Wilden des Binnenlands zu treffen, der in großen, wohlgeordneten Siedlungen lebte und den Beschäftigungen nachging, deren Handwerk er in aller Geduld erlernt hatte.« »Blutegeln gleich« hätten sich jedoch einige Ableger der Küstenkultur bei schwächeren Gemeinden im Landesinneren niedergelassen, während der Sklavenhandel niemanden unberührt gelassen hätte.58 In seiner unnachahmlichen Weise schrieb Stanley, wie »wir ihrer Kriegsmethoden ansichtig und Zeuge davon wurden, wie sie ihre Hände in wildem Triumph und voller Freude im Blut der jeweils Anderen badeten«;59 Hore erinnerte seine Leser jedoch daran, dass es »ein großer Fehler ist anzunehmen, dass unzivilisierte und sogenannte wilde Stämme notwendigerweise niederträchtig und mörderisch sind.«60 In den verschiedenen Quellen treten auch Meinungsänderungen oder unterschiedliche Sichtweisen auf dieselben Phänomene zutage. Charlie Stokes, Waffenschmuggler und gelegentlicher Missionar der Kirchenmissionarsgesellschaft, änderte etwa über viele Jahre hinweg immer wieder seine Meinung über Mirambo, bis er schließlich Bewunderung für diesen Mann empfand, den er einst mit Verachtung überschüttet hatte. Mirambo und der Staat, den er geschaffen hatte, riefen in der Tat sehr gegensätzliche Ansichten hervor; selbst diejenigen, die ihn verehrten und sich die Zukunft Ostafrikas mit ihm als mächtigem Herrscher und Repräsentant der Zivilisation vorstellten, weiteten diese Bewunderung nicht immer auf seine Anhänger aus. Während Mirambo als ausgezeichnete Führungsfigur wahrgenommen wurde, die sogar eine gewisse militärische Genialität erkennen ließ, galten diese oft als mit Rauschmitteln zugeschüttete Räuber und Schurken. Gleichermaßen notwendig ist es natürlich zu fragen, warum manche europäische Quellen über all diese Aspekte afrikanischer Gesellschaft schweigen, obwohl sie durchaus als höchst bedeutsam betrachtet werden müssen. Diese Quellen vermitteln ihren Lesern den Eindruck, es handele sich lediglich um blutverschmierte, zerstörte und von ihrer ende57 Edward C. Hore, On the Twelve Tribes of Tanganyika, in: Journal of the Anthropological Institute 12 (1883), S. 2–21, hier S. 3 f. 58 Ebd., S. 4. 59 Stanley, Dark Continent, Bd. 1, S. 377. 60 Hore, Twelve Tribes, S. 19.

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mischen und endlosen Gewalt auseinander gerissene Gesellschaften. So mancher Forscher wird sich daher beim Durchforsten der zahlreichen Briefstapel darüber ärgern, dass sie sich ausgerechnet an dem Punkt, den sie als essentiell für das Verständnis der zeitgenössischen afrikanischen Gesellschaft ausgeben, in Schweigen hüllen. Ein solches Schweigen muss jedoch als ebenso bedeutsam betrachtet werden wie jede Gesprächigkeit, die von den Quellen ausgeht – nicht zuletzt deshalb, weil es impliziert, dass ›Frieden‹ alltäglicher war als man sonst annehmen würde. So mag sich ein Missionar in ein oder zwei nebensächlichen Zeilen auf irgendein Gerücht über einen entfernten, ungelösten Konflikt beziehen und daraus den Schluss ziehen, dass die Einheimischen ›wie üblich‹ ruhelos sind, dass interne Konflikte zwischen ihnen schwelen und dass all dies immer Bestandteil der afrikanischen Natur sein würde. Allerdings finden die Forscher häufig nichts, was diese Sichtweise belegen würde, denn oft gehen nicht einmal die Missionare selbst näher darauf ein. Es gibt also in anderen Worten so etwas wie einen Konsens darüber, dass ›die Dinge so sind‹ und der Historiker muss sich davor hüten, nicht selbst den Mythen des 19. Jahrhunderts über das afrikanische Leben anheimzufallen. So wie Kriegsforscher nicht zwangs­läufig­ Bellizisten sind, so sollten auch diejenigen, die den afrikanischen Krieg des 19. Jahrhunderts untersuchen, dabei keinesfalls unabsichtlich die Stereo­typen dieser Ära perpetuieren.

3. Imperialismus und Gewalt Im Zeitalter des Hochimperialismus fiel Afrikas Gewalt auf Europa zurück; Gewalt rechtfertigte neue Gewalt und die besondere Wahrnehmung des ›wilden‹ Kriegstreibens inspirierte und beeinflusste die militärischen Methoden, die im ›Wettlauf um Afrika‹ entwickelt wurden. Wie wir sehen werden, wirkten sich Tod und Zerstörung in dieser Ära auch auf den Diskurs über das Wesen des Imperialismus selbst aus, wobei die Debatte von tiefer Ambivalenz geprägt war. Während Belloc das Maxim-Maschinengewehr lobte – und damit auf die technologische und kulturelle Mittellosigkeit der ›Einheimischen‹ anspielte und zugleich offenkundig machte, wie sehr die militärische Macht Europas durch die Gegenüberstellung mit der nichteuropäischen Welt betont wurde –, bot K ­ ipling eine reflektiertere Sichtweise an und stellte seine ›wilden Friedenskriege‹ als düstere Notwendigkeit des Zivilisationsprozesses dar. Gewalt war demnach unverzichtbar, um der Welt »eure frisch gefangenen, missmutigen Völker / halb Teufel und halb Kind« vorzusetzen.61 In der Tat lag ein solches Konzept vom aufgezwungenen Frieden, von einer durch Gewalt und Stärke auferlegten bürgerlichen Ordnung einem Großteil des späten viktorianischen Denkens über die ›wilde Welt‹ zugrunde. Es wurzelte in Vorstellungen, die Gewalt als dieser 61 Rudyard Kipling, The White Man’s Burden (1899), in: Elleke Boehmer (Hg.), Empire­ Writing. An Anthology of Colonial Literature 1870‒1918, Oxford 1998, S. 273 f.

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erdachten Welt inhärent betrachteten und auf diese Weise die imperialistische Gewalt der Europäer legitimierten. Aber natürlich spaltete es die britische Politik auch und führte zu solch strammer Gegenwehr wie derjenigen von Kolonialsekretär Joseph Chamberlain, der einer der entschiedensten Fürsprecher des ›Neuen Imperialismus‹ dieser Zeit war. In einer Rede im Jahr 1897 erkannte er zwar an, dass die in der Befolgung der britischen ›Nationalmission‹ angewandten Praktiken nicht »in jedem Fall perfekt« oder »tadellos« gewesen seien: »aber ich sage, dass in nahezu jedem Fall, bei dem die Herrschaft der Königin etabliert und die großartige Pax Britannica durchgesetzt wurde, diese Errungenschaften auch eine erhöhte Sicherheit von Leben und Eigentum mit sich brachten […]. Zweifellos […] gab es Blutvergießen, kamen viele Einheimische ums Leben und mussten diejenigen, die ausgesandt wurden, um diese Länder in eine halbwegs disziplinierte Ordnung zu bringen, ihre noch kostbareren Leben dabei lassen. Aber wir müssen uns daran erinnern, dass dies nun einmal die Bedingung der Mission ist, die wir zu erfüllen haben.«

Chamberlain hatte nichts übrig für Kritiker – »Es befindet sich unter uns natürlich […] eine sehr kleine Minderheit, die dazu bereit ist, noch die abscheulichsten Tyrannen zu verteidigen, solange ihre Haut nur schwarz ist« – und machte sich über den imaginären Philanthropen lustig, der »gemütlich am Feuer [saß] […] und über die Methoden lästerte, mit denen die britische Zivilisation gefördert wurde.« Ebenso wenig hatte er etwas für diejenigen übrig, die sich über den Einsatz des Maxim-Maschinengewehrs beschwerten: »Man kann kein Omelette machen, ohne dafür Eier zu zerbrechen; und ebenso wenig lassen sich die Praktiken der Barbarei, der Sklaverei, des Aberglaubens, die jahrhundertelang das Innere des afrikanischen Kontinents verwüstet haben, gewaltfrei beenden.«62 Es handelte sich dabei auch nicht bloß um politische Rhetorik; vielmehr stützte man sich auf militärische Erfahrungswerte, und nirgendwo wurde dies vehementer ausgedrückt als in Oberst Charles Callwells »Small Wars« – einem kleinen Klassiker, wenn es um jenes militärische Denken ging, das zur imperialen Unterwerfung einheimischer Völker, die sich dem Voranschreiten der Moderne entgegenstellten, nötig war.63 In seiner Gegenüberstellung von ›zivilisierter‹ und ›primitiver‹ Kriegsführung argumentierte Callwell, dass der Wilde einen ganz anderen Kriegsstil habe und es daher anderer Regeln bedurfte, um ihn niederzuringen. Da Technologie alleine dabei noch nicht entscheidend sein könnte, wären auch Disziplin, Taktik sowie Intelligenz unverzichtbar; darüber hinaus besäßen die Wilden einen Charakter, der es den Europäern erlaubte, sie mit Schwung und Tapferkeit zu überwältigen. »Die niederen Rassen sind leicht zu beeindrucken«, schrieb Callwell. »Sie lassen sich in hohem Maße durch eine entschlossene Haltung und Handlungsweise beeinflussen.«64 Kurz darauf heißt 62 Joseph Chamberlain, The True Conception of Empire (1897), in: ebd., S. 213 f. 63 Charles Edward Callwell, Small Wars. Their Principles and Practice, London 1906 [1896]. 64 Ebd., S. 72.

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es: »Die Berichte kleinerer Kriege zeigen unmissverständlich auf, welch großen Eindruck ein tapferes und entschlossenes Vorgehen auf halbzivilisierte Rassen und Wilde macht.«65 Der »Asiate« wurde durch solche Nachdrücklichkeit »eingeschüchtert«.66 Dieser Feind fordere extreme Maßnahmen ein, welche die Konventionen eines normalen Krieges übersteigen würden: »Bei den Operationen handelt es sich manchmal um Verwüstungen, die in den Gesetzen gewöhnlicher Kriegsführung nicht vorgesehen sind.«67 Letztlich war Krieg jedoch etwas­ Belehrendes, Didaktisches und  – folglich  – Zivilisierendes. Während Callwell zugestand, dass einige der gegen die Einheimischen angewandten Methoden – die im Grunde einen ›totalen Krieg‹ darstellten – »Menschenfreunde schockieren mögen«, sah er sie doch dadurch gerechtfertigt, dass es unmöglich wäre, Wilde mit den Mitteln gewöhnlicher Kriegsführung zu bekämpfen. Somit wird klar, dass die Wahrnehmung ihrer Kriegsführung einiges über die Wahrnehmung und Beurteilung nichteuropäischer Kulturen im breiteren Sinne verrät. Das Zeitalter der ›kleinen Kriege‹, der imperialistischen Gewalt gegen Wilde, schien mindestens 2.000 Jahre Militärdenken auf den Punkt zu bringen; aber in der Moderne diente es auch der ›Legitimation‹ unkonventioneller Übel im Krieg. Zum einen war es der Gegner schlicht nicht wert, besser behandelt zu werden, und zum anderen handelte man ja im Dienste einer größeren zivilisatorischen Mission. Diese Menschen wurden zu ihrem eigenen Besten getötet – auf diese Weise rechtfertigte man rassistische Gewalt; im kompromisslosen Voranschreiten der Zivilisation musste der Wilde nicht bloß verachtet, sondern eliminiert werden. Sicher war Frederick Lugard, der davon überzeugt war, dass die Afrikaner Gewalt – und zwar nur Gewalt – verstanden, bestens dafür geeignet, seine Leser an das moralische Recht Europas zu erinnern, in den endlosen, mörderischen Krieg auf diesem Kontinent einzugreifen: »Einige Gegenden Afrikas […] ähneln den Raubtierhabitaten am Grunde des Ozeans«, schrieb er. Es handele sich um ein Land, das durch »Jahrzehnte des Sklavenraubes und der Kriege zwischen verschiedenen Stämmen« geprägt sei.68 Intervention war also sowohl ein mora­ lisches als auch ein wirtschaftliches Gebot.69 Wie Chamberlain hatte Lugard nichts für Kritiker der imperialen Methoden und der Behandlung der Einheimischen übrig, da diese in seinen Augen bloß die afrikanische Persönlichkeit nicht verstanden. Ähnlich wie Callwell erklärte er, dass Nachsicht nicht weiterhelfe, denn wenn britische Truppen bei einem Angriff durch ›tapfere Wilde‹ nicht mit ausreichendem Beschuss reagierten, würden die jungen Hitzköpfe aus den Stämmen bei der nächsten Gelegenheit noch gewagter vorstürmen und die Bri65 66 67 68

Ebd., S. 78. Ebd., S. 79. Ebd., S. 42. Frederick D. Lugard, The Dual Mandate in British Tropical Africa, Edinburgh 1923, S. 581. 69 Ebd., S. 17 f.

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ten müssten ungebrochenen Feuerbefehl geben, um nicht überwältigt zu werden. Erst dann würden die Afrikaner einsehen, dass »das Gewehr stärker ist als Pfeil und Bogen […]. ›Das reinste Gemetzel!‹, rufen die Kritiker da schon wieder.«70 Doch diese Art von Imperialismus stieß auf Kritik. John A. Hobson etwa sorgte sich um den Militarismus und Despotismus, den die Vorgehensweise bei der angenommenen Gewalt- und Barbarei-Bereinigung der Einheimischen in der britischen Heimat aufkommen ließ. Er verachtete die »überflüssigen«, unbeschäftigten Schichten, deren primitives Tötungsbedürfnis nur noch durch Expansion und Militarismus befriedigt werden konnte.71 Sein liberales Denken hatte Hobson zu dem Schluss kommen lassen, dass Großbritannien zu einer bösartigen und abscheulichen Nation heruntergekommen war, die nun ihre überschüssigen animalischen Aggressionen an ärmeren, schwächeren und weniger entwickelten Völkern ausließ, all dies natürlich im Namen der Vernichtung ihrer Barbarei und ihrer Gewalt. Solche Völker stellten das sine qua non der gewaltvollen, imperialen Mission dar; die von Chamberlain so heißgeliebte vaterländische Überlegenheit konnte nur an den wilden Völkern der Erde gemessen werden, und so wird klar, dass die ›primitive Welt‹ einen nachhaltigen Einfluss auf die Kultur der Metropolen ausübte. Und während wir noch d ­ arüber sinnieren, dass die Briten die ›zurückgebliebenen Rassen‹  – wie Hobson sie nannte – hätten erfinden müssen, wenn es sie nicht gegeben hätte, wird allmählich deutlich, dass sie genau dies getan haben. Hobson sorgte sich auch um die Rekrutierung Einheimischer in die kolonialen Armeen. In sardonischem Tonfall schrieb er: »Warum sollten Engländer in den Verteidigungs- oder Angriffskriegen dieses Imperiums kämpfen, wenn billigeres, größeres und besser angepasstes Kampfmaterial ­direkt vor Ort gestellt oder von einem tropischen Herrschaftsgebiet in ein anderes verfrachtet werden kann? Wenn wir die dort bei der industriellen Entwicklung unserer tropischen Ressourcen anfallende Arbeit bereits von den ›unterlegenen Rassen‹ unter weißer Aufsicht erledigen lassen, warum sollte unser Militärsystem dann nicht genauso organisiert werden? Schwarze, braune oder gelbe Männer, für die militärische Disziplin zweifelsohne eine ›heilsame Erziehung‹ wäre, könnten doch unter britischen Offizieren für unser Empire kämpfen.«72

Angesichts ihrer »bedeutenden Rolle in den Schlussphasen der großen Reiche im Osten sowie später im Römischen Reich« war solch eine »breite Aufstellung einheimischer Kräfte, die mit ›zivilisierten‹ Waffen ausgestattet, auf ›zivilisierte‹ Methoden gedrillt und von ›zivilisierten‹ Offizieren kommandiert wurden«, schließlich auch nichts Neues.73 Aber sie war mit Gefahren belastet, denn zum

70 Ebd., S. 579 f. 71 John A. Hobson, Imperialism. A Study, London 1938 [1902], S. 214 f. 72 Ebd., S. 136. 73 Ebd.

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einen verringerte sie die britische Kontrolle über das eroberte Empire und zum anderen – was für unseren Kontext relevanter ist – verleihe die Tatsache, dass ›Einheimische‹ Uniformen tragen würden, der britischen Führung einen barbarischen Anstrich und destabilisiere sie somit in fundamentaler Weise: »Das beherrschende Empfinden wird sein, dass wir diese ›Nigger‹ als Gegenleistung für die Dienste, die wir ihnen leisten, wenn wir sie annektieren, regieren und ihnen ›die Ehre der Arbeit‹ beibringen, für das Empire kämpfen lassen […]. Auf diese Weise können die einheimischen Armeen Afrikas und Asiens durch britische Truppen ausgedünnt werden. Doch auch wenn ein solcher Militarismus zunächst einfacher und günstiger erscheint, wird er auf Dauer einen herben Kontrollverlust für Großbritannien mit sich bringen. Auch wenn die Heimatbevölkerung weniger durch militärische Pflichten belastet würde, würde eine solche Strategie langfristig die Wahrscheinlichkeit von Kriegen erhöhen, denn diese werden, je weniger englische Leben darin verwickelt sind, umso häufiger und barbarischer. Die Ausweitung unseres Empires im Zuge des neuen Imperialismus verdankt ihren Erfolg der Tatsache, dass wir die ›niederen Rassen‹ einander an die Gurgel gehen ließen, Animositäten zwischen verschiedenen Stämmen befeuerten und uns die barbarischen Neigungen derjenigen Völker, deren Christianisierung und Zivilisierung eigentlich unsere Mission ist, zu unserem Vorteile gereichen ließen.«74

Hobsons Befürchtungen hinsichtlich der Beimischung des Wilden spiegeln die Sichtweisen älterer Texte, etwa von Machiavelli oder sogar Platon, auf solche Praktiken wider. Vor der Politik der Utopisten hingegen hätte Hobson wohl zurückgescheut, denn schließlich ließen diese jede Art von Missions-Gedanken, wie sie auch das Edwardianische England kennzeichnete, vermissen. Lugard sah das anders. Für ihn hatte es etwas Zivilisatorisches und Aufklärerisches, wenn Afrikaner in eine europäische Uniform gesteckt wurden. Lugard, der im 19. Jahrhundert mit onkelhaftem Stirnrunzeln die sich bekämpfenden Stämme kommentierte, schrieb: »Wenn es um ihre Eignung als Soldaten geht, können die typischen afrikanischen Rassen als eifrige und tapfere Kämpfer beschrieben werden. Sie sind impulsiv, aber aufgrund ihres bedingungslosen Vertrauens in ihre Führer auch gehorsam und loyal. Wenn sie durch unsere besten Offiziere angeleitet werden, können sie sich im Kampfe als exzellente Truppen erweisen. Ihre Schwachstelle liegt vor allem in ihrem mangelnden Verantwortungsbewusstsein, weshalb sie beim Berichten von Vergehen, beim Ausüben der Kontrolle eines Unteroffizieres oder als Wachmänner unzuverlässig sind. […] In der Loyalität und Tapferkeit unserer einheimischen afrikanischen Truppen im Kriege lagen der Stolz und der wohlverdiente Lohn der Offiziere, die sie ausgebildet und im Gefecht angeführt hatten. Es wäre meiner Ansicht nach falsch zu behaupten,

74 Ebd., S. 137 f.

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dass sie ihr Leben der Aufrechterhaltung des britischen Empires zur Verfügung stellten, denn ein solches Konzept lag jenseits ihrer begrifflichen Reichweite. […] Ich denke, dass ihre Hauptmotive vielmehr in der Liebe zu ihren Offizieren, ihrer Bezahlung, den erhofften Auszeichnungen, ihrem Unwissen über die Bedingungen, denen sie in einem solchen Krieg ausgesetzt sein würden, sowie in ihrer natürlichen Tapferkeit und Abenteuerlust zu sehen sind.«75

In derselben Weise wurden die einstmals unbändigen und barbarischen Völker Eritreas letztlich von Berkeley als »ausgezeichnete Kämpfer« und von den Italienern als ascari bezeichnet. Sie »erwiesen sich als mutig, loyal und von Natur aus zum Kriege geeignet«.76

4. Anthropologie und Geschichte In seinem Streben nach Verstand, Logik und letztendlich Reinheit im Kriege trieb Carl von Clausewitz die allgemein wahrgenommenen kulturellen und intellektuellen Unterschiede zwischen Zivilisierten und Unzivilisierten in seiner zum Klassiker avancierten Abhandlung aus dem frühen 19.  Jahrhundert auf neue Höhen. »Sind die Kriege gebildeter Völker viel weniger grausam und zerstörend als die der ungebildeten«, schrieb er, »so liegt das in dem gesellschaftlichem Zustande, sowohl der Staaten in sich, als unter sich. Aus diesem Zustande und seinen Verhältnissen geht der Krieg hervor, durch ihn wird er bedingt, eingeengt, ermäßigt […]. Der Kampf zwischen Menschen besteht eigentlich aus zwei verschiedenen Elementen, dem feindlichen Gefühl und der feindlichen Absicht. Wir haben das letztere dieser beiden Elemente zum Merkmal unserer Definition gewählt, weil es das allgemeine ist. Man kann sich auch die roheste, an Instinkt gränzende [sic] Leidenschaft des Hasses nicht ohne feindliche Absicht denken, dagegen gibt es viele feindliche Absichten, die von gar keiner, oder von wenigstens keiner vorherrschenden Feindschaft der Gefühle begleitet sind.«77

Letztlich herrschten »bei rohen Völkern […] die dem Gemüth, bei Gebildeten die dem Verstande angehörenden Absichten vor.«78. Wenn es auch stimmen mag, dass selbst »die gebildeten Völker […] gegenseitig leidenschaftlich entbrennen«79 können, unterschieden sie sich doch in ihrer Fähigkeit zur Minimierung solcher Leidenschaften und Gefühle bei Entscheidungen über Krieg oder Frieden sowie bei Kriegsgefechten selbst.

75 Lugard, Dual Mandate, S. 574 f. 76 Berkeley, The Campaign of Adowa, S. 47. 77 Carl von Clausewitz, Vom Kriege. Hinterlassenes Werk, Bd. 1, 2Berlin 1853, S. 5. 78 Ebd. 79 Ebd.

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»Finden wir also, daß gebildete Völker den Gefangenen nicht den Tod geben, Stadt und Land nicht zerstören, so ist es, weil sich die Intelligenz in ihrer Kriegsführung mehr mischt, und ihnen wirksame Mittel zur Anwendung der Gewalt gelehrt hat, als diese rohe Aeußerungen des Instinkts.«80

Ab dem späten 19. Jahrhundert fanden einige Schlüsselelemente dieser Theorie Eingang in ethnographische und anthropologische Studien. James A. Farrer mag im Jahr 1880 den Gedanken gehabt haben, dass der Begriff ›zivilisierte Kriegsführung‹ ein Widerspruch in sich sei und dass Kriegsführung, »auch wenn sie unterschiedlich starke Grade an Barbarei und Grausamkeit aufweisen kann […] nur in der gleichen Weise zivilisiert sein kann, wie ein Kreis ein­ Quadrat sein kann«.81 Er mag auch Hobbes’ Gedanken abgelehnt haben, dass der Naturzustand des Menschen im Kriege oder in gewaltvoller Anarchie liege und dass es in der Kriegskunst »zahlreiche Überschneidungen zwischen Zivilisiertheit und Wildheit gibt«.82 Dennoch hat Farrer ›Zivilisation‹ klar von ›Wildheit‹ unterschieden, und zwar innerhalb des Bezugsrahmens seiner Theorie ebenso wie in dem Sinne, dass er die zivilisierte und nicht die primitive Welt dazu imstande glaubte, Kriege zu beenden, was auch sein abschließender Aufruf war. Ethnographen und Anthropologen der frühen Kolonialzeit wie auch darüber hinaus waren zunehmend vom Studium des ›wilden‹ oder ›primitiven‹ Krieges fasziniert, das oft zum Teilgebiet breiterer Theorien über die Natur ›primitiver‹ Gewalt und Brutalität wurde. In der Tat schienen Tod und Gewalt zum alltäglichen Funktionieren des Staatsgeschäfts zu gehören und waren oft in einer Myriade primitiver und wilder Bräuche und Rituale anwesend. Zumindest implizit wurde solche Gewalt für gewöhnlich als die Quintessenz der afrikanischen Gesellschaft und als afrikanische Daseinsbedingung schlechthin betrachtet und wie wir gesehen haben, diente sie auch der Rechtfertigung des Imperialismus dieser Zeit. Oft ebneten Missionare hierfür den Weg: John Roscoe mag ein Bewunderer der Ganda gewesen sein, ließ sich davon jedoch in keiner Weise abhalten, in mühsamer Akribie die Gräuel und Plagen nachzuzeichnen, die das Leben in diesem Königreich kennzeichneten und erschwerten.83 Von Kriegsritualen ging eine besonders tiefe Faszination aus, wie an dem Werk von Roscoes Mentor Sir James Frazer erkennbar ist, dessen Klassiker aus dem Jahr 1922 ein regelrechtes Sammelsurium von Fantastereien und blutigen Ritualen enthält.84 So äßen die ›Bergvölker Südostafrikas‹ die Körperteile derjenigen ihrer getöteten Feinde, die sich im Kampf besonders tapfer gezeigt hätten. In ähnlicher Weise hätten die Kommandanten der Asante das Herz von General McCarthy 80 Ebd., S. 5 f. 81 James Anson Farrer, Savage and Civilised Warfare, in: Journal of the Anthropological Institute 9 (1880), S. 358–369, hier S. 358. 82 Ebd., S. 366 f. 83 John Roscoe, The Baganda. An Account of Their Native Customs and Beliefs, London 1911. 84 James Frazer, The Golden Bough, Ware 1993.

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verspeist, bevor sie das getrocknete Fleisch des getöteten Offiziers unter ihren Untergebenen verteilten.85 In mancherlei Hinsicht entwickelte Frazer eine neue Form des ›Naturmenschen‹ oder des ›edlen Wilden‹, des von magischen Ritualen durchdrängten wilden Kämpfers und bekräftigte so die Dunkelheit dieses in einem Kreis seltsamer Gewalt gefangenen Kontinents. In den 1920er Jahren war die wissenschaftliche Suche nach Ordnung und Struktur  – oder zumindest nach Ritualen  – in den Handlungen der Wilden voll in Gang gekommen. Vor allem unter marxistisch ausgerichteten Gelehrten bestand das Ziel dabei zu einem gewissen Teil darin, die ihrem Verhalten zugrunde liegende ökonomische Rationalität zu entdecken. Allerdings müssen diese wissenschaftlichen Unternehmungen auch in ihrem historischen Kontext, nämlich dem mit dem kollektiven Trauma nach dem Ersten Weltkrieg einhergehenden Pazifismus, gesehen werden. Dabei sind zwischen all der Rhetorik, die heute schlichtweg als dogmatisches Gerede abgetan wird, einige Denkmuster besonders erwähnenswert. Max Schmidts Suche nach den wirtschaftlichen Grundprinzipien der Naturvölker brachte ihn zu der Überlegung, dass, auch wenn ihre Gewalt an sich zunächst nichts mit Wirtschaft zu tun zu haben schien, »der Verlust jedes Menschenlebens […] auch den Verlust von Arbeitskraft bedeutet« und dass Auseinandersetzungen, »die an sich keine wirtschaftlichen Handlungen sind, daher nichtsdestoweniger von hoher ökonomischer Bedeutung für die betroffenen Gruppen sein können«.86 Schmidt fragte sich jedoch, ob diese Gewalt tatsächlich die Titulierung Krieg rechtfertigte und lässt hierbei seinen westlichen Einfluss erkennen: »Da es sich bei Krieg als solchem voll und ganz um ein Konzept des internationalen Gesetzes handelt, müssen bestimmte Kriterien erfüllt sein, bevor zwischenmenschliche Auseinandersetzungen als Kriege bezeichnet werden können.« »Der gewöhnlichen Sichtweise des internationalen Gesetzes nach handelt es sich bei Krieg um eine bewaffnete Selbstverteidigung von Staaten, bei der Rechte verteidigt werden, die nicht mehr mit friedlichen Mitteln garantiert werden können. Nach dieser Definition kann der Begriff Krieg nur auf solche Auseinandersetzungen angewendet werden, die von einem Staat im eigentlichen Sinn ausgetragen werden und die […] gegen einen Staat im eigentlichen Sinn gerichtet sind. Folglich können die häufigen Rachefeldzüge oder Fehden zwischen einheimischen Familiengruppen nicht als Kriege bezeichnet werden.«87

Schmidt argumentierte, dass Krieg dazu diente, »Gesetze wirtschaftlichen Austausches zu garantieren« und dass folglich nur in Gesellschaften »auf niedrigem Zivilisationsniveau«, die ökonomisch noch nicht ausreichend gefestigt wären, »Krieg eine wirtschaftliche Rechtfertigung besitzt«; überall sonst wäre dies 85 Ebd., S. 497. 86 Max Schmidt, The Primitive Races of Mankind. A Study of Ethnology, London 1926, S. 170. 87 Ebd., S. 171.

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nicht der Fall, denn avancierte Nationen bewegten sich bereits im Rahmenwerk des internationalen Gesetzes, das diese wirtschaftlichen Beziehungen garantierte. Nach diesem Eintritt »wiegen die destruktiven Wirkungen des Krieges so viel schwerer als seine konstruktiven Ergebnisse, dass der Krieg zwischen solchen Völkern jede wirtschaftliche Rechtfertigung verloren hat«.88 Dieser hellsichtige Gedanke war zweifellos von den Erfahrungen des Ersten Weltkrieges beeinflusst. In den späten 1920er Jahren beschäftigte sich Robert Lowie mit der formelhaften und rituellen Herangehensweise der amerikanischen Indianer an Konflikte. Lowie ging auf den »Rivalitätsgeist, der die Foxes und die Lumpwoods animierte« ein, aber betonte auch, dass es »keine Spur persönlicher Feindseligkeit in ihrer Beziehung«, die durch »streng definierte […] Spiele« geprägt wäre, gab.89 Diese Art von primitivem Krieg scheine klar in das Feld »Krieg-zum-Zeitvertreib« zu gehören. Daneben gäbe es bei den Prärieindianern jedoch auch ein urzeitliches Verlangen nach »militärischem Ansehen«, das »so exorbitant war wie der Durst nach Gold in unseren geldgierigsten Hochfinanzzentren jemals werden konnte«. Bei dieser Tätigkeit verbände sich Irrationalität mit ritueller Ordnung – so oft die Hauptkennzeichen ›primitiven Krieges‹. Die Prärieindianer »warfen bei ihrer Jagd nach dem begehrten Ruhm […] jegliche Bedenken über Bord, riskierten bei sinnlosen Heldentaten Leib und Leben. Diese mussten zudem noch ein herkömmliches Muster erfüllen, um als Heroismus zu gelten«.90 Dazu gehörten der Diebstahl eines Pferdes, die Ergreifung der gegnerischen Waffe im Nahkampf, der Angriff eines Feindes mit einer Waffe oder der bloßen Hand oder – in Lowies Liste kurioserweise an letzter Stelle genannt – die Anführung »eines siegreichen Feldzugs«. Bei solchen Handlungen, durch welche ein Indianer seine Stellung aufbessern könnte,91 würden Auseinandersetzungen also zu Heldenspielen, zu einem Tanz mit dem Tod. Turney-Highs mustergültige Studie über ›primitiven Krieg‹ aus den späten 1940er Jahren steht in direkter Kontinuität zu den im 19. Jahrhundert von Callwell, Frazer, Schmidt und Lowie aufgestellten Interpretationen der afrikanischen Konflikte. Mehr als ein Jahrhundert nach Clausewitz wiederholte Turney-High einige der wichtigsten Ideen des Preußen und ergänzte sie mit neuen Gedanken: »Analphabeten ziehen mit einer gänzlich anderen Motivation in den Krieg als Zivilisierte. Unabhängig von der Identität oder jeweiligen Effizienz der betrachteten Kultur erscheint eine Verallgemeinerung zulässig: Die Zivilisierten gehen kälter und kalkulierter vor als die Analphabeten. Zivilisierter Krieg muss sich nicht primär aus Hass ableiten, auch ein Mangelgefühl kann ausreichen […]. Im Wesentlichen ist der Hauptgrund für Krieg bei den Zivilisierten immer entweder explizit ökonomischer Natur 88 Ebd. 89 Robert Harry Lowie, Primitive Society, London 1929, S. 276 f. 90 Ebd., S. 325. 91 Ebd., S. 326.

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oder seine eigentlich wirtschaftliche Natur wird durch Politisches überdeckt. Im prämetallurgischen Krieg dagegen spielten wirtschaftliche Aspekte bloß eine geringe oder gar keine Rolle.«92

Auch wenn er den Afrikanern in ihren Kriegen bemerkenswerterweise eine höhere wirtschaftliche Motivation zuschrieb als den indigenen Nordamerikanern oder den Polynesiern,93 ist seine Aussage ausreichend deutlich. Es ging ihm um die früheren Auseinandersetzungen von Anthropologen mit der wirtschaftlichen oder materiellen Grundlage von ›primitiven Kriegen‹. Natürlich gäbe es auch viele andere Gründe für die Primitivität dieser Kriegsform. Von höchster Bedeutung dabei wäre beispielsweise der Mangel an Selbstdisziplin: So behauptete Turney-High, dass der »primitive Krieger zu einem großen Teil deshalb primitiv bliebe, weil er jegliche Disziplin verweigerte.«94 Fehlende Professionalität wäre ebenfalls ein großes Problem, denn schließlich gehörte »die Existenz einer militärischen Kaste oder Klasse, die permanent auf einer kriegerischen Basis operiert, zu den Wegen, die aus der Primitivität herausführten«, weshalb professioneller Militarismus auch Modernität mit sich bringen könnte. Turney-High bemerkte jedoch, dass ein solcher Prozess in manchen Gesellschaften der Prärieindianer, in Melanesien sowie im subsaharischen Afrika bereits eingesetzt hätte.95 Gewiss kann es wenig Zweifel darüber geben, dass die zunehmende ›Modernisierung‹ und ›Professionalisierung‹ des westlichen Militärs und der westlichen Kriegsführung auch eine neue Wahrnehmung des ›primitiven‹ Krieges mit sich brachte, was auch in einigen Überlegungen von Turney-High deutlich wird. So gehört zu seinen Mantras die Unfähigkeit der meisten primitiven Gesellschaften zur Nutzung ihrer Vorteile, zur totalen Vernichtung des Feindes sowie zum ›totalen Krieg‹ oder überhaupt zu etwas, das ›Krieg‹ auch nur nahe kam. Er sprach daher von kulturellen Beschränkungen bei der Kriegsführung und einer kulturellen Rückständigkeit, die der Entfaltung eines wahren Krieges entgegenstehe. Er bemerkte beispielsweise, dass »sich die große Mehrzahl der amerikanischen Stämme zu ihren Feinden so verhielt wie das amerikanische Jagdrecht zu Wild: Wenn man sie alle auf der Stelle umbringt, welches Vergnügen bleibt dann noch für die Zukunft? Sie scheiterten immer wieder darin, Triumphe auszubauen und für sich zu nutzen und Erbfeinde für immer zu beseitigen.«96 Alles in allem »war primitiver Krieg, trotz aller Herumtanzerei, trotz aller Ehrenhandlungen, trotz aller Skalpierungen und Kopfjagd bemerkenswert friedlich. Vielleicht liegt das daran, dass er so selten rein ökonomisch motiviert war«.97 Warum dies so wäre und derartige Kriege primitiv blieben, hinge in erster Linie 92 Harry Holbert Turney-High, Primitive War. Its Practice and Concepts, Columbia 1949, S. 169. 93 Ebd., S. 170 f. 94 Ebd., S. 82. 95 Ebd., S. 87. 96 Ebd., S. 103 f. 97 Ebd., S. 186.

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von den materiellen Errungenschaften der einzelnen Kulturen ab: »Der größte Beweis für die Überlegenheit zivilisierter über primitive Kulturen kann darin gesehen werden, dass der Zivilisierte, wie bescheiden er auch leben mag, wahrscheinlich immer noch mehr hat, für das es sich zu leben lohnt, als der Wilde.«98 Im Anschluss an seine Analyse hinsichtlich fehlender Organisation, fehlender Taktik und fehlender Disziplin fasst Turney-High zusammen: »Am Ende läuft alles darauf hinaus, dass der unzivilisierte Kämpfer kein Soldat und seine Kriegsführung überhaupt kein Krieg ist; sein Abschlachten ist vergeblich und primitiv, denn sein Vorgehen ist unorganisiert und seine Führungs- und Befehlsqualitäten sind kaum vorhanden.«99

Später brachte Max Gluckman eine neue Komplexität in die Debatte: »Konflikte«, erklärte er in einer öffentlichen Vorlesung, die später publiziert wurde, »sind Teil des sozialen Lebens und auch wenn sie durch ihre Ritualisierung verschlimmert zu werden scheinen, verhindert diese im Grunde doch, dass die Konflikte das ganze soziale Gefüge zerstören.«100 An anderer Stelle beschrieb er »ein Rebellionsritual, einen institutionalisierten Protest, der zunächst gegen die etablierte Ordnung gerichtet zu sein scheint, aber eigentlich auf die Festigung dieser Ordnung und auf Wohlstand abzielt und deshalb von der ehrwürdigen Tradition geradezu eingefordert wird.«101 Seine Kernidee war, dass ›Rebellion‹, ›Konflikt‹ und ›Fehde‹ sowohl institutionell als auch kulturell erzwungen waren. Mitte der 1960er Jahre betonte Gluckman jedoch die den nichteuropäischen Militärorganisationen eigene Komplexität und erläuterte sie mit viel Liebe zum Detail in verschiedenen Staaten und Gesellschaften, angefangen bei den Comanche und Cheyenne in Nordamerika bis nach Ruanda und Buganda in Ostafrika.102 Auch wenn eine solche institutionelle und organisatorische Komplexität schon von anderen Gelehrten anerkannt worden war, brachten Gluckmans Arbeiten zeitgleich mit der Entstehung der afrikanischen Geschichte als eigener akademischer Disziplin eine ungekannte Schlagkraft in ihre Beleuchtungsversuche. Turney-High gelangte zu dem Schluss, dass die Bildung von ›Staaten‹ ebenso wenig notwendigerweise ein größeres Gewaltpotential mit sich brachte wie eine ›Stammesordnung‹ Blutvergießen verhindern konnte. Es sei irreführend anzunehmen, »dass das Aufkommen des Staates mehr Kriege in die Welt gebracht hätte und es gibt auch keinerlei Grund, die Abschaffung des Nationalstaates mit der Abschaffung des institutionalisierten Abschlachtens gleichzusetzen.«103 Hierin erinnert Turney-High an die Debatte über die Natur von ›Zivilisation‹ und ›Gesellschaft‹ zwischen Hobbes und Rousseau. Folglich können zwischen 98 Ebd., S. 210. 99 Ebd., S. 227. 100 Max Gluckman, Custom and Conflict in Africa, Oxford 1960, S. 2. 101 Ders., Order and Rebellion in Tribal Africa, London 1963, S. 114. 102 Vgl. Ders., Politics, Law and Ritual in Tribal Society, Oxford 1965. 103 Turney-High, Primitive War, S. 231.

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den verschiedenen Wahrnehmungen von ›primitivem Krieg‹ im Laufe der Zeit einige Spannungen festgestellt werden. Für Clausewitz machte gerade das Element der ökonomischen und intellektuellen Rationalität den ›zivilisierten Krieg‹ weniger destruktiv als den ›Krieg der Wilden‹. Clausewitz glaubte zwar, dass Krieg immer auf die totale Vernichtung des Gegners abzielen sollte, war sich aber auch der diversen Einschränkungen in der Ausübung von zwischenstaatlicher Gewalt bewusst. Der Clausewitzsche Krieg war präzise, wohlüberlegt, ja beinahe – wenn auch, wie er selbst zugestand, niemals gänzlich – wissenschaftlich. Turney-High spiegelt jene Denkrichtung wider, die indigene Kriegsführung als ›zahm‹ und – zumindest an den Standards der zweckmäßigen europäischen Politik- und Militärkultur gemessen  – eher nutzlos betrachtete. In ähnlicher Weise begriff Gluckman, welchen Einfluss althergebrachte Traditionen auf afrikanische Gewalt ausübten. Gleichzeitig wurden zahlreiche Stimmen laut, die die verheerenden Auswirkungen des Sklavenhandels auf beiden Seiten des Kontinents betonten und die sich Clausewitz’ Diagnose von mutwilliger Gewalt und schlimmerer blindwütiger Zerstörung in primitiven afrikanischen Kulturen und Gesellschaften anschlossen. Wie Turney-High und andere erkannten, lag in alldem eine, wenngleich widerwärtige, ökonomische Rationalität. Clausewitz ging es selbstverständlich eher um Krieg als um Wilde. In seiner theoretischen Suche nach dem ›wahren Krieg‹ – womit er, sehr allgemein gesprochen, den Krieg des Rittertums, des Menschlichen und des Verstandes meinte – erkannte er, dass man diese Art von Kriegsführung kaum von unzivilisierten Völkern erwarten könnte. Diese würden eher eine Art von Kampf betreiben, die Clausewitz als ›wirklichen Krieg‹ bezeichnete, womit jener schäbigere, ungeordnete und inhärent barbarische Krieg gemeint ist, der die Austragung von Konflikten im Verlauf der Menschheitsgeschichte am häufigsten gekennzeichnet hat.104 Andere Beobachter legten den Schwerpunkt eher auf die ›Wilden‹ als auf Krieg per se. Während es Clausewitz um die Unterscheidung von verschiedenen Kriegsformen, -idealen und -paradigmen ging, wollten Missionare, Reisende und Ethnographen des späten 19. und eines Großteils des 20. Jahrhunderts das Gleiche für die menschliche Gesellschaft tun. Gemeinsam war ihnen jedoch allen, dass sie explizit Verbindungen zwischen Gewaltformen und Zivilisationsgraden zogen.

5. Schlussfolgerungen: ›Wilde mit Speeren‹ und andere Gewaltvisionen Von der Antike bis hin zur Moderne geben Interpretationen fremder Kriegsführungen breiten Aufschluss über die grundsätzliche Wahrnehmung anderer Gesellschaften und Kulturen. Urteile über den Einsatz und die Art von Gewalt sowie über das Ausmaß, in dem Gewalt als charakteristisch für bestimmte Gesellschaften betrachtet wird, haben mit den ihnen zugrunde liegenden imperia104 Vgl. John Keegan, A History of Warfare, London 1993, S. 12 ff.

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listischen Ideologien von rassischer oder ethnischer Überlegenheit den Aufbau zahlreicher Nationen bestimmt. So haben Wahrnehmungen und Vorstellungen von Krieg und Militarismus in anderen Gesellschaften und Kulturen beispielsweise das europäische Denken über die eigene Kriegsführung im 19. und 20. Jahrhundert beeinflusst. Daher ist es möglich, im Kontext von Militarismus, Krieg und anderen Gewaltformen die unterbewusste (oder anderweitig strukturierte) Spiegelung von Vorstellungen über ›eingeborene‹ Kulturen in der europäischen Gesellschaft zu erkennen. Das Studium der angenommenen Verbindung zwischen Krieg auf der einen und Rasse und Kultur auf der anderen Seite könnte dabei helfen, Veränderungen im Denken über nichteuropäischen Krieg, über sogenannten ›primitiven Krieg‹ und über Unzivilisiertheit in einem breiteren Sinne aufzuspüren. Diese Veränderungen wiederum hängen mit Verschiebungen im europäischen Denken über die Legitimität und den Gebrauch von Gewalt zusammen. Eine Untersuchung der wichtigsten Stränge im politischen Denken und Schreiben, insbesondere im Zeitalter von Europas Expansionen in Übersee, offenbart das Ausmaß, in dem Krieg zu jener Zeit zur Definition des ›Fremden‹ und ›Wilden‹ benutzt wurde. Darüber hinaus soll hier argumentiert werden, dass ein solcher Ansatz auch ein tieferes Verständnis der kulturellen und politischen Zusammenhänge des ›westlichen‹ Schreibens über die nicht­ euro­päische Welt erleichtert. Veränderungen in der Wahrnehmung nichteuropäischer Gewalt und Kriegsführung haben auf Veränderungen in der Wahrnehmung der nichteuropäischen Welt in einem breiteren Sinne verwiesen; die Kampfmethoden und Gewaltziele von ›eingeborenen‹ Kulturen, die in der Peripherie der großen Menschheitsgeschichte verortet werden, wurden abgeurteilt und von ›zivilisierter‹ Kriegsführung abgegrenzt  – all dies in der Regel innerhalb gewisser rassischer Paradigmen und parallel zu Europas imperialer Expansion. Auf diese Weise verwandelte sich die frühe Bewunderung der eingeborenen Amerikaner und ihrer mutmaßlichen Ehren- und Ritterlichkeitskodizes in eine Vorstellung, in der sie bloß noch Wilde waren. Dieser Unterscheidungsprozess zwischen zivilisierter und primitiver Kriegsführung findet ein Echo in Morus’ Werk, in dem die Utopisten, die den Krieg selbst verabscheuten, ihre brutalen und brutalisierten Nachbarn benutzten, um sie für sich kämpfen zu lassen. Für Machiavelli spielte der Staat eine zentrale Rolle in der Aufrechterhaltung der Ordnung sowohl im Krieg als auch in der Politik und Gesellschaft; im 19. Jahrhundert sollte dieses Konzept höchst relevant werden, als die afrikanischen ›Staaten‹ als dieser Bezeichnung kaum würdig betrachtet wurden. Hobbes hingegen betrachtete das Kriegerische als die natürliche und ursprüngliche Daseinsbedingung des Menschen, die erst durch das Aufkommen des Staates aufgehoben werden konnte. Auch wenn Montesquieu und Rousseau im Anschluss in eloquenter Weise für die essentiell friedliche Natur des ›primitiven Menschen‹ und die grundsätzlich kriegerische Disposition eines jeden Staates argumentiert haben mögen, wurden am Ende des 18. Jahrhunderts sämtliche Vorstellungen einer ›edlen Wildheit‹ zunehmend kritisch betrachtet.

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Der Bezugsrahmen der Debatte veränderte sich einmal mehr, als sich im 19.  Jahrhundert im Zuge der Diskussionen um den Sklavenhandel rassische Einstellungen verfestigten. Sowohl Befürworter als auch Gegner des Sklavenhandels stimmten darin überein, dass Afrikaner ihrer Natur nach minderwertig und primitiv seien, waren jedoch unterschiedlicher Auffassung, wenn es um den Ursprung der Gewalt auf dem Kontinent ging; alles in allem neigte man jedoch zunehmend dazu, diese Gewalt ebenfalls als Merkmal der afrikanischen Seele zu betrachten. So wurde der Kontinent zunehmend mit unaufhörlicher und häufig blindwütiger Gewalt gleichgesetzt, er wurde zu einer Art ›AntiEuropa‹, zu einer mahnenden Vision dessen, was passieren könnte, wenn die Zivilisation aus irgendeinem Grunde auseinanderbrechen sollte. Folglich musste diese Gewalt vernichtet und diejenigen, die sie ausübten, geläutert werden – eine Mission, die der militärischen und moralischen Macht Europas weitere Geltungskraft verlieh. Die ›eingeborene‹ Gewalt rechtfertigte also Europas imperiale Gewalt, da diese auf Zivilisierung abzielte; auf diese Weise entstand eine moralische Hegemonialstellung, bei der die Wahrnehmung von Krieg und Gewalt das Denken über ›Rasse‹, ›Kultur‹ und die nichteuropäische Welt in einem breiteren Sinne widerspiegelte. Folglich bot der Imperialismus dem britischen Militarismus einen Schauplatz, auf dem er trotz aller Kritik als gerechtfertigt erscheinen und sogar zelebriert werden konnte. Die ›Wissenschaft‹ arbeitete indes daran, in Nachfolge von Clausewitz ›primitiven‹ von ›zivilisiertem‹ Krieg ab­ zugrenzen; und Gewalt, ob sie nun ritualisiert oder zufällig erfolgte, ob sie zerstörerisch wirkte oder trivialisiert werden konnte, wurde dabei häufig im Herzen der ›primitiven‹, ›eingeborenen‹ Gesellschaft verortet. Übersetzt von Daniel Schneider

David Pratten*

Die ›Leopardenmorde‹ im kolonialen Nigeria Die folgende Geschichte ist in der sich rapide wandelnden Landschaft der nigerianischen Nachkriegspolitik angesiedelt und kreist um jene Ereignisse, die von der britischen Presse 1947 als »seltsamste, größte Morduntersuchung der Welt«1 beschrieben wurden. Zwischen 1943 und 1948 wurden in einer abgelegenen Gegend im Südosten Nigerias beinahe zweihundert mysteriöse Todesfälle verzeichnet und am Ende der Untersuchung hatten die britischen Behörden 77 Menschen wegen Mordes hingerichtet. Die Todesfälle ereigneten sich in den Bezirken Abak und Opobo unterhalb der Provinz Calabar im südlichen Lebensraum der Annang und zählen zu den letzten Morden in Afrika, die der Leopardenmenschen-Gruppierung oder einer ähnlichen theriomorphen Sekte zugeordnet wurden.2 Dabei bestanden angesichts der bei den Attacken vorgenommenen Verstümmelungen, die sonst nur nach Leopardenangriffen auftreten, von Beginn an Zweifel darüber, ob es sich bei den Tätern um Menschen oder Tiere handelte. Die Gestaltveränderung, zu der man die Mörder imstande glaubte (in Annang waren sie deshalb auch als ekpe-owo, als ›Leopardenmänner‹, bekannt), verstärkten * Dieser Beitrag basiert auf: The District Clerk and the ›Man-Leopard Murders‹. Mediating Law and Authority in Colonial Nigeria, in: Benjamin N. Lawrance u. a. (Hg.), Intermedi­ aries, Interpreters and Clerks. African Employees and the Making of Colonial Africa, Madison 2006, S. 220–247. 1 Daily Mail, 30. Juni 1947. 2 In mehreren an der Küste gelegenen westafrikanischen Staaten, darunter Liberia, Sierra Leone, Gabun und Senegal, hatten sich zwischen den 1880er und 1920er Jahren Mordfälle ereignet, die durch am Opfer simulierte Verletzungen durch Raubtiere vertuscht werden sollten und die mit Gruppierungen von Leopardenmenschen, Alligatorenmenschen und Pavianmenschen in Verbindung gebracht wurden. Den Geständnissen vor Gericht zufolge handelte es sich dabei um Geheimbünde, deren Mitglieder Menschenfleisch aßen und es für Talismane verwendeten, um reich und mächtig zu werden. Andere dieser ›Raubkatzenmorde‹ stellten sich als politisch motiviert heraus. Im Kongo der 1930er Jahre etwa zogen die belgischen Behörden mit einer groß angelegten Kampagne gegen LeopardenmenschenMörder, sogenannte wahokohoko, zu Felde. Dabei handelte es sich um hochspezialisierte Mörder, die von bedeutenden Führern in einem Konflikt zwischen verschiedenen Clans engagiert wurden. Zeitgleich mit den Ereignissen in Nigeria im Jahr 1947 wurden in der Region Turu in der Provinz Singida im Zentrum von Tanganyika 103 Sterbefälle mit Löwenmenschen (mbojo) in Verbindung gebracht. Für eine Übersicht vgl. Birger Lindskog, African Leopard Men, Uppsala 1954 sowie Paul-Ernest Joset, Les sociétés s­ecrétes. Des hommes-léopards en Afrique Noire, Paris 1955; bezüglich der Morde in der Provinz Calabar siehe Geoffrey I. Nwaka, The ›Leopard‹ Killings of Southern Anang, Nigeria, 1943–48, in: Africa 56 (1986), S. 417–440.

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die Aura des Mysteriösen noch, die den Fall aufgrund seiner widersprüchlichen und fragilen Beweislage ohnehin umgab. Gegen Ende der Untersuchung fürchteten viele Beteiligte, dass die ›Leopardenmorde‹ niemals vollständig aufgeklärt werden würden.3 Klar war allein das offizielle Urteil, das der Staatssekretär der Kolonien dem Parlament am 10. Februar 1948 vorlegte, dem zufolge das tatsächliche Motiv hinter all den Morden ritueller Natur war. Dieser Aufsatz wird versuchen nachzuzeichnen, aus welchen Gründen die Leopardenmorde in Nigeria als Ritualmorde eingestuft wurden, obwohl sie es aller Wahrscheinlichkeit nach nicht waren. Dabei lasse ich mich vom Geist des verstorbenen französischen Religionshistorikers Michel de Certeau inspirieren, der einmal schrieb: »Geschichte ist niemals eindeutig oder sicher. Der Historiker übt keinerlei polizeiliche Gewalt über die Vergangenheit aus. Seine Rolle ist viel bescheidener und subtiler. Der Historiker hat nicht die Aufgabe, die Wahrheit zu sprechen, sondern ›die Unwahrheit zu erkennen‹.«4

In diesem bescheidenen Geist – das Falsche, Unwahre zu erkennen – werde ich die These aufstellen, dass die Ritualmord-Kategorisierung mehr als ein Reflex der kolonialen Fantasie war. Auch wenn sie mit allzu großer Entschlossenheit vollzogen wurde, würde eine hierauf reduzierte Beschreibung der Ereignisse die Historizität dieser Klassifizierung vernachlässigen. Zudem würde sie die Tat­ sache außer Acht lassen, dass die Kategorie ›Ritualmord‹ nicht nur von der Polizei und den Kolonialoffizieren geprägt und reflektiert wurde, sondern ebenso von nigerianischen Justizangestellten, chiefs, der gebildeten Elite sowie von auf dem gesamten afrikanischen Kontinent zirkulierenden Mord-Erzählungen sowie seiner Unterhaltungsliteratur. Um die Problematik des Ritualmord-Urteils nachzuvollziehen, ist folglich nicht bloß eine Entwirrung jener Prozesse vonnöten, durch welche die Ermittlungsbehörden zu ihren Überzeugungen gelangten, sondern auch ein Verständnis dafür, wie eng verschiedene historisch situierte Narrative miteinander verwoben waren. Während der drei Jahre andauernden Untersuchungen wurden hunderte Polizisten in die betroffenen Bezirke abkommandiert, die ›Menschen-Leopard‹Fälle wurden in Sondersitzungen des Obersten Gerichts verhandelt, Pathologen aus Lagos eingeflogen und forensische Untersuchungen in London durchgeführt. Doch wie jede gute Detektivgeschichte hing der Fall von nur einigen wenigen Personen, ihren Lieblingstheorien und kleinen Intrigen ab. Dieser Personenkreis umfasste den Bezirksoffizier von Abak, Frederick Kay, der als erster den Gerüchten von Leopardenmenschen nachging und die Untersuchungen damit auf diese Fährte lenkte, den leitenden Polizeiinspektor D. S. Fountain, der in seinen wöchentlichen Berichten die Beweislage durchfilterte und analysierte, wichtigen lokalen chiefs wie Obong Udo Ekong, dem seine unerschütterliche 3 Nigerian National Archive, Enugu NAE , ABAKDIST 1/2/88. 4 Michel de Certeau, La Possession de Loudun, Chicago, IL 2000, Vorwort.

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Unterstützung der Behörden während der Krise großes Lob einbrachte, führenden Annang- und Ibibio-Persönlichkeiten wie Dr. Egbert Udo Udoma, der Präsident der Ibibio-Vereinigung, der in die Untersuchung verwickelt wurde und ihre kontroversen Auswirkungen in die nationalistische Politik der 1950er Jahre überführte, sowie den Bezirksoffizier der ›Leopardenregion‹ John McCall, dessen Geheimberichte die gesamte Untersuchung am Ende des Jahres 1947 in Aufruhr versetzten. Dieser Aufsatz wird die Geschichte der ›Leopardenmorde‹ jedoch aus der Perspektive einer anderen Schlüsselfigur der Untersuchung erzählen: Usen Udo Usen. Der Ibibio aus Ikot Offiong in Itu hatte seit 1926 als Übersetzer für M. D. W. Jeffreys, einem Bezirksoffizier und späteren Anthropologen, gearbeitet. Im Jahr 1947 war Usen als Verwaltungsbeamter in Uyo tätig, dem wichtigsten Ort des hauptsächlich von Ibibio bewohnten Bezirks Uyo. Außerhalb seiner Arbeitszeit fungierte Usen als wichtiges Mitglied der führenden ›Fortschrittsunion‹ der Provinz, der Ibibio Union. Die 1928 von Händlern, Lehrern und Büro­angestellten aus den sechs Ibibio- und Annang-Bezirken der Provinz Calabar gegründete Union war in den frühen 1940er Jahren zu einer mächtigen politischen Kraft geworden und speiste ihre Glaubwürdigkeit aus ihren selbstfinanzierten Bildungsprojekten sowie aus ihrem Engagement in der Lokal- und Landespolitik.5 Usen Udo Usen schloss sich der Ibibio Union direkt bei ihrer Gründungssitzung an und wurde 1933 zu ihrem Generalsekretär ernannt – ein Posten, den er bis zum Beginn der Ereignisse von 1947 innehatte. In diesen beiden Funktionen – als Verwaltungsbeamter sowie als Generalsekretär der ­Ibibio Union – wurde Usen Udo Usen in die Untersuchung der Leopardenmorde involviert. Und aus dieser besonderen Doppelposition heraus ergab sich auch sein Dilemma. Am Ende der Untersuchung musste Usen Udo Usen, nachdem er öffentlich aus der Ibibio Union ausgeschlossen worden war, aus der Provinz­ Calabar fliehen. Gerade mal ein Jahr später erhielt er von der Regierung eine Ehrenurkunde für seinen Beitrag zur Beendigung der Mordserie. Da Usen 1949 unter mysteriösen Umständen in Enugu gestorben war, wurde diese Urkunde allerdings posthum verliehen. War Usen Udo Usen ein Lockvogel, der zum Zwecke seiner Beförderung die eigenen Leute betrogen hatte, oder ein Sündenbock, der einer politischen Intrige zum Opfer fiel? Selbst wenn der Hintergrund zu den Ereignissen, die Usen Udo Usens Karriere zunächst ins Rollen brachten und dann beendeten, durchaus außergewöhnlich war, so waren es die Probleme, denen er sich wie jeder Beamte bei der Vermittlung zwischen Gesetzen und Autoritäten gegenübergestellt sah, bestimmt nicht. Usen positionierte sich selbst im Zentrum eines Bündnisses, das sich rhetorisch als bürgerliche Kraft in Szene setzte und öffentlich für die Verteidigung von Ibibio-Rechten sowie für die Sicherung all jener Gewohn5 Monday Efiong Noah, The Ibibio Union 1928–1966, in: Canadian Journal of African Studies 21 (1987), H. 1, S. 38–53; Geoffrey I. Nwaka, The Ibibio Union and Colonial Change, in: Nigeria Magazine 146 (1983), S. 85–94.

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heitsregeln eintrat, aus denen heraus sich die Macht der chiefs wie überhaupt der gesamten politischen Sphären jenseits des Kolonialstaats ergab.6 Dennoch verschoben sich die Machtverhältnisse während der Ereignisse im Jahr 1947 nicht bloß auf schnelle, sondern auch auf unvorhersehbare Weise. So wurde die Autorität der Regierungspolitik beständig von chiefs, Wahrsagern, Bezirksoffizieren, der Polizei, den neuen Eliten und den unwahrscheinlichsten Allianzen zwischen diesen unterschiedlichen Gruppierungen in Frage gestellt. In rechtlicher Hinsicht stießen die forensisch fundierten Kolonialgesetze immer wieder mit gängigen Praktiken zusammen, die sich auf Eide und religiöse Riten stützten, und in kultureller Hinsicht kollidierte und kolludierte die koloniale Rationalität mit heimischen Bräuchen, die das Geheimnisvolle und Übernatürliche betonten. Dieser Aufsatz wird sich auf zwei Aspekte von Usen Udo Usens Rolle in den Untersuchungen der Leopardenmorde konzentrieren: auf seine Rolle in den friedensstiftenden Zeremonien, die während der Hochphasen der Morde in den Ortschaften Annangs stattfanden, sowie auf die politischen Auswirkungen eines seiner Berichte über die Tötungen. Usens Fall macht deutlich, wie sich Verwaltungsbeamte an Diskursen und Mitteln aus landesüblichen, staatsbürgerlichen und kolonialen Sphären zugleich bedienten, um Konsens in den Beziehungen herzustellen, zwischen denen sie vermittelten.

1. Der Tatort Die ›Leopardenmensch‹-Morde fanden in einer flachen, dicht von Ölpalmen bewachsenen Landschaft am Westufer des Flusses Qua Iboe statt. In einem Gebiet mit einem Durchmesser von gerade mal zehn Meilen wurden etwa 130 Annang-­ Ortschaften davon heimgesucht. Dieses Territorium lag zwischen zwei in Richtung Süden zur Küste fließenden ›Ölflüssen‹ und befand sich in Nachbarschaft von Ogoni- und Igbo-Gemeinden südlich und westlich des Flusses Imo sowie zu den Ibibio, die hinter dem nordöstlich gelegenen Fluss Qua Iboe lebten. Auch wenn sich die Annang dialektal von den Ibibio unterschieden, teilten sie mit ihnen ein politisches, wirtschaftliches und kulturelles Wertesystem. In der auf Abstammungen ausgerichteten Gesellschaft der Annang wurde die Macht der Dorfobersten und -räte durch Geheimbünde wie die Leopardengesellschaft (ekpe), das von Vorfahren übernommene Maskenspiel (ekpo) und den Kriegerkult (ekong) ausgeglichen.7 Trotz der wirtschaftlichen Bedeutung dieses an Ölpalmen reichen Hinterlandes bildeten die Orte, an denen die Morde geschahen, 6 Mahmood Mamdani, Citizen and Subject. Contemporary Africa and the Legacy of Late Colonialism, Princeton 1996, S. 54. 7 Während der anfänglichen kolonialen Eingliederung in den 1910er Jahren wurden nur äußerst wenige clan heads aus männlichen Erbfolgelinien, sogenannte okku, mitsamt ihren Vollmachten anerkannt. Dennoch wird dieser Titel seitdem häufig von Ortsvorstehern gebraucht.

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ein administrativ entlegenes Kaff fernab des politischen und kommerziellen Knotenpunktes Calabar. Das Grenzgebiet zwischen Opobo und dem Sektor Abak wurde für seine Gesetzlosigkeit und Widerspenstigkeit bekannt, die in den Augen der Kolonialherren am Ende des Jahres 1929 mit der Ausweitung des »Frauenkrieges« in diese Bezirke kulminierte. In den Jahren vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges war die Provinz Calabar radikalen politischen, wirtschaftlichen und religiösen Unruhen ausgesetzt. Reformen der Ortsgerichte und -räte, die eigentlich Zerwürfnisse zwischen den Generationen infolge des »Frauenkrieges« lösen sollten, machten die Gerichte und Gremien zu Orten erbitterten politischen Wettstreits. Einheimische Gerichte, die für die Repräsentanten bestimmter Dynastien gedacht waren, wurden durch ehemalige Anführer und »andere resolute, energische und skrupellose junge Männer, die sich selbst die Macht und das Recht zur Verhandlung juristischer Fälle zugesprochen hatten«,8 usurpiert. Die Kontrolle über lokale Steuereinnahmen machte einen Sitz in den örtlichen Gremien und Gerichten für neue Eliten und Stammesälteste gleichermaßen begehrt, und die »KomiteeKlasse« junger Männer, die eine »lautstarke, Briefe schreibende Minderheit« darstellten, bildete progressiv ausgerichtete Wohlfahrtsgesellschaften, um öffentlich die Korruption der einheimischen Verwaltung anzuprangern, sich dabei aber insgeheim ihr eigenes »Trinkgeld« zu sichern. In wirtschaftlicher Hinsicht wirkten sich die steigenden Lebenskosten, der Sturz der Palmenölpreise in den späten 1930er Jahren sowie der in den frühen 1940er Jahren sinkende Wechselkurs der einheimischen Manillen-Währung auf Güterproduzenten und Angestellte im Öffentlichen Dienst gleichermaßen aus.9 Insbesondere bei einer Frauenrevolte gegen überhöhte Steuern im November 1944 in der Nachbarprovinz Ikot Ekpene kamen Klagen über die akute wirtschaftliche Not zum Vorschein. In religiöser Hinsicht wurden die Kriegsjahre vor allem von drei Faktoren bestimmt: die angenommene Rückkehr der Geheimbünde zu Praktiken der Selbstjustiz; die gemeinschaftlich abgestimmte Mission, solche Gesellschaften zu kriminalisieren; sowie eine augenscheinliche Krise der idiong, der göttlichen Ordnung der Annang, deren Weissagungshoheit von aufkommenden ›spirituellen Kirchen‹ wie der »Christ Army« und den »Sabbath Kirchen« in Frage gestellt wurde.10 8 NAE , CSE 1/85/4905A. 9 Vgl. Ben Naanen, Economy within an economy. The Manilla Currency, Exchange Rate Instability and Social Conditions in South-Eastern Nigeria, 1900–48, in: Journal of African History 34 (1993), H. 3, S. 425–446. 10 In den 1940er Jahren verklagten einige idiong ihre christlichen Nachfolger auf Erstattung der ihnen entgangenen Initiationsgelder, NAE , CALPROF 3/1/1955. Die »Christ Army« und die »Sabbath Church« drangen von den Handelshäfen Bonny und Opobo aus bis ins Hinterland der Annang vor, indem sie nicht bloß den Formalismus der Qua Iboe Mission ausnutzten, sondern ebenso den synkretischen, charismatischen Impuls des ›Spirit Movement‹, der die Provinz 1927 und in den 1930er Jahren erfasst hatte. Vgl. Monday B. Abasiattai, The Oberi Okaime Christian Mission. Towards a History of an Ibibio Independent Church, in: Africa 59 (1989), H. 4, S. 496–516.

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Zusammen mit unmittelbaren Kriegsfolgen wie Güterknappheit, Ausfall im Verwaltungspersonal und Demobilisierungsprozessen machten diese Entwicklungen die soziale Landschaft aus, in der die ›Leopardenmorde‹ stattfanden. Aber ihre Gestalt erhielten die Morde vor allem aus der physischen Landschaft. Der dichtbewachsene Ölpalmen-Gürtel im südlichen Territorium der Annang war ein natürliches Leopardenhabitat, und so fiel es schwer, tatsächliche von simulierten Leopardenangriffen zu unterscheiden. Die Opfer schienen stets genauso getötet worden zu sein wie ein wilder Leopard seine Beute angreift: von hinten und mit Bissen in den Hals. Die Morde zeichneten sich zudem durch die immer gleiche Art von Angriff und Körperverstümmelungen – Arme und Köpfe wurden von den Körpern abgetrennt, das Fleisch abgeschabt – und durch ähnliche Angriffsorte während der Abenddämmerung auf einsamen Wald­ wegen aus. Forensische Untersuchungen wurden durch den Verdacht erschwert, dass die Mörder mit Krallen-ähnlichen Klingen vorgingen, Spuren von Leopardenfell und -kot am Tatort hinterließen sowie mit eigens dafür geschnitzten Holzstöcken (›Leopardenschuhen‹) Pfotenabdrücke nachstellten.11 Hartnäckige Gerüchte und Zeitungsberichte, denen zufolge ein ›Leopardenbund‹ hinter diesen mysteriösen Todesfällen stehen könnte, wurden zum größten Teil  ignoriert; die Ähnlichkeit der Morde mit Leopardenangriffen hatte die forensische Pathologie offensichtlich bis 1943 überlisten können. Erst 1945 begannen die Behörden Spekulationen von Einheimischen nachzugehen, die hinter den Todesfällen eine Mordserie vermuteten.12 Im März 1945 reagierte­ Frederick Kay, der Bezirksoffizier von Abak, alarmiert auf in der Nigerian Eastern Mail geäußerte Vermutungen Einheimischer, dass Dan Udofia, der in Ikot Okoro beim Zapfen von Palmwein durch einen Angriff ums Leben gekommen war, nicht einem Leoparden zum Opfer gefallen sein könnte, wie die Kronzeugen behaupteten, sondern Mitgliedern eines Leopardenmensch-Bundes. Bei dem Opfer handelte es sich um den Hausdiener des Hauptgerichtsbotschafters von Ikot Okoro, Okon Bassey, der des Mordes verdächtigt wurde. Obwohl Udofia trotz starker Verwundungen nach dem Angriff den Weg zurück zum Haus gefunden hatte, verhinderte Bassey, dass er zum lokalen Apotheker gebracht wurde, meldete seinen Tod nicht den Behörden und vergrub Udofia eigenhändig. Dieses merkwürdige Verhalten sowie Einzelheiten eines vorhergehenden Streits zwischen den Männern führten zu Basseys Verurteilung.13 Er wurde im

11 Im Dialekt der Ibibio wurden die Mörder als ekpe ikpa ukot, als »Leoparden, die in Schuhen gehen« bezeichnet. 12 Inspektor Ntima, Leiter der Polizeibehörde von Opobo, wurde unehrenhaft versetzt, da er verdächtigt wurde, von den hinter den Morden steckenden chiefs des ›Leoparden­ gebiets‹ bestochen worden zu sein, damit er die Morde als Tötungen durch wilde Leoparden deklarierte, NAE , OPODIST 1/10/8. 13 Okon Basseys Ehefrau berichtete, wie er ihnen Leopardenpfotenabdrücke auf Dan Udofias Grab zeigte und sagte: »Ein Leopard tanzt immer auf dem Grab seines Opfers«, NAE , ABAKDIST 1/3/2.

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März 1946 in Abak gehängt und war damit der erste von insgesamt 77 hingerichteten ›Leopardenmenschen‹. Trotz anfänglicher Skepsis bezüglich der Existenz eines ›Leopardenmensch‹Bundes begannen die Behörden bald damit, Autopsie- und Polizeiberichte von scheinbar durch Leoparden verursachten Tötungen vor dem Fall Udofia zu untersuchen. Im Dezember 1945 gaben sie schließlich bekannt, dass die Beweislage klar darauf hindeute, dass eine Leopardengesellschaft die Morde in den Bezirken Ekparakwa, Ikot Ibritam und Ibesit verübt habe. In den ersten Tagen des Jahres 1946 wurde eine 95-köpfige Polizeieinheit in das Gebiet beordert und im Februar, als Abak und Opobo unter das Friedenserhaltungsgesetz fielen, mit weitreichenden Zusatzkompetenzen für ihre Untersuchungen ausgestattet.14 Obwohl zu Anfang des Jahres 1946 mehr als 100 Todesfälle im Fokus der Untersuchungen standen, gab es bis Juni gerade mal 13 Verurteilungen und weitere Todesfälle. Aufrufe zu härteren Maßnahmen führten ab September 1946 zu öffentlichen Exekutionen, einer nächtlichen Ausgangssperre und der Aussendung einer 200 Mann starken ›Leoparden-Einsatztruppe‹, die zur Abschreckung weiterer Taten sowie als eine Art kollektive Bestrafung in den Ortschaften, in denen Morde stattgefunden hatten, stationiert wurde.15 Am Ende des Jahres 1946 hatte man 157 Todesfälle untersucht. 64 davon wurden als wahrscheinliche, die anderen 93 als mögliche ›Leopardenmensch‹-Morde eingestuft.16

2. Die Motive Nachdem die bei den Tötungen offenbar angewandte List aufgedeckt worden war, wurden die den Opfern zugefügten Verstümmelungen intensiv überprüft. Dabei kamen einige Fragen auf: Warum wurden die Verstümmelungen in so vielen Fällen derart präzise wiederholt? Und weshalb waren sie so sorgfältig ausgearbeitet? Diente das Entfernen von Fleisch von den Leichen der Kaschierung der Morde oder war es ein Grund dafür? Drei Jahre lang wurde darüber diskutiert, ob es sich um Ritual- oder Rachemorde handelte.17 In der Anfangs14 Die Administration der Bezirke Abak und Opobo wurde im Februar 1946 durch die Schaffung eines ›Leopardengebiets‹ reformiert, das acht Gerichtsbezirke aus Abak und Opobo umfasste. 15 Weitverbreitete Gerüchte, wonach Todesurteile in vorhergehenden Fällen nicht vollstreckt worden waren, sondern die Verurteilten stattdessen zu harter Arbeit verpflichtet worden sind, überzeugten die Behörden von der Notwendigkeit öffentlicher Hinrichtungen. 16 Rhodes House (im Folgenden RH), Oxford, Mss. Afr.s.1784 (18). 17 Die Ritual- und Rachemotive waren die dominierenden, wenn auch keinesfalls die einzigen Theorien, die sowohl während als auch nach der Mordserie zu ihrer Erklärung vorgebracht wurden. Die Mörder wurden auch (von der Ibibio Union) mit Igbo-Schmieden, mit demobilisierten Soldaten (S. E. Okon, The Man-Leopard Society in Annang/Ibibioland of Old Calabar Province, 1939–1948. An Anti-Colonial Movement, Dissertation, University of Calabar 1982) sowie mit einem Wiederaufleben des ekpe-Geheimbundes (Nwaka, ›Leopard Killings‹) in Verbindung gebracht.

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phase der Untersuchung glaubte man, dass die Verstümmelungen am Tatort mit einem übergeordneten juju-Fetisch wie dem Long Juju von Arochukwu oder mit kleinen Dorfschreinen, vor denen die Mörder Besänftigungszeremonien durchführten, in Verbindung stünden.18 Es kamen auch Gerüchte auf, wonach die Mörder das Fleisch und andere Körperteile für wichtige Schreine ins benachbarte Ogoniland und an religiöse Annang idiong-Gesellschaften verkauften.19 Man vermutete, dass die Leopardenmenschen von idiong-Priestern engagiert wurden, um Körperorgane zu beschaffen, welche die Erfordernisse der Schreine erfüllen und ihre Kraft fördern sollten. Die idiong würden dann die Ursachen des Unglücks bzw. der Krankheit des Klienten oder des Todes eines seiner Verwandten erahnen und das »Begehen eines Mordes als einziges Mittel zur Bei­ legung des Kummers, sei er real oder eingebildet, empfehlen und autorisieren sowie bei der Ausführung des Verbrechens jede denkbare Hilfe gewähren.«20 Bis ins Jahr 1947 hinein wurden keinerlei klare Beweise vorgelegt, die diese Theorie untermauert hätten, auch wenn die spirituellen Praktiker nach wie vor als Komplizen der Mörder verdächtigt wurden. Als die Behörden alternativen Untersuchungssträngen nachgingen, ergab eine Analyse der ekpe-owo-Fälle aus dem Jahr 1946, dass die Beschuldigten ein persönliches Motiv für die Tötung des Opfers gehabt hatten.21 Infolgedessen verlagerte sich die offizielle Meinung von der Annahme, dass eine organisierte Gesellschaft die Morde aus rituellen Gründen veranlasst hatte, hin zu der Vorstellung, dass die Angeklagten Teil oder Auftraggeber einer Bande professioneller Auftragsmörder, einer einheimischen Form von ›Murder Incorporated‹, waren. Dem Muster der ›korsischen Vendetta‹ entsprechend, als welche die ›Leopardenmorde‹ am 17.  November 1947 eingeordnet wurden, ergaben die Untersuchungen, dass Rache und Eifersucht als Hauptmotive der Leopardenmorde gesehen werden mussten, vor allem in Bezug auf unabgeschlossene Gerichtsprozesse um Brautpreise, Land und Schulden.22 Neuerungen im Gewohnheitsrecht und Frustrationen in Gerichts18 Diese Theorie mag mit einer früheren Begebenheit in der Provinz Ogoja im Jahr 1938 zusammenhängen, bei welcher der Bezirksoffizier F. R. Kay Kopfgeld-Morde in Obubra untersucht hatte. Kay war von der Ähnlichkeit der dort vorgenommenen Verstümmelungen mit den Leopardenmorden verblüfft – insbesondere davon, dass den Opfern in beiden Fällen Gesichtsgewebe entfernt worden war, NAE , ABAKDIST 1/3/1. 19 Einige Bemerkungen in der von Jeffreys vorgelegten frühesten ethnographischen Beschreibung der Ereignisse, die solche Spekulationen weiter schürten, legen eine präkoloniale Verbindung zwischen idiong und dem Long Juju in Arochukwu nahe, vgl. Adiele Eberechukwu Afigbo, External Contacts and Relations. An Overview, in: Monday B. Abasiattai (Hg.), A History of the Cross River Region of Nigeria, Calabar 1990, S. 122–145, hier S. 138. 20 Public Records Office (im Folgenden PRO), London, CO 583/294/3. 21 CALPROF 13/1/8. Die Tatsache, dass während ekpe-owo keine Außenstehenden umgebracht wurden, schien zu bestätigen, dass es sich bei den Tötungen um ›persönliche Angelegenheiten‹ handelte. 22 Die Zitate stammen aus RH, Mss. Afr.s.1784 (18) und NAE , CALPROF 17/1/1595. Bei weiteren sechzig der 157 untersuchten Todesfälle blieben die Motive ungeklärt.

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prozessen führten dazu, dass die Menschen solche Angelegenheiten zunehmend selbst in die Hand nahmen und man ging davon aus, dass »einer der eigentlichen Hauptgründe für den Ausbruch der Mordserie in diesem Gebiet das Bedürfnis dieser Menschen nach einer schnelleren und schonungsloseren Justiz als der britischen war.«23 Während sich die Hinweise auf Anschläge in Vendetta-Manier verdichteten, veränderte ein Mord am 25. Januar 1947 einmal mehr schlagartig den gesamten Verlauf der Ermittlungen.24 Es handelte sich um die Ermordung eines der untersuchenden Polizeibeamten, P. C. Evans Chima, deren Umstände erstmals den Verdacht zu bestätigen schienen, dass die Rolle der idiong in den Morden böswilliger Natur war. Dieser Fall war insofern bemerkenswert, als es sich bei Chima um das einzige als Offizier im kolonialen Verwaltungsapparat tätige Opfer handelte, was unvermeidlich die Frage aufwarf, ob das Kolonialregime selbst Angriffsziel der ›Leopardenmenschen‹ sein könnte.25 Die tatsächliche Bedeutung von Evans Chimas Tod bestand jedoch darin, dass er das profilierteste Opfer unter jenen Fällen war, in denen eindeutig über rituelle Motive berichtet wurde. Laut dem Geständnis eines der vier Angeklagten wurde P. C. Chima umgebracht, um einem idiong-Schrein durch seine abgetrennten Lippen Kraft zu verleihen.26 Hochrangige Polizeioffiziere gingen davon aus, dass diese Beweise den dringend benötigten Durchbruch ihrer Untersuchung bringen würden und dass die Rolle der idiong »das fehlende Glied in der Mordkette«27 darstellte. Obwohl das Geständnis problematisch war und keine Hinweise am entsprechenden idiongSchrein gefunden wurden, war dieser Fall doch von höchster Bedeutung für die Behauptung der Kolonialherren, bei den ›Leopardenmorden‹ handele es sich um ›Heilkunstmorde‹.28 Infolgedessen wurde die idiong-Vereinigung dann im Februar 1947 verboten.29 Am 27. Februar führte die Polizei bei Anbruch der Mor23 NAE , ABAKDIST 1/2/88. 24 Diese Beobachtung spiegelt die verbreitete Annahme wider, dass die Morde in zwei verschiedenen Phasen stattfanden und zunächst von tatsächlichen ›Leopardenmenschen‹ verübt wurden, die alle denkbaren Mittel (Kostüme, Medizin und Klauen) einsetzten, um ihre Taten zu kaschieren, und später von Nachahmern, die diesen ›Leopardenstil‹ in eher kruder Weise imitierten. 25 Die Parallele zu früheren Rebellionsakten im Südosten Nigerias wurde während der Zeit der Morde gezogen. Nyong Essien etwa behauptete, dass »der Leopardenbund in einer ähnlichen Situation entstand wie diejenige, die zum Aufstand von Aba führte«, Eastern Nigerian Guardian, 2. April 1947, n.p. 26 NAE , ABAKDIST 1/2/90. 27 NAE , CALPROF 17/1/1598. 28 Für eine Typologie solcher Morde vgl. Robin Law, Human Sacrifice in Pre-colonial West Africa, in: African Affairs 84 (1985), S. 53–87. Bezüglich der Heilkunstmorde vgl. Roger Gocking, A Chieftaincy Dispute and Ritual Murder in Elmina, Ghana, 1945–6, in: Journal of African History 41 (2000), H. 2, S. 197–219; Colin Murray/Peter Sanders, Medicine Murder in Colonial Lesotho. The Anatomy of a Moral Crisis, Edinburgh 2005; Richard Rathbone, Murder and Politics in Colonial Ghana, New Haven 1993. 29 NAE , CSE 1/85/9284.

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gendämmerung eine Razzia durch, bei der mehr als 300 idiong-Schreine zerstört und die Wahrsager selbst zu Verhören in Polizeilager gebracht wurden. Fälle, bei denen idiong-Mitglieder in die Weitergabe von Informationen verwickelt waren, die Rachemorde nach sich zogen, hatten dazu geführt, dass die Provinzbehörden bereits zuvor ein Verbot der idiong in Erwägung zogen.30 Im Jahr 1940 jedoch zeigte sich der Regierungsvertreter in der Provinz Calabar noch zuversichtlich, dass der Brauch, idiong zu konsultieren, um Todesursachen zu erfahren, von der »öffentlichen Meinung sowie mit energischem Vorgehen der Bezirksbeamten«31 im Zaum gehalten werden könnte. Die Regierung zögerte, resoluter gegen idiong vorzugehen, da sie nicht die Autorität der zahlreichen chiefs schwächen wollte, die selbst idiong-Mitglieder waren. Im Jahr 1940 suchte die Regierung bezüglich dieser Frage noch Rat bei der Ibibio Union, ließ sie jedoch außen vor, als das Problem 1947 erneut aufkam. Die Ibibio Union hatte sich strikt gegen solche Erlasse ausgesprochen und so zog das Verbot der idiong im Jahr 1947 eine lang anhaltende, in aller Öffentlichkeit ausgetragene Kontroverse nach sich. Die Union argumentierte, dass die idiong-­ Gesetze die Religiösen gerade davon abhielten, Blut zu vergießen, da i­diong die Fähigkeit zur Weissagung verlieren würden, wenn die Anhänger Morde begingen, dass sich das Verbot außerdem auch auf den idiong-Orden ifa bezog, der keinerlei Weissagung praktizierte, und sie machte darauf aufmerksam, dass ortsansässige Kirchen wie die »Christ Army Church« ebenfalls Praktiken der Weissagung und Vergeltung pflegten, aber nicht verboten worden waren. Eine weitere Argumentationslinie stütze sich auf das Recht der Religionsfreiheit.­ Nyong Essien, Vertreter der Provinz Calabar im Regionalparlament, betonte bei einer Sitzung des Legislativrats im März 1947, dass »Idiong denselben Schutz genießen sollte, der anderen Religionen in Nigeria gesetzlich zugesichert wird.«

3. Die Ibibio Union und die »Bürgerpflicht« Nur wenige Tage vor der Polizeirazzia auf die idiong-Schreine hatte die Ibibio Union ihre Jahreshauptversammlung abgehalten und dabei beschlossen, von den Provinzbehörden zu fordern, dass es erlaubt sein sollte, »dass sie die Angelegenheit selbst in die Hände nehmen […] mit der Aussicht darauf, die widerwärtigen Gesellschaften in den Ibibioländern auszumerzen. Es [wurde] ebenfalls darum gebeten, dass die Regierung so gut sein solle, den einheimischen chiefs und wichtigen Bürgern der sechs Distrikte im Ibibioland die Möglichkeit zu geben, mit ihren traditionellen Emblemen in die betroffenen Gebiete zu reisen und dort Ordnung und Frieden wiederherzustellen.«32

30 Ebd. 31 NAE , CALPROF 3/1/1955. 32 NAE , OPODIST 1/10/5.

Die ›Leopardenmorde‹ im kolonialen Nigeria

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Der Gouverneur, den das Eingeständnis des Scheiterns der Behörden stutzig machte, rückte den Vorschlag der Union für eine durch die Ortschaften im ›Leopardengebiet‹ fahrende Delegation in ein subversives Licht: »Die Motive der Union sind in erster Linie politischer Natur und zielen darauf ab, den Verdienst, diese Verbrechen zu beenden, von der Regierung auf sich selbst zu lenken.«33 Nichtsdestoweniger fürchtete die Regierung, dass sich die Mordrate in den ersten Monaten des Jahres 1947 erhöhen würde und schenkte ortsansässigen Polizisten Glauben, die davon ausgingen, dass sich die friedenserhaltenden Zeremonien der Ibibio Union als »wichtigster Faktor in der Reduzierung der Mordrate«34 herausstellen würden. Trotz der Ungewöhnlichkeit dieser Begebenheiten waren die Maßnahmen der Ibibio Union nicht ohne Vorläufer. Vielmehr erinnerten sie an Versuche aus den Jahren 1929 und 1944, die Ausweitung des »Frauenkrieges« aufzuhalten und bauten Ideen einer zum Zwecke der Aufklärung und Korruptionsbekämpfung umherreisenden Delegation aus den frühen 1940er Jahren aus. Die Idee zu einer solchen Tour durch den Bezirk speiste sich unmittelbar aus der kolonialen Verwaltungspraxis und war in ähnlicher Weise schon von anderen Persönlichkeiten der urbanen Mittelklasse wie dem Zeitungsherausgeber J. V. Clinton aufgegriffen worden. In der Tat spiegelte die vorgeschlagene Tour den von der Ibibio Union gepflegten Gedankenaustausch mit dem Kolonialstaat wider. Im Jahr 1940 hatte die Ibibio Union dem Gouverneur den Wunsch vorgetragen, als Teil der Verwaltungsstruktur angesehen zu werden und ihre Rolle dabei als vermittelnde beschrieben: »Um gemeinsam voranzugehen und die Regierungspolitik auch den Einheimischen begreifbar zu machen. Um dafür zu sorgen, dass die Gesetze und Anordnungen der Regierung eingehalten werden und ein Medium zu sein, durch welches die Regierung zu dem Ibibio-Stamm als Ganzem sprechen kann.«35

Der von der Union vorgeschlagene Besuch der Leopardenmensch-Dörfer kann als Ausübung dieser Pflichten betrachtet werden. Er bot der Ibibio Union die Gelegenheit, »ihr Nationalgefühl unter Beweis zu stellen, ihre Bürgerpflicht tun zu müssen; den unschuldigen Opfern der Mörder zu helfen; den guten Namen von Ibibioland, nein, der Provinz Calabar, wiederherzustellen.«36 Der Unterschied war jedoch, dass die bürgerliche Agenda der Union diesmal nicht in gebildeter und »zivilisatorischer« Form vorgestellt wurde, sondern in einem Bündnis mit den wichtigsten chiefs der Provinzen, das in ostentativer Weise darum bemüht war, eine weitere Bastion der konservativ-ländlichen Hierarchie aufrechtzuerhalten, diejenige der idiong-Priester. Der Unionsdelegation wurde unter der Native Authority Ordinance von 1943 verordnet, Dorfbewohner zur Teilnahme an öffentlichen Sitzungen zu bewegen, 33 34 35 36

PRO, CO 583/294/3. NAE , CALPROF 7/1/1418. NAE , ABAKDIST 1/2/80. Nigerian Eastern Mail, 11. Oktober 1947.

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und tat dies für mehr als achtzig Sitzungen zwischen Mai und Juli 1947. Usen Udo Usen wurde zum Leiter der Tour ernannt und koordinierte sie, unterstützt von seinem Assistenten W. K. Ekanem, zusammen mit Polizisten und Bezirksbeamten. D. S. Fountain, der ranghöchste mit den Untersuchungen betraute Polizist, schrieb später, dass die Union mit Usen Udo Usen eine herausragende Führungspersönlichkeit eingesetzt hatte: »Usen widmete der Aufgabe seine gesamte Energie und zeigte eine außergewöhnliche Entschlossenheit, die Mordserie um jeden Preis zu beenden. Da er selbst ein Ibibio war, spürte er, dass die Situation in der Gegend seinen Stamm stigmatisierte und dass es an ihm war, dieses Stigma zu entfernen.«37

Während der Tour empfing Usen Delegationen, schlichtete kleinere Streitigkeiten und hörte öffentliche Beschwerden an. Usen hielt das alles in einem mehr als 200 Seiten umfassenden Reisetagebuch fest, das aus Einträgen zu jedem Dorftreffen zusammengestellt wurde und die als Kopien regelmäßig bei den Behörden eingereicht wurden. Jeder Mordfall wurde aufgeführt und um Meinungen von Ortsansässigen, in der Regel den Dorfältesten, bezüglich der Todes­ursache ergänzt. Diese Einträge machen deutlich, dass einige Dorfbewohner Usen Hinweise über mögliche Verbindungen zwischen den Morden und einigen Geheimbünden gaben. Das Tagebuch beweist auch, dass Usen die Position der Regierung öffentlich verteidigte. Als das Oberhaupt von Inen Ikot Esien, selbst ein ehemaliges idiong-Mitglied, Usen fragte, ob die Regierung dazu berechtigt gewesen sei, seinen idiong-Schrein zu zerstören, nachdem er angegeben hatte, keinerlei Kenntnis über die Leopardenmorde zu besitzen, antwortete Usen: »Als die vielen Tötungen im Leopardengewand durch Ihr Volk untersucht wurden, wurde zweifellos bewiesen, dass Idiong-Priester hinter den Morden steckten. […] Ich bin daher der Ansicht, dass die Regierung ihre damaligen Maßnahmen zum Verbot des Idiong-Kultes zu Recht anwandte, aber wenn es um solche Zerstörungen geht, habe ich Vorbehalte. […] Die Antwort, die ich Ihnen mit Blick auf Idiong gebe, spiegelt allerdings nur meine persönliche Meinung wider, die nichts mit der allgemeinen Sichtweise der Ibibio zu tun hat.«38

»Es muss Herrn Usen einiges an Mut gekostet haben, so offenherzig zu sprechen«, kommentierte ein Polizist.39 Diese Aussage wurde, ebenso wie einige andere Passagen aus dem Reisetagebuch der Union, immer wieder von der Regierung als Rechtfertigung für das fortdauernde Verbot des idiong-Ordens zitiert. Zudem gingen die Behörden davon aus, dass eine solch freimütige Äußerung auf Einstimmigkeit unter den Delegierten hindeute – eine Schlussfolgerung, die sich jedoch als vermessen herausstellen sollte.

37 RH, Mss. Afr.s.1784 (18). 38 NAE , CALPROF 7/1/1418. 39 NAE , OPODIST 1/1/47.

Die ›Leopardenmorde‹ im kolonialen Nigeria

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Die Delegation bestand aus 36 chiefs, die die sechs Bezirke der Ibibio und Annang repräsentierten, von denen jeder »die althergebrachten Rechte bei Kapitalvergehen, Mord und Totschlag«40 besaß. Einige Delegierte, wie chief Udo Ekong, waren bereits zuvor als Mitglieder des Native Authorities Investigating Committee von Bezirksoffizier Kay in die Untersuchungen eingebunden worden. Diesmal jedoch sollten die chiefs sicherstellen, dass jeder Steuern zahlende Dorfbewohner einen Eid darauf schwor, den Leopardenmännern weder zu helfen noch sich ihnen anzuschließen.41 Zunächst hatte Usen dem Regierungsvertreter in der Provinz Calabar zugesichert, dass der übliche Eid mbiam nicht ›im eigentlichen Sinne‹ geschworen würde, sondern dass in jedem der Dörfer Christen auf Bibelverse, nicht-christliche Dorfbewohner hingegen mbiam schworen.42 Die Berichte über den Schwurprozess widersprechen sich zwar, aber Aufzeichnungen, die den Behörden übergeben wurden, besagen, dass die Zeremonie mit dem Vergraben eines Palmenwedels (eyei) auf der zum Dorf führenden Straße begann, woraufhin dreimal in den Stoßzahn eines Elefanten (nnuk enin) geblasen wurde. Dann wurden Salz, Sand und Wasser aus dem Dorf vermischt und über das vergrabene Palmenblatt gegossen. Anschließend liefen die Dorfbewohner über den vergrabenen Wedel, um damit das ›feierliche Einverständnis‹ abzugeben, sich den ekpe-owo weder anzuschließen noch sie zu verstecken.43 Während der Morduntersuchung begannen die epistemologischen Paradigmen der Kolonialherren und der Annang sowie ihre unterschiedlichen Auffas40 NAE , OPODIST 1/10/6. 41 Berichten zufolge stellt die Anwendung von gegen ekpe-owo ausgerichtetem ›Gegen­ zauber‹ eine häufige Reaktion auf die Morde dar. Im August 1946 hatte chief Sampson Akpan Ekpo von Ikot Ibak im Bezirk Opobo einem ›einheimischen Doktor‹ acht Pfund für einen Talisman gezahlt, der nicht bloß den Schutz der Dorfbewohner vor ekpe-owo, sondern im Falle eines Mordes auch die unverzügliche Inhaftierung des Täters garantierte, NAE , CALPROF 17/1/1598. 42 Es war kein Zufall, dass die Qua Iboe Mission während der Leopardenmensch-Morde regelrecht mit Konvertiten überschwemmt wurde. Dies wurde weiter dadurch verstärkt, dass ihr neuer Rivale, die Christ Army Church, (wenn auch indirekt) in die Morde verwickelt wurde und »das Verbrennen der Idiong-Idole der Kirche eine wunderbare Gelegenheit zur Zeugenschaft gab«, Public Records Office of Northern Ireland, Belfast, D/3301/GC/9/3. 43 Das Schreiten über einen Gegenstand ist ein häufiger Bestandteil der Annang-Rituale. Ekong, Maskeradenspieler, etwa müssen über ein Netz springen, um zu zeigen, dass sie echte Eingeweihte sind. Es gibt nicht einmal zwei sich deckende Berichte über die bei­ Eiden verwendeten Dinge. Mal müssen die Dorfbewohner einen Stift anfassen, mal eine Puppe oder einen Türgriff aus Messing, mal geht es darum, eine klare Flüssigkeit zu trinken oder sie auf den Körper zu schmieren. Es ist möglich, dass die Delegation keine offizielle Bestürzung über den Gebrauch von mbiam hervorrufen wollte und deshalb harmlose Objekte gebrauchte. Ebenso möglich ist, dass die Substanzen von Dorf zu Dorf geändert wurden, um die Herstellung eines Gegenmittels aus derselben Quelle zu verhindern. Mbiam können aus jeder Substanz bestehen, aber es ist wichtig, dass ihre Herkunft geheim ist (daher die Favorisierung von Salzwasser).

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sungen von Handlungsspielräumen und Kausalitäten zusammenzustürzen. In einem solchen Rahmen, in dem Geheimnisse und Eide Sicherheiten und Wahrheiten verdeckten, kam der performativen Verfasstheit lokalen Wissens eine Schlüsselfunktion zu. Wahrheitskonzepte der Annang etwa werden durch einen Prozess des Ausprobierens (ndomo nse – »testen und sehen«) geschaffen. Eide (mbiam) und Prüfungen (ujang) sind die performativen Mittel, mit deren Hilfe verborgene Wahrheiten erkannt werden. Das Konzept des mbiam hat wandelbare Eigenschaften, seine Bedeutung variiert je nach Kontext zwischen Eid, Prüfung und Gift.44 Usen Udo Usen verstand die Bedeutung der Bekämpfung von Ambiguität und von Geheimnissen mit dem bekanntesten Mittel des kulturellen Repertoires der Annang und Ibibio: dem Eid. Fountain berichtete in paternalistischer Weise, dass Usen trotz seines relativ hohen Bildungsgrades »fest an die tatsächlichen übernatürlichen Kräfte der Jujus seines Volkes glaubte.«45 Mbiam diente sowohl der Entdeckung als auch der Abschreckung von Lügen. Das Scheitern beim Schwur oder Krankheiten, die auf Meineide zurückgeführt wurden, galten als klare Anzeichen von Schuld, und Massenschwüre stellten eine Gelegenheit dar, bei der die Bevölkerung auf diese Dinge aufmerksam gemacht wurde. Die Verbindung von gebräuchlichen und kolonialen Rechtsvorstellungen während der Rundreise ging auch an Beobachtern nicht vorbei. Der Polizeivizepräsident Williams schrieb später, dass »diese Gegenmaßnahmen in der Rückschau deutlich effektiver gewesen zu sein scheinen als die normalen Prozesse des zivilisierten Rechts und der Strafrechtsprechung.«46 Auch wenn die Morde mit elf weiteren Toten im Verlauf der Tour zunächst weitergingen, begannen sich die Wirksamkeit der Eide und die Folgen eines Meineides herumzusprechen. Am 25. Juli 1947 hörten Dorfbewohner in Ibiana von einem Mann aus Ikot Akpabong, den nach Ableisten eines Eides eine seltsame Sinneswahrnehmung überkam und der folglich eine Kuh und 600 Manillen anbot, um den Eid widerrufen zu können.47 Zuversichtlich über die abschreckende Wirkung solcher Neuigkeiten konnte die Union die Reise zu einem Erfolg erklären und die Behörden ihre Zustimmung rechtfertigen. Polizisten wie Williams berichteten, dass die ›bizarre Wendung‹ bei der Ausmerzung der Tötungen folglich durch den Gebrauch mächtigerer spiritueller Mittel durch die Eide herbeigeführt worden wäre, die unter der Aufsicht von Usen das »Idiong Juju von Ekpe Owo«48 wirksam ausgeschaltet hätten.

44 Ähnliche Eigenschaften bei den Geheimbünden der Mende werden bei M. Charles Jedrej, Medicine, Fetish and Secret Society in a West African Culture, in: Africa 46 (1976), H. 3, S. 247–257 beschrieben. 45 RH, Mss. Afr.s.1784 (18). 46 Ebd. 47 NAE , CALPROF 7/1/1418. 48 RH, MSSss. Afr.s.1784 (18).

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4. Nachwirkungen und Beschuldigungen »Es ist schwierig, den Einfluss der Reise auf die Prävention und Reduktion von Morden einzuschätzen«, berichtete der Anwohner, »aber sie diente der Sammlung zahlreicher nützlicher Informationen sowie der Beruhigung der öffentlichen Meinung.«49 Trotz des offiziellen Erfolges der Tour der Ibibio Union endete sie für die Beteiligten in einer Kontroverse. Dr. Egbert Udo Udoma, der Unionspräsident, behauptete, dass Usen Udo Usen den Behörden einen Bericht über die Reise vorgelegt hätte, ohne dafür das Einverständnis der Union eingeholt zu haben und ohne ihn von den anderen Delegationsmitgliedern absegnen oder diskutieren zu lassen. Ganz gleich, ob es sich dabei um eine List oder ein Versehen gehandelt hatte, so waren die Folgen erheblich, denn Usens Bericht bekräftigte Schlüsselstellen der Polizeiuntersuchung. Insbesondere die These, dass die Weissagungen und Zauberpraktiken der idiong zu den Morden beigetragen hatten, gab der Entscheidung der Behörden, die idiong zu verbieten, wichtige Rückendeckung und schwächte zugleich den Unionsprotest gegen dieses Verbot. Usens Bericht basierte nur entfernt auf den Beweisen, die er in seinem Reise­ tagebuch zusammengestellt hatte. Es ist daher anzunehmen, dass er bereits vor Abschluss seines Berichts Zugang zu den Polizeiakten hatte. Auch wenn die in Usens Bericht genannten Verdächtigten der Polizei bereits gut bekannt waren, lieferte er ihnen eine überzeugende Darstellung der Anfänge der Mordserie, welche eine Lücke schließen konnte. Usen behauptete, dass der idiong Akpan Ekpedeme und der Sohn seiner Schwester, Akpan Nyoho, mit Straßenräubern verkehrt hätten und Akpan Ekpedeme dabei Talismane für sie bereitgestellt hätte. Da ein Mitglied dieser Gruppe von einem Gläubiger bedrängt wurde und ein anderer seine Frau des Ehebruchs verdächtigte, ging Usen davon aus, dass die Räuber sich dafür entschieden hatten, ihre Zaubermittel für die Eliminierung ihrer Feinde einzusetzen. Ihr Erfolg und ihr vermeintlicher Schutz vor Entdeckung veranlasste sie dazu, als Auftragsmörder mit Händlern zusammenzuarbeiten, die zerstrittenen Parteien nach einer Beratungsgebühr von 50 Manillen anboten, gegen weitere 100 Manillen dafür zu sorgen, dass ein ›Leopardenmensch‹ ihren Widersacher aus dem Weg räumte. Des Weiteren vermutete Usen, dass ein idiong-Mitglied, Ukpong Eto von Ediene Atai, Akpan Ekpedeme aufgesucht hatte, um einen Menschenkopf für sein Orakel zu beschaffen und in der Folge nicht nur mit den verschiedenen Zaubermitteln der Leopardenmenschen vertraut gemacht wurde, sondern auch einen Markt für Körperteile (Köpfe, Arme und Genitalien) der Opfer fand, die er neuen idiong-Mitgliedern als Initiationsbedingung zum Verkauf anbieten konnte.50 49 RH, MSSss. Afr.S.1505.2. 50 NAE , OPODIST 1/10/6.

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Usens Theorie besagte, dass die idiong ihr Wissen über Rivalitäten und Gerichtsprozesse um Land, Brautpreise und Schulden dafür nutzten, potentielle Opfer der Leopardenmenschen ausfindig zu machen. Er argumentierte folglich, dass sich die Ritual- und Rachetheorien, zwischen denen die Polizei geschwankt hatte, nicht ausschlossen, sondern überlappten. Vieles davon war bereits seit langem von der Polizei vermutet worden, aber erst als Usen Ähnliches behauptete – der Mann, der nicht nur jedes von den Morden heimgesuchte Dorf besucht hatte und sich im Besitz inoffiziellen Beweismaterials befand, sondern auch selbst Ibibio-Sprecher war und daher Machart und Bedeutungen von Zaubern und Ritualen kannte –, wurden diese Vermutungen seitens der Polizei als erhärtet betrachtet. Folglich wurde Usen unverzüglich als Leopardenmord-­ Spezialist in das Polizeidepartement für besondere Aufgaben versetzt und seine Schlussfolgerungen wurden zum Dreh- und Angelpunkt der Polizeiarbeit. Das Verbot der idiong hatte die Mordserie nicht beenden können und sechs Monate danach war die Position der Regierung nicht bloß nach wie vor unbewiesen, sondern auch weitverbreitet in die Kritik geraten. Die Polizei berief sich zwar auf fünfzig Jahre zurückliegende Leopardenmorde in Sierra Leone, um die Behauptung, es handele sich um Ritualmorde, zu stützen, aber selbst ranghohe Beamte in der nigerianischen Polizei besaßen nur begrenzte Kenntnis über diese Ereignisse, da die Versuche, einen vergriffenen Bericht über die Prozesse in­ Sierra Leone beim Londoner Buchhändler Foyles zu beschaffen, vergeblich geblieben waren. So blieben nur noch Usens Beweise, die von der Polizei auch direkt zitiert wurden, um den Kriminalbeauftragten in Lagos und dem Unterhaus in London zu versichern, dass das idiong-Verbot keine Fehlentscheidung gewesen war. Unterdessen lud die Ibibio Union Usen im März 1948 zu einer öffentlichen Versammlung in Ikot Okoro vor, um die in seinem Bericht aufgestellten Behauptungen zu rechtfertigen. Nachdem diejenigen Passagen des Berichts, in denen er prominente Persönlichkeiten der Mitgliedschaft in der Leopardenmensch-­ Gesellschaft bezichtigt hatte, in englischer Sprache vorgelesen wurden, befragten Unionsmitglieder Usen bezüglich dieser Beschuldigungen. Die Atmosphäre dabei war angespannt, so musste Usen etwa durch eine Polizeikette vor einer Menschenmasse geschützt werden, die versuchte, zu ihm vorzudringen und ihn zu attackieren. Die dramatischsten Momente des Treffens spielten sich ab, als Usen von Ukpong Eto ins Kreuzverhör genommen wurde, dem Mann, den Usen der Fortführung von Akpan Ekpedemes Aufgabe, Schädel für idiong-­ Novizen zu beschaffen, beschuldigte. Eine Aufzeichnung dieses Gesprächs findet sich in Udomas Memoiren, allerdings wird diese von derart klaren Vorurteilen gegenüber Usen verzerrt, dass sie nicht als beweisfähig betrachtet werden kann. Nichtsdestoweniger ist sie aussagekräftig und lässt vermuten, dass die Beziehungen unter den Reise-Delegierten nicht bloß das waren, als das sie geschienen hatten. Das Protokoll stellt die Behauptung auf, dass Usen und der chief Freunde gewesen seien und dass Usen bei den drei Inhaftierungen von Ukpong Eto für ihn gebürgt habe:

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»Ukpong Eto: Wenn Sie wussten, dass ich Mitglied im Leopardenmensch-Bund war und neben dem zu jenem Zeitpunkt bereits verstorbenen Akpan Ekpedeme zu den Gründern der Gruppe gehörte, warum haben Sie dann meine Kaution übernommen? Usen Udo Usen: Da ich schon seit langem mit Ihnen verkehrte, hatte ich immer den Verdacht, dass Sie in den Leopardenmensch-Bund verwickelt sind. UE: Ich bitte Sie in Gottes Namen, den Namen Ihres Informanten zu enthüllen. UUU: Ich erinnere mich nicht mehr an seinen Namen. UE: Dann vermute ich, dass Sie lügen, weil Ihnen nie jemand derartige Informationen

übermittelt hat.

UUU: Keine Antwort. UE: Wären Sie bereit, zeremoniell darauf zu schwören, dass ich Mitglied des Leopar-

denmensch-Bundes bin?

UUU: Das kann ich nicht.«51

Mit dieser offensichtlichen Ironie, dass der Mann, der die Einwohner von achtzig Dörfern hatte Eide schwören lassen, nun selbst nicht zu einem Schwur bereit war, verdichtete sich der Ablauf der Ereignisse. Bei einem Treffen der Ibibio Union am 29.  Mai 1948 wurde entschieden, dass Usen aus der Union ausgeschlossen und alles dafür getan werden sollte, um ihn für sein Verhalten vor Gericht zu stellen: »Die Gefühle kochten hoch, als herauskam, dass in einigen Teilen des Berichts schwere, wenngleich haltlose Anschuldigungen gegenüber Ibibio-chiefs und der Idiong-Gesellschaft erhoben wurden. Man geht davon aus, dass Usen seinen Bericht zum Zwecke der Karriereförderung und in der Hoffnung auf eine Ehrung und Beförderung heimlich bei der Regierung einschickte, obwohl er genau von der absoluten Haltlosigkeit der darin enthaltenen schweren Vorwürfe wusste.«52

Polizeiberichten zufolge ging es der Ibibio Union darum, Usen Udo Usen weiter zu diskreditieren, indem sie ihm vorwarf, sich als Polizeiagent ausgegeben und Bestechungsgelder von chiefs entgegengenommen zu haben, um sie nicht als­ idiong zu entlarven, und darüber hinaus Unionsgelder unterschlagen zu haben. Ein Komitee aus Mitgliedern der Ibibio Union, das Usens Bericht untersuchen sollte, behauptete, es handele sich dabei um »ein sorgsam gesponnenes Produkt der Fantasie, das in einem Gewand aus Realismus und Halbwahrheiten daherkommt. Falls Herr Usen Udo Usen nicht selbst Mitglied des sogenannten Leopardenmensch-Bundes war […], konnte er nicht in der Lage sein, die im Bericht enthaltenen Informationen zu enthüllen.«53 51 Udo Udoma, The Story of the Ibibio State Union, Ibadan 1987, S. 166. 52 Nigerian Eastern Mail, 10. Juli 1948. 53 Udoma, Ibibio State Union, S. 142.

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In den nächsten fünf Jahren verabschiedete die Ibibio Union Beschlüsse und unterzeichnete Petitionen für die Einrichtung eines Untersuchungsausschusses für die Leopardenmensch-Morde, um die Behörden zu drängen, das Verbot der idiong durch entsprechende Beweise zu bekräftigen.54 Dieses so merkwürdig erscheinende Bündnis der selbst-stilisierten ›Intelligenzija‹ mit ländlich-konservativen Kräften sowie die Frage, warum die missionsgebildeten Eliten der Union so vehement und über einen so langen Zeitraum hinweg die idiong-Priester unterstützten, führte zu weitreichenden Spekulationen. Einige Gründe boten sich hierfür an. Man vermutete, dass hochrangige Mitglieder der Ibibio Union, die selbst den idiong angehörten, für die Verteidigung des Kultes seitens der Union sorgten. Einer von ihnen war Obong Ntuen Ibok von Essene aus dem Bezirk Opobo. Während der Polizeirazzia im Februar 1947 wurden seine idiongRequisiten zerstört und er wurde drei Monate lang in Calabar festgehalten. Zudem gab er an, dass ihm dabei £1.200 gestohlen wurden. Ironischerweise hatte Ntuen Ibok vor seiner Inhaftierung selbst Polizisten beherbergt, die im Rahmen ihrer Untersuchungen nach Essene kamen, und die Tour durch das ›Leopardengebiet‹ zur Wiederherstellung des Friedens überhaupt erst vorgeschlagen. Aufgrund dieser Verflechtungen gingen die Behörden davon aus, dass ältere Unionsmitglieder, die wie Ntuen Ibok idiong-Priester waren, die Union und die ihrer ›Intelligenzija‹ im Rahmen der Kolonialgesetze zur Verfügung gestellten Mittel zur Bekämpfung des Verbots ausnutzten. Im Juli 1947 etwa wurde dem ehemaligen Beamten Udom vorgeworfen, unter idiong-Anhängern £122 für eine Petition gegen das Verbot gesammelt zu haben, um deren verfassen er Dr. Udoma gebeten hatte.55 Die Geschehnisse während der Jahreshauptversammlung der Ibibio Union im August 1948 wurden streng beobachtet. Verdeckte Spezialermittler der Polizei berichteten, dass Dr. Udoma mit den idiong-Anhängern der Union zu der Einigung gelangt sei, dass »die Union, sollte der Idiong-Kult wieder legalisiert werden, auf die Rückzahlung eines von ihm zum Zwecke seiner juristischen Ausbildung aufgenommenen Kredites von geschätzt £2.000 verzichten würde.«56 Zudem wurde berichtet, dass Usen »das erste Opfer von Udomas Kampagne war« und dass er einem ehemaligen Journalisten, S. E. Hezekiah, befohlen hatte, Usen in der Presse zu verleumden. Die Polizei behauptete, dass kein Mittel zur Diskreditierung von Usen unversucht blieb und dass die Union drohte, juristische Vorwürfe gegen Usen zu erheben oder ihn der Veruntreuung von Unionsgeldern während seiner Zeit als Sekretär zu bezichtigen, falls er seine

54 Das Verbot der idiong wurde 1951 auch auf die Anbetung und Anrufung von idiong ausgeweitet. Zudem wurde nach einem Mord in Eket die Empfehlung ausgesprochen, dieses Verbot auf die gesamte Provinz Calabar auszuweiten. 55 Udoma lehnte dies zwar ab, aber ein anderer Jurist, Ibeziaku, setzte die Petition gegen ein Entgelt von dreißig Guineen auf, NAE , OPODIST 1/1/47. 56 NAE , OPODIST 1/10/3.

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Belastungen der idiong nicht öffentlich zurücknahm.57 Bei der Konferenz wurde Usen lebenslang aus der Ibibio Union ausgeschlossen und es wurde vereinbart, dass die Ibibio ihn überall dafür ächten sollten, »den Sturz ausgewählter Führungspersönlichkeiten in die Wege geleitet zu haben, indem sie trotz genauer Kenntnis ihrer Unschuld fälschlicherweise der Mitgliedschaft in der Leopardengesellschaft bezichtigt wurden.«58 Es gibt keine Beweise, die nahelegen, dass dies als eine ernst zu nehmende Gefahr betrachtet wurde, aber im Polizeibericht über die Unionskonferenz hieß es außerdem, dass »einheimische Ärzte angewiesen wurden, Zaubermittel gegen ihn [Usen] einzusetzen, um seinen Tod herbeizuführen.«59 Die Verurteilung des ehemaligen Sekretärs durch die Union fiel mit einer dramatischen Wendung in den Morduntersuchungen zusammen. Während der Tour der Ibibio Union wurde John McCall zum neuen Bezirksverwalter nach Opobo berufen. Nachdem es ihm ursprünglich um die Zahl der Freisprüche vor dem Obersten Gericht gegangen war, fielen ihm bei der Begutachtung des Beweismaterials erhebliche Diskrepanzen in den Augenzeugenberichten auf und er war geschockt über den Mangel an Beweisen für die bloße Existenz von Leopardenmenschen. McCall argumentierte deshalb, dass die Leopardenmensch-Affäre nicht von den idiong, sondern durch eine Massenhysterie heraufbeschworen wurde und dass es sich bei den Tötungen nicht um ausgearbeitete Täuschungen, sondern schlicht um echte Leopardenangriffe gehandelt habe. Der Bezirksvorsteher und sein Assistent, Dennis Gibbs, überprüften diese Theorie, indem sie eine Leopardenjagd veranstalteten.60 Diese war nicht die erste ihrer Art während der Untersuchungen, aber diesmal wurde der Versuch weitreichender unternommen als zuvor und tatsächlich konnten einige Leoparden gefangen werden, darunter ein sieben Fuß großer ›Menschenfresser‹, der eine Pfotenverletzung erlitten hatte und deshalb nicht zur Tötung seiner eigentlichen Beute imstande war. McCalls Theorie erscheint umso plausibler angesichts der Tatsache, dass nach der Jagd nur noch ein einziger Leopardenmord verzeichnet wurde – und dieser fand außerhalb des ›Leopardengebietes‹ statt. McCalls Behauptungen stellten die gesamte Untersuchung auf den Kopf. Unnachgiebig beharrte er darauf, dass selbst wenn seine Leoparden-Theorie sich als falsch herausstellen sollte und es sich bei den Todesfällen doch um Morde gehandelt hatte, das koloniale Justizsystem die Falschen hatte hängen lassen. 57 Ebd. 58 Udoma, Ibibio State Union, S. 178. 59 NAE , OPODIST 1/10/3. 60 McCall berichtete, dass Gibbs einen Leoparden als Haustier hielt, um sein Fress- und Tötungsverhalten zu eruieren. Er war elf Jahre lang als Verwaltungsbeamter in den Ostprovinzen tätig gewesen. Gibbs, ein ehemaliger Oberstleutnant der Royal Air Force, hatte sich durch seine Leistungen in kriegerischen Auseinandersetzungen verdient gemacht.

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Seine Berichte verdeutlichen die Kluft, die sich mittlerweile zwischen der Poli­ zei und der Bezirksverwaltung aufgetan hatte. McCall kritisierte Fountains Poli­zei­untersuchung und stellte dessen Glauben an die Spekulationen in Usens Bericht in Frage. McCalls Wissen über die Mordfälle war zwar nicht allumfassend und seine forensischen Fähigkeiten kaum mehr als amateurhaft, aber die Fragen, die er hinsichtlich des Beweismaterials aufwarf, waren niederschmetternd. Warum etwa hatte sich die Polizei im Fall von P. C. Chima auf ein Geständnis verlassen, das vor Gericht nicht zu halten war, sodass der Angeklagte daraufhin freigesprochen wurde? Und warum, fragte er, hatte sich die Aufmerksamkeit der Polizei so sehr auf die Verwendung von Körperteilen gerichtet, obwohl diese in den meisten Fällen doch gar nicht vom Tatort entfernt worden waren? Usens Bericht hatte nahegelegt, dass die Morde verübt worden waren, um männliche und weibliche Genitalien sowie Schädel für rituelle Zwecke zu beschaffen, aber es gab keinerlei Beweise dafür, dass Genitalien auch nur berührt oder dass Schädel entnommen worden waren. Als McCall Usen hinsichtlich dieser Punkte befragte, antwortete dieser, dass er sich »auf Tötungsbräuche aus lange zurückliegenden Zeiten und nicht aus der aktuellen Tötungsserie bezogen hatte.«61 Sechzehn Verurteilte standen vor ihrer Hinrichtung, als McCall kurz vor Weihnachten 1947 mit großer Dringlichkeit einige Geheimberichte einreichte, in denen er diese Vorbehalte ausführte. McCall bestand darauf, dass die Berichte dem Außenminister vorgelegt werden sollten. Seine Behauptungen drohten allerdings den Ruf aller an den Untersuchungen Beteiligten zu schädigen. Und in der Tat war der Kolonialminister bereits im November 1947, als McCalls Ansichten publik wurden, im Unterhaus aufgefordert worden, die »hohe Zahl an Todesurteilen«62 zu rechtfertigen. Die Antwort der Regierung war daher vorhersehbar: McCall wurde eine Frist von 24 Stunden eingeräumt, um seinen Posten zu räumen und aufgefordert, seiner Abordnung nach Lagos in aller Stille und Unauffälligkeit Folge zu leisten.63 Der Inhalt von McCalls Berichten aus dem Dezember 1947 war jedoch inzwi­ schen allgemein bekannt, sodass chiefs aus Opobo Telegramme nach London schickten, um gegen McCalls eilige Versetzung zu petitionieren. Für die chiefs und Mitglieder der Ibibio Union war das Entscheidende an McCalls Behauptungen, dass sie ihnen ermöglichten, nicht bloß die Verwicklung von idiong in die Tötungen zu bestreiten, sondern in einem allgemeineren Sinne auch den guten Ruf des Ibibiolandes wiederherzustellen, indem jede Vermutung, die Tötungen könnten von der Leopardenmenschengesellschaft für rituelle Zwecke durch­ geführt worden sein, zurückzuweisen war: 61 NAE , OPODIST 1/10/3. 62 Evening Standard, 19. November 1947. 63 In der britischen Presse sowie in Repliken auf akademische Texte (J. A. G. McCall, Comment on the ›Leopard‹ Killings, in: Africa 56 (1986), H. 4, S. 441–445) hielt McCall an seinen Behauptungen, vor allem an der Wildleoparden-Theorie, fest.

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»Die meisten Ibibio sind überrascht, wenn sie hören, dass die Idiong-Gemeinde, die so alt ist wie die Hügel in Ibibioland, mit der aktuellen Leopardenmensch-Plage in Verbindung gebracht wird. Schließlich gibt es in Ibibioland gar keine Gruppe wie die ›Leopardenmenschgesellschaft‹ […]. In aller Bescheidenheit bitten wir die Regierung daher, ihre Gesetze gegen diese rein religiöse Ibibio-Vereinigung aufzuheben, denn schließlich ist Religionsfreiheit ein wichtiger Bestandteil guter Regierungsführung.«64

Zeitgleich mit diesen Ereignissen zu Beginn des Jahres 1948 hatte Usen Udo Usen mit einem in Ikot Okoro stationierten Kontingent der nigerianischen Polizei zusammengearbeitet. Es wurde berichtet, dass Usen weiterhin Ressentiments gegenüber den idiong äußerte und dass die Kampagne der Ibibio Union »Usen nicht vor seiner selbstauferlegten Aufgabe zurückschrecken ließ […]. Er opferte seine Wochenenden und nahezu seine gesamte restliche Freizeit, um in die verschiedenen Teile der Region zu reisen und seinen beträchtlichen Einfluss auf die Einheimischen dafür zu nutzen, die Polizei weiter mit überaus nützlichen Informationen zu versorgen.«65 Mit der Unterstützung des Ortsgerichts und einiger Ratsmitglieder begab sich Usen 1948 auf eine zweite Tour durch die Leopardenmensch-Dörfer. Er war davon überzeugt, dass die Mörder die Folgen des im Vorjahr geschworenen mbiam-Eides durch den Einsatz eines Gegenmittels abgewendet hatten, dass Eide aber trotz der unbefriedigenden Ergebnisse der letzten Reise das beste Mittel zur Beendigung der Tötungen darstellten. Folglich machte Usen sich daran, bei ›Medizinmännern‹ diverse Heil- und Zaubermittel zu besorgen, mit denen er in nahezu jedem der betroffenen Annang-Dörfer Versammlungen und neue Eideszeremonien abhalten konnte. Laut Fountain wurden diese auch von Anfang an gut aufgenommen, sodass Usens zweite Tour als großer Erfolg bezeichnet werden könne. Die letzte Wendung trat am 21. Februar 1948 mit dem plötzlichen Tod von Akpan Ukpon Eto ein, dem Sohn von chief Ukpon Eto von Ediene Atai, mit dem Usen aufgrund seines Berichts in Zwist geraten war. Vom Amtsarzt wurde eine Exhumierungserlaubnis eingeholt, der die Todesursache jedoch nicht klären konnte. Man munkelte, dass der Sohn des chiefs selbst ein führender ›Leopardenmensch‹ gewesen sei, der im Vorjahr des Mordes an P. C. Chima beschuldigt, jedoch niemals wegen Mordes angeklagt worden sei. Bei einem Dorf­ besuch zwei Wochen vor seinem Tod hatte er Usens Eid geschworen, wobei der mbiam gegen seine Brust, seinen Rücken und seinen Kopf gerichtet worden war  – diejenigen Körperteile, über deren Schmerzen Akpan Ukpon Eto vor seinem Tod klagte. Es kamen Gerüchte auf, laut denen er den Folgen eines Meineides erlegen war, den er vor seinem Tod noch gestanden habe. F ­ ountain behauptete, dass Usens Ruf damit rehabilitiert war und die Morde mit dieser einen Ausnahme im März 1948 aufhörten. Und mit Blick auf jene Faktoren, die den Mordkult zum Erliegen gebracht hatten, bemerkte Fountain, 64 Nigerian Eastern Mail, 3. Juli 1948. 65 RH, Mss. Afr.s.1784 (18).

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dass »die Arbeit von Herrn Usen sicherlich einen hohen Platz auf der Liste verdient hat.«66 Die Provinzbehörden gingen davon aus, dass eine formale Untersuchung der Leopardenmensch-Morde politische Unruhen nach sich ziehen würde. Bei einem Treffen mit dem Oberkommissar der Ostprovinzen im März 1950 wurde der Ibibio Union mitgeteilt, dass eine Untersuchungskommission im Fall der Mordserie zu »breiter unangenehmer Resonanz seitens der Öffentlichkeit und […] zu zahlreichen Komplikationen«67 geführt hätte. Zum einen hätte dies wie ein Nachgeben gegenüber den Forderungen der Ibibio Union gewirkt, zum anderen hätte eine solche Untersuchung sich auch mit McCalls potentiell peinlichen Nachfragen auseinandersetzen müssen. So verlief die Leopardenmensch-Morduntersuchung  – in deutlichem Unterschied zu anderen wichtigen Ereignissen in den Ostprovinzen wie dem »Frauenkrieg« von 1929 und dem Massaker von Enugu Colliery im Jahr 1949 – einfach im Sande. Nach seiner Abberufung aus dem Polizeidienst kehrte Usen zur Provinzverwaltung zurück und wurde zunächst nach Ikot Ekpene, dann in seinen Heimatbezirk Itu und zuletzt, auf seine Bitte hin, an den Hauptsitz der regionalen Verwaltung in Enugu versetzt. Am Rande eines Berichts über Usens Tod nach einer kurzen Krankheit in Enugu, notierte der Junior-Polizeioffizier Frank ­Williams: »Wurde vergiftet!!« In einem Artikel, den er später für ein Polizeimagazin schrieb, führte er diese Bemerkung aus: »Dieser Bezirksangestellte starb kurz danach unter mysteriösen Umständen. Es ist recht wahrscheinlich, dass er aufgrund seiner Enthüllungen vergiftet wurde, denn offensichtlich hatte er die Missgunst einiger seiner Stammesangehörigen auf sich gezogen. Die Cassava-Wurzel, die in weiten Teilen des Gebiets wächst und zur Grundnahrung gehört, ist nur nach einem langwierigen Prozess essbar. Am Beginn ihrer Zubereitung als Lebensmittel ist sie giftig und als heimtückisches Mittel zur Beseitigung unliebsamer Personen bekannt.«68

Zusammen mit einigen anderen Gerichtsmitgliedern der Annang, die die Untersuchungen im Jahr 1948 unterstützt hatten, erhielt Usen die Ehrenurkunde am Geburtstag des Königs 1949. Die Ibibio Union kommentierte, dass die posthume Ehrung ein »Mittel zur Gesichtswahrung«69 sei. Hat Usen Udo Usen, der von den kolonialen Behörden geehrt, aber öffentlich aus seiner eigenen Gemeinschaft verbannt wurde, also sein Volk verraten oder war er ein politisches Bauernopfer? Aus den hier geschilderten Ereignissen lassen sich mehrere zentrale Rückschlüsse ziehen, wie Verwaltungsangestellte im kolonialen Afrika üblicherweise zwischen Gesetzen und Behörden vermittelten. Während die erste Schlussfolgerung Gerechtigkeits- und Wissensformen betrifft, hängt die zweite 66 RH, Mss. Afr.s.1784 (18). 67 NAE , CALPROF 5/1/308. 68 RH, Mss. Afr.s.1784 (18). 69 Ebd.

Die ›Leopardenmorde‹ im kolonialen Nigeria

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mit Usens Versuch zusammen, zwischen den unterschiedlichen an den Morduntersuchungen beteiligten Parteien zu vermitteln, und die dritte bezieht sich auf ihn selbst sowie auf seine Motive.

5. Fazit Die Ibibio Union verurteilte Usens Bericht aufgrund seines Versuchs, die Leichtgläubigkeit der ausländischen Verwaltungsbeamten hinsichtlich der sozialen Strukturen, Normen und des Glaubens der Ibibio auszunutzen.70 Usen Udo Usen wurde daher als ›Mann, der zu viel wusste‹ dargestellt. In der Tat verweist das Beispiel der Morduntersuchungen auf die ausschlaggebende Rolle von Wissen und Wissensformen. Usens Rolle in der Morduntersuchung war nicht bloß aufgrund seiner strukturellen und persönlichen Vermittlung zwischen Institutionen entscheidend, sondern ebenso aufgrund seiner Mediation zwischen verschiedenen Wissensformen. Für die Behörden stellte die LeopardenmenschGesellschaft ein mit kolonialer Rationalität erfassbares Objekt dar, das, so sinnierten die Beamten, den Geheimdiensten bei ihren weitreichenden Untersuchungen der nigerianischen Stammesstrukturen in den 1930er Jahren entgangen war. So forderte die Polizei das Hinzuziehen eines spezialisierten Anthropologen, der die Leopardengesellschaft analysieren sollte. Die Namen S. F. Nadel, Audrey Richards, Phyllis Kaberry sowie J. S. Harris wurden im Zusammenhang mit der vorgeschlagenen anthropologischen Untersuchung genannt, die wie die formale Untersuchung dann verlangt wurde, als die politische Sensibilität in­ diesen Belangen anstieg.71 Bereits als Jeffreys’ Übersetzer hatte Usen einzigartige Einblicke in die kolonialen Eigenheiten beim Betreiben von Ethnographie gewonnen und sein Bericht muss als ihr Produkt verstanden werden. Falls eine ›Leopardenmensch‹Gesellschaft jedoch wirklich existiert hatte, waren weder die Daumenschrauben der Polizei noch die Beobachtungen von Anthropologen vielversprechende Mittel zur Aufdeckung ihrer Geheimnisse – und Usen wusste das. Er verstand, dass Wahrheit in diesem Kontext durch Ausprobieren geschaffen und dass Schuld nicht in Gerichtsprozessen, sondern durch Gottesurteile entschieden wurde. Deshalb sagten diejenigen, die sich an die Ereignisse aus den Jahren 1947 und 1948 im damaligen Distrikt Abak erinnerten, mehr als fünfzig Jahre später noch aus, dass die von Usen und den chiefs durchgeführten Eide die Tötungen beendeten. Auf diese Weise veranschaulicht Usens Reaktion Karen Fields These, 70 Udoma, Ibibio State Union, S. 163. 71 Darüber hinaus wurden sowohl Meyer Fortes als auch Raymond Firth gebeten, Kandidaten für ein öffentlich finanziertes koloniales sozialwissenschaftliches Forschungsprojekt in den Jahren 1948 und 1949 vorzuschlagen, das bezüglich der Morde Licht ins Dunkle bringen, sich dabei jedoch als allgemeinere und unverfänglichere Studie ausgeben sollte, PRO, CO 583/294/4.

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dass diejenigen, die sich wirkungsvoll in solche Aufruhre einbringen, die Bedeutung vom Wissen und der Praxis kultureller Handlungsroutinen zur Wiederherstellung der Ordnung erfasst haben.72 Eines der stärksten und zugleich widersprüchlichsten Bilder dieser Ereignisse ist wohl dasjenige des Bezirks­ beamten, der zwar für die Kampagne gegen idiong-Priester eintrat, diese jedoch mit Zaubermitteln und von Spezialisten aus dieser Branche erworbenen Substanzen führte. Usens Handlungen verdeutlichen, mit welch improvisierten Mitteln koloniale Verwaltungsangestellte die kolonialen Machtstrukturen unterliefen und sie in lokal wirksame Muster umwandelten. Er arbeitete sich an den traditionellen Machtstrukturen der Einheimischen entlang und bediente sich dabei eines Repertoires traditioneller Mittel zur Etablierung von Wahrheit. Auf politischer Ebene zeigt Usens Karriere jedoch ebenso auf, wie rapide der Spielraum kolonialer Vermittler schwinden konnte. Mit Blick auf seine eigenen institutionellen Loyalitäten wusste Usen nur zu gut, dass die Ibibio Union nicht von ihrer Haltung gegenüber dem idiong-Verbot abrücken würde. Dennoch hielt er, vielleicht allzu sehr von seiner Schlüsselrolle in den Morduntersuchungen eingenommen, an seiner Unterstützung der Regierung fest. Sowohl in der Mikropolitik der Untersuchung als auch im größeren Rahmen des nationalen Politikwandels wurde er schnell von den Ereignissen eingeholt. Während der Kriegsjahre mussten die Beamten den sich zuspitzenden Konflikt zwischen ihrer Herkunft aus einer gebildeten Schicht, die die Kolonialherrschaft kritisierte, und ihrer gleichzeitig aktiven Rolle in deren Errichtung austarieren. Im Südosten Nigerias stellte das Jahr 1947 einen Schlüsselmoment innerhalb dieser politischen Entwicklungen dar. In wenigen Monaten wurde eine fundamentale Kehrtwende in den Beziehungen zwischen ›Fortschrittsvereinigungen‹ wie der Ibibio Union und dem Kolonialstaat vollzogen.73 Während Usens zwanzigjähriger Mitgliedschaft in der Ibibio Union hatte vor dem idiongVerbot kein Thema zu einem Zerwürfnis ihrer Vertreter mit der Bevölkerung der Provinz Calabar geführt. Die Provinzbehörden waren sogar stets bemüht gewesen, die Union als feste Einrichtung zu pflegen, um die herum eines Tages ein gemischter Ibibio-Bezirk organisiert werden könnte. Zusammen mit dem Lokalregierungsbericht von 1947 kursierte in den östlichen Provinzen jedoch

72 Karen E. Fields, Political Contingencies of Witchcraft in Colonial Central Africa. Culture and the State in Marxist Theory, in: Canadian Journal of African Studies 16 (1982), H. 3, S. 567–593, hier S. 593. 73 Wir müssen uns hier jedoch vor einer Teleologie hüten, deren Logik die ›Progressiven‹ der 1930er Jahre mit der ›politischen Klasse‹ der 1950er Jahre gleichsetzt, denn Peel wies schließlich zu Recht auf das Vorhandensein »eines Getrenntseins, aber, qua der nationalistischen Anti-Kolonial-Bewegung, auch einer Verbindung zwischen ›Nationalismus‹ und den damit verbundenen lokalpolitischen Tendenzen« hin. JDY Peel, Ijeshas and Nigerians. The incorporation of a Yoruba Kingdom, 1880s–1970s, Cambridge 1983, S. 179.

Die ›Leopardenmorde‹ im kolonialen Nigeria

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ein Geheimbericht über die politische Gefahr der Fortschrittsunionen, die die Behörden während des Krieges aus den Augen verloren hatten, und die kürzlich durch ihr Bündnis mit dem von den wichtigsten Nationalisten des Landes geführten Nationalrat Aufschwung erhalten hatten. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich die Ibibio Union zu einer bedeutenden politischen Kraft entwickelt und wurde als solche auch von Gemeinden und Behörden erkannt. Die ab dieser Zeit explizit politische und anti-koloniale Entwicklung der Unionen und ihre immer selbstsicherer und lautstärker formulierte Regierungskritik im Jahr 1947 versetzte diejenigen ihrer Mitglieder, die, etwa als Verwaltungsangestellte, Teil des Kolonialapparates waren, in eine heikle Position. Die zunehmende Geringschätzung des öffentlichen Dienstes seitens einer ›Intelligenzija‹, die den beschriebenen Spannungen unterlag, war auch immer dann von besonders großer Vehemenz, wenn ehemalige Fortschrittsunion-Stipendiaten ihren Dienst in der Kolonialverwaltung antraten. Nachdem die Anwälte und Journalisten der Union die augenscheinlichen Missstände in den Untersuchungen der Leopardenmorde und insbesondere des idiong-Verbots, das sie als groben Verstoß gegen die Religionsfreiheit bezeichneten, aufgegriffen hatten, setzten sie sich in der Öffentlichkeit vehement dafür ein, dass die Kolonialverwaltung vor Gericht gestellt werden sollte. Usen fand sich somit mit einem Mal auf der Seite des Unrechts wieder, weil er in eine Angelegenheit verwickelt war, die ihm zwar bei der Einreichung seines Berichts noch reichlich harmlos erschienen sein mag, in der Folge jedoch zunehmend aus dem kolonialen Rechtsund Ordnungszusammenhang in einen nationalistischen Diskurs über Rechte und Freiheiten verlagert wurde. Zwei zeitgleich verlaufende Morduntersuchungen in Südafrika und Ghana verwiesen in bemerkenswerter Weise auf ähnlich verlaufende soziale Dynamiken. So wie die Leopardenmorde in Nigeria traten auch diese unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg auf und hingen mit Unsicherheiten zusammen, die sich aus kolonialen Reformen des Systems der indirect rule der 1930er Jahre ergeben hatten. Wie Murray und Saunders in ihrer Studie der Heilkunstmorde in Basutoland verdeutlichen, besteht das Hauptproblem in der Frage, ob diese Morde überhaupt stattfanden. Die Vermutung, dass dies nicht der Fall sein könnte, ergab sich aus der Inhaftierung zweier hochrangiger chiefs im Jahr 1948, hinter der Nationalisten eine List der Regierung vermuteten, mit der die chiefs geschwächt und so die Integration von Basutoland in die südafrikanische Union beschleunigt werden sollte.74 Bei dem Kibi (Kyebi) Mord von 1944, den Richard Rathbone in seiner Monographie untersucht, handelte es sich um ein Begräbnisritual.75 Behauptungen zufolge wurde das Opfer während der Beisetzung des Königs von acht Mitgliedern der Königsfamilie getötet, um mit seinem Blut den ›Thron zu waschen‹.

74 Murray/Sanders, Medicine Murders. 75 Rathbone, Murder and Politics.

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Die Königsfamilie erwiderte, dass die Kolonialregierung sie mit dieser Ritual­ mordanschuldigung belasten wolle. Durch diesen Konflikt radikalisierten sich bisher eher moderat eingestellte Nationalisten und innerhalb eines Monats nach Schließung des Kyebi-Falls im Juli 1947 hatte der Verteidiger Danquah mit der United Gold Coast Convention die erste nationalistische Partei Ghanas gegründet. Jeder dieser langwierigen Fälle in Basutoland, Ghana und Nigeria verdeutlicht, wie vergiftet die Beziehungen zwischen der ›Intelligenzija‹ und den kolonialen Behörden waren und fungierte als Katalysator für die Entstehung antikolonialer Programme. In jedem dieser Fälle dementierten nationalistische Eliten und Politiker vehement die von kolonialen Behörden aufgestellten Ritualmordtheorien. Somit verweisen diese vergleichbaren Fälle allesamt auf wichtige Verwerfungen, an denen verschiedene Formen des Okkulten und der Kategorie Ritualmord innerhalb eines bestimmten historischen Augenblicks konstruiert und dekonstruiert wurden. Übersetzt von Daniel Schneider

Michael Schellenberger

Troubles and Riots Gewaltgemeinschaften in Belfast während der Zwischenkriegszeit

Am Sonntagmorgen, den 16. September 1934, zogen laut einem Augenzeugen der London Times etliche betrunkene Männer singend durch Belfasts North Queen Street, durch ein Gebiet, in dem protestantische und katholische Wohnquartiere aufeinanderstoßen. Es dauerte nur wenige Minuten bis sich eine größere Menge versammelt hatte und ein Straßenkampf entbrannte. Bald fielen vereinzelte Schüsse und es flogen Steine, auch auf die herbeigeeilten Polizisten. Ein festgenommener Katholik erklärte wenig später vor Gericht: »I only tried to save the Catholic people.«1 Die Unruhen hielten den ganzen Tag an und breiteten sich auf das Areal der York Street aus. Fensterscheiben von Wohnhäusern wurden eingeschlagen und Geschäfte geplündert. Noch am Abend tobte in der North Queen Street eine ›Steine-und-Flaschenwurf-Schlacht‹ mit hunderten Beteiligten, die jedoch schließlich von der Polizei beendet werden konnte. Einige Constables, die in einem angrenzenden Straßenzug patrouillierten, wurden zwar noch am späten Abend beschossen, aber ohne dass es Verletzte gab. Die Angreifer »flüchteten im Schutze der Dunkelheit«.2 Insgesamt starben an diesem Sonntag nach Angaben der Times drei Personen durch Schüsse, 15 wurden durch Steinwürfe verletzt.3 Diese eintägigen Unruhen waren nur die Vorboten eines wochenlangen konfessionellen Konflikts im Sommer 1935. Erneut gab ein die katholische Minderheit Belfasts herausforderndes Spektakel den unmittelbaren Anlass: die alljährliche Zelebrierung des 12. Juli, an dem die protestantische Bevölkerung Irlands die »Battle of the Boyne« feiert, jene Schlacht, in der Wilhelm von Oranien 1690 den Stuart-König Jakob II. besiegte. An diesem 12. Juli fand eine Großdemonstration von 40.000 »Orangemen« statt. »Orangeman« war das – vor allem unter Katholiken – zeitgenössische Synonym für einen Protestanten, der für die Union zwischen Irland und Großbritannien einstand, bezeichnete zugleich aber auch ein Mitglied des protestantischen »Orange Order« (Oranier Orden).4 Auf die Kundgebung folgte ein Marsch durch die katholischen Viertel entlang der 1 The Times, Belfast Disturbances, 20. September 1934, S. 5. 2 The Times, Rioting in Belfast, 17. September 1934, S. 17. 3 The Times, Belfast Rioting, 18. September 1934, S. 4. 4 Zum Oranier Orden vgl. Dominic Bryan, Orange Parades. The Politics of Ritual, Tradition and Control, London 2000; Mario Liftenegger, Murals und Paraden. Gedächtnis- und Erinnerungskultur in Nordirland, Wien 2013, S. 225–242.

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York Street und wieder kam es anfänglich zu Straßenschlachten und vereinzelten Schießereien, die sich nicht nur räumlich und zeitlich ausweiteten.5 Auch das Spektrum der Gewalttaten erweiterte sich, ebenso die Zahl und die soziale Zusammensetzung der Gewalttäter sowie der Opfer, wobei sich beide Kategorien überschnitten, denn aus Angreifern konnten gerade im Straßenkampf schnell Opfer werden. Dieses Gewaltszenario vor Augen, appellierte bereits kurz nach Beginn der Unruhen die Irish News – Belfasts katholische Tageszeitung – an alle Einwohner: »[…] to use whatever influence they possess to bring an end the brutal work in Belfast which has brought death and devastation to the city and which has added one more gruesome chapter to its bloodstained history of pogrom«.6 Der historische Bogen, den die Zeitung schlug, reichte nicht etwa bis ins 19. Jahrhundert zurück, seit dem gewaltsame Ausschreitungen zwischen Protestanten und Katholiken geradezu endemisch für die Geschichte Belfasts waren, wie es A. C. Hepburn apostrophierte.7 Der Ankerpunkt lag nur 13 Jahre in der Vergangenheit, in den »Troubles« der Jahre 1920 bis 1922, der bis dato längsten und opferreichsten Gewaltzeit in der Geschichte der Stadt, die ins kollektive Gedächtnis der katholischen Iren als »Belfast Pogrom« eingegangen ist.8 Diese kurze Spannweite ist leicht erklärbar, nahmen die Troubles doch im individuellen Erfahrungsraum der Bewohner Belfasts einen bedeuten­den Platz ein. Die mehr als 400 Toten wurden 1935 noch persönlich betrauert und nicht nur für die über 1.000 Verletzten und zu Zig­tausenden von ihren Arbeitsplätzen und aus ihren Häusern und Wohnungen Vertriebenen blieben die Troubles Teil der Lebenswelt.9 Die Katholiken, die zusammengedrängt entlang der Falls Road lebten, waren verängstigt und entmutigt, schreibt Patrick Shea. Der Katholik und als solcher für lange Zeit einer der wenigen hohen Regierungsbeamten in Nordirland verhehlte aber auch das Leid der Protestanten nicht, für das vor allem die Irish Republican Army (IRA) verantwortlich zeichnete.10 Nicht weniger vernachlässigt Pater John Hassan – Verwalter der St. Mary’s Church in Belfast und unter dem Pseudonym G. B. Kenna Verfasser der ersten (schon im August 1922 erschienenen) Dokumentation über die Gewalttaten – die protes5 Vgl. A. C. Hepburn, A Past Apart. Studies in the History of Catholic Belfast 1850–1950, Belfast 1996, S. 179 f. (Das entsprechende Kapitel: »The impact of Ethnic Violence. The Belfast Riots of 1935« war zuvor erschienen als: The Belfast Riots of 1935, in: Social History 15 (1990), H. 1, S. 75–96.) 6 Irish News, The Rioting in Belfast, 15. Juli 1935, S. 4. 7 Vgl. Hepburn, Past, S. 174. 8 Vgl. u. a. G. B. Kenna, Facts and Figures of the Belfast Pogrom, Dublin 1922 [1997], Reprint hg. v. Tom Donaldson; Jim McDermott, Northern Divisions. The Old IRA and the Belfast Pogroms, 1920–22, Belfast 2001; Taylor Downing (Hg.), The Troubles. The Background to the Question of Northern Ireland, London 1980, S. 105. 9 Zu den Opferzahlen vgl. Peter Hart, The I. R. A. at War, 1916–1923, ND Oxford 2011, S. 248; Tim K. Wilson, Frontiers of Violence. Conflict and Identity in Ulster and Upper Silesia, 1918–1922, Oxford 2010, S. 17; Hepburn, Past, S. 174. 10 Patrick Shea, Voices and the Sound of Drums. An Irish Autobiography, Belfast 1981, S. 112.

Troubles and Riots

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tantischen Opfer: Neben den 267 getöteten Katholiken listet er 185 getötete Protestanten auf.11 Allerdings ging es auch dem Kirchenmann in erster Linie um die Feststellung des Leids unter den eigenen Glaubensbrüdern und -schwestern. Er nahm bedenkenlos den Begriff des »Pogroms« auf, wie er seit Beginn der Unruhen von der katholischen Presse verwendet wurde.12 Bis heute findet der Terminus Pogrom für die Unruhen der frühen 1920er Jahre in Belfast zwar Verwendung,13 der geschichtswissenschaftliche Diskurs hat sich aber von dieser Charakterisierung gelöst. Alan F. Parkinson hält den Begriff in dieser Zuschreibung für problematisch und wenig hilfreich. Obwohl Parallelen zu den antijüdischen Gewaltausbrüchen im Russischen Reich und Osteuropa zu erkennen sind, ging die Gewalt nicht allein von protestantischer Seite aus, und die nicht geringe Opferzahl unter den Protestanten zeigt, dass diese nicht nur Täter waren.14 Robert Lynch hebt hervor, dass bei der Mehrzahl an männlichen Opfern (80 %) unter den Katholiken nicht von einer wahllos auch auf Frauen und Kinder übergreifenden Gewalt gesprochen werden könne. Er betont zudem, dass nicht wenige der getöteten Katholiken selbst aktiv an den Unruhen beteiligt waren und es zu einer Ereigniskette von Provokation, Angriff und Gegenreaktion von beiden Seiten der Konfliktparteien kam.15 Es kann somit nicht davon gesprochen werden, dass »ein Täterkollektiv maßgeblich einseitig Gewalt gegen ein Opferkollektiv verübt« hätte.16 Nicht zuletzt steht der regelrechte Bombenterror der IRA im Jahr 1922 der katholischen Wahrnehmung von Gewalt als »Selbstschutz« entgegen.17 Der analytische Gebrauch des Begriffs Pogrom sagt jedoch noch nichts über seine semantische Bedeutung im zeitgenössischen Kontext aus, wurde er doch insbesondere von der katholischnationalistischen Tagespresse verwendet. Damit ist die Frage nach seiner Funktion als soziales Integrationsmittel von Gewaltgemeinschaften im Verlauf des Konfliktes aufgeworfen. Diese bislang von der Forschung nicht beachtete Frage wird auch in diesem Beitrag leider ausgeblendet bleiben müssen, ist aber zukünftig auf ihr Erkenntnispotential hin zu überprüfen. 11 Vgl. Kenna, Facts, S. 101. 12 Vgl. ebd., Vorwort. 13 Vgl. Hart, I. R. A., S. 247. Beispielhaft ist auch die Studie von Kieran Glennon. Trotz eines plakativen Titels und der Verwendung des Begriffs im Anschluss an die zeitgenössische Terminologie der irischen Nationalisten beabsichtigt Glennon keine Gleichsetzung der Ereignisse von Belfast mit den Ausschreitungen in Osteuropa. Vgl. Ders., From Pogrom to Civil War. Tom Glennon and the Belfast IRA , Cork 2013, S. 16. 14 Vgl. Alan F. Parkinson, Belfast’s Unholy War. The Troubles of the 1920s, Dublin 2004, S. 313 f. 15 Vgl. Robert Lynch, The People’s Protectors? The Irish Republican Army and the »Belfast Pogrom«, 1920–1922, in: Journal of British Studies 47 (2008), H. 2, S. 375–391, hier S. 377; weiterhin Hart, I. R. A., insbes. S. 249–251. 16 Stefan Wiese, Pogrom, in: Christian Gudehus/Michaela Christ (Hg.), Gewalt. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart 2013, S. 152–157, hier S. 153. 17 Vgl. dazu ebd., S. 156.

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Dieser Aufsatz konzentriert sich auf das konkrete Geschehen während der Gewaltzeiten der 1920er und 1930er Jahre. Er nimmt damit einen Zeitraum in den Blick, der durch das politisch-räumliche Auseinanderbrechen der Insel und Phasen hochgradiger und anhaltender Gewalteruptionen gekennzeichnet ist. Mit dieser zeitlichen Fokusierung ergibt sich die Möglichkeit, zwei nah beieinander liegende Gewaltzeiten zu untersuchen, die in den Täter- und Opferstrukturen sowohl Ähnlichkeiten als auch markante Unterschiede aufweisen. Das erfordert zugleich eine sprachliche Unterscheidung, weshalb im Folgenden von den »Troubles« der 1920er Jahre gesprochen wird,18 während die Unruhen des Jahres 1935 in Anlehnung an eine in den damaligen lokalen Tageszeitungen übliche Benennung als »Riots« bezeichnet werden.19 Angestrebt wird im Folgenden keine normative oder diskursive Auseinandersetzung mit der Täterschaft und den Opferrollen. Aufgegriffen wird vielmehr die in der historischen Gewaltforschung keineswegs mehr neue Forderung nach einer dichten Beschreibung.20 Auf deren Basis zielt das Erkenntnisinteresse auf Fragen nach der Konstituierung der beteiligten kollektiven Gewalt­a kteure und auf die Opfergruppen ab und das im Zusammenhang mit den situativen Kontexten und den konkreten Praktiken der Gewaltanwendung. Es geht somit auch um die »Topographie städtischer Gewalt« und die »Logik und Logistik« von Gewaltpraktiken.21 Dazu bedarf es einer differenzierten Analyse der Gewalt­gemein­schaften und der Formen der kollektiven Gewaltanwendung.22 Ins Blickfeld geraten dabei Gewaltgemeinschaften mit einem unterschiedlich hohen Grad an Organisation bzw. Integration, für deren Unterscheidung eine sprachliche Differenzierung notwendig ist. Daher werden für gering organisierte bzw. nur kurzfristig bestehende (»teilintegrierte«) Gewaltgemeinschaften 18 Von Troubles wurde im zeitgenössischen Kontext nur gelegentlich gesprochen, da aber die Parallelen zum Nordirlandkonflikt der Jahre 1969 bis 1998, der allgemein als die »Troubles« bezeichnet wird, unverkennbar sind, bietet er sich auch zur Kennzeichnung der Unruhen in den 1920er Jahren an. Vgl. Downing, Troubles. 19 Der Begriff »Riots« fand sowohl in der katholischen als auch in der protestantischen Tagespresse Verwendung. Daneben wurde vor allem in der unionistischen Presse von »Disturbances«, in der nationalistischen Presse vereinzelt auch wieder von »Pogrom« gesprochen. Die soziologische Terminologie versteht unter »Riot« einen »outbreak of temporary but violent mass disorder«, was auch aus dieser Sicht die Verwendung des Begriffes gegenüber den »Troubles« nahelegt. William Seagle, Art. Riots, in: Edwin R. A. Seligman (Hg.), Encyclopaedia of the Social Sciences, Bd. 13, New York 1950, S. 386–392, hier S. 386. 20 Vgl. Sven Reichardt, Formen faschistischer Gewalt. Faschistische Kampfbünde in Italien und Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg, in: Sociologus 51 (2001), H. 1/2, S. 55–88, hier S. 56 f. 21 Vgl. Malte Rolf, Metropolen im Ausnahmezustand? Gewaltakteure und Gewalträume in den Städten des späten Zarenreichs, in: Friedrich Lenger (Hg.), Kollektive Gewalt in der Stadt. Europa 1890−1939, München 2013, S. 25–49. 22 Zum Begriff »Gewaltgemeinschaften« und dessen inhaltlicher Verknüpfung von Struktur und Praktiken vgl. Winfried Speitkamp, Gewaltgemeinschaften, in: Gudehus/Christ, Gewalt, S. 184–190.

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auch die Begriffe »Gewaltmassen« und »Gewaltgruppen« Anwendung finden,23 die eine terminologische Nähe zum englischen »crowds« herstellen.24 Die Troubles und Riots sind trotz ihrer zeitlichen Nähe bislang noch nicht gemeinsam untersucht worden. Seit den 1980er Jahren gibt es allerdings ein großes geschichtswissenschaftliches Interesse an der Vor- und Teilungsgeschichte bzw. der Entstehungszeit Nordirlands und der Republik Irland. Vor allem die Troubles wurden inzwischen vielfach analysiert: Ursachen, Bedingungen, der Verlauf des Gewaltgeschehens und die Aktivitäten einzelner Gewaltgemeinschaften vor und während der Troubles sind aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet worden.25 Tim Wilson hat mit seiner vergleichenden Studie zu Ulster und Oberschlesien für die Jahre 1918 bis 1922 inzwischen auch den Blick auf die Gewalt im Norden Irlands ausgeweitet und von der rein nationalen bzw. nationalistischen Lesart befreit. Vor allem aber hat er eine Alternative zum Ansatz der »politischen Gewalt« aufgezeigt und die »ethnische« Identität sowie die Konstituierung der Gewaltakteure ins Zentrum gerückt.26 Zu den Riots hingegen liegt bislang einzig eine fundierte Abhandlung von A. C. Hepburn vor, die jedoch nur bedingt auf die konkreten Gewaltsituationen und -dynamiken eingeht.27 An diese Vorüberlegungen anschließend, wird sich dieser Beitrag stärker auf das eigentliche Gewaltgeschehen während der Troubles und Riots konzentrieren als auf die politisch-konfessionellen Implikationen beider Konflikte. Dabei sollen die Täter- und Opferstrukturen präzise bestimmt und kontextualisiert werden. Dazu sind die Gewaltzeiten, beginnend mit der Formierung der Konfliktparteien, darzustellen. Über die Analyse der Gewaltgemeinschaften bzw. der Täterkonstellationen soll dabei versucht werden, die Troubles und Riots in 23 Axel T. Paul und Benjamin Schwalb definieren in ihrem gleichnamigen Sammelband »Gewaltmassen« solche als »nicht-organisierte, darum jedoch nicht unbedingt unstrukturierte Kollektive kopräsenter Akteure, die gemeinschaftlich, deswegen jedoch nicht planvoll, physische Gewalt gegen Dritte ausüben«, wobei sie explizit darauf verweisen, dass nicht die Größe der Kollektive entscheidend ist, »sondern ihre Fähigkeit zu koordiniertem gewaltsamen Vorgehen«. Dies. (Hg.), Gewaltmassen. Über Eigendynamik und Selbstorganisation kollektiver Akteure, Hamburg 2015, S. 10. Damit eignet sich dieser Terminus für eine analytische Differenzierung der Kategorie Gewaltgemeinschaft, gleichwohl bleibt der »Masse«-Begriff problematisch in seiner Verwendung. Zwar lässt sich Masse nach KarlHeinz Hillmann auch als eine »konkrete, begrenzte Menge (Ansammlung) von Menschen in gemeinsamer Aktion« verstehen (vgl. Ders., Wörterbuch der Soziologie, Stuttgart 52007, S. 536–537), gleichwohl umschreibt »Masse« eine größere Anzahl. Daher soll der »Gewaltmasse« als Äquivalent für eine kleinere Anzahl von gemeinsam handelnden Gewaltakteuren der Begriff »Gewaltgruppe« zur Seite gestellt werden. 24 Zum Begriff »crowd« als analytischer Kategorie vgl. John Stevenson, Popular Disturb­ ances in England, 1700−1832, London ²1992, S. 11 f.; Luther Lee Bernard, Art. Crowds, in: Seligman, Encyclopaedia of the Social Sciences, Bd. 4, New York 1930, S. 612 f. 25 Zum Forschungsstand vgl. Wilson, Frontiers, S.  6; Parkinson, Belfast’s Unholy War, S. 9–12. 26 Vgl. Wilson, Frontiers. 27 Vgl. Hepburn, Past, S. 179–202.

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ihrer Eigenheit zu erfassen, und dabei Phasen und Strukturen im Gewaltgeschehen herauszuarbeiten. Anschließend werden spezifische Gewaltsituationen in den Fokus gerückt, wobei das Augenmerk vor allem auf den Gewaltmassen bzw. -gruppen liegen wird.28 Am Ende steht der Versuch einer kategorisierenden Betrachtung der Gewalttäter und ihrer Opfer anhand sozialer Parameter. Vorab noch einige Worte zur speziellen Gewaltgeschichte Belfasts. Diese reicht fast soweit zurück wie die Irlands überhaupt, doch nimmt Belfast in dieser langen Historie eine Sonderstellung ein. Die Erklärung dafür findet sich in dem speziellen physischen und funktionalen Erscheinungsbild der protestantisch beherrschten Stadt. Die Hafenstadt war das einzig bedeutende industrielle Zentrum der Insel, mit der Leinenproduktion und dem Schiffs- sowie Maschinenbau als den wichtigsten verarbeitenden Gewerbezweigen. Der industrielle Ausbau bildete den Motor für das Stadtwachstum und war zugleich ein Magnet für katholische Einwanderer, die als Arbeiter und Arbeiterinnen mehrheitlich in den Spinnmühlen, Werften und Fabriken tätig waren. Bis zum Beginn der 1920er Jahre stieg Belfast mit 430.000 Einwohnern nicht nur zur größten irischen Stadt auf, 1922 wurde aus der Hauptstadt der nördlichen Provinz ­Ulster auch der offizielle Regierungssitz des neu geschaffenen Nordirlands. Mit der Gründung des Freistaates Irland und der Abtrennung der sechs, mehrheitlich protestantischen Grafschaften der Provinz Ulsters vom »Süden« avancierte Belfast zum politischen Mittelpunkt eines eigenständigen Staatsgebildes innerhalb des britischen Königreichs.29 Nicht nur die politisch-symbolische Bedeutung Belfasts als Metropole des protestantisch-unionistischen Irlands bildete somit die Basis für die häufig ausbrechende innerstädtische Gewalt, auch die Größe der Stadt sowie die Gemengelage aus den ethnisch-sozialen Konflikt­ linien, vor allem in den proletarischen Wohn- und Arbeitsgebieten, fungierten als Gewaltauslöser.

1. Die Formierung der Konfliktparteien Die Eskalation der Gewalt in Belfast zu Beginn der 1920er Jahre bildete nur den vorläufigen Höhepunkt einer langen Geschichte gewaltsamer Auseinandersetzungen zwischen Katholiken und Protestanten. Obgleich Belfast keine ausgesprochene Stadt der Gewalt war, wie es Tim Wilson erklärt,30 kam es seit Beginn des 19.  Jahrhunderts immer wieder zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen den beiden Konfessionsgruppen. Größere Unruhen, die sich mit­unter 28 Insofern wird zum Beispiel nicht auf die Überfälle von IRA-Einheiten auf RIC -Barracken während der Troubles eingegangen, zumal diese vor allem Auslöser von weiteren Gewaltakten waren und Polizisten im Vergleich zu den ›zivilen‹ Opfern nur wenige Prozent ausmachten. Vgl. Richard Abbott, Police Casualties in Ireland, 1919–1922, Dublin 2000; Hart, I. R.A, S. 248. 29 Vgl. William Maguire, Belfast. A History, Lancaster 2009. 30 Vgl. Wilson, Frontiers, S. 38.

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über Tage und Wochen hinzogen und bei denen es zahlreiche Tote gab, fanden in den Jahren 1832, 1843, 1857, 1864, 1872 und 1886 statt; allein 1886 starben 32 Menschen, mehr als 370 wurden verletzt.31 Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts wird geradezu als ein »age of riots« beschrieben.32 Auch das frühe 20. Jahrhundert blieb nicht frei von konfessionell bestimmten Gewaltzeiten, so während des Dockarbeiterstreiks 1906 und der Aussperrung katholischer Werftarbeiter 1912. Die nach diesem Ereignis beginnende Zeitspanne, die bis zum ersten Nachkriegsjahr reicht, erschien den Zeitgenossen dagegen vergleichsweise friedlich. Der bereits zitierte Pater Hassan sah im Werftarbeiterstreik 1919 sogar die Differenzen zwischen »Orange and Green« im Zeichen der Arbeitersolidarität verschwinden.33 Doch kann diese Zeit ebenso als Ruhe vor dem Sturm gedeutet werden, in der eine bis dato nicht gekannte Mobilisierung und die Aufrüstung gewaltbereiter Gruppen die Grundlage für die massive Gewalteruption im Sommer 1920 und die anschließende Verstetigung des Gewaltgeschehens bildete. Den Nährboden für die sich zu regelrechten »Ritualen des konfessionellen Konflikts«34 entwickelnden Gewaltausbrüche bereitete das Wachstum der katholischen Gemeinschaft Belfasts, für das auch die stete Binnenwanderung verantwortlich zeichnete. Im Jahr 1901 lebten 85.000 Katholiken in der Stadt, das waren mehr als doppelt so viele wie vierzig Jahre zuvor. Dennoch sank der Anteil der katholischen Bevölkerung seit den 1860er Jahren dank der rapiden Zunahme der Einwohnerschaft wieder von etwa einem Drittel auf unter ein Viertel seit der Jahrhundertwende. Während sich also der Minderheitenstatus der Katholiken in Belfast eher wieder verfestigte, erzeugte das Wachstum ihrer Gemeinschaft unter den Protestanten eine andere Wahrnehmung: Deren Selbst­ behauptung als Bewohner einer »Protestant town in a Protestant United Kingdom« schien herausgefordert zu sein, zumal sich einerseits seit der zweiten Hälfte des 19.  Jahrhunderts der irisch-katholische Kulturnationalismus mit seinem Eigenständigkeitsanspruch auf der ganzen Insel etabliert hatte, andererseits das protestantische Beharren auf einer uneingeschränkten Union mit Großbritannien nicht minder ausgeprägt war, und sich bei alldem die Alteri­ tätserfahrungen immer stärker nach der jeweils anderen Konfessionsgruppe ausrichteten.35 Verstärkte sich die politische und soziale Segregation zwischen protestantischen und katholischen Bevölkerungsteilen bis zum Ersten Weltkrieg in ganz 31 Vgl. Charles Townshend, Political Violence in Ireland. Government and Resistance since 1848, Oxford 1983, S. 189. 32 A. C. Hepburn, Catholic Belfast and Nationalist Ireland in the Era of Joe Devlin, 1871–1934, Oxford 2008, S. 12. 33 Kenna, Facts, S. 13. 34 Maguire, Belfast, S. 135. 35 Vgl. Thomas Noetzel, Geschichte Irlands. Vom Erstarken der englischen Herrschaft bis heute, Darmstadt 2003, S. 65–99; Benedikt Stuchtey, Geschichte Irlands, München 2012, S. 82–87.

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Irland, wurde in Belfast diese Absonderung zudem räumlich manifest. Die Katholiken konzentrierten sich dauerhaft in Stadtvierteln, die sich vornehmlich in der Mitte und im Westen der Stadt befanden und teils stark separiert, teils von angrenzenden gemischt-konfessionellen Straßen umgeben waren.36 Schon frühzeitig setzte mithin eine Territorialisierung der konfessionell bestimmten Gewalt in Belfast ein. Die Straßenschlachten, die sich in den 1830er Jahren zwischen den Viertel Sandy Row und dem angrenzenden, mehrheitlich katholischen Pound-Viertel abspielten, zeichneten die Topographie vor, in der sich auch zukünftig die innerstädtische Gewalt abspielen sollte.37 Die Gegend um die Pound Street blieb ein, aber nicht das alleinige Zentrum der Gewalt; vor allem das Areal um die Falls Road, das sich zum größten zusammenhängenden katholischen Wohngebiet entwickelte, etablierte sich im 20. Jahrhundert als Gewaltzone. Dabei konzentrierte sich die Gewalt stark auf die Grenzbereiche der im Zentrum der Stadt gelegenen katholischen Wohnbereiche.38 Trotz der langen Vorgeschichte und einiger unverkennbarer Kontinuitäten im Gewalthandeln zeigen die Troubles der 1920er Jahre einige strukturelle Abweichungen von den Unruhen des 19. Jahrhunderts und können, einen Erklärungsansatz Charles Tillys aufgreifend, als Beispiel für eine »moderne« Form kollektiver Gewalt interpretiert werden.39 Von den neuen Strukturelementen kollektiver Gewalt, die Tilly seit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert ausmacht, sind zwei geradezu kennzeichnend für die Troubles: erstens die komplexere Organisation der Akteure, also das Übergewicht von Gruppen, die einem bestimmten Bekenntnis oder Programm folgen, sowie die Aktivitäten von spezialisierten Vereinigungen gegenüber wenig strukturierten Gewaltgemeinschaften (»ordinary«, »mixed crowds«), und zweitens die steigende Bedeutung der Polizei gegenüber dem Militär in der Konfliktbewältigung.40 Noch während des 36 Vgl. Hepburn, Past, S. 31–56; Maguire, Belfast, S. 94–97, 114–116; zur allgemeinen politischen und sozialen Entwicklung in Irland und der Provinz Ulster vgl. u. a. Liam­ Kennedy/Philipp Ollerenshaw, Ulster since 1600. Politics, Economy, and Society, Oxford  2013; Michael Maurer, Geschichte Irlands, Stuttgart ³2013; Noetzel, Geschichte Irlands; Frank Otto, Der Nordirlandkonflikt. Ursprung, Verlauf, Perspektiven, München ²2010; Stuchtey, Geschichte Irlands. 37 Vgl. Maguire, Belfast, S. 95. 38 Vgl. die Karte: »Street outline in Belfast in 1980 showing the Locations of Major Riots 1857‒1980«, in: Downing, Troubles, S. 202 f.; Catherine Hirst, Religion, Politics and Violence in Nineteenth-Century Belfast. The Pound and Sandy Row, Dublin 2002. 39 Tilly versteht seine Analyse kollektiver Gewalt im neuzeitlichen Europa als eine politische Interpretation der kollektiven Gewalt, indem er nach dem Verhältnis von kollektiver Gewalt und den politischen Strukturen fragt, die in diesem Aufsatz zumindest nicht vordergründig problematisiert werden. Durch seinen deutlichen Fokus auf die Ebene der Akteure wird seine Interpretation gleichwohl anschlussfähig für Studien, die sich den Praktiken der Gewalt stärker zuwenden. Vgl. Charles Tilly, Collective Violence in European Perspectives, in: Hugh Davis Graham/Ted Robert Gurr (Hg.), Violence in America. Historical & Comparative Perspectives, Beverly Hills 1979, S. 83–118. 40 Vgl. ebd., S. 89–103.

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Belfaster Dockarbeiterstreiks im Sommer 1906 hatte das Militär in großer Zahl in der Stadt agiert und sich für eine Reihe von Toten und Verletzten verantwortlich gezeichnet.41 Während der Troubles kam die Armee anfänglich wohl noch stärker zum Einsatz, sie spielte aber spätestens ab Mitte des Jahres 1921 nur noch eine nachgeordnete Rolle.42 Das resultierte aus den Entscheidungen der britischen Politik, welche nach dem Ersten Weltkrieg innerstädtische Konflikte nicht mehr vordergründig mit der Hilfe des Militärs befrieden wollte und stattdessen spezialisierte, paramilitärisch ausgerüstete Polizeikräfte zum Einsatz kommen ließ.43 Das britische Militär, in Belfast vertreten durch das 1st Norfolk Regiment, war daher auch nicht die Hauptzielscheibe gewaltsamer Angriffe, was sich an der Zahl der getöteten Soldaten ablesen lässt, die unter derjenigen der Polizisten lag.44 Dazu hat auch beigetragen, dass das Norfolk Regiment nicht parteiisch gegen eine Konfessionsgruppe vorging, weshalb es vor allem von den militanten Protestanten in Belfast angefeindet wurde.45 Ungleich stärker in den Konflikt involviert waren die Royal Irish Constabu­ lary (RIC), die aus Katholiken und Protestanten bestehende irische Landes­ poli­zei, sowie die 1920 als Hilfseinheit installierte Ulster Special Constabulary (USC), die aus dem nichtstaatlichen Freiwilligenverband der Ulster Volunteer Force (UVF) hervorging.46 Der Einsatz der sogenannten Specials verschärfte aber den Konflikt mehr, als er ihn einhegte. Vor allem Angehörige der größten Einheit der USC , die B-Specials, trugen vielfach selbst als Täter zum Gewalt­ geschehen bei. Den Crown Forces, wie Militär und Polizeikräfte von nationalistischer Seite bezeichnet wurden, standen als organisierte Kontrahenten in erster Linie die Kämpfer der IRA gegenüber. Waren die IRA und die Specials zwar nicht die einzigen (organisierten) kollektiven Gewaltakteure in den Troubles, hatten sie gleichwohl wesentlich Anteil an deren Ausbruch. Zudem trug ihre 41 Vgl. Anthony Babington, Military Intervention in Britain. From the Gordon Riots to the Gibraltar Incident, London 1990, S. 133 f.; John Gray, The 1907 Belfast Dock Strike, in: Alan F. Parkinson/Éamon Phoenix (Hg.), Conflicts in the North of Ireland, 1900–2000, Dublin 2010, S. 15–27. 42 Nach Michael Farrell waren Anfang 1920 vier Bataillone mit etwa 400 bis 600 Soldaten in den sechs Grafschaften des späteren Nordirlands stationiert. Bis Juni 1920 kamen drei weitere Bataillone hinzu. Die Zahl der regulären Polizeikräfte betrug anfänglich 2.700 und obgleich sie sich um mehr als 500 bis zum Sommer 1920 verringerte, blieb die Royal Irish Constabulary dem Militär nicht nur zahlenmäßig überlegen. Auch in der Informationsbeschaffung blieb das Militär von der Polizei abhängig. Aus der Dokumentation von Kenna lässt sich zudem ein Rückgang der militärischen Aktivitäten folgern. Vgl. Michael Farrell, Arming the Protestants. The Formation of the Ulster Special Constabulary and the Royal Ulster Constabulary, 1920–7, London 1983, S. 13; Kenna, Facts. 43 Vgl. Babington, Military Intervention, S. X, 134–152. 44 Vgl. Hart, I. R. A., S. 248. 45 Vgl. Tim Wilson, ›The most terrible assassination that has yet stained the name of Belfast‹. The McMahon Murders in Context, in: Irish Historical Studies 37 (2010/11), S. 83–106, hier S. 103 f. 46 Zur RIC vgl. u. a. Wilson, Frontiers, S. 89 f.; Shea, Voices.

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heraus­ragende Rolle zur Dauerhaftigkeit und der großen Opferzahl des Konflikts entscheidend bei, ebenso wie der Abzug der IRA auch die Beendigung des Gewaltgeschehens in Belfast einläutete. Die unmittelbare Vorgeschichte der Troubles ist eng verbunden mit der Gründung der Ulster Volunteer Force und der Irish Republican Army. Die UVF war ein Produkt der Home Rule-Bewegung, die nach zwei gescheiterten Gesetzesinitiativen Ende des 19. Jahrhunderts vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges erneut an Dynamik gewann. Die parlamentarischen Bemühungen um eine Auflösung der seit 1801 bestehenden staatsrechtlichen Einheit von Irland mit Großbritannien und die politische Selbstbestimmung der Insel riefen unter den Protestanten Ulsters vehementen Widerstand hervor. Vor allem in der dritten Home Rule-Krise von 1912 bis 1914 verdichtete sich der Konnex zwischen (Ulster-)Protestanten und unionistischer Bewegung, wobei die konfessionellen – zwischen Presbyterianern und Anglikanern  – und sozialen Unterschiede in der politischen Gemeinschaft zurücktraten, indes sich die Gleichsetzung von irischem Katholizismus und irischem Nationalismus gleichfalls weiter verstärkte. Pater John Hassan beantwortete 1922 die Frage, ob die Troubles anti-katholisch oder anti-national seien, mit der Feststellung: »In practice, however, it comes to much the same thing as in Belfast, Catholic and Nationalist are almost synonymous terms.«47 Die Home Rule-Bewegung bestärkte die Ängste und die Belagerungsmentalität unter den Protestanten Ulsters, die sich zunehmend von den katholischen Nationalisten bedroht und von Westminster vernachlässigt fühlten, und rief eine mit großem propagandistischem Aufwand betriebene Gegenbewegung hervor. Während in Massenversammlungen hunderttausende Nordiren für die Aufrechterhaltung des staatspolitischen Status quo demonstrierten, begannen Logen des Oranier Ordens, der unter dem Einfluss der Home Rule-Bewegung einen starken Zulauf erlebte, paramilitärische Freiwilligeneinheiten zu formieren. Aus diesen Anfängen ging 1912 die UVF hervor, die unter der Ägide des charismatischen Anwalts Edward Carson und des Unterhaus-Abgeordneten James Craig – den politischen Führern der Unionisten – in kurzer Zeit zehntausende Männer mobilisieren konnte. Im April 1914 gelangten Tausende von Gewehren und Tonnen an Munition aus Deutschland in die Hände der UVF, was vor allem ihren Ruf als schlagkräftige Privatarmee bestärkte. Ungeachtet dessen verabschiedete das britische Unterhaus im Sommer 1914 eine Home Rule Bill für Irland, der Kriegsausbruch verhinderte aber deren Inkrafttreten. Viele Ulster Volunteers traten im Krieg der 36. (Ulster) Division bei. Ihre Waffen gelangten insbesondere nach dem Osteraufstand 1916 in geheime Depots.48 47 Kenna, Facts, S. 13. 48 Vgl. u. a. Noetzel, Geschichte Irlands, S. 89–99; Andreas Helle, Ulster. Die blockierte Nation. Nordirlands Protestanten zwischen britischer Identität und irischem Regionalismus (1868–1922), Frankfurt a. M. 1999, S. 308–351; speziell zur UVF vgl. Timothy Bowmann, Carson’s Army. The Ulster Volunteer Force, 1910–1922, Manchester 2007; Jane G. V. McGaughey, Ulster’s Men. Protestant Unionist Masculinities and Militarization in the North of Ireland, 1912–1923, Montreal 2012; Farrell, Arming the Protestants.

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Die Gründung der UVF rief als Gegenreaktion auf der Seite der Nationalisten die Bildung der National Volunteers hervor, die unter starkem Einfluss des seit 1858 bestehenden revolutionären Geheimbundes der Irish Republican Brotherhood (IRB) – der Fenians – standen. Die Führung der IRB bemühte sich über ihre Kontakte in die USA nicht nur um die Bewaffnung der Freiwilligen, sie zeichnete auch für den Osteraufstand 1916 verantwortlich, bei dem Irish Volunteers gemeinsam mit der 200 Mann starken Irish Citizen Army um den Sozialisten James Connolly das Gebiet um das Dubliner General Post Office besetzten und die Republik Irland ausriefen. Der Aufstand war von Anfang an militärisch aussichtslos, politisch erreichte er gleichwohl aufgrund des harten Vorgehens des britischen Militärs sein Ziel. Die Aufständischen avancierten zu Helden des Unabhängigkeitskampfes, während die Niederschlagung des Aufstandes und die anschließenden Vergeltungsmaßnahmen die antibritischen Strömungen bestärkten. Bei den ersten Unterhauswahlen nach dem Krieg errang die irisch-­ natio­nalistische Partei Sinn Féin daher einen großen Wahlsieg, doch die Abgeordneten traten ihre Mandate nicht an. Sie gründeten vielmehr im Januar 1919 ein eigenes Parlament für Irland, das Dáil Éireann, und etablierten eine provisorische Regierung. Zugleich schlossen sich die paramilitärischen Verbände von Irish Volunteers, IRB und Irish Citizen Army zur IRA zusammen, die für sich in Anspruch nahm, als nationale Armee in einem besetzten Land zu kämpfen.49 Die UFV war zu dieser Zeit zwar noch nicht reaktiviert, unter den vielen Weltkriegsveteranen der UFV gab es aber ein ausgeprägtes Zusammengehörigkeitsgefühl, das in starker Verbindung zum Oranier Orden stand und das bei den Paraden am 12.  Juli zutage trat.50 Nach einer Ermittlung der Royal Irish Constabulary im September 1918 zählten die Irish Volunteers allein in Belfast 500 Mitglieder, die Zahl der UVF-Angehörigen wurde sogar auf 10.000 geschätzt. Stand den kampfbereiten Protestanten der Oranier Orden mit seinen etwa 15.000 Mitglieder zur Seite, stärkten auf katholischer Seite der Ancient Order of Hibernians  – als Gegengründung zum Oranier Orden  – mit seinen 8.000 und Sinn Féin mit 950 Mitgliedern der IRA politisch und symbolisch den­ Rücken.51 Da die UVF das Hauptreservoir für die künftigen B-Specials der Ulster Specials Constabulary bilden sollte, stand somit schon geraume Zeit vor dem Ausbruch der Troubles die personelle Grundstruktur der beiden wichtigsten integrierten Gewaltgemeinschaften fest. Ausgeprägt war zu Beginn der Zwischenkriegszeit auch bereits die gegenseitige Wahrnehmung bzw. die Selbstwahrnehmung der Kontrahenten, indem beide Konfliktparteien den Gegner in die Position eines Aggressors rückten. Das implizierte nicht zwangsläufig die Einnahme einer Opferposition, vielmehr war es die Legitimation für das eigene Gewalthandeln.

49 Vgl. Noetzel, Geschichte Irlands, S. 69–73, 92–97; Hart, I. R. A., S. 90–99. 50 Vgl. McGaughey, Ulster’s Men, S. 133–139; Kenna, Facts, S. 36. 51 Vgl. McDermott, Northern Divisions, S. 15.

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2. Die Troubles Mit der Gründung der irischen Untergrundregierung begann die IRA im Süden der Insel einen Guerillakampf. Die wegen ihres schnellen Auf- und Abtauchens als »flying columns« bezeichneten Einheiten sagten vor allem der RIC den Kampf an, was gezielte Morde an Polizisten einschloss. Hierauf reagierte die britische Regierung mit dem Einsatz von Hilfstruppen, den »Auxiliaries« und »Black&Tans«, aus ehemaligen Offizieren und Soldaten, die einen entscheidenden Anteil an der Eskalation des Gewaltgeschehens hatten.52 Die von den Nationalisten lancierte Bezeichnung »Anglo-Irish War« für diesen Konflikt hält Thomas Noetzel allerdings für relativierungsbedürftig: »Vielmehr stößt man auf die typischen Eskalationsmuster eines Guerillakampfes, in dem die Aktionen der IRA durch die britischen Hilfstruppen massiv vergolten wurden.«53 Ein Muster, das sich später auch in Belfast wiederholen sollte. Blieb Ulster zunächst von diesen Auseinandersetzungen verschont, entluden sich erstmals im Frühjahr 1920 Spannungen in Londonderry/Derry, nachdem Nationalisten und Sinn Féin bei Stadtratswahlen die Mehrheit errungen hatten. Im April entbrannten Straßenkämpfe zwischen katholischen und protestantischen Stadtvierteln. Auf die Bogside – den katholischen Bezirk, der in den Troubles des späten 20. Jahrhunderts zu einem Hauptschauplatz werden sollte – wurde geschossen und die Polizei ging mit Bajonetten gegen die katholischen Aufrührer vor. Im Mai kam es zu Kämpfen zwischen der IRA und der Polizei, zugleich reorganisierte und bewaffnete sich die UVF und errichtete Straßen­ blockaden. Trotz des zusätzlichen Einsatzes von militärischen Truppen eskalierte die Gewalt in den folgenden Wochen.54 Ein Polizistenmord, der in die Zeit der Märsche und Feiern zum 12. Juli und damit in eine ohnehin aufgeheizte antikatholische Stimmung fiel, lieferte dann den letzten Anlass, um die Gewalt endgültig auf Belfast übergreifen zu lassen.55 Am 21. Juli 1920, dem ersten Arbeitstag nach den Festtagsferien, gab es massive Übergriffe auf Werftarbeiter – nicht allein katholische, sondern auch protestantische, die als nicht loyalistisch oder als politisch links galten. Die in Gruppen auftretenden Angreifer bewarfen ihre Opfer mit Steinen, schlugen sie zusammen oder warfen sie in den Fluss Lagan, um sie vom Ufer aus noch mit Schrauben oder anderen Wurfgeschossen zu traktieren. Drei Tage hielten die Unruhen an, in denen Tausende von Arbeitern von ihren Arbeitsplätzen vertrieben, Wohnhäuser von Katholiken in Brand ge52 53 54 55

Vgl. Noetzel, Geschichte Irlands, S. 101 f. Ebd., S. 101. Vgl. Jonathan Bardon, A History of Ulster, Belfast 1992, S. 468. Auslöser war die Beerdigung des in Cork ermordeten Polizisten G. B. Smyth. Der RIC Offizier, der mit seiner radikalen Haltung landesweit Aufsehen erregt hatte, wurde am 21. Juli in Banbridge, County Down, das etwa dreißig Meilen von Belfast entfernt liegt, mit militärischen Ehren beigesetzt. Vgl. Abbott, Police, S. 96–103; McDermott, Northern Division, S. 35.

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setzt und Geschäfte geplündert wurden. Am stärksten betroffen war der katholische Stadtteil Ballymacarett, der an das Werftgelände angrenzt. Angegriffen und umkämpft wurde auch die dortige St. Matthew’s Church, woraufhin das Militär eingriff und gegen die Angreifer mit Schusswaffen vorging.56 Der Militäreinsatz führte in den aufrührerischen Stadtgebieten zwar zu einer vorübergehenden Beruhigung, doch seit dem 22. August kam das Gewalt­ geschehen erneut in Gang, abermals ausgelöst durch die Ermordung eines Polizisten in der unweit von Belfast gelegenen Stadt Lisburn. Die Gewalt entbrannte im wahrsten Sinne des Wortes entlang der üblichen konfessionellen Konfliktorte in der Stadt, wobei über Tage hinweg katholische Wohnhäuser in einer regelrechten Welle von Brandstiftungen in Flammen aufgingen. Protestanten plünderten reihenweise Geschäfte, vor allem »spirit grocery stores«  – wieder wurden Werftarbeiter auf ihren Arbeitswegen attackiert und zwischen protestantischen und katholischen Stadtvierteln wechselten sich Angriffe und Gegenangriffe ab. Daraufhin wurde am 30. August eine Ausgangssperre verhängt, die vorerst die Straßenkämpfe eindämmte.57 Sowohl bewaffnete Ulster Volunteers – die sich aus den geheimen Vorkriegsdepots bedienten – als auch Mitglieder der IRA griffen in die Kämpfe ein.58 In Belfast sollte sich die UVF allerdings nicht mehr zu festen Einheiten zusammenfinden. Die IRA wiederum war personell und materiell noch zu schwach aufgestellt, um den Konflikt entscheidend zu prägen. Im ersten Jahr der Troubles beschränkten sich die Einsätze der aktiven Mitglieder daher noch weitgehend auf die katholischen Viertel. Im besonders umkämpften Ballymacarrett gelang es einem IRA-Offizier offenbar 120 arbeitslose Männer zu rekrutieren, die jedoch nur mit leichten Handfeuerwaffen und Handgranaten ausgerüstet waren und noch nicht über Gewehre verfügten. Um diesen Nachteil gegenüber den Crown Forces inklusive der Specials auszugleichen, begann die IRA im Herbst 1920 auch in Belfast mit Überfällen auf die RICPatrouillen sowie zudem damit, Handgranaten und Bomben in Eigenproduktion herzustellen.59 Der Umschwung hin zum verstärkten terroristischen Kampf sollte gleichwohl erst Ende 1921 einsetzen. Daher ähnelten die Troubles zu dieser Zeit noch mehr den überkommenen Formen von Unruhen und hatten noch nicht die bürgerkriegsartigen Ausmaße mit einem stärkeren Grad der Militarisierung angenommen wie es im Frühjahr und Sommer 1922 der Fall sein sollte. Mit der Verhängung der Notstandsmaßnahmen ebbte die erste Welle der Gewalt in Belfast merklich ab. Vereinzelte Zwischenfälle forderten zwar auch in den nächsten Monaten auf beiden Seiten Todesopfer, doch wurde die Situation als relativ ruhig beschrieben.60 Erneut wurde in dieser äußerlich stabileren 56 Vgl. Bardon, Ulster, S. 471 f.; Kenna, Facts, S. 16 f. 57 Vgl. Bardon, Ulster, S. 472 f.; Kenna, Facts, S. 25–30. 58 Vgl. Bowmann, Carson’s Army, S. 190–195, insbes. S. 194; Parkinson, Belfast’s Unholy War, S. 32. 59 Vgl. Glennon, Pogrom, S. 36–44. 60 Vgl. Kenna, Facts, S. 40, 101–103.

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Phase gleichwohl ein weiterer Baustein für die spätere Eskalation des Konfliktes gelegt, indem sich in Belfast und Ulster verstärkt höher integrierte Gewaltgemeinschaften zu organisieren begannen. So formierten sich im Herbst 1920 »Cromwell Clubs« aus bewaffneten Ex-Soldaten, die sich ein Jahr später als »Imperial Guards« bei militärischen Paraden der Öffentlichkeit präsentierten.61 Gerade solche paramilitärischen Gruppierungen bzw. überhaupt die nicht zu übersehende Beteiligung von Veteranen des Ersten Weltkriegs am künftigen Konfliktgeschehen scheinen die These von der Brutalisierung der Nachkriegsgesellschaft zu bestätigen. Doch macht die Rückschau auf die Formierung der Konfliktparteien vor dem Krieg deutlich, dass es sich hier um eine längerfristige Entwicklung handelte und das Erbe des Krieges zwar ein wichtiger, aber nicht der alles entscheidende Faktor für die Gewalteskalation in den frühen 1920er Jahren war.62 Der Organisationsprozess der Gewaltgemeinschaften in der Anfangsphase der Troubles ist ebenso wie die Zahl, der Aufbau und die Struktur der einzelnen Gruppierungen während der Troubles nicht ohne Weiteres auszumachen. Vermutlich organisierten sich mit den Ereignissen des Sommers in den protestantischen Nachbarschaften der nordirischen Städte zuallererst ›Selbstschutzgruppen‹. Dass dabei (ehemalige)  Angehörige der UVF federführend waren, scheint außer Frage zu stehen.63 Aber auch die sich erst später in Belfast als regelrechte terroristisch-kriminelle Untergrundorganisation entpuppende Ulster Protestant Association (UPA) formierte sich wohl schon Ende 1920.64 Vor allem brachte der Herbst des Jahres die Aufstellung der Ulster Special Constabulary, als eine dem Divisional Commissioner der RIC in Belfast unterstellte Hilfs­ polizei. Die Gründung der USC war nicht nur eine Reaktion auf die Aktivitäten der IRA, die Regierung in London bezweckte wohl auch, die sich bewaffnenden Ulster Volunteers stärker unter Kontrolle zu bringen.65 Die Kritik an dieser Maßnahme war freilich schon am Anfang nicht zu überhören. Selbst in Großbritannien sah man das erhöhte Konfliktpotential voraus, das in der Gründung einer – wie zu vermuten stand – rein protestantischen Polizeitruppe lag.66 Die USC wurde in drei Formationen eingeteilt: die A-Specials als eine bewaffnete Vollzeit-Truppe, die ebenfalls bewaffneten B-Specials, die nur zeitweise 61 Vgl. Farrell, Arming the Protestants, S. 70–73; McGaughey, Ulster’s Men, S. 172. 62 Vgl. dazu allgemein Robert Gerwarth/John Horne, Vectors of Violence. Paramilitarism in Europe after the Great War, 1917‒1923, in: The Journal of Modern History 83 (2011), S. 489–512; Jon Lawrence, Forging a Peaceable Kingdom. War, Violence, and Fear of Brutalization in Post-First World War Britain, in: The Journal of Modern History 75 (2003), S. 557–589. 63 Vgl. Arthur Hezlet, The ›B‹ Specials. A History of the Ulster Special Constabulary, London 1972, S. 19; Parkinson, Belfast’s Unholy War, S. 32; Downing, Troubles, S. 106. 64 Vgl. Public Record Office of Northern Ireland (im Folgenden PRONI), T 2258/1 (Typescript police report). 65 Vgl. Hezlet, Specials, S. 21–24. 66 Vgl. Bardon, Ulster, S. 475 f.

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(einmal wöchentlich) in ihren Wohngegenden Dienst taten, und die C-Specials, die als Reserve nur fallweise eingesetzt werden sollten. Die in den sechs Countys des zukünftigen Nordirlands betriebene Werbung für die Specials zeigte schnell Wirkung. Nach dem britischen Militärhistoriker Sir Arthur Hezlet waren bis Ende 1920 bereits 1.500 A-Specials eingeschworen. Bis Anfang Januar 1921 hatten sich allein in Belfast 750 Freiwillige für die B-Specials gemeldet, bis Mai desselben Jahres sollte sich deren Zahl in der Stadt verdoppeln. Dabei besteht kein Zweifel, dass die überwiegende Mehrheit der B-Specials einen UVF-Hintergrund hatte. Bewaffnet waren die B-Specials anfänglich mit ihren eigenen Waffen, später erhielten sie Gewehre aus den Beständen der RIC .67 Die Rolle der B-Specials ist nach dem Ende der Troubles von der Geschichtsschreibung zum Teil  völlig konträr bewertet worden. Während zum Beispiel Hezlet den Verteidigungsaspekt gegenüber der IRA unterstreicht, warfen irische Autoren den B-Specials eine systematische Unterdrückung von Katholiken vor. Eine differenziertere Sichtweise bietet Parkinson an. Er lehnt es ab, von den B-Specials pauschal als einer gewaltbereiten, antikatholischen Formation zu sprechen, ohne dass er die harschen Vergeltungsmaßnahmen auf IRA-Angriffe und die gewaltsamen Übergriffe einzelner B-Specials vernachlässigen würde.68 Nicht eine systematische, breitflächige Gewaltanwendung, sondern vor allem gezielte Mordaktionen wie das Attentat auf die katholische Familie McMahon im März 1922, das wahrscheinlich den Specials zuzuschreiben ist und dem fast sämtliche männliche Mitglieder der Familie zum Opfer fielen, hatten Einfluss auf das Gewaltklima.69 Solche Aktionen schürten und verstärkten die Angst und Verunsicherung unter den Katholiken Belfasts und bestärkten deren Gewaltbereitschaft. Zudem warfen Katholiken in Nord und Süd den Specials vor, sie würden das Vorgehen protestantischer Gewaltmassen ignorieren oder durch ihr Nichteingreifen sozusagen zustimmend begleiten.70 Im Frühjahr 1921 setzte die Gewaltspirale in Belfast erneut ein und gewann im Laufe des Jahres sukzessive an Dynamik. Rivalisierende Gewaltmassen und -gruppen gerieten wieder verstärkt aneinander. Durch gezielte Gewalttaten wie einen dreifachen Polizistenmord im März oder die Ermordung zweier IRALeute im April blieb das Gewaltgeschehen in Gang.71 Im Juni explodierten die ersten Bomben in Wohngebieten und die Aktivitäten von Heckenschützen gewannen an Intensität.72 IRA-Offiziere wie Roger McCorley erwarben sich mit ihren Aktionen fortan den Ruf von »super gunmen of the city«. McCorley war das Haupt der Active Service Unit, einer 21-köpfigen Eliteeinheit innerhalb der 67 68 69 70

Vgl. Hezlet, Specials, S. 19–24. Vgl. Parkinson, Belfast’s Unholy War, S. 93. Vgl. Wilson, McMahon Murders; Parkinson, Belfast’s Unholy War, S. 229–236. Derartige Kritik findet sich in der katholischen Tagespresse, z. B. den Irish News, oder in Berichten des irischen Parlaments. Vgl. beispielsweise National Archives of Ireland (im Folgenden NAI), TAOIS 3 S1055 (Weekly Irish Bulletin, Belfast atrocities). 71 Vgl. Hezlet, Specials, S. 35, 38; Abbott, Police, S. 207. 72 Vgl. Kenna, Pogrom, S. 40–42.

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IRA .73 Inwieweit andere Sniper bzw. Gunmen  – ob als Einzelaktivisten oder Mitglieder kleinerer Trupps  – in die größeren organisierten Gewaltgemeinschaften integriert waren, ist häufig schwer festzustellen. Ein in Dublin erschienenes unionistisches Blatt ging im August 1921 jedenfalls nicht davon aus, dass die Gewalt von Seiten Sinn Féins in Belfast ein koordiniertes Unternehmen sei:

»Almost simultaneously with the conclusion of the truce in Southern Ireland, Nationalist snipers commenced operations in Belfast; attacks on houses by both parties ­naturally followed […]. It is, of course, quite possible that these disturbances do not form part of the deliberate policy of the Sinn Fein leaders, but are only unauthorised exhibitions of the zeal of some of their followers.«74

Mit der Zunahme der IRA-Aktivitäten nahm auch die Zahl der Gewaltaktionen von Seiten der B-Specials zu. Im Juli und August erreichte das Gewaltgeschehen dann einen neuen Höhepunkt. Allein am sogenannten »Bloody Sunday« (10. Juli 1921) starben 15 Menschen, mehr als 160 Häuser katholischer Familien wurden in Brand gesetzt. Katholische Gewaltmassen konterten unter anderem mit der Plünderung protestantischer Geschäfte. An diesem und in den folgenden Tagen wurde im Stadtzentrum und in den katholischen Wohngebieten scheinbar aus allen verfügbaren Waffen geschossen und jeder Passant konnte zum Opfer werden.75 Die zeitliche Nähe zum 12.  Juli war kein Zufall, wobei auch politische Ereignisse zum Tragen kamen. Im Juni war auf der Basis des »Government of Ireland Act« in Belfast das nordirische Parlament installiert worden, zu dessen Eröffnung am 22. Juni auch König Georg V. angereist war. Die IRA reagierte mit einem Bombenangriff auf den Zug, der die Eskorte des Königs zurück nach Dublin bringen sollte; vier Menschen und acht Pferde starben. Nach einem Appell des Königs gingen wenig später, am 11. Juli, IRA und Crown Forces im Süden einen Waffenstillstand ein, der als vorläufiger Sieg der Nationalisten gewertet wurde.76 Die Waffenruhe beendete vorerst im zukünftigen irischen Freistaat das Gewaltgeschehen, doch der Norden blieb im Ausnahmezustand. Die Londoner Regierung hatte die B-Specials zwar vom Dienst entbunden, doch wurden sie nicht entwaffnet und operierten jetzt inoffiziell. Um der wachsenden Zahl an protestantischen paramilitärischen Kräften Herr zu werden, aber auch um wieder gänzlich loyale, das heißt protestantische Polizeitruppen zu schaffen, reaktivierte die Regierung Nordirlands Ende 1921 die B-Specials, die zugleich verstärkt und einheitlich ausgerüstet wurden.77 Währenddessen verlegte die IRA Einheiten in den Norden. Die »Belfast Brigade« der IRA erlebte unter diesen Bedingungen überdies einen großen Zulauf, so dass sie von weniger als 400 Män73 74 75 76 77

Vgl. Hepburn, Catholic Belfast, S. 219; Glennon, Pogrom, S. 71–74. PRONI, Notes from Ireland, Provincial Notes 29 (1921), H. 7, S. 56. Vgl. Kenna, Pogrom, S. 42 f., 104; Glennon, Pogrom, S. 81–83, 99 f. Vgl. Bardon, Ulster, S. 482. Vgl. Farrell, Arming the Protestants, S. 55–70; Glennon, Pogrom, S. 101–107.

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nern im Juni auf 835 im Dezember anwuchs.78 Damit hatte der Organisationsgrad und die Bewaffnung der Konfliktparteien ein neues Höchstmaß erreicht. Als in dieser Situation die IRA mit der Bombardierung von Straßenbahnen eine neue terroristische Maßnahme in ihr Gewaltrepertoire aufnahm,79 führte das zu einer weiteren Verschärfung des Gewaltklimas. Im Juli 1922 kamen die Troubles dann relativ abrupt an ihr Ende; es folgten bis zum Herbst nur noch vereinzelt einige explodierende Bomben.80 Eingeleitet hatte die Rückkehr zum innerstädtischen Frieden die Inkraftsetzung des sogenannten »Special Power Act« am 7. April 1922. Das Notstandsgesetz erlaubte unter anderem restriktive Eingriffe ins Bürgerrecht, vor allem aber die Einsetzung von Sondergerichten und die Verhaftung Verdächtiger ohne Gerichtsbeschluss, wovon rege Gebrauch gemacht wurde. Entscheidend war am Ende aber der Ausbruch des irischen Bürgerkrieges Ende Juni, der die nordirischen IRA-Einheiten zum Abzug gen Süden veranlasste.81 Das Dubliner Publicity Department des Dáil verzeichnete allein für die ersten sechs Monate des Jahres 1922 in Belfast 170 getötete und 345 verwundete Katholiken sowie 95 getötete und 210 verwundete Protestanten.82 Sie waren Opfer von Heckenschützen, Bombenattacken, bewaffneten Anschlägen und Schießereien im Zusammenhang mit Straßenkämpfen geworden. Typisch für das dritte Jahr der Troubles waren Überfälle wie dieser, von dem die Irish News am 11. Februar berichtete: »An attack with revolvers and a bomb was made last night upon a public-house at 96 Spamount Street […]. The outrage was […] participated in by a gang of ruffians who were armed with the latest patterns of revolvers and appeared to be well supplied with ammunition.«83

Die Aktivitäten der verschiedenen integrierten Gewaltgemeinschaften verdrängten dabei nicht die Angriffe von und die Kämpfe zwischen Gewaltmassen bzw. -gruppen. Zusätzlich hielten neben der physischen Bedrohung von Leib und Leben die Plünderungen von Geschäften beider Konfessionsgruppen, die Zerstörung protestantischer Firmen und die Vertreibung von Katholiken aus ihren Wohnhäusern und deren Brandschatzung an. Insgesamt hatten seit dem Beginn der Troubles fast 24.000 Katholiken ihr Zuhause verloren.84 Tim Wilson hat seiner Interpretation der Konflikte in Ulster eine recht umfassende Gewaltdefinition zugrunde gelegt. Er spricht von »plebeian violence«, womit er »simply violence that was committed by, or ostensibly on behalf of, 78 Vgl. Glennon, Pogrom, S. 104; Downing, Troubles, S. 106; Hezlet, Specials, S. 55 f. 79 Vgl. Glennon, Pogrom, S. 108. 80 Vgl. Irish News, Belfast Bomb, 19. und 23. Oktober 1922, S. 5. 81 Vgl. u. a. Parkinson, Belfast’s Unholy War, S. 292–307; Bardon, Ulster, S. 490–495. 82 Vgl. NAI, TAOIS 3 S1055 (Weekly Irish Bulletin, Belfast Atrocities, 24. Juli 1922). 83 Irish News, Revolvers and Bomb, 11. Februar 1922, S. 5. 84 Vgl. u. a. die Berichte in der Irish News, PRONI, HA /5/151A–D (Reports by R.IC ./RUC on incidents in Belfast, 1922), NAI, TAOIS 3 S1055 (Weekly Irish Bulletin, Belfast Atrocities).

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mass non-state constituencies« meint, wobei diese sowohl Massenunruhen als auch die Einsätze paramilitärischer Gruppen umfasse.85 Er differenziert diese verschiedenen Gewaltformen vor allem mittels ihrer Dynamik und Intensität, also nach dem Ausmaß der Grausamkeit.86 Wird der Fokus in dieser Gewaltperspektive aber noch expliziter auf die Tätergruppen gerichtet, so lässt sich für den lokalen Raum der Stadt Belfast eine Phasenabfolge ausmachen, wie sie hier aufgezeigt wurde. In der ersten Phase der Troubles, die vom Juli 1920 bis zum Sommer 1921 reichte, verlief die innerstädtische Gewalt mehrheitlich noch nach altbekanntem Muster, das heißt es dominierten die Gewaltmassen und -gruppen. In der zweiten Phase prägten dann die hoch organisierten Gewaltgemeinschaften das Geschehen, ohne dass diese die weniger integrierten Gewaltgemeinschaften als kollektive Akteure vollständig verdrängt hätten. Die Zahl der zivilen Opfer stieg in dieser zweiten Phase freilich signifikant an.87 Die Bedeutung der integrierten Gewaltgemeinschaften für die Troubles setzt aber nicht erst in der zweiten Phase des Konflikts ein, sie waren auch wichtiger Bestandteil der unmittelbaren Vorgeschichte. Insgesamt war somit der Verlauf des Konflikts eng an Veränderungen in den Täterkonstellationen gebunden.

3. Die Riots Nach den Troubles erlebte Belfast eine zehn Jahre anhaltende Periode innerstädtischen Friedens. Der Konsolidierung der beiden Staaten in Süden und Norden stand einstweilen ein erneuter Gewaltausbruch entgegen. Katholiken und Protestanten richteten sich sozusagen in ihren jeweiligen Staatsgebilden ein.88 Der ökonomische Niedergang infolge der Weltwirtschaftskrise, die schlechten Lebensbedingungen in den Arbeiterquartieren und die äußerst geringen öffentlichen Sozialleistungen erzeugten dann aber das kritische Potential für neuerliche Unruhen, beginnend mit Protesten von Arbeitslosen am 3. Oktober 1932. Am 12. Oktober mündeten diese schließlich in Barrikadenkämpfen zwischen Steine werfenden Protestierenden und der von Schusswaffen Gebrauch machenden Polizei. Der sogenannte »Outdoor Relief Strike« forderte neben Verletzten zwei Tote im katholischen Arbeiterviertel um die Falls Road. Dort trat die Royal Ulster Constabulary (RUC)  – hervorgegangen im Juni 1922 aus der RIC und fast ausschließlich protestantisch besetzt  – besonders gewalttätig in Erscheinung. Dennoch war dies kein konfessionell bestimmter Konflikt, weshalb die Auseinandersetzungen als ein konfessionsübergreifender, von Klassensolidari85 86 87 88

Wilson, Frontiers, S. 17. Ebd., S. 158–182. Vgl. Hart, I. R. A., S. 248. Vgl. Downing, Troubles, S. 96–103; Maurer, Geschichte Irlands, S. 280–291; Otto, Nordirlandkonflikt, S. 71–76.

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tät geprägter Aufstand gegen die unsoziale Politik der nordirischen Regierung in das Stadtgedächtnis eingegangen sind.89 Nicht nur A. C. Hepburn hat dieses Bild des Konfessionsfriedens vor dem Hintergrund sozialer Not zu relativieren versucht und den Beginn der erneut eskalierenden Konfessionskonflikte schon auf die Gründung der Ulster Protestant League – eine der Plattformen für »a mixture of social radicalism and Protestant sectarianism« – im Jahr 1931 datiert.90 Auch Jonathan Bardon hat dieses Bild als übertriebene und romantisierende Rückschau kritisiert.91 ­Bardon verweist vielmehr auf die seit Ende 1933 wieder einsetzende konfessionell bestimmte Gewalt in Belfast, zu der auch das eingangs dieses Aufsatzes angeführte Beispiel zählt. Wieder griffen Protestanten  – wenn auch noch vereinzelt – K ­ atholiken an, es fielen Schüsse in katholischen Vierteln und Wohnungen katholischer Einwohner wurden zerstört.92 Die Lage spitzte sich im Laufe des ersten Halbjahres 1935 immer weiter zu. Seit Anfang Mai erhöhte sich die Anzahl der gewaltsamen Vorfälle sukzessive, wobei eine Reihe von äußeren Ereignissen zur Eskalation der Lage beitrug: Das silberne Thronjubiläum von König Georg V. am 6. Mai verlieh nicht nur den unionistischen Gefühlen unter den nordirischen Protestanten Auftrieb, denn bereits einen Tag später hatten katholische Einwohner Belfasts auch unter »Orange Hooliganism« zu leiden, wie die Irish Times berichtete. An diesem Tag waren katholische Häuser die Ziele einzelner Schüsse, paradierende protestantische Musikkapellen provozierten Straßenkämpfe und ein Pub wurde geplündert – zur Feier des Tages gönnte man sich sozusagen »whiskey, brandy, wine and cigarettes«.93 Am 29. Mai drückte Éamon de Valera, seit 1932 Präsident des Freistaates und einer der Beteiligten am Osteraufstand, vor dem Dáil seinen Wunsch nach einer Wiedervereinigung von Norden und Süden aus.94 Kurz nach dem Bekanntwerden von de Valeras Rede wurde sicher nicht zufällig aus einer Parade der Ulster Protestant League eine Bombe in das katholische Viertel Short Strand geschleudert, die jedoch nicht detonierte.95 Gewaltsame Auseinandersetzungen zwischen irisch-stämmigen Katholiken und protestantischen Schotten in Edinburgh im Juni dürften das Gewaltklima in Belfast ebenfalls angeheizt haben.96 Mit den Paraden am 12. Juli brach erneut eine größere Welle 89 Vgl. Peter Collins, 1932. A Case Study in Polarization and Conflict, in: Parkinson/Phoenix, Conflicts, S. 98–110; Bardon, Ulster, S. 527–529, 539; Maguire, Belfast, S. 191–196; Downing, Troubles, S. 102, 108, 112 f.; zur RUC vgl. Hezlet, Specials, S. 61 f.; Brian Follis, A State under Siege. The Establishment of Northern Ireland, 1920−1925, Oxford 1995, S. 86. 90 Vgl. Hepburn, Past, S. 176, 178. 91 Vgl. Bardon, Ulster, S. 539. 92 Vgl. ebd. 93 Irish News, Hooliganism mark Jubilee in Belfast, 7. Mai 1935, S. 5. 94 Irish News, Mr. De Valera and Re-Union, 30. Mai 1935, S. 7. 95 Irish News, Dastardly Outrage in Belfast, 31. Mai1935, S. 7. 96 Irish News, Bigot’s Outburst in Edinburgh, 11. Juni 1935, S. 5 sowie ebd., More Terrorism in Edinburgh, 26. Juni 1935, S. 7 und The Edinburg Rioters, 27. Juni 1935, S. 7.

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von Unruhen aus. Bereits am ersten Tag starben eine Frau und ein junger Mann durch Schüsse und etwa vierzig Verwundete mussten in den Hospitälern der Stadt versorgt werden.97 Als die Riots nach zwölf Tagen aufhörten, bilanzierte die London Times das Geschehen: »It began on the night of July 12 when Orange demonstrators returning from the celebration of the Battle of the Boyne were fired upon the York Street quarter, and continued with intermissions until the night of July 20. In the course of the disturbances nine persons were killed and many injured: several houses of Protestants and Roman Catholics living among members of the opposite persuasions were burnt or looted and their inhabitants expelled; and the police and British troops had much trouble in keeping the two factions apart. That these disturbances were confined to a small and rough area in a city which has an unenviable record for factionfighting does not detract from their gravity. Their cause is immaterial. Orange processions passing through Roman Catholic quarters can be offensively truculent; Roman Catholics in the Six Counties are equally provocative on occasion. But there is every reason to believe that neither the Orange Order nor the I. R. A. provoked last week’s affrays, and his being so it is useless to inquire ›who began it‹ in social circles where the last word often means the last blow.«98

Dieser Bericht hat im Nachhinein seine Bestätigung gefunden. So hat Hepburn keine Anzeichen für eine stärker organisierte oder (politisch) geleitete Gewalt erkennen können. Keine protestantische paramilitärische Formation war sichtbar aktiv und auch die IRA konnte nicht prägend eingreifen. Obwohl sie mit 700 bis 800 Mitgliedern in der Stadt vertreten war, wurden nur einzelne Einheiten aktiv. Eine Ursache für diese Schwäche der IRA lag in der Verhaftung einer ganzen Reihe von Führungsleuten in einem Trainingscamp am 14. Juli 1935.99 Was die protestantischen Kräfte anbelangt, so ist vor allem die RUC wegen ihres zu zurückhaltenden Vorgehens gegenüber protestantischen Aufrührern kritisiert worden, doch stand dahinter eher falsches Krisenmanagement und eine zu kleine Anzahl einsetzbarer Kräfte als eine antikatholische Attitüde. Und selbst die B-Specials, die erneut zum Einsatz kamen, wirkten 1935 nicht konfliktverschärfend, sondern unterstützen die im Einsatz befindliche RUC bei der normalen Polizeiroutine und bewachten katholische Geschäfte in protestantischen Vierteln. Beendet wurden die Riots freilich durch das Eingreifen des britischen Militärs.100 Es sollte aber auch nicht übersehen werden, dass die RUC durch verstärkte Hausdurchsuchungen, Festnahmen und Waffenbeschlagnahmungen schon im Vorfeld der Riots gewaltentschärfend gehandelt hatte.101 Die 97 Irish News, Two Persons killed in Renewed Rioting in Belfast, 13. Juli 1935, S. 5; vgl. auch Bardon, Ulster, S. 539 f. 98 The Times, Belfast Quieting Down, 27. Juli 1935, S. 13. 99 Vgl. Hepburn, Past, S. 193 f.; Collins, 1932, S. 129 f. 100 Vgl. Hepburn, Past, S. 183; Hezlet, Specials, S. 122. 101 Irish News, More Police Raids in Belfast, 21. Juni 1935, S. 7.

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Grundlage hierfür bot der 1933 wieder in Kraft gesetzte Special Powers Act. Trotz der eindeutig anti-katholischen Ausrichtung der nordirischen Regierung fürchtete die politische Führung in Belfast eine erneute Eskalation der Gewalt wie vor 13 Jahren. Somit konnten militante Protestanten schon vor Beginn der Riots nicht auf den Rückhalt und die Unterstützung von Seiten des Staates bzw. der Polizei vertrauen. Und das sollte auch nach den Riots so bleiben, demonstrierte die Polizei in den folgenden Jahren doch durch ständige Haussuchungen und Beschlagnahmungen von Waffen ihr jetzt entschiedenes Vorgehen gegen Gewaltakteure.102 Die Riots waren über die meiste Zeit vom Handeln einzelner Gewaltmassen und -gruppen bestimmt, wobei in der juristischen Aufarbeitung der Gewalthandlungen eine ganze Reihe von »Führern« ausgemacht werden konnte.103 Beispielhaft sei ein Bericht des Belfast Telegraph vom 30. Juli 1935 angeführt, der die vorwiegend protestantische Leserschaft über ein Gerichtsverfahren informierte, in dem der Custody Court über zwei vermeintliche Rädelsführerinnen befand. Diese hatten nach der Aussage zweier Polizisten am 22. Juli 1935 als Aktivistinnen einer Gruppe von etwa zwanzig jungen Frauen einen Angriff auf eine ebenso junge katholische Arbeiterin verübt: »Leaving the factory with some of the foremen, there was a crowd of about 50 or 60 girls singing, jeering and boohing. At the railway she was struck and knocked down and she was also struck getting on the tram. She did not know who struck her.«104 Diese Gewaltgruppe trat also keineswegs als ein irrational bzw. völlig unkontrolliert agierender »Mob« in Erscheinung,105 was wohl auch bei den meisten anderen Angriffen der Fall gewesen sein dürfte. Gerade bei den Plünderungen und Vertreibungen aus Häusern taten sich einzelne Männer oder Frauen hervor; letztere verübten die häufigsten Gewalttaten während der Riots, von denen hunderte katholische und mehr als sechzig protestantische Häuser betroffen waren.106 Vielfach wurde aus den Gewaltmassen heraus von Schusswaffen Gebrauch gemacht. Doch anders als bei den Troubles operierten Heckenschützen nur sehr vereinzelt, wie etwa am dritten Tag der Riots als aus der protestantischen Marine Street ein Schütze am helllichten Tage auf eine Gruppe spielender katholischer Kinder schoss.107 Insgesamt ähnelten die Riots daher wieder älteren Formen von Unruhen. Doch lässt die nicht zu übersehende starke Beteiligung von Frauen und Jugendlichen auf einen Wandlungsprozess schließen, wenn allein die vielen ExSoldaten als paramilitärische Aktivisten während der Troubles als Kontrastfolie herangezogen werden. Auch wenn es hierzu noch eingehenderer Analysen bzw. 102 103 104 105

Das belegt eine Vielzahl von Berichten in den Irish News. Vgl. Hepburn, Past, S. 194. Belfast Telegraph, The Girls Rioters, 30. Juli 1935, S. 13. Zum Begriff »Mob« vgl. Luther Lee Bernard, Art. Mob, in: Seligman, Encyclopaedia of the Social Sciences, Bd. 10, New York 1950, S. 552–554. 106 Vgl. Hepburn, Past, S. 185–190. 107 Vgl. Irish News, The Death Roll now Five in Belfast’s Fierce Outbreak of Rioting, 15. Juli 1935.

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Vergleiche mit den Troubles und früherer Unruhen bedarf, steht doch zu vermuten, dass sich mit einer Verjüngung und Verweiblichung der Gewaltmassen und -gruppen auch das Gewalthandeln selbst veränderte.

4. Gewaltsituationen Eine typische Szene war der Straßenkampf zwischen (zwei) rivalisierenden Gewaltmassen, die traditionellste Form der gewaltsamen Auseinandersetzungen in Belfast, bei der – man könnte sagen klassischerweise – Pflastersteine und andere Gegenstände als Wurfgeschosse benutzt wurden.108 Zu solchen Kämpfen kam es an den Grenzbereichen zwischen katholischen und protestantischen Arbeitervierteln. Teilweise bis zu Hunderte von Protestanten versammelten sich dazu anfänglich an Straßeneingängen bzw. -kreuzungen und attackierten von hier aus die Bewohner des Straßenzuges. Dabei ging es den Angreifenden in dieser Situation wohl weniger um die direkte Eroberung des Raums, und auch die Zufügung physischer Verletzungen kann wohl kaum – zumindest nicht als vorrangiges – Ziel dieser Aktionen angenommen werden, war die Distanz zwischen Tätern und Opfern doch zu groß, und auch die Treffsicherheit dürfte begrenzt gewesen sein. In erster Linie waren diese Aktionen Demonstrationen von gewalttätiger Macht und sollten Angst erzeugen bzw. verstetigen. Geradezu symbolische Handlungen stellten solche Steinwurfattacken dar, die sich gegen religiöse oder andere öffentliche Einrichtungen richteten. So umrundete eine »größere Menge« am 22. Juli 1920 die katholische Kirche St. Matthew’s im nationalistischen Viertel Short Strand und machte sich an die Eroberung des Gotteshauses.109 Im Juni des folgenden Jahres flogen Steine auf die Fenster einer katholischen Schule, dabei wurden sowohl Lehrerinnen als auch Kinder verletzt.110 Angriffe auf soziale Knotenpunkte, wozu auch Geschäfte, Pubs, Kinos oder Betriebe gehörten, sind während der Troubles und Riots durchgängig zu beobachten. Allerdings nahm im Verlauf der Troubles der Kampf mit Steinen ab, zum einen wohl aufgrund des allgemein zunehmenden Gebrauchs von Schusswaffen, zum anderen stellten sich IRA und Crown Forces im Laufe der Zeit auf diese Situationen ein. Während sich die IRA als ›Verteidigerin‹ in den »stone-throwing competition« einmischte,111 gingen Polizei und Militär zunehmend mit schwerer Waffengewalt gegen solche Straßenkämpfe vor.112 Im Gegensatz zu diesen – räumlich gesehen – statischen Straßenkämpfen behielten Gewaltakte, die sozusagen aus der Bewegung von Massen herauskamen, 108 Schon während der konfessionellen Unruhen 1832 standen sich Steine werfende »Mobs« gegenüber. Vgl. Maguire, Belfast, S. 14. 109 Kenna, Facts, S. 16 f. 110 Ebd., S. 48. 111 Lynch, People’s Protectors, S. 381. 112 Vgl. NAI, NEBB/1/1/6 (Atrocities in Northern Ireland, Jan.−Nov. 1922).

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durchweg ihre Bedeutung. Ein öffentlicher Brief des englischen Bürgerrechtlers Ronald Kidd an den britischen Premier Stanley Baldwin vom Juli 1935 vermittelt einen Eindruck von den Folgen einer solchen sich bewegenden Gewaltmasse: »At a riot on June 12th – at which I was present – following an inflammatory meeting of the Ulster Protestant League at the custom House steps, an unruly mob of some thousands of men and woman swept through the business quarter of the city. Men, not all of them sober, were dancing in the ranks, and women were screaming as they marched. […] The mob were getting out of hand, and as they reached York Street they ran completely amok. A bomb was thrown into a shop, shots were fired, every window in the Labour Club was broken, and Catholic shop windows along York Street were smashed in with stones and iron bolts. One arrest was made, but the prisoner was rescued by the mob.«113

Dieses Phänomen der sich bewegenden Gewaltmassen trat während der Troubles und Riots immer wieder auf. Die Anlässe waren zumeist protestantische Paraden und Beerdigungen von Unruheopfern. Nach Aussage eines Constables passierte beispielsweise eine Oranierparade am Abend des 12. Juli 1935 die Lancaster Street und wurde »attacked by people who rushed out of houses in Lancaster Street and side streets. They threw stones at the processionists, and the processionists returned the stones. A riot developed«.114 Während die traditionellen Paraden von Katholiken und Protestanten verboten werden konnten, war dies bei Beerdigungen nicht möglich115 und so waren Leichenzüge durchweg Hot Spots gewaltsamer Ausbrüche, die immer wieder neben Straßenkämpfen in Plünderungen von Geschäften und Pubs sowie Angriffen auf Wohngebäude übergingen.116 Die Gewalt brach dabei entweder aus der Masse der Marschierenden heraus aus oder sie wurde angegriffen. Insbesondere vereinzelte Schüsse oder Steinwürfe konnten die Menge aktiv werden lassen, zumal durch die Beerdigung einer der ihrigen und die gemeinsame Bewegung eine Vergemeinschaftung entstand. Durch symbolische Handlungen außerhalb des Zuges konnte sich dieser Vergemeinschaftungsprozess noch intensivieren. So versammelten sich bei der Beerdigung eines Katholiken im Januar 1922 an verschiedenen Punkten des Leichenzuges größere Gruppen von Protestanten, schwangen den »Union Jack« und beleidigten in einer »obszönen« Sprache die Trauernden.117 Bei der Beerdigung eines Protestanten im Mai 1922 wiederum, gebärdeten sich die Teilnehmer des Leichenzuges selbst äußerst aggressiv, indem katholische Zuschauer und Passanten aus dem Marsch heraus­ 113 Irish News, The Belfast Riots. Letter to British Premier, 31. Juli 1935, S. 5. 114 Irish News, 24. Juli 1935, S. 6. 115 Nationalistische Paraden waren seit 1922 durch den Special Powers Act offiziell verboten. Vgl. Liftenegger, Murals, S. 307. 116 Vgl. Kenna, Facts, S. 75, 90; NAI, NEBB/1/1/6 (Atrocities in Northern Ireland, Jan.−Nov. 1922); Irish News, We wants the Truth, 15. August 1935, S. 4. 117 Vgl. NAI, NEBB/1/1/6 (Atrocities in Northern Ireland, Jan.−Nov. 1922), 6. Juli 1922.

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immer w ­ ieder angefeindet und attackiert wurden.118 Demgegenüber machte der unionistische News Letter für die Unruhen im Zusammenhang mit den Beerdigungen protestantischer Opfer eine »rowdy crowd following the mourners« bzw. eine »rowdy party following the Andrew funeral caused trouble« verantwortlich, letztere antworte demnach auf einen Polizeieinsatz mit »thrown some stones and fired some shots«.119 Wie schwierig es ist, den tatsächlichen ursächlichen Beginn solcher Szenerien auszumachen, zeigt die Kritik der nationalistischen Irish News an dieser Darstellung, die meinte, die ersten Schüsse wären aus dem Beerdigungszug gekommen.120 Aber auch wenn das Aggressionspotential insgesamt auf Seiten der Protestanten etwas höher war als bei den Katholiken – worauf zumindest die journalistische Berichterstattung der Irish News schließen lässt –, waren protestantische Beerdigungsteilnehmer nicht weniger Opfer von Angriffen. Regelrecht gewaltproduzierende Rituale waren die Paraden des Oranier Ordens und die sonstigen protestantischen Märsche anlässlich des 12.  Juli, und das bereits im 19.  Jahrhundert.121 Bemerkenswerterweise spielten diese aber, abgesehen von ihrer Bedeutung im zeitlichen Vorlauf der Troubles, während der Jahre 1921 und 1922 keine Rolle als unmittelbar gewaltauslösende Ereignisse. Ganz anders stellte sich die Situation 1935 dar: Paraden und Märsche fungierten als die »Kristallisationskerne von gewaltsamen Ausschreitungen«, um eine Beschreibung Barbara Stollberg-Rilingers für diese Gewaltrituale aufzugreifen.122 Wie hoch das Gefährdungspotential der Paraden für mögliche Gewaltausbrüche durch das nordirische Innenministerium und die Polizei schon vor dem 12.  Juli eingeschätzt wurde, zeigt ein kurzfristiges Verbot aller Umzüge im Juni 1935, das unter Druck des Oranier Ordens allerdings nach nur wenigen Tagen wieder zurückgenommen wurde.123 Die begründete Angst vor den Paraden ist neben der zugespitzten Situation auch auf deren neues Erscheinungsbild seit Mitte der 1920er Jahre zurückzuführen. Seit 1926 ist der 12. Juli ein Feiertag in Nordirland, der seitdem mit immer größerem Aufwand begangen wurde. Straßendekorationen und Hausbemalungen  – die »Murals«  – ebenso wie die zunehmend am Vorabend entzündeten »bonfires« beflügelten patriotische Gefühle schon vor und im Umfeld der Paraden. Diese selbst hatten sich stark modernisiert. Anstelle und in Ergänzung der früheren Trommler spielten Bands, die auch aus Blasmusikern und Akkordeonspielern bestanden, eingängige ­Stücke und Marschmusiken.124 Als jetzt quasi-staatliche Akte 118 Vgl. Kenna, Facts, S. 90. 119 Irish News, We want the Truth, 15. August 1935, S. 4. 120 Ebd. 121 Vgl. Nail Jarman, Material Conflicts. Parades and Visual Displays in Northern Ireland, Oxford 1997. 122 Barbara Stollberg-Rilinger, Rituale, Frankfurt a. M. 2013, S. 123. 123 Vgl. Hepburn, Past, S. 179. 124 Vgl. Dominic Bryan, Orange Parades. The Politics of Ritual, Tradition and Control, London 2000, S. 63 f.

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eines protestantischen Gemeinwesens stellten die Paraden und Umzüge somit in der Ausnahmesituation des Feiertages einen Raum her, in dem noch einmal eine verstärkte Vergemeinschaftung der Teilnehmer erreicht wurde.125 Musik und Bewegung erzeugen dabei Gefühle, die in der Konstituierung von »emotional communities« mündeten.126 Dieser innere Zusammenschluss bestärkte bei den katholischen Zuschauern reziprok das Zusammengehörigkeitsgefühl und konnte Angst oder Aggressivität hervorrufen.127 Es dürfte nicht fehlgehen, die Paraden des Jahres 1935 als Gewaltspektakel zu bezeichnen. Sogar Gewalttourismus spielte eine Rolle. Als eindeutige Gewaltprovokateure traten die Mitglieder der Glasgower »Billy Boy«-Band auf, eine als Straßengang berüchtigte­ Formation, die sich nach Wilhelm von Oranien (King Billy) benannt hatte.128 Es ist kaum möglich, für die Gewaltszenerien um die Paraden eindeutige Täterkategorien auszumachen. Obwohl auch bei den Paraden die Gewalt nicht ursächlich von den Marschierenden ausgeübt werden musste, sind diese dennoch vielfach auch als Gewaltgemeinschaften anzusehen, da ihr Gebaren auf die Erzeugung eines Gewaltklimas abzielte. Eindeutige Täter-Opfer-Verhältnisse lassen sich hingegen bei Angriffen auf Häuser, Pubs, Geschäfte und auf Einzelpersonen ausmachen, die immer von Gewaltmassen verübt worden sind, bei denen aber Rädelsführer eine wichtige Rolle spielten, wie Zeitungsberichte und Gerichtsverhandlungen im Anschluss an die Riots zeigen. Hepburn hat für die Hausvertreibungen herausgearbeitet, dass viele dieser Rädelsführer von Motiven wie Lust an der Gewalt oder dem Drang nach persönlicher Bereicherung angetrieben wurden.129 Mit Blick auf die Zielrichtungen lassen sich zwischen den verschiedenen Angriffsformen zugleich Unterschiede ausmachen. Obgleich in all diesen Fällen Menschen unterschiedlichen Alters zu Opfern wurden, ging es bei den Vertreibungen und Plünderungen in erster Linie nicht um die Ausübung physischer Gewalt. Die Zerstörung der Fenster mit Steinen, das Beschießen der Häuser, das gewaltsame Eindringen und dann nicht selten das anschließende Zerstören der Einrichtungen sowie das in Brand setzen der Gebäude zielten auf die Besetzung des­ Raumes ab. Dass dabei Menschen verletzt wurden oder zu Tode kamen, wurde in vielen Fällen einkalkuliert, vordringliches Ziel blieb aber die Vertreibung, Verängstigung und Demütigung der Opfer.130 Vergleichbares ist für die zahl125 Vgl. Liftenegger, Murals, S. 220 f. 126 Stollberg-Rilinger, Rituale, S. 226 f. 127 Der Katholik Patrick Shea beschreibt die Wirkung, die die 1920 abgehaltene Parade in der Stadt Athlone auf ihn als damals Zwölfjährigen hatte. Vgl. Ders., Voices, S. 39 f. 128 Irish News, Uproar outside Belfast Court, 24.  Juli 1935, S.  6; Andrew Davies, City of Gangs, London 2013, S. 241–245; Graham Walker, The Orange Order in Scotland between the Wars, in: International Review of Social History 37 (1992), S. 177–206, hier S. 204. 129 Vgl. Hepburn, Past, S. 185–190. 130 Ähnliche Feststellungen macht Stefan Wiese in seiner Bestimmung des »Pogroms«. Vgl. Ders., Pogrom, S. 155.

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losen Plünderungen von Pubs und Spirituosenhandlungen zu sagen, wobei es bei den Pubs neben der Beute auch um die Zerstörung wichtiger sozialer Knotenpunkte der katholischen Nachbarschaften ging. Wie viele Berichte nahelegen, führte der Genuss des erbeuteten Alkohols anschließend zu weiteren Angriffen und wohl auch situativ durch den Kontrollverlust und die Senkung von Hemmschwellen zu einer Steigerung der Gewalt. Insofern ließe sich davon sprechen, dass die Plünderungen mittelbar physische Gewalttaten hervorbrachten. Eine andere, vor allem für die Riots typische Erscheinung war das gezielte Vorgehen einer Gewaltmasse gegen kleinere Gruppen oder Einzelpersonen. Solche Angriffe trafen nicht selten Arbeiterinnen auf dem Weg von oder zur Fabrik, waren in der Belfaster Leinenproduktion doch viele Frauen und Mädchen beschäftigt. Die Angriffe stellten eine Melange aus Beleidigungen, Drohungen, Steinwürfen und  – das offenbar seltener  – handgreiflichen Tätlichkeiten dar. Auch hier ging es wohl vordergründig um die Erzeugung von Angst bei den Opfern, obgleich körperliche Verletzungen ein integraler Teil  dieser Gewaltszenen sein konnten. Aber auch bei den Angriffen die ohne physische Gewalt­ anwen­dung auskamen, darf die Angst vor einer solchen bei den Opfern nicht vernachlässigt werden, kann sie doch psychische Verletzungen hervorrufen. Völlig anders verhielt es sich bei den Opfern der »gunmen« und ­»sniper« sowie überhaupt der Waffen benutzenden Gewalttäter, die von Dächern, aus Gebäuden, von Hausecken aus oder aus Gewaltmassen heraus gezielt oder wahllos auf einzelne Personen oder Gruppen feuerten. Ihr Auftreten war häufig von kurzer Dauer und sollte unsichtbar bleiben, ganz ähnlich dem Vorgehen der Bombenleger. Die physische Verletzung des Gegners war das intendierte Ziel ihrer Aktionen. Tote und Verletzte wurden nicht nur billigend in Kauf genommen, die Opfer waren Teil einer Strategie und Leidtragende individueller Machtansprüche der Schützen.

5. Die soziale Kategorisierung von Tätern und Opfern Die Mehrzahl der Täter und Opfer stammte aus dem Arbeitermilieu und der unteren Mittelschicht.131 Das ergab sich aus den Gewaltschauplätzen, die fast ausschließlich in den Arbeiterquartieren lagen, und – davon nicht zu trennen – den mehrheitlich proletarischen Lebensumständen der Katholiken Belfasts.132 Nur selten sprangen die Unruhen aus den »dangerous areas« in andere Stadt­ gebiete wie zum Beispiel das Stadtzentrum über.133 Die Wohn- und Arbeitsgegenden der Belfaster Mittelschicht blieben weitgehend unberührt von den 131 Zu den Troubles vgl. Wilson, Frontiers, S. 49. 132 Vgl. Hepburn, Past, S. 68–112. 133 Mit »dangerous areas« umschrieb ein Bericht der Irish News die katholischen Viertel nach den gewaltsamen Auseinandersetzungen im Frühjahr 1935. Vgl. Irish News, Exciting Scenes in Belfast, 9. Mai 1935.

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Troubles und Riots.134 Deshalb erregte das Attentat auf die katholische Familie McMahon in der Stadt nicht allein wegen seiner Grausamkeit so großes Aufsehen, ebenso schockierte die Tatsache, dass das Familienoberhaupt, Owen McMahon, zu den reichsten Gasthausbesitzern der Stadt gehörte und die Familie in einer bürgerlich-protestantischen Wohngegend residierte.135 Die starke Ausrichtung auf die unteren Sozialschichten bestätigen auch die Rekrutierungsmuster der einzelnen Gewaltgemeinschaften. Peter Hart hat in seiner sozialstrukturellen Analyse der IRA gezeigt, dass sich die Volunteers in Ulster neben Farmern und Farmarbeitern mehrheitlich aus Arbeitern verschiedener Qualifizierungen sowie Angestellten und Geschäftsgehilfen zusammensetzten.136 Eine Einheit der IRA in Belfast wurde aufgrund der vielen Angestellten und Geschäftsgehilfen noch vor den Troubles als »›collar and tie‹ company« bezeichnet,137 doch dürfte sich das Sozialprofil der Belfaster IRA mit den Rekrutierungswellen 1921 abgesenkt haben. So listen die Dossiers des nordirischen Innenministers über die in Belfast während und nach den Riots verhafteten IRA-Mitglieder und »Nationalisten« ausschließlich beschäftigte oder beschäftigungslose Arbeiter auf; nicht anders verhielt es sich bei den inhaftierten Protestanten.138 Auch bei den protestantischen Tätern gab es scheinbar eine ausgeprägte sozial-strukturelle Homogenität, obgleich die tatsächliche Zusammensetzung der protestantischen Gewaltgemeinschaften nur schwer sichtbar gemacht werden kann. Auszumachen ist eine hohe Beteiligung ehemaliger bzw. arbeitsloser Armeekräfte. Während die UVF und nachfolgend die Specials sich vielfach aus Ex-Soldaten rekrutierten, waren die Imperial Guards der 1920er Jahre aus der »Ex-Servicemen’s Association« hervorgegangen. Diese Paramili­ tärs hatten mehrheitlich einen proletarischen Hintergrund, wobei insbesondere ehemalige Werftarbeiter stark vertreten waren.139 Auffällig ist somit die Kopplung von ehemaliger Armeeangehörigkeit und sozialem Auskommen bei einer großen Anzahl der Mitglieder protestantischen Gewaltgemeinschaften, die ebenso ein wichtiges Merkmal im Rekrutierungsmuster der IRA war.140 Der Aspekt des Broterwerbs entlarvt damit auch ein Stück weit die Mythen von Freiwilligkeit und Verteidigung des eigenen Landes bzw. der eigenen Identität, wie sie im Süden und Norden Irlands lange sorgfältig gepflegt worden sind.141 134 Vgl. Wilson, Frontiers, S. 176–181. 135 Wilson, McMahon Murders, S. 86–88. 136 Vgl. Hart, I. R. A., S. 137. 137 Glennon, Pogrom, S. 25. 138 Vgl. PRONI, HA /32/1/617 (Dossiers of Certain Men detained during Belfast Disturbances, 1935). 139 Vgl. McGaughey, Ulster’s Men, S. 171 f.; Farrell, Arming the Protestants, S. 46. 140 Vgl. Julia Eichenberg, Von Soldaten zu Zivilisten, von Zivilisten zu Soldaten. Polen und Irland nach dem Ersten Weltkrieg, in: Robert Gerwarth/John Horne (Hg.), Krieg im Frieden. Paramilitärische Gewalt in Europa nach dem Ersten Weltkrieg, Göttingen 2013, S. 276–297, hier S. 281–286. 141 Vgl. ebd.

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Etwas genauere Einblicke in die soziale Basis und innere Struktur protestantischer paramilitärischer Gruppierungen erlauben die polizeilichen Nachforschungen zur Ulster Protestant Association, die sich 1920 in den protestantischen Arbeitervierteln gebildet hatte. Nach den Erkenntnissen der Polizei zählte die terroristische Gruppe, die sich der »Vernichtung der Katholiken« verschrieben hätte, Ende 1922 etwa 150 männliche Mitglieder, von denen fünfzig als aktiv am Mordgeschehen Beteiligte bezeichnet wurden. Wohl nicht nur der engere Zirkel der Führerpersonen hatte einen kriminellen Hintergrund. Das soziale Grundmuster prägte zugleich die innere Hierarchie und das Vorgehen der Gruppe. Gelenkt wurde die UPA von zwei bis drei Führungsgestalten, die mit drakonischen Strafen eine strikte innere Disziplinierung anstrebten. Die Mitglieder hatten sich mit Mordschwüren an die Gewaltgemeinschaft zu binden. Diejenigen, die gegen die Regeln der UPA verstießen, mussten sich in absolut demütigender Weise züchtigen lassen. Nach den Recherchen der Polizei wurden sie nackt auf einen Balken gebunden und mit einer neunschwänzigen Lederpeitsche traktiert. Die so hergestellte Einheit der Gruppe diente aber nur vordergründig dem Kampf gegen die Katholiken. Letztlich war die UPA vor allem ein Instrument in den Händen einiger Krimineller, die sich aus den von protestantischen Wirten, Geschäftsinhabern und Hausbesitzern erpressten Geldmitteln versorgten.142 Die UPA war mit ihrem Erscheinungsbild, das dem von städtischen Gangsterbanden ähnelte, eine typische Gewaltgemeinschaft der Troubles. Aber nicht nur die soziale Basis ihrer Mitglieder verband die UPA mit anderen Gewaltgemeinschaften dieser Jahre, auch die innere Geschlossenheit und Hierarchisierung sind vergleichbar, wenngleich Mittel und Wege zur Herstellung dieser Einheit abwichen. Prinzipiell waren die während der Troubles aktiven Gewaltgemeinschaften männlich dominiert. Gleichwohl nahmen Frauen in den 1920er Jahren nicht nur einen Opferstatus ein, sondern betätigten sich als Helferinnen und Unterstützerinnen. Vor allem katholische Frauen traten mit diesem Vorsatz direkt ins Geschehen ein. Bei Angriffen auf ihre Wohngebiete erzeugten sie zum Beispiel mit Mülleimern Lärm, um die Angreifer abzulenken, und warnten damit zugleich IRA-Mitglieder vor den Zugriffen der B-Specials, eine Taktik, die auch fünfzig Jahre später wieder angewendet wurde.143 Eine markante Involvierung von Frauen in die Kämpfe und Angriffe von Gewaltmassen während der­ Troubles ist allerdings nicht auszumachen. Ganz anders verhielt es sich während der Riots. Polizeiaussagen und Zeitungsberichte von 1935 zeigen eine erhebliche Tatbeteiligung von Frauen als Mitglieder größerer gemischtgeschlechtlicher Gewaltmassen.144 Das weniger militarisierte Gewaltgeschehen der 1930er 142 PRONI, T 2258/1 (Typescript police report). 143 Vgl. Glennon, Pogrom, S. 52; Downing, Troubles, S. 158 f. Eine direkte Beteiligung von Frauen an bewaffneten paramilitärischen Kampfhandlungen, wie es Julia Eichenberg für die Unabhängigkeitskämpfe ausmacht, ist nicht ersichtlich. Vgl. Dies., Soldaten, S. 288 f. 144 Vgl. Hepburn, Past, S. 190.

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Jahre bot anscheinend für Frauen größere Optionen sich direkt am Gewalt­ gesche­hen zu beteiligen. Da es sich zudem vielfach um jüngere Frauen handelte, ebenso wie immer wieder von männlichen jugendlichen Gewalttätern berichtet wird, sind die Riots auch unter dem Blickwinkel eines Generationenwechsels zu betrachten.145 Gerade diesen Aspekt gilt es noch stärker zu untersuchen, insbesondere im Hinblick auf die Tatsache, dass Gewalt in der Zwischenkriegszeit in viel­fältiger Weise Teil  der britischen Jugendkultur war.146 Schließlich kann von einer zumindest mittelbaren Beteiligung von Kindern an den Kampfhandlungen ausgegangen werden. Bild- und Filmmaterial über die Unruhen des Jahres 1932 zeigen Kinder beim Herausbrechen und Aufhäufen von Pflastersteinen.147 Freilich handelte es sich bei diesen Unruhen um eher räumlichstatische Auseinandersetzungen zwischen Protestierenden und Polizei, was die Involvierung von Kindern sicher erleichterte. Doch damit ist nicht gesagt, dass diese Helfertätigkeit von Kindern nicht schon früher und auch später praktiziert wurde. Abschließend ist noch einmal dezidiert auf die Opfergruppen einzugehen. Aufgrund der großen Unterschiede in der zeitlichen Dauer von Troubles und Riots macht es wenig Sinn die Zahl der Getöteten, Verwundeten und Vertriebenen nebeneinanderzustellen. Dass insgesamt mehr Katholiken als Protestanten unter den Opfern zu finden sind – Hart identifiziert für die Troubles 259 getötete Katholiken gegenüber 164 getöteten Protestanten –, erklärt sich aus den Ursachen und Gewalträumen der Troubles. Obwohl Täter und Opfer beiden Konfessionsgruppen entstammten, richtete sich die Gewalt ursächlich gegen die Katholiken. Diese griffen zwar nicht nur reaktiv selbst zur Gewalt, doch umschrieben vornehmlich deren Lebens- und Arbeitsräume die Kampfzonen der Konflikte. Differenzierungen hinsichtlich Alter und Geschlecht zeigen, dass für beide Gewaltzeiten keine Grenzziehungen gemacht werden können. Nicht nur Männer, sondern auch viele Frauen, ebenso wie Alte und Kinder, wurden Opfer: ob als zufällig oder absichtsvoll von Geschossen verschiedenster Art Getroffene, ob als Betroffene von körperlicher Gewalt bei persönlichen Angriffen, im Zusammenhang mit Plünderungen und Vertreibungen, oder von Bomben­ angriffen. Allein bei den Troubles lassen sich schließlich spezifischere Opfergruppen ausmachen: die verwundeten und getöteten Mitglieder der IRA einerseits und der Polizei sowie der Specials andererseits. Insbesondere Polizisten starben nicht nur im Kampfgeschehen, sondern waren gezielte Opfer der IRA als Besitzer von Waffen und Repräsentanten der Union. Bei den Toten und Verwundeten unter den protestantischen und katholischen Volunteers fällt es frei145 Nach Hepburn war von den angeklagten Aufrührern etwa ein Viertel jünger als 21 Jahre, was aber sicher nicht den tatsächlichen Anteil Jugendlicher am Gewaltgeschehen abbildet. Vgl. ebd. 146 Vgl. Lawrence, Peaceable Kingdom, S. 561; Davies, City of Gangs. 147 Vgl. Maguire, Belfast, Abbildung S.  195; British Movietone Digital Archive, Belfast is scarred after Day of Riots, Story Number 2056.

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lich durchgängig schwer, ihnen einen Opferstatus zuzubilligen, ergab sich dieser doch erst aus ihrer Täterrolle. Insofern lässt sich festhalten, dass weder Konfession noch gefühlte Nationszugehörigkeit das konkrete Gewalthandeln während der Troubles und Riots bestimmten. Vielmehr besteht ein Zusammenhang zwischen den Gewaltpraktiken und -räumen sowie außerdem der sozialen Zugehörigkeit der Opfer.

Hans Medick

Der Krieg im Haus? Militärische Einquartierungen und Täter-Opfer-Beziehungen in Selbstzeugnissen des Dreißigjährigen Krieges

1633, ein Jahr nach dem Tod des Schwedenkönigs Gustav II. Adolf auf dem Schlachtfeld von Lützen, veröffentlichte der Superintendent und Münsterprediger der Freien Reichsstadt Ulm und ehemalige Professor für Ethik und Moralphilosophie an der Universität Gießen, Conrad Dieterich,1 einen einschlägigen Traktat. Dieser trägt den Titel »Discurs vom Kriegs-Raub und Beutten«.2 Die Schrift wurde gegen Ende der kurzen Zeit schwedisch-protestantischer Vorherrschaft im Dreißigjährigen Krieg verfasst. Es ging dem Gießener Ex-Professor und damaligen Ulmer Superintendenten in seinem mehr als dreihundert Druckseiten starken Traktat um die Zähmung des außer Kontrolle geratenen Krieges. Vor allem ging es ihm darum, das Verhalten der Truppen der protestantischen Bündnispartner, insbesondere Schwedens, gegenüber Zivilisten zu verrechtlichen. Bedeutsam ist, dass diese Schrift nicht wie die anderen Texte Dieterichs in Ulm, Leipzig oder Gießen publiziert wurde, sondern in der Stadt Heilbronn,3 und zwar während oder kurz nachdem die protestantischen Stände des Reiches und die militärischen Nachfolger Gustav Adolfs dort im Frühjahr 1633 zusammengekommen waren, um mit dem sogenannten Heilbronner Bund eine neue Bündnisgrundlage für ihre Zusammenarbeit zu schaffen.4 Die Publikation der Schrift in Heilbronn kann geradezu als ein Appell an die dort versammelten Verhandlungs- und Bündnispartner gelesen werden, denn die Raub- und Plünderaktionen der protestantischen Truppen waren auch Gegen1 Zu Dieterichs Wirken, vor allem in Ulm, siehe Monika Hagenmaier, Predigt und Policey. Der gesellschaftspolitische Diskurs zwischen Kirche und Obrigkeit in Ulm 1614–1639, Baden-­Baden 1989, bes. S. 25–77. 2 Conrad Dieterich, Discurs vom Kriegs-Raub und Beutten. Darinnen nachfolgende Punc­ ten abgehandelt werden: I. Was eyge[n]tlich rechtmessiger Kriegsraub sey? II . Warumb derselbige zugelassen seye? III . Was unrechtmässiger Kriegsraub seye? IV. Warumb solcher nicht zugelassen seye? V. Wem solch rauben und beutten zugelassen sey? VI . Was mit dem erplünderten Raub und Beutten vorzunemmen seye? VII . Ob und von wem derselbige abunnd eynzukauffen seye? VIII . Was denen beraubten und außgeplünderten hierbey zuthun seye? [Widmung an Gustavus Horn], Heilbronn 1633. 3 Das Vorwort der Schrift Dieterichs ist allerdings bereits auf den 11. Oktober 1632 in der Stadt Ulm datiert, also noch vor dem Tod König Gustav Adolfs in der Schlacht bei Lützen am 16. November 1632. 4 Detailreiche Darstellung bei Johannes Kretzschmar, Der Heilbronner Bund 1632–1635, 3 Bde., Lübeck 1922, hier Bd. 1, S. 191 ff., bes. S. 256 ff.

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stand kontroverser Debatten auf dem Heilbronner Konvent.5 Gezielt widmete­ Dieterich sein Werk auch einem Teilnehmer des Heilbronner Konvents, General Gustav Horn, der nach dem Tod des Schwedenkönigs Gustav Adolf neben Axel Oxenstjerna einer der beiden Oberbefehlshaber der schwedischen Armee war.6 Der Ulmer Superintendent war Ethiker, gleichzeitig aber auch Realist. Er wollte moralische Prinzipien des Kriegsrechts im Blick auf eine Gewaltpraxis seiner Gegenwart festhalten, die dabei war außer Kontrolle zu geraten. Doch sein Ziel war nicht die völlige Abschaffung von Raub und Beutemachen als Bestandteil der damaligen Kriegsführung. So wollte er, wie er in der Vorrede betont, keineswegs generell »das rechtmäßige Kriegsrauben und Beutten an sich selbsten in Frage stellen, sondern allein dessen unbilliche, unrechtmäßige, übermächtige Exorbitantien«.7 Ein zentraler Teil seiner Schrift ist deshalb dem unrechtmäßigen Kriegsraub gewidmet.8 Gemeint sind besonders jene mehr oder minder gewaltsamen willkürlichen Abschöpfungen und Aneignungen, wie sie von Offizieren oder einfachen Soldaten in ihren vorübergehenden oder dauerhafteren Quartieren in zivilen Haushalten praktiziert wurden, die aber auch bei sonstigen steuerähnlichen Kriegsumlagen vorkamen, insbesondere sogenannte »Kontributionen«: Unrechtmäßiger Kriegsraub ist, »wann sie [die Soldaten] in ihren designirten Quartiren oder Guarnisonen liegen, daselbsten ihr Demensum oder gewiß Deputat an Geliger [Lager], Mahlzeit und Fütterung als an Brot, Fleisch, Saltz, Schmaltz, Getränck, Holtz, Futter, Hew, Stro, Haber [und] anderen dergleichen Stucken haben, sie aber an selbiger Ordinantz sich nicht ergnügen noch ersättigen lassen, sondern in allem den Vollauff und Uberfluß haben wollen, immerzu zum Dichtesten und Besten hineinfressen, sauffen, schwelgen, banquetiren, dominiren [wollen] […] so [dass] alle mit Speiß und Tranck vom Haußvater nach der Schwere obertragen und wie ein Laugensack voll gepropfet und uberschüttet werden wollen und sollen.«9 Dieterich sieht als »unrechtmäßigen Kriegsraub« nicht nur die erzwungenen Sach-, Dienst- und Geldleistungen, die über die ursprüngliche Ordinanz-Ver5 Ebd., S. 204 ff. 6 Horn, der Schwiegersohn Axel Oxenstjernas, war insofern der richtige Widmungsadressat, als er den fortwährenden Plünderungen und willkürlichen Übergriffen seiner Truppen, etwa bei der Plünderung der Stadt Landsberg am Lech im April 1633, Einhalt zu bieten versuchte, indem er in dieser Zeit eine Ordinanz gegen Räubereien im Ulmischen Territorium erließ, welche die Stadt Ulm drucken und überall anschlagen ließ. Vgl. hierzu Gerd ­Zillhardt, Der dreißigjährige Krieg in zeitgenössischer Darstellung. Hans Heberles »Zeytregister« (1618−1672). Aufzeichnungen aus dem Ulmer Territorium. Ein Beitrag zu Geschichtsschreibung und Geschichtsverständnis der Unterschichten, Ulm 1975, S. 144, Anm. 204. Im Folgenden: H ­ eberle, Zeytregister. 7 Dieterich, Discurs vom Kriegs-Raub und Beutten, Vorwort o. S.; Punkt I der Schrift behandelt die Frage »Was eigentlich rechtmäßiger Kriegsraub und Beutte seye«, ebd., S. 5 ff., Punkt  II erörtert die Frage »Warum ein solcher rechtmäßiger Raub zugelassen«, ebd., S. 10 ff. 8 Ebd., Punkt III, S. 52 ff.: »Von unrechtmäßigem Raub«. 9 Ebd., S. 70 f.

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einbarung hinaus den Haushalten abgenötigt wurden, er führt auch die Konsequenzen vor Augen, die sich aus solch »unrechtmäßigem« Kriegsraub ergeben, vor allem in einem breiten Spektrum von physisch-körperlichen Gewaltakten: »das Toben, Reissen, Rauffen, Schlagen, Treten, Jagen, Brüglen [und] andere Gewaltthätigkeiten mehr, mit welchen weder [die] Quartirvattern noch Muttern, noch Kinder, noch Gesinde verschonet«10 werden, bis hin zum »Darniderreissen, Uberwältigen, Nothzüchtigen« von Frauen und Mädchen, die »dadurch ihres redlisten und besten Schatzes, nemblich ihres Ehrenkleinods beraubet« werden.11 Zum gewalttätigen und illegitimen Krieger wird der Soldat also für den Ethiker Dieterich erst dann, wenn er sich durch »unverantwortliche, leidige KriegsExorbitantien« außerhalb der Normen des Kriegsrechts stellt, die vom »Gesetz der Natur«, aber auch vom »göttlichen Recht« sanktioniert werden. Eine besonders verdammenswerte Verkörperung solchen »unverantwortlichen« Tuns stellt für Dieterich dabei ein quartiernehmender Soldat dar, der sich als i­ ngratus­ hospes, als »undanckbarer Gast«12 erweist. Ein solcher verhält sich damit den ehrwürdigen Gesetzen der Gastfreundschaft und ihrer Wechselseitigkeit zu­ wider. Diese hatten seit der Antike Gültigkeit und waren auch in der Frühen Neuzeit eine vieldiskutierte Norm und – allerdings seltener – auch geübte Praxis gesellschaftlichen Verkehrs,13 dies auch, aber keineswegs nur, in der gelehrten Welt. In bewusstem Bezug auf die Abweichung der von militärischem Zwang geprägten Situation seiner Gegenwart von den in der Antike entwickelten Normen des Herbergsrechts heißt es bei Dieterich: »Wann dann nun heutige Soldaten das ius hospitii, Herbergs-Recht, in ihren Quar­ tiren halten, wie der Hund das Fasten in der Kuchen oder Speißkammer, die Herberg selbst schänden und verunreinigen […] sollten sie [dann] nicht diesen Titel mit Ehren an ihrer Stirn führen: Ingratus Hospes?«14

Die Intensität des Dieterichschen Textes und an einigen Stellen auch seine selbstzeugnishafte Ich-Form lassen darauf schließen, dass der Autor selbst von den in seinem »Discurs« angesprochenen Spannungsfeldern zwischen allzeit gültigen Normen und der abweichenden Praxis seiner Gegenwart betroffen gewesen sein muss. Als Zeichen der Betroffenheit und zugleich der Beglaubigung seiner Aussagen hat Dieterich seinem Text sieben lateinische Beiworte seiner Pfarrkollegen aus den Stadt- und Landgemeinden von Ulm beigefügt.15 Sie legitimieren 10 11 12 13

Ebd., S. 75. Ebd., S. 74 f. Ebd., S. 97. Siehe hierzu die umfassende Studie von Gabriele Jancke, Gastfreundschaft in der frühneuzeitlichen Gesellschaft. Praktiken, Normen und Perspektiven, Göttingen 2013, die sich entsprechend der Ausgangsfragestellung der Arbeit stark auf die Diskurse und den Verkehr unter Gelehrten bezieht. Ich danke Gabriele Jancke für den Austausch über die hier und im Folgenden interessierenden Fragen. 14 Dieterich, Discurs vom Kriegs-Raub und Beutten, S. 97 f. 15 Ebd., in lateinischer Sprache, auf den Seiten unmittelbar hinter der Widmungsvorrede, o. S.

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seine Schrift zusätzlich und lokalisieren sie im besonderen Erfahrungskontext der protestantischen süddeutschen freien Reichsstadt. Ulm war damals von der Gewaltsamkeit des Dreißigjährigen Krieges vor allem in den Gebieten seines ländlichen Territoriums betroffen. Die Stadt selbst hingegen wurde nie erobert, zerstört oder unter fremde Militärherrschaft gestellt. Durch geschickte Politik gelang es dem städtischen Rat vielmehr, die unmittelbaren Lasten des Krieges und hier insbesondere die Störungen durch die immer wiederkehrenden Einquartierungen und Durchzüge fremder Truppen auf die Landgemeinden des Umlands abzuwälzen. Dies geschah in Form einer Art »Arbeitsteilung«, in der die Landbewohner die Hauptlast trugen. Die Stadt übernahm allerdings einen erheblichen Teil  der geldlichen Kontributionszahlungen und ermöglichte den Bewohnern und Bewohnerinnen ihres Umlands bei sich zuspitzenden Gewalt­ situationen eine gesicherte Flucht, indem sie den Untertanen vom Lande zeitweise Unterkunft in ihren Mauern gewährte. In einem bemerkenswerten Kontrast zum Traktat des Ulmer Münsterpredigers steht ein anderer Text aus der gleichen Region: ein Selbstzeugnis. Es stammt von dem Kleinbauern und Landschuster Hans Heberle aus dem Dorf Weiden­ stetten, später wohnhaft im Nachbarort Neenstetten, wenige Meilen nordwestlich von Ulm. Als Chronist seiner Zeit und insbesondere seiner dörflichen Umwelt beschreibt der Autodidakt Heberle die prekäre Situation eines Landbewohners, der den Übergriffen der durchziehenden Armeen relativ schutzlos ausgeliefert war: »Da wir in großen Engsten, Schröckhen und Sorgen stunden, da komen die Cronbergischen Reiter in das Landt den 18. Januar [1628] nach Langenau. Und danach haben sie sich außgebreit vast in dem halben Ulmer Landt und mehr Orten. Es sindt aber die Cronbergischen Reiter gewesen 5 hundert […] ohn alles Pfeffelgesindt [Pöbelgesinde], das sie mitbracht haben, Huren und Jungen und mechtig viel Pferdt. Sie haben mechtig geromort ein gantzen Monet. Den 22. Jener sindt sie hie zu Weidenstetten eingefallen und in allen umbligenden Fleckhen […]. Den 11. Tag Mertzen ist der Cronebergische Rütmeister zu unß komen mit etlich Reiter und Knechten und alem Zugeher. Den selbigen haben wir hie zu Weidensteten müessen [unter]halten mit ein unseglichen Vorrat, mit etlichen Faß Wein, Fleisch, Speckh und allerley köstlichen Sachen. Und wan ich es nach all der Lenge wollt erzählen, von allerlei Hendle, so wer es ein gantzes und darzu grosses Buch darvon zu schreiben. Den 6 Tag Maya haben wir grossen Durchzug gehabt uber Nacht mit etlich hundert [Mann] Fußvolkh. Als aber ein unvermöglicher Last uff des Baursvolckh allendt halben im Landt, wo die Cronebergischen gelegen sindt, auffgegangen ist, mit Einkauffen, was sie haben wöllen, mit Fleisch, Wein, Bier, und ander Sachen mehr, was sie haben verdenckhen mögen und die Underthanen [sich] hefftig beschwert, das man einander hatt weder helffen und raten kundt, weder mit Gelt noch andere Sachen, da hat man Hilff und Rath gesucht bey der Oberkeit, wie die Sachen zu thon were. Da hat ein Oberkeit nach dem Oberst Croneberger geschriben […]. Der selbig ist nach Ulm verreist und [hat] mit denen Herren ein Ordonantz gemacht, die alsbald in dem Land ist angeschlagen worden. Dass kein Baur dem Reiter hatt mehr derffen geben,

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dan Holtz, Stro, Hew, Liecht und Salz. Und haben die Heren von Ulm einem jeglichen Ritmeiser müessen geben 50 Thaller […] und einem jeglichen Reiter 3 Thaler. Darbey sollen sie steiff und vest bleiben, bey Leib- und Lebensstraffe.«16

Bemerkenswert an diesen Passagen, die eine Situation aus dem ersten Jahrzehnt des Dreißigjährigen Krieges darstellen, ist zum einen die Sensibilität des Ulmer Landschusters für die »Exorbitanz« der Versorgungsleistungen, die von den kurzfristig durchziehenden oder mehrere Wochen lagernden Truppen abgefordert worden sind. Bemerkenswert ist zum anderen seine Darstellung des erfolgreichen Appells der Landbewohner an die Stadtobrigkeit, der mit einer Ordi­ nanz-Vereinbarung zwischen dem Kommandanten der kaiserlichen Truppen und der Ulmer Obrigkeit endete,17 in der die Begrenzung der Quartier- und Versorgungsleistungen sichergestellt wurde. Heberle erwähnt die Bekanntmachung durch den Druck im ganzen (Ulmer) Land, aber auch, dass die Verordnung »das wenigest« eingehalten wurde.18 Von Anfang an wird hier eine Dynamik der Abschöpfung ziviler Leistungen durch das Militär sichtbar, die über die bloße militärische Versorgungsnotwendigkeit mit dem Auskömmlichen hinausgeht. Die Opferrolle, in der sich Heberle selbst beschreibt, ist vor allem die Rolle eines Landbewohners, der einer ungerechten, auch von ihm selbst als »exorbitant« bezeichneten Überabschöpfung von Ressourcen und Geld ausgesetzt ist. Hier tritt – worauf insbesondere Michael Kaiser als ein generelles Merkmal der Gewaltbeziehungen im Dreißigjährigen Krieg aufmerksam gemacht hat –19 eine soziale Dimension von Gewalt hervor, welche die militärisch-zivilen Beziehungen auch in der Lebenswelt und der Wahrnehmung des Ulmischen Landschusters zunehmend bestimmte. Solche sozialen Gewalthandlungen und deren Folgen waren zwar nicht stets und unbedingt mit Akten unmittelbarer physischer Gewalt oder gar mit Tötungsgewalt verbunden, obwohl sie dies durchaus sein konnten.20 Doch sie wurden als besonders demütigende und entehrende Akte »mutwilliger« Gewalt und Aneignung begangen und so auch von den betroffenen Zivilpersonen, Männern wie Frauen, empfunden, eben auch von Hans

16 17 18 19

Ebd., S. 119 ff. Ebd., S. 121. Ebd., S. 123 f. Michael Kaiser, Die Söldner und die Bevölkerung. Überlegungen zur Konstituierung und Überwindung eines frühneuzeitlichen Antagonismus, in: Stefan Kroll/Kersten Krüger (Hg.), Militär und ländliche Gesellschaft in der Frühen Neuzeit, Münster 2000, S. 79–120, hier S. 94. Kaiser entwickelt mit dem Konzept eines »sozialen Sinns der Gewalt« produktiv eine Begriffsbildung weiter, die ursprünglich Gerd Schwerhoff geprägt hat, in: Ders., Aktenkundig und gerichtsnotorisch. Einführung in die Historische Kriminalitätsforschung, Tübingen 1999, S. 121. 20 So berichtet Heberle von einem Vorfall in einem Nachbarhaus seines Wohnorts Weiden­ stetten, bei dem sich aus einer sozialen Drohsituation mit einer Waffe durch einen im Haus einquartierten Soldaten unbeabsichtigte tödliche Folgen für die Hausfrau ergaben: sie wurde »versehentlich« erschossen, Heberle, Zeytregister, S. 124 f.

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­Heberle.21 In diesem Sinne bemerkt er anlässlich des Abzugs der Cronbergischen Truppen aus seiner Region 1631 kritisch: »Ein jeder [Soldat] hatt müessen haben ein schönen, seydene, blawen Feldbündten, dass sie nit anders sindt gewesen, als werens lauter Edellleut […] ja, das ich die gantze Warheit sage und schreibe, sie sindt in das Landt komen wie die lumpige und laußige Bettler und sind hinaus geriten wie lauter Fürsten und Graffen.«22

Das Drama der Darstellung Heberles, die sich über die gesamte Zeit des Dreißig­ jährigen Krieges und darüber hinaus erstreckt, besteht freilich darin, dass er aus seiner eigenen Erfahrung zunehmend ein Scheitern »obrigkeitlichen Verwaltungshandelns« und zahlreicher Versuche einer zivil-militärischen Kooperation feststellen muss. Eine Begrenzung der Abschöpfungen und Quartierleistungen wurde nämlich mit dem Fortschreiten des Krieges immer weniger möglich. Die Zahl der Plünderungen und gewalttätigen Übergriffe auf dem Land nahm vor allem ab dem zweiten Drittel der 1630er Jahre zu. Die Möglichkeiten, mit Quartiergeben und der Leistung von begrenztem »Servis« in einer Zone starker Kriegsverdichtung zu überleben, wurden zunehmend geringer. Auch Versuche der Verteidigung und Gegenwehr, an denen Heberle als bewaffnetes Mitglied eines Defensionsausschusses mehrfach teilnahm23 und die sich gegen räuberische Aneignungen und Plünderungen vor allem durch streifende Kavallerie richteten, erwiesen sich als vergeblich. Sie endeten in Racheakten wie der Zerstörung der bäuerlichen Habe durch die Soldateska in Heberles nächstem Umfeld, z. B. des in Brand-Setzens von fünf Häusern und Scheunen in ­Heberles Wohnort Weiden­ stetten durch Reitertruppen Herzog Bernhards von Weimar im Sommer 1634: »Kein Fleckh war so starckh, der sich kundt erwehren, wiewol das selbig Etliche haben angefangen, aber es hatt ubel außgeschlagen. Wie dan mir das selbig zu Weidenstetten haben angefangen, aber es ist unß mißlungen, dan wir haben uns zwen Tag erwert, und manchen dapfferen Hauffen Reiter abgetriben, all unser Vüch und Ross in [den] Kirchoff, alle unser Armut [d. h. sonstige bewegliche Habe, Hausrat] in die Kirchen getragen. Aber es hatt nit geholffen. Dan weil wir unß lang gewehret, haben sie das Dorff angezündet und fünff Heußer und 5 Stedel abgebrandt. Da daß geschehen, ist unser Sach verlohren. Da lasst ein jeder sein Wehr fallen und der seine zu geloffen.«24

Die Präsenz der Gewalt des Militärs verschärfte sich zunehmend zu offenen militärischen Gewaltaktionen. Die zahlreichen, insgesamt 33 (!), mitunter bis zu 21 Heberle summiert zu Beginn seiner Darstellung des Jahres 1629: »Aber mit denen Reiter ist es immer gewesen, das sie all Muttwilen geybet [geübet] an ale Enden und Orten, wie dan Soldadten Brauch ist.« Ebd., S. 124. 22 Ebd., S. 133. 23 Siehe ebd., S. 113 f., 138, 140, 143, 203 f., 207 f. 24 Ebd., S. 148. Vgl. auch aus der Endphase des Krieges die Darstellung des vergeblichen bäuerlichen Widerstands gegen plündernde bayrische Truppen im September 1645, ebd., S. 203 f. und gegen schwedische Truppen im August 1646, ebd., S. 207 f.

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mehrwöchigen Fluchten des Landschusters mit seiner Familie, dem verbliebenen Vieh und Hausrat in ein Notquartier in der nahen Stadt blieben die einzige Möglichkeit zu überleben. Doch selbst diese Möglichkeit geriet mit der Fortdauer des Krieges an ihre Grenzen. In den Wintermonaten 1640 wie 1643 sieht sich der Rat der Stadt gezwungen, die nach Ulm geflüchteten Bauern, darunter Heberle selbst, wieder zur Rückkehr auf das Land zu zwingen. Sie wurden auf ihre Dörfer im Umland der Stadt zurückgeschickt, um dort die geforderten Leistungen an »Servis« und »Aufwartung« für das Winterlager der kaiserlichen Truppen sicherzustellen. Lapidar heißt es unter dem 15. Dezember 1643: »[…] seyen wir wider nach Hauß und Heym gezogen zu dene Soldaten. Die haben uns gerne angenommen, dass wir ihnen dapffer aufftragen. Welches auch geschehen ist, aber zu unserm Verderben.«25

Zwar sind im Bericht des Landschusters die Rollen zwischen militärischen Tätern und zivilen Opfern eindeutig verteilt und auch die zunehmende Dynamik von kriegsbedingter Alltagsgewalt auf dem Lande seit den 1630er Jahren tritt klar hervor. Doch auffällig ist, dass der bewusst knappe chronikalische Stil des Zeugnisses eine persönliche Nahperspektive auf das Gewaltgeschehen in seinem eigenen Hause vermeidet. Heberles Zeugnis ist in dieser Hinsicht ein chronikalisches Zeitzeugnis und »Zeytregister« – so der selbstgewählte Titel seines Texts – des Geschehens in seiner Region wie in der Welt des »Großen Krieges«26 und weniger ein Selbstzeugnis im engeren Sinne. Eine Nahaufnahme der auch von ihm selbst erfahrenen Rückwirkungen der »Exorbitantien« bis ins eigene Haus gibt es in Heberles Darstellung nur andeutungsweise. Es überwiegen die generalisierende Opferperspektive eines Bauern27 und die bilanzierende Sichtweise eines Chronisten: »Denn so lang dißer Krieg wehret bei unß in dem Ulmischen, wiewoll offter mall großen Schaden geschehen, ist er nie größer gewesen als diß mal«,28 notiert er 1645. Eine persönliche Nahperspektive auf das eigene Haus ist aber in anderen Selbstzeugnissen durchaus überliefert. Unter ihnen sticht das Zeugnis von Augustin Güntzer hervor.29 Güntzer arbeitete als Kannengießer in der kleineren 25 Ebd., S. 195. 26 Diese historiographische Seite des Textes Heberles beleuchtet eindringlich Andreas Merzhäuser, Das ›illiterate‹ Ich als Historiograph der Katastrophe. Zur Konstruktion von Geschichte in Hans Heberles »Zeytregister« (1618−1672), in: Zeitenblicke 1/2 (2002), als E-Journal abrufbar unter: http://www.zeitenblicke.historicum.net/2202/02/merzhaeuser/ index.html (Zugriff am 15.2.2015). 27 Vgl. Heberle, Zeytregister, S. 190. 28 Ebd., S. 202 f. Vgl. auch die bezifferte Kosten- und Schadensbilanz am Ende des Jahres 1645, ebd., S. 205. 29 Augustin Güntzer, Kleines Biechlin von meinem gantzen Leben. Die Autobiographie eines Elsässer Kannengiessers aus dem 17. Jahrhundert, hg. v. Fabian Brändle und Dominik Sieber, Köln 2002.

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freien Reichsstadt Colmar im Elsass und war frommer Calvinist. Sein eindringlicher Bericht der Zumutungen, denen er als Hausherr mit seiner Familie durch die bei ihm einquartierten kaiserlichen Soldaten ausgesetzt war, zeigt auch hier eine spezielle Wahrnehmungsperspektive. Diese stellt nicht etwa die Einquartierung an sich und die mit ihr verbundenen Dienstleistungen an »Service« und »Aufwartung« prinzipiell in Frage. Auch physische Gewalthandlungen gegen seine Person werden nicht als Stein des Anstoßes erwähnt. Es sind vielmehr vor allem die Handlungen »sozialer Gewalt«, d. h. die demonstrativen Normüberschreitungen und Willkürakte der Soldaten in seinem eigenen Haus, und die Infragestellung seiner Hausherrschaft als pater familias, die von Güntzer als nicht hinnehmbare Gewalt dargestellt werden. Dazu zählen die übermäßige Aneignung und der Verzehr von Speisen und Getränken, die über die Standards der Bereitstellung von Hausmannskost hinausgehen, aber auch die Zerstörung von Hausrat und demonstrative Akte der Verunreinigung, wie das Urinieren in Kannen und Gläser auf dem gedeckten Tisch. Auch ein Vergewaltigungsversuch der Töchter wird in diesem Zusammenhang angedeutet, aber nur indirekt beschrieben als deren Angst davor, sich weiter im eigenen Haus aufzuhalten: »In dißem Jahr [1633] wirdte ich mitt den Soldaten hartt belegt mit der Einqwattierung. Ich muß derohalben offt mit i[h]nen str[e]iten, dieweil sie es mit der Cost beßer wolten haben, dan ich und mein Kinder haben. Man legt mihr jederzeitt die aller­ ergsten Sodaten [sic] in daß Hauß, wirdt also auff das Ergste von i[h]nen triffilierdt [= tribuliert (geplagt)]. Offt muß ich mich heimlich im Hauß verstecken, daß sie meiner nicht ihnne wirdten. Sie namen mihr in der Nacht den Haußradt, [und] Wein aus dem Keller. Ich wahr [zu der Zeit] hardt beschwertt mit der Wacht, [sie] kam zu [der] Zeitten die dritte Nacht an mich. Wan ich dan deß Morgens nacher Hauß ging, etwan zu sehen, wie es in der Haußhaltung des Nachts zugangen ist, so fand ich offt das Dischtuch auff dem Disch gedoecht, die Kandten und Gloeßer voller Seich [Urin] und das Dischduch mit den Meßer zerstochen, und ander Hausradt verderbt undt zerr­ schlagen. Indem klagten mihr meine 2 junge Doechter an mit weinet[en] Augen, sie woehren also von den Soldadten so tragtierdt worden, daß sie auff diße Weiß nicht mehr in dem Hauß kunden pleiben. Kame ich dan fiehr die Qwuattiermeister oder [möglicherweise Schreibfehler für »um«] Hilfe, da wirdt mihr zurr Antwordt geben, ich solle mich mit den Soldadten wol vertragen, darmit kein Klag von den Sol­dadten kam. Indem wirdt mein Chreitz [Kreuz] [zu] alererst schwehrer. Aber ich denckete an meine Sinden, dass ich es ales wol [nicht] beßer verdienet hatte, so mich Gott um meiner Sinden wilen straffen wolte, es solle auch dem J[ü]nger nicht beßer ergehen als ­seinem Heren«.30

Es ist also die Infragestellung seiner Hausherrschaft wie die Überschreitung der wechselseitigen Gastfreundschaftsnormen für die Gewährung von Kost und Logis sowie – im Wortsinne – auch die Überschreitung der Grenzen guten Geschmacks, die Güntzer als gewaltsam und anstößig erscheinen. Sie treiben ihn 30 Ebd., S. 237 f.

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zum – freilich vergeblichen – Protest bei der zuständigen Militärinstanz, dem Quartiermeister. Bemerkenswert ist hierbei die religiöse Stilisierung seiner Opferrolle, die Güntzer in seiner Beschreibung vornimmt. Er sieht sich in dem von ihm erfahrenen Leid eines nicht respektierten Hausvaters und Gastgebers als ein Jünger in der Nachfolge Christi, dessen »Kreuz« er ebenfalls zu schultern und zu tragen habe. Kann man also – in Bezug auf den Titel dieses Beitrags – vom Dreißigjährigen Krieg als einem »Krieg im Haus« sprechen? Keineswegs ist dieser Krieg als ein Krieg zu charakterisieren, der nur auf Schlachtfeldern ausgetragen wurde. Sein Alltag fand vielmehr an zahlreichen anderen Gewaltorten und in einer Vielfalt von besonderen Gewaltsituationen statt. Unter diesen bildeten die Häuser der Zivilbevölkerung auf dem Land und in den Städten einen besonderen »Brennpunkt«. Die oft zitierten und behandelten Schrecken des Dreißigjährigen Krieges hatten nicht zuletzt hier ihren Ort. Es waren gerade die Handlungen physischer und sozialer Gewalt und die gewaltsamen Verletzungen der Regeln des Miteinander-Auskommens und der Gastfreundschaft in den Häusern der Zivilbevölkerung, die von den Zeitgenossen und Zeitgenossinnen, mehr als von späteren Historikern, als konflikttreibend und kriegsbestimmend angesehen wurden. Solche Handlungen einer sozial entfesselten Kriegsgewalt machten die einquartierten Soldaten in der Wahrnehmung und Sprache A ­ ugustin­ Güntzers zu »Menschgetierer[n]«31. Ob die davon betroffenen Zivilpersonen stets nur Opfer waren und nicht zuweilen auch Nutznießer der Gewalt, die von den einquartierten Militärs andernorts geübt wurde, wäre aufgrund weiterer Zeugnisse zu prüfen. Andere Quellen, wie z. B. Gerichts- und sonstige Behördenakten, insbesondere Korrespondenzen von lokalen weltlichen und geistlichen Amtsträgern und auch tausende von Suppliken lassen erkennen, dass gegen die Regel- und Normverletzungen durchaus auch Widerstand geleistet wurde, vor allem durch Appelle an höhere militärische und zivile Instanzen und Gerichte, aber auch durch Leistungsverweigerung. Zu Recht wurde in der Forschung allerdings darauf verwiesen, dass angesichts einer in der Zeit herrschenden zivilen Leitvorstellung vom gewaltgeprägten Verhältnis von Militär und Zivilbevölkerung, ganz besonders aber von Bauern und Soldaten, die Darstellung eines auskömmlichen und einvernehmlichen Verhaltens in schriftlichen Zeitzeugnissen (und das heißt auch in Selbstzeugnissen) viel weniger »memorierwürdig« erschien und deshalb auch seltener Erwähnung fand als konfliktträchtiges Verhalten.32 Auch Selbstzeugnisse sind in ihrer Darstellungsweise keineswegs frei von solchen Vor­an­nah­men. Dennoch bietet gerade ihre genaue Analyse und der Vergleich unterschiedlicher Zeugnisse durchaus auch Einblick in die Ambivalenzen des zivil-militärischen Verhältnisses bei der Einquartierung. In solchen Einblicken erscheint zwar das Verhältnis von Einquartierten und Soldaten nicht gänzlich 31 Ebd., S. 238. 32 Siehe zu diesem Punkt Kaiser, Die Söldner und die Bevölkerung, S. 81.

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gewaltfrei; sichtbar werden aber dort doch unterschiedliche Wege des Auskommens oder auch des Nichtauskommens in einer zumeist durch die D ­ rohung oder Realität von Kriegsgewalt geprägten Situation. In einem herausragenden und besonderen Fall erschließen sich diese Ambivalenzen für die Handlungs-, Wahrnehmungs- und Darstellungsweise eines militärischen Täters. Es handelt sich um einen Soldaten aus den unteren bis mittleren militärischen Rängen: Peter Hagendorf. Das Tagebuch dieses Söldners33 ist einzigartig unter den bisher bekannten Selbstzeugnis-Texten des Dreißigjährigen Krieges. Es stellt gewissermaßen einen »außergewöhnlichen Normalfall«34 dar, ein außergewöhnliches Zeugnis, das aufgrund seiner besonderen Sicht- und Schreibweise den Alltag eines einfachen Soldaten zur Darstellung bringt. Der Text Peter Hagendorfs eröffnet damit einen Blick auf die Handlungen und die Lebenszusammenhänge eines normalen »Täters« des Dreißigjährigen Krieges, auf Zusammenhänge, die dem Historiker ansonsten – bis zur Publikation des Zeugnisses durch Jan Peters –35 weitgehend verschlossen blieben. Hagendorf notiert in überwiegend knapp gehaltenen Bemerkungen die zahl­reichen Quartieraufenthalte, die er während seiner Kriegszüge durch weite Teile Zentral­ europas36 an unterschiedlichen Orten nahm, häufiger in kleineren Städten oder Dörfern als in größeren städtischen Zentren.37 Zumeist sind seine Bemerkungen 33 Peter Hagendorf, Tagebuch eines Söldners aus dem Dreißigjährigen Krieg, hg. v. Jan­ Peters, Göttingen 22012. 34 Zum Begriff des »außergewöhnlichen Normalfalls« und der besonderen Bedeutung des außergewöhnlichen Dokuments als Schlüssel einer mikrohistorischen Betrachtungsweise und zum Erkenntniswert mikrohistorisch erschlossener Einzelfälle für die Erforschung umfassenderer Zusammenhänge siehe Hans Medick, Mikrohistorie, in: Winfried Schulze (Hg.), Sozialgeschichte, Alltagsgeschichte, Mikro-Historie, Göttingen 1994, S. 40–53, hier S. 46 f.; zur Bedeutung des Konzepts der »normal exception« in der Mikrohistorie siehe auch István M. Szijártó, Part I, in: Sigurdur Gylfi Magnússon/István M. Szijártó, What is Microhistory? Theory and Practice, London 2013, S. 1–76, hier S. 19 f., 32 f. 35 Die Erstauflage erfolgte 1993, die noch von Peters bearbeitete Neuauflage wurde posthum im Jahr 2012 publiziert. 36 Hagendorf, Tagebuch. Vgl. die dem Band beigefügte Faltkarte: Marschrouten im Überblick (1625−1649), welche die Gesamtlänge der zurückgelegten Märsche mit 22.400 km angibt. 37 Insgesamt finden sich in Hagendorf, Tagebuch folgende 39 explizit erwähnte Quartieraufenthalte zwischen den Jahren 1627 und 1649: S. 102 (April 1627): Obermarkgrafschaft Baden; S. 103 (Winterquartier Anfang 1628): Salzwedel, Altmark; ebd. (Ostern bis Sommer 1628): Stade, sowie Stendal (Rest des Jahres 1628); ebd. (während des Jahres 1629): Pommern »Gebiet der Kaschuben«, ferner Neustettin und später Mark Brandenburg; S. 104 (1629, »zwanzig Wochen lang«): auf dem Land bei Lauterbach (Vogelsberg); ebd. (Winterquartier 1629/1630): Lippstadt, Westfalen; ebd. (Winterquartier 1630/1631): Dörfer um Magdeburg; S.  105 (sieben Wochen im Sommer nach der Erstürmung Magdeburgs im Mai 1631): Dörfer um Halberstadt; S. 106 (Winterquartier 1631/1632): Riedenburg (Altmühltal); S. 107 (städtisches Quartier 1633): Regensburg; S. 108 (1633): Straubing (Donau); ebd. (Anfang 1634): Bieber bei Gelnhausen in der Wetterau; S. 111 (Winterquartier Dezember 1634 bis April 1635): Pforzheim; S. 113 (Winterquartier Dezember 1635 bis März 1636): Münstermaifeld bei Koblenz und umliegende Orte; S. 118 (Winterquartier

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neutral abgefasst, d. h. ohne eine besondere Bewertung des Aufenthalts, lediglich mit Angabe des Quartierortes oder der Quartierregion, häufig auch mit Angabe der Jahreszeit oder des Monats, zuweilen des Namens des Quartiergebers bzw. der Quartiergeberin, etwa eines Gastwirts38 oder einer Witwe.39 In einer kleineren Anzahl von Fällen erfolgt aber die Erwähnung des Aufenthalts mit der besonderen Etikettierung »gutes Quartier«.40 Auffällig ist bei diesen Erwähnungen, dass die Charakteristik als »gutes Quartier«, die zu Beginn des Krieges noch recht häufig verliehen wird, mit dem Fortschreiten des Krieges seltener wird. Sie weicht neutralen Erwähnungen oder gar abwertenden Bemerkungen, wie etwa der für März 1639, in der es sarkastisch heißt: »Unser Quartier hat geheißen Heu-streu«.41 Bis zum Ende des Krieges hört die Aufmerksamkeit des Söldners für »gutes Quartier« jedoch nicht auf, ja sie könnte zu diesem Zeitpunkt vielleicht als Teil  eines gesteigerten Bemühens um die Wiedereingliederung in eine zivile Lebensform gelesen werden. So bezeichnet Hagendorf noch eine mehr als fünf Monate dauernde Einquartierung im Städtchen Altheim im Oberinntal im Jahr 1647, also gegen Ende des Krieges und damit auch dem Ende seiner Zeit als aktiver Söldner, ausdrücklich als »gutes Quar-

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Dezember 1637 bis Februar 1638): Hornberg (Schwarzwald); S. 120 (Winterquartier Dezember 1638): Degernau bei Waldshut; ebd. (Juli 1639): Dörfer bei Tübingen; S. 121 (Winterquartier Januar bis Februar 1640): Ingolstadt; S. 122 (März bis Juli 1640): Dörfer bei Neustadt an der Saale; S. 124 (Oktober bis November 1640): Dörfer bei Paderborn und Dorf Niederklein bei Stadtallendorf/Hessen; ebd. (Winterquartier Januar bis Februar 1641): Ingolstadt; ebd. (März 1641): Straubing; S. 125 (April bis Juni 1641, Zurücklassung der kranken Ehefrau): Ingolstadt; S. 126 (November 1641): Dörfer um Göttingen bei vergeblicher Belagerung der Stadt; S. 126 f. (November 1641 bis April 1642): Mühl­hausen/ Thüringen; S. 129 (Dezember 1642 bis Februar 1643): Winterquartier auf dem Land bei Augsburg; ebd. (April 1643): Ravensburg; S.  131 (Winterquartier Dezember 1643 bis April 1644): Dinkelsbühl; S. 132 (Winterquartier Ende Dezember 1644 bis Anfang Februar 1645): Rothenburg o.T.; ebd. (1645): Öhringen (Hohenloher Land); S. 133 (Oktober bis Anfang Dezember 1645): Schloss Pappenheim/Franken; ebd. (Dezember 1645 bis Mai 1646) Nördlingen; S. 134 (September 1646): Würzburg; S. 134 f. (Februar 1646): Braunau/ Inn; S. 135 (Februar 1646 bis September 1646): Altheim/Oberinntal; S. 138 f. (November 1647 bis zur Auflösung des Regiments Ende September 1649): Memmingen. Von Hagendorf als »Wirte« bezeichnete Quartiergeber sind wohl nicht ohne Weiteres mit Gastwirten gleichzusetzen. Die Bezeichnung als »Wirt« erfolgt bei ihm im Sinne von »Quartierwirt«. Explizite Erwähnungen von Einquartierungen bei Gastwirten finden sich aber – bemerkenswerterweise nur für Wirte in Bayern − auf S. 108 für die »gute« Einquartierung Anfang 1634 in Straubing beim Weinwirt »Zur grünen Traube«, S. 121 für die Einquartierung bei einem »Bierbrauer« in Ingolstadt Anfang 1640 und S. 125 für die Einquartierung bei einem Weißbier-Schenk in Ingolstadt im Frühjahr und Frühsommer 1641. Ebd., S. 135: Einquartierung bei der Gerichtsschreiberin und Witwe Appolonia in Braunau Anfang 1647. Gleich die erste Erwähnung einer Einquartierung noch am Platz der ersten Musterung in der oberen Markgrafschaft Baden im Jahr 1627 wird als »gut« charakterisiert: »Dort in Quartier gelegen, gefressen und gesoffen, daß es gut heißt«, ebd., S. 102. Vgl. auch die weiteren Erwähnungen für Quartiere des Jahres 1629, ebd., S. 103. Ebd., S. 122.

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tier«.42 Bei diesem Aufenthalt lässt er zum Schluss, vor seinem Weiterzug nach Memmingen im September 1647, sein zu diesem Zeitpunkt einziges überlebendes Kind,43 seinen 1643 geborenen Sohn Melchior Christof, gegen Bezahlung bis in den Sommer 1649 hinein in der Obhut des Schulmeisters zurück.44 Nie erwähnt der Söldner Einquartierungen als Anlässe für gewalttätiges Konfliktgeschehen und für Ausübungen manifester physischer Gewalt von seiner Seite oder der seiner Quartiergeber. Etliche Male wird jedoch eine Dimension sozialer, nicht-physischer Gewaltausübung erkennbar, die sein Verhalten bestimmen konnte. Sie scheint bei den Quartiernahmen durchaus häufiger im Spiel gewesen zu sein, wird aber im schriftlichen Zeugnis des Söldners nur indirekt thematisiert, besonders dann, wenn sie für ihn positive Konsequenzen in Form abgenötigter reichlicher Versorgung hatte. So wurde etwa 1629 eine besonders gute, über dem Erwartbaren und Üblichen liegende Quartierversorgung in der Nähe Stralsunds erwähnt, die vor allem für die Offiziere reichlicher ausfiel als für die Mannschaften: »Hier haben wir kein Rindfleisch mehr wollen essen, sondern es haben müssen Gänse, Enten oder Hühner sein. Wo wir über Nacht gelegen sind, hat der Wirt müssen einem jedweden einen halben Taler geben, aber im Guten. Weil wir mit ihm zufrieden sind/ gewesen und haben sein Vieh in Frieden gelassen. So sind wir mit den 2000 Mann hin und hergezogen, alle Tage ein frisches Quartier, 7 Wochen lang. Bei Neustettin sind wir 2 Tage stillgelegen. Hier haben sich die Offiziere mit Kühen, Pferden, Schafen wohl versehen, denn es gab vollauf von allem.«45 42 Ebd., S. 135. 43 Aus den zwei während des Krieges geschlossenen Ehen Hagendorfs gingen insgesamt zehn Kinder hervor: aus der Ehe mit Anna Stadler von der Heirat 1627 bis zu deren Tod 1633 insgesamt vier Kinder, die alle bis 1633 starben, aus der zweiten Vermählung 1635 mit Anna Maria Buchler bis zum Ende des Berichts 1649 insgesamt sechs Kinder, von denen das letzte 1648 in Memmingen geboren wurde. Bis auf den Sohn Melchior Christof und die in Memmingen im Januar 1648 geborene Tochter Anna Maria starben bis dahin auch alle übrigen Kinder aus dieser Ehe. 44 Ebd., S.  135. Hagendorf belässt seinen Sohn einige Monate über das Ende des Krieges hinaus, bis in den Frühsommer 1649, in der Obhut des Schulmeisters von Altheim. Am 7. Mai 1649, also nach fast zwei Jahren, holt er ihn dort im Haus des Lehrers persönlich wieder ab und unternimmt zu diesem Zweck extra eine Reise von Memmingen nach Altheim, um seinen Sohn dann anschließend in seinem Quartiersort Memmingen Ende Mai im Alter von fünf Jahren und neun Monaten am 26. Mai einzuschulen. Die Schulausbildung seines Sohnes, zunächst im Haus des Schulmeisters von Altheim und später auf der Schule in Memmingen, ließ sich der Söldner etwas kosten. Er beziffert die Kosten der Unterbringung seines Sohnes in Altheim mit 27 Gulden und das Schulgeld in Memmingen mit zwei Kreuzern pro Woche. Die »Bildung« seines Sohnes scheint Peter Hagendorf wichtig gewesen zu sein und ihn emotional berührt zu haben, denn er schildert den Akt der Heimholung des Sohnes neben der Bezifferung der Kosten wiederholt mit einem biblischen alttestamentarischen Bild, wie es sonst in seinem Text eher selten zu finden ist: »Also habe ich meinen Sohn aus Ägypten geholt.« Ebd. Vgl. zudem die Wiederholung ebd. 45 Ebd., S. 103 (1629).

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Annähernd die Hälfte der 39 expliziten Erwähnungen von Quartiernahmen betreffen Winterquartiere von längerer Aufenthaltsdauer, häufig von mehreren Monaten.46 In diesen Winterquartierorten gelingt es Peter Hagendorf in einigen Fällen auch dauerhafte Sozialbeziehungen einzugehen. So heiratet er im Januar 1635 in seinem Winterquartiersort Pforzheim seine zweite Ehefrau Anna Maria Buchler, mit dem von ihm erwähnten beträchtlichen finanziellen Aufwand von 45 Gulden, zu dem der Schwiegervater zehn Gulden beisteuerte. Ob der Schwiegervater Martin Buchler auch Wirt des Winterquartiers war, bleibt offen, dürfte aber wahrscheinlich gewesen sein. Auch das »gute«, im Winter beginnende aber sich bis in den Herbst des folgenden Jahres erstreckende Quartier im Städtchen Altheim 1647 hatte mit der über den Quartieraufenthalt hinaus­gehenden Versorgung des Sohnes im Haus des Schulmeisters eine länger dauernde Sozial­ beziehung zur Folge. Auf den Zügen während des Sommers, aber auch während des Frühlings und Herbstes, verbrachte der Söldner seine Ruhezeit zumeist in mobilen Militär­ lagern oder im »freien Feld«.47 Freilich sind hier die jahreszeitlichen Ausnahmen besonders bemerkenswert. So verbrachte Hagendorf nach seiner schweren Verwundung, die er durch eine Schussverletzung bei der Erstürmung Magdeburgs im Mai 1631 erlitt, während des Sommers sieben Wochen Genesungszeit mit seiner Frau und einem Töchterchen, das in dieser Zeit stirbt, in den Dörfern nahe des unweit von Magdeburg gelegenen Halberstadts: »Hier habe ich einen gar guten Wirt bekommen, hat mir kein Rindfleisch gegeben, sondern lauter Kalbfleisch, junge Tauben, Hühner und Vögel. So bin ich nach 7 Wochen wieder frisch und gesund gewesen.«48

Doch nicht immer war der Bedarf eines »guten« Quartiers zu befriedigen. Besonders die Suche nach einem Winterquartier konnte sich, vor allem in den späteren Kriegsjahren, äußerst schwierig gestalten. Dies war etwa im Winter 1635/36 der Fall, als das Regiment des Söldners sich im Raum zwischen Mosel, Hunsrück und Rhein in einer besonders prekären Situation der »Hungersnot [auch] bei der Armee« befand, so »daß kein Pferd im Stall ist vor den Knechten sicher gewesen. Haben dem Pferd das Messer in die Brust gestochen und sind davon gegangen. So hat sich das Pferd müssen zu Tode bluten. Danach haben sie es gefressen.«49 Das Finden eines Quartiers erwies sich in diesem Hungerwinter, in dem ein großer Teil der Zivilbevölkerung und damit die potentiellen Quartiergeber auf der Flucht waren, trotz der offiziellen Zuweisung von Quartierplätzen durch das »Hauptquartier« der Armee, als äußerst schwierig, ja zu46 16 von 39 Erwähnungen. Zur Dauer siehe die Aufstellung der Aufenthalte in Anmerkung 37. 47 Vgl. die Schilderung einer Situation des »freien« Felds noch Anfang November 1638,­ Hagendorf, Tagebuch, S. 120. 48 Ebd., S. 105. 49 Ebd., S. 113.

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nächst als unmöglich. So etwa im Februar 1636 im Orte Breisig bei Ahrweiler: »Hier haben wir Quartier haben sollen für das Regiment, aber es ist weder Hund noch Katze daheim gewesen.«50 Erst nach vergeblichen Bemühungen in vier weiteren, zum Teil über einen Tagesmarsch hinaus entfernten Orten gelingt es dem Söldner schließlich im Städtchen Schweich an der Mosel Quartier zu finden. Hier verbleibt er bis Ende März 1636. Eine prekäre, zwischen Einvernehmlichkeit und Gewalt schwankende Situation der Einquartierung tritt auch im Selbstzeugnis des Rüthener Bürgermeisters Christoph Brandis51 hervor. Es zeigt den Verfasser und seine Familie wie auch andere Haushalte der Stadt einerseits als Opfer der Gewalt durch einquartierte Soldaten, andererseits aber durchaus auch als Nutznießer der Salva-Guardia eines im eigenen Haus wohnenden Soldaten. Als Brandis Haushalt bei vorübergehender Abwesenheit seiner Schutzwache überraschend geplündert wird,52 beschafft sein Hausgast ihm umgehend Ersatz, woher wohl sonst als durch von diesem selbst eilig angeeignetem Plündergut? »[Er] theilte alles mit mir, sagend, es sei seine Manier so, wenn der Wirth Nichts habe, so traktiere er den Wirt.« Und Brandis fügt als eigenen Kommentar hinzu: »Wenn alle [Kriegs-]Völker so wären, so könnte man die Kriegerjahre noch wohl aushalten«.53 Eine andere Episode aus Brandis leider nur in Fragmenten überliefertem »Diarium« zeigt die gewalttätige Kehrseite der Dynamik, die der Beschaffung und Gewährung von Quartier, Service und Nahrung als Potential jederzeit inhärent war. Hierbei ging es nicht nur um Sachleistungen, sondern um »Hausherrschaft«. Sie wurde den männlichen Familienoberhäuptern von den einquartierten Soldaten häufig streitig gemacht. Denn diese beanspruchten, wie Maren Lorenz, freilich für einen anderen historischen Zusammenhang, treffend hervorgehoben hat, den »Status eines zweiten Hausherren«.54 Die brutalste und zugleich demütigendste Form militärischer Gewaltherrschaft im Haus oder »Quartiersgewalt« war die Vergewaltigung von weiblichen Haushaltsangehörigen. Brandis beschreibt in seinem Tagebuch die »schändliche That« einer solchen Vergewaltigung in einem Nachbarhaushalt als einen Vorgang, mit dem er als Nachbar und Amtsträger persönlich befasst war, dessen Ahndung er aber gegen die militärischen Machthaber am Ort nicht durchsetzen konnte: 50 Ebd. 51 Christoff Brandis, Auszug aus dem Fragmente eines Tagebuchs des ehemaligen Bürgermeister Brandis in Rüthen. Ein Beitrag zur Geschichte des 30jährigen Krieges, in: Friedrich W. Cosmann (Hg.), Materialien und Beiträge zur älteren und neueren Geschichte wie auch zum Staats- und Privatrechte des westfälischen Kraises, Bd. 1.1., Paderborn 1789, S.  286–291. Digitale Reproduktion unter: http://sammlungen.ulb.uni-muenster.de/hd/ content/pageview/1795460 (Zugriff am 11.2.2015). 52 Ebd., S. 288. 53 Ebd. 54 Maren Lorenz, Das Rad der Gewalt. Militär und Zivilbevölkerung in Norddeutschland nach dem Dreißigjährigen Krieg (1650−1700), Köln 2007, S. 175.

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»Den 7ten April [1636] geschah eine schändliche That. Ein Soldat namens Mathes quartirte in D.s Hause. Dieser Mathes hatte ihn schon vorher durch Einschlagung der Fenster, Thüren und Tischen, ja selbst durch schwere Prügelsuppen viel molestiert. Nun fehlte pro coronide ceterarum crudelitatum [als Krönung weiterer Grausamkeiten] noch das Schlimmste. Am 7ten Morgens als mehrbesager Mathes noch auf der Bühne [Dachboden] lag, rief er herunter, man sollte ihm einen Pott voll Milch bringen oder er wollte alles zusammen hauen. D. schickt seine Tochter, ein wackeres 17 Jahr altes Mädchen ins Nachbarshaus, um welche zu bekommen. Weil nun das Mädchen ein wenig lange ausgeblieben, hat der Mathes destomehr gelermt, bis sie endlich gekommen und der Vater ihr gesagt, sie sollte es dem Soldaten hinauftragen. Sie war iussu patris kaum heraufgekommen, als sie der Mathes zu seinem Willen haben wollte. Sie wehrte sich, so gut sie konnte, und rief nach Hülfe, der Soldat aber stak ihr die geknüffte [geballte] Faust ins Maul […] die armen Eltern mussten durch ein Loch, das Mathes schon einige Zeit zuvor in die Thür gehauen hatte, ihr eignes Kind schänden sehen, ohne ihr helfen zu können. Der Kerl hatte ihr […] die rechte Brust, weil es sich vermuthlich zu stark gewehrt hatte, ganz und gar aufgerissen, sodass ein ganzes Stück nachhero herausgefallen und das Mägdlein ganz unmenschlich zugerichtet, unter unaufhörlichen Schmerzen 14 Tage darauf gestorben.«55

Dieses Beispiel »sexualisierter Gewalt« (Maren Lorenz)56 zeigt einen Extremfall der möglichen Folgen erzwungener Gastfreundschaft im Kriege. Ähnliche Fälle kamen sicher häufiger vor als es in den Selbstzeugnisquellen dokumentiert ist, denn auch noch der Akt des Aufschreibens dieser Vorfälle rührte an eine Tabugrenze, stand mit der Erwähnung und vor allem der ausführlicheren namentlichen Beschreibung einer Vergewaltigung doch nicht nur die Ehre des Opfers in Frage, sondern auch die des Hausvaters und seines gesamten Haushalts, ja die seiner Nachfahren in späteren Zeiten. Noch mehr als 150 Jahre nach dem von Brandis niedergeschriebenen Vorfall wirkte sich dies beim Herausgeber des Zeugnisses, Friedrich Cosmann, aus, der sich seinerseits durchaus als Aufklärer verstand: Noch im Jahr 1789 sieht sich Cosmann aber angesichts der weiterhin im selben Ort lebenden Nachfahren der Familie des Opfers und der Macht personaler Memoria als fama gezwungen, den von Autor Brandis in seinem ursprünglichen Manuskript noch genannten Namen des Opfers wegzulassen (worauf der Herausgeber in einer besonderen Anmerkung verweist).57 Am Schluss bleibt festzuhalten: Diese Beispiele für militärische Einquartierungen und deren Folgen stammen allesamt aus Selbstzeugnissen der Zeit des Dreißigjährigen Krieges. Sie zeigen ein relativ breites Spektrum von Möglichkeiten für die Ausgestaltung der Verhältnisse zwischen zivilen Quartiergebern und einquartierten Militärangehörigen. Diese reichten von einvernehmlichen Ar55 Brandis, Auszug aus dem Fragmente, S. 289 f. 56 Lorenz, Rad der Gewalt, S. 207. 57 Brandis, Auszug aus dem Fragmente, Fußnote S. 288: »Da der Name dieses Bürgers noch wirklich in Rüthen existiert, so fand ich es vor gut, ihn hinweg zu lassen.«

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rangements bis hin zu extremer Gewaltausübung – wie sie besonders in Formen »sexualisierter Gewalt« gegen weibliche Angehörige der betroffenen Haushalte zu Tage trat. Und doch, die erzwungene Gastfreundschaft qua Einquartierung konnte für diejenigen, die ihr ausgesetzt waren, neben Schaden durchaus auch Nutzen haben − so etwa durch die Gewährung militärischen Schutzes durch eine Salva Guardia − oder durch materielle Vorteile wie die Teilhabe an Raubund Plünderungsgut. Freilich zeigt sich auch in den Fällen, in denen in den Texten einvernehmliche Verhältnisse dargestellt werden, eine zumindest untergründige kontinuierliche Gewaltdynamik. Gewalt blieb stets präsent: ob als manifeste Gefahr oder als die konfliktgeladene Auswirkung unterschiedlicher Normvorstellungen bei Militärs wie Zivilpersonen von dem, was an Leistung jeweils angemessen sei. Diese in sich widersprüchliche komplexe Gewaltdynamik lag als eine schwer beherrschbare und in Grenzen zu haltende Forderungsdynamik und Belastung den Beziehungen erzwungener Gastfreundschaft unter den Bedingungen des Krieges gleichsam zugrunde. Sie trat im Verlauf des Krieges, vor allem ab dessen zweiten und besonders dritten Jahrzehnt, vor allem in den Durchzugsgebieten der Söldnerarmeen, aber auch in deren Rückzugsgebieten in verschärfter Weise hervor. Angesichts dieser situations- und regions­abhän­ gigen besonderen historischen Umstände drängt sich eine skeptische Frage auf, die weiterhin zu verfolgen wäre: Kann man, wie mehrere Historiker behauptet haben (unter ihnen Johannes Burkhardt,58 Frank K ­ leinehagenbrock59), für den längeren Verlauf dieses Krieges davon sprechen, dass es zunehmend zu einer erfolgreichen »militärisch-zivilen Kooperation« als eines geregelten »Miteinander mit Vor- und Nachteilen«,60 oder gar zu einem »geordneten Miteinander« von Untertanen und Soldaten61 gekommen sei? Stefanie Fabian vertritt in einem lesenswerten Aufsatz für die mitteldeutschen anhaltinischen Durchzugs- und zeitweiligen Einquartierungsgebiete des Dreißigjährigen Krieges eine differen-

58 Johannes Burkhardt, ›Ist noch ein Ort, dahin der Krieg nicht kommen sey?‹ Katas­ trophenerfahrungen und Kriegsstrategien auf dem deutschen Kriegsschauplatz, in: Horst Lademacher/Simon Groeneveld (Hg.), Krieg und Kultur. Die Rezeption von Krieg und Frieden in der Niederländischen Republik und im Deutschen Reich 1568–1648, Münster 1998, S. 3–19. 59 Frank Kleinehagenbrock, Einquartierung als Last für Einheimische und Fremde. Ein Beispiel aus einem hohenlohischen Amt während des Dreißigjährigen Krieges, in: Matthias Asche u. a. (Hg.), Krieg, Militär und Migration in der Frühen Neuzeit, Berlin 2008, S.  167–185, bes. S.  170 ff. Vgl. auch die Druckfassung der Dissertation Kleinehagenbrocks, die ebenfalls auf den Befunden einer Untersuchung der Grafschaft Hohenlohe basiert, einer Region, die eher am Rande der großen Durchzugsstraßen der Armeen in Südwestdeutschland lag: Ders., Die Grafschaft Hohenlohe im Dreißigjährigen Krieg. Eine erfahrungsgeschichtliche Untersuchung zu Herrschaft und Untertanen, Stuttgart 2003, Kap.  III, 5: Feindliche Quartiergäste? Das Verhältnis von Untertanen und Soldaten, S. 107–125. 60 Burkhardt, ›Ist noch ein Ort, dahin der Krieg nicht kommen sey?‹, S. 17 f. 61 Kleinehagenbrock, Die Grafschaft Hohenlohe, S. 110–113.

Der Krieg im Haus?

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ziertere Position.62 Ob die Entwicklungen hier am Ende zu einer »gezähmten Bellona«63 in der untersuchten Region führten, wie der Titel von Fabians Dissertation64 vermuten lässt, wird spannend sein zu sehen. Diese Entwicklungen und ihre regionalen und lokalen Unterschiede und Gemeinsamkeiten wären jedenfalls, nicht zuletzt im Ausgang von weiteren Selbstzeugnissen, aber auch durch die kritisch kontextualisierende Einbeziehung anderer Quellen, in zukünftigen Forschungen noch weiter zu klären.

62 Stefanie Fabian, ›Dis waren verfluchte Diebes Hände‹. Konfliktfelder und Wahrnehmungsdivergenzen zwischen Militär und Zivilbevölkerung bei Einquartierung und Truppendurchzug während des Dreißigjährigen Krieges, in: Militär und Gesellschaft in der­ Frühen Neuzeit 16 (2012), H. 2, S. 169–196. 63 Antike Kriegsgöttin, sprachliche Ableitung von lt. bellum = Krieg. In der Mythologie der römischen Antike galt sie als Ehefrau, zuweilen auch als Schwester oder Tochter des Kriegsgottes Mars. 64 Stefanie Fabian, Leben und Krieg. Begegnungen mit der entfesselten und gezähmten Bellona (1618‒1763), in Arbeit befindliche Dissertation am Institut für Geschichte der Ottovon-Guericke-Universität Magdeburg. Voraussichtlicher Abschluss 2017/18.

Autorenverzeichnis Philipp Batelka, 2012–2016 Wissenschaftlicher Mitarbeiter der DFG -Forscher­ gruppe »Gewaltgemeinschaften« an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Studium der Fächer Philosophie, Politikwissenschaft, Neuere und Neueste Geschichte und Anglistik in Freiburg, Paris, Santiago de Chile und Zagreb. Forschungsschwerpunkte: Fremdheit und Gewalt, Geschichte der Österreichisch-Osmanischen Militärgrenze, Siebenjähriger Krieg. Redaktionsmitglied der Zeitschrift Frühneuzeit-Info. Christian Gudehus, Senior Lecturer am Hugo Valentin Center der Universität Uppsala. Forschungsschwerpunkte: Die Verbindung von Memory Studies und Gewaltforschung mit Zugängen sozialtheoretischer Natur ebenso wie qualitativer Sozialforschung. Editor in Chief des Journal for Genocide Studies and Prevention. Ausgewählte Publikationen: Helping the Persecuted. Heuristics and Perspectives (exemplified by the Holocaust). In: Online Encyclopedia of Mass Violence 2016 (http://www.sciencespo.fr/mass-violence-war-massacre-resistance/en/ document/helping-persecuted-heuristics-and-perspectives-exemplified-holocaust); On the significance of the past for the present and future action. In: Gerd Sebald, Jatin Wagle (Hgg.), Theorizing Social Memories. Concepts and contexts. (2016), 84–97. Peter Imbusch, Professor für Politische Soziologie an der Bergischen Universität Wuppertal; nach dem Studium der Soziologie, Politikwissenschaft, Volkswirtschaftslehre und Sozial- und Wirtschaftsgeschichte an der Universität Marburg u. a. an den Universitäten Mainz, Marburg, Berlin, Basel und Bielefeld; Promotion über vergleichende Sozialstrukturentwicklung Lateinamerikas, Habilitation über Moderne und Gewalt; Forschungsschwerpunkte: Gewalt- und Konfliktforschung, Macht und Herrschaft, soziale Ungleichheit, Populismus. Ausgewählte Veröffentlichungen: Macht und Herrschaft (2012); Moderne und Gewalt (2005); Der Gewaltbegriff, in: Internationales Handbuch der Gewaltforschung (2002). Hans Medick, 1999–2004 Professor für Neuere Geschichte und Historische Anthropologie an der Universität Erfurt. Forschungsschwerpunkte: Konzepte und Wahrnehmungen von Person und Selbst in ihren kulturellen Ausdrucksformen und Praktiken; Erfahrungen und Wahrnehmungen von Gewalt und deren Darstellungen in der Zeit des Dreißigjährigen Krieges; methodische Ansätze von Mikro-Geschichte und Historischer Anthropologie. Ausgewählte Veröffentlichungen: Gemeinsam mit Claudia Ulbrich und Angelika Schaser (Hgg.), Selbstzeugnis und Person. Transkulturelle Perspektiven (2012); gemeinsam mit

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Benigna von Krusenstjern (Hgg.), Zwischen Alltag und Katastrophe. Der Dreißig­ jährige Krieg aus der Nähe (1999). David Pratten, Associate Professor für Social Anthropology of Africa an der Universität Oxford. Lehrt am African Studies Centre und am Institute of Social and Cultural Anthropology. Autor von Man-Leopard Murders: History and ­Society in Colonial Nigeria (2007; Gewinner des Amaury-Talbot-Preises 2007 des Royal Anthropological Institute). Mitherausgeber von AFRICA: Journal of the Inter­ national African Institute. Richard J. Reid, Professor für Afrikanische Geschichte an der School of Oriental and African Studies der Universität London. Arbeitsschwerpunkte: Geschichte der politischen Kultur, Kriegführung und Militarismus im östlichen und nordöstlichen Afrika. Ausgewählte Veröffentlichungen: Political Power in Pre-Colonial Buganda (2002); War in Pre-Colonial Eastern Africa (2007); A History of Modern Africa: 1800 to the present (2009; 2. Aufl. 2012); Frontiers of Violence in Northeast Africa (2011) und Warfare in African History (2012). Mitherausgeber des Oxford Handbook of Modern African History (2013). Sascha Reif, 2009–2013 Wissenschaftlicher Mitarbeiter der DFG -Forschergruppe »Gewaltgemeinschaften« an den Universitäten Gießen und Kassel. Studium der Fächer Anglistik, Geschichte und Pädagogik an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Arbeitsschwerpunkte: Geschichte Ostafrikas, Missionsgeschichte, Generationendynamiken, Geschichte kollektiver Gewalt. Buchpublikation: Generationalität und Gewalt. Kriegergruppen im Ostafrika des 19.  Jahrhunderts (2015). Martin Rink, seit 2005 Lehrbeauftragter an der Universität Potsdam und an der Universität der Bundeswehr in München. Seit 2009 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr (bis 2013 Militärgeschichtliches Forschungsamt). Ausgewählte Veröffent­ lichungen: Zusammen mit Martin Hofbauer, Die Völkerschlacht bei Leipzig: Bedingungen, Verläufe, Folgen, Bedeutungen. 1813–1913–2013 (2016); Die Bundeswehr. 1950/55 bis 1990 (2015); Vom Partheygänger zum Partisanen. Die Konzeption des kleinen Krieges in Preußen 1740–1813 (1999). Michael Schellenberger, 2011–2016 Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Professur für Neuere Geschichte, Justus-Liebig-Universität Gießen. 2012–2015 Forschungsprojekt im Rahmen der DFG -Forschergruppe »Gewaltgemeinschaften« zur städtischen Gewalt in Belfast. Forschungsschwerpunkte: Edition der Briefe Werner Sombarts, Geschichte des Bürgertums und der Stiftungskultur. Ausgewählte Veröffentlichung: Michael Werner, Stiftungsstadt und Bürgertum. Hamburgs Stiftungskultur vom Kaiserreich bis in den Nationalsozialismus (2011).

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Michael Weise, Wissenschaftlicher Volontär bei der Stiftung Lutherhaus Eisenach. Studium der Geschichte, Germanistik und Politikwissenschaft an der JustusLiebig-Universität Gießen. Von 2012 bis 2015 Wissenschaftlicher Mitarbeiter in der DFG -Forschergruppe »Gewaltgemeinschaften«. Forschungsschwerpunkte: Historische Gewaltforschung, Geschichte des Dreißigjährigen Krieges, Reformationsgeschichte, Geschichte der Zensur. Stephanie Zehnle, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Außereuropäische Geschichte an der Universität Duisburg-Essen; zuvor Mitarbeiterin in der DFG -Forschergruppe »Gewaltgemeinschaften« (Kassel). Sie studierte Geschichte, Journalistik, Arabisch und afrikanische Sprachwissenschaften­ (Gießen, Marburg, Frankfurt a. M.). In ihrer Dissertation untersuchte sie den Dschihadismus im vorkolonialen Westafrika. Das Habilitationsprojekt behandelt die so genannten »Leopardenmorde« im kolonialen Sierra-Leone. Aus­ gewählte Veröffentlichung: Unter weißer Flagge. Religiös-militärische Migration im Dschihad von Sokoto (Westafrika), 1804‒1837, in: Christoph Rass (Hg.), Krieg, Militär und Mobilität (2016).