Gewaltgemeinschaften in der Geschichte: Entstehung, Kohäsionskraft und Zerfall [1 ed.]
 9783666301162, 9783525301166

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Winfried Speitkamp (Hg.)

Gewaltgemeinschaften in der Geschichte Entstehung, Kohäsionskraft und Zerfall

Gewaltgemeinschaften in der Geschichte Entstehung, Kohäsionskraft und Zerfall

Herausgegeben von Winfried Speitkamp

Vandenhoeck & Ruprecht

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft (FOR 1101/2). Mit 5 Abbildungen Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-666-30116-2 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de. Umschlagabbildung: Vereidigung der Landsknechte, Holzschnitt (1555) © bpk-Bildagentur © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen / Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U. S. A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Satz: textformart, Göttingen | www.text-form-art.de

Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Winfried Speitkamp Gewaltgemeinschaften in der Geschichte. Eine Einleitung . . . . . . . . . 11 Hans-Ulrich Wiemer/Guido M. Berndt Zur Materialität der Gewalt. Die Waffen gotischer Krieger . . . . . . . . . 41 Cora Dietl/Titus Knäpper/Claudia Ansorge Das Ende fiktiver Gewaltgemeinschaften – das Ende eines Erzählens von Gewaltgemeinschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 Philipp Batelka/Michael Weise/Stefan Xenakis/Horst Carl Berufsmäßige Gewalttäter. Wie Söldnergewalt in der Frühen Neuzeit entfesselt und begrenzt wurde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 Hans-Jürgen Bömelburg/Arkadiusz Błaszczyk/Vadim Popov Gewaltgemeinschaften und die Military Revolution im östlichen Europa. Der Einfluss internationaler Konjunkturen und wirtschaftlicher Faktoren auf die Gewaltmärkte der Frühen Neuzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 Andreas Helmedach/Markus Koller Gewaltgemeinschaften, Gewalttaten und die Neuordnung des westlichen ­ Balkanraumes zwischen 1645 und 1718 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 Sascha Reif/Stephanie Zehnle/Winfried Speitkamp Gewalt lernen? Generation, Geheimnis, Wissen bei Gewaltgemeinschaften in der Geschichte Afrikas (ca. 1860 bis 1960) . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 Christine Hardung Zur Rolle der Religion in (imaginierten) Gewaltgemeinschaften Maureta­niens und des südwestlichen Afrika (19./21. Jahrhundert) . . . . 209 Peter Haslinger/Mathias Voigtmann/Wojciech Pieniazek/ Vytautas Petronis Frontiers of violence. Paramilitärs als Gewaltgemeinschaften im ­Ostmitteleuropa der 1920er Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233

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Inhalt

Friedrich Lenger/Michael Schellenberger Gewaltgemeinschaften im urbanen Raum der Zwischenkriegszeit. Barcelona, Belfast, Berlin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275

Vorwort Der vorliegende Band dokumentiert Vorgehensweise, Befunde und Ergebnisse der Forschergruppe »Gewaltgemeinschaften«. Die von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderte Forschergruppe ist im Jahr 2009 an der Justus-Liebig-Universität Gießen begründet worden. Als Verbund hatte sie bis zum Sommer 2015 über zwei Förderperioden Bestand, einzelne Teilprojekte werden noch bis 2017 gefördert. Den Kern bildeten geschichtswissenschaftliche Teildisziplinen, hinzu kamen die germanistische Mediävistik und die historische Soziologie. Beteiligt waren Kolleginnen und Kollegen aus Bochum ­(Markus Koller), Erlangen-Nürnberg (Hans-Ulrich Wiemer), Gießen (HansJürgen B ­ ömelburg, Horst Carl, Cora Dietl, Friedrich Lenger, Christine Reinle), Kassel (Winfried Speitkamp), Marburg (Peter Haslinger, Herder-Institut) und Siegen (Trutz von Trotha). Unter Gewaltgemeinschaften werden hier soziale Gruppen oder Netzwerke verstanden, für die physische Gewalt einen wesentlichen Teil  ihrer Existenz oder ihres Selbstverständnisses ausmacht, die aus Gewalt ihren Zusammenhalt und ihre Identität beziehen oder die durch Gewalt ihren Lebensunterhalt sicherstellen. Zeitlich reicht die Spannweite der bearbeiteten Themen von der Spät­ antike bis ins 20. Jahrhundert; die bereits intensiver erforschten Formen exzessiver Gewalt im Zweiten Weltkrieg sowie in den Kriegen und Völkermorden seit der Mitte des 20. Jahrhunderts wurden bewusst ausgeklammert, um das Augenmerk auf eine größere Bandbreite von Gewaltphänomenen richten zu können. Eine gewisse Ausnahme stellte ein soziologisches Teilprojekt Trutz von Trothas dar, das die jüngste Zeitgeschichte und Gegenwart Mauretaniens behandelte. Es wurde nicht zuletzt aus typologischen Gründen einbezogen, nahm es doch mit einer »imaginierten« Gewaltgemeinschaft eine eigene Form und einen wichtigen Aspekt in den Blick: die Wahrnehmung einer – hier sogar explizit Gewalt ablehnenden  – Gruppe als potentiell Gewalt ausübend. Räumlich erstreckten sich die Untersuchungsgebiete über West-, Süd-, Mittel- und Osteuropa sowie ausgewählte Regionen Afrikas. Im Rahmen der Forschergruppe sind erste Qualifikationsarbeiten bereits veröffentlicht worden,1 weitere sind im Prozess der Veröffentlichung oder stehen vor dem Abschluss. Neben der Arbeit in den Teilprojekten hat besonders eine Kette von Ringvorlesungen und Workshops unter Einbeziehung auswärtiger Fachkompetenz geholfen, die Fragestellungen zu schärfen, den Zugang systematisch zu erproben, thematische Akzente zu setzen und Befunde vorzustellen. 1 Sascha Reif, Generationalität und Gewalt. Kriegergruppen im Ostafrika des 19. Jahrhunderts, Göttingen 2015; Stefan Xenakis, Gewalt und Gemeinschaft. Kriegsknechte um 1500, Paderborn 2015.

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Vorwort

In den Workshops ging es unter anderem um Beutepraktiken, Fehdehandeln, Mobilität, Materialität, Religion, Emotionen, Geschlecht, Ökonomie und Täter-­ Opfer-Beziehungen. Die Ergebnisse sind in Aufsätzen und Sammelbänden bereits in größerer Zahl vorgelegt worden; Weiteres befindet sich auch hier in Druckvorbereitung.2 Der vorliegende Band verbindet die Arbeit der Projekt­ bearbeiterinnen und -bearbeiter mit dem Beitrag der Projektleitungen. Ziel war es, einen Überblick über die Breite der untersuchten Epochen und Regionen zu geben und in exemplarischer Darstellung Zugangsweisen und Grundaspekte der Befassung mit Gewaltgemeinschaften deutlich zu machen. Es geht um die Gewaltausübung selbst, um die Dimension der Materialität, um Kohäsionskräfte in Gewaltgemeinschaften, um Konjunkturen und Dynamiken der Gewalt sowie um Bedingungen des Zerfalls und das Nachleben von Ge­walt­ gemein­schaften in der Erinnerungskultur  – alles Grundfragen, die die Forschergruppe immer wieder beschäftigt haben. Die Forschergruppe hat besonders profitiert von der Erfahrung, dem Ideenreichtum, der gedanklichen Klarheit und der Diskussionsfreude des Soziologen Trutz von Trotha, der im Mai 2013 verstorben ist. Seine Offenheit für inter­ disziplinäres Forschen und sein Verständnis für historische Zugänge haben die Arbeit der Forschergruppe nicht nur erleichtert, sondern ihr wesentliche Impulse gegeben. Und sein Beharren darauf, dass auch Exzesse der Gewalt nicht unerklärlich seien, dass es vielmehr darum gehe, die Logik der Gewalt zu verstehen, um ihrer Herr zu werden, hat als beständige Herausforderung zur gedanklichen Schärfung beigetragen. Seinen Zugängen, seiner Vorstellung einer Soziologie der Gewalt, die sich den Phänomenen zuwendet und auch die Frage nach Verantwortung nicht scheut, fühlt sich die Forschergruppe verpflichtet. Die Arbeit in der Forschergruppe wäre nicht möglich gewesen ohne eine kompetente und effiziente Geschäftsführung. Deshalb ist der Beitrag der Geschäftsstelle in Gießen und dann Kassel ausdrücklich hervorzuheben. Das gilt besonders für die Professionalität und das Engagement der Koordinatorinnen: Dr. des. Sonja Dinter hat die Entstehungs- und Aufbauphase der Forschergruppe bis 2010 begleitet und auch in den Folgejahren in vielfältiger Weise geholfen. Susanne V. Weber M. A. hat die Arbeit der Forschergruppe seit 2010 über die Verlängerung 2012 hinweg bis zum Auslaufen koordiniert. Sie hat auch den 2 Winfried Speitkamp (Hg.), Gewaltgemeinschaften. Von der Spätantike bis ins 20.  Jahrhundert, Göttingen 2013; Horst Carl/Hans-Jürgen Bömelburg (Hg.), Lohn der Gewalt. Beutepraktiken von der Antike bis zur Neuzeit, Paderborn 2011; Mathis Prange/Christine Reinle (Hg.), Fehdehandeln und Fehdegruppen im spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Europa, Göttingen 2014; Cora Dietl/Titus Knäpper (Hg.), Rules and Violence – Regeln und Gewalt. On the Cultural History of Collective Violence from Late Antiquity to the Confessional Age – Zur Kulturgeschichte der kollektiven Gewalt von der Spätantike bis zum konfessionellen Zeitalter, Berlin 2014; Claudia Ansorge u. a. (Hg.), Gewaltgenuss, Zorn und Gelächter. Die emotionale Seite der Gewalt in Literatur und Historiographie des Mittel­a lters und der Frühen Neuzeit, Göttingen 2015; Philipp Batelka u. a. (Hg.), Zwischen Tätern und Opfern. Gewaltbeziehungen und Gewaltgemeinschaften, Göttingen 2017.

Vorwort

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vorliegenden Band redaktionell betreut. Dank gilt darüber hinaus und nicht zuletzt der Deutschen Forschungsgemeinschaft für die finanzielle Förderung. Dr. Guido Lammers, Programmdirektor in der Gruppe Geistes- und Sozialwissenschaften der DFG -Geschäftsstelle, war jederzeit ein interessierter, kompetenter und hilfsbereiter Berater. Kassel, im März 2017

Winfried Speitkamp

Winfried Speitkamp

Gewaltgemeinschaften in der Geschichte Eine Einleitung 1. Zugänge und Forschung Die Frage der Gewalt lässt die Gesellschaft nicht los. Denn Gewalt ist schier allgegenwärtig, zumal in den Medien, und manchmal scheinen Realität und Fiktion dabei kaum mehr zu unterscheiden. Ob in »Tatort«, Nachrichten, Dokumentarsendungen oder Spielfilm – überall wird Gewalt in Wort und Bild präsentiert, werden Opfer, Verletzte, Tote gezeigt, wird nach Tätern gefahndet und nach Erklärungen für deren Verhalten gefragt, wird nach den Ursachen von Gewalttätigkeit in menschlichen Gesellschaften gesucht. Und wenn die grausamsten Bilder auch in öffentlich-rechtlichen Medien nicht präsentiert werden, sind sie im Internet doch problemlos aufzurufen. Umgekehrt wird Erziehung zur Vermeidung von Gewalt, zur Friedfertigkeit propagiert, wird die Versorgung von Gewaltopfern in den Blick genommen, wird über geeignete Formen der Bewältigung von Gewalterfahrungen geforscht, werden Hilfsangebote zur Ver­ arbeitung von Gewalt bereitgestellt. Denn Gewalt ist, so das stillschweigend vorausgesetzte Übereinkommen, gesellschaftlich überholt, politisch illegitim, moralisch geächtet – wenn nicht besondere, jeweils wieder kontrovers diskutierte Gründe dafür sprechen, etwa der Widerstand gegen Diktaturen, der Aufstand der Unterdrückten, der gerechte oder jedenfalls der Verteidigungskrieg, die Schutz- und Ordnungsgewalt der Polizei. Mit Gewalt ist hier immer physische (körperliche)  Gewalt gemeint.1 Allerdings ist diese Eingrenzung nicht so eindeutig, wie es zunächst erscheint. Dazu zählt neben der ausgeführten Gewalt auch die Drohung, die eine Gewalttat eventuell überflüssig macht.2 Und der Gewaltbegriff selbst kann differenziert werden. Er umfasst nicht nur den Eingriff in den Körper eines anderen, die Verletzung oder Tötung, sondern auch die Fixierung, die Beschränkung der Bewegungsfreiheit. Vor allem der Eingriff in den Körper, die Verletzung oder Zerstörung, auch nur die Instrumentalisierung des Körpers eines Menschen gegen dessen Willen scheint heute generell inakzeptabel. Nach derzeit akzeptier1 Zum Gewaltbegriff: Karl-Georg Faber u. a., Macht, Gewalt, in: Otto Brunner u. a. (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd.  3: H–Me, Stuttgart 1982, S.  817–935; Gerd Schwerhoff, Gewalt, in:­ Friedrich Jaeger (Hg.), Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 4: Friede–Gutsherrschaft, Stuttgart 2006, Sp. 787–794. 2 Vgl. Heinrich Popitz, Phänomene der Macht, Tübingen 21992 [1986], S. 79 f.

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ten gesellschaftlichen Normen gibt es keine Legitimation mehr, die es irgendwem, auch dem Staat, erlauben würde, die Körperoberfläche des Gegenübers oder des Untergebenen gegen dessen Willen zu verletzen.3 Dies ist gewissermaßen die letzte Grenze der Privatheit geblieben – bzw. in der bürgerlichen Gesellschaft geworden, während die Beschränkung der Bewegungsfreiheit noch zu dem legitimen Gewaltformen zählt, ob in der Erziehung oder im Strafrecht. Strittig ist, ob Gewalt in der Moderne generell auf dem Rückzug ist, als Folge einer sukzessiven Zivilisierung und Verrechtlichung, der Etablierung von Staatlichkeit, der Sicherung des staatlichen Gewaltmonopols und des Ausbaus des Rechtsstaats. Der These eines beständigen »Prozesses der Zivilisation«, die auf das Werk Norbert Elias᾿ zurückgeführt wird,4 ist aus postmoderner Sicht im Blick auf die Quantität, Effektivität und Monstrosität des (Massen-)Mordens im 20. Jahrhundert unter anderem von Zygmunt Bauman widersprochen worden.5 Demnach hat die Aufklärung der Gewalt in ihrer modernen, bürokratischen Gestalt erst zum Durchbruch verholfen, und das 20. Jahrhundert ist nicht nur das »Zeitalter der Extreme«,6 sondern auch das Zeitalter der Gewalt. Doch in der Öffentlichkeit wird häufig nach wie vor ein Prozess beständiger Verfried­lichung unterstellt oder zumindest erhofft, wird nach wie vor Vertrauen darin gesetzt, dass Gewalt in der Defensive ist, dass das Gewaltpotential abnimmt, dass die Gesellschaft immer sicherer wird  – ungeachtet aller gegenteiligen Wahrnehmungen und Forschungsbefunde im einzelnen. Neuere Deutungen scheinen diese Sicht zu unterstützen, so vor allem die Gesamtdarstellung des Evolutionsbiologen Steven Pinker, der über die Jahrtausende der Geschichte einen Rückzug der Gewalt konstatiert.7 Umso irritierter erscheinen die Reaktionen auf das Fortleben, ja die Explosion der Gewalt in der Moderne: in den Weltkriegen und Völkermorden des 20.  Jahrhunderts,8 in den vielfältig (wieder) auflebenden 3 Vgl. zu den Gewaltformen und zur Problematik physischer Gewalt Jan Philipp Reemtsma, Vertrauen und Gewalt. Versuch über eine besondere Konstellation der Moderne, Hamburg 2008, S. 104–133, bes. S. 119. 4 Norbert Elias, Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen [1939], Frankfurt a. M. 1976. Vgl. dazu Gerd Schwerhoff, Zivilisationsprozeß und Geschichtswissenschaft. Norbert Elias’ Forschungsparadigma in historischer Sicht, in: Historische Zeitschrift 266 (1998), S. 561–605. 5 Zygmunt Bauman, Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit, Hamburg 1992. 6 Eric Hobsbawm, Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, München 62003. 7 Steven Pinker, Gewalt. Eine neue Geschichte der Menschheit, Frankfurt a. M. 2011. Weniger thesengeleitet als vielmehr deskriptiv im Blick auf ausgewählte Erscheinungsformen der – öffentlichen und politischen – Gewalt: Karl Heinz Metz, Geschichte der Gewalt. Krieg – Revolution – Terror, Darmstadt 2010. 8 Vgl. Jörg Baberowski/Anselm Doering-Manteuffel (Hg.), Ordnung durch Terror. Gewaltexzesse und Vernichtung im nationalsozialistischen und im stalinistischen Imperium, Bonn 2006; Christian Gerlach, Extrem gewalttätige Gesellschaften. Massengewalt im 20. Jahrhundert, Stuttgart 2011.

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Kleinen Kriegen nach 1990,9 in den sich religiös legitimierenden Gewalt­bewe­ gun­gen des frühen 21. Jahrhunderts, in den unterschiedlichen Varianten und Etappen des Terrors vom 19. bis ins 21. Jahrhundert. Und nicht nur Entsetzen, sondern geradezu Verblüffung spiegelt die Reaktion der westeuropäischen Öffentlichkeit auf jüngste Eruptionen der Gewalt in Amokläufen und terroristischen Attentaten. Die Verblüffung, das Unverständnis, hat Folgen: Die postaufgeklärten Gesellschaften vertrauen nicht nur auf Friedfertigkeit und Gewaltlosigkeit. Sie haben vielmehr, wie Jan Philipp Reemtsma notiert hat, keinen kulturellen Ort mehr für die Gewalt; Gewalt ist »uns fremd geworden«.10 Grundfesten werden erschüttert, wenn das Vertrauen in Ordnung, Routinen, Verhaltensberechenbarkeit und Gewaltlosigkeit verloren geht, wenn dem für die Selbsterhaltung unabdingbaren »Vertrauen in Vertrauen« der Boden entzogen wird.11 Mit gesellschaftlicher Gewalt, erst recht mit unvermittelter Gewalt, können westliche, sich als modern verstehende Gesellschaften nicht umgehen; sie wissen nicht anders darauf zu reagieren als mit den eigenen, scheinbar bewährten Instrumenten, den Instrumenten der Moderne: der moralischen Empörung, der polizeilichen Verfolgung, der strafrechtlichen Sanktionierung, der wissenschaftlichen Erforschung und der pädagogischen Vorbeugung.12 All diese Instrumente mögen im Einzelfall hilfreich sein. Sie werden routiniert und ritualisiert eingesetzt, sie wirken beruhigend. Insgesamt indes haben sie das Phänomen allenfalls punktuell einzugrenzen, jedoch nicht zu beseitigen vermocht. Das Erstaunen angesichts immer neuer Gewalteruptionen fordert erneut Erklärungen ein. Gefragt wird nach rational nachvollziehbaren oder jedenfalls im hergebrachten Erklärungsraster nachvollziehbaren, daher »verständlichen« Ursachen oder Motiven von Gewalttätigkeit. Und diese Ursachenforschung soll zugleich dazu beitragen, künftige Gewalt zu verhindern, indem präventiv und proaktiv gearbeitet wird, mit Hilfe von sozialpolitischen und pädagogischen Konzepten. Gewalt kann also, so die dahinterstehende Hoffnung, durch Erklärung und Erziehung überwunden werden. Und tatsächlich erheben Wissenschaften den Anspruch, Erklärungen zu liefern. Die Soziologie hat nach strukturellen und individuellen, nach ökonomischen und sozialen Hintergründen von Gewalttätigkeit gefragt. Sie hat mit Max Weber das Gewaltmonopol als anzustrebende Norm vorausgesetzt und Abweichungen als Normverstöße in den Blick genommen,13 9 Vgl. dazu schon Herfried Münkler, Die neuen Kriege, Hamburg 2004. 10 Reemtsma, Vertrauen und Gewalt, S. 119. 11 Siehe Niklas Luhmann, Vertrauen. Ein Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität, Stuttgart 42000 [1968], S. 1, 85 (Zitat). 12 Zu heutigen Deutungen und Verarbeitungen von Gewalt exemplarisch Wilhelm Heitmeyer/ John Hagan (Hg.), Internationales Handbuch der Gewaltforschung, Wiesbaden 2002; Christian Gudehus/Michaela Christ (Hg.), Gewalt. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart 2013. 13 Vgl. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie. Besorgt von Johannes Winckelmann, Tübingen 51980, S. 821–824.

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sie hat im Anschluss an Karl Marx und Friedrich Engels die historisch-materiellen Voraussetzungen für Revolutionen als Eruptionen kollektiver Gewalt ermittelt,14 sie hat in Anlehnung an Johan Galtung die »strukturelle Gewalt«, letztlich die soziale Ungleichheit, als systemimmanente Bedingung des Fortlebens von Gewalt in der Moderne festgestellt.15 Allerdings hat ein wesentlicher Strang der soziologischen Forschung diese Ansätze seit Trutz von Trothas wegweisendem Beitrag »Zur Soziologie der Gewalt« (1997) zunehmend in Frage gestellt. Von Trotha formulierte eine ganze Reihe von Einwänden gegen die bisherige soziologische Gewaltforschung. Dazu zählt die Kritik, dass diese Art der Soziologie eine Fülle von Defiziten in Gesellschaft und Wirtschaft mehr oder minder allgemein als Ausgangspunkt von Gewalt konstatiere, ohne eine präzise Kausalkette nachzuweisen. Damit entferne sie sich von historischer Empirie. Vor allem sei diese Art von Soziologie gar »keine Soziologie der Gewalt«, sondern eine »Soziologie der Ursachen der Gewalt«. Und das habe eine ebenso theoretisch wie moralisch relevante Implikation: »Die Soziologie der Ursachen der Gewalt ist eine Soziologie von Tätern ohne Verantwortung.«16 Dieses Diktum bringt ein zentrales Anliegen von Trothas auf den Punkt: die Wiederentdeckung von Verantwortung als gesellschaftlicher und damit auch historischer Kategorie. In seinem Denkansatz knüpfte von Trotha an Heinrich Popitz und dessen Analyse der »Phänomene der Macht« aus dem Jahr 1986 an.17 Von Trotha stand nicht allein. Wolfgang Sofsky hat in seinen Darstellungen, besonders in seinem »Traktat über die Gewalt«, unter Verzicht auf die Suche nach Ursachen die Dynamik und Expressivität der Gewalt in den Blick genommen, anschaulich vor allem in seinen Ausführungen über »Das Massaker«.18 Während seine drastisch-präsentistischen Schilderungen die konkrete Situation der Gewalt gewissermaßen aus der Geschichte herausheben und damit auch die Frage der Verantwortung wieder hinter einer anthropologischen Deutung verschwinden lassen, haben andere Autoren in teils historiographischen, teils fiktionalen Darstellungsformen den Fokus auf die historisch dokumentierten Phänomene der Gewalt gerichtet, von Daniel Goldhagen bis Jonathan Littell.19 Goldhagen hielt allerdings an der Ursachenforschung fest, wenn er nicht nur einen deutschen Sonderweg konstatierte, sondern einen geradezu in der Natio14 Die unvermeidbare Gewalthaftigkeit der ebenso zwingenden kommunistischen Revolution betonten Marx und Engels in Varianten immer wieder, schon seit dem »Kommunistischen Manifest« von 1848, hier prägnant im Schlussabsatz. 15 Johan Galtung, Strukturelle Gewalt. Beiträge zur Friedens- und Konfliktforschung, Reinbek bei Hamburg 1975. 16 Trutz von Trotha, Zur Soziologie der Gewalt, in: Ders. (Hg.), Soziologie der Gewalt. Sonderheft der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Opladen 1997, S. 9–56, hier S. 19. 17 Popitz, Phänomene. 18 Wolfgang Sofsky, Traktat über die Gewalt, Frankfurt a. M. 1996. 19 Daniel Jonah Goldhagen, Hitlers willige Vollstrecker. Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust, Berlin 1996; Jonathan Littell, Die Wohlgesinnten, Berlin 2008.

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nalgeschichte verankerten Antisemitismus als Ausdruck eines tief verwurzelten Vernichtungswillens diagnostizierte, der in die Vernichtungsgewalt der Nationalsozialisten eingeflossen sei. Die soziologische, kulturwissenschaftliche und historische Gewaltforschung hat sich davon zumindest zu einem wesentlichen Teil gelöst. Jan Philipp Reemtsma hat in zahlreichen Beträgen, an erster Stelle in seinem Werk über »Vertrauen und Gewalt«, nicht nach Ursprüngen, sondern nach Erscheinungsformen von Gewalt gefragt.20 Noch in seiner Abschiedsvorlesung vom Juni 2015 hat er jeden Versuch einer Ursachenrecherche zurückgewiesen.21 Von Trotha folgend hat auch der Osteuropa-Historiker und Stalin-Forscher Jörg Baberowski in einer Monographie über »Räume der Gewalt« aus dem Jahr 2015 den Verzicht auf hergebrachte Gewaltursachenforschung proklamiert und den Blick auf die Bedingungen und Phänomene der Gewalt gerichtet, konkret auf die Räume, in denen sich Gewalt entfaltet.22 Derartige Umsetzungen der phänomenologischen Gewaltforschung haben freilich zweierlei Konsequenzen: Zum einen nutzen sie als dramaturgisches Mittel oft die extensive Ausbreitung und farbige Ausmalung von Gewalttaten und Leiden der Opfer, dies in allen anschaulichen Details, die zwar  – ebenso beeindruckend wie erschreckend  – Aufschluss geben über das in demokratischen, zivilen und Friedenszeiten schier unvorstellbare Ausmaß möglicher Gewalttätigkeit, aber für sich genommen noch keine Erklärungskraft haben, sondern den Leser ebenso erschrocken wie ratlos zurücklassen müssen und wohl auch wollen. Zum anderen tendieren sie zu mehr oder minder expliziten anthropologischen Vorannahmen von der Gewalt als Konstante nicht nur humaner Existenz, sondern auch sozialer Verfasstheit. Der Mensch erscheint wieder als des Menschen Wolf, der nur durch den Hobbesschen starken Staat und das Gewaltmonopol mühsam und unvollkommen gebändigt werden kann. Damit wurde allerdings der Anspruch und Auftrag von Trothas verfehlt. Denn dieser hatte nicht nur explizit Verantwortung als moralische Kategorie eingefordert – eine Forderung, der die anthropologische Sichtweise kaum genügen kann und will. Er hat – in diesem Punkt im Einklang mit Sofsky – auch ein präzises Forschungsprogramm vorgeschlagen, das die »dichte Beschreibung« (Clifford Geertz) von Gewalttaten, der »Praktiken der Gewalt«, vorsieht und sich auch nicht auf die Dokumentation von Bedingungen der Gewalt beschränkt, sondern in einem präzisen Sinn nach den Phänomenen der Gewalt zu fragen verlangt, um mehr über Strukturen der Gewalt und über Gewalt als Struktur zu erfahren, um eine Typologie der Gewaltformen zu ermitteln und um schließlich 20 Reemtsma, Vertrauen und Gewalt. Siehe auch Ders., Die Gewalt spricht nicht. Drei Reden, Stuttgart 2002. 21 Vgl. dazu Jürgen Kaube, Politische Gewalt als ungeistige Lebensform. Jan Philipp­ Reemtsmas Abschiedsvorlesung in Hamburg, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 131, 10.6.2015, S. N3; Thomas Assheuer, Wir töten, weil wir töten. Jan Philipp Reemtsma verlässt das Hamburger Institut für Sozialforschung und spricht zum Abschied über das Rätsel menschlicher Gewalt, in: DIE ZEIT, Nr. 24, 11.6.2015, S. 40. 22 Jörg Baberowski, Räume der Gewalt, Frankfurt a. M. 2015.

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Gewalt als »Form sozialer Ordnung«, wie Popitz und von Trotha es benen­nen,23 zu verstehen. Nur auf diesem Wege schien es möglich, aus dem Zirkelschluss des Defizitdilemmas der älteren und populären Gewaltbetrachtung herauszugelangen. Denn immer wieder wurde Gewalt auf der Basis moralischer Vorannahmen als strukturelle Ausnahme und Defizit charakterisiert und entsprechend auf defizitäre Bedingungen zurückgeführt, und zwar sowohl individueller Art (Armut, Elternlosigkeit, frühe Gewalterfahrung, Vereinsamung etc.) als auch kollektiver Art (ökonomische Ausbeutung und soziale Ungleichheit bzw. strukturelle Gewalt, Schwäche des Staats und der Institutionen). Derartige Erklärungsansätze sind schwer zu widerlegen, weil die Tat, die auf sie zurückgeführt wird, nun einmal unumstößliche Tat-Sache ist. Aber sie sind zugleich unbefriedigend, nämlich ebenso schwer zu verifizieren. Denn Defizite lassen sich in jeder Biographie und jeder Ordnung finden, und das Auftreten von Gewalt wird dann im Zweifel gerade als Indiz und Beleg von zu suchenden Defiziten herangezogen. Selbst wenn Defizite auf der Oberfläche nicht erkennbar sind, etwa wenn ein Amokläufer aus einer wohlsituierten Mittelstandsfamilie stammt, kann gerade das zum Argument gemacht werden (Wohlstandsverwahrlosung, lieblose Erziehung, Vernachlässigung durch die Eltern, Zugang zu Sportwaffen etc.), auch dies ein Topos der Auseinandersetzung mit devianten Personen oder Gruppen. Gerade die Erforschung von Amokläufen, die mehr als andere Gewaltforschung vor allem Ursachen- und Präventionsforschung ist,24 offenbart die Schwierigkeiten, die Dynamiken von Gewalt jenseits der Ursachen­analyse zu erfassen. Auch wer den Blick von den Ursachen auf die Motive und von dort auf die Ziele der Gewalttätigkeit lenkt, kommt zumindest auf dem kurzen Weg nicht recht weiter: »Ideen töten nicht, und sie erklären nichts, sie sind nichts weiter als eine Legitimation der Gewalt«, so Jörg Baberowski.25 Aber sind sie tatsächlich unerheblich? Ideen und Gewalthandeln können durchaus in Beziehung stehen, allerdings eher in Gestalt einer Wechselwirkung. Die Gewalttaten in der Zeit des Nationalsozialismus richteten sich vor allem gegen Menschen, die zugleich und schon vorab qua Ideologie als minderwertig und vernichtenswert deklariert worden waren. Die Gewalttaten in der stalinistischen Sowjetunion orientierten sich ebenfalls an ideologischen Vorgaben, auch wenn zugleich gemordet wurde, um Schrecken zu verbreiten und bedingungslose Loyalität zu erzwingen. Die Zielrichtung der Anschläge islamistischer Gewalttäter hat durchaus etwas mit einem Ideengebäude, einer religiösen Deutung, der damit verknüpften individuellen und kollektiven Zukunftsverheißung, zu tun – unabhängig davon, dass dabei auch Angehörige der eigenen Glaubensrichtung getötet werden. Ohnehin 23 Trotha, Zur Soziologie der Gewalt, S. 20. 24 Vgl. etwa Britta Bannenberg, Amok. Ursachen erkennen – Warnsignale verstehen – Katastrophen verhindern, Gütersloh 2010. Siehe auch Dies., Amok, in: Christian Gudehus/ Michaela Christ (Hg.), G ­ ewalt. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart 2013, S. 99–104. 25 Baberowski, Räume, S. 178.

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waren und sind auch weitere Gruppen und Personen über die zunächst identifizierten Gegner hinaus beständig bedroht, etwa als Kollaborateure und Verräter. Die reale oder angedrohte Gewalt ist also potentiell völlig entgrenzt, und dies nicht nur situativ oder akzidentiell, sondern prinzipiell und strukturell. Alle drei hier exemplarisch genannten, sehr unterschiedlichen Varianten (Nationalsozialismus, Stalinismus, Islamismus) basieren auf der gänzlichen Freigabe der Gewalt im Sinne und im Interesse des deklarierten gesellschaftlichen Zieles und/oder der Sicherung von Herrschaft; es handelt sich auch insofern um Ordnungen der Gewalt. Das heißt aber nicht, dass man sie völlig unabhängig von den konkreten Zielsetzungen deuten kann. Es ist zwar, wie B ­ aberowski drastisch formuliert, moralisch »unerheblich, welche Überzeugungen einer hat, der Frauen den Bauch aufschlitzt oder sie vergewaltigt«.26 Für das Verständnis der Gewalt und ihrer Dynamik ist die Ideologie aber nicht unerheblich. Ideologische Motivation und gegenseitige ideologische Selbstbestätigung innerhalb einer Tätergruppe gehören zu den Faktoren, die Gewaltakte und Gewaltprozesse beeinflussen. Diese hier zugespitzt formulierten Einwände bestärken eine umfassende phänomenologische Zugangsweise. Sie soll einerseits die Schwächen der soziologischen oder historischen Gewaltursachenforschung umgehen, andererseits anthropologische Unterstellungen vermeiden helfen.27 Allerdings laufen gerade phänomenologische Vorgehensweisen Gefahr, sich von ihrem Gegenstand überwinden zu lassen, der Faszination der Gewalt zu erliegen, zumal in der Kopplung mit anthropologischen Vorannahmen. Der Verweis auf Konstanten der Gewalt und Gewaltanfälligkeit in der Geschichte und ebenso der Hinweis darauf, dass es ungeachtet der Motive und Ziele der Täter immer von den Bedingungen abhänge, ob Gewalt zum Ausbruch kommt, leisten, folgt man von Trotha, wiederum einer Geschichtsschreibung der Verantwortungslosigkeit Vorschub. Anders ausgedrückt: Zu fragen ist, was hinzukommen muss, damit Gewalt virulent wird. Heinrich Popitz, auf den sich die moderne Gewaltforschung bezieht, hat dabei drei Grundannahmen gesetzt. Erstens ist Gewalt eine Ressource, die jedem jederzeit zur Verfügung steht. Dies vor allem deshalb, weil Gewalt auch ohne Hilfsmittel wie Waffen nur durch den bloßen Körper ausgeübt und weil umgekehrt jeder Körper einem physischen Angriff ausgesetzt werden kann; jeder Mensch ist verletzungsoffen.28 Damit gewinnt auch der Einzelne, etwa der Attentäter oder der Amokläufer, an Handlungsmacht; er hebt die scheinbar unverrückbare »Vollkommenheit der Macht« auf.29 Zweitens kann Gewalt jederzeit 26 Ebd., S. 177. 27 Dass diese bei Baberowski eine Rolle spielen, kritisiert in seiner Rezension Friedrich­ Lenger, Wenn Räume töten. Jörg Baberowski entgrenzt die Gewalt, in: Zeitschrift für Ideen­geschichte 11 (2016), H. 2, S. 101–106. 28 Popitz, Phänomene, S. 43 f. 29 Ebd., S. 60.

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eingesetzt werden: »Der Mensch muß nie, kann aber immer gewaltsam handeln, er muß nie, kann aber immer töten […].30 Und drittens schließlich gilt nach­ Popitz in Bezug auf Gewalt als »Aktionsmacht«, »daß viele Machtaktionen ihren Sinn in sich selbst haben«.31 Anders ausgedrückt: Obwohl Popitz auch für Ansätze in Anspruch genommen wird, welche die Unvermeidlichkeit und Persistenz von – individueller und kollektiver – Gewalt behaupten, bietet sein Ansatz viel eher Anregung darüber nachzudenken, wo Entscheidungsspielraum und Verantwortung liegen. Diese Frage wird kaum noch in Bezug auf moralische Implikationen oder gar die Kategorie des »Bösen« verfolgt, obwohl Popitz dazu unter Berufung auf Jacob Burckhardt Hinweise zu einer Rationalisierung – der »Kampf ums Dasein« als letzter Grund der Gewalt – gegeben hat.32 Die Überlegung, ob es »das Böse«, den Antrieb zu Gewalt als Selbstzweck oder aus bloßem, nicht mehr hinterfragbarem Hass gibt, scheint aus historischer und soziologischer Perspektive illegitim. Nur punktuell ist noch in jüngerer Zeit, anknüpfend an Immanuel Kant und Hannah Arendt, die Frage aufgeworfen worden, inwiefern die moralische Dimension nicht doch mit rationalen Erklärungsmodellen in Verbindung gesetzt werden kann und muss.33 Hier erscheint allerdings wichtiger, nach den Besonderheiten und Bedingungen kollektiver Gewalt zu fragen, dies namentlich auch vor dem Hintergrund der Diskussion über Amokläufe, die charakteristischerweise auf Einzeltäter reduziert werden. In Bezug auf Kollektive als Täter ist dann zu fragen, ob Gemeinschaftsbildungen Gewalt eher verstärken  – im Sinne einer gemeinsamen Verschiebung der Wertgrenzen, einer gegenseitigen Bekräftigung, Anstachelung, sogar möglicherweise Konkurrenz um Beute und Ehre – oder ob sie Gewalt eher abmildern – im Sinne einer Zivilisierung oder zumindest Regulierung, einer Sozialkontrolle mit disziplinierender Wirkung. In dieser Perspektive ist nach dem Zusammenhang von Gemeinschaft und Gewalt zu fragen, nicht nur im Blick auf den Einfluss der Gemeinschaft auf das Gewaltgeschehen, sondern auch im Blick auf den Einfluss der Gewalt auf die Gemeinschaft. Hier ist von Interesse, inwiefern gemeinsame Taten, zumal jenseits des Legalen, zu einer verstärkten Integration führen oder gerade das Risiko der Zersetzung der Gemeinschaft erhöhen, etwa durch Konflikte über Formen und Ausmaß der Gewaltanwendung oder über die Beute. Aufgabe wäre es dann, über die genaue, »dichte«, phänomenologische Beschreibung Regelmäßigkeiten zu ermitteln, also Konstellationen, Praktiken und Rituale, aus denen die Logik der Gewalt abgeleitet, die »Grammatik der Gewalt«34 entschlüsselt und die Ordnung der Gewalt erfasst werden kann. 30 31 32 33 34

Ebd., S. 50. Ebd., S. 46. Vgl. ebd., S. 55 f. Bettina Stangneth, Böses Denken, Reinbek bei Hamburg 2016. Herfried Münkler, Grammatik der Gewalt, in: Ronald Hitzler/Jo Reichertz (Hg.), Irritierte Ordnung. Die gesellschaftliche Verarbeitung von Terror, Konstanz 2003, S. 12–29.

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2. Gewalt und soziale Ordnung Wenn Gewalt epochenübergreifend allgegenwärtig ist, wie bislang unterstrichen wurde, darf die Aufmerksamkeit nicht nur Grenzräumen und Übergangszeiten, Krisen und Kriegen, Diktaturen und Revolutionen gelten, vielmehr muss der Fokus auf die immanente Gewalthaftigkeit von Gesellschaften gerichtet werden. Die Persistenz von Gewalt selbst im Kontext funktionierender Staatlichkeit wird daher vermehrt in den Blick genommen. Gewalt – und zwar physische Gewalt im engen Sinn – ist in dieser Hinsicht keine Randerscheinung, sondern beständiges Element sozialer Ordnungen, und dies schon deshalb, weil soziale Ordnung zwingend auf Gewalt bezogen ist. Heinrich Popitz hat auch das prägnant zum Ausdruck gebracht: »Soziale Ordnung ist eine notwendige Bedingung der Eindämmung von Gewalt  – Gewalt ist eine notwendige Bedingung zur Aufrechterhaltung sozialer Ordnung.«35 Dennoch steht nicht selten im Hintergrund nach wie vor die Vorstellung, dass die Persistenz und das Erscheinen von Gewalt in gesetzlich geordneten Zeiten, also in Zeiten, in denen allgemein anerkannte Regeln galten und durch­ gesetzt und in denen Konflikte nach solchen Regeln kanalisiert und in legale und legitime Verfahren überführt wurden, eine erklärungsbedürftige Ausnahme darstellt. Der Historiker Martin Zimmermann hat seiner Darstellung zur Gewalt im Altertum aus dem Jahr 2013 den Untertitel gegeben: »Die dunkle Seite der Antike« und damit eine solche Wertung nahegelegt. Gleichwohl schildert er Gewalt als alltägliches »Phänomen der antiken Existenz«, nicht als von den Zeitgenossen verdammte Ausnahmeerscheinung oder gar absterbendes Relikt einer vorzivilisierten Vergangenheit. Anhand vielfältiger Beispiele führt sein Buch neben der Gewalt auch die Härte und »Kälte« der Zeitgenossen vor Augen. Gewalt der Männer gegenüber Ehefrauen und Kindern war selbstverständlich und akzeptiert. Überschüssige Neugeborene wurden ausgesetzt oder gleich getötet. Gemeingut war, dass ein Mann eine untreue Ehefrau töten durfte. Sklaven durften ohnehin geschlagen werden. Und daneben musste man jederzeit mit Gewaltkriminalität rechnen, so wie es auch selbstverständlich war, sich für Feinde, Nebenbuhler oder verhasste Nachbarn die schlimmsten Bestrafungs- und Tötungsformen auszudenken. Körperstrafen nutzten alle Möglichkeiten, die Delinquenten bis in den Tod zu quälen.36 Differenzierte Formen der Staatsbildung und der Hochstand des politischen und ­philosophischen 35 Popitz, Phänomene, S. 63. Vgl. dazu: »Immer gilt es, der Gewalt eine Form zu geben und vor allem ihrer Herr zu werden«. Der Soziologe Trutz von Trotha über »neue Kriege« und die Chancen des Friedens. Interview: Andreas Galling-Stiehler und Dierk Spreen, in: Themenheft: Kriegsvergessenheit in der Mediengesellschaft, Ästhetik & Kommunikation 42 (2011), H. 152/153, S. 51–76. 36 Martin Zimmermann, Gewalt. Die dunkle Seite der Antike, München 2013, S.  30–33. Siehe auch Ders. (Hg.), Extreme Formen von Gewalt in Bild und Text des Altertums, München 2009.

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Denkens mochten für einen beträchtlichen Grad an Zivilisierung sprechen, aber nicht für Gewaltabstinenz. Aus historischer Sicht ist dann höchstens noch aufzurechnen, welche Epoche denn die gewalttätigste gewesen sei. So wird, fast überraschend, das Urteil Zimmermanns über die Antike nur dadurch etwas abgemildert, dass es danach noch schlimmer gekommen sei: »Die allgemeine Gewaltbereitschaft im antiken Alltag war zweifellos höher als die in der Gegenwart, auch wenn sie nicht das Ausmaß spätmittelalterlicher und frühneuzeitlicher Gewalt erreichte.«37 Damit spielt Zimmermann auch auf die erwähnte Debatte darüber an, ob das Gesamtvolumen an Gewalt  – wenn es denn irgendwie messbar wäre  – in der Geschichte immer geringer geworden sei. Denn Gewalt wurde seit der Frühneuzeit zunehmend geächtet; ein frühes Beispiel und beinahe Fanal war­ Montaignes letztlich anthropologisch argumentierende Auseinandersetzung mit Gewalt und Grausamkeit im 16.  Jahrhundert.38 Gewalt wurde Schritt für Schritt aus dem öffentlichen Raum eliminiert, dann seit dem 18. Jahrhundert durch den Aufbau von Gewaltmonopol, Sicherheitspolizei und allgemeiner Wehrpflicht beim Staat konzentriert. Vormoderne Regelungen von Konflikten, etwa in den ungeschriebenen Gesetzen der Fehde, wurden durch staatlich-einheitliche Verfahrensweisen und vorgesehene Instanzen der Gewaltregulierung ersetzt. Reste vormoderner Gewaltpraktiken lebten beispielsweise im Duell fort, bevor dann auch dieses geächtet wurde.39 Und heute scheint legale und legitime physische Gewalt, wie eingangs angesprochen, vollends eingeschränkt auf wenige, exakt definierbare Bereiche: erstens reale, materiale Gewalt im Bereich staatlicher Sicherheit nach innen und außen durch Polizei, Strafverfolgung und Militär, zweitens Notwehr und Nothilfe, drittens pädagogische Gewalt in der Erziehung (freilich nicht mehr in Form der Verletzung des kindlichen Körpers, sehr wohl aber noch in Form der Festsetzung, beispielsweise des Verbots, die Wohnung zu verlassen, bestimmte Räume oder Gegenden aufzusuchen etc.), viertens einvernehmliche Gewalt (als körperlicher Eingriff) namentlich in den Bereichen Medizin, Körperschmuck, Sport und Sexualität sowie fünftens fik­ tionale, virtuelle oder inszenierte Gewalt in Literatur, Film, Kunst und Spiel. In dreierlei Hinsicht werden solche Befunde freilich relativiert. Zum ersten ist unstrittig, dass Umgang mit Gewalt, Wahrnehmung und Erleiden bis hin zum Schmerzempfinden gesellschaftlich und kulturell kodiert waren und sind. Was als Gewalt empfunden wurde, was als vermeidbar und was als verwerflich 37 Ders., Gewalt, S. 34. Zur mittelalterlichen Gewalt vgl. Valentin Groebner, Ungestalten. Die visuelle Kultur der Gewalt im Mittelalter, München 2003. 38 Michel de Montaigne, Über die Grausamkeit, in: Ders., Essais. Ausgewählt, übertragen und eingeleitet von Arthur Franz, Stuttgart 1986, S. 199–205. Vgl. Trutz von Trotha, Dispositionen der Grausamkeit. Über die anthropologischen Grundlagen grausamen Handelns, in: Ders./Jakob Rösel (Hg.), On Cruelty – Sur la cruauté – Über Grausamkeit, Köln 2011, S. 122–146, hier S. 123. 39 Vgl. dazu Ute Frevert, Ehrenmänner. Das Duell in der bürgerlichen Gesellschaft, München 1991.

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galt, das war je nach sozialer Prägung, Erziehung und Aushandlung durchaus unterschiedlich. Das Aufwachsen mit Gewalt, die Legitimation der Gewalt von Jugend an und die alltägliche Erwartung des Gewalthandelns senkten nicht nur die Hemmschwellen zu eigener Gewalttätigkeit, sondern erweiterten auch den Toleranzbereich, der das Akzeptierte und Erduldete umfasste. Zum zweiten ist offensichtlich, dass ungeachtet alltäglicher Gewalt auch Leid, Trauer und Empathie gegenüber Opfern der Gewalt zu den sozialen Konstanten gehören. Ob Gewalt kaltschnäuzig hingenommen oder befürwortet wurde, ob mit den Opfern gelitten wurde, ob die Täter verfolgt wurden – das war auch eine Frage der spezifischen Konstellation, der Situation der Gewalt, der Erscheinungs­ formen und des Kontextes, in dem sie aufgenommen wurden. Personen, die in anderen Situationen gewalttätig waren oder Gewalttätigkeit selbstverständlich hinnahmen, konnten sich dann auf die Seite der Opfer schlagen, ehrliches Mitleid empfinden. Ganz abgesehen davon lieferte man sich, verfolgt man historische Beispiele, fast nie freiwillig der Gewalt aus, wenn man nicht bewusst das Martyrium wählte. Man nahm sie individuell nicht einfach hin, sondern widersetzte sich, entzog sich, floh. Allerdings stellte man in vormodernen Epochen nicht nur die Realität, sondern in der Regel auch die Legitimität von Gewalt nicht grundsätzlich in Frage. Man reflektierte nicht über Gewalt­phänomene an sich, forschte nicht nach den Ursachen und erwog auch nicht Möglichkeiten, Gewalt per se einzudämmen, die Gesellschaft insgesamt friedlicher zu machen.40 Zum dritten jedoch gab es auch in extrem gewalthaltigen Epochen sehr wohl Vorstellungen über die Grenzen legitimer Gewalt. Diese mochten bei einzelnen Personengruppen und in einzelnen Konstellationen unterschiedlich sein und insofern aus heutiger Perspektive ungerecht oder zumindest unklar erscheinen. Aber wo die – notwendige und legitime – Gewalt aufhörte und der – illegitime und sachwidrige – Exzess der Gewalt, die Grausamkeit, begann, das war den Zeitgenossen durchaus bewusst, jedenfalls war ihnen bewusst, dass es eine solche Grenze gab.41 Dies schlug sich in rechtlichen Reaktionen, aber auch in literarischen Verarbeitungen nieder. Hier ging es indes weniger um die alltägliche Gewalt als vielmehr um Gewalt im Kontext von Herrschaft, Macht und Krieg.42 Schon die Ilias kennt sehr genaue Unterschiede zwischen roher Brutalität, die bloß der Ehrschändung des Opfers diente, und der in Krieg und Frieden selbstverständlichen körperlichen Gewalt, die nicht zu hinterfragen war. Hier wurde das durch Achill demonstriert, der Hektors Leichnam aus Rache durch den Staub schleifen ließ und damit das Maß sprengte, das zeitgenössische­ 40 Vgl. auch Zimmermann, Gewalt, S. 34 f. 41 Vgl. Trutz von Trotha, Grausamkeit, in: Christian Gudehus/Michaela Christ (Hg.), Gewalt. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart 2013, S. 221–226; Ders., On Cruelty. Conceptual Considerations and a Summary of an Interdisciplinary Debate, in: Ders./Jakob Rösel (Hg.), On Cruelty – Sur la cruatué – Über Grausamkeit, Köln 2011, S. 1–67, hier S. 60 f. 42 Vgl. Zimmermann, Gewalt, S.  35 f. Siehe auch Sönke Neitzel/Daniel Hohrath (Hg.), Kriegsgreuel. Die Entgrenzung der Gewalt in kriegerischen Konflikten vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert, Paderborn 2008.

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Legitimitätsvorstellungen vorgaben.43 Selbst extreme Gewalt wurde jedoch wiederum nicht grundsätzlich und von vornherein abgelehnt, sondern je nach sozialer Ebene, gesellschaftlicher Konstellation und konkreter Situation bewertet, nicht zuletzt nach Legitimation und Funktion. Eine besondere Rolle spielte in diesem Kontext die Folter als systematische Grenzüberschreitung, der eine Logik und Zielsetzung unterstellt wurde.44 Sogar in den höchst brutalen frühneuzeitlichen Kriegen mit ihren »kleinen« Begleitkriegen wurde exzessive bzw. übermäßige Gewalttätigkeit von Söldnern kritisiert,45 gab es also Vorstellungen davon, wo die Grenzen legitimer Gewalt lagen. Was als unzulässige Gewalt oder unnötige Grausamkeit einzustufen sei, unterlag jeweils einer situativen Bewertung, die angesichts einer konkreten Konstellation und vor dem Hintergrund eines gesellschaftlichen und kulturellen Traditionen- und Normengefüges erfolgte. In beständiger Kommunikation wurde ausgehandelt, welche Formen von Gewalt in welchen Interaktionen gegenüber welchen Personen möglich waren. Der Gewalttätigkeit ging immer die Vorstellung voraus, welche Netzwerke und soziale Beziehungen auf Vertrauen und Gewaltlosigkeit aufgebaut waren, welche Personengruppen (Sklaven, Fremde, Niederrangige, Frauen, Kinder etc.) dagegen quasi »gewaltoffen« blieben. Erst in diesem Gefüge entfaltete sich Gewalttätigkeit. In diesem Gefüge wurde sie dann auch wieder Gegenstand von Debatten über die Grenzen des Erträglichen.46 Gewalt erscheint in dieser Perspektive nicht als Folge gesellschaftlicher Defizite, sondern als Teil eines gesellschaftlichen Ordnungssystems. Dieses System war in der Regel nicht schriftlich fixiert, es wurde beständig ausgehandelt in Praktiken und Diskursen, es war daher flexibel und wandelbar. Es war im Grunde die Antwort auf die angesprochene Urerfahrung, dass Gewalt jedem Menschen als Mittel zur Verfügung steht und diese »Verletzungsmächtigkeit« des Menschen mit seiner »Verletzungsoffenheit« korrespondiert. Jeder Mensch muss gewärtig sein, zum Zielpunkt von Gewalt zu werden.47 Diese Erfahrung wurde zur Provokation, als die generelle Ächtung von Gewalt sich zumindest verbal durchsetzte und Gewalttätigkeit per se als menschliches und soziales Defizit galt. Nun erst wollte man die Gewalt gewissermaßen an den – fiktiven – Wurzeln packen, nun begann die Suche nach den Ursachen von Gewalt, ob sie nun in historischen Belastungen, Asymmetrien der sozialen und politischen Beziehungen oder immanenten menschlichen Eigenschaften und Abgründen gesucht wurden. Dieses Bemühen verkannte jedoch die Dynamiken der Gewalt. Und nach den Erfahrungen der letzten hundert Jahre konnte zudem kaum mehr bestritten werden, dass Gewalt ungeachtet aller wissen43 Homer, Ilias, Übersetzung, Nachwort und Register von Roland Hampe, Stuttgart 2007, 22. und 24. Gesang, S. 453–470, 502–529. 44 Vgl. Peter Burschel u. a. (Hg.), Das Quälen des Körpers. Eine historische Anthropologie der Folter, Köln 2000. 45 Siehe in diesem Band Philipp Batelka u. a., S. 83–100. 46 Vgl. auch Zimmermann, Gewalt, S. 38. 47 So Popitz, Phänomene, S. 43 f.

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schaftlichen Erkenntnisse, rechtlichen Vorkehrungen und moralischen Übereinkünfte nicht eingedämmt werden konnte, sondern im Gegenteil geradezu entgrenzt erschien. Anders als vielfach angenommen, muss diese Erkenntnis aber nicht zur Lähmung der Gewaltdebatte führen. Die Einsicht, dass Gewalt allgegenwärtig, kultur- und epochenübergreifend präsent und unvermeidlich ist, belastet nicht – sie entlastet. Sie entlastet von dem aussichtslosen Bemühen, nach Gewaltfreiheit zu streben. Sie entlastet nicht von dem Bemühen, Gewalt einzuhegen: »Immer gilt es, der Gewalt eine Form zu geben und vor allem ihrer Herr zu werden«.48 Die Begründung, Entstehung und Durchsetzung des staatlichen Gewaltmonopols ist Ausdruck dieses Bemühens. Gerade das Bestreben, Gewalt einzuhegen, also nicht die – vermuteten oder vermeintlichen – Ursachen von Gewalt zu bekämpfen, sondern die Erscheinungsformen von Gewalt einzudämmen, erfordert freilich eine genaue Wahrnehmung der Bedingungen und der Dynamik von Gewalt, der Phänomene der Gewaltausübung, der Logiken von Gewalttätigkeit. Denn Gewalt war zwar, wie gesehen, immer möglich, aber wurde nicht immer ausgeübt. Auch per definitionem gewaltfähige und gewaltbereite Personen und Gruppen wie Söldner, Krieger oder Räuberbanden waren nicht ständig gewalttätig, vielmehr wechselten sich Gewalteruptionen mit – auch längeren – Ruhephasen ab. Wichtig waren zum Überleben und sind zum Verständnis somit die Faktoren der Eskalation und Beruhigung. Eine Ruhephase musste allerdings nicht bedeuten, dass Gewalt damit aus dem öffentlichen Raum verschwand. Es konnte sich auch gerade umgekehrt verhalten: Drohungen, Gerüchte, Erzählungen über Gewalt und Grausamkeit sorgten dafür, dass tatsächlicher Gewalteinsatz nicht mehr nötig war, um das gewünschte Ziel zu erreichen. Gerade das Wechselspiel von Drohung und Gewalt ist dann charakteristisch, wobei Nachrichten und Erwartungen eine wesentliche Rolle spielen mochten. Auch nach diesem Verständnis war Gewalt keine Durchbrechung der Ordnung, sondern Teil der Ordnung selbst. Nur fließend erscheinen dabei die Übergänge zur modernen Staatlichkeit, die seit dem späteren 18. Jahrhundert gesellschaftliche Gewalt disziplinierte, aber eben nicht ausschaltete, sondern als Ressource der Machtsteigerung monopolisierte und instrumentalisierte – möglicherweise mit Institutionen an der Grenze staatlicher Obrigkeit. In diesem Sinn blieben Kriege in der Moderne trotz völkerrechtlicher Einhegung Handlungsräume für verschiedene Formen der Gewalt. Moderne Kriege in den Zeiten totalitärer Diktaturen zeichnet ein hohes Maß an Un­geregelt­heit und Asymmetrie aus. Einsatzgruppen oder marodierende, plündernde, folternde und vergewaltigende Soldatenhorden sind geradezu zum Signum der Schrecken des 20.  Jahrhunderts geworden. Die Unordnung der Gewalttätigkeit ist insofern Teil der Ordnung des Kriegs und der Gewalt, so wie schon in der Frühen Neuzeit der Kleine Krieg der Söldnereinheiten bis hin zum Gewaltexzess »integraler Bestandteil des Krieges« war.49 48 So Trutz von Trotha, in: Themenheft Kriegsvergessenheit. 49 Batelka u. a. in diesem Band, S. 100.

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Im Einsatz der unterschiedlichen Gewaltformen in Kriegen ebenso wie im Wechsel von Eskalations- und Ruhephasen kommt zum Ausdruck, dass Gewalt nicht als Ereignis, sondern als Prozess betrachtet werden muss. Damit soll einbezogen werden, dass der Akt der Gewalt in einer Handlungs- und Verhandlungskontinuität steht, die einer Kausalität folgt und eine Logik erkennen lässt. Das unterstellt keine Determination der Abläufe, es mindert also nicht die jeweilige Verantwortung des Einzelnen für sein Handeln in der Gewaltsituation. Es hilft jedoch, die Faktoren der Eskalation und Deeskalation zu erfassen. Eine Rekonstruktion und Analyse konkreter Gewaltsituationen kann näher verdeutlichen, was gemeint ist. Die Befunde sind aber keineswegs eindeutig. Ein wesentlicher, in der Forschung immer stärker hervorgehobener Aspekt ist die Betonung der »Normalität« der Gewalttäter.50 Die Abhörprotokolle aus Kriegsgefangenenlagern am Ende des Zweiten Weltkriegs scheinen die Emotionslosigkeit der Täter und die Bereitschaft zur Grausamkeit besonders zu belegen.51 Immer wieder ist auch in anderen Kontexten, zum Beispiel im Fall von Kolonialkriegen, die Bereitschaft und Fähigkeit »normaler« Männer zu exzessiver Gewalt konstatiert worden. Der Schritt aus dem Alltag des Friedens in den Alltag des Kriegs ist dann nicht der Austritt aus der Gesellschaft, sondern bloß der Eintritt in eine andere Sphäre der Gesellschaft. Auch gewaltbereite Gruppen bestehen nicht nur aus Outlaws, aus Räubern und Verbrechern, aus Menschen, die grundsätzlich und permanent außerhalb der Ordnung der Gesellschaft leben, und auch nicht nur aus Söldnern und Berufskriegern. Vielmehr finden sich ebenso Beispiele, die die Zugehörigkeit zur Gesellschaft mit der Mitwirkung in einer gewaltbereiten Gruppe, etwa einer Jugendbande oder einem Wehrverband, vereinbaren. Die konkrete Situation, die zu Gewalttätigkeit führt, ist dann wesentlich an den Raum gebunden: im materialen und im kulturellen Sinn, als Begegnungsraum und Ermöglichungsraum. Die Formen der Gewalt hatten mit dem Kampfplatz als einem konkreten, materialen Ort zu tun. Der Raum der Gewalt gab seine eigenen Regeln vor, verband sich mit Vorstellungen, ermöglichte soziale Interaktionen, steuerte Bewegungen. Neben dem Raum sind es weitere materielle Bedingungen, nicht zuletzt die Verfügung über Waffen und die Art der Waffen, die die Dynamik der Gewalt steuerten. Ob und welche Feuer­waffen zur Verfügung standen, ob Schuss- oder Hiebwaffen, ob Distanzwaffen oder Kurzspieße, die nur zum Nahkampf geeignet sind und daher im direkten Gegenüber mit dem Feind die tödliche Entscheidung verlangen52 – das alles steuerte das, was tatsächlich in der Konstellation der Gewalt passierte. 50 So schon Christopher R. Browning, Ganz normale Männer. Das Reserve-Polizeibataillon 101 und die »Endlösung« in Polen, Reinbek bei Hamburg 1993. Siehe ferner Harald Welzer, Täter. Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden, Frankfurt a. M. 4 2007. 51 Sönke Neitzel/Harald Welzer, Soldaten. Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben, Frankfurt a. M. 2012. 52 Die Einführung von Kurzspießen als Nahkampfwaffen durch den Zulu-Führer Chaka Anfang des 19. Jahrhunderts führte so zu einer Brutalisierung der Kriegführung; sie ver-

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Der Exzess, die Grausamkeit, ist in diesem Zusammenhang nicht primär auf Intentionen zurückzuführen, sondern als Möglichkeit immer präsent. Grausamkeit bleibt als Begriff und Vorstellung sicherlich kulturell und temporal relativ. Meist ist dann von Grausamkeit die Rede, wenn die Gewalt in bestimmten, die Wertegemeinschaft sprengenden Formen genutzt wird, etwa wenn sie über eine Zweck-Mittel-Relation hinaus eingesetzt wird oder wenn sie gesellschaftliche Tabus bricht. Nicht selten ist dann von Grausamkeit die Rede, wenn sich der Sinn nicht erschließt, wenn auch keine Logik der Gewalt darin erkennbar scheint. Grausamkeit ist dann also diejenige Form der Gewalt, die allen Regeln und Normen entzogen ist, die keiner gesellschaftlichen Ordnung mehr unterliegt. Die Befassung mit kollektiver Gewalt, mit von Gruppen begangenen Gewalttaten, zeigt allerdings eher, dass auch exzessive Gewalt Regeln folgte. Das gilt, zum einen, in Bezug auf mögliche Zwecke: Wenn Köpfe abgeschlagen und, auf Pfähle gespießt, ausgestellt wurden, dann diente das der Vorführung von kriegerischem Erfolg, der Drohung und Abschreckung. Wenn Körperteile des Gegners herausgetrennt wurden, wenn sich Krieger mit Skalp, Zähnen und Geschlechtsteilen des Gegners schmückten, dann sollte das auch zur eigenen Stärkung beitragen. Wenn Frauen vergewaltigt, Kinder gemordet, Leichname geschändet wurden, konnte das der Demütigung des Gegners dienen, Machtlosigkeit vorführen, Verachtung demonstrieren. Aber auch die kollektive Grausamkeit konnte, zum anderen, ihren Zweck in sich selbst haben. Wenn Gewalt nur angewendet wurde, weil es möglich war sie anzuwenden,53 dann diente sie eben nur dem Zweck, genau dies zu zeigen: die Allmacht, die Möglichkeit, alle Grenzen zu sprengen. Kollektivität der Gewaltausübung senkte dabei nicht nur die Hemmschwellen, sondern konnte, noch wirkungsvoller, im Gruppenkontext die Normen der Normalität durch die Normen des Außergewöhnlichen ersetzen, die tradierten und gelernten Normen der Herkunftsgemeinschaft missachten zugunsten der Normen der Wahlgemeinschaft, die in ihrer Allmachtsdemonstration so noch enger zusammenwuchs. Die Antriebskräfte im Hintergrund konkreter Gewaltaktionen können so vielfältig sein, dass die Logik nicht auf den ersten Blick erkennbar ist. Wo es um Beute, Macht, Ehre, Mutprobe, Hierarchie in der Gruppe, Angst vor dem Gegner und dessen Grausamkeit gleichzeitig geht, sind die Dynamik des Handelns und die Kausalverbindung von Zweck und Mitteln schwer zu entschlüsseln. Gewalt erweist sich als außerordentlich variables und vielgestaltiges, vielfach zu nuancierendes und mit auch symbolischen Botschaften verkoppeltes Instrument der sozialen Interaktion. Dabei wirkt mit, dass eine Gewalttat streng genommen nie eine Einzeltat ist, sondern in einem kommunikativen Gefüge stattfindet. Der langte den unbedingten Einsatz seiner Krieger bis zum Tod. Vgl. zu Chaka vor allem Dan Wylie, Shaka, Auckland Park 2011; John D. Omer-Cooper, The Zulu Aftermath. A Nineteenth-Century Revolution in Bantu Africa, London 1978 [1966]. 53 Das war schon bei Montaigne, der sich wiederum auf Seneca berief, Kernpunkt der Überlegungen zur Grausamkeit; siehe Montaigne, Grausamkeit, S. 204.

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Täter interagiert nicht nur mit Mittätern, sondern mit dem Opfer, wenn manchmal auch nur imaginär und antizipierend. Auch der – vermeintliche – Einzeltäter, etwa der Amokläufer, interagiert darüber hinaus mit Zuschauern, dies manchmal nur vermittelt über die Medien, durch die er eine Öffentlichkeit herstellen und beeindrucken will. Und der Täter, zumal der Amokläufer, bezieht sich auf Vorläufer und Nachfolger, er ordnet sich also diachron ein. Er will vorgängige Gewalttaten nachahmen, sie übertreffen. Er will der Nachwelt ein Erinnerungsnarrativ aufnötigen, seinen eigenen Helden- oder Märtyrermythos stiften. Er will die Kontrolle über sein Außenbild (zurück-)erlangen durch eine Tat, an der niemand vorbei gehen kann. Er will mit einer unvergesslichen Tat in die Geschichte eingehen. Wie immer der Akzent gesetzt wird: Der Täter agiert in einem Kommunikationsnetz, das ihm Bedeutung (zurück-)gibt. Da mag man wieder auf individuelle Ursachensuche gehen, dem Geltungs­ bedürfnis des Einzeltäters, den Beschädigungen im Leben des Amokläufers nachspüren. Die Tat erklärt das aber noch nicht hinreichend. Sie erklärt sich vielmehr nur im Kontext der Beziehungsräume, in denen sich der Täter bewegt, der Ermöglichungsräume, in denen Waffen und Opfer bereitstehen, der Resonanzräume, die eine Wahrnehmung sicherstellen. Und sie erklärt sich daher auch nur in einem Geflecht von Emotionen und emotionsnahen Erwartungen wie Vertrauen und Ehre.54 Die Eskalation der Gewalt bedeutet eine zeitweilige Grenzüberschreitung, die durch die Zurückstellung kognitiver Mittel, durch Emotionalisierung und Leidenschaft erleichtert wird, so erst den Tabubruch der Verletzung, des Eingriffs in den anderen Körper, möglich macht. Oder, wie Jörg Baberowski es ausgedrückt hat: »Gewalt ist eine Wirklichkeit der Emotionen, sie wirkt auf den Körper ein, hinterlässt Spuren an Körper und Seele – und deshalb verfehlt eine Gewaltforschung, die die Emotion und den Körper ausblendet, ihr Ziel.«55 Zugleich ist Gewalt im Zusammenspiel von Tätern, Opfern und Zuschauern ohne das Erlebnis des Emotionalen nicht zu erfassen. Die Emotionen binden aneinander, selbst wenn sie antagonistisch gegeneinander stehen wie bei Tätern und Opfern.56 Über Emotionen interagieren Zuschauer und Täter, Emotionen ermöglichen Erwartungen, vor und mit den Zuschauern werden Angst, Hass, Mut und Ehre vorgeführt und ausgehandelt. Wer die Dynamik der Gewalt erkennen will, kann auf die Beobachtung von Emotionen nicht verzichten. Gewalttätigkeit entsteht also nicht zufällig oder bloß willkürlich im wörtlichen Sinn, sondern entwickelt sich nach Logiken, die erkennbar sind, und sie verläuft auch nicht anarchisch oder zufällig, sondern dynamisch über Stu54 Vgl. Ute Frevert (Hg.), Vertrauen. Historische Annäherungen, Göttingen 2003; Winfried Speitkamp, Ohrfeige, Duell und Ehrenmord. Eine Geschichte der Ehre, Stuttgart 2010. 55 Jörg Baberowski, Gewalt verstehen, in: Zeithistorische Forschungen – Studies in Contemporary History 5 (2008), S. 5–17, hier S. 12. 56 Vgl. Bernhard Giesen, Gewalt und Gefühl, Konstanz 2010, https://www.exzellenzcluster.uni-konstanz.de/uploads/media/Arbeitsgespraeche-Giesen-Gewalt-Gefuehl.pdf (Zugriff am 16.10.2016).

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fen der Eskalation, die phänomenologisch beobachtbar und logisch beschreibbar sind. Entscheidend ist, dass Gewalt sich auch im Fall des Einzeltäters nur als interaktive Handlung erschließen lässt. Wenn es also im strengen Sinn des Wortes keine Einzeltaten gibt, sondern nur Taten in Beziehungen und Gemeinschaften – auch imaginierten Gemeinschaften –, so ist es ebenso zu erwarten, dass gerade die Befassung mit Gewaltgemeinschaften mehr Aufschlüsse über Dynamik und Konjunkturen von Gewalt vermitteln kann.

3. Gewalt und Gewaltgemeinschaften Gewaltgemeinschaften werden hier verstanden als Netzwerke, Gruppen oder Verbindungen, für die Gewalt einen wesentlichen Teil ihrer Existenz darstellt. Das kann ganz unterschiedliche historische Phänomene umfassen, etwa mittelalterliche Fehdegruppen und frühneuzeitliche Räuberbanden, europäische Söldner und afrikanische Krieger, städtische Jugendbanden und Parteiarmeen, Wehrverbände und Bünde der Weltkriegszeit, Milizen und private Sicherheitsfirmen der Gegenwart. Es kann um sozial und generationell homogene oder um heterogene Gruppen gehen. Der Begriff kann Gruppen meinen, die tatsächlich gewalttätig sind, aber auch Gruppen, denen Gewaltbereitschaft nur von außen zugeschrieben wird, also imaginierte Gewaltgemeinschaften. Es kann um professionelle Kampfgruppen ebenso gehen wie um situativ gebildete, quasi autodidaktisch im Geschäft der Gewalt tätige Verbünde. Der Begriff der Gewaltgemeinschaften legt den Fokus auf strukturelle Ähnlichkeiten und einen Kern der Gemeinsamkeit, auf Rolle und Nutzung von Gewalt sowie auf die Bedingungen und Formen der Gemeinschaft. Über den Begriff der Gewaltgemeinschaft können somit vielfältige historische Phänomene beschrieben, typologisiert und verglichen werden. Die eher empirisch-induktive Vorgehensweise der Geschichtswissenschaft kann dabei von systematisch-typologischen Ansätzen der Soziologie profitieren – und umgekehrt. Gewaltgemeinschaften beziehen ihre Identität aus der gemeinschaftlichen Ausübung von Gewalt oder sie nutzen Gewalt, um Beute zu erlangen und ihren Lebensunterhalt sicherzustellen. Gewalt ist dabei zugleich Teil  und Ausdruck der Kultur der Gruppe, sie entscheidet über Status und Prestige sowie über Hierarchie und Führung innerhalb der Gruppe.57 Gemeinschaften im hier verstandenen Sinn sind Personenverbände. In ihrem Zusammenhalt sind sie mehr als unverbindliche oder bloß ephemere Zusammenschlüsse zu einem punktuel57 Siehe Winfried Speitkamp, Einführung, in: Ders. (Hg.), Gewaltgemeinschaften. Von der Spätantike bis ins 20. Jahrhundert, Göttingen 2013, S. 7–13; Ders., Gewaltgemeinschaften, in: Christian Gudehus/Michaela Christ (Hg.), Gewalt. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart 2013, S. 184–190; Christine Hardung/Trutz von Trotha, ­Komando und »Bande«. Zwei Formen von Gewaltgemeinschaften im südwestlichen Afrika des ausgehenden 18. und 19. Jahrhunderts, in: Winfried Speitkamp (Hg.), Gewaltgemeinschaften. Von der Spätantike bis ins 20. Jahrhundert, Göttingen 2013, S. 275–296, hier S. 277.

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len Zweck und doch in der Regel etwas anderes als Vereine, die über formalisierte, rechtlich abgesicherte Beitritts- und Mitgliedsformen sowie über Statuten und Satzungen verfügen, die dadurch auch ihre Konstituierung definieren und ihre Kontinuität sichern. Die Anfänge einer Gewaltgemeinschaft sind dagegen oft nicht präzise zu fassen; die Gemeinschaften treten erst mit ihren Taten oder der Androhung ihrer Taten ans Licht der Öffentlichkeit. Gewaltgemeinschaften existieren für begrenzte Zeit, schaffen aber doch eine Verbindlichkeit über ein einzelnes Gewaltereignis hinaus. Auch das Ende ist freilich schwer zu fassen: Man mag es ansetzen, wenn die Gewalttätigkeit aufhört oder wenn sich die Gruppe auflöst. Gewaltgemeinschaften können sich auflösen durch Niederlage ebenso wie durch Sieg: Sie werden militärisch oder polizeilich bekämpft oder unterliegen einer anderen Gewaltgemeinschaft. Oder sie erringen Erfolge, vielleicht gewinnen ihre Führer, beispielsweise die Kommandanten von Kriegergruppen oder Söldnerverbänden, sogar die politische Herrschaft; dadurch gehen die Verbände quasi in einen offiziellen Status über. Dann werden sie hier nicht mehr als Gewaltgemeinschaften bezeichnet, der Begriff wird also nicht auf Träger staatlicher Hoheitsgewalt angewendet, auch wenn es Misch- und Grenzformen gibt (Söldner) und sich auch in Polizei- und Militäreinheiten Phänomene zeigen können, die an Gewaltgemeinschaften erinnern (bündischer Zusammenhalt, charismatische Führer, gewaltorientierte Ehrbegriffe, kalkulierte Regel- oder Rechtsverstöße aufgrund vermeintlich höherwertiger Legitimität des Ziels). Schließlich sind Gewaltgemeinschaften keineswegs spurlos verschwunden, wenn sie sich aufgelöst haben. Sie führen ein neues Leben in der Erinnerung, in Mythenbildungen, in Schauergeschichten oder Heroenerzählungen. Derartige Narrative entstehen in der Regel schon während der aktiven Zeit der Gemeinschaften, können aber eine neue Qualität gewinnen und ihren Charakter auch verändern. Aus Räuberbanden werden dann im erinnernden Blick Sozialrebellen oder vice versa aus Freiheitskämpfern Kriminelle. Welche Sichtweise sich durchsetzt, ob sich eine hegemoniale Deutung festsetzt, ist Folge von Erinnerungskonkurrenzen und Erinnerungskämpfen. Darauf ist unter typologischem Blickwinkel zurückzukommen.58 Wer sich dem Verständnis von Gewaltgemeinschaften nähern will, muss folglich die Dynamik der Gewaltgemeinschaften, ihre Konjunkturen, ihre Ausbreitung, ihre Auflösung und ihr erinnerungskulturelles Weiterleben in den Blick nehmen. Er muss zugleich in Betracht ziehen, dass sich Gewaltgemeinschaften in Grauzonen bilden und etablieren und selbst wieder in einem Graubereich verbleiben, zwischen Fluidität und Stabilität, zwischen Integration und Dispersion, zwischen »Institutionalisierung und Entinstitutionalisierung«, zwischen »Normierung und Entnormierung«.59 Diese Ambiguität, diese Spannung, macht ihre Besonderheit aus, zumal sie gerade bei Männerbünden und Wehr58 Siehe unten S. 38. 59 Hardung/Trotha, Komando, S. 277. Siehe ebd., S. 295 f.

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verbänden in auffallendem Kontrast zum demonstrativen Dezisionismus, zu Entschiedenheit und Eindeutigkeit der Proklamationen und Taten steht. Ambig erscheint schon der Zusammenhalt der Gruppen. Gewalt ist ein entscheidendes Kriterium der Kohäsion, die vorbereitete Gewalt, die ausgeübte oder angedrohte Gewalt und die erinnerte Gewalt. Gewalt allein reicht zum Zusammenhalt aber in der Regel nicht aus. So werden häufig darüber hinausreichende gemeinschaftliche und gemeinschaftsstiftende Ziele verfolgt oder zumindest proklamiert, seien es Beute, Ansehen oder Macht, ferner politische, ideologische oder religiöse Verheißungen. Diese benötigen wiederum die Rückbindung an die Emotionalisierung und Aktivierung der Gewalttat. Ebenso wichtig wie gemeinsame Ziele ist für viele Gruppen ein gemeinsames soziales Substrat, sei es real oder fiktiv. Dazu zählen traditionale Strukturen wie Verwandtschaft, Gefolgschaft, Ethnie oder Familie. Gerade ethnische Zuschreibungen mussten nicht real nachweisbar sein, sie konnten auch imaginiert werden  – wirksam waren sie gleichwohl. Beanspruchte ethnische Homogenität unterstrich Zusammenhalt, Dauer und Solidaritätsanspruch.60 Umgekehrt ausgedrückt: Die unüberwindbare, da zum Beispiel ethnisch determinierte »Fremdheit« der anderen, ob wahrgenommen, imaginiert oder gefühlt, bestärkte den Zusammenhalt einer Gewaltgemeinschaft und steigerte das Gewaltpotential.61 Zum gemeinsamen sozialen Substrat zählten auch generationelle Bande, die durch Initiationsriten wie die Beschneidung begründet, aber auch durch Generationserfahrungen (Kriege, Katastrophen) bestärkt worden sein konnten. Verbindendes Element konnten zudem gemeinsame Marginalisierungserfahrungen sein, etwa bei entlaufenen Sklaven oder Räuberbanden, ebenso gemeinsame Erfahrungen oder Empfindungen der Bedrohung, die wiederum nicht unwesentlich das Gefühl der Legitimität des eigenen Handelns jenseits der tradierten Ordnung oder der formalisierten Legalität bestärken konnten. Gewaltgemeinschaften brauchten darüber hinaus eine Struktur, die  – anders als bei Vereinen und Parteien – nicht nur statisch, sondern zugleich dehnbar und wandelbar sein musste, in Abhängigkeit von den gesellschaftlichen und rechtlichen Bedingungen und den Interessen der Mitglieder  – die freilich in der Regel gerade keine förmliche Mitgliedschaft erwarben. Die Struktur von Gewaltgemeinschaften war charakteristischerweise hierarchisch und personal geprägt. Klare Hierarchien im Kampf und in der Gruppe korrespondierten mit egalitären Elementen und Rhetoriken, etwa der Betonung von Kameradschaft. Egalitäres und Hierarchisches standen in Spannung und mussten beständig miteinander austariert werden. Hierarchie war zudem an personale Qualifikationen gebunden, selten nur an traditionalen Vorrang, in den meisten Fällen dagegen an neue Verdienste, an Charisma, Mut und Erfolg. Hierarchie, 60 Das unterstreichen zum Beispiel die Befunde zu Osteuropa von Hans-Jürgen Bömelburg u. a. (in diesem Band S. 101–138) ebenso wie zu Ostafrika von Sascha Reif u. a. (in diesem Band S. 171–207). 61 Siehe in diesem Band Batelka u. a., S. 86.

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Führerschaft zumal, hatte sich in der Gewaltnutzung ständig neu zu beweisen: im Erfolg, in der Beute und im Verteilen der Beute – diese musste sorgsam abgestuft, aber kalkulierbar und nach nachvollziehbaren Kriterien an die Mitglieder ausgegeben werden. Die Bindung an Gewalt, die Konzentration auf – immer neue – Erfolge und die Personalität von Führung und Autorität gaben allen Gewaltgemeinschaften etwas Unstabiles und Fluides, machten aber auch die Dynamik und Unberechenbarkeit von Gewaltgemeinschaften aus und bestärkten insofern wiederum ihre Erfolgsfähigkeit. Das wiederum trug bei aller Brüchigkeit zur Verstetigung von Gewaltgemein­ schaften bei. Dazu bedurfte es allerdings noch mehr. Konkrete Gewaltausübung war, in der längeren Perspektive betrachtet, doch immer nur ein kleiner Teil des Lebens in Gewaltgemeinschaften. Dazwischen standen Phasen der Ruhe, des Rückzugs zum Beispiel in Winterlager oder in neu errichtete Siedlungen eines Kriegerstaats, also Phasen der Erholung, der Beschaffung oder Reparatur von Waffen, der Versorgung mit Nahrung, der Rekrutierung und Ausbildung neuer Mitglieder. Gewaltgemeinschaften waren eben häufig auch Lebensgemeinschaften, und sie mussten dafür Gemeinschaft auch jenseits der Gewalt emotional unterfüttern. Junge Männer fanden hier Kameradschaft, Sklaven – nach ihrem »sozialen Tod« bei der Versklavung etwa in Zentralafrika im 19. Jahrhundert – eine neue Heimat, Kindersoldaten eine neue Familie. Für Gewaltgemeinschaften, bei denen es sich meistens um Männerbünde handelte,62 war es schließlich von zentraler Bedeutung, ob und wie Familienleben und Normalität neben der Gewalt ermöglicht wurden. Das konnte entweder über den Aufenthalt in Lagern oder über die zeitweilige Rückkehr in die Her­kunfts­ gesell­schaft geschehen. Oder der Erwerb von Frauen konnte sogar Teil und Ziel des Beutezugs werden, so bei ostafrikanischen Kriegergruppen des 19. Jahrhunderts: Frauen wurden geraubt, vergewaltigt, als Beute verteilt, als Sklavinnen, Konkubinen und Ehefrauen in die Familien der Täter gewaltsam integriert. Exzess und Normalität ergänzten sich. Das verweist auf die Formen und Ausmaße der Gewalttätigkeit, die grundsätzlich keine Grenzen kannte, bis hin zu Grausamkeit und Schändung. Auf der 62 Ausnahmen gab es in Wehrverbänden der Zwischenkriegszeit des 20.  Jahrhunderts, beispielsweise im Baltikum, aber auch im städtischen Kontext; siehe in diesem Band­ Friedrich Lenger/Michael Schellenberger, S. 261 f. Strittig ist die Frage, wie man die sogenannten Amazonen von Dahomey, eine Art Leibgarde des Königs, einschätzen soll. Es handelte sich um über tausend Frauen, die kaserniert wurden, im Zölibat und enthaltsam leben sollten und allein dem König zur Verfügung standen. Sie galten – wie im ­Ü brigen auch die Frauen in Wehrverbänden im Baltikum – als extrem gewaltbereit, und sie adaptierten männliche Verhaltensnormen und Ehrrituale, so dass man von einem symbolischen Geschlechtswechsel sprechen kann. Erst 1892 soll die Frauentruppe von den vorrückenden Franzosen zerschlagen worden sein, letzte  – angebliche  – Überlebende der Leibgarde traten an der Jahrhundertwende in Europa im Kontext von Ausstellungen und zirzensischen Veranstaltungen auf. Vgl. Robert B. Edgerton, Warrior Women. The Amazons of Dahomey and the Nature of War, Boulder, CO 2000.

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einen Seite ging es darum, nach innen Mut und Entschlossenheit zu beweisen. Auf der anderen Seite sollten nach außen Schrecken und Furcht verbreitet werden. Gezielt eingesetzte Drohungen, Gerüchte, Warnungen und Erpressungen konnten dazu beitragen, Kräfte zu schonen. Man hat von Inszenierungen der Gewalt und von einem »Theater der Aggressivität« gesprochen.63 Denn Gewaltgemeinschaften, zumal wenn sie vornehmlich auf Beute zielten, suchten nicht notwendigerweise den Kampf. Um Drohkulissen aufzubauen, waren Geschwindigkeit, Beweglichkeit, Überraschung und Kommunikation wichtiger. Gewaltgemeinschaften mussten dafür sorgen, dass sie allgegenwärtig und allmächtig erschienen, ohne dies beständig nachweisen zu müssen. Wichtig war dabei die Unterscheidung nach Zugehörigkeit, nach innen und außen, nach eigen und fremd. Das konnte räumlich, sozial, kulturell, religiös, ethnisch, generationell, schichtenspezifisch oder politisch gedacht werden – immer blieb ein Bewusstsein für innen und außen handlungsleitend, das sich nicht nur mit der Zugehörigkeit zur Gewaltgemeinschaft selbst rechtfertigte. Verteidigen mussten Gewaltgemeinschaften zumindest ihren Raum: das Stadtviertel oder Revier, das ethnisch definierte Territorium oder den Handelsknotenpunkt und Kriegerstaat. Verteidigen mussten sie überdies ihre Klientel: etwa die Ethnie, die Konfession oder die politische Parteiung. Wichtiger aber war, dass die Logik der Gewalt keiner vordergründigen Zweck-Mittel-Relation unterliegen musste; Gewalt diente nicht zwingend nur dazu, konkrete Zwecke unmittelbar zu erreichen, etwa einen Gegner zu töten oder ein bestimmtes Gut als Beute zu erlangen. Oftmals »hatte die Gewaltausübung […] weit weniger instrumentellen als vielmehr expressiven Charakter und trug ihren Sinn gleichsam in sich selbst«.64 Die Persistenz und Wirkmächtigkeit von Gewalt speist sich aus der unvermeidbaren und grundlegenden Verletzungsoffenheit des Körpers, so das angesprochene, von Heinrich Popitz auf den Punkt gebrachte Diktum. Das war und ist die Basis auch aller Typen von Gewaltgemeinschaften. Die Erscheinungsformen der Gewalt sind freilich von den Konstellationen des Handelns abhängig und schlagen sich in Praktiken und Routinen nieder, die wiederum die Logik der Gewalt offen legen. Um sie zu erfassen, bedarf es somit genauer Kenntnisse über Raum, Mobilität, Kommunikation, Materialität und Emotionalität der Interaktionen. Gewaltgemeinschaften bewegten sich in Räumen, die ihnen vertraut waren, die Rückzug und Versteck boten, in denen sie dem Gegner mindestens ebenbürtig waren. Sie benötigten also Informationen über topographische Bedingungen, klimatische Verhältnisse, Wege und Siedlungen. Dabei ermöglichte ihre kleinteilige Organisationsform und personal-partiale Führungsstruktur eine hohe Mobilität und damit die bestmögliche Nutzung 63 Vgl. Sascha Reif, Theater der Aggressivität. Jugendliche Krieger in ostafrikanischen­ Gesellschaften des 19. Jahrhunderts, in: Annette Kämmerer u. a. (Hg), Gewalt und Altruismus. Interdisziplinäre Annäherungen an ein grundlegendes Thema des Humanen, Heidelberg 2015, S. 79–94. 64 So aufgrund von städtischen Beispielen Lenger/Schellenberger in diesem Band, S. 274.

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des Raumes. Das erforderte eine Flexibilisierung der Organisationsstrukturen: Viele Kriegergruppen Ostafrikas im 19. Jahrhundert ebenso wie Söldnergruppen der Frühneuzeit konnten teilautonom sein, auch wenn sie zu einem Kriegsherrn gehörten. Dieser räumte ihnen die Möglichkeit ein, selbständig auf Beutezug zu gehen. Sie waren insofern Teil eines komplexen Gruppengefüges, das die Gesamtdrohkulisse aufrecht erhielt, unterstrichen durch ihr autonomes Handeln aber die Unberechenbarkeit des Erscheinens und steigerten damit Furcht und Schrecken. Informationen über den nächsten Einsatz einer Kriegergruppe waren so kaum zu erlangen und die Gruppen schlecht zu zerschlagen. Kleine Gruppen konnten sich schnell zurückziehen, hartnäckigem Widerstand und übermächtigen Gegnern ausweichen. Mit regulären Truppen waren sie schwer zu besiegen, allenfalls zu vertreiben oder zeitweise zu zerstreuen. Derartige Gewaltgemeinschaften konnten ein Boten- und Kommunikationsnetz aufbauen, aber sie mussten es nicht. Im Waffeneinsatz waren sie weitgehend flexibel, sie konnten ihn den räumlichen Bedingungen anpassen. Sie konnten Waffen symbolisch einsetzen, sie konnten zwischen Nah- und Fernwaffen wählen, sie konnten auf bloße Zerstörung von Dörfern und Feldern setzen, sie konnten Frauen vergewaltigen oder verschleppen, Männer versklaven oder töten, Kinder integrieren oder verkaufen. Die Logik ihrer Gewalt war die Unberechenbarkeit, die Regel die Regellosigkeit, die prinzipielle Freiheit in der Wahl der Mittel und in der Entgrenzung jeder Gewalttätigkeit. Regeln setzten allenfalls die Gruppe selbst oder die Hierarchie, in die sie eingebunden war. Für die Opfer und die Beobachter waren zwar wohl Gewalthandlungen, nicht aber der exakte Ort und schon gar nicht das Ausmaß und die Erscheinungsformen vorhersehbar. Von beiden Seiten – Tätern wie Opfern – kommt auch hier der Aspekt der Emotionalität wiederum ins Spiel. Ob emotionale Faktoren als Gegenpol zu einer Rationalität des Handelns verstanden werden sollen, ist mittlerweile mehr als zweifelhaft.65 Vielmehr wird Emotionen eine vernünftige Funktion bei der Steuerung von Handlungen zugewiesen. Angst führt zur Vorsicht und Umsicht, Zuneigung führt zu Vertrauen und unterfüttert Gemeinschaft, Gemeinschaft bestärkt Selbstvertrauen und Einsatzbereitschaft – ohne Emotionen wären die Konstellationen und Abläufe in Gewaltgemeinschaften kaum in ihrer Logik erklärbar. Gleichzeitig können in der Gewaltsituation Emotionen des Gegenübers provoziert und genutzt werden, beispielsweise indem Vertrauen oder Angst erzeugt werden. Der Aspekt der Emotionalisierung in der Gewalt lenkt das Augenmerk also vor allem auf die Täter-Opfer-Konstellation. Die Grunddefinition von Gewalt zielt auf die Interaktion von Täter und Opfer und provoziert eine dichotomische Wahrnehmung: Der Täter nutzt die Verletzungsoffenheit des Körpers eines anderen und macht diesen dadurch zum Opfer. Der eine handelt, der andere erleidet. Der eine hat eine Intention und steuert die Aktion des Angriffs, dem anderen bleibt nur die Reaktion. Gewalt erscheint da65 Zur neueren historischen Emotionsforschung: Ute Frevert, Was haben Gefühle in der Geschichte zu suchen, in: Geschichte und Gesellschaft 35 (2009), S. 183–207.

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bei als binäre Option, bei der genau und lediglich zwei Rollen vorgesehen sind, eine aktive und eine passive. Diese Zuschreibung erlaubt die Wertung zwischen Unrecht und Recht, Illegitimität und Legitimität, Abwehr und Mitleid. Freilich sind die konkreten historischen Konstellationen weniger einfach zu bewerten, und dies in dreierlei Hinsicht. Zum ersten taucht in vielen, wenn nicht den meisten Gewaltkonstellationen eine dritte Akteursgruppe auf: die Zuschauer. Auch sie sind Teil des – durchaus emotionalen – Beziehungsgeflechts, weil sie das Handeln des Täters möglicherweise anspornen  – wenn dieser Bewunderung oder Unterstützung oder gar Kumpanei wittert66 – oder mildern – wenn der Täter Kritik und Öffentlichkeit fürchtet. Zuschauer wirken auch auf das Verhalten des Opfers ein, das sich eventuell Hoffnung auf Hilfe macht und dessen Widerstands- oder zumindest Durchhaltekraft dadurch gestärkt werden kann. Zuschauer sind insofern wichtige Akteure, aus der Polarität wird ein Dreieck  – oder Vieleck, weil die Zuschauer keine homogene Einheit bilden müssen. Nur ist ihre Wirkung im Geschehen ebenfalls unberechenbar, weil sie nicht an die Intentionen des Täters gebunden sind und die eventuell nicht einmal kennen, weil sie abhängig sind von Stimmungen und Wahrnehmungen, von Hoffnungen und Enttäuschungen, also wiederum von emotionalen Beziehungen zwischen den Akteuren, die zwar einer Logik folgen, aber schwer zu prognostizieren sind. Zum zweiten ist es gerade in gewaltoffenen Räumen, in denen viele Akteure Gewalt als Option einschließen und viele konkurrierende Gewaltgemeinschaften  – Söldner, Kriegergruppen, Wehrverbände, städtische Banden etc.  – unterwegs sind, schwer eindeutig zu definieren, wer Täter und wer Opfer ist. Für eine konkrete Konstellation und im Vollzug der Gewalttat mag man das noch präzise sagen können. In der Dynamik beständiger gewalthaltiger Konfrontationen ist die Frage dagegen kaum zu entscheiden. Gerade Gewaltgemeinschaften fühlten sich in vielen Fällen legitimiert dadurch, dass sie sich als Opfer vorangegangener Gewalt sahen. Das gilt im Allgemeinen: Gewaltgemeinschaften bildeten sich auch, um sich gegen andere Gewalttaten zu behaupten, sich zu rächen oder um eine Bedrohung, also antizipierte Gewalt, abzuwehren. Und das gilt auch im Konkreten: Wenn Söldner ein Dorf, dessen männliche Bewohner auf dem Feld waren, überfielen, alles niederbrannten und die angetroffenen Alten, Frauen und Kinder grausam misshandelten, scheint die Täter-Opfer-­ Konstellation eindeutig. Wenn die geschädigten Bauern dann allerdings den Angreifern nachsetzten und sie töteten, wird eine Antwort auf die Frage nach Tätern und Opfern schwieriger, und sie klärte sich auch nicht dadurch, dass dann weitere Söldner für ihre Kollegen blutige Rache nahmen.67 Oftmals schaukelten sich Überfälle und Racheakte gegenseitig hoch, manchmal verdichteten 66 Eindringlich schildern Neitzel/Welzer, Soldaten, S. 186, welche eigenständige Rolle die – eigentlich dort unerwünschten – Zuschauer bei Massenerschießungen im Vernichtungskrieg an der Ostfront übernehmen konnten. 67 Zu einem Beispiel siehe Batelka u. a. in diesem Band, S. 89.

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sie sich zur Fehde.68 Die Konstellation der Gemeinschaft, die Kommunikation über gemeinsame Erfahrungen, die gegenseitige Bestärkung in Anschauungen und Wertungen – das alles verstärkte den Effekt der Selbstrechtfertigung, der alle Täter in einem höheren Sinn als Opfer erscheinen ließ – und wenn sie sich nur als Opfer eines Systems, einer Herrschaft, sozialer Ungleichheit und Ausbeutung, politischer Repression und obrigkeitlicher Gewalt fühlten. Und zum dritten war das Opfer auch in konkreten Gewaltsituationen nicht notwendigerweise völlig machtlos. In der Interaktion mit dem Angreifer signalisierte es Angst, Passivität, Tapferkeit, Hohn, Widerstand – alles Verhaltensweisen, die Akteursmacht auch des Opfers belegen, allerdings in wiederum unvorhersehbarer Weise auf die Stimmung des Angreifers trafen. Die Interaktionen sind zu vielfältig, um daraus feste Strukturen und Konsequenzen abzuleiten. Emotion und Kalkül wirkten hier in nicht berechenbarer Weise zusammen und trugen dazu bei, dass sogar die Täter- und Opfer-Rollen nicht unverrückbar fixiert sein mussten, jedenfalls nicht im Selbstverständnis der Beteiligten. Aus der Täter-Opfer-Interaktion ergaben sich Ambivalenzen, Spielräume und neue Optionen, dadurch aber auch schwer kalkulierbare Dynamiken und Eskalationen. Vereinfacht ausgedrückt: Gewalt erschließt sich in der Beziehung von Täter und Opfer, dies auch und gerade dann, wenn die Gewalt keinen anderen Zweck hat als sich selbst.

4. Konjunkturen, Dynamiken und Zerfall von Gewaltgemeinschaften Die Konfrontation und Interaktion von Tätern und Opfern im Angesicht Dritter, die Rollenwechsel und Wechselwirkungen einschließt, lenkt zurück zur Frage nach Konjunkturen und Dynamiken von Gewalt und Gewaltgemeinschaften und eröffnet damit letztlich auch Erklärungsmöglichkeiten für Kohäsion, Überlebenskraft und Zerfall von Gewaltgemeinschaften. Konjunkturen der Gewalt waren Konstellationen der Unschärfe, der Schwächung oder Paralysierung staatlicher Gewalt, es waren Grenzkonstellationen in Zonen und Zeiten des Übergangs – und schon deshalb nicht von Dauer. Dynamiken ergaben sich aus der Konkurrenz um Ressourcen, aus der Bedrohung durch staatliche Instanzen, aus dem Erfordernis beständiger Erfolge, die allein charismatische Führerschaft legitimierten. Nur Erfolge vermochten auch die Kräfte des Zerfalls zeitweise abzufedern, die beständig an dem Gefüge von Gewaltgemeinschaften zerrten. Denn Gewaltgemeinschaften hatten unabhängig von erfolgreichen Kriegszügen durch das ihnen eigene und spezifische Element der Unberechenbarkeit auch eine Unschärfe in ihrer eigenen Existenz, sie unterliefen sich selbst. Gleichzeitig bestärkten gemeinsames Gewalthandeln, Rechtfertigungsstrate68 Mathis Prange/Christine Reinle (Hg.), Fehdehandeln und Fehdegruppen im spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Europa, Göttingen 2014.

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gien, Beuteteilen und kollektive Erinnerungen die Gruppenidentität. Zentrifugale Kräfte unter den Mitgliedern – Enttäuschung, Angst, Sehnsucht nach dem normalen Leben etc. – und zentripetale Kräfte – Angst um den Verlust der Ersatzfamilien, Aussicht auf Beute, Angst vor Strafe in der Her­kunfts­gesell­schaft – wirkten beständig aufeinander ein und ließen wiederum Gewaltgemeinschaften zwischen Stabilisierung und Auflösungserscheinungen oszillieren. Keiner konnte sicher sein, auf Dauer in der Gewaltgemeinschaft seinen Lebensunter­halt und seine Heimat zu finden. Es musste daher das Interesse der Führer sein, den Rückweg in die »andere« Gesellschaft zu verbauen: durch Rituale der Gemeinschaft ebenso wie durch exzessive Gewalt, die allein in der Gewalt­gemein­schaft Legitimation und Verständnis fand. Dennoch überlebten Gewaltgemeinschaften selten mehrere Generationen, selbst wenn es gelang, wie bei ostafrikanischen Kriegern im späteren 19. Jahrhundert, um Stützpunkte herum staatliche Formationen aufzubauen. Auch der Staat des ostafrikanischen Warlords Mirambo, der um den Handelsknotenpunkt Tabora seine Verbände zusammenzog, dort Siedlungen, Kasernen und Werkstätten anlegte und seine Residenz ausbaute, hatte nicht über den Tod des Staatsgründers 1884 hinaus Bestand.69 Das ist freilich nicht überraschend, sondern folgt der Logik von Gewaltgemeinschaften. Im hier definierten Sinn sind Gewaltgemeinschaften Gruppen und Netzwerke, die vor allem in Räumen ungesicherter Staatlichkeit agieren, in denen ein Gewaltmonopol nicht sichergestellt werden kann. Historisch gesehen handelt es sich dabei nicht um eine Ausnahmekonstellation, vielmehr sind befriedete Gesellschaften mit Gewaltmonopol des Staats eher für kürzere Phasen der jüngeren Geschichte nachzuweisen und auch nicht stabil, sondern ständigen Infragestellungen und Herausforderungen ausgesetzt, wie immer neue Wellen des Zerfalls von Staatlichkeit, zum Beispiel nach der globalen Wende von 1990/91 auf dem Balkan und im zentralen Afrika oder nach der Jahrtausendwende im Mittleren Osten, vor Augen führen. In solchen Grenzräumen staatlicher Existenz, in multipolaren Strukturen, in Migrationsgesellschaften, in frontier-Konstellationen, in »gewaltoffenen« Räumen, in denen Waffen, Krieger und Waren zirkulieren und sich derart »Gewaltmärkte« etablieren,70 kurz: in allen Räumen unvollständiger Staatlichkeit finden Gewaltgemeinschaften notwendige und hinreichende Bedingungen ihres Auftretens und Agierens. Besonders Kleine Kriege nähren Gewaltgemeinschaften, so wie diese von jenen genährt werden. Aber ebenso wenig wie sich hier Staatlichkeit dauerhaft etablieren kann, können Gewaltgemeinschaften sich hier auf Dauer stellen. Konjunkturen, Dynamiken und Zerfall von Gewaltgemeinschaften hängen eng mit der Logik von Gewaltgemeinschaften zusammen. Dies erfordert eine typologische Betrachtungsweise. 69 Vgl. Norman Robert Bennett, Mirambo of Tanzania 1840?–1884, New York 1971. 70 Georg Elwert, Gewaltmärkte. Beobachtungen zur Zweckrationalität der Gewalt, in: Trutz von Trotha (Hg.), Soziologie der Gewalt. Sonderheft der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Opladen 1997, S. 86–101.

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Im Sinne eines phänomenologischen Zugangs ist dabei der Blick zunächst auf die Rahmenbedingungen zu richten. Sie sind an erster Stelle, wie angesprochen, bestimmt von dem Grad der Konzentration legitimer Gewaltausübung, wie sie üblicherweise von Staaten im Rahmen des Gewaltmonopols beansprucht wird, von der inneren Herausforderungslage, die durch Krisen, Umbrüche, soziale Konkurrenz und Mobilisierung geprägt sein kann, sowie von der äußeren Herausforderungslage, von äußeren Feinden, realen oder imaginierten Bedrohungen, von Aggressionen und Kriegen. Zu den Rahmenbedingungen zählen sodann Gewaltkultur und Gewaltmarkt: die verfügbaren Waffen und Krieger, Söldner, Gewalttäter etc., Waffentechnik und Waffenentwicklung sowie Gewaltintensität und Gewöhnung an Gewalt. Ohne das Verständnis für diese Bedingungen sind Entfaltung und Aktivitäten von Gewaltgemeinschaften kaum zu erfassen. Diese wiederum lassen sich – abhängig von den Bedingungen – typologisch auffächern in teilintegrierte Gewaltgemeinschaften wie manche Jugendcliquen und Bünde, deren Mitglieder zugleich noch in ihrer Herkunftsgesellschaft verwurzelt blieben, befristete Gewaltgemeinschaften, die ein – meist politisches – Ziel anstrebten und entsprechend mit Erreichen des Ziels ihre Tätigkeit einstellten, und Lebensgemeinschaften wie Kriegergruppen, Söldner oder Räuberbanden und auch manche politischen Kampfbünde, deren Mitglieder sich gänzlich aus der Herkunftsgemeinschaft lösten und in eine neue gewaltbasierte Gegengesellschaft eintraten. Bedeutsam war dabei, welche gesellschaftliche Referenzebenen für die Gewaltgemeinschaften integrale Kraft entfalteten, ob soziale Herkunft, generationelle Beziehungen, Geschlecht, Ethnizität, Nationalität oder Religion. Bedeutsam war für den Charakter von Gewaltgemeinschaften darüber hinaus, wie sie ihren Zusammenhalt organisierten, zwischen innen und außen unterschieden, Führung aushandelten, Gefolgschaft sicherstellten, eine gemeinsame Deutung des eigenen Tuns garantierten und gegen konkurrierende Fremdsichten abschirmten, wie sie ihre Ethik und Ehre schließlich ausprägten. Typologische Differenzierungen ergaben sich wiederum aus der Nutzung von Räumen und Waffen. Ob Grenzräume, städtische Viertel, Karawanenrouten, Berge oder Wälder – Gewaltgemeinschaften mussten ihren jeweiligen Raum kennen und beherrschen, ihn durchdringen und verlassen können. Sie mussten über geeignete Instrumente der Gewalt verfügen, zumal der Gegner, sofern er staatliche Autorität verkörperte, in der Regel in Bezug auf Quantität und Modernität der Waffen überlegen war. Daher kam es für Gewaltgemeinschaften darauf an, die richtigen Waffen im richtigen Moment dosiert einzusetzen, die Verletzungsoffenheit der Körper des Gegners zu nutzen, die Spielräume von Gerücht, Drohung, Exzess und Grausamkeit auszuloten, um auch bei sparsamstem aktiven Waffen- und Körpereinsatz größtmögliche Wirkung zu erzielen. In diesem Sinn konnten auch imaginäre Gewalt­ gemeinschaften, sogar Gruppen, die keine Gewalt anwendeten, denen dies aber zugetraut wurde, Angst auslösen und Gegenwehr provozieren.71 Kommunika71 Siehe in diesem Band den Beitrag von Christine Hardung, S. 209–232.

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tion und Mobilität, und zwar von Menschen und Gruppen, von Körpern und Dingen, von Waffen und Waren, von Gerüchten und Nachrichten, erwiesen sich dabei immer wieder, ungeachtet der konkreten Ausprägung der Gewalt­gemein­ schaft, als zentrale Elemente der Fortexistenz und des Erfolgs von Gewalt­ gemein­schaften in ungeordneten Konstellationen und offenen Räumen. Dies alles bedingte die Konjunkturen und Dynamiken der Gewalt und konnte auch ihr Ende herbeiführen. Gewaltgemeinschaften konnten sich von innen und von außen auflösen. Gruppen konnten zerfallen, wenn die Mitglieder nicht mehr ihre Identität bewahrten, wenn sie sich über ihre Ideale oder die Beute zerstritten, aber auch wenn der Führer durch Tod oder Versagen ausschied, wenn die Gruppenmitglieder gegen ihn meuterten, weil zum Beispiel die Nahrungsversorgung als unzureichend oder die Beuteverteilung als ungerecht erschien. Dann konnte sich das Gewaltpotential nach innen richten, und dies nicht weniger exzessiv als bei gemeinsamen Taten.72 Gruppen konnten implodieren, wenn ihre Ehrvorstellungen bedroht waren, wenn sie sich von Mitgliedern oder Führern verraten fühlten. Gruppen konnten zerfallen, wenn ihre Räume, die Orte ihres Beisammenseins oder ihr Aktionsgebiet verloren gingen.73 Wenn Gruppen sich derart auflösten, war es durchaus diffus und heterogen, was mit ihren Mitgliedern geschah. Manche gingen gewissermaßen nach Hause in ihr ziviles Leben zurück, manche setzten sich, zum Beispiel autobiographisch, wie namentlich für Mitglieder von Wehrverbänden vielfach dokumentiert, mit ihrer Gewaltvergangenheit auseinander, manche suchten Anschluss an neue Gewaltgemeinschaften in anderen Konstellationen, weil sie zum zivilen Leben nicht zurückfanden oder zurückwollten.74 Gewaltgemeinschaften konnten ebenso durch äußere Herausforderungen zur Auflösung gebracht werden oder durch eine andere Konstellation Funktion und Selbstverständnis neu ausrichten. Wenn gotische Kriegergruppen in Italien sesshaft wurden und in das Reich integriert waren, bestanden sie in quasi veränderter Form, in einer Sonderstellung und mit neuer Legitimität fort.75 Wenn sich ein Kriegerstaat wie der Mirambos in Ostafrika um 1884 auflöste, waren seine Kriegergruppen, auch Ruga Ruga genannt, doch nicht schlagartig verschwunden, vielmehr suchten manche von ihnen neue Führer, gingen zum Teil in Kolonialarmeen über, versuchten jedenfalls unter den Bedingungen der einsetzenden Kolonialisierung ihre Fähigkeiten zu nutzen.76 Auch Wehrverbände

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Vgl. beispielsweise Batelka u. a. in diesem Band, S. 92. Dazu der Beitrag von Cora Dietl u. a. in diesem Band, S. 72 f. Vgl. beispielsweise den Beitrag von Peter Haslinger u. a. in diesem Band, S. 250 f. Vgl. Hans-Ulrich Wiemer, Theoderich und seine Goten. Aufstieg und Niedergang einer Gewaltgemeinschaft, in: Winfried Speitkamp (Hg.), Gewaltgemeinschaften. Von der Spätantike bis ins 20. Jahrhundert, Göttingen 2013, S. 15–38, hier S. 19–24. 76 Zu den Ruga Ruga vgl. Sascha Reif, Generationalität und Gewalt. Kriegergruppen im Ostafrika des 19. Jahrhunderts, Göttingen 2015, S. 208–212, 265 f., sowie Michael Pesek, Ruga-ruga. The History of an African Profession, 1820–1918, in: Nina Berman u. a. (Hg.),

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wie der Eiserne Wolf77 in Litauen Ende der 1920er Jahre oder die SA78 wurden zum Teil einer sich etablierenden Exekutive. Die SA konnte mit der »Machtergreifung« quasi offiziellen Status beanspruchen, musste sich zugleich als Sachwalter der Bewegung von unten, der aktiven Kämpfer und der fortwährenden nationalen Revolution präsentieren, sah sich dabei aber der Konkurrenz und dem Misstrauen der regulären Truppen der Reichswehr ausgesetzt, unterlag am Ende im sogenannten »Röhm-Putsch« vom Sommer 1934 und blieb in nur noch eingehegter Funktion bestehen. Hier konnten die SA-Gruppen weiter ihren Mythos der Pioniere eines neuen, des »Dritten Reichs« pflegen. Die Übergänge von aktivem Tun über Veteranen-Nostalgie in gesellschaftliche Mythosbildung blieben fließend. Mythosbildung funktionierte vor allem, wenn das Wirken der Gewaltgemeinschaften mit einem ethischen Anspruch verbunden werden konnte, sei er sozialer Art, wie bei Räuberbanden, für die nun beansprucht wurde, sie hätten (nur) den Reichen genommen und den Armen gegeben, politischer Art wie bei Wehrverbänden, die sich als Wegbereiter einer neuen Gesellschaft und des Siegs der Bewegung feiern ließen, oder nationaler Art, wie bei Warlords und ihren Kriegergruppen, die beispielsweise in das Widerstands- und Selbstbefreiungsnarrativ afrikanischer Staaten eingehen konnten, so etwa im Fall Mirambos, dem in Tansania heute Straßennamen gewidmet sind. Nicht nur hier mutierten Krieger, die Ruga Ruga, was auch Räuberbanden bezeichnen konnte, zu nationalen Ikonen. Im frühneuzeitlichen Südosteuropa verstand man die Haiducken als Räuberbanden, allerdings im Sinne von Sozialbanditen, die als Widerstandskämpfer idealisiert wurden.79 Gewaltgemeinschaften haben sich insofern dauerhaft in die Geschichte eingeschrieben, sie blieben oft über Jahrhunderte Gegenstand der Deutung, der Mythisierung oder Perhorreszierung. Was als irreguläre, illegale Gewaltausübung angesehen wird und was als Freiheitskampf, was als Grausamkeit und was als Heldenmut, was als Verbrecherbande und was als Befreiungsbewegung, das ist eine Frage des Zeitpunktes und des Standpunktes. Am Ende entscheidet dann, zugespitzt formuliert, die potestas (im Sinne der Hoheits- und Herrschafts­ gewalt), was als violentia (also physische Gewalt) zu gelten hat.80 Daran zeigt sich auch, dass Gewaltgemeinschaften nicht bloß Begleiterscheinungen unvollständiger oder zerfallender Staatlichkeit, nicht bloß Kollateralschäden von Transformationsprozessen waren und sind. Vielmehr signalisierten sie auch Ordnungsunsicherheit und Ordnungskonkurrenz. Auf der einen Seite entstanden sie zwar tatsächlich vor allem in staatsfreien Räumen und gewaltoffenen frontier-Konstellationen, dies auch in Binnengrenzräumen mo-

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German Colonialism Revisited. African, Asian, and Oceanic Experiences, Ann Arbor 2014, S. 85–100, hier S. 85 f. Vgl. in diesem Band Haslinger u. a., S. 236. Vgl. Sven Reichardt, Faschistische Kampfbünde. Gewalt und Gemeinschaft im italienischen Squadrismus und in der deutschen SA , Köln 2002. Vgl. den Beitrag von Andreas Helmedach/Markus Koller in diesem Band, S. 162. So die pointierte Formulierung von Dietl u. a. in diesem Band, S. 82.

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derner Staatlichkeit selbst, im kaum kontrollierbaren Slum, in der Banlieue, in polarisierten Stadtviertelmilieus, sogar in Gefängnissen und Lagern. Auf der anderen Seite konnten sie gerade umgekehrt auch Ausdruck von Ordnungsund Normenkonkurrenz, von kollidierenden innerstädtischen, regionalen oder innerstaatlichen Ordnungsentwürfen sein. Sie konnten auch für Enttäuschung und Gegenentwurf stehen, für gelebte – oder im Nachhinein so stilisierte – Utopien. Zusammenhalt, Treue und Kameradschaft, personal-charismatische Führung und Gefolgschaft, Gerechtigkeit beim Beutemachen und Beuteverteilen – all dies kann durch leichte Nuancenverschiebung als Gegenmodell zu einem bürokratisch-kalten Staat, zu einer materialistischen Wirtschaftsordnung, zu einer atomisierten, anonymisierten Gesellschaft angesehen und angeboten werden. Noch in der Erinnerung vieler Teilnehmer lebten Gewaltgemeinschaften, etwa Wehrverbände, fort als gesellschaftlicher Idealentwurf im Kleinen, als Gemeinschaft, in der Werte wie Heimat, Treue und Kameradschaft noch ernsthaft gelebt und erlebt worden seien.81 Gewalt – oder jedenfalls die Fähigkeit zur Gewalt, die gegenwärtige, vergangene oder zukünftige, die reale oder imaginierte Gewalttätigkeit, damit die Bereitschaft, Grenzsituationen menschlicher Existenz gemeinsam gegen Feinde durchzustehen – machte dabei den Kern aus. Die Frage der Gewalt ließ die Gemeinschaft nicht mehr los.

81 Vgl. das Beispiel bei Haslinger u. a. in diesem Band, S. 248.

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Zur Materialität der Gewalt Die Waffen gotischer Krieger 1

Soziale Gruppen, die sich durch die Ausübung oder Androhung von Gewalt konstituieren und reproduzieren, sind in der Regel sowohl fähig als auch bereit, Waffen einzusetzen. Diese Feststellung gilt nicht allein für die Goten, sondern allem Anschein nach epochen- und kulturenübergreifend, auch wenn die Dinge, die als Waffen eingesetzt werden, höchst unterschiedlich sein können. In der Waffenkunde und Kriegswissenschaft wird zwischen Angriffswaffen und Schutzwaffen unterschieden: Angriffswaffen sind Werkzeuge, die primär dazu dienen, Menschen und Tiere zu verletzen, während Schutzwaffen in erster Linie Schutz vor Verletzungen gewähren sollen. Innerhalb der Angriffswaffen kann man zwischen solchen unterscheiden, die für den Kampf aus der Entfernung bestimmt sind, und solchen, die im Nahkampf eingesetzt werden. Gewiss ist eine Unterscheidung zwischen Angriffs- und Schutzwaffen ebenso wenig trennscharf wie der Begriff der Waffe selbst: Eine vorrangig dem Schutz des eigenen Körpers dienende Waffe, wie etwa der Schild, kann auch dazu benutzt werden, physische Läsionen zuzufügen. Werkzeuge, die eigentlich friedlichen Zwecken dienen, wie Dreschflegel oder Sicheln, aber auch Gegenstände, die zufällig zur Hand sind, wie Steine oder Stöcke, können im Kampf zur Waffe werden. Aber der Begriff Waffe ist dennoch keine willkürliche Konstruktion: Seit der Steinzeit, lange vor Beginn der Hochkulturen, wurden an vielen Orten der Erde Werkzeuge eigens zu dem Zweck hergestellt, bei Menschen und Tieren Verletzungen zu bewirken, und durch die Art ihrer Benutzung von Dingen unterschieden, die nur unter besonderen Umständen demselben Zweck dienstbar gemacht wurden. Waffen im engeren Sinne sind daher Werkzeuge, die regel­mäßig und bevorzugt im Kampf gegen Menschen und Tiere eingesetzt werden; abstrakt formuliert: materielle Artefakte, die sich durch eine spezifische Funktionalität auszeichnen. Vor der Einführung von Feuerwaffen setzte der Gebrauch von Waffen Fähig­ keiten voraus, die eng an die physische Konstitution gebunden waren. Man brauchte Kraft, Beweglichkeit und Geschicklichkeit. Es war entscheidend für 1 Dieser Aufsatz beruht auf einem Vortrag, der am 4. Oktober 2012 auf einer Tagung der Forschergruppe »Gewaltgemeinschaften« zum Thema »Materialität und Gewaltgemeinschaften« an der Justus-Liebig-Universität Gießen gehalten wurde. Es wurden lediglich die direkten Nachweise hinzugefügt. Vgl. auch unseren Aufsatz: Instrumente der Gewalt. Bewaffnung und Kampfesweise gotischer Kriegergruppen, in: Millennium. Jahrbuch zu Kultur und Geschichte des ersten Jahrtausends n. Chr. 13 (2016), S. 141–210. Wir danken Agnes Luk und Susanne V. Weber für die sorgfältige Durchsicht des Manuskripts.

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den kollektiven Erfolg und für das individuelle Überleben, wie gut man mit Waffen umzugehen verstand, da deren zerstörende Wirkung in höherem Maße von den Fähigkeiten der Person abhing, die sie einsetzte, als von den Eigenschaften der eingesetzten Waffe. Die zum erfolgreichen Gebrauch solcher Waffen erforderlichen Fähigkeiten mussten durch Training erworben, sozusagen inkorporiert werden. Natürlich wurde auch in der Vormoderne nicht jeder Kampf als Hand­ gemenge ausgetragen. Die wichtigsten Fernwaffen des griechisch-römischen Altertums waren Speere und Pfeile. Mit den Kompositbögen der Antike konnte man immerhin über eine Entfernung bis zu fünfzig oder sechzig Meter recht genau zielen und bis mindestens 160 Meter weit schießen. In der Spätantike stieg das Bogenschießen, das im klassischen Griechenland, aber auch in der römischen Republik, mit einem sozialen Stigma belegt gewesen war, zu einer prestigeträchtigen Waffentechnik auf. Im 6. Jahrhundert beschossen sich feindliche Heere mitunter stundenlang aus der Entfernung mit Pfeilen. Durch den Beschuss mit Pfeilen konnte man dem Feind empfindliche Verluste zufügen und seinen Angriff dadurch abwehren; es war jedoch kaum möglich, auf diese Weise eine feindliche Schlachtreihe ins Wanken zu bringen. Die Entscheidung fiel daher fast immer im Nahkampf, der in der Regel auch bewusst herbei­geführt wurde. Im Kampf Mann gegen Mann kam es darauf an, den eigenen Körper nicht zu entblößen und im richtigen Moment mit Schwert oder Lanze kraftvoll zuzustoßen. Oder aber man wartete auf eine Gelegenheit, den Feind durch einen Stich, Hieb oder Schlag von oben kampfunfähig zu machen. Diese Bemerkungen zielen vor allem auf den Kampf zu Fuß. Beim Kampf zu Pferde erhöhten sich die Anforderungen. Der Reiter musste nicht bloß seine Waffen zu führen verstehen – die wichtigste war seit alters die Lanze –, sondern mit seinem Pferd zu einer Art Einheit verschmelzen, wenn er den Zugewinn an Kraft und Schnelligkeit, den ihm das Tier verschaffen konnte, für sich nutzen wollte. Da Steigbügel aus Metall vor dem 7.  Jahrhundert n. Chr. ungebräuchlich waren, hing die Wucht, die ein Reiter in den Stoß seiner Lanze zu l­ egen versuchte, wesentlich davon ab, wie gut er sich durch bloßen Schenkeldruck auf dem Pferd zu halten vermochte. Auch dafür war neben einer entsprechenden Veranlagung beständiges Training erforderlich. Der Kampf zu Fuß und der Kampf zu Pferde waren die gesamte Antike hindurch die beiden Grundformen gewaltsamer Auseinandersetzungen, während der Kampf zur See nur phasenweise größere Bedeutung erlangte. Die Milizheere griechischer Bürgerstaaten und der römischen Republik hatten ihren Kern in der Infanterie. Die Spätantike ist demgegenüber durch eine Dominanz der Kavallerie charakterisiert. Die Heere, die für spätrömische Kaiser kämpften, waren wesentlich kleiner als diejenigen der Republik; sie zählten in der Regel nur wenige tausend, selten mehr als 10.000 Mann. Vor allem bestanden sie nicht mehr aus einberufenen Bürgern, sondern aus Spezialisten des Krieges, die häufig außerhalb des Imperiums rekrutiert wurden. Ihr schlagkräftigster Bestandteil waren gepanzerte Reiter, die sowohl mit der Lanze attackieren als auch mit dem Bogen

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schießen konnten. Zeitgenossen sahen in dieser Kombination zweier bislang getrennter Kampfesweisen die wichtigste militärische Innovation der Spätantike.2 Gegenstand dieses Beitrags sind nun nicht die Soldaten des spätrömischen Kaisers, sondern gotische Krieger. Beide Sphären waren durch vielfältige Wechselwirkungen miteinander verbunden, zum einen deswegen, weil Bewaffnung und Kampfesweise auf längere Sicht stets auf den jeweiligen Feind abgestimmt wurden, und zum anderen, weil gotische Kriegergruppen keineswegs immer gegen den Kaiser kämpften, sondern zeitweise durchaus mit ihm verbündet waren und Truppen für ihn stellten; zudem traten einzelne Goten auch dauerhaft in seinen Dienst. Dabei stellen wir den gotischen Kriegerverband ins Zentrum, der zur Zeit des Hunnenkönigs Attila in Pannonien ansässig war und mit Theoderich nach Italien kam.3 Das ist der Quellenlage geschuldet: Dieser Kriegerverband ist der einzige, dessen Geschichte sich über ein ganzes Jahrhundert – von der Mitte des 5. bis zur Mitte des 6. Jahrhunderts – kontinuierlich verfolgen lässt. Diese Krieger wurden von den Römern als Goten wahrgenommen und­ beschrieben, und vieles spricht dafür, dass sie sich mehrheitlich auch selbst als Goten verstanden. Das in der Forschung gängige Verfahren, Informationen zu kombinieren, die sich auf gotische Gruppen beziehen, die in großer räumlicher und zeitlicher Entfernung voneinander agierten, hat dazu geführt, dass man Bewaffnung und Kampfesweise als über mehrere Jahrhunderte hinweg homogene und konstante Faktoren betrachtet. Dieses Verfahren beruht jedoch auf einer petitio principii, die der offenkundigen Tatsache widerspricht, dass diese Kriegergruppen in diesem langen Zeitraum zahlreichen Wandlungen unterlagen, die sich auch auf Bewaffnung und Kampfesweise ausgewirkt haben dürften. Wir gehen daher von den Goten in Italien aus und ziehen Informationen über andere gotische Gruppen oder frühere Phasen derselben Gruppen nur gelegentlich und dann vor allem zum Vergleich heran. Wir versuchen folgende Fragen zu beantworten: Welche Waffen setzten gotische Krieger ein? War die Bewaffnung innerhalb bestimmter ›Waffengattungen‹ einheitlich? Woher stammten die Waffen? Galt das Prinzip der Selbstausrüstung? Wie kämpfte man damit und wie lernte man den Waffengebrauch? Diese Fragen kreisen um den Zusammenhang von Instrumenten und Techniken der Gewalt, berühren aber auch das Verhältnis von Militärtechnik und Sozialverfassung, da der Unterschied von Waffengattungen häufig soziale Differenzierungen widerspiegelt. Wir wollen aber auch der symbolischen Dimension der Waffen nachgehen, indem wir nach der Bedeutung fragen, die Waffen für Kommunikation und Repräsentation hatten. Denn Dinge, die man als Instrumente der Gewalt gebrauchen kann, demonstrieren stets auch Macht und sind daher 2 Prokop, Perserkriege 1,1,7–17, griech. und dt. v. Otto Veh, München 1970. 3 Guido M. Berndt, Aktionsradien gotischer Kriegergruppen, in: Frühmittelalterliche Studien 47 (2013), S. 7–52; Hans-Ulrich Wiemer, Die Goten in Italien. Wandlungen und Zerfall einer Gewaltgemeinschaft, in: Historische Zeitschrift 296 (2013), S. 593–628.

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bestens geeignet, soziale Unterschiede sichtbar zu machen. Waffen sind immer auch Bedeutungsträger, und diese Regel gilt auch für den Körper des Kriegers. Der symbolische Aspekt lässt sich dann noch weiter aufgliedern. Wir fragen erstens, welche Rolle Bewaffnung und Ausrüstung als Distinktionsmerkmale spielten, und zwar sowohl gegenüber Außenstehenden oder Gegnern als auch innerhalb der Gruppe. Zweitens betrachten wir Waffen im Rahmen von Ritualen als Symbole kriegerischer Tüchtigkeit und eines kriegerischen Ehrenkodexes.

1. Quellenlage Zunächst jedoch gilt es, sich Möglichkeiten und Grenzen der Quellenlage zu verdeutlichen. Es muss festgehalten werden, dass uns aus dem gotischen Italien nur sehr geringe Überreste von Waffen und Ausrüstungsteilen überliefert sind. Viele Waffen und Ausrüstungsteile, die nach Ausweis der Schriftquellen von gotischen Kriegern verwendet wurden, sind im archäologischen Befund gar nicht nachweisbar. Dieser Mangel an Sachquellen ist vor allem darauf zurückzuführen, dass Toten im gotischen Italien keine Waffen ins Grab gelegt wurden, wie es etwa im merowingischen Gallien durchaus üblich war. Die Waffen gotischer Krieger wurden benutzt, solange sie brauchbar waren, und verfielen daher im Laufe der Zeit, zumal sie teilweise aus vergänglichem Material – Holz, Leder, Horn und Ähnliches – hergestellt waren. Wir wissen daher wenig Genaues über ihre Größe, Gestalt und Bauart. Die wichtigste Ausnahme sind drei mehr oder weniger gut erhaltene Spangenhelme aus Depotfunden. Auch Bilder, die eindeutig gotische Krieger darstellen, sind rar. Im Grunde reduziert sich der Bestand auf das berühmte Goldmedaillon, das König Theoderich in einer Rüstung zeigt, sowie einige Kupfermünzen der Könige Theodahad und Totila. Hinzu kommt eine Silberschale aus Isola Rizza in Venetien, auf deren Innenseite man einen gepanzerten Lanzenreiter sieht, der gegen Fußsoldaten kämpft, die mit Schild und Schwert bewaffnet sind. Dargestellt ist offenbar ein Sieg der kaiserlichen Kavallerie, aber die Besiegten könnten sowohl Goten als auch Langobarden sein. Immerhin lassen sich als Ersatz für die weitgehend fehlenden Bildquellen einige Texte heranziehen, in denen heute verlorene Monumente beschrieben werden. So berichtet beispielsweise Agnellus, der um 830 eine Geschichte der Bischöfe Ravennas verfasste, im königlichen Palast in Ravenna – genauer gesagt in dessen Speisesaal (Triclinium) – habe sich einstmals ein Mosaik befunden, auf welchem König Theoderich als reitender Krieger dargestellt war. In seiner rechten Hand hielt er eine Lanze, in der linken einen Schild, zudem trug er einen prächtigen Brustpanzer.4 Es sind also ganz überwiegend Schriftquellen, aus denen wir unsere Kenntnis von der Bewaffnung und Ausrüstung gotischer Krieger schöpfen. Am ergiebigs4 Agnellus von Ravenna, Bischofsbuch 94, lat. und dt. v. Claudia Nauerth, Freiburg 1996.

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Abb. 1: Silberschale, Isola Rizza, Ende 5. Jh. – A nfang 6. Jh., Höhe 6,5 cm, Durchmesser 40,5 cm, Museo di Castelvecchio, Objektnummer 13871-4A0234.

ten für unsere Fragestellung ist die nach Schauplätzen gegliederte Darstellung der Kriege des Kaisers Justinian aus der Feder des oströmischen Geschichtsschreibers Prokop von Kaisareia. Prokop liefert einen detaillierten Bericht über die erste Phase des römisch-gotischen Krieges, der auf eigener Anschauung beruht, da er dem oströmischen Feldherrn Belisar als Sekretär diente, bis dieser 540 aus Italien abberufen wurde. Er berichtet daher sozusagen aus der Perspektive des römischen Hauptquartiers. Da Prokop Italien mit Belisar verlassen zu haben scheint, sind seine Informationen über die folgenden zwölf Kriegsjahre insgesamt viel weniger detailliert und zudem sehr ungleich verteilt: Während er einzelne Gefechte oder Schlachten ausführlich beschreibt, weiß er über die Kampfhandlungen mancher Jahre kaum etwas zu sagen. Prokop hatte gotische Krieger in Aktion erlebt, ja ihnen buchstäblich ins Auge geblickt; er wusste daher, wovon er sprach, als er sein bald nach den Ereignissen – im Jahre 550/1 – veröffentlichtes Geschichtswerk verfasste. Das unterscheidet ihn von seinem Fortsetzer Agathias von Myrina, der sein Leben als Zivilist in Konstantinopel verbrachte und daher nur vage Vorstellungen von gotischen Kriegern hatte. Beiden gemeinsam ist allerdings, dass sie Geschehnisse ihrer Zeit in literarische Formen kleideten, die damals schon ein Jahrtausend alt waren. Ihr klassizistisches Stilideal hielt sie dazu an, Wörter zu meiden, die nicht durch den Sprachgebrauch klassischer Autoren – Herodot, Thukydides und Xenophon – sozusa-

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gen kanonisiert worden waren. Aus diesem Grund finden wir bei Prokop nur sehr selten einmal technische Begriffe für bestimmte Waffen des 6.  Jahrhunderts; meistens begnügt er sich mit generischen Termini, die recht Unterschiedliches bezeichnen können. Ob es sich etwa um ein Kurz- oder Langschwert, einen Ketten- oder Schuppenpanzer, einen Metall- oder Lederhelm, einen runden und gewölbten oder rechteckigen und flachen Schild handelt, wird durch diese Terminologie nicht zum Ausdruck gebracht und kann allenfalls aus dem Kontext erschlossen werden. Erst recht ist von klassizistischen Historikern nicht zu erwarten, dass sie uns gotische Bezeichnungen für bestimmte Waffen überliefern. Auch lassen sich ihre Angaben nicht mit den Termini korrelieren, die uns durch die gotische Bibelübersetzung des Wulfila aus der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts überliefert sind, weil deren Bedeutung sich aufgrund des fehlenden Kontexts nicht präzisieren lässt. Während Prokop die Goten aus der Sicht eines loyalen Untertanen des römischen Kaisers nicht ohne Respekt, aber doch distanziert betrachtet, bieten uns die »Varien« Cassiodors Einblick in die Selbstdarstellung gotischer Könige. Da Cassiodor die Schreiben, die er im Namen und Auftrag gotischer Könige verfasste, nach dem Ende seiner politischen Tätigkeit im Jahre 538 in nur geringfügig bearbeiteter Form veröffentlicht hat, gewährt diese Sammlung Aufschlüsse über die Formen, in denen gotische Könige regierten und kommunizierten. Allerdings sind von den etwa 400 Schreiben gotischer Könige nur etwa sechzig an Goten gerichtet. Bei den Adressaten handelt es sich meistens um hochgestellte Persönlichkeiten; der »gemeine Mann« kommt fast nur als Mitglied von Kollektiven in den Blick, so dass es kaum möglich ist, die Lebenswelt dieser Männer zu rekonstruieren. Zudem sind diese von Cassiodor gesammelten Schreiben in einer Kunstsprache abgefasst, die technische Termini durch wortreiche Umschreibungen, Allgemeinbegriffe oder poetische Vokabeln ersetzt. Gerade wenn es um Waffen geht, bleibt uns Cassiodor daher häufig eine Antwort auf unsere Fragen schuldig. Ähnliche Vorbehalte sind auch gegenüber der Lobrede auf Theoderich zu machen, die der katholische Kleriker Ennodius im Jahre 508 verfasste. E ­ nnodius war zwar Zeitgenosse und dürfte gotische Krieger aus eigener Anschauung gekannt haben, das literarische Genus der Lobrede und die p ­ oetische Diktion des Textes ließen jedoch eine genaue Beschreibung von Realien nicht zu. Schließlich ist auch die von oströmischen Autoren verfasste kriegswissenschaftliche Literatur des 6. Jahrhunderts zu berücksichtigen: Auch wenn es sich um präskriptive Texte handelt, enthalten sie implizite und explizite Informationen über die Gegner der kaiserlichen Truppen. Neben einem anonymen Traktat über die Feldherrnkunst und einer ebenfalls ohne Autorangabe überlieferten Abhandlung über das Bogenschießen – beide werden in die Zeit Kaiser Justinians datiert – ist hier vor allem das dem oströmischen Kaiser M ­ aurikios zugeschriebene Kriegshandbuch (»Strategikon«) aus dem späten 6. Jahrhundert zu nennen.5 5 Anonymus Peri strategias (Hermann Köchly/Wilhelm Rüstow, Griechische Kriegsschriftsteller. Griechisch und deutsch mit kritischen und erklärenden Anmerkungen, 2. Teil, 2. Ab-

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2. Waffen als Instrumente der Gewalt In der römischen Spätantike war Zivilisten sowohl der Besitz als auch der Gebrauch von Waffen gesetzlich untersagt, es sei denn, sie dienten der Jagd oder der Selbstverteidigung gegen Angriffe auf Leben und Besitz. Dieses Verbot betraf insbesondere Stoßlanzen, Brustpanzer, Schilde und Helme. Theoderich hat das Waffenverbot für Zivilisten ausdrücklich eingeschärft und Römern nur den Besitz von Messern gestattet, wie es in seinem Machtbereich wenig später auch Justinian tat.6 Auch wenn daher namentlich die senatorische Oberschicht über Schwerter und Spieße verfügt haben dürfte, galt das Führen von Waffen als Privileg des Heeres. Im gotischen Italien wies die Bewaffnung einen Mann daher auf den ersten Blick als Angehörigen des privilegierten Kriegerstandes aus, jedenfalls dann, wenn die Waffen kriegstauglich wirkten und Teil einer Ausrüstung als Fußsoldat oder Reiterkrieger waren. Denn das stehende Heer­ Theoderichs und seiner Nachfolger war in diese beiden Waffengattungen, Infanterie und Kavallerie, gegliedert. Eine Flotte kam auf gotischer Seite erst in der zweiten Hälfte des Krieges gegen Kaiser Justinian zum Einsatz. Allerdings war die Trennung zwischen Fußkämpfern und Reitern nicht scharf, denn die Reiter kämpften durchaus auch zu Fuß, wenn die Umstände dies als erforderlich erscheinen ließen. König Teja befahl seinen Reitern vor der Schlacht am Milchberg bei Neapel (Oktober 552), abzusitzen und zu Fuß zu kämpfen. Ein Vierteljahr früher hatte der römische Feldherr Narses die im Zentrum seines Heeres aufgestellten Heruler und Langobarden vor der Schlacht bei den Busta Gallorum­ (Taginae) von ihren Pferden steigen und zu Fuß antreten lassen. Umgekehrt aus Infanteristen Kavalleristen zu machen war jedoch schwierig, auch wenn man über genügend Pferde verfügte, weil der Kampf als Reiter ein besonderes Training erforderte, das sich nicht auf die Schnelle nachholen ließ. Neben den Reitern kämpften in gotischen Heeren stets auch Fußsoldaten, die jedoch meist in der zweiten Linie eingesetzt wurden. Als Defensivwaffen dienten gotischen Kriegern vor allem Schild, Brustpanzer und Helm. Offensivwaffen für den Nahkampf waren Schwert und Lanze; mitunter wurde auch die Streitaxt benutzt. Im Fernkampf kamen Speer, Pfeil und Bogen sowie Schleudergeschosse zum Einsatz. Dagegen verfügten gotische Kriegergruppen offenbar nicht über Torsionsgeschütze; in dieser Hinsicht waren sie dem spätrömischen Heer unterlegen, das sowohl Katapulte zum Schleudern von Steinen – in der Soldatensprache onager genannt – als auch ballistae theilung: Des Byzantiner Anonymus Kriegswissenschaft nebst einem dreifachen Anhange, Leipzig 1855); Strategikon des Maurikios, hg. v. Georg T. Dennis/Ernst Gamillschegg, Wien 1981. 6 Anonymus Valesianus II 83 (Ingemar König, Aus der Zeit Theoderichs des Großen. Ein­ leitung, Text, Übersetzung und Kommentar einer anonymen Quelle, Darmstadt 1997);­ Justinian, Novelle 85,4 (539), hg. v. Rudolf Schöll/Wilhelm Kroll, Berlin 1895.

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zum Verschießen von Pfeilen einsetzte. Der einzige Beleg für den Einsatz einer ballista auf gotischer Seite bezieht sich auf die Schlacht am Vesuv und fällt damit in das letzte Jahr des gotischen Königtums in Italien. Auch fahrbare Türme gehörten vor dem Italienzug Theoderichs nicht zum Instrumentarium gotischer Kriegergruppen. Dass solche Geräte im römisch-gotischen Krieg dann doch zum Einsatz kamen, dürfte sich durch die Aneignung römischer Technologie während der gotischen Herrschaft in Italien erklären. 2.1. Angriffswaffen

Berittene Krieger konnten besonders wirkungsvolle Angriffe ausführen, weil sie einerseits über große Schnelligkeit und Wendigkeit verfügten, andererseits auf dem Rücken des Pferdes eine erhöhte Position einnahmen, die es ihnen erlaubte, auf Fußkämpfer von oben einzuhauen oder einzustechen. Dieser Vorteil war optimal zu nutzen, wenn man eine lange Stoßlanze führte; für sie war im Griechischen der Terminus technicus kontos gebräuchlich, der als Lehnwort auch ins Lateinische übernommen wurde. Mit dieser Stoßlanze konnte man den Gegner treffen, bevor dieser mit dem Schwert zustoßen oder zuschlagen konnte. Es ist nicht bekannt, seit wann gotische Kriegergruppen zumindest teilweise zu Pferde kämpften. Der erste sichere Beleg bezieht sich auf die Schlacht bei Adrianopel im Jahre 378. Nach dem Bericht des zeitgenössischen römischen Militärs und Historiographen Ammianus Marcellinus wurde die Schlacht durch eine Attacke gotischer Reiter eröffnet, die zusammen mit Alanen, Angehörigen eines nicht-germanischen Reitervolks, auf dem Schlachtfeld erschienen.7 Ammianus selbst macht keine konkreten Angaben über die Bewaffnung dieser Reiter. Außer Zweifel steht, dass gotische Krieger die Fähigkeit, zu Pferde zu kämpfen, erworben hatten, bevor sie den Boden des Imperium Romanum in geschlossenen Verbänden betraten. Man hat diese »Verreiterung« als Anpassung an die Kampfesweise der Sarmaten, eines iranischen Reitervolks, erklärt, das mit gepanzerten Reitern in den Kampf zog und in unmittelbarer Nähe der Goten lebte. Diese Hypothese lässt sich nicht beweisen, kann aber eine gewisse Wahrscheinlichkeit beanspruchen. »Verreiterung« ist jedoch nicht gleichbedeutend mit der Entstehung einer Kavallerie, in der sowohl der Reiter als auch sein Pferd eine Schutzbewaffnung tragen. Welche Rolle gepanzerte Pferde bei den Sarmaten spielten, ist unklar und in der Forschung umstritten; für die Goten kann ihr Einsatz nicht vor dem 6. Jahrhundert nachgewiesen werden. Für die Zeit nach dem Zerfall der hunnischen Dominanz, in der verschiedene gotische Kriegergruppen vor allem auf dem Balkan agierten, gibt es nur spärliche Hinweise auf ihre Bewaffnung und Ausrüstung. In der Schlacht auf den Katalaunischen Feldern im Jahre 451 kämpften gotische Reiter auf hun­nischer 7 Ammianus Marcellinus 31,12,17, lat. und dt. v. Wolfgang Seyfarth, 4 Bde., Berlin-Ost 1968–1971.

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Seite unter der Führung der drei Brüder Valamir, Thiudimir und V ­ idimir. Über die Schlacht am Fluss Nedao (der nicht sicher zu lokalisieren ist) im Jahre 454 berichtet Jordanes in seiner »Gotengeschichte« folgendermaßen: »Denn dort, so glaube ich, muß sich ein bewundernswertes Schauspiel zugetragen haben: Man sah den mit Lanzen kämpfenden Goten, den mit dem Schwert wütenden Gepiden, den Rugier, der Spieße in seiner Wunde zerbricht, den Suaven, der mit dem Stein, den Hunnen, der mit dem Pfeil sich hervortut, den Alanen, der mit schwerer, den Heruler, der mit leichter Bewaffnung zum Kampf schreitet.«8

Es liegt auf der Hand, dass der Autor bemüht war, die verschiedenen, an der Schlacht beteiligten Völkerschaften jeweils durch eine spezifische Waffe zu charakterisieren. Bei den Goten ist dies der contus, die lange Stoßlanze der Reiterei. Diesen Zeugnissen zufolge verfügten also auch die sogenannten pannonischen Goten, aus denen später die Gewaltgemeinschaft Theoderichs hervorging, über eine Kavallerie, die vielleicht sogar dominant war. Diese Annahme wird durch die von Malchos von Philadelpheia, einem oströmischen Geschichtsschreiber, der unter Kaiser Anastasios (491–518) schrieb, überlieferte, freilich polemisch motivierte, Aussage gestützt, Theoderichs Krieger hätten zeitweise pro Kopf zwei bis drei Pferde besessen,9 und erklärt die hohe Mobilität, welche die Goten in dieser Phase bewiesen. Viel besser sind wir über das 6.  Jahrhundert informiert. Prokop erzählt in der Darstellung der »Perserkriege« Justinians, wie eine gotische Reiterabteilung »mit langen, dichtgedrängten Lanzen« eine angreifende persische Abteilung in die Flucht schlägt.10 Diese Goten waren offenbar 540, nach der Kapitulation des gotischen Königs Witigis, in den Dienst des Belisar getreten und wurden nun, da der 532 geschlossene »ewige Friede« zwischen Römern und Persern wieder zerbrochen war, im Osten eingesetzt. Wie in Jordanes’ Darstellung der Schlacht am Nedao treten Goten auch hier als Lanzenreiter in Erscheinung. Dasselbe Bild vermittelt Prokops Bericht über die entscheidende Feldschlacht des gotisch-römischen Krieges, die im Juli 552 an einem Ort namens Busta­ Gallorum bei Taginae (Tadinum) in den Apenninen geschlagen wurde. Auch wenn der Bericht des oströmischen Historiographen viele Fragen unbeantwortet lässt, zeigt er eindeutig, dass König Totila beabsichtigte, die Schlacht durch eine Reiterattacke auf die kaiserlichen Truppen unter dem Befehl des Narses zu entscheiden. Nach Prokop hielt Totila die Fußsoldaten als Reserve zurück und erteilte den angreifenden Reitern den Befehl, »bei dem Kampf weder Pfeile noch sonst eine Waffe, sondern ausschließlich Lanzen zu verwenden«.11 Warum­ 8 Jordanes, Getica 261, hg. v. Francesco Giunta/Antonino Grillone, Rom 1991, übers. v. Hans-Ulrich Wiemer. 9 Malchos, Fragment 18,2, in: Robert C. Blockley, The Fragmentary Classicising Historians of the Later Roman Empire. Eunapius, Olympiodorus, Priscus and Malchus, Bd. 2, Liverpool 1983, S. 402–473. 10 Prokop, Perserkriege 2,18,24. 11 Prokop, Gotenkriege 8,32,6, griech. und dt. v. Otto Veh, München 1966; vgl. 8,32,8.

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Totila diese Taktik wählte, lässt sich lediglich vermuten. Offenbar setzte der König alles auf seine Kavallerie, weil sein Heer den Römern zahlenmäßig unterlegen war. Die gotische Kavallerie sollte die römische Schlachtreihe zersprengen. Der Versuch scheiterte im Pfeilhagel der Römer; 6.000 Goten sollen dabei umgekommen sein. Die am häufigsten zitierte Aussage des Prokop über die gotische Kavallerie ist in ihrer Aussagekraft schwer zu beurteilen. Der Geschichtsschreiber erzählt, König Witigis habe, nachdem Rom 537 in römische Hand gefallen war, alles darangesetzt, diese Stadt zurückzugewinnen. In diesem Zusammenhang behauptet er, Witigis habe nicht weniger als 150.000 Mann aufbieten können, und fügt hinzu, die Mehrzahl von ihnen sei »mitsamt Pferden gepanzert« gewesen.12 Nun lassen die an anderer Stelle glaubwürdig überlieferten Heeres­stärken keinen Zweifel daran, dass die von Prokop genannte Zahl um ein Mehrfaches übertrieben ist. Immerhin wird man seinem Bericht aber doch entnehmen dürfen, dass das Heer des Witigis zu einem erheblichen, vielleicht sogar überwiegenden Teil aus gepanzerten Reitern bestand. Darüber hinaus scheinen auch die Pferde, auf denen diese Reiter saßen, durch eine Art Panzerung geschützt gewesen zu sein. Diese Art von Kavallerie ist für die Goten hier zum ersten Mal belegt. Auf römischer Seite kam sie schon im 4. Jahrhundert zum Einsatz; wie es scheint, nannte man die Reiter cataphractarii, wenn nur sie eine Rüstung­ trugen, und (cataphractarii) clibanarii, wenn auch das Pferd gepanzert war. Spätestens jetzt, eine Generation nach der Eroberung Italiens, hatte die gotische Kavallerie sich der römischen auch hinsichtlich der Schutzbewaffnung weitgehend angeglichen. Das Schwert war die Angriffswaffe für den Nahkampf schlechthin; es gehörte zur Grundausstattung jedes gotischen Kriegers, gleichgültig, ob er zu Fuß oder zu Pferde kämpfte. Nach Prokop war dem Gefolge von Befehlshabern innerhalb von Städten allein das Tragen von Schwertern gestattet.13 Malchos erzählt, wie Goten im kaiserlichen Dienst mitten in der Stadt Arkadiupolis (Lüleburgaz) einen Heermeister in eine Rangelei verwickeln, dann ihre Schwerter ziehen und ihm Kopf und Hände abschlagen.14 Als Theoderich den König der Heruler als Waffensohn adoptierte, schenkte er ihm nach Cassiodor »Pferde, Schwerter und Schilde und die übrigen Instrumente des Krieges«.15 Als Witigis den Goten Italiens verkündete, dass er von einem gotischen Heer zum König erhoben worden war, kleidete Cassiodor den Vorgang in die Worte, Witigis habe die königliche Würde »unter den Schwertern eines Feldzugs« erlangt.16 Die moderne Unterscheidung zwischen Lang- und Kurzschwertern ist im Sprachgebrauch der Spätantike bereits angelegt: Im Lateinischen gibt es für 12 13 14 15 16

Prokop, Gotenkriege 5,16,11. Prokop, Vandalenkriege 4,28,8, griech. und dt. v. Otto Veh, München 1971. Malchos, Fragment 6,2. Cassiodor, Varien 4,2,2, hg. v. Theodor Mommsen, Berlin 1894. Cassiodor, Varien 10,31,1.

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das zweischneidige Langschwert den Terminus technicus spat(h)a, der auch ins Griechische übernommen wurde. Als generische Termini für Kurz- und Langschwert waren in der Spätantike gladius, das zur Zeit der römischen Republik das Kurzschwert des Legionärs bezeichnet hatte, und im Griechischen xiphos gebräuchlich. Im Bibelgotischen dient hairus zur Übersetzung des griechischen Worts machaira, das ein Kurzschwert bezeichnet; daneben begegnet im selben Kontext auch meki. Der archäologische Befund zeigt, dass sowohl einschneidige als auch zweischneidige Schwerter hergestellt wurden, die für den Gebrauch als Hiebwaffe bestimmt waren. Neben den für den Kampfeinsatz hergestellten Blankwaffen gab es auch Prunkschwerter, die vornehmlich demonstrativen Zwecken dienten. Sie waren besonders reich verziert und aus kostbaren Materialien gefertigt. Natürlich legte auch der König selbst ein Schwert an, wenn er sich zum Kampf rüstete. Ennodius bekleidet Theoderich also keineswegs mit Requisiten aus dem Fundus epischer Rüstungsszenen, wenn er ihm folgende Waffen zuschreibt: »Während du nun deine Brust mit schützendem Stahl umgabst, dich mit Beinschienen (ocreae) wappnetest und das Schwert (gladius), den Beschützer der Freiheit, um deine Seite gürtetest, da bestärktest du deine tugendhafte Mutter und deine ehrwürdige Schwester.«17

Ob der König auch im Frieden stets ein Schwert trug, ist freilich weniger klar. Vor dem Beginn der Alleinherrschaft in Italien dürfte er das in der Regel getan haben, denn er war wiederholt in der Lage, einen politischen Gegner durch einen Schwertstreich überraschend zu töten. Dem Rivalen Rekitach, dem Sohn des Theoderich Strabo, durchbohrte er in Konstantinopel auf offener Straße die Seite, Odoaker tötete er im Kaiserpalast von Ravenna durch einen Hieb, der dessen Körper vom Schlüsselbein bis zur Hüfte durchtrennte. Angesichts der Tat­ sache, dass nicht nur Goten, sondern auch römische Senatoren Schwerter trugen, darf man aber vielleicht annehmen, dass Theoderich diese Waffe auch später noch öffentlich getragen hat. Lanze und Speer gehören zum Typus der Stangenwaffen. Lanze soll hier die zum Stoßen, Speer hingegen die zum Wurf gebrauchte Form heißen, für die auch der Name Wurfspieß geläufig ist. Der Sprachgebrauch des Prokop zeigt, dass gotische Krieger sowohl Stoßlanzen als auch Wurfspieße einsetzten, die kürzer und leichter waren. Die Stoßlanze bezeichnet er nur ausnahmsweise mit dem technischen Begriff kontos, meist hingegen als dory, den Wurfspieß als akontion oder doration. Diese Waffen wurden bei Zweikämpfen ebenso eingesetzt wie im Gefecht, und zwar sowohl als Stoß- als auch als Wurfwaffe. Die von Reitern eingesetzte Lanze konnte eine Länge von drei bis viereinhalb Metern haben. Der Schaft bestand aus Holz, die Spitze war aus Eisen gefertigt. Eine Lanze dieser Größe war so schwer, dass sie in der Regel mit zwei Händen ge17 Ennodius, Panegyricus 42, lat. und dt. von Christian Rohr, Hannover 1995.

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führt werden musste. Wie gesehen, beschreibt Jordanes den contus als charak­ teristische Waffe der Goten, die an der Schlacht am Nedao teilnahmen. Jordanes nimmt also eine ethnische Zuordnung der unterschiedlichen Kampfesweisen und Arten der Bewaffnung vor. Seine Schilderung sollte jedoch nicht zu dem Trugschluss verleiten, nur gotische Reiter hätten diese Waffe eingesetzt; sie findet sich vorher und zur selben Zeit auch bei anderen Kriegergruppen. Vor allem gegen Krieger, die eine Körperpanzerung trugen, wirkten Lanzenstöße keineswegs immer tödlich; daher zielte man auf Stellen am Körper, die nicht durch die Rüstung geschützt waren. Ein Leibwächter Belisars namens Sinthues wurde durch einen Lanzenstoß in die Hand, der die Sehnen durchschnitt, außer Gefecht gesetzt, aber nicht getötet. Ein anderer – er hieß Bochas – wurde auf dem Neronischen Feld vor den Mauern Roms von zwölf gotischen Lanzenträgern umzingelt. Die meisten Stöße seien jedoch an seinem Panzer wirkungslos abgeprallt; Verwundungen bewirkten sie nach Prokop nur dann, wenn sie ungeschützte Körperteile trafen.18 Eine Schenkelwunde führte aufgrund starken Blutverlusts schließlich zum Tode. Bei Jordanes heißt es, die Goten, aus denen später die Ostgoten hervorgegangen seien, hätten ursprünglich wie ihre Nachbarn das Schießen mit Pfeil und Bogen geübt.19 Das sieht wie eine Rückprojektion viel späterer Verhältnisse aus und muss dennoch nicht falsch sein. Tatsächlich gibt es zahlreiche Belege für Bogenschützen in den Heeren Theoderichs und seiner Nachfolger. Gotische Bogenschützen kämpften stets zu Fuß, so behauptet Prokop, der in dieser Kampfesweise einen fundamentalen Unterschied zum Heer des Kaisers sieht, dessen Bogenschützen beritten waren.20 In der Einleitung zu seiner Darstellung der Perserkriege Kaiser Justinians rühmt Prokop die gepanzerten und berittenen Bogenschützen als die große kriegstechnische Innovation seiner Zeit. Ihm zufolge verschafften sie dem Heer des Kaisers einen entscheidenden Vorteil gegenüber den gotischen Kriegern. Seine Darstellung der gotischen Kampfesweise ist freilich nicht völlig überzeugend, denn Prokop unterschlägt, dass Bogenschützen zu Fuß durchaus in der Lage waren, eine Kavallerieattacke abzuwehren, solange sie ihre Formation zu halten vermochten, da die Reiter mit ihren Pferden eine größere Trefferfläche boten und sich gegenseitig nicht im selben Maße decken konnten. Der beste Beweis dafür ist, dass es Totilas Lanzenreitern in der Schlacht bei den Busta Gallorum eben nicht gelang, die Reihen des römischen Fußvolks zu durchbrechen. Auch oströmische Kriegsschriftsteller hielten den Kampf von Infanterie gegen Kavallerie darum keineswegs für aussichtslos. Der taktische Vorteil war also weniger groß, als Prokop behauptet.

18 Prokop, Gotenkriege 6,2,22–23 (Bochas); 6,4,15 (Sinthues). 19 Jordanes, Getica 43. 20 Prokop, Perserkriege 1,1,13–15.

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2.2. Schutzwaffen

Die Schutzwaffe par excellence war der Schild, der offenbar den meisten gotischen Kriegern zur Verfügung stand. Die Sache war den Goten ohne Zweifel bereits bekannt, als sie noch jenseits der unteren Donau ansässig waren, denn Schilde waren in der Eisenzeit im gesamten nördlichen Europa verbreitet; zudem kommt das gotische Wort skildus bereits in Wulfilas Bibelübersetzung vor. Größe und Form variierten in Abhängigkeit von den Angriffswaffen, vor denen sie Schutz bieten sollten. Die Schilde der Infanterie waren in der Regel größer als diejenigen der Kavallerie. Alle verfügten über einen zentralen Handgriff, der durch einen aus Metall gefertigten Buckel geschützt war. Prokop bezeichnet die Schilde der Goten zumeist mit dem Wort aspis, das keine Rückschlüsse auf die Form oder Größe zulässt, weil es sowohl runde und ovale Schilde, die bei den Römern clipeus hießen, als auch rechteckige Schilde bezeichnen kann, für die der Terminus technicus scutum geläufig war. Dass die Goten in größerem Umfang große rechteckige Schilde verwendeten, die für den Kampf zu Pferde ungeeignet waren, ist jedoch unwahrscheinlich. Prokop hält es für bemerkenswert, dass Goten, die einen Handstreich auf die Engelsburg in Rom versuchten, sich durch »Türen« (thyrai) gedeckt hätten, die so groß gewesen seien wie die Schilde (thyreoi) der Perser; demnach waren die Schilde der Goten normalerweise kleiner. Vermutlich bevorzugte man die ovale Form, die in der Spätantike auch auf römischer Seite üblich war. Aus Prokops Darstellung geht weiterhin hervor, dass gotische Fußsoldaten in der Lage waren, als geschlossene Einheit hinter ihren Schilden Deckung zu finden.21 Schilde wurden in der Regel aus Holz gefertigt und mit Leder oder Leinen­ bespannt, um die Oberfläche zu stabilisieren. Aufgrund der Vergänglichkeit dieser Materialien haben sie sich nur selten erhalten. Nachweise von Schilden im archäologischen Fundgut gelingen in der Regel nur über die metallenen Bestandteile wie Schildbuckel, Beschläge, Nieten und Nägel. Im 5. und 6. Jahrhundert kommen vor allem runde und elliptische Schilde vor. Ob gotische Krieger ihre Schilde bemalten und, falls ja, mit welchen Zeichen oder Ornamenten, ist unbekannt. Schilde dienten aber nicht bloß zum Schutz des eigenen Körpers oder zum Stoßen gegen den Feind. Vielmehr wurden sie auch benutzt, um akustische Zeichen zu geben. Jordanes berichtet, die Goten hätten ihren in der Schlacht auf den Katalaunischen Feldern (451) gefallenen König ­Theoderid unter dem Klang von Waffen auf dem Schlachtfeld bestattet.22 Bei Prokop liest man, wie gotische Soldaten mit ihren Waffen Lärm machen, um Zurufe zu übertönen, durch die Römer, die den Schutz der Mauern verlassen hatten, vor einem Angriff gewarnt werden sollten.23

21 Prokop, Gotenkriege 5,29,35; vgl. 8,5,19. 22 Jordanes, Getica 215. 23 Prokop, Gotenkriege 6,23,22.

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Helme gewährten Schutz vor Schlägen und Stößen gegen den Kopf. Da die Goten schon vor ihrem Eindringen ins Imperium Romanum von kriegerischen Nachbarn umgeben waren, die Helme verwendeten, war ihnen die Sache zweifellos schon im 3. Jahrhundert bekannt. Das Wort hilms ist bereits im Bibelgotischen nachweisbar. In der Schlacht bei Adrianopel im Jahre 378 trug zumindest ein Teil der gotischen Krieger eine Art Helm, die Ammianus als galea bezeichnet.24 Prokop erwähnt Helme gotischer Krieger an drei Stellen; stets geht es um prominente Goten, die über die Grenzen des eigenen Lagers hinaus bekannt waren: einer wird ausdrücklich als hochangesehen bezeichnet; der zweite erlangte durch einen Zweikampf Berühmtheit; der dritte ist König Totila.25 Prokop hat den Helm jedoch offenbar nicht als standardisierten Bestandteil der Ausrüstung, sondern als Statusindikator aufgefasst. Diese Deutung wird durch den archäologischen Befund gestützt: Man hat in Mittelitalien, einem der Siedlungsschwerpunkte der Goten, Reste dreier Helme gefunden, die aus der Gotenzeit zu stammen scheinen. Alle drei gehören dem Typus des Spangenhelms an, der aus verschiedenen Metallen gefertigt wurde; er kam in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts auf und war bis ins frühe 7. Jahrhundert hinein weit verbreitet. Ein Spangenhelm besteht aus folgenden Kom­ ponenten: der Helmkalotte, die aus vernieteten Spangen zusammengesetzt ist, den daran befestigten Wangenklappen und einem Nackenschutz. Häufig ist zudem ein Nasenschutz montiert. Die beiden besser erhaltenen Exemplare aus dem gotischen Italien werden einem Subtypus zugeordnet, der nach einem Fundplatz im Elsass Baldenheim benannt ist. Der eine stammt aus einem Schatzfund, den man 1896 in der Umgebung von Montepagano, einem Ort in der Provinz Teramo (in den Abruzzen), gemacht hat. Der Helm von Montepagano gehört zu den kostbarsten Exemplaren, die uns überliefert sind, denn die Helmspangen aus Kupfer sind ebenso vergoldet wie die sechs Eisenblätter auf der Stirnseite; diese Eisenblätter sind obendrein mit figürlichen Darstellungen verziert. Man sieht einen Mann, der ein Kreuz trägt, aber auch einen, der gegen Eber kämpft, mehrfach Adler mit Fischen, aber auch andere Tiere (darunter Löwe und Pferd)  sowie verschiedene Gerätschaften. Der zweite Helm wurde 1922 in der Nähe des Ortes Torricella Peligna (in der Provinz Chieti) in einem spätantiken Gebäude unter aufgeschichteten Ziegeln und Steinen gefunden, ist aber in einem viel schlechteren Zustand. Was­ erhalten geblieben ist  – das Spangengerüst mit Zimierhülse sowie die beiden Wangenklappen –, reicht aber aus, um zu erkennen, dass auch dieser Helm vergoldet und mit Ornamenten versehen war. Schließlich fand sich vor 1938 in einer Grotte bei dem Ort Frasassi in der Provinz Ancona die Wangenklappe eines dritten Spangenhelms, die anscheinend ebenfalls vergoldet war und Reste 24 Ammianus Marcellinus 31,13,3. Aufgrund des untechnischen Sprachgebrauchs des Ammianus ist unklar, ob hier tatsächlich Helme aus Leder gemeint sind. 25 Prokop, Gotenkriege 5,23,9; 7,4,21 (Valaris); 8,31,18 (Totila).

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Abb. 2: Spangenhelm, Typ Baldenheim (Inv.-Nr.: W 1001) © Deutsches Historisches Museum, Berlin, S. Ahlers.

eines Schuppendekors trug. Die Träger dieser Helme waren Männer, die von weitem erkennbar sein wollten; die Demonstration ihres Status war ihnen mindestens ebenso wichtig wie der Schutz ihres Schädels. Man wird also nicht davon ausgehen dürfen, dass jeder gotische Krieger einen Helm aus Metall trug. Eher wird man zu der Annahme neigen, dass nur die Panzerreiter über dieses teure Ausrüstungsteil verfügten. Wer die für seine Anschaffung erforderlichen Mittel nicht aufzubringen vermochte, könnte seinen Kopf freilich durch eine Kappe aus Leder oder Filz geschützt haben, doch ist diese Schutzbewaffnung archäologisch schwer nachweisbar. Bereits Wulfila stand mit brunjo ein gotisches Wort zur Verfügung, das den Brustpanzer bezeichnet. Unter den Gedichten des Mailänder Klerikers E ­ nnodius findet sich ein Epigramm, das eine Schale beschreibt, auf der ein gotischer Reiter als Sieger dargestellt war: Das Pferd stand auf den Hinterbeinen, der Reiter hielt

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in der Rechten die Siegesgöttin und trug einen Brustpanzer.26 Prokop erwähnt mehrfach gotische Krieger, die eine Körperpanzerung trugen.27 Zugleich deutet seine Ausdrucksweise aber darauf hin, dass keineswegs alle in dieser Art und Weise geschützt waren. So spricht er etwa davon, dass Belisar »einen der Goten, welche gepanzert waren und die Führung des Heeres innehatten«, durch einen Pfeilschuss tödlich verwundete.28 An zwei anderen Stellen gehören Brustpanzer und Helm zur Beschreibung prominenter Goten.29 Nur einmal begegnet einem die Erwähnung einer Panzerung bei einem Goten, den Prokop nicht gekannt zu haben scheint.30 Die Behauptung, fast alle Soldaten, die König Witigis gegen die Römer aufgeboten habe, seien mitsamt ihren Pferden gepanzert gewesen, dürfte daher übertrieben sein. Die vagen Angaben des Prokop über die Art der Panzerung können nur durch Kombination mit archäologischen Funden präzisiert werden. In der Spätantike waren demnach metallene Schuppen- und Kettenpanzer sehr verbreitet. Der im ­»Panegyricus« des Ennodius erwähnte, aus Stahl gefertigte Panzer Theoderichs unterschied sich folglich nicht grundsätzlich von der Schutzbewaffnung der Mehrheit seiner Gefolgsleute.31 Zur vollständigen Panzerung der Lanzenreiter im römischen Heer gehörten auch Beinschienen. In der »Notitia Dignitatum«, einem um 425 abgeschlossenen Verzeichnis ziviler und militärischer Ämter beider Teile des römischen Reiches, werden sie unter den Insignien des magister officiorum gezeigt, dem die Leitung der staatlichen Waffenfabriken oblag. Wie verbreitet Beinschienen unter den gotischen Reitern waren, ist schwer zu sagen, denn Prokop spricht bei den Goten stets nur allgemein von ihrer Panzerung. Der einzige Beleg stammt aus dem »Panegyricus« des Ennodius und bezieht sich auf Theoderich.32 Ob man diese Beschreibung verallgemeinern darf, steht dahin. Dass gotische Fußsoldaten Beinschienen trugen, ist aber ziemlich unwahrscheinlich. In der voritalischen Phase waren gotische Kriegergruppen äußerst mobil. Wenngleich sie nicht selten vorübergehend in Städten Quartier nahmen, insbesondere im Winter, waren sie doch sehr häufig mit »Sack und Pack« unterwegs. War mit feindlichen Angriffen zu rechnen, brachten sie ihre Angehörigen und ihre gesamte Habe in Sicherheit, indem sie eine Wagenburg errichteten. ­Ammianus erwähnt an zwei Stellen solche Wagenburgen, die er mit ihrem gotischen Namen carrago bezeichnet.33 Unter Berufung auf römische Späher erzählt der Geschichtsschreiber, die Wagen der Goten seien »in Form eines wohlgedrechselten Kreises aufgestellt« gewesen.34 Den Soldaten des Kaisers Theodosius sol26 27 28 29 30 31 32 33 34

Ennodius, Carmina 2,18, hg. v. Friedrich Vogel, Berlin 1885. Prokop, Gotenkriege 5,16,10; 5,22,4; 5,23,9 + 11; 6,5,14; 7,4,21. Prokop, Gotenkriege 5,22,4. Prokop, Gotenkriege 5,23,9 + 11; 7,4,21 (Valaris). Prokop, Gotenkriege 6,5,14. Ennodius, Panegyricus 42. Ennodius, Panegyricus 42. Ammianus Marcellinus 31,7,7. Ammianus Marcellinus 31,12,11.

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len 377 nach einer Schlacht mit gotischen Verbänden 4.000 Wagen in die Hände gefallen sein.35 Aus der balkanischen Periode der gotischen Kriegergruppen berichtet Malchos, dass es den Römern im Jahre 479 gelungen sei, den Tross Theoderichs zu erbeuten; dabei seien 5.000 Goten gefangen und 2.000 Wagen erbeutet worden.36 Da der den Kriegern in einigem Abstand folgende Tross zuvor durch den von den Römern absichtlich herbeigeführten Einsturz einer Brücke isoliert worden war, dürfte er damals vollständig in römische Hände gefallen sein. Anders war die Situation nach der Eroberung Italiens. Gotische Krieger waren nun an festen Standorten, in Festungen und in Städten, stationiert. Die Besatzungen von Städten hatten jeweils einen eigenen Kommandanten, der im Verteidigungsfall die Abwehr des Feindes sowie die Versorgung der Bevölkerung garantieren sollte. In dieser Phase eigneten sich die Goten Theoderichs militärische Techniken an, die sie zuvor noch nicht beherrscht hatten. Zu diesen Techniken gehörte neben dem Bau von Kriegsschiffen die Konstruktion von Torsionsgeschützen und Belagerungstürmen. Maschinen dieser Art, die bei beweglicher Kriegführung nur wenig Nutzen stiften konnten, kamen erstmals zum Einsatz, als die Goten versuchten, das von Belisars Truppen besetzte Rom zurückzuerobern. Auch nach römischem Vorbild mit Wall, Graben und Palisade befestigte Lager wären in den Jahren hoher Mobilität auf dem Balkan eher hinderlich gewesen. Ausdrücklich belegt sind nach römischer Art befestigte Lager nur anlässlich der ersten Belagerung Roms (535/6). Damals schloss Witigis die Stadt mit einem Ring von sieben Lagern ein, deren Anlage von Prokop ausführlich beschrieben wird; demnach blieb die Befestigung dieser Lager durch Wall, Graben und Palisade in keiner Hinsicht hinter der von Kastellen zurück.37 Es ist fraglich, ob man diese aufwändige Praxis fortgesetzt hat, nachdem Witigis die Belagerung Roms aufgegeben hatte. Zwar bezeichnet Prokop ein gotisches Lager in Portus, das die Römer 546 einnehmen konnten, als »Schanze«, doch muss dieser Ausdruck nicht unbedingt ein befestigtes Lager meinen.38 Immerhin ließ Teja 552 die Brücke über den Fluss Drakon, der das gotische Lager am Vesuv vom römischen trennte, durch hölzerne Türme sichern, auf denen Pfeilgeschütze standen.39

3. Herstellung und Beschaffung von Waffen Die pannonischen Goten waren seit der Mitte des 5. Jahrhunderts hinreichend gerüstet, um den kampfkräftigsten Verbänden des kaiserlichen Heeres Paroli zu bieten. Woher stammte ihre Ausrüstung? Nur für die italische Periode in 35 Zosimos, Neue Geschichte 4,25,2, übers. v. Otto Veh, Stuttgart 1990. 36 Malchos, Fragment 20. 37 Prokop, Gotenkriege 5,19,1–4; 5,19,11 f. Prokop spricht daher häufig von den »Schanzen« und »den Leuten aus den Schanzen«: z. B. Gotenkriege 5,23,23. 38 Prokop, Gotenkriege 7,19,26–28. 39 Prokop, Gotenkriege 8,35,9.

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der Geschichte dieser Gewaltgemeinschaft bieten die Quellen brauchbare Informationen. Im Reich Theoderichs wurde zumindest ein erheblicher Teil der Krieger vom König mit Pferden und Waffen ausgestattet. König W ­ itigis war nach Prokop in der Lage, ein ganzes Heer mit Waffen und Pferden auszurüsten.40 Theoderich und seine Nachfolger kauften Pferde für ihre Soldaten, die von römischen Senatoren gezüchtet wurden.41 Bei Cassiodor ist ein Formular für die Bestellung eines Vorstehers von Waffenschmieden überliefert, die königlicher Kontrolle unterlagen und vom Prätoriumspräfekten Lebensmittel erhielten.42 Ein Teil  der Forschung hat aufgrund dieser Angaben angenommen, dass das in der »Notitia Dignitatum« beschriebene System staatlicher Waffenfabriken unter Theoderich noch in voller Funktion gewesen sei. Nach Ausweis der­ »Notitia« hatte es um 425 allein in Italien nicht weniger als sieben staatliche Rüstungsbetriebe gegeben: eine Manufaktur in Verona, die Waffen und Aus­ rüstung jeder Art herstellte, sowie sechs weitere, die auf die Herstellung bestimmter Teile spezialisiert waren: zwei auf Schilde in Verona und Cremona, eine auf Brustpanzer in Mantua, eine auf Schwerter in Lucca, eine auf Pfeile in Concordia sowie eine auf Bögen in Pavia. Zudem sind eine Waffenfabrik in Salona und eine Fabrik für Schilde, Sättel und Waffen in Sirmium verzeichnet.43 Ob tatsächlich eine ungebrochene Kontinuität vom frühen 5.  ins 6.  Jahrhundert hinein bestand, ist jedoch fraglich, auch wenn die armifactores (»Waffen­ hersteller«) weiterhin staatlicher Kontrolle unterlagen und einen Naturallohn bezogen. Da Rang und Titel des Vorstehers der armifactores von Cassiodor nicht spezifiziert werden, während die Leiter von fabricae (staatlichen Manufakturen) den Titel und Rang von tribuni oder praepositi führten, hat Simon James vorgeschlagen, dass die Aufsicht über die Waffenschmiede in Städten, wo weiterhin Waffen produziert wurden, dem Stadtkommandanten als zusätzliche Aufgabe übertragen wurde.44 Dieser, freilich keineswegs zwingenden Deutung zufolge über­dauerte das spätrömische System staatlicher Rüstungsbetriebe das Ende des Kaisertums nur mit beträchtlichen Modifikationen und in reduzierten Dimensionen. Völlig unbekannt ist schließlich, ob es im gotischen Italien neben den staatlichen auch private Waffenfabriken gab, die unter Justinian für das ost­römische Reich belegt sind.45 In der archäologischen Forschung galt es seit den Untersuchungen Joachim Werners lange Zeit als ausgemacht, dass sämtliche Helme des Typus Balden40 41 42 43 44

Prokop, Gotenkriege 5,11,28. Cassiodor, Varien 1,4,17. Cassiodor, Varien 7,18 und 7,19. Notitia Dignitatum Occidentalium 9, 16–39, hg. v. Otto Seeck, Berlin 1876. Simon James, The fabricae. State Arms Factories of the Later Roman Empire, in: Jonathan C. Coulston (Hg.), Military Equipment and the Identity of the Roman Soldiers. Proceedings of the Fourth Roman Military Equipment Conference, Oxford 1988, S. 257–331, hier S. 281–287. 45 Justinian, Novelle 85 (539).

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heim zur Zeit der gotischen Herrschaft in Italien hergestellt wurden.46 Heiko Steuer zog daneben auch das merowingische Gallien als Herstellungsort in Betracht, meinte aber, dass alle Helme dieses Typus »mit Sicherheit aus wenigen zentralen Werkstätten des gotischen oder fränkischen Königs« kämen.47 Diese Deutung lässt sich jedoch kaum noch halten, seit man Exemplare kennt, die tief im Herrschaftsgebiet des römischen Kaisers – in Justiniana Prima (Caričin Grad), Novae (Svištov) und Herakleia Lynkestis (Bitola)  – gefunden wurden. Neuerdings vertritt nun Mahand Vogt die Auffassung, die Helme vom ­Typus Spangenheim seien »in parallel arbeitenden, straff organisierten und überwachten Werkstätten sowohl in oströmischem (z. B. in Byzanz oder Antiochia) als auch in italischem Gebiet« gefertigt worden; sie hätten als Statusabzeichen für Offiziere der kaiserlichen Armee gedient und Offiziere, die außerhalb des ­Imperium Romanum rekrutiert wurden, hätten sie nach Ende der Dienstzeit in ihre Heimat mitgenommen.48 Es muss jedoch als durchaus zweifelhaft gelten, ob die Ähnlichkeit der handwerklichen Ausführung Rückschlüsse auf die Lokalisierung und Organisation der Produktionsstätten zulässt. Ebenso wenig lassen sich methodisch abgesicherte Aussagen über die Art und Weise treffen, wie diese Helme sich verbreiteten. Man hat sie ganz überwiegend außerhalb von Italien gefunden, am Ober- und Niederrhein, in Burgund, in Pannonien und in Dalmatien. Der Helm von Montepagano wird einer Werkstatt zugewiesen, die auch Helme produziert habe, die man in Planig (einem Stadtteil von Bad Kreuznach), in Stössen (einer Stadt im Burgenlandkreis) und in Steinbrunn (einem Ort im Burgenland) gefunden hat. Zu Beginn des römisch-gotischen Krieges befanden sich in der Provence und in Venetien sowie an den gefährdeten Grenzen große Waffenvorräte. Theoderich wies den »Provinzgrafen« (comes provinciae) von Dalmatien an, an seine Leute Waffen zu verteilen, die ihm also irgendwie zur Verfügung standen.49 Die Tatsache, dass Theoderich dem »Königsboten« (saio) Nandus auftrug, er solle dafür sorgen, dass sich die Goten für den bevorstehenden Gallienfeldzug bis zu einem festgesetzten Termin »in der üblichen Weise, hinreichend ausgerüstet mit Waffen, Pferden und allen übrigen notwendigen Dingen«50 in Marsch setzten, könnte darauf hindeuten, dass Waffen und Pferde dezentral vorgehalten wurden. 46 Joachim Werner, Zur Herkunft der frühmittelalterlichen Spangenhelme, in: Prähistorische Zeitschrift 34/35 (1949/50), S. 178–193, hier S. 182; Ders., Neues zur Herkunft der frühmittelalterlichen Spangenhelme vom Baldenheimer Typus, in: Germania 66 (1988), S. 521–528. 47 Heiko Steuer, Helm und Ringschwert. Prunkbewaffnung und Rangabzeichen germanischer Krieger. Eine Übersicht, in: Studien zur Sachsenforschung 6 (1987), S. 189–236, hier S. 196. 48 Mahand Vogt, Spangenhelme. Baldenheim und verwandte Typen, Mainz 2006, S. 180–185, bes. S. 181 f. (Zitat). 49 Cassiodor, Varien 1,40,2. 50 Cassiodor, Varien 1,24,2.

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Die Verteilung von Waffen und Pferden war eines der Mittel, mit denen Theoderich seine Gefolgsleute an sich zu binden versuchte, nachdem er und seine Krieger in Italien sesshaft geworden waren. In der Zeit, als die Goten noch eine mobile Kriegergruppe gewesen waren, die zunächst vor allem in Pannonien, später dann auf dem südlichen Balkan umherzog, muss ihre Ausrüstung und Bewaffnung auf andere Weise erfolgt sein. Gewiss dürften die Könige auch schon damals einen Teil der Subsidien, die sie zeitweise vom Kaiser erhielten, in Form von Waffen und Pferden unter ihren Gefolgsleuten verteilt haben. Aber ihre Mittel können schwerlich ausgereicht haben, um Tausende auf diese Weise auszurüsten. Viele Krieger dürften sich daher in dieser Phase selbst ausgerüstet haben. Dabei mögen Beutewaffen eine erhebliche Rolle gespielt haben. Verpflichteten sich gotische Kriegergruppen hingegen vertraglich zum Militärdienst für den Kaiser, so erhielten sie Zugang zu römischen Waffenfabriken und Waffendepots. Gotische Krieger, die ihre Ausrüstung nicht aus römischen Depots und Manufakturen geliefert bekamen, werden sie gegen teures Gold gekauft haben. Wer diese Waffen hergestellt hatte, lässt sich anhand der Schriftquellen indessen nicht beantworten. Dass sich unter den Goten Waffenschmiede aufhielten, ist wahrscheinlich, zumal die Eisenverarbeitung in den Siedlungsgebieten der Goten jenseits der Donau schon im 4. Jahrhundert einen hohen Standard erreicht hatte. Auf dem Balkan und in Italien sind gotische Waffenschmiede jedoch weder archäologisch noch philologisch nachweisbar.

4. Waffen als Bedeutungsträger Die Bewaffnung gotischer Krieger war innerhalb der Waffengattungen Kavallerie und Infanterie zwar der Art nach ähnlich, aber keineswegs einheitlich. Insbesondere Helme, Harnische und Schwerter, aber vielleicht auch Schilde und Lanzen, dürften ziemlich unterschiedlich ausgesehen haben. Da gotische Krieger zudem im Prinzip dieselbe Bewaffnung verwendeten wie kaiserliche­ Soldaten, waren sie von diesen rein äußerlich nur schwer zu unterscheiden. Wenn gotische Krieger mit Soldaten des Kaisers handgemein wurden, dürfte sich die Unterscheidung von Freund und Feind daher ähnlich schwierig gestaltet haben wie beim Kampf gegen Abtrünnige aus den eigenen Reihen. Prokop beschreibt das Problem anlässlich eines Gefechts zwischen kaiserlichen Soldaten, die von dem Feldherrn Germanos angeführt wurden, und Meuterern unter dem Befehl des Stotzas: »Beide Seiten vermischten sich derartig, dass die Meuterer bei der Verfolgung von Feinden von anderen Leuten ihrer eigenen Seite ergriffen wurden und starben. Die Verwirrung erreichte schließlich ein großes Ausmaß […]. Keine der beiden kämpfenden Parteien war für sich selbst oder für die anderen erkennbar. Denn alle bedienten sich einer Sprache und derselben Ausrüstung mit Waffen, und auch hinsichtlich Gestalt, Kleidung oder sonstwie gab es keine Unterschiede. Deshalb fragten die Solda-

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ten des Kaisers auf Anordnung des Germanos jeden, den sie fassen konnten, wer er sei. Wenn er dann antwortete, er sei ein Soldat des Germanos, forderten sie ihn auf, die Losung des Germanos zu nennen; wenn er diese aber nicht zu nennen vermochte, ­töteten sie ihn auf der Stelle.«51

Auch im römisch-gotischen Krieg mussten Wege gefunden werden, um gotische Krieger und kaiserliche Soldaten zu unterscheiden. Tatsächlich berichtet Prokop, dass Goten, die auf einen ihnen unbekannten Waffenträger trafen, nach dem Namen fragten, um festzustellen, ob es sich um Freund oder Feind handelte.52 Bei der gotischen Infanterie mag zudem die Bemalung des Schilds die Zugehörigkeit des jeweiligen Trägers zu einer bestimmten Einheit signalisiert haben, wie das auf römischer Seite der Fall war. Ob gotische Reitereinheiten ihre Lanzen mit Fähnchen schmückten, die eine einheitliche Farbe hatten, wie es die spätrömische Kavallerie getan zu haben scheint, ist ungewiss, da solche Fähnchen von Prokop niemals erwähnt werden. Im »Militärhandbuch« des Maurikios wird empfohlen, die Fähnchen vor der Schlacht abzunehmen, weil sie im Kampf nur hinderlich seien.53 Im Reiterkampf dürften Freund und Feind daher allein an den Feldzeichen der jeweiligen Einheit erkennbar gewesen sein. Der spätrömische Terminus technicus für das Feldzeichen, bandon,54 ist von dem gotischen Wort bandwo abgeleitet; der Mann, der ein solches Feldzeichen in der Schlacht trug, wurde ­bandophoros genannt.55 In einem panegyrischen Gedicht des gallischen Senators Sidonius Apollinaris, das 468 anlässlich des Konsulats des Kaisers Anthemius in Rom vorgetragen wurde, heißt es, die im Illyricum ansässigen Provinzialen hätten aufgehört, sich vor den Drachenfahnen der Goten Valamirs zu fürchten, als der spätere Kaiser Anthemius die römischen Adler dorthin geführt habe.56 Auch wenn die Gegenüberstellung von römischen Adlern und gotischen Drachen wohl anachronistisch ist, lässt die Stelle den Schluss zu, dass Feldzeichen damals auf beiden Seiten gebräuchlich waren. Zu demselben Schluss führt die Angabe des Prokop, die Goten hätten nach einem Gefecht sämtliche Feldzeichen der Römer erbeutet, was niemals zuvor geschehen sei.57 Derselbe Autor berichtet, Goten hätten den römischen Feldherrn Belisar anhand seines Feldzeichens identifiziert.58 Umgekehrt zögerten die Torwachen, als Belisar ohne seine Feldzeichen, zudem verschmutzt und staubig, Einlass in Rom verlangte, weil sie ihn nicht erkannten. Wie Belisar hatte auch Totila seinen Feldzeichen51 52 53 54 55 56

Prokop, Vandalenkriege 4,17,19–22. Prokop, Gotenkriege 7,26,24–27. Maurikios, Strategikon 2,10; 7B,16,Z.5–8; 7B,17,Z.14–16. Prokop, Vandalenkriege 4,2,1. Prokop, Vandalenkriege 4,10,5. Sidonius Apollinaris, Carmina 2,223–225 und 231–232, hg. v. Christian Luetjohann, Berlin 1887. 57 Prokop, Gotenkriege 7,4,32. 58 Prokop, Gotenkriege 6,17,17.

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träger; als dieser 546 vor Rom fiel, entbrannte sogleich ein heftiger Kampf um das Feldzeichen. Dagegen wirkten Waffen im Inneren durchaus distinktiv: Zum einen grenzte das öffentliche Tragen von Waffen die Goten gegenüber den römischen Untertanen ihrer Könige ab, denen dies nur unter besonderen Umständen gestattet war, und machte so die Zugehörigkeit zu einer kriegerischen Elite sichtbar. Waffen und Ausrüstungsteile markierten zum anderen aber auch den Status innerhalb der Kriegergruppen. Ennodius formuliert die Erwartungen seiner Leser, indem er Theoderich zu Beginn der Schlacht an der Adda, nachdem der König Brustpanzer und Beinschienen angelegt und ein Schwert gegürtet hat, folgendermaßen zu Mutter und Schwester sprechen lässt: »Ihr aber schafft kunstvoll ausgearbeitete Gewänder und unter Mühen fein gewebte Stoffe herbei! Geschmückter soll mich die Schlacht empfangen als gewöhnlich die Fes­te. Wer mich nicht in meinem Angriffsgeist erkannt hat, soll mich anhand meines Glanzes einordnen. Meine ehrenvolle Kleidung soll begierige Blicke anlocken: Mein sehr prächtiges Äußeres soll diejenigen anziehen, die es zu schlagen gilt.«59

Die Ausrüstung des Königs erscheint als Festtagsgewand; sie schmückt den König und verleiht ihm Glanz. Sein prächtiges Äußeres soll die Blicke der Feinde auf sich ziehen, indem es ihn von allen anderen unterscheidet. Die Realität blieb hinter dieser Rhetorik nicht zurück: Als König Totila vor Beginn der Schlacht bei Taginae in den freien Raum zwischen den Heeren ritt, trug er nach Prokop eine vergoldete Rüstung; von seiner Kopfbedeckung und seiner Lanze hing »königlicher Schmuck« herab.60 Goldschmuck wurde jedoch keineswegs nur von Königen getragen. Prokop berichtet, dass der Feldzeichenträger Totilas einen goldenen Armreif trug. Als er im Kampf fiel, schlugen Goten seiner Leiche den linken Arm ab, weil sie verhindern wollten, dass sich die Feinde damit brüsten konnten.61 Solche Armreife zu erbeuten brachte demnach Ruhm ein. Die hohe Wertschätzung des Goldschmucks durch die Krieger beider Heere verdeutlicht auch eine Episode aus dem Kampf um Auximum (Osimo): Weil einer der getöteten Goten Goldschmuck trug, stürmte ein kaiserlicher Soldat heran, packte die Leiche beim Haupthaar und versuchte, sie vom Kampfplatz zu zerren, um sie in Ruhe ausziehen zu können. Er ließ sogar dann nicht los, als er selbst von einem gotischen Speer in der Wade getroffen wurde, bis er schließlich von seinen Kameraden weggetragen wurde, weil die Goten zum Gegenangriff ansetzten.62 Waffen stellten also nicht bloß einen materiellen, sondern auch einen symbolischen Wert dar. Das Spoliieren getöteter Feinde war üblich; die Leichen wurden ihrer Rüstung und ihrer Waffen beraubt. Adlige und Könige tausch59 60 61 62

Ennodius, Panegyricus 44. Prokop, Gotenkriege 8,31,17–18. Prokop, Gotenkriege 7,24,23–26. Prokop, Gotenkriege 6,23,36–39.

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ten untereinander kostbare Waffen als Geschenke aus. Cassiodor überliefert ein Schreiben Theoderichs, in welchem dieser sich artig für damaszierte Langschwerter bedankt, die ihm der König der Warnen zum Geschenk gemacht hatte.63 Dieses Schreiben betont neben der funktionalen besonders die ästhetische Qualität der Waffen und zieht daraus ein Kompliment an den Schenkenden. Damit dürfte Cassiodor den Erwartungen des Adressaten entsprochen haben, denn dieser hatte sein Geschenk mit Bedacht ausgewählt, weil er hoffte, den Beschenkten durch die Qualität der Waffen beeindrucken und für sich einnehmen zu können. Die meisten Könige der Goten waren Krieger, die selbst mit in die Schlacht zogen, wo nicht wenige von ihnen fielen. Es ist daher nicht überraschend, dass Theoderich und seine Nachfolger sich häufig, vielleicht immer, bewaffnet darstellen ließen. Das Mosaik im Speisesaal des ravennatischen Palastes ist eingangs bereits erwähnt worden. Agnellus von Ravenna berichtet, dass sich ein bronzenes Reiterstandbild vor dem Palast befand, das dann auf Geheiß Karls des Großen nach Aachen überführt wurde.64 Theoderich trug einen Schild über der linken Schulter, in der erhobenen rechten Hand hielt er eine Lanze. Auch für Rom und Neapel sind bildliche Darstellungen Theoderichs in Form von Mosaiken und Statuen bezeugt, doch fehlen Angaben über ihre Ikonographie.65 Gotische Könige ließen ihr Bild mit Rücksicht auf den Kaiser nur selten auf Münzen prägen, aber wenn es geschah, dann wählten sie die Darstellung als bewaffnete Krieger. Theoderich ist auf dem Medaillon von Morro d’Alba, das zur Verteilung an sein Gefolge bestimmt war, mit Brustpanzer und Feldherrnmantel abgebildet.66 Theodahad und Totila tragen auf Kupfermünzen, die als reguläres Zahlungsmittel dienten, Brustpanzer und Helm.67 Auch im Medium der Literatur wurde das Bild des kriegerischen Königs verbreitet, und auch dabei spielten Waffen eine Rolle. In Ennodius’ Lobrede auf Theoderich findet sich eine Rüstungsszene, wie sie seit Homer in der Helden­ epik üblich war: Der König legt einen eisernen Brustpanzer, Helm und Schwert sowie ein glänzendes, aus Stoff gewebtes Kleidungsstück an, bevor er auf seinem Pferd in den Kampf gegen Odoaker stürmt.68

63 Cassiodor, Varien 5,1. 64 Agnellus von Ravenna, Bischofsbuch 94. 65 Prokop, Gotenkriege 5,24,22–27 (Mosaik in Neapel); Isidor von Sevilla, Gotengeschichte 39, übers. v. David Coste, Leipzig 1910; vgl. Prokop, Gotenkriege 7,20,29; Cassiodor, Varien 8,2,5. 66 Michael A. Metlich, The Coinage of Ostrogothic Italy from A. D. 476 with a Die Study of Theodahad Folles by E. A. Arslan and M. A. Metlich, London 2004, S. 15 f., 83 Nr. 3 mit Taf. I, Nr. 3. 67 Ebd., Taf. X, Nr.  89a+b (Theodahad); Nr.  97a+b; Nr.  98a+b; Nr.  99 (Totila); Taf. A-F (Theodahad). 68 Ennodius, Panegyricus 42–44.

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Abb. 3: Goldmultiplum Theoderichs des Großen, Galvanoplastische Nachbildung nach dem Original im Museo Nazionale Romano, Münzkabinett der Staatlichen Museen zu Berlin, Objektnummer 18258469, Aufnahme durch Reinhard Saczewski.

Abb. 4: Kupfermünze Theodahat, Münzkabinett der Staatlichen Museen zu Berlin, Objektnummer 18201447, Aufnahme durch Lutz-Jürgen Lübke (Lübke und Wie­demann).

Abb. 5: Kupfermünze Totila, Münz­ka­ binett der Staatlichen Museen zu Berlin, Objektnummer 18201449, Aufnahme durch Lutz-Jürgen Lübke (Lübke und Wiedemann).

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5. Zusammenfassung Bewaffnung und Ausrüstung waren im 6. Jahrhundert bei Römern und Goten sehr ähnlich. Auf beiden Seiten dominierte die Kavallerie. Gotische und kaiserliche Reiter schützten sich durch Helm, Harnisch und Schild; sie führten Schwerter und Lanzen. Im Gegensatz zu ihren kaiserlichen Gegnern waren die gotischen Reiter allerdings keine Bogenschützen. Die gotischen Bogenschützen kämpften zu Fuß. Weil Bewaffnung und Kampfesweise auf beiden Seiten ähnlich waren, war es üblich, dem gefallenen Gegner seine Rüstung zu rauben, um sie dann selbst zu tragen. Zugleich war diese Ähnlichkeit eine Voraussetzung dafür, dass nicht nur ganze Truppenteile, sondern auch einzelne Soldaten leicht die Seiten wechseln und in das Heer der anderen Seite eintreten konnten. Über die Art und Weise, wie gotische Krieger zu Waffen gelangten, bevor Theoderich Italien eroberte, wissen wir sehr wenig. Beschafft wurden sie vermutlich aus ganz verschiedenen Quellen: durch Kauf bei gotischen Handwerkern, durch Beute und Plünderung, von römischen Händlern oder durch Lieferungen aus römischen Waffendepots oder Fabriken. Die Krieger dürften sich zum Teil selbst ausgerüstet haben, zum Teil aber auch Waffen von ihren Anführern erhalten haben, insbesondere dann, wenn diese als foederati an den Kaiser gebunden waren und daher Anspruch auf Subsidien hatten. Die Bewaffnung und Ausrüstung gotischer Krieger war derjenigen kaiserlicher Soldaten der Art nach sehr ähnlich und im Aussehen ebenso uneinheitlich wie diese. Auf beiden Seiten dominierten gepanzerte Lanzenreiter; auf beiden Seiten wurden in der Regel Lanzen, Schwerter sowie Pfeil und Bogen als Angriffswaffen verwendet. Von den Soldaten des römischen Kaisers waren gotische Krieger daher äußerlich kaum zu unterscheiden. Bewaffnung und Ausrüstung spielten folglich für die Unterscheidung zwischen Freund und Feind kaum eine Rolle, wenn gegen Soldaten des Kaisers gekämpft wurde. Diese Funktion wurde offenbar vor allem durch Fahnen erfüllt. Hingegen dürften fränkische und gotische Krieger sich schon von weitem erkannt haben, denn bei den Franken waren Lanzenreiter und Bogenschützen bedeutungslos. Im gotischen Italien, wo Römer per definitionem Zivilisten waren, markierte das Tragen von Waffen auf sichtbare Art und Weise die Zugehörigkeit zur ethnisch definierten Kriegerklasse der Goten, auch wenn ein striktes Waffenverbot für Zivilisten nicht durchgesetzt werden konnte. Zugleich markierte die Qualität von Bewaffnung und Ausrüstung den Status eines Kriegers. Diese Feststellung gilt sowohl für den Status des einzelnen Kriegers als auch für die Reputation der Waffengattungen Kavallerie und Infanterie. Im Reich Theoderichs und seiner Nachfolger nahm die distinguierende Wirkung von Pferden und Waffen jedoch ab, weil der König sehr viele Goten damit ausgestattet zu haben scheint. Im Krieg gegen das Heer Justinians lässt sich auf gotischer Seite eine Reihe militärischer Innovationen beobachten, die als Aneignung römischer Technologie und Technik zu erklären sein dürften: das Errichten befestigter Lager,

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der Bau einer Flotte, der Einsatz von Wandeltürmen und Torsionsgeschützen. Wahrscheinlich ist auch die erstmals unter Witigis belegte Panzerung gotischer Kavalleriepferde so zu deuten. Es scheint unter Theoderich demnach zu einer Art militärischer Akkulturation gekommen zu sein. Allerdings zeitigte der Einsatz dieser neuen Kriegsgeräte nicht die gewünschte Wirkung; im Belagerungskrieg und im Seekrieg fehlte das Know-how, um mit Maschinen erfolgreich gegen Soldaten des Kaisers zu kämpfen. Schließlich ist festzustellen, dass Waffen und Ausrüstung im Königreich Theoderichs und seiner Nachfolger eine große Rolle für die königliche Repräsentation spielten. Theoderich ließ sich vor allem in seiner Residenz Ravenna, aber keineswegs nur dort in Form von Statuen und Bildern als tüchtiger Krieger darstellen. Seine Nachfolger verbreiteten dieses Bild auch durch Münzen. Das Bild des kriegerischen Königs wurde aber auch im Medium der Literatur propagiert; dabei eigneten sich Angehörige der römischen Oberschicht wie Ennodius oder Cassiodor die Selbstdarstellung des königlichen Hofes an und wirkten selbst an der Gestaltung des public image gotischer Könige mit.

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Das Ende fiktiver Gewaltgemeinschaften – das Ende eines Erzählens von Gewaltgemeinschaften Gewaltgemeinschaften sind im höfischen Roman meist nur von kurzer Lebensdauer: Nichthoheitliche Gruppierungen, die durch ihr Gewalthandeln Ordnungen stören und höfische Idealität provozieren, dienen in dieser in adeligem Auftrag entstandenen Literaturform oft als Bewährungsaufgaben für einen Helden; ein rascher Sieg über sie stellt ihn als herausragenden Verteidiger höfischer Ordnung heraus. Die Gruppe (statt der Einzelperson) macht Räuber (wie in Hartmanns »Erec«),1 Piraten (wie in Albrechts »Jüngerem Titurel«)2 oder gewalttätige Aussätzige (wie in Eilharts »Tristrant«)3 zu besonders bedrohlichen Gegnern; trotzdem bleiben sie im Aventürenroman als Etappensieg des Helden eher marginal auf dem Weg zu »seiner« eigentlichen Aventüre, die oft im Kampf gegen ein negatives Spiegelbild seiner selbst, den Erzfeind seiner Familie oder eine Inkarnation des Bösen besteht. Ähnliches gilt für fremdartige Völker, die wegen ihrer ungewöhnlichen, höfischen Normen widersprechenden Kampftechniken beinahe als Gewaltgemeinschaften wahrgenommen werden, wie etwa die Kranichhäupter im »Herzog Ernst«4 oder die Amazonen in Herborts »Liet von Troye«.5 Sie werden als bedrohliche Gegner relativ schnell von der Bildfläche entfernt. Umgekehrt können insbesondere in der Heldenepik oder Chanson de geste Gewaltgemeinschaften als kurzfristig gebildete Gruppe von Verschwörern auftreten und den Tod des Protagonisten herbeiführen – wie die Gruppe um Genelun und Blanscandiz im »Rolandslied«6 oder die Gruppe um Hagen im »Nibelungenlied«.7 Die Gewaltgemeinschaft wird in 1 Hartmann von Aue, Erec, hg. v. Manfred Günter Scholz, übers. v. Susanne Held, Frankfurt a. M. 2004, V. 3115–3234 und V. 3291–3399. Im »Erec« Hartmanns finden wir gar Räuber, die sich in ritterlicher Manier artikulieren können und ein offensichtlich tieferes Verständnis höfischer Kultur besitzen. Vgl. dazu Will Hasty, Daz prîset in, und sleht er mich. Knighthood and Gewalt in the Arthurian Works of Hartmann von Aue and Wolfram von Eschenbach, in: Monatshefte 86 (1994), S. 7–21, hier S. 9. 2 Albrecht, Jüngerer Titurel, Bd.  II /1, hg. v. Werner Wolf, Berlin 1964, Str. 2718–2786: gay­ lotten. 3 Eilhart von Oberge, Tristrant, hg. v. Franz Lichtenstein, Straßburg 1877, V. 4256–4325. 4 Herzog Ernst, hg. und übers. v. Bernhard Sowinski, Stuttgart 1998, V. 2177–3882. 5 Herbort von Fritslar, Liet von Troye, hg. v. Karl Frommann, Leipzig 1837, V. 14489–14546. 6 Pfaffe Konrad, Rolandslied, hg. und übers. v. Dieter Kartschoke, Stuttgart 1993, V. 1918–1991. 7 Das Nibelungenlied nach der Ausgabe von Karl Bartsch, hg. v. Helmut de Boor, Wiesbaden 1979, Str. 864–876.

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diesem Fall als Ausdruck einer gestörten Ordnung mit fatalen Auswirkungen wahrgenommen. Anders verhält sich dies in den seltenen Fällen, in denen der Protagonist und Sympathieträger des intendierten adeligen Publikums selbst zu einem Mitglied einer Gewaltgemeinschaft wird. Eine solche Konstruktion setzt eine grundlegende Störung des einfachen Bilds von der Ordnung schaffenden und deshalb gegen solche Gruppen zu verteidigenden Fürsten- oder Königsherrschaft voraus. Dies ist der Fall in den drei Texten, die im Zentrum der drei germanistisch-mediävistischen Projekte der Forschergruppe standen: Im »Prosalancelot«8 mutieren die Ritter von Artus’ Tafelrunde (ursprünglich Repräsentanten regulierter hoheitlicher Gewalt) zu einer Gewaltgemeinschaft, bedingt durch eine Krise des Artushofs und die Notwendigkeit der Selbstbehauptung. Im »Roman der Lorreinen«9 ist die zur Formierung einer Gewaltgemeinschaft führende Krise des (fast) idealen lothringischen Adelshauses nicht nur verstetigt, sondern auf einen dauerhaften Gegner bezogen: das Haus Bordeaux. Dass auch sein Reich in einer tiefgreifenden, Gewaltformierungen hervorrufenden Krise steckt, weiß Karl der Große in »Karl und Ellegast«10 gar nicht. Er erfährt es erst, nachdem er von Gott aufgefordert worden ist, sich einer Räuberbande anzuschließen. Wenn freilich eine Gewaltgemeinschaft im Kern mit der herrschenden Gesellschaft (im Sinne einer strukturgebenden Ordnung) übereinstimmt und aus einer Krise derselben zu deren Selbstbehauptung entstanden ist, kann sie nur aufgelöst werden, wenn entweder die Gesellschaft bzw. Ordnung selbst oder aber die Krise sich auflöst. Für einen Roman, dessen Kern im Erzählen von der Krise besteht und der um die entsprechende Gesellschaft kreist, bedeutet dies freilich, dass damit auch das Ende des Erzählens besiegelt ist. Um diese Vorannahme zu überprüfen, wird im Folgenden nach den Handlungs- und Erzählenden der untersuchten Texte11 sowie nach dem Ende der in ihnen beschriebenen Gewaltgemeinschaften gefragt.

8 Verwendete Ausgabe: Prosa-Lancelot, hg. v. Reinhold Kluge, übers., komm. und hg. v. Hans-Hugo Steinhoff, 5 Bde., Frankfurt a. M. 1995–2004. 9 Das Projekt sieht eine Neuedition der Fragmente nach den Handschriften vor. Hier wird zunächst direkt nach den einzelnen Handschriften-Fragmenten zitiert. 10 Verwendete Ausgabe: »Karel ende Elegast« und »Karl und Ellegast«, hg. und übers. v. Bernd Bastert u. a., Münster 2005. 11 Vgl. hierzu die Habilitation von Hanno Rüther, Grundzüge einer Poetologie des Textendes in der deutschen Literatur des Mittelalters, Heidelberg 2017 (im Druck).

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1. Ende einer Gewaltgemeinschaft – Ende einer Textsorte: »Prosalancelot« Der Artushof ist in der »Historia Regum Britanniae« des Geoffrey of Monmouth (1136) in die Literatur eingeführt, als eine Gruppe von Rittern, die nicht nur die Macht des Artus unterstützen, sondern vor allem auch Ausdruck vorbildlicher höfischer Kultur sind – einheitlich gekleidet (IX , 11).12 Die bald darauf entstandenen Artusromane betonen hingegen weniger die Einförmigkeit der Artusritter als ihren Zusammenhalt über ihre Unterschiedlichkeit hinweg. Es ist ein Zusammenhalt, der oft als eine Verbindung zwischen Freundschaft und Loyalität zum König und eine Verbundenheit mit den höfischen Normen gezeichnet wird, zu denen auch die Gewaltregulierung gehört.13 Anders als in den Versromanen stehen im »Prosalancelot« (dem vor 1250 fertiggestellten ersten deutschen Prosaroman, einer Übertragung des altfranzösischen »Lancelot en prose«), höfische Normen nicht mehr als unhinterfragte Größe da. Sie werden in diesem pseudo-historiographischen Text allerdings nicht, wie man annehmen könnte, an historisch-politischen Ereignissen gemessen; vielmehr wird die Gewaltregulierung der Artusritter durch das Erlebnis der Gralsqueste, d. h. der den Rittern auferlegten Suche nach dem heiligen Gral, erschüttert. Die neue Aufgabe setzt die höfischen Orientierungen außer Kraft und die Ritter sind nun von einem heroisch anmutenden Kampfzorn getrieben, der im Genre des Artusromans erstaunt.14 Der Gral als höheres Ziel nämlich, das nur vom einzelnen Erwählten erreicht werden kann, hebt zunächst die Gemeinschaft der Artusritter auf und hinterfragt auch die Superiorität ­ihres­ 12 Verwendete Ausgabe: Geoffrey of Monmouth, Historia Regum Britanniae, hg. v. Jacob Hammer, Cambridge 1951. 13 Zu Konflikteindämmungsstrategien im höfischen Roman vgl. unter anderem William H. Jackson, Court Literature and Violence in the High Middle Ages, in: Will Hasty (Hg.), German Literature of the High Middle Ages, New York 2006, S.  263–276; Ders., Friedensgesetzgebung und höfischer Roman. Zu Hartmanns »Erec« und »Iwein«, in: Volker­ Honemann u. a. (Hg.), Poesie und Gebrauchsliteratur im deutschen Mittelalter. Würzburger Colloquium 1978, Tübingen 1979, S. 251–264; Christoph Huber, Ritterideologie und Gegnertötung. Überlegungen zu den Erec-Romanen Chrétiens und Hartmanns und zum Prosa-Lancelot, in: Kurt Gärtner u. a. (Hg.), Spannungen und Konflikte menschlichen Zusammenlebens in der deutschen Literatur des Mittelalters, Tübingen 1996, S.  59–73. Vgl. dazu auch Helmut Brall, Sît Abel starp durh bruoders nît (Wh. 51,30). Bewertungen des Krieges in volkssprachlichen Dichtungen des Mittelalters, in: Hans­ Hecker (Hg.), Krieg in Mittelalter und Renaissance, Düsseldorf 2005, S.  125–156, hier S. 136 f. 14 Vgl. dazu Titus Knäpper, Darumb ist besser das man des zornes meister sy. Zur Ambiguität von vreude und zorn in Konfliktdarstellungen des »Erec« und des »Prosa-Lancelot«, in: Claudia Ansorge u. a. (Hg.), Gewaltgenuss, Zorn und Gelächter. Die emotionale Seite der Gewalt in Literatur und Historiographie des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, Göttingen 2015, S. 89–106.

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Kohärenzfaktors: des idealen Herrschers Artus.15 Die Einsicht aber, dass der Gral nicht von jedem gefunden werden kann, schafft die Notwendigkeit eines neuen Sich-Findens des Artushofs. In der Lancelot-Queste (der Suche nach dem verschollenen Ritter Lancelot, die zu einer weiteren Aufsplitterung der ihn suchenden Artusritter führt) steht also das Wiederherstellen der Artusgesellschaft im Zentrum. Hier, insbesondere im hoffernen Raum, beobachten wir, wie bei den Artusrittern die Gewaltkontrolle dann teilweise außer Kraft gesetzt ist, wenn die Ritter in der Gruppe für die Gruppe kämpfen, wie z. B. bei der Burg zum Weißen Dorn.16 Wo aber eine ritterliche Gemeinschaft, um sich selbst wiederzufinden und die eigenen Feinde zu beseitigen, das bricht, was sie einst ausmachte, nämlich die höfischen Regeln, ist ihr Fortbestand grundsätzlich gefährdet. Mit anderen Worten: Die Artusgesellschaft ist angesichts einer andersartigen Aufgabe, die an den Grundfesten der höfischen Idealität rührt und das im höfischen Verbund Machbare hinterfragt, zersplittert, muss sich selbst wiederfinden und wird dadurch zu einer Gewaltgemeinschaft, die ihrem eigenen Kern (nämlich der höfischen Idealität) widerspricht. Ziel der Gewaltgemeinschaft ist es, die Integrität des Artushofs wiederherzustellen, was sie aber mit ihren Mitteln, als eine qua Definition gegen die höfischen Ideale gerichtete Gruppierung, nicht erreichen kann. Der einzige Weg hierzu könnte über die Erfüllung und quasi Beseitigung der alles auslösenden Aventüre führen: der 15 Die Lancelot-Queste erhebt damit nicht mehr arthurische Ritterlichkeit, sondern christliche Spiritualität zum Maßstab aller Dinge. Friedrich Wolfzettel hat darauf verwiesen, dass die christliche Spiritualität, auf die die Queste verweist, durch zahlreiche soziale wie religiöse Strömungen beeinflusst, und im Einzelfall differenziert zu bewerten sei. Vgl. Ders., Ein Evangelium für Ritter. »La Queste del Saint Graal« und die »Estoire dou Graal« von Robert de Boron, in: Speculum medii aevi 3 (1997), S. 53–64. Vgl. dazu­ Susanne Friede, Spiritualität und Sinnstiftung in der »Queste del Saint Graal«, in: Brigitte Burrichter u. a. (Hg.), Aktuelle Tendenzen der Artusforschung, Berlin 2013, S. 261–277, hier S. 264. Friede verweist darauf, dass innerhalb der Queste die »miteinander konkurrierenden Modi einer ›romanhaften‹ und einer ›religiösen‹ écriture zu einer ›Kreuzung‹ und eben nicht zu einem ›Nebeneinander‹ unterschiedlicher spiritueller Konzeptionen führen.« Ebd., S. 271 f. Zu dem gleichen Ergebnis kommt Nancy Freeman-Regalado, La chevalerie celestiel. Spiritual Transformations of Secular Romances in La Queste del Saint Graal, in: Kevin Brownlee/Marina Scordilis Brownlee (Hg.), Romance. Generic Transformation from Chrétien de Troyes to Cervantes, Hannover 1985, S. 91–113, hier S. 106.­ Peter Utz wiederum ergänzt, dass die »Umorientierung ritterlicher Werte auf christliche kiuschheit« bereits in der Klosterepisode der Karrenfahrt, das impliziert bereits relativ früh im »Lancelot propre« eingeleitet wird. Ders., Lancelot und Parzival. Zur Klosterepisode im ›Karrenritter‹ des mhd. »Prosa-Lancelot«, in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur (PBB) 101 (1979), H. 3, S. 369–384, hier S. 377. 16 Zu dieser Passage vgl. Cornelia Reil, Liebe und Herrschaft. Studien zum altfranzösischen und mittelhochdeutschen »Prosa-Lancelot«, Tübingen 1996, S. 203, und Cora Dietl, Höfisch – freundschaftlich – gewalttätig. Ritterliche Gewaltgemeinschaften in der mittel­ alterlichen Literatur, untersucht am Beispiel des deutschen »Prosalancelot«, in: Winfried Speitkamp (Hg.), Gewaltgemeinschaften. Von der Spätantike bis ins 20.  Jahrhundert, Göttingen 2013, S. 39–56, hier S. 48.

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Gralsqueste. Diese Aufgabe wird in der Tat gelöst – durch Galaad, Perceval und­ Bohort. Es handelt sich aber nicht um die übliche Aventüre, bei der höfische Ritter ihre Vortrefflichkeit und die des Hofs erweisen, indem sie ein Widerhöfisches besiegen, die Andersartigkeit auflösen und die Reste des Anderen in die Welt des Hofs integrieren. Der Gral kann nicht besiegt werden, da seine Idealität klar über der des Artushofs steht. Der Gral kann nicht integriert werden, er entzieht sich der höfischen Welt und erweist damit deren Unvollkommenheit. Nachdem nun also die höchste Vortrefflichkeit gefunden aber nicht integriert ist, erscheinen alle bisherigen Aventüren nichtig und nun ist die Artusgesellschaft von dieser Seite her unterhöhlt. Dies schreit geradezu nach einem Ende – und dieses führt der Erzähler des »Prosalancelot« in doppelter Weise ein. Am Ende der Gralsqueste erklärt er: Da sie hetten geeßen in dem hoff, der konig Artus det hervor kůmmen die schriber, die da pflagen zu beschriben die abenture der ritter von dem hoff des koniges Artus. Und da Bohrt hett erzalt die abenture von dem heyligen gral, in der wise als er es gesehen hett, und die wurden beschriben und behalten in der abtey von Salaberis. Da von meyster Gatiers machen begund das buch von dem heiligen grale von latin zu welisch, umb konig Heinrichs willen synes herren, den er ser lieb hatte. Da von so schwigt die abenture und sagt nit me von den abenturen von dem heiligen gral noch von den die sie zu ende brachten. (V,540,21–31) Als sie bei Hof gegessen hatten, ließ König Artus die Schreiber kommen, welche die Aventüren der Ritter des Artushofes aufzuschreiben pflegten. Als Bohort die Aventüre vom Heiligen Gral erzählt hatte, so wie er sie erlebt hatte, wurde dies aufgeschrieben und in der Abtei von Salisbury aufbewahrt. Daraus übertrug Meister Gautier das Buch vom Heiligen Gral aus der lateinischen in die französische Sprache: für seinen Herrn König Heinrich, den er sehr lieb hatte. Deshalb schweigt hier die Erzählung und sagt nicht mehr von den Aventüren vom Heiligen Gral oder von denen, die sie zu Ende brachten.

Die Aventüre vom Gral wird in der Erzählung auf Pergament gebannt und der Nachwelt übergeben, schon springt die Erzählperspektive auf eine andere Zeitebene: Der Text, eben noch innerhalb der fiktiven Welt entstanden, ragt nun scheinbar aus der Fiktion heraus und wird mit dem aktuell vorliegenden Text bzw. dessen französischer Vorlage identifiziert.17 Hier, auf der Ebene der mittelalterlichen Literaturproduktion, nicht mehr des intradiegetischen Berichts, wird entschieden, dass über die Gralssuchenden nichts mehr gesagt wird, dass aber die Handlung noch ein anderes Ende braucht: Nach dem das meyster Gatier Map hett geseyt von den abenturen von dem heiligen grale genung, als yn ducht, da meynte der konig Heinrich syn herre das mit dem das er gemacht hatt nicht genung were, er sagete dann das ende von dem das er zuvor geredet 17 Vgl. Nikola von Merveldt, Translatio und Memoria. Zur Poetik der Memoria des »ProsaLancelot«, Frankfurt a. M. 2004, S. 141; Rachel Raumann, Fictio und historia in den Artusromanen Hartmanns von Aue und im »Prosa-Lancelot«, Tübingen 2010, S. 164–167.

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hett und von wem das er die fromkeyt gesaget hett in synem buch. Und darum so wolt er das letste teyl anheben. Und da er es hett zuhauf gemacht, da nante er es Des Konig Artus Dott, um des willen das er an dem ende diß buchs saget wie das der konig Artus wunt wart, […]. (V,544,2–10) Nachdem Meister Gautier Map, wie es ihm schien, genug der Aventüren von dem Heiligen Gral erzählt hatte, da meinte sein Herr König Heinrich, dass das, was er gemacht hatte, nicht ausreiche, es sei denn er erzähle das Ende von dem, was er vorher erzählt hatte, und von dem, dem er in seinem Buch Lobenswertes erzählt hatte. Und darum wollte er den letzten Teil beginnen. Und als er ihn gemacht hatte, da nannte er ihn Des König Artus’ Tod, weil er an dem Ende dieses Buchs erzählt, wie König Artus verwundet wurde, […].

Was erzählt wird, ist ein vom Mäzen gefordertes Ende, das klar konstruiert und fiktional ist. Es ist ein Ende, das als Konsequenz aus dem Bisherigen heraus konstruiert ist. Es ist aber vor allem auch ein Ende, das die Erzählung endgültig abschließt und eine weitere Zyklenbildung unmöglich macht.18 Was Heinrich will, ist also mehr als nur ein Handlungsende, es ist insbesondere auch ein Text-, ja, ein Gattungsende. Der Erzähler springt hier wieder auf die Ebene der Handlung, innerhalb derer angeblich die Handlung aufgezeichnet wird: Artus lässt, heißt es hier noch einmal, alle Aventüren des Grals aufzeichnen (V,544,21 f.), um dann zu fragen, wie viele Tafelrunder verloren sind: 133 Ritter haben den Tod gefunden (V,544,25) – und zwar vornehmlich durch Gawan (V,544,27). Der Ritter, der traditionell als Garant höfischer Idealität des Artusromans stand und als Neffe des Königs als potenzieller Erbe für den Fortbestand des Hofs steht, muss nun zugeben, für den Tod von 18 Rittern des eigenen Hofs verantwortlich zu sein (V,546,9). Die Gewaltgemeinschaft hat sich offensichtlich selbst zerfleischt, die Solidarität zwischen den Rittern ist gebrochen – wegen der Sünde (V,546,12), d. h. wegen des Verstoßes gegen die Idealität, die den Kern der Gemeinschaft gebildet hatte. Gleichzeitig stellt nun der König fest: das die abenture von dem konigrich von Logres waren zu ende bracht und das ir nit viel me sollten syn (V,546,25 f.). Der Hof hat damit nicht nur den inneren Zusammenhalt verloren, sondern auch seine Aufgabe – und die Möglichkeit, von ihm zu erzählen. Die Auflösung des 18 Die Forschung ist immer wieder vermeintlichen ›Leerstellen‹ im Rahmen der Darstellung von Artus’ Tod nachgegangen. So betont etwa Corinna Biesterfeldt in Anlehnung an ­Waltenberger 1999 die »seltsam fragmentarischen« Hinweise innerhalb der entscheidenden Szene. Dies., Moniage. Der Rückzug aus der Welt als Erzählschluß. Untersuchungen zu »Kaiserchronik«, »König Rother«, »Orendel«, »Barlaam und Josaphat«, »Prosa-­ Lancelot«, Stuttgart 2004, S. 143. Monika Unzeitig-Herzog, Jungfrauen und Einsiedler. Studien zur Organisation der Aventiurewelt im Prosa-Lancelot, Heidelberg 1990, S. 169, dagegen resümiert äußerst treffend: »Es ist alles auserzählt, und durch die Integration des Todes in die Erzählung unter Aufgabe eines mythischen Fluchtpunktes, eines fiktionalen Freiraums, kann es folgerichtig keine Fortsetzung der Erzählung geben. Der König stirbt, die Erzählung ist tot.«

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Artushofs ist schließlich mit der Spaltung des Artushofs zwischen Lancelot-­ Anhängern und Lancelot-Gegnern (der Partei Gawans) und dem Bann Artus’ durch Papst Leo, der Artus endgültig seiner unantastbaren Idealität und den Hof seines Kerns beraubt, besiegelt. Wenn schließlich Kei und sein Gegenbild Gawan sterben, ist der Artushof nach klassischem Artusromanverständnis am Ende. Jetzt hält der Erzähler mit Prophezeiungen des Endes nicht mehr zurück – durch die Träume des Artus, durch den prophetischen Stein Merlins. Die Prophezeiungen werden bald wahr: im Verrat Mordrets gegen seinen Vater Artus, im Kampf, bei dem die beiden sich gegenseitig tödlich verwunden, in der Entrückung (V,1006,33–36) und im Tod des Artus (V,1008,31–33), nachdem sein Schwert von der Frau vom See geholt worden ist. Spätestens jetzt ist der Artushof aufgelöst, da das ihn im Kern legitimierende Symbol gottgewollter Gewalt aufgehoben wird. Einer möglichen Wiederkehr des Artus ist anders als in der französischen Vorlage klar widersprochen, wie es unter anderem auch der aus StauferPerspektive verfassten Artus-Kritik des Gottfried von Viterbo entspricht.19 Mit dem Tod des Artus ist klar markiert, dass es ein Weiterdichten über Artus nicht geben kann. Rasch wird nun auch vom Tod des Protagonisten Lancelot erzählt und damit ist jede Möglichkeit einer Weitererzählung genommen. Und hie nymet syn buch ein ende also mit all, wann nach dem kúnde nymant nicht erzelen, er must zu mal daran liegen. Hie hatt ein ende das letste buch von hern Lanczlot und von konig Artus tode und von Hector und herrn Gawin und von allen den es sagt und sagt nit men da von. Darumb sy der gebenedit der da lebet und herschet úmmer ewiglichen. Amen. (V,1028,33–1030,3) Und hier endet sein Buch gänzlich, denn danach könnte niemand weitererzählen, es sei denn, er würde lügen. Hier endet das letzte Buch von Herrn Lancelot und vom Tod des Königs Artus und von Hektor und Herr Gawein und von allen, von denen es erzählt, und es erzählt nichts mehr über sie. Darum sei der gebenedeit, der da lebt und herrscht in Ewigkeit. Amen.

Das Handlungsende im »Prosalancelot« ist mit der Rückkehr des Schwerts und damit mit dem Verlust der Herrschaftsgewalt (potestas) des Artus besiegelt; das Ende der Textsorte ist mit dem Tod des Königs Artus gegeben; das Textende schließlich verweist einerseits auf den Tod nicht nur des Königs, sondern auch seiner Ritter und auf die Unmöglichkeit des Weitererzählens und andererseits kontrastierend auf die potestas des ewigen Herrschers Gott. Es unterstreicht die Nichtigkeit des Artushofs, der Erzählung von ihm – aber auch die Hilflosigkeit einer Gewaltanwendung zum Erhalt dieser endlichen Einrichtung. Im Lichte dieses Endes ist die Gewaltgemeinschaft der Artusritter, die nur versuchten, ihre Gemeinschaft zu verteidigen, nichts als eine Agonie der untergehenden Artuswelt. 19 Gottfried von Viterbo, Pantheon, pars XVIII, hg. v. Jacques Paul Migne, in: Patrologiae Cursus Completus. Series Latina, Bd. 198, Paris 1855, Sp. 997–1008.

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2. Ende einer ewigen Fehde am Ende der Erzählmöglichkeit: »Roman der Lorreinen« Die altfranzösische »Geste des Loherains«, ein fünfteiliger Zyklus vom Ende des 12.  bzw. Anfang des 13.  Jahrhunderts,20 erzählt von einer generationenübergreifenden Fehde zwischen den Häusern Lothringen und Bordeaux. Die Chanson de geste beleuchtet zunächst die Vorgeschichte der Fehde (»Hervis de Metz«),21 erzählt dann vom Beginn der Feindschaft zwischen den Lothringern Begon und Garin auf der einen und dem Bordelesen Fromondin auf der anderen Seite (»Garin le Loherain«),22 die von Garins Sohn Gerbert und Fromonts Sohn­ Fromondin fortgesetzt wird (»Gerbert de Metz«),23 und schließt mit dem Tod Gerberts in zwei voneinander unabhängigen Fortsetzungen (»Anseïs de Metz«24 und »Yon ou la Venjance Fromondin«25). Die Fehde überdauert in der französischen Erzählung ganze drei Generationen und konzentriert sich dabei hauptsächlich auf die Schilderung der Taten der Väter (Begon und Garin), Söhne (Gerbert) und Enkel (Anseïs bzw. Yon), die stets Unterstützung im Kampf durch weitere Verwandte, Gefolgsmänner und Verbündete erhalten.26 Der mittelniederländische »Roman der Lorreinen« aus dem 13. Jahrhundert übernimmt die ersten beiden ältesten Teile des altfranzösischen Zyklus (»Garin le Loherain« und »Gerbert de Metz«, d. h. »Lorreinen I«) und schlägt danach einen eigenen Weg ein (»Lorreinen II«). Zwar ist das Werk nur in Fragmenten überliefert, aus dem ersten Gießener Fragment aber erfahren wir, wie der Text gegliedert war: Deerste boec die geet an Daer dese veede eerst began Ende hint daer Fromondijn Bleef doet in die cluse sijn. Dese andre sal inden, dats waer, Noch harde lange hier naer 20 Vgl. Thordis Hennings, Französische Heldenepik im deutschen Sprachraum. Die Re­ zeption der Chansons de Geste im 12. und 13. Jahrhundert. Überblick und Fallstudien, Heidelberg 2008, S. 36–42; Geert H. M. Claassens, Lothringerepen, in: Ders. u. a. (Hg.), Historische und religiöse Erzählungen, Berlin 2014, S. 329–349. 21 Hervis de Mes, chanson de geste anonyme (début du XIIIe siècle). Édition d’après le­ manuscrit Paris B. N. fr. 19160, hg. v. Jean-Charles Herbin, Genf 1992. 22 Garin le Loherenc, hg. v. Anne Iker-Gittleman, 3 Bde., Paris 1996–1997. 23 Gerbert de Metz, chanson de geste du XIIe siècle, hg. v. Pauline Taylor, Löwen 1952. 24 Anseÿs de Mes. According to Ms. N (Bibliothèque de l’Arsenal 3143), hg. v. Herman­ Joseph Green, Paris 1939. 25 La vengeance Fromondin, hg. v. Jean-Charles Herbin, Paris 2005. 26 Vgl. auch Claudia Ansorge, Des einen Freud, des anderen Leid. Rache und Emotionalität in »Garin de Loherain« und »Gerbert de Metz«, in: Dies. u. a. (Hg.), Gewaltgenuss, Zorn und Gelächter. Die emotionale Seite der Gewalt in Literatur und Historiographie des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, Göttingen 2015, S. 107–126.

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Op Ritsarts boec, Yoens sone, Die harde stout was ende coene. Dan sal dat derde over liden Tote des keysers Vrederijcs tiden. (Fragment 8, V. 20–30)27 Das erste Buch setzt ein, als diese Fehde zuerst begann, und es endet, als Fromondin [d. Ä.] in der Einsiedelei tot war. Das zweite soll wahrlich sehr lange danach mit dem Buch Ritsarts, des Sohns von Yoen, enden, der sehr tapfer und kühn war. Dann soll das dritte Buch weiterführen bis zur Zeit Kaiser Friedrichs.

Wir erfahren zwar, wann die Handlung (mutmaßlich) endet  – zur Zeit­ Friedrichs28 –, aber nicht, wie sie endet. Da der Beginn der Handlung mit dem Beginn der Fehde zwischen den Häusern Lothringen und Bordeaux angesetzt ist, kann man vermuten, dass sich auch Textende und Handlungsende – ähnlich wie im altfranzösischen Zyklus – decken. Es fragt sich allerdings, wie die Fehde beendet werden könnte, ob eventuell Friedrich etwas damit zu tun haben könnte, wie es das Zitat andeutet. Die Rolle der Kaiser bzw. Frankenkönige zumindest ist im »Roman der Lorreinen« markant: Im ersten Buch versucht Pippin noch zwischen den sich streitenden Parteien zu vermitteln. Die immer wieder aufkochende und sich zuspitzende Gewalt zwischen den beiden Häusern, meist von Einzelpersonen ausgehend, die aber sofort im Familienverband Unterstützung finden, machen es ihm nicht leicht, insbesondere da die Bordeleser Seite zunehmend christliche Regeln bricht, unter anderem einen Pilger in der Kirche tötet und mit den Mauren paktiert. Dennoch bleibt Pippin in »Lorreinen I« eine ambivalente Herrscherfigur. Als wankelmütiger und bestechlicher König lässt er sich wiederholt von den Bordelesen vereinnahmen, sehr zum Ärger der Lothringer. Im zweiten Buch ändert sich dies mehr und mehr. Karl wird nun zunehmend auf die Seite der Lothringer gezogen, spätestens als sich die Aggression der Bordelesen gegen die fränkische Kaiserwürde richtet, sie die Braut von Karls Sohn L ­ udwig schänden und sich durch das Einheiraten in die byzantinische Kaiserfamilie 27 Zitiert wird nach dem ersten Gießener Fragment (Fragment 8): Universitätsbibliothek Gießen, Hs 98, hier fol. 1r. Die Zitate der einzelnen Fragmente sind jeweils mit einer eigenen Übersetzung versehen. 28 Vermutlich ist hier Friedrich Barbarossa gemeint. Vgl. Ben van der Have, Roman der Lorreinen. De Fragmenten en het geheel, Schiedam 1990, S. 134. Dass es sich auch um eine Verschreibung von ›Heinrich‹ handeln könnte, diskutiert zuerst Willem J. A. ­Jonckbloet, Geschiedenis der middelnederlandsche dichtkunst, Bd.  2, Amsterdam 1852, S.  64 f. Überdies van der Haves Vermutung, dass hier Karls Sohn ›Ludwig‹ gemeint sein könnte, scheint plausibel, auch wenn sich diese Überlegung aufgrund der fragmentarischen Überlieferung des Werks letztlich nicht nachweisen lässt: »Is it conceivable that the poet who devoted 150,000 verses to the period of Pippin and Charlemagne suddenly decided to cram three or four centuries into one book? That would have been a break in the composition. I assume that Vrederijc is a scribal error of Lodewijc and that it was the poet’s intention to write a trilogy about three successive sovereigns: Pippin, Charlemagne and Louis«. Ben van der Have, Roman der Lorreinen, in: Olifant 26 (2007), S. 27–44, hier S. 39.

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einen den Karolinger ähnlichen Status anmaßen. Doch auch in »Lorreinen II« kommt es trotz des überwiegend positiven Bilds des Kaisers immer wieder zu Konflikten zwischen Karl und den Lothringern, da diese sich mitunter ungerecht behandelt fühlen.29 So geht Karl beispielsweise zwischenzeitlich ein enges Bündnis mit dem bordelesischen Verräter Gelloen30 ein und gibt ihm nach dessen vermeintlicher Hilfeleistung im Kampf gegen die Mauren seine Schwester, die Witwe des Mile van Mantes und Mutter des berühmten Helden Roland, zur Frau. Mit Karls Kämpfen gegen die Mauren und gegen Byzanz nimmt die Fehde schließlich globale Ausmaße an. Wahrscheinlich am Ende des zweiten Buchs (die Reihenfolge der Fragmente ist umstritten) kämpft Herzog Friedrich von Dänemark in der skythischen Stadt Gardeterre gegen die Byzantiner, erringt überragende Siege für die Lothringer, bis er von Gelloens Sohn Fromondin d. J. eingezingelt und getötet wird. Die Klage des Lothringers Yoen um Friedrich von Dänemark schließt das vorletzte Fragment des »Roman der Lorreinen« ab: Ay Vrederijc, lieve neve mijn, Edel deensce hertoge, Nu heeft u gecost dat orloge U leven, dats mi harde leet. Ach arme neve, hoe gereet Wardi te wrekene Ritsarde! Gi wart van den goeden arde Van den coninc Gadifiere Ende van sinen sone Ogiere, Die ons oyt waren getrouwe. Ach arme, hoe groten rouwe Steet mi te dogene, neve, om u! (Fragment 17, V. 346–357)31 Ach, Friedrich, mein lieber Neffe, edler dänischer Herzog, nun hat Euch der Krieg das Leben gekostet, das ist mir sehr leid. Ach, unglücklicher Neffe, wie bereit wart Ihr, Ritsart zu rächen! Ihr wart von der guten Art des Königs Gadifier und seines Sohnes Ogier, die uns ebenfalls treu waren. Ach Unglücklicher, welch großes Leid muss ich um Euch, Neffe, klagen!

Die Klage bindet Yoens Neffen Friedrich von Dänemark an den legendären Fürstreiter Karls des Großen, Ogier von Dänemark, zurück. Die Geschichte scheint sich zu wiederholen  – und ruft zur Rache auf. Eine weitere Gewalteskalation steht zu erwarten. 29 In »Lorreinen I« und »Lorreinen II« lassen sich deshalb an mehreren Stellen Parallelen zur Empörer-Thematik verschiedener Chansons de geste herstellen. Vgl. van der Have, Roman der Lorreinen, 1990, S. 151. 30 Die Figur des Verräters Ganelon ist vor allem aus dem »Rolandslied« bekannt. 31 Zitiert wird nach dem Münchener Fragment (Fragment 17): Bayerische Staatsbibliothek München, Cod. germ. 198, hier fol. 1v.

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Im vielleicht letzten der uns erhaltenen Fragmente ruft Gelloen seine Söhne32 dazu auf, von allen Seiten ihre Heere herbeizuführen, um in Spanien gegen Karl den Großen zu kämpfen; in den französischen Chansons de geste führt dies zur großen vernichtenden Entscheidungsschlacht in Roncesvalles, die das »Rolandslied« widerspiegelt. Die Vermutung, dass auch im »Roman der Lorreinen« alles auf die katastrophale Schlacht in Spanien hinausläuft, legt der Erzähler nahe, wenn er über Gelloens Absichten berichtet. Was auch immer dieser jemals Böses getan habe: Dat en was en gene scade / Jegen die quatheit die hi nu rurt (Fragment 18, V. 138 f.).33 Nicht nur er selbst wird in der Schlacht das Leben verlieren, so der Erzähler weiter, sondern er ist zudem verantwortlich für den Untergang der beiden Adelsgeschlechter und Karls des Großen: Hi heeft nu geruert een leet, Daer sere bi die crone te geet, Entie geslachten in beiden siden. Al en sal die veede niet liden, Si blijft staende in haren staet. (Fragment 18, V. 147–151) Er hat nun ein Leid bewirkt, durch das die Krone völlig zugrunde gehen wird und die Geschlechter auf beiden Seiten. Aber die Fehde endet dadurch nicht, sie bleibt in ihrer Form bestehen.

Freilich, angeblich ging ja die Handlung nach der Generation von Ritsart noch weiter, bis hin zu Kaiser Friedrich. Angesichts der vielen vergeblichen Versöhnungsversuche und der ungebremsten Gewalteskalation ist keine harmonische Lösung des Konflikts unter Friedrich zu erwarten. Vielmehr scheint das Geschehen in heldenepischer Manier auf die Katastrophe zuzurollen. Mit einem Ausdruck der Ohnmacht wird vom durchaus parteiischen Erzähler die Entwicklung geradezu fatalistisch präsentiert: Immer mehr Teile der Erde werden in den Konflikt hineingezogen, immer mehr bekannte literarische 32 Aus Afrika lässt er seine beiden heidnischen Söhne Beligant und Marcirijn holen, aus Byzanz Fromondijn d. J. und Hardreit. Seine Tochter Yrene hingegen soll, nachdem die Lothringer sich um Karl den Großen versammelt haben, deren Besitztümer in Skythien angreifen und ihnen so einen vernichtenden Schlag versetzen. Dass jedoch auch Yrene bei den Kämpfen in Spanien später anwesend ist, legt ein anderes Werk nahe, das als einziges neben dem Roman der Lorreinen die byzantinische Kaiserin Erena und Gelloen in ein Verwandtschaftsverhältnis setzt: Den Droeflike Strijt van Roncevale (um 1500). Vgl. Den droefliken strijt die opten berch van Roncevale in Hispanien gheschiede daer Rolant ende Olivier metten fluer van kerstenrijc verslagen waren. Naar den Antwerpschen druk van Willern Vorsterman uit het begin der XVIde eeuw, hg. v. Gerrit J. Boekenoogen, Leiden 1902. Aufgrund dieser Parallele ist die Vermutung geäußert worden, dass sich »Den Droeflike Strijt« zumindest zum Teil am »Roman der Lorreinen« als Vorlage orientiert. Vgl. van der Have, Roman der Lorreinen, 1990, S. 32. 33 Zitiert wird nach dem Nürnberger Fragment (Fragment 18): Germanisches National­ museum Nürnberg, Hs. 4° 22.219, hier fol. 1r.

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Stoffe werden integriert.34 Ein Ende der Gewalt kann nur mit einem Erschöpfen der Möglichkeiten des literarischen Kosmos einhergehen, dann wenn, wie man vermuten darf, die Gegenwart des Dichters erreicht ist und die Fiktion des Textes auf die Gegenwart eines geteilten Herzogtums Lothringen prallt und so, ohne zeitliche Differenz, ein heldenepisches Erzählen nicht mehr möglich ist.

3. Ende einer Gewaltgemeinschaft bei Umkehrung der Perspektive: »Karl und Ellegast« Anders als im »Prosalancelot« und im »Roman der Lorreinen« beschreibt die im 14./15. Jahrhundert in deutscher Sprache verfasste Chanson de geste »Karl und Ellegast« keine Gewaltgemeinschaft, die Generationen überdauerte, vielmehr wird hier von einer Gemeinschaft gesprochen, die nur einen Tag lang besteht – allerdings einen verlängerten Tag, da Gott mehrfach den Lauf der Sonne anhält, um dem Helden mehr Zeit zu geben.35 Karl hat sich während des Ingelheimer Reichstags auf Aufforderung Gottes der Räuberbande des von ihm selbst (aufgrund der Tötung Ludwigs) geächteten Ellegast angeschlossen  – und erfährt bei den gemeinsamen Raubzügen mit diesem, dass ein fürstlicher Komplott gegen ihn geplant ist. Herzog Eckenrich (Karls Schwager) und elf edle Grafen – die Zwölferzahl ist sicherlich kein Zufall –, bislang als Stütze des Reichs betrachtet, werden hier plötzlich als Gewaltgemeinschaft ersichtlich, während sich die Räuber um Ellegast als Retter des Reichs erweisen. Dass die Erzählung zumindest in den Augen eines deutschen Publikums des Spätmittelalters36 dazu dient, die fragwürdige Absetzung und Verurteilung von Karls Vetter Herzog Tassilo III. von Bayern durch Karl den

34 Neben der Verbindung zu Ogier von Dänemark, die bereits angesprochen wurde, ist vor allem die Ansippung an das Narbonner Geschlecht in Fragment 18 interessant (vgl. V. 94–104): Aymerijn van Narbonne ist der Ehemann von Ermengart, die im Roman der Lorreinen die Tochter des Lothringers Garin d. J. ist. Unter ihren sieben Söhnen sind es vor allem Aymerijn d. J. (Aymeri le Chétif) und Willeken (Guillaume d’Orange), die von ihrem Großvater Garin als tapfere Helden gelobt werden. Es ist zu vermuten, dass sie im weiteren Verlauf der Handlung für die Lothringer noch eine wichtige Rolle spielen werden. Vgl. van der Have, Roman der Lorreinen, 2007, S. 40. 35 Zur Diskussion des Wunders als einer möglichen Anspielung auf die Gattung des Tagelieds vgl. Bernd Bastert, Der Zeitzer »Karl und Ellegast« oder: Der König als Dieb. Chanson de geste-Rezeption in Thüringen, in: Hans-Joachim Ziegeler (Hg.), Chansons de geste im europäischen Kontext, Göttingen 2008, S. 50–58, hier S. 53. 36 Dass der Plot an sich älter ist, sei unbenommen. Wilke verweist diesbezüglich unter­ anderem auf die französische Diebesgeschichte von »Carles et Basin«, daneben aber auch auf ein altägyptisches Diebesmärchen. Eckhard Ludwig Wilke, Der mitteldeutsche »Karl und Elegast«. Studien zur vergleichenden Literaturwissenschaft, Marburg 1969, S. 52–62.

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Großen in I­ ngelheim 788 zu rechtfertigen, liegt auf der Hand.37 Tassilo, der sich 787 nach der Schlacht am Lechfeld Karl unterworfen, Bayern an Karl abgetreten und von ihm als Lehen empfangen und zwölf vornehme Geiseln sowie seinen Sohn als 13. Geisel gestellt hatte, wurde vorgeworfen, eidbrüchig zu sein, was er (nachdem Karl die Familie und den Hausschatz Tassilos in seine Gewalt gebracht und damit ein Druckmittel in seiner Hand hatte) auch zugab, woraufhin er angeblich zum Tode verurteilt, von Karl aber zum Klosterexil begnadigt bzw. zwangsweise tonsuriert und ins Kloster gesperrt wurde.38 Ob Tassilo tatsächlich plante, den Unterwerfungseid zu brechen, ist nicht zu klären; bemerkenswert ist allerdings, dass Karl ein Jahr nach dem Sturz Tassilos eine allgemeine Vereidigung der Reichsbevölkerung auf seine Person durchführen ließ, da infideles homines Aufstände gegen Karl angeblich damit begründeten, dem König niemals einen Treueid geschworen zu haben.39 Bereits im weiteren Umfeld der Heiligsprechung Karls in der Weihnachtsoktav 116540 und erneut im Kontext der Translation der Karlsreliquien nach Zürich 1233 war eine Literatur entstanden, welche die Nähe des Königs zu Gott übersteigerte. Im 14.  Jahrhundert hat die Forschung eine neue Karlsbegeisterung beobachtet und diese als Entstehungskontext für den deutschen »Karl und Ellegast« vermutet.41 Die uns erhaltene Zeitzer Fassung des Texts ist zwar nicht unmittelbar in königlichem Kontext entstanden, mittelbar wäre aber über J­ohannes von Neumarkt, Kanzler Karls  IV. und Bischof von NaumburgZeitz, durchaus eine Verbindung möglich. Vor dem Hintergrund der Konflikte Karls  IV. mit Ludwig dem Bayern wäre es denkbar, dass in Karl  IV. freundlich gesinnten Kreisen ein Interesse daran bestand, Karls des Großen Aufdeckung eines für andere nicht durchsichtigen Komplotts zu einem Zeichen göttlichen Sonderschutzes für den Kaiser zu stilisieren und damit die Absetzung Tassilos nachträglich zu rechtfertigten. Dies scheint in »Karl und Ellegast« zu geschehen, wo Karl deutlich auch im Vergleich zum niederländischen Text als Gottes Favorit gezeichnet wird, unter Rückgriff auf eine alte Meisterdieberzählung. Durch 37 Zur Diskussion möglicher historischer Kontexte der niederländischen Dichtung »Karel ende Elegast« vgl. Geert H. M. Claassens, Karel ende Elegast, in: Ders. u. a. (Hg.), Historische und religiöse Erzählungen, Berlin 2014, S. 221–233, hier S. 225. 38 Matthias Becher, Zwischen Macht und Recht. Der Sturz Tassilos III . von Bayern 788, in: Lothar Kolmer/Christian Rohr (Hg.), Tassilo III . von Bayern. Großmacht und Ohnmacht im 8. Jahrhundert, Regensburg 2008, S. 39–55, hier S. 43–47. 39 Ebd., S. 53 f. 40 Zur Problematisierung der gängigen These, das »Rolandslied« des Pfaffen Konrad sei als welfische Reaktion auf die staufische Karlsverehrung zu deuten, vgl. Bernd Bastert, Helden als Heilige. Chanson de geste-Rezeption im deutschsprachigen Raum, Tübingen 2010, S. 354 f. 41 Hartmut Beckers, Karl und Elegast, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, hg. v. Kurt Ruh u. a., Bd. 4, Berlin 21983, Sp. 999–1002, hier Sp. 1000, sieht eine Verbindung zwischen der Erneuerung des Karlskults durch Karl IV. im 14. Jahrhundert; Bastert, Helden als Heilige, S. 107 f. widerspricht dem; die Karlsverehrung Karls IV. sei räumlich sehr beschränkt gewesen.

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die Betonung der Nähe Karls zu Gott wird automatisch die Gegenseite, die der gegen Karls Herrschaft intrigierenden Adeligen, negativ gezeichnet. Bemerkenswert ist, wie der Text das Ende der beiden Gewaltgemeinschaften inszeniert: Karl überführt Eckenrich und seine Verbündeten des Komplotts, indem er ihnen Messer, die sie für den geplanten Mord in ihren Ärmeln versteckt haben, herauszieht. Eckenrichs zu seiner Rechtfertigung vorgebrachte Lüge entfacht eine lange Diskussion zwischen ihm und Ellegast, welche sich wiederholt gegenseitig der Lüge bezichtigen und Karl warnen, nicht dem jeweils anderen zu glauben. Auch ein weiteres von Karl und Ellegast vorgelegtes Beweisstück, ein Seidentuch, in dem Karls Schwester, als Eckenrich sie für ihre Kritik seiner Mordpläne schlug, ihr Blut auffing, wird von Eckenrich umgedeutet. So wie die Messer nur den Plan einer Gewaltausübung belegen, ist das blutige Tuch nur Indiz einer bereits erfolgten Gewalttat; Ziel und Intention der Gewalt, ja, die Gewalt selbst, aber lassen sich so nicht fassen. Indizien bedürfen einer Interpretation; das Wort aber ist in der Lage, alles umzudeuten. Mit dieser Einsicht wird schließlich der Erzählung selbst der Spiegel vorgehalten: Sie ist in der Lage, die Perspektive umzukehren und aus Reichstreuen Verräter und aus Verrätern Reichstreue zu machen. Um den gordischen Knoten der Deutung zu durchschlagen, lässt Karl Taten sprechen. Im Kampf besiegt nun die Räuberbande Ellegasts die zwölf Grafen. Ellegast selbst, dem Karl die Hand seiner Schwester versprochen hat, tötet Eckenrich. Eine Begnadigung wie im Falle Tassilos ist hier nicht möglich: Der Verrat wird an seiner Wurzel ausgemerzt. Dies übersteigert der Text insofern, als der bereits im Kampf Enthauptete anschließend noch öffentlich erhängt wird – so wie die Grafen. An die Stelle des argumentativ herbeigeführten Urteils treten hier die Handlung und die symbolische Kommunikation von Gerechtigkeit. Dass dies abschreckend auf andere wirkt, betont der Text (V. 1783). Mit Gewalt ist damit die eine heimliche Gewaltgemeinschaft zerschlagen und damit die Ordnung und Sicherheit des Reichs wiederhergestellt. Die andere Gewaltgemeinschaft aber, die sich als reichsstützend erwiesen hat, nimmt ein sanfteres Ende: Dy bert worden ön abgeschorn. Do wart gestillet al ör zorn. In phellen worden sy gecleyt, söbenundsöbenzig helden gemeyt, daz woren Ellegastes frinde. Den wart do freyde kinde. (V. 1798–1803) Die Bärte wurden ihnen abgeschoren. Damit wurde ihr Zorn gestillt. In Seidenbrokat wurden sie gekleidet, 77 ehrenvolle Helden; sie waren Ellegasts Freunde. Sie erfuhren hier Freude.

Das Abscheren der Bärte (Gegenstück zur als Strafe eingesetzten Tonsurierung) und die Einkleidung in kostbare Stoffe stehen symbolisch für die Aufnahme der einst Verstoßenen in die Feudalgesellschaft. Die Heirat zwischen Ellegast und Karls Schwester (V. 1812) besiegelt endgültig die Auflösung der Gewaltgemein-

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schaft und ihre Übernahme in die ›Kerngesellschaft‹, genauer in die königliche Familie. Mit der Übernahme des Herzogtums durch den ehemaligen Räuber wird die Gewaltgemeinschaft endgültig aufgelöst. Der Text endet unmittelbar darauf mit einem Bittgebet an Gott, dass er die Seinen ins Himmelreich aufnehme. Die Rechtfertigung der Räuberbande erhält damit sogleich noch eine heilsgeschichtliche Dimension; sie wird zum Abbild der Gerechten, die bei Gott Gnade finden und in sein Reich aufgenommen werden. Karl wird damit zum Abglanz Gottes – und damit ist endgültig jede Möglichkeit, an der rechten Perspektivierung des Geschehens zu zweifeln, genommen. Jede andere Darstellung müsste sich vielmehr dem Vorwurf der lügnerischen Perspektivverzerrung stellen. Damit aber hat der Text wohl seine politische Aufgabe erfüllt.

4. Fazit In drei Beispieltexten hat sich gezeigt, dass mittelalterliche Erzählungen, in denen Gewaltgemeinschaften nicht, wie dies in den meisten Fällen geschieht, marginalisiert, sondern zentral gestellt werden, den Erzählgegenstand (die Gewaltgemeinschaft) meist mit dem Erzählen von Gewalt als solchem engführen. Die Verwandlung der Artusgesellschaft in eine Gewaltgemeinschaft im »Prosalancelot« bricht nicht nur mit den Konventionen des Erzählens vom Artushof, sondern sie führt auch textimmanent den Untergang des Artushofs ein, und zwar so konsequent, dass am Ende keine Aventüre und keine Erzählung mehr möglich und dass letztlich mit der Selbstzerstörung des Artushofs auch der Untergang der Gattung »Artusroman« eingeläutet ist (dessen politische Note im Heiligen Römischen Reich nicht immer als problemlos eingeschätzt wurde), was allerdings literaturhistorisch nicht so schnell Realität wurde. Im »Roman der Lorreinen« wird in einer Chanson de geste ein Zug heldenepischen Erzählens bis zum Extrem durchgespielt: Ehrverletzungen, familiäre Bindungen und die Fatalistik des Geschehens führen zu einer immer weitere räumliche, zeitliche und moralische Kreise ziehenden Gewalteskalation, die nur in der Katastrophe enden kann und letztlich die Aufspaltung Lothringens erklären könnte. Wenn aber heldenepische Erklärungsmuster, die eigentlich auf die Vorzeit zielen sollten, für Gegenwartsphänomene herangezogen werden, muss das Erzählen in dieser Konfliktsituation verstummen. »Karl und Ellegast« schließlich verabschiedet sich weitgehend vom Erzählkonzept der Chansons de geste. Der Text – und wir würden hier doch lieber von einem Roman42 sprechen – liefert zwar in der Tat eine Erklärung für ein lange 42 Kolb spricht von einer Parodie der Chanson de geste: Herbert Kolb, Chanson de geste parodistisch. Der mitteldeutsche »Karl und Elegast«, in: Wolfram-Studien 11 (1989), S. 147–165; Wilke erwägt unter Verweis auf Schröder und Curschmann für die Gattung des ›Spielmannsepos‹, zumindest stilistisch stimme »Karl und Ellegast« mit den Spielmannsepen überein: Ders., Der mitteldeutsche »Karl und Elegast«, S. 80–84.

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zurückliegendes Geschehen (den Konflikt zwischen Karl und Tassilo), zeigt aber allzu deutlich, dass jede Darstellung relativ ist: Dies beginnt mit der Zeitstruktur, die gedehnt werden kann, zeigt sich aber vor allem in der Bewertung dessen, wer »Gewaltgemeinschaft« und wer Säule des Reichs ist. Augenzwinkernd führt er uns vor, dass Worte in der Lage sind, alles umzudeuten, beansprucht aber für sich Deutungshoheit: Über die Frage, was violentia ist, entscheidet dann doch die potestas.43

43 Zu diesem Begriffspaar vgl. auch Cora Dietl, Violentia und potestas. Ein füchsischer Blick auf ritterliche Tugend und gerechte Herrschaft im »Reinhart Fuchs«, in: H ­ enrike­ Lähnemann/Sandra Linden (Hg.), Dichtung und Didaxe. Lehrhaftes Sprechen in der deutschen Literatur des Mittelalters, Berlin 2009, S. 41–54; Dies., Preface, in: Dies. u. a. (Hg.), Power and Violence in Medieval and Early Modern Theater, Göttingen 2014, S. 7–10.

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Berufsmäßige Gewalttäter Wie Söldnergewalt in der Frühen Neuzeit entfesselt und begrenzt wurde 1. Einleitung Söldner hatten und haben einen schlechten Ruf. Wenn man heutzutage Begriffe wie »Söldnerseele« oder »Söldner-Lohn« verwendet, dann schwingt darin ein gehöriges Maß an Verachtung mit,1 das seine Wurzeln bereits in der frühneuzeitlichen Kritik am zeitgenössischen Kriegswesen bzw. seinen Akteuren hat. Entsprechendes findet sich sowohl in Flugschriften und Predigten als auch in Radierungen, Bildern und Liedern.2 Während seit dem Zeitalter des Nationalismus in erster Linie das Motiv des Gelderwerbs als anrüchig gilt,3 wurde in der Vormoderne vor allem die übermäßige Gewalttätigkeit der ›Soldateska‹ angeprangert.4 1 Vgl. Gabriele Schlegel, »Sie Söldnerseele!«, Handelsblatt, 16.8.2005, http://www.handelsblatt.com/karriere/nachrichten/business-behaviour-sie-soeldnerseele/2539724.html (Zugriff am 9.7.2015); Meike Schreiber, Söldner-Lohn, in: Süddeutsche Zeitung, Nr.  272, 25.11.2015, S. 17; dazu passend hat Klaas Voß in seiner Dissertation zum Einsatz von Söldnern in mehreren Konflikten des 20. Jahrhunderts konstatiert, dass dem Söldner die »Aura des Unmoralischen« anhaftet, vgl. Ders., Washingtons Söldner. Verdeckte US -Interventionen im Kalten Krieg und ihre Folgen, Hamburg 2014, S. 11. 2 Vgl. Peter Burschel, Söldner im Nordwestdeutschland des 16. und 17. Jahrhunderts, Göttingen 1994, S. 27–53; Jan Willem Huntebrinker, »Fromme Knechte« und »Garteteufel«. Söldner als soziale Gruppe im 16. und 17. Jahrhundert, Konstanz 2010, S. 119–172; aber auch mit einem für das 16. Jahrhundert nicht eindeutigen Befund: Matthias Rogg, Landsknechte und Reisläufer: Bilder vom Soldaten. Ein Stand in der Kunst des 16. Jahrhunderts, Paderborn 2002, S. 126–132; Mirna Zeman, Kroatische Imagothemen. Deutschsprachige Fremddarstellungen ›illyrischer Völkerschaften‹, in: Mirosława Czarnecka u. a. (Hg.), Frühneuzeitliche Stereotype. Zur Produktivität und Restriktivität sozialer Vorstellungsmuster, Frankfurt a. M. 2010, S. 129–150; Götz J. Pfeiffer, Bild-Zeitung und Moral-Büchlein. Der Dreissigjährige Krieg in Druckgraphiken von Matthäus Merian und Abraham Hogenberg, Jacques Callot und Hans Ulrich Franck, in: Der Dreissigjährige Krieg in Hanau und Umgebung, hg. v. Hanauer Geschichtsverein 1844 e. V. anlässlich der 375. Wiederkehr des Entsatzes der Stadt, Hanau 2011, S.  255–275; Jacques Callot, Das gesamte Werk, Bd.  2: Druckgraphik. Mit einer Einleitung von Thomas Schröder, München 1971, S. 1320–1350. Für den Siebenjährigen Krieg siehe Wolfgang Adam/Holger Dainat (Hg.), »Krieg ist mein Lied«. Der Siebenjährige Krieg in den zeitgenössischen Medien, Göttingen 2007. 3 Martin Rink, Art. Söldner, in: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 12, Stuttgart 2010, Sp. 174–184, hier Sp. 180–182. 4 Michael Sikora, Söldner. Historische Annäherung an einen Kriegertypus, in: Geschichte und Gesellschaft 29 (2003), S. 210–238, hier S. 224.

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Und dieses Monitum war keineswegs gegenstandslos, denn es waren Söldnerheere, die für das Gros der berüchtigtsten Gewalteskalationen der Frühen Neuzeit wie z. B. den Sacco di Roma (1527), die Magdeburger Hochzeit (1631) oder die Sendlinger Mordweihnacht (1705) verantwortlich zeichneten. Jedoch waren diese extremen Ausbrüche von Gewalt insofern nicht alltäglich, als dazwischen oft lange Pausen und Situationen begrenzter Gewaltanwendung lagen. Wie aber mussten auf der einen Seite die Umstände beschaffen sein, damit es gelingen konnte, gewalttätiges Handeln einzuhegen oder gar zu verhindern? Und welche situativen und/oder strukturellen Rahmungen schufen auf der anderen Seite die Voraussetzungen für die Entgrenzung der Gewalt durch einzelne Söldner­ gruppen? Im Folgenden sollen gewalteskalierende und gewaltbegrenzende Faktoren in bewusst typologisch zugespitzter Form dargestellt werden. Dabei sollen zunächst diejenigen Einflussgrößen untersucht werden, die den Ausbruch exzessiver Gewalt durch Söldner in der Frühen Neuzeit bedingen konnten. Anschließend wird dargelegt, unter welchen Prämissen der Einsatz von Gewalt begrenzt oder sogar verhindert werden konnte. Im abschließenden Fazit wird das Verhältnis der beiden Faktorengruppen zueinander diskutiert und resümiert. Grundlage für diese Untersuchung bilden vier Forschungsprojekte, die sich im Rahmen der Forschergruppe »Gewaltgemeinschaften« mit verschiedenen frühneuzeitlichen Söldnergruppen beschäftigt haben. Stefan Xenakis hat in seiner Dissertation das Verhältnis von »Gewalt und Gemeinschaft« bei Landsknechtsverbänden zu Beginn des 16. Jahrhunderts untersucht.5 Ebenfalls in der klassischen Epoche des europäischen Söldnerwesens war das Arbeitsvorhaben von Patricia Bobak angesiedelt, das sich anhand des Spanisch-Niederländischen Krieges (1568–1648) dem kollektiven Gewalthandeln widmete.6 Damit überschneiden sich die Forschungen von Michael Weise, der sich mit einer als besonders fremd wahrgenommenen Gewaltgemeinschaft im Dreißigjährigen Krieg (1618–1648) auseinandersetzte – den Kroaten. Sowohl die Herkunftsregion als auch der Aspekt der Fremdwahrnehmung schlagen eine Brücke zu der Arbeit von Philipp Batelka, der den Einsatz von kroatischen Grenzern in den Kabinettskriegen des 18. Jahrhunderts analysiert.7

5 Stefan Xenakis, Gewalt und Gemeinschaft. Kriegsknechte um 1500, Paderborn 2015. 6 Patricia Bobak/Horst Carl, Außer Rand und Band? Frühneuzeitliche Söldner als Ge­ walt­gemeinschaften im niederländisch-spanischen Krieg, in: Winfried Speitkamp (Hg.), Gewaltgemeinschaften. Von der Spätantike bis ins 20.  Jahrhundert, Göttingen 2013, S. 163–183. 7 Siehe hierzu auch die Beiträge von Philipp Batelka und Michael Weise in Philipp Batelka u. a. (Hg.), Zwischen Tätern und Opfern. Gewaltbeziehungen und Gewaltgemeinschaften, Göttingen 2017.

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2. Faktoren der Gewalteskalation Die Intensität des Gewalteinsatzes von Söldnern war mitnichten konstant, vielmehr schwankte sie stetig. Mitverantwortlich dafür waren nicht zuletzt die Kriegsherren. Sie hatten mitunter ein Interesse daran, eine Eskalation der Gewalt bewusst herbeizuführen, sei es um dadurch ein Exempel zu statuieren, sei es um aufgestaute Aggressionen nach außen zu lenken, sei es um durch Terror eine bestimmte politische Entscheidung herbeizuführen. Eine wichtige Rolle spielten in diesem Zusammenhang Feindbilder, die absichtlich eingesetzt wurden, um eine möglichst stabile Abgrenzung nach außen zu schaffen und den Zusammenhalt eines Verbandes nach innen zu stärken. Dieses Zusammenspiel aus Eskalation und Kanalisierung8 von Gewalt lässt sich z. B. bei den Habs­ burgern beobachten, die im Schweizer- bzw. Schwabenkrieg (1499) auf das stereotype Bild der Eidgenossen als ›Bauernvolk‹ zurückgriffen, um die eigenen Söldner so gegen den Kriegsgegner zu mobilisieren und zum hemmungslosen Einsatz von Gewalt zu motivieren9 – was am Ende so gut gelang, dass der Krieg aufgrund spontaner Feindseligkeiten zwischen einzelnen Söldnergruppen losbrach und die Entwicklung die militärische Obrigkeit selbst überraschte.10 Eine besonders prominente Rolle spielten Feindbilder in der öffentlich-medialen Auseinandersetzung des Alten Reiches mit der Bedrohung durch die Osmanen im Südosten Europas.11 Im Zusammenhang mit der den Großen Türkenkrieg (1683–1699) begleitenden Publizistik hat Martin Wrede in seiner Dissertation herausgearbeitet, dass der »Erbfeind der Christenheit« nicht nur mit allen Mitteln der Flugblattpropaganda bekämpft wurde, sondern dass auch das militärische Vorgehen seitens der Heiligen Liga gegen die osmanischen Truppen einer Taktik der ›verbrannten Erde‹ folgte, die sich unter anderem in grausamen Mas8 Georg Elwert vertritt die Ansicht, dass Gewalt immer kanalisiert und durch den Organisationszwang der Gewalthandelnden auch immer gehemmt ist, vgl. Ders., Vorwort. Gewalt als inszenierte Plötzlichkeit, in: Jan Koehler/Sonja Heyer (Hg.), Anthropologie der Gewalt. Chancen und Grenzen der sozialwissenschaftlichen Forschung, Berlin 1998, S. 1–7, hier S. 2. 9 Vgl. Guy P. Marchal, Über Feindbilder zu Identitätsbildern. Eidgenossen und Reich in Wahrnehmung und Propaganda um 1500, in: Peter Niederhäuser/Werner Fischer (Hg.), Vom »Freiheitskrieg« zum Geschichtsmythos. 500 Jahre Schweizer- oder Schwabenkrieg, Zürich 2000, S. 103–122, hier S. 109–111; Claudius Sieber-Lehmann/Thomas Wilhelmi (Hg.), In Helvetios – Wider die Kuhschweizer. Fremd- und Feindbilder von den Schweizern in antieidgenössischen Texten aus der Zeit von 1386 bis 1532, Bern 1998, S. 13 ff.; ­Xenakis, Gewalt und Gemeinschaft, S. 97 f. 10 Vgl. Xenakis, Gewalt und Gemeinschaft, S. 97, 99 f. 11 Siehe hierzu Andrea Pühringer, »Christen contra Heiden?« Die Darstellung von Gewalt in den Türkenkriegen, in: Marlene Kurz u. a. (Hg.), Das Osmanische Reich und die­ Habsburgermonarchie. Akten des internationalen Kongresses zum 150-jährigen Bestehen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung, Wien, 22.–25. September 2004, Wien 2005, S. 97–119.

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sakern an der Zivilbevölkerung manifestierte.12 Grundsätzlich kann man damit ferner die diffizile Kategorie der Fremdheit als gewaltbegünstigenden Faktor apostrophieren, allerdings gilt es zu beachten, dass mit Fremdheit sehr verschiedene Beziehungszusammenhänge bezeichnet werden können. Zunächst ist hier das einfache Faktum der Nicht-Bekanntschaft zu nennen, das zumindest im 16. Jahrhundert den Ausschlag dazu geben konnte, ob man gegeneinander die Waffen erhob oder nicht.13 Davon zu unterscheiden sind mit Feindbildern verbundene Fremdheitsstereo­ type, die oft eine verheerende Wirkung entfalten konnten. Im Laufe der Frühen Neuzeit weiteten sich die Herkunftsregionen der Söldner zunehmend aus; in der Folge unterschieden sich die Kombattanten in Sprache, Religion, Kultur und Aussehen mitunter enorm.14 Die gegenseitige alteritäre Wahrnehmung hat die Anwendung exzessiver Gewalt zwischen den verschiedenen Söldnergruppen tendenziell befördert, ohne dass es dazu immer oder gar zwangsläufig kommen musste. Eindrucksvolle Beispiele gibt es im 16. Jahrhundert zum Gegensatz zwischen süddeutschen und böhmischen Knechten, die meist gegeneinander im Einsatz waren, manchmal aber auch unter demselben Kriegsherren dienten. Auch dort war ihr Verhältnis allerdings so prekär – böhmische Söldner waren als beutegierige Ketzer verschrien15 –, dass es zu Gewaltexzessen kommen 12 Martin Wrede, Das Reich und seine Feinde. Politische Feindbilder in der reichspatriotischen Publizistik zwischen Westfälischem Frieden und Siebenjährigem Krieg, Mainz 2004, S. 179–185. 13 Besonders gut lässt sich dies am Beginn des Bauernkriegs zeigen, wenn die geworbenen Kriegsknechte größtenteils nicht bereit waren, gegen die vielfach mit ihnen verbundenen Aufständischen in den Krieg zu ziehen. Nachdem es auf der Seite des Schwäbischen Bundes sogar Überlegungen gab, Stratioten oder böhmische Söldner anzuwerben, waren es schließlich die Heimkehrer aus den Italienischen Kriegen, die beiden Kriegsparteien massive Kampfhandlungen ermöglichten. Vgl. Xenakis, Gewalt und Gemeinschaft, S. 192–196; Peter Blickle, Der Bauernjörg. Feldherr im Bauernkrieg. Georg Truchsess von Waldburg 1488–1531, München 2015, S. 132–136. 14 Horst Carl, Exotische Gewaltgemeinschaften. Krieger von der europäischen Peripherie im 17. Jahrhundert, in: Philippe Rogger/Benjamin Hitz (Hg.), Söldnerlandschaften. Frühneuzeitliche Gewaltmärkte im Vergleich, Berlin 2014, S. 157–180. Dies hebt beispiels­weise auch Johann Wilhelm von Archenholz in seiner Geschichte des Siebenjährigen Krieges hervor: »Die Zurüstungen aller im Kriege wider Preußen verbundenen Mächte zum künftigen Feldzuge waren außerordentlich. Franzosen und Schweden, Deutsche aus allen Provinzen Germaniens, Engländer und Bergschotten, Ungarn und Siebenbürger, Mailänder, Wallonen, Kroaten, Russen, Kosacken und Kalmücken setzten sich in Bewegung; ein Gedränge von Völkern, die zum Theil aus sehr entlegenen Ländern herbei eilten, nicht sowohl um zu erobern, als zu plündern, zu morden und zu verwüsten.« Ders., Geschichte des Siebenjährigen Krieges in Deutschland, Leipzig 111866, S. 23. 15 Vgl. Uwe Tresp, Söldner aus Böhmen. Im Dienst deutscher Fürsten: Kriegsgeschäft und Heeresorganisation im 15. Jahrhundert, Paderborn 2004; Ders., Trabanten und Kriegsunternehmer. Das böhmische Söldnerwesen im ausgehenden Mittelalter, in: Rudolf­ Ebneth (Hg.), Der Landshuter Erbfolgekrieg. An der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit, Regensburg 2004, S. 99–122, hier S. 101–104.

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konnte. Im Anschluss an eigenmächtige Plünderungen eines böhmischen Kontingents vor Hersbruck kam es im Jahr 1504 zwischen dem böhmischen und einem Verband von Landsknechten – beide in Nürnberger Diensten – zu Kämpfen mit 88 Toten und über 150 Verwundeten.16 Für das 18. Jahrhundert sind regelmäßig Zusammenstöße zwischen preußischen Husaren und habsburgischer leichter Reiterei (bestehend aus ungarischen Husaren, Kroaten und ­Panduren) dokumentiert, was Friedrich II. veranlasste, seinen Offizieren Anweisungen zu erteilen, »wie unsre leichten Truppen gegen die Husaren und Panduren fechten müssen«. Man müsse, so Friedrich, »gar nicht schonend mit ihnen verfahren«, im Gegenteil, der Rat an die preußischen Dragoner und Husaren lautete, die Panduren »geschlossen, mit dem Säbel in der Faust« anzugreifen.17 Die Fremdheit der Söldner von der österreichisch-osmanischen Militärgrenze zeigte sich nicht zuletzt in ihrer Kampfweise, der zufolge sie sich »auf die Erde [legen], und Schüsse [thun], ohne daß man sieht, woher sie kommen«.18 Diese Taktik des Kleinen Krieges führte zu einer Spirale von Gewalt und Gegengewalt und weichte die aufgeklärten Prinzipien beispielsweise in Bezug auf den Umgang mit Kriegs­gefan­genen auf. Für die Schlacht bei Liegnitz 1760 ist überliefert,19 dass den sich ergebenden Kroaten von preußischer Seite kein Pardon gewährt wurde. Emo­tional aufgeladen wurde Kampfgeschehen aber auch durch Schlachtgeschrei, das in Verbindung mit Musik eine Anspannung erzeugte, die sich in massenhaften Tötungen entladen konnte. Gleichzeitig wurden so in der Schlacht verbale Interaktion zwischen den gegnerischen Heeren unterbunden und wie im Falle der Landsknechtverbände starke Außengrenzen geschaffen, die jegliche Kommunikation nach außen verhinderten und zudem eine starke Kohäsionskraft nach innen entfalteten.20 Im weiteren Verlauf der Frühen Neuzeit hat die Bedeutung des Schlachtgeschreis dann aber tendenziell abgenommen. Zwar treten auch im 17. Jahrhundert noch Kriegergruppen in Erscheinung, die nachgerade durch ihr Kampfgeschrei auffielen – pars pro toto seien hier die sogenannten Hakkapeliten erwähnt, finnische Reitereinheiten in schwedischen Diensten, deren Name sich direkt von ihrem Schlachtruf ­»hakkaa päälle (Schlagt sie nieder)« ableitet  –,21 allgemein gängige Kriegspraxis war diese akustische Waffe aber nicht mehr. 16 Vgl. Xenakis, Gewalt und Gemeinschaft, S. 101, 259–263. 17 Ewald Friedrich von Hertzberg (Hg.), Friedrichs des Zweiten Königs von Preussen bei seinen Lebzeiten gedruckte Werke. Aus dem Französischen übersetzt, Berlin 1794, S. 293 f. 18 Ebd., S. 292. 19 Georg Bassenge, Hirschberg unter Friedrich dem Großen, in: Der Wanderer im Riesengebirge 40 (1885), S. 7. 20 Wobei das Schlachtgeschrei hier eine extreme Form der durchaus auch in anderen Zusammenhängen geübten Praxis des Schreiens darstellt, die neben der Steigerung der emotionalen Anspannung auch der Willensbildung in Gruppen diente, vgl. Xenakis, Gewalt und Gemeinschaft, S. 126 f., 134 f. 21 Richard Brzezinski/Richard Hook, Die Armee Gustav Adolfs. Infanterie und Kavallerie, Königswinter 2006, S. 56–58.

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Relativ konstant fungierten dagegen söldnerspezifische Ehrvorstellungen als gewaltfördernde Faktoren. Wurde die Ehre eines Fähnleins bzw. Regiments durch ungebührliches Benehmen von Außenstehenden oder Mitgliedern verletzt, dann konnte dies heftigste Konsequenzen nach sich ziehen – im Extremfall sogar zur Exekution einer ganzen Einheit führen. Solch eine außergewöhnliche Massenhinrichtung ereignete sich im Kontext des Dreißigjährigen Krieges nach der zweiten Schlacht von Breitenfeld (1642), bei der das schwedische Heer unter Lennart Torstensson den kaiserlichen Streitkräften eine schwere Niederlage zugefügt hatte. Zur Verantwortung wurde dafür das Regiment Madlo gezogen, das mitten in der Schlacht geflohen war und dadurch die Ehre der Armee beschmutzt und das militärische Debakel verursacht haben sollte. Um die verletzte Ehre der kaiserlichen Truppen wiederherzustellen, sollte der Name des schändlichen Regiments aus den Regimentslisten getilgt werden. Dieser Akt der damnatio memoriae wurde in diesem Fall nicht nur symbolisch vollzogen, sondern auch auf der Handlungsebene: Alle Offiziere und Unteroffiziere sowie jeder zehnte Soldat der Einheit wurden hingerichtet.22 Ehrkonflikte führten überdies bei der Verteilung von Beute über die Jahrhunderte hinweg immer wieder zu Gewaltausbrüchen, vor allem dann, wenn Verbände unterschiedlicher Herkunft nach einer gemeinsamen Plünderung den Gewinn unter sich aufzuteilen hatten und jeder durch höhere Anteile am Gewinn symbolisch seinen Vorrang gegenüber den anderen darzustellen versuchte. Im Landshuter Erbfolgekrieg (1504/05) gingen bei der Einnahme Laufs an der Pegnitz ungeordnete Plünderungen des gesamten Heeres von einem unerlaubten Beutezug einiger – vielleicht adliger – Angehöriger der Landsknechte vom Bodensee (»Seeknechte«) aus, die wertvolle Kleidungsstücke aus dem Besitz des dortigen Pflegers erbeutet hatten. Eine im Auftrag des Nürnberger Rats verfasste Chronik23 berichtet, die anderen, aus verschiedenen geografischen und sozialen Räumen stammenden Kriegsleute hätten »dyser der seknecht handlung myßfallen und darob murmelung gehabt, und sich understanden, in der stat auch zu plundern, daß man mit beschwere den furkomen.«24 Als geradezu archetypische Plünderer galten die leichten Reitereinheiten. Als genuine Akteure des Kleinen Krieges agierten sie oft abseits des Hauptheeres und entzogen sich dadurch der Aufsicht der militärischen Führung wie auch der Militärgerichtsbarkeit. So konnten sie ungestört auf Beutejagd gehen und hatten bezüglich der Intensität und Qualität der Gewaltausübung freie Hand. Inwiefern dabei die Gruppengröße einen direkten Einfluss auf den Grad der 22 Vgl. Bastian Muth, »damit der Nahme dieses Regiments aus der löblichen Armada vertilget und außgerottet werde«. Eine quellenkritische Untersuchung der Hinrichtung des Regiments Madlo nach der Schlacht von Breitenfeld im Jahre 1642, in: Ralf Pröve/­Carmen Winkel (Hg.), Übergänge schaffen. Ritual und Performanz in der frühneuzeitlichen Militärgesellschaft, Göttingen 2012, S. 81–108. 23 Staatsarchiv Nürnberg, Reichsstadt Nürnberg, Amts- und Standbücher Nr. 142. 24 Vgl. Xenakis, Gewalt und Gemeinschaft, S. 287 f., Zitat ebd., sowie S. 298 und S. 341.

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Gewalttätigkeit hatte, ist indes schwierig zu bestimmen, denn eine einfache Korrelation kann nicht angenommen werden. Vielmehr gilt es, mehrere Einflussgrößen wie die personelle und hierarchische Zusammensetzung der jeweiligen Gruppe, aber auch gemeinschaftsspezifische Normen und Regeln zu beachten und miteinander in Bezug zu setzen. Anhand der Quellen lassen sich solche Situationen häufig dann nachvollziehen, wenn Gewalt zu Gegengewalt führte. Insbesondere wenn sich die Zivilbevölkerung wehrte, indem sie selbst zur Waffe griff und den Söldnern Paroli bot, folgte in der Regel eine umso heftigere Reaktion seitens der ›Opfer‹. Dazu waren drei kroatische Kavalleristen im Nachgang ihres Überfalls auf das seinerzeit hessische Dorf Brotterode im Januar 1635 geworden. Als die Reiter reich beladen den Rückzug antraten, wurden die Nachzügler von mehreren Bauern überfallen, umgebracht und ihrer Beute entledigt. Am nächsten Tag folgte die Vergeltung: 200 Kroaten fielen in das Dorf ein, töteten die Mehrheit der Bevölkerung, nahmen alle noch vorhandenen Wertgegenstände mit und brannten den Ort völlig nieder.25 Die auf den ersten Blick oft unverhältnismäßig erscheinenden Racheakte der Kriegsknechte lassen sich in diesem Fall durch eine Verletzung der kollektiven Ehre erklären, deren Wiederherstellung mit drastischen Mitteln bewerkstelligt werden sollte. Dabei waren es Söldner durchaus gewöhnt, zum Opfer von Gewalt zu werden, von zentraler Bedeutung war jedoch, wer der Täter war bzw. welcher sozialen Gruppe er angehörte. Zwar mag es aus der Sicht des unbeteiligten Dritten einerlei sein, ob ein Soldat von einem anderen Kriegsmann oder einem Bauern angegriffen wird, zumindest für die Söldner zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges jedoch war es ein Unterschied ums Ganze, der sich im Ausmaß ihres Gewalteinsatzes widerspiegelte und vom zeitgenössischen Literaten Johann Michael Moscherosch auf die prägnante Formel »Milites esse rusticorum Diabolos« gebracht wurde.26 Aber nicht nur zwischen diesen beiden Gruppen, auch zwischen bestimmten militärischen Einheiten konnte eine habitualisierte Feindschaft entstehen, die von der Armeeführung durchaus taktisch eingesetzt werden konnte, etwa wenn die schon erwähnten Hakkapeliten auf die Kroaten angesetzt wurden, um diese zu jagen und zur Strecke zu bringen. Kriegsgefangene wurden dabei in der Regel nicht gemacht und das obwohl gerade deren S­ tatus im Laufe der Frühen Neuzeit zunehmend verbessert und juristisch abgesichert wurde.27 Dass die Eindämmung solch exzessiver Gewalt aber keineswegs ein über die

25 Johann Georg Pforr, Beschreibung etlicher denkwürdigen Geschichten, so sich zu Schmalkalden und anderen Orten Teutschen Landes von Jahren zu Jahren zugetragen, Hessische Landesbibliothek Kassel Ms. Hass. fol. 53, Bl. 113r. 26 Hans Michael Moscherosch, Gesichte Philanders von Sittewald, hg. v. Felix Bobertag, Berlin 1883 [Straßburg 1640], S. 280. 27 Michael Kaiser, Kriegsgefangene in der Frühen Neuzeit. Ergänzungen und Perspektiven, in: Arbeitskreis Militärgeschichte e. V. Newsletter 17 (2002), S. 11–14, hier S. 11; Wolfgang Wunderlich, Das Kriegsgefangenenrecht im Deutschen Reich vom 16.  Jahrhundert bis 1785. Mit einem Überblick über das römische und mittelalterliche Kriegsgefangenen-

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Jahrhunderte hinweg kontinuierlich fortschreitender Prozess war  – eine einfache Zunahme von Rechtssicherheit in der Kriegspraxis also nicht ohne Weiteres angenommen werden kann –, lässt sich insbesondere am Beispiel »exotischer« bzw. exotisierter Gewaltgemeinschaften zeigen.28 Die Kroaten wurden sowohl im 17. Jahrhundert (vom schwedischen König Gustav II. Adolf) als auch im 18. Jahrhundert (vom Preußenkönig Friedrich II.) explizit aus den Bestimmungen des ius in bello – also dem Teil des Kriegsrechts, das unter anderem den Umgang mit Kriegsgefangenen regelte – ausgeschlossen,29 weshalb der Moment der Gefangennahme für sie eine besonders prekäre, ja oft lebensbedrohliche Situation darstellte. Doch für andere Söldnergruppen bedeutete die Gefangennahme durch feindliche Truppen auch nicht per se ein Mindestmaß an Sicherheit, an ihnen wurden nicht minder immer wieder Massaker verübt. Auffällig ist dabei, dass sich diese kollektiven Gewaltexzesse häufig dann ereigneten, wenn aufgrund der unterschiedlichen Herkunftsregionen verbale Kommunikation zwischen Opfern und Tätern schwierig bis unmöglich war und deeskalierend wirkende Hemmfaktoren wie kriegsrechtliche Bestimmungen oder finanzielle Aspekte die Gewalt nicht mehr bremsen konnten.30 In manchen Fällen konnte die Gewalt selbst über den Tod der Opfer hinaus andauern, was sich z. B. in Leichenschändungen von schwedischen Soldaten an Kroaten und umgekehrt manifestierte.31 Diese extreme Gewaltform scheint dagegen im 18. Jahrhundert kaum noch vorgekommen zu sein. Eindeutig zweckrational erscheinen demgegenüber sicherlich diejenigen Fälle von extremer Gewaltausübung, in denen eine Situation ökonomischen Mangels feststellbar ist und illegale Plünderungen der Sicherung der eigenen Subsistenz dienten. Die Anwendung von Gewalt war in diesem Fall zwar notwendig um Lebensmittel zu beschaffen, sie wurde jedoch meist auf das ›nötige‹ Mindestmaß begrenzt, da eine völlige Zerstörung eines Ortes geradezu widersinnig gewesen wäre.32 Die Gewalt gegenüber den Einwohnern zielte ebenfalls nicht auf

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recht, Diss. masch. Köln 1968, S.  32–44; Bernhard R. Kroener, Der Soldat als Ware. Kriegsgefangenenschicksale im 16. und 17. Jahrhundert, in: Heinz Duchhardt/Patrice Veit (Hg.), Krieg und Frieden im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit. Theorie – Praxis – Bilder, Mainz 2000, S. 271–295. Carl, Exotische Gewaltgemeinschaften, S. 178–180. Christian Sattler, Reichsfreiherr Dodo zu Innhausen und Knyphausen, Königl. Schwedischer Feldmarschall. Seine Lebensgeschichte, Norden 1891, S. 321 f.; Christopher Duffy, Sieben Jahre Krieg, 1756–1763. Die Armee Maria Theresias. Aus dem Engl. übers. v. Claudia Reichl-Ham, Wien 2003, S. 390. Zitiert nach Xenakis, Gewalt und Gemeinschaft, S. 186. Gedenke daran Eschwege. Beschreibung und Konterfey des jämmerlichen Verderbens welches vor, in und nach der Charwoche des 1637sten Jahres nach unseres Herrn Geburt über die Stadt Eschwege a.d. Werra hereingebrochen ist. Aufgeschrieben im Winter des Jahres 1648 durch Cyriakus Kompenhans den älteren, der löblichen Gerberzunft daselbst mehrmals gewesenen Obermeister, auch der Stiftung Korporis Christi wohlbestallten Spendenmeister, Eschwege [Anfang des 20. Jahrhunderts], S. 10. Vgl. Xenakis, Gewalt und Gemeinschaft, S. 267–271.

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den Tod der Opfer ab. Sie konnte auf die Gefangennahme beschränkt sein, um später Lösegeld erpressen zu können, sie konnte aber auch in grausame Folter ausarten, wenn versteckte Lebens- oder Geldmittel ausfindig gemacht werden sollten.33 Während Geiselnahmen durch kroatische Söldner im Dreißigjährigen Krieg vielfach belegt sind,34 lässt sich bei ihnen die gezielte Anwendung von Folter zum Ausfindigmachen von Wertgegenständen nur selten nachweisen.35 Belastbare Quellen oder Berichte über derartige Exzesse fehlen weitestgehend auch für die Zeit der Kabinettskriege im 18. Jahrhundert. Nichtsdestoweniger sind sie ein fester Bestandteil der Kriegsberichterstattung der Zeit.36 Eine ambivalente Rolle beim Plünderungsvorgang spielten im 16. Jahrhundert die Hauptleute mittleren Rangs. Die einzelnen Söldner fühlten sich vor allem ihnen verbunden – im Gegenzug sorgten die Anführer der Fähnlein aber auch häufig für Gelegenheiten zur Plünderung.37 Wie anders ist zum Beispiel ein Brief des Nürnberger Kleinen Rates zu verstehen, der – nachdem Bundes­ genossen von Nürnberger Reitern und Fußknechten beraubt worden waren  – die Hauptleute im Heer scharf anwies, eigenmächtige Beutezüge zu unterbinden und sich »kaum genug verwundern« konnte, dass diese Handlungen nicht bestraft worden waren? Er drohte nun den Hauptleuten selbst Strafen an, falls sie 33 Vgl. ebd., S. 281–283. 34 Jan Kilián (Hg.), Michel Stüelers Gedenkbuch (1629–1649). Alltagsleben in Böhmen zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges, Göttingen 2014, S. 133; Fürstlich Ysenburg- und Bündingensches Archiv Büdingen Militaria 1634, Schreiben v. 26.12.1634 von Johann Conrad Scheib an die Gräflich Ysenburgischen Räte und Befehlshaber zu Offenbach; Christoph Schorer, Memminger Chronick oder Kurtze Erzehlung vieler denckwürdigen Sachen, die sich allda nicht allein vor alten, sondern auch zu jetzigen Zeiten, bevorab in verwichenem dreyssigjährigen Krieg begeben und zugetragen, von Ao 369 biß 1660 […]. Getruckt und verlegt durch Balthasar Kühnen 1660 (Faksimileausgabe Kempten/Allgäu 1964), S. 138; Hessisches Staatsarchiv Marburg 17 e Nr. Ehrsten 16; Fritz Zschaeck, Die Riedesel zu Eisenbach, Bd. 4: Vom Tode Konrads II . bis zum Vertrag mit Hessen-Darmstadt, ­1593–1713, Gießen 1957, S. 99. 35 Eines der wenigen Beispiele findet sich im Bericht der hessisch-darmstädtischen Beamten Johannes Schrautenbach und Georg Uloth zu Lichtenberg, die im Auftrag ihres Landesherrn, Landgraf Georgs II . von Hessen-Darmstadt, nach Reinheim reisten, um festzustellen, welchen Schaden die Kroaten dort bei ihrem Überfall im Mai 1635 verursacht hatten. Abgedruckt ist dieser Bericht in Fritz Herrmann (Hg.), Aus tiefer Not. Hessische Briefe und Berichte aus der Zeit des Dreißigjährigen Krieges. Erste Hälfte, Friedberg 1916, S. 147–150. 36 So sprechen die Breslauischen Zeitungsblätter vom 24. Januar 1745 davon, »daß man auf einigen Dörfern den Einwohnern die Hände mit brennenden Kien betröpfelt« habe, »um dadurch von ihnen die Anzeige des vorräthigen Geldes zu erpreßen, zu welchen barbarischen Behuf man auch so gar Nasequetschen und andere peinliche Instrumenta bey sich geführet«. 37 Gut beschrieben sind diese Phänomene für sogenannte freie Fähnlein, die ohne Sold allein auf Beuteanteil in den Krieg zogen, vgl. Stefan Xenakis, Plündern, teilen, herrschen. Beutemachen, Beuteansprüche und Beuteverteilung in Süddeutschland an der Wende zur Neuzeit, in: Horst Carl/Hans-Jürgen Bömelburg (Hg.), Lohn der Gewalt. Beutepraktiken von der Antike bis zur Neuzeit, Paderborn 2011, S. 149–166, hier S. 151.

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nichts unternähmen.38 Wenn die Söldner dagegen die eigene militärische Führung als Schuldigen für die mangelnde Versorgung identifizierten, konnte sich die Gewalt auch nach innen entladen, klassischerweise in Form der Meuterei. Diese konnte völlig regellose Züge annehmen, dann war die empörte Soldateska über mehrere Wochen hinweg nicht zu bändigen, wofür der eingangs erwähnte Sacco di Roma ein mustergültiges Beispiel abgibt.39 Allerdings konnte eine solche Auflehnung auch sehr organisiert und ritualisiert ablaufen, wie dies bei der notorisch meuternden spanischen Flandernarmee der Fall war. Wenn die Madrider Krone nicht in der Lage war, rückständigen Sold zu begleichen, bildete sich beinahe regelmäßig am Ende einer Sommerkampagne, selten zu deren Beginn, eine Schwureinigung aus erfahrenen Kombattanten, die zu einem festgelegten Zeitpunkt mit der Trommel Alarm schlugen und ihre Kameraden zum kollektiven Ungehorsam aufriefen. Waren die Veteranen damit erfolgreich, dann organisierten sie rasch einen eigenen Führungsstab, dem jeder Söldner durch einen neuen Eid die Treue schwören musste. Gelang es den Meuterern anschließend, einen festen Ort zu erobern, dann waren die Erfolgschancen für ihr Aufbegehren günstig. Denn von diesem Quartier aus konnten sie Kontributionsraids in die umliegenden Dörfer unternehmen und sich solange versorgen, bis die Verhandlungen mit den Dienst­ herren zu einem befriedigenden Ende gelangt waren.40 In beiden Fällen wurde von Gewalt Gebrauch gemacht, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen, doch blieb es meist bei der Drohung, so dass hier sehr kalkulierte Gewalt am Werk war. In ähnlichem Maße zielgerichtet wurde Gewalt auch in den süddeutschen Meutereien zu Beginn des 16. Jahrhunderts eingesetzt.41 Allerdings verlor diese Gewaltform in den folgenden Jahrhunderten zunehmend an Bedeutung, denn die Zentralisierung der Machtstrukturen durch den Aufbau stehender Heere und die damit einhergehende Disziplinierung des einzelnen Soldaten ließ ihnen nur noch die gewaltärmere und in der Regel von Einzelnen oder Kleingruppen vorgenommene Arbeitsverweigerung in Form der Desertion.42

38 Vgl. Ders., Gewalt und Gemeinschaft, S. 292–294, Zitat S. 292, siehe auch S. 66. 39 Volker Reinhardt, Blutiger Karneval. Der Sacco di Roma 1527 – eine politische Katastrophe, Darmstadt 22009. 40 Vgl. Bobak/Carl, Außer Rand und Band?, S. 176–180. 41 Ausführlich dazu Xenakis, Gewalt und Gemeinschaft, S. 155–230. 42 Michael Sikora, Disziplin und Desertion. Strukturprobleme militärischer Organisation im 18.  Jahrhundert, Berlin 1996; Peter Burschel, Die Erfindung der Desertion. Strukturprobleme in deutschen Söldnerheeren des 17.  Jahrhunderts, in: Ulrich Bröckling/­ Michael Sikora (Hg.), Armeen und ihre Deserteure. Vernachlässigte Kapitel einer Militär­ geschichte der Neuzeit, Göttingen 1998, S. 72–85; Matthias Rogg, Der Soldatenberuf in historischer Perspektive, in: Sven Bernhard Gareis/Paul Klein (Hg.), Handbuch Militär und Sozialwissenschaft, Wiesbaden 22006, S. 436–448, hier S. 443.

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3. Faktoren der Gewaltbegrenzung Während Kommunikation in Form von Zurufen und verbalen Provokationen auf der einen Seite durchaus gewaltbegünstigend wirken konnte, wirkte sie sich im Beutekontext auf der anderen Seite häufig gewalthemmend aus. Es zeigte sich, dass sich Gewalt durch Kommunikation unter Umständen dann reduzieren ließ, wenn etwa der Ort von Wertgegenständen und Lebensmitteln freiwillig kommuniziert wurde oder ›freiwillige‹ Kontributionszahlungen vereinbart wurden. Dies konnte im 16. Jahrhundert in komplizierten Verhandlungen zwischen Rat, Bürgerschaft und Kriegsleuten geschehen, bis hin zur Bildung von gemeinsamen Ausschüssen, die zur Plünderung freigegebene Güter anzeigten. Scheiterten solche Aushandlungsprozesse, konnte die Situation aber schnell in Gewalt umschlagen.43 Vergleichbare Vorgehensweisen sind für die kroatischen Söldner im Dreißigjährigen Krieg nicht nachweisbar. Allerdings konnte es durchaus gelingen, eine Plünderung im Vorfeld zu verhindern, wenn man sich auf Kontributionszahlungen oder Schatzungsgelder einigen konnte. Völlige Sicherheit ließ sich aber auch auf diesem Wege nicht erkaufen, denn in einigen Fällen nutzten die leichten Reiter Verhandlungssituationen zu ihrem Vorteil aus. Das musste unter anderem die sächsisch-hennebergische Stadt Salzungen im Jahre 1634 erfahren. Die Unterhändler der Stadt hatten sich mit den Kroaten soeben auf eine Brandschatzungsgebühr von 3.000 Reichstalern geeinigt und wollten die Zahlung gerade abwickeln, als die Söldner die Gunst der Stunde nutzten, die Stadt stürmten und sie ausplünderten. Ein ähnliches Spiel trieben sie einige Tage später in Meiningen. Auch hier sicherte der Kroatenoberst Johann Ludwig Isolano der Stadt Verschonung gegen eine Zahlung von 1.800 Reichstalern zu, nur um sie anschließend zwei Tage lang ausplündern zu lassen.44 Am Beispiel des Berliner Husarenstreichs im Oktober 1757 lässt sich zeigen, dass Kontributionszahlungen stark gewalthemmend wirken konnten. Das Problem bestand allerdings darin, die Stadt zur Zahlung der geforderten 600.000 Reichstaler zu bewegen. Laut einem Magistratsprotokoll über den 16. und 17. Oktober 1757 forderte der Befehlshabende Andreas Hadik von Futak die Summe von »500 000 Rthlr. als Brandsteuer, und wegen Befreiung von der Plünderung, dann vor die Trouppen, 100 000 Rthlr.«.45 Andernfalls sähe er sich nicht in der Lage die »erbitterten 43 Vgl. mit Beispielen aus Schwäbisch Gmünd (1519) und Schwandorf (1504) Xenakis, Gewalt und Gemeinschaft, S. 286–290. 44 Heinrich Oraeus, Theatri Europaei Oder Historische Chronicken Beschreibung Aller Vornembsten und Denckwürdigsten Geschichten / so sich hin und wieder in Europa / sonderlich im Reich Teutscher Nation von A. 1633. bis in A. 1638. begeben und zugetragen. Dritter Theil. […] zusammen getragen und beschrieben Durch Henricum Oraeum­ Assenhaimiatem, Frankfurt a. M. 1639, S. 309. 45 Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz (im Folgenden GSt APK), I. HA Rep. 96 Nr. 87 A 2. Vgl. Georg Duwe, Berlin in fremder Hand. Schicksalsstunden der preußischen

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Croaten und irreguläre Trouppen«46 zurückzuhalten. Demnach reichten weder Brandsteuer noch die Befreiung von der Plünderung aus; die Berliner sollten offenbar gezwungen werden, den Sold der feindlichen Truppe aufzubringen, um der Plünderung zu entgehen. Letztlich blieb die gezahlte Summe mit 210.000 Reichstalern deutlich unter den Forderungen der Besatzer. Charakteristisch für Belagerungen und Erstürmungen des 16. Jahrhunderts scheint darüber hinaus die kommunikative Rahmung des Gewalteinsatzes gewesen zu sein. Als zum Beispiel die Verhandlungen über die friedliche Übergabe der mittelfränkischen Stadt Velden im Landshuter Erbfolgekrieg gescheitert waren, brach innerhalb von Minuten ein Sturm los – nicht allerdings, ohne dass die Angreifer den überraschten Verteidigern auf ihre Rufe »Frid innen« mit einem entschlossenen »Frid auß« geantwortet hätten.47 Und für die Eroberung des oberfränkischen Ortes Betzenstein ist belegt, dass dieser kommunikative Rahmen während der gesamten Kampfhandlungen durch Rufen und durch B ­ oten aufrechterhalten wurde, um auf diese Weise wiederholte Kapitulationsaufforderungen und deren Bedingungen zu unterbreiten.48 Kommunikation spielte auch im Kampfgeschehen eine wichtige Rolle. Um das eigene Überleben zu sichern, mussten die Söldner – wie erwähnt – in der Lage sein, unmissverständlich klar zu machen, dass sie sich ergaben und nicht an einer Fortsetzung des Kampfes interessiert waren. Misslang an diesem neuralgischen Punkt die Verständigung, waren die Folgen unabsehbar, im besonderen Fall der Kroaten meist tödlich.49 Mitverantwortlich dafür waren nicht zuletzt die Befehlshaber, die anordneten, den Kroaten kein Pardon zu gewähren, und die diese Söldnergruppe zudem explizit aus den Quartierabkommen ausschlossen, ihnen also das Recht auf Kriegsgefangenschaft verweigerten.50 Dennoch scheinen Gefangennahmen oftmals glimpflich verlaufen zu sein, wie mehrere Gefangenenlisten sowohl aus dem Dreißigjährigen wie auch dem Österreichischen Erbfol-

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Haupt- und Residenzstadt vom 30jährigen Krieg bis zu den Freiheitskriegen, Osnabrück 1991, S. 24. Duwe, Berlin, S. 24. Vgl. (mit Zitaten) Staatsarchiv Nürnberg, Reichsstadt Nürnberg, Losungsamtliche Reverse 26, p. B (verso); Xenakis, Gewalt und Gemeinschaft, S. 252. Vgl. Staatsarchiv Nürnberg, Reichsstadt Nürnberg, A-Laden A83 (s.p.), Ansage wie die veind den marckt Betzenstain erobert und außgeprandt haben, 4. Nov. 1504; Xenakis, Gewalt und Gemeinschaft, S. 254 f. Einen ähnlichen Befund liefert Stephan Selzer für das Italien des 14. Jahrhunderts. Hier führten die mit dem Einsatz deutscher Söldner verbundenen Sprachprobleme und die kulturellen Unterschiede dazu, dass das eingeübte Ritual des Sich-Ergebens in Frage gestellt wurde und zumindest am Anfang auch nicht sprachlich kommuniziert werden konnte. Vgl. Ders., Deutsche Söldner im Italien des Trecento, Tübingen 2001, S. 115 f. Thüringisches Staatsarchiv Weimar H Krieg und Frieden Nr.  414, fol. 80–82; Johann Ludwig Gottfried, Inventarium Suecicae. Das ist Beschreibung des Königreichs Schweden sampt der Regierung, Leben unndt Thaten der Schwedischen und Gotischen Königen biss uff unser Zeiten, Frankfurt a. M. 1632, S. 254.

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gekrieg (1740–1748) und aus dem Siebenjährigen Krieg (1756–1763) bele­gen.51 Besonders im Österreichischen Erbfolgekrieg scheinen Desertion und Gefangennahme äußerst eng beieinander gelegen zu haben. So existieren für die frühen 1740er Jahre dutzende Berichte darüber, dass fahnenflüchtige Kroaten aufgegriffen und nach Regensburg verbracht wurden.52 Der Versuch, sich durch Flucht dem Gewaltgeschehen zu entziehen, scheint gerade für der Landessprache nicht mächtige Söldnergruppen selten von Erfolg gekrönt gewesen zu sein. Kommunikation über sprachliche Grenzen hinweg erweist sich damit als wichtiger Faktor, der die Gewalt zwischen ganzen Söldnerverbänden eindämmen konnte – dies zeigt schon ein relativ frühes Beispiel aus dem Jahr 1504: Die weiter oben erwähnte Chronik der Stadt Nürnberg über den Landshuter Erbfolgekrieg hebt explizit die Rolle kompetenter Vermittler hervor. Dort liest man, dass eine Meuterei böhmischer Söldner durch einen Hauptmann abgewendet wurde, der »inen bekannt, und des behaimischen gezunngs bericht gewest.«53 Entfielen diese Mittler, konnte es auch zwischen Truppen desselben Heeres zu Kampfhandlungen kommen. Die oben erwähnten Kämpfe vor Hersbruck ereigneten sich nur wenige Tage nach dieser Beinahe-Meuterei. Das Regiment befand sich zu dieser Zeit für Übergabeverhandlungen in der Stadt.54 Daraus folgerten die Chronisten ganz explizit, dass die ständige Anwesenheit der Obrigkeit einer der wichtigsten Faktoren für das Aufrechterhalten der Ordnung im Heer ist, denn »ir gegenwurtigkait oder abwesen vil verhutten oder verursachen mag«.55 Überhaupt versuchte die Obrigkeit während der gesamten Frühen Neuzeit die Gewaltausübung der ihr unterstellten Söldner unter Kontrolle zu bringen. In Artikelbriefen wurden Regeln und Normen festgelegt, deren Verletzung mit strengen Strafen geahndet werden sollte. Schon im 16.  Jahrhundert galt eigenmächtiges Plündern als besonderer Missstand. Zur Abhilfe wurden überwachte Zugordnungen gebildet, teilweise unterließen Hauptleute einzelne Unternehmungen, wenn sie befürchteten, dass sie ihren Verband nicht würden kontrollieren können.56 »Kontrollieren« heißt hier, wohlgemerkt, nicht »unterbinden«. Die obrigkeitlichen Befehle des 16. Jahrhunderts konnten auch Gewalt gegen Dorfbewohner bis hin zur Tötung beinhalten.57

51 Für den Dreißigjährigen Krieg: Österreichisches Staatsarchiv/Kriegsarchiv Alte Feld­ akten (im Folgenden AFA) 104 (1639) XII, 22, 23; AFA 106 (1640) VI 22; AFA 114 (1642) XII 108, 109; für den Siebenjährigen Krieg und den Österreichischen Erbfolgekrieg: GSt APK , I. HA Rep. 6, Nr. 19 Hh 1; für den Siebenjährigen Krieg: GSt APK , IV. HA Rep. 6, Nr. 11, 13, 15. 52 Bischöfliches Zentralarchiv Regensburg, OA Generalia 836. 53 Zitiert nach Xenakis, Gewalt und Gemeinschaft, S. 186. 54 Vgl. Staatsarchiv Nürnberg, Reichsstadt Nürnberg, Amts- und Standbücher Nr.  142, p. 51r–54v und p. 57r–58r; Xenakis, Gewalt und Gemeinschaft, S. 186, 259–263. 55 Staatsarchiv Nürnberg, Reichsstadt Nürnberg, Amts- und Standbücher Nr. 142, p. 57v–58. 56 Vgl. Xenakis, Gewalt und Gemeinschaft, S. 277 f., 292–296. 57 Vgl. ebd., S. 275–277.

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Unter Idealbedingungen – d. h. bei guter Verpflegung, regelmäßiger Bezahlung und konsequenter Aufsicht über das Verhalten der Heeresmitglieder – gelang es einzelnen militärischen Führern zeitweise durchaus, ein hohes Maß an Disziplin und Gewalteinhegung zu erreichen. Das wurde mitunter auch von der Gegenseite lobend anerkannt. So notierte der Pfarrvikar von Erling 1632 in seinem Tagebuch bezüglich des Verhaltens der schwedischen Truppen unter Gustav II. Adolf: »und jedermann mußte seine Gelassenheit, und Disciplin bewundern. Denn alles Leben, Eigentum, und Ehre war unter Ihm [Gustav  II. Adolf] sicherer als selbst unter der churfürstlichen Garnison.«58 Allerdings klagt der schreibende Mönch schon im nächsten Satz, dass sich die Soldaten auf dem Land, die der Aufsicht des Königs entzogen waren, völlig anders verhielten, sie plünderten, raubten und setzten zahlreiche Dörfer in Brand.59 Ein weiterer deeskalierender Faktor waren lokale Agenten, die als Spione, Kundschafter und Dolmetscher gezielt Informationen an die Söldner weitergaben. Je stärker umkämpft die Gebiete waren, desto mehr mussten sich die fremden Söldner auf einheimische Kundschafter verlassen. Dementsprechend groß war deren Einfluss auf Quartiersplätze(n) und Beute­gebiete(n). Fallweise gelang es den lokalen Agenten, die eigene Stadt zu schützen, indem sie den Plünderungszug in benachbarte Ortschaften umleiteten. Der Vergleich der Kriegseinsätze im 18. Jahrhundert hat gezeigt: Je unselbständiger die Kroaten als Gewaltakteure agierten, desto milder war ihr Gewalthandeln. So kämpften sie während des Polnischen Thronfolgekriegs (1733–1738) als integraler Bestandteil des Hauptheeres, was ihnen Handlungsspielräume nahm und sie einer strikten Normen- und Organisationsstruktur unterwarf, der sie sich nicht entziehen konnten. Als sie während des Österreichischen Erbfolgekrieges als leichte Reiterei hauptsächlich im Kleinen Krieg eingesetzt wurden, erweiterten sich nicht nur ihre Handlungsoptionen deutlich,60 Gewalt- und Beuteökonomie wurden zu zentralen Überlebensstrategien, da sie nicht selten von der Logistik des Hauptheeres abgeschnitten oder ausgenommen waren. Dabei dämmten die vorhandenen Marktoptionen wie Brandschatzung, Löse­ gelderpressung und Handel mit Beutestücken das Gewalthandeln der Söldner wiederum ein. Hier muss aber zumindest für die Kroaten zwischen Beuteräumen und Handelsräumen unterschieden werden. Beuteräume wurden für Raids und Entführungen genutzt. Diese liefen zwar oft gewaltsam ab, da ihnen aber zugleich starke ökonomische Ziele zugrunde lagen, fand auch hier nur dann der 58 Maurus Friesenegger, Tagebuch aus dem 30jährigen Krieg. Nach einer Handschrift im Kloster Andechs, hg. v. Willibald Mathäser, München 22012 [1974], S. 17. 59 Ebd. 60 Siehe Kunisch: »Schon bald nach ihrer ersten Verwendung auf mitteleuropäischen Kriegsschauplätzen im ersten Schlesischen Krieg wußten die Grenztruppen durch Gewandtheit, Wagemut und listige Verschlagenheit nicht weniger als durch ungehemmte Beutegier eine ebenso gefürchtete wie erfolgreiche Aktivität gegen ihre französischen und preußischen Gegner zu entfalten.« Johannes Kunisch, Der kleine Krieg. Studien zum Militärwesen des Absolutismus, Wiesbaden 1973, S. 26.

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Rückgriff auf exzessive Gewalt statt, wenn mangelnde Kooperationsbereitschaft der Opfer den möglichen Gewinn zu schmälern drohte. Die Handelsräume hingegen zeichneten sich durch Gewaltarmut aus, da Bedrohungsszenarien einem erfolgreichen Beuteaustausch eher im Wege gestanden hätten. Die Ambivalenz der hier vorgestellten Faktoren macht eindeutige Zuordnungen in vielen Fällen unmöglich. Faktoren, die in einer Situation gewalthemmend wirkten, konnten sich unter anderen Vorzeichen ins Gegenteil verkehren. Besonders deutlich wird dies am Beispiel zahlenmäßiger Über- bzw. Unter­ legenheit. Ungleiche Kräfteverhältnisse konnten eine Eskalation der Gewalt abrupt beenden, wenn sich die schwächere Seite dazu entschloss, jegliche Kampfbereitschaft aufzugeben. Hingegen konnte die Flucht der schwächeren Seite eine Gewaltspirale in Gang setzen, die in vielen Fällen erst mit dem Tod der Flüchtenden ein Ende fand. Regelrechte Menschenjagden erscheinen dabei eher für das ausgehende 15. und frühe 16. Jahrhundert als typisch, zum Beispiel wenn ein Verband von habsburgischen Knechten im Schweizerkrieg nach der Schlacht an der Calven von einem Graubündner Verband bis in das rund 20 km entfernte Schlanders gejagt wurde.61 Einschlägig sind hier vor allem die von Reitern vorangetriebenen Jagden auf die Aufständischen des Bauernkriegs (1524–1526) – wo aber auch Fußknechte das Töten fortsetzten, falls die Reiter aufgrund des Geländes nicht weiter vorankamen. Eindrucksvoll ist hier der Bericht des Augsburger Hauptmanns62 Michael Frieshaimer über die Ereignisse nach der Schlacht bei Böblingen (1525): »[…] und [die Reiter] namen das Scharmützel mit ihnen an und brachten sie damit in die Flucht. [Und als wir] eben recht dazu kamen, war die Flucht gewaltig an ihnen. Da ließ man den verlorenen Haufen laufen, und [sie] setzten ihnen nach durch den Wald. […] Eine gewaltige flucht, wie ich sie lange nicht gesehen habe, wohl eineinhalb deutsche Meilen lang, einer nach dem anderen erstochen.«63

Die Situation entsprach tatsächlich zu weiten Teilen einer Treibjagd, denn am anderen Ende des Waldes warteten weitere Reiter auf einer Waldweide, um diejenigen zu töten, die den Knechten im Wald entkommen waren.64 Ähnliche Er-

61 Vgl. Xenakis, Gewalt und Gemeinschaft, S. 146 f., 241 f. Zum Phänomen der Menschenjagd aus evolutionspsychologischer Perspektive, vgl. Thomas Elbert u. a., Fascination­ violence. On mind and brain of man hunters, in: European Archives of Psychiatry and Clinical Neuroscience 260 (2010), Suppl. 2, S. 100–105. 62 Vgl. Blickle, Der Bauernjörg, S. 150 f. 63 Wilhelm Vogt, Die Correspondenz des schwäbischen Bundeshauptmanns Ulrich Artzt von Augsburg aus den Jahren 1524–1527. Ein Beitrag zur Geschichte des Bauernkrieges in Schwaben, Teil 2, in: Zeitschrift des Historischen Vereins für Schwaben und Neuburg 7 (1880), S. 223–380, hier S. 363 (Nr. 387, Übersetzung nach Xenakis, Gewalt und Gemeinschaft, S. 245). 64 Vgl. Xenakis, Gewalt und Gemeinschaft, S. 245. Weitere Beispiele ebd., S. 241–247.

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eignisse finden sich auch in preußischen Quellen des Siebenjährigen Krieges, etwa in Berichten über Verfolgungsjagden, die sich Panduren und preußische Husaren regelmäßig geliefert haben.65 Den Panduren wurde dabei nur selten Pardon gewährt. Je enger die personellen Verflechtungen zwischen Söldnern und ortsansässiger Bevölkerung waren, desto geringer fiel im Allgemeinen das Gewalthandeln aus. Tatsächlich haben die Kroaten während des Dreißigjährigen Krieges gerade im Fürstbistum Fulda immer wieder Quartier bezogen und über die Jahre Netzwerke aufgebaut, die bei der Veräußerung von Beutegütern große Bedeutung hatten. Die fuldischen Quellen berichten daher auch die meiste Zeit recht positiv über die Kroaten, der Ortschronist Gangolf Hartung begrüßt ihre Rückkehr sogar, nachdem zuvor schwedische und hessische Truppen in der Stadt einquartiert waren.66 Prinzipiell war es für fremde, mobile Kriegergruppen aber schwieriger, solche Netzwerke aufzubauen, weil zu der Problematik der Sprache und der häufig kurzen Aufenthaltsdauer auch eine hohe Fluktuation auf der Obristenebene kam. Für die Panduren des 18. Jahrhunderts lässt sich Ähnliches feststellen. Auch sie zeigten sich als Quartiersgäste außerordentlich kooperativ. Hier scheint die Interaktionsdauer und -häufigkeit eine zentrale Rolle zu spielen. Aufgrund ihrer hohen Mobilität ließen sich nur in den seltensten Fällen Netzwerke oder gar Freundschaften mit Quartiergebern aufbauen, hinzu kam die Ungewissheit, wann sie sich erneut mit Nahrung und Beute würden versorgen können. Eine auf mehrere Monate ausgelegte Einquartierung brachte hingegen nicht nur Planungssicherheit, sondern auch die Notwendigkeit mit sich, mit den verfügbaren Ressourcen Haus zu halten. Eine erfolgreiche Außendarstellung von Gewaltgemeinschaften konnte eben­ falls stark gewaltregulierend wirken, beispielsweise dann, wenn Erzählungen von Gewaltexzessen die Runde machten und die Bevölkerung derart verschreck­ ten, dass entweder jegliche Gegenwehr ausblieb, Kontributionen gezahlt wurden oder aber leere Städte widerstandslos geplündert werden konnten. Um dieses Spiel mit der Angst führen zu können, musste bisweilen durch den Einsatz wohl kalkulierter Grausamkeiten der eigene schlechte Ruf gewissermaßen ge65 Vgl. GSt APK , I. HA , GR , Rep. 63, Neuere Kriegssachen, Nr. 1141: Kurzgefaßte Nachricht von demjenigen, was, seit dem Treffen bey Liegnitz, bey denen Königlich Preußischen Kriegsherren, in Schlesien und Sachsen, vorgefallen ist; Wie auch von dem herrlichen Siege, welchen Se. Königliche Majestät, den 3ten November, bey Torgau, über die Oester­ reichische Armee, unter Anführung des Feldmarschalls Daun, erhalten haben. 1760: »Den folgenden Tag ließ sich ein feindliches Corps, unter Anführung des Generals Beck, auf unserer linken Seite sehen; man griff es sogleich an, warf es über den Haufen, jagte es durch Hohen=Friedberg durch, und verfolgte die Cavallerie bis nach Striegau, bey welcher Gelegenheit 7 bis 800 Panduren in unsere Hände fielen.« 66 Die Chronik Gangolf Hartung’s, abgedruckt in: Programm mit welchem zu der öffentlichen Prüfung und Schlußfeierlichkeit des Kurfürstlichen Gymnasiums zu Fulda auf den 23. und 24. März ergebenst einladet der Stellvertreter des Gymnasialdirectors Dr. Karl Weismann, Fulda 1869, S. 4–42, hier S. 38.

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pflegt werden. Im Falle der Panduren übernahm die preußische und damit die gegnerische Seite diese Aufgabe, indem in verschiedenen schlesischen Zeitungen von exzessiver Gewalt der Kroaten gegen die Landbevölkerung berichtet wurde.67

4. Fazit Selbstverständlich traten die hier aufgeführten Faktoren der Gewalteskalation und Gewaltbegrenzung in den seltensten Fällen in Reinform auf. Meist wirkten verschiedene von ihnen zusammen und verstärkten bzw. hemmten sich gegenseitig. Hinzu kommt, dass viele Faktoren, wie erwähnt, abhängig vom Kontext entweder gewaltbegünstigend oder eben gewalthemmend wirken konnten. Kommunikation war beispielsweise prinzipiell eine wichtige Voraussetzung für die Begrenzung respektive Verhinderung von Gewalt. Scheiterten Verhandlungen über Kapitulationsbedingungen, Brandschatzungsgelder oder Kontributionszahlungen jedoch, dann gingen die Söldner häufig mit umso heftigerer Gewalt vor – begrenzte Gewalt schlug in grenzenlosen Exzess um. In dieser Hinsicht war der phänomenologische Zugang zum Gewalthandeln von Söldnern ganz besonders zielführend. Dabei zeigte sich, dass während der gesamten Frühen Neuzeit die Kriegsherren aller Seiten immer wieder versuchten, die Gewalt einzugrenzen, ohne jedoch durchschlagende Erfolge verzeichnen zu­ können.68 Keinem von ihnen gelang es, die exzessive Gewalt begünstigenden Faktoren in ihren Heeren dauerhaft auszuschalten oder wenigstens umfassend zu kontrollieren. Allenfalls gelang es zum 18. Jahrhundert, die sogenannten regulierten Einheiten zu schaffen und den Exzess – scheinbar – an den Rand, in den sogenannten Kleinen Krieg zu drängen und dem schon mehrfach erwähnten Fremden, Exotischen zuzuschreiben. Waren die schwer kontrollierbaren Faktoren im 16.  Jahrhundert, wie im oben geschilderten Beispiel der Plünderung Laufs, noch ganz in der Mitte der Heeresgesellschaft zu finden – Ehre und Prestige besaßen für Landsknechte aller sozialen Schichten eine immens hohe 67 Beispielsweise Wahrhaffter Bericht, von denen von den feindlichen Oesterreichischen und Sächsischen Trouppen, in Schlesien, gegen dessen Einwohner, begangenen grausahmen und enormen Excessen, Breslau 1745. Dass derartige Berichte propagandistisch ausgeschmückt wurden, scheint anhand der vielen plastischen Gewaltdarstellungen, die sich nur sehr selten quellenmäßig nachweisen lassen, sehr wahrscheinlich. Sie fügten sich allerdings nahtlos in den Diskurs über die räuberischen und exzessiven Kroaten und­ Panduren ein und dürften deshalb auf die Zeitgenossen einigermaßen glaubhaft gewirkt haben. 68 Ein paralleler Befund, ausgehend von dem Versuch, Plünderungen im Spätmittelalter zu regulieren, bei: Michael Jucker, Rauben, Plündern, Brandschatzen. Kriegs- und Fehdepraxis im Spannungsfeld von Recht, Ökonomie und Symbolik, in: Julia Eulenstein u. a. (Hg.), Fehdeführung im spätmittelalterlichen Reich. Zwischen adeliger Handlungslogik und territorialer Verdichtung, Affalterbach 2013, S. 261–284, hier S. 267.

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Bedeutung und um sie zu verteidigen oder zu vermehren setzten sie sich regelmäßig über die Anweisungen ihrer Befehlshaber hinweg –, so waren es später vor allem ›fremde‹ Söldner(-gruppen), die weitgehend unbeaufsichtigt und auf eigene Faust agierten, womit der Gewaltausübung kaum verbindliche Grenzen gesetzt werden konnten. Dass unkontrollierte Gewalt aber nur ein Problem ›randständiger‹ bzw. ›irregulärer‹ Söldnergruppen gewesen sei, ist eine Zuschrei­ bung, die so nicht haltbar ist. Denn der »Rand« war allein schon zahlenmäßig nicht als solcher zu bezeichnen. So machten die Kroaten-Regimenter im Dreißigjährigen Krieg zeitweise ein Fünftel der gesamten kaiserlichen Armee aus,69 im 18.  Jahrhundert war ihr Anteil bisweilen sogar noch höher.70 Der Kleine Krieg, und damit auch dessen exzessive Gewalt, war vielmehr ein integraler Bestandteil des Krieges.

69 Dies gilt für die Jahre 1634–1636, vgl. Alphons Freiherr von Wrede, Geschichte der K. und K. Wehrmacht. Die Regimenter, Corps, Branchen und Anstalten von 1618 bis Ende des 19. Jahrhunderts, Bd. III, Wien 1901, Beilage I zu Seite 12. 70 Hans Bleckwenn beziffert die Zahl der Grenzinfanteristen, die »auf anderen Kriegsschauplätzen zu dienen verpflichtet war«, für den Siebenjährigen Krieg auf 17.000 Mann. Ders., Die Regimenter der Kaiserin, in: Schriften des Heeresgeschichtlichen Museums in Wien 3 (1967), S. 25–53, hier S. 41.

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Gewaltgemeinschaften und die Military Revolution im östlichen Europa Der Einfluss internationaler Konjunkturen und wirtschaftlicher Faktoren auf die Gewaltmärkte der Frühen Neuzeit

In der vergleichenden europäischen Gewaltforschung der Frühmoderne ist das östliche Europa bisher kaum als eigene Region mit spezifischen Formen von Gewaltausübung, Gewaltpraktiken und Gewaltmärkten wahrgenommen worden. Der modernisierungstheoretische Ansatz ging in der Forschung von einer verspäteten Durchsetzung der frühmodernen »militärischen Revolution« im östlichen Europa im Laufe des 17. Jahrhunderts aus.1 Diese habe sich von den Niederlanden des 16.  Jahrhunderts aus zunächst über schwedische Einflüsse und gestützt auf deutsche, niederländische, französische und schottische Söldner und Offiziere schrittweise im östlichen Europa ausgebreitet. Sie sei wie in Westeuropa einhergegangen mit einem Ausbau des bürokratischen Apparats, einer Erhöhung der Steuerlast und einer allgemeinen Finanzreform und habe schließlich eine staatliche Durchdringung der osteuropäischen Gesellschaften nach sich gezogen. Diese Prozesse werden für das Moskauer Reich (Marshall Poe)2 und für Polen-Litauen (Robert Frost)3 für das gesamte 17. Jahrhundert angenommen; sie endeten für den ersten Staatsverband erfolgreich, indem sie im frühen 18. Jahrhundert in die groß angelegten Militär- und Staatsreformen unter Peter dem Großen mündeten, scheiterten jedoch im zweiten Falle, was durch Teilungen und Annexionen »bestraft« wurde. Allerdings führt diese Theorie für die Frühe Neuzeit zu zahlreichen Erklärungsnotständen, ja blendet Ereignisse regelrecht aus. Schließlich haben wir es 1 Der vorliegende Text bündelt die Kompetenzen der drei Autoren, die jeweils schwerpunktmäßig im Bereich der osmanischen, polnischen und russischen Geschichte liegen. Er wurde im Kontext des gemeinsamen Projekts intensiv diskutiert und bildet ein Ergebnis mehrjähriger Arbeiten. Die Übersetzungen ins Deutsche stammen – sofern nicht anders vermerkt – von den Autoren. 2 Marshall Poe, The Consequences of the Military Revolution in Muscovy. A Comparative Perspective, in: Comparative Studies in Society and History 38 (1996), S. 603–618; Ders., The Military Revolution. Administrative Development and Cultural Change in Early Modern Russia, in: The Journal of Early Modern History 2 (1998), S. 247–273. 3 Robert I. Frost, The Northern Wars. War, State and Society in Northeastern Europe, 1558–1721, London 2000; Ders., The Polish-Lithuanian Commonwealth and the »Military Revolution«, in: Mieczysław B. Biskupski/James S. Pula (Hg.), Poland and Europe. Historical Dimensions, New York 1993, S. 19–47.

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im östlichen Europa zunächst (bis in das erste Drittel des 17. Jahrhunderts) mit einer gegenläufigen Entwicklung zu tun, die manchmal als »Orientalisierung« der Kriegführung bezeichnet wird, nämlich eine Priorität der leichten Kavallerie, wobei die Infanterie oft nur als Hilfstruppe eingesetzt wurde.4 Eine mit der »militärischen Revolution« verbundene Errichtung von frühmodernen Festungen nach italienischem Vorbild (trace italienne) lässt sich vor dem 18. Jahrhundert im östlichen Europa kaum nachweisen. Erst in der Festung Novodvinsk in Archangelsk 1701 und in der Peter-und-Paul-Festung von St. Petersburg 1703 wurden diese Innovationen in der Festungsbaukunst aufgenommen; polnische Initiativen wie die Festung Kudak am Dnepr (1635/39–1648) unweit des heutigen Dnipropetrovsk blieben vereinzelt und wurden infolge von Finanzkrisen abgebrochen.5 Neuere Ansätze, insbesondere der 2012 von Brian Davies herausgegebene Sammelband »Warfare in Eastern Europe«, stehen der sogenannten »militärischen Revolution« aus dem Westen eher revisionistisch gegenüber. Ausschlaggebend für das Verständnis der militärischen Entwicklung in Osteuropa sind laut Davies die geographischen und zum Teil  daraus resultierenden sozialen, demographischen und infrastrukturellen Unterschiede zwischen dem »Baltic« und dem »(Danubian-)Pontic theater of war«. Die unterschiedlichen Arten der Kriegführung in diesen Regionen bestimmten dementsprechend das Ausmaß und die Reichweite der militärischen Veränderungen, d. h. inwiefern die westlichen Technologien und Taktiken über die Ostseeregion übernommen und im zentralen Osteuropa, nämlich in der Ukraine und der Schwarzmeerregion, eingesetzt wurden. Darüber hinaus sei es das Osmanische Reich gewesen, das über Jahrhunderte hinweg das Militärwesen im östlichen Europa prägte, so dass die meisten Innovationen im Moskauer Reich im 16.  Jahrhundert wohl osmanischen und nicht westlichen Ursprunges gewesen sein dürften (Artillerie, die Wagenburg-Taktik, die Strelizen nach dem Janitscharen-Vorbild). Insoweit hält

4 Vitalij V. Penskoj, Velikaja ognestrel’naja revolucija [Die Große Pulverrevolution], Moskau 2010, S. 64–72. Spekulationen der Übernahme des Timar-Systems und der Janitscharen von den Osmanen (pomest’e und strel’cy) z. B. bei Gábor Ágoston, Military Transformation in the Ottoman Empire and Russia, 1500–1800, in: Kritika: Explorations in Russian & Eurasian History 12 (2011), S. 281–319, hier S. 291. 5 Im Kern für Polen-Litauen verneint bei Bogusław Dybaś, Fortece Rzeczypospolitej. Studium z dziejów budowy fortyfikacji stałych w państwie polsko-litewskim w XVII wieku [Studie über die Geschichte des Baus ständiger Befestigungsanlagen in Polen-Litauen im 17.  Jahrhundert], Toruń 1998; lediglich einzelne Elemente der trace italienne lassen sich im Moskauer Festungsbau seit den 1530er (Festung Starodub) und dann vermehrt seit den 1630er Jahren nachweisen, vgl. Anatolij N. Kirpičnikov, Kreposti bastionnogo tipa v srednevekovoj Rossii [Festungen des Bastion-Typs im mittelalterlichen Russland], in: Pamjatniki kul’tury. Novye otkrytija. Ežegodnik 1978, Leningrad 1979, S. 471–499; Konstantin Nossov, Russian Fortresses 1480–1682, Oxford 2006; Ders., Russkie kreposti konca 15–17 vv. [Russische Festungen vom Ende des 15. bis zum 17. Jahrhundert], Sankt Petersburg 2009.

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Davies es für sinnvoll, in Bezug auf das östliche Europa nicht von einer »militärischen Revolution«, sondern von einer wiederholten »militärischen Adaptation« zu sprechen.6 Auch die jüngste vergleichende Studie zum Vollzug der »militärischen Revolution« im Osmanischen Reich, Polen-Litauen und Moskauer Reich hebt die Besonderheiten des osteuropäischen Kriegsschauplatzes hervor, verbleibt aber grundsätzlich beim staatszentrierten Standpunkt, wonach die »militärische Revolution« auf eine technologische und taktische Reform des Militärs reduziert wird, deren Erfolg letzten Endes von der Durchsetzungsfähigkeit der zentralen Obrigkeit abhängig sei.7 Diese Meistererzählung besitzt aus der staatszentrierten Perspektive der Hochmoderne eine gewisse Plausibilität, denn sie kann auf die staatlichen Strukturen des 19. und 20. Jahrhunderts verweisen, als sich dieser Prozess tatsächlich allgemein durchsetzte. Sie blendet jedoch unseres Erachtens einen Kernaspekt der »militärischen Revolution« aus, nämlich die enge Verknüpfung zwischen der technologisch-militärischen Entwicklung und dem damit einhergehenden Ausbau des staatlichen Gewaltmonopols, gefolgt von der geographischen Expansion.8 In der modernen Forschung zwar umstritten,9 bietet dieser Zusammenhang jedoch einen Anknüpfungspunkt an ein anderes Konzept, in welchem dem Begriff des (staatlichen) Gewaltmonopols ebenfalls eine zentrale Rolle zukommt und das unser Verständnis der historischen Gewaltprozesse im östlichen Europa verfeinern kann. Die anhand afrikanischer Gesellschaften des 20. Jahrhunderts von Georg Elwert entwickelte Theorie der Gewaltmärkte fand in der europäischen Geschichte bislang nur wenig Berücksichtigung,10 weist aber ein großes deskriptives und analytisches Potential auf und lässt sich durch6 Brian L. Davies, Introduction, in: Ders. (Hg.), Warfare in Eastern Europe, 1500–1800, Leiden 2012, S. 1–18, hier S. 10–12. Für das Osmanische Reich: Gábor Ágoston, Firearms and Military Adaptation. The Ottomans and the European Military Revolution, 1450–1800, in: Journal of World History 25 (2014), S. 85–124. 7 Penskoj, Velikaja ognestrel’naja revolucija. 8 Geoffrey Parker, The Military Revolution. Military Innovation and the Rise of the West, 1500–1800, New York 1988; Brian M. Downing, The Military Revolution and Political Change. Origins of Democracy and Autocracy in Early Modern Europe, Princeton 1993. 9 Jeremy Black, A Military Revolution? Military Change and European Society, 1550–1800, London 1991. 10 Elwert selbst legte eine Anwendung auf die frühmoderne europäische Geschichte nahe, führte sie jedoch nicht aus: »It is tempting to analyse early modern Europe and the period preceding the establishment of stable capitalism structures there under the same perspective«, Georg Elwert, Markets of Violence, in: Ders. u. a. (Hg.), Dynamics of Violence. Processes of Escalation and De-Escalation in Violent Group Conflicts, Berlin 1999, S. 85–102, hier S. 88, Anm. 4. Ein Beispiel der Konzeptanwendung: Andreas Klein, Machtstrukturen auf einem Gewaltmarkt. Strukturen der Gewalt im anglo-schottischen Grenzland des 16.  Jahrhunderts, in: Mathis Prange/Christine Reinle (Hg.), Fehdehandeln im spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Europa und Fehdegruppen, Göttingen 2014, S. 61–91.

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aus auf das östliche Europa in der Frühen Neuzeit anwenden. Elwert beschreibt Gewaltmärkte als »economic fields dominated by civil wars, warlords or robbery, in which a self-perpetuating system emerges which links non-violent commodity markets with the violent acquisition of goods. It is the profit implied in the entwined violent and non-violent forms of appropriation and exchange which is the guiding principle of action.«11 Gewaltmärkte »können in gewaltoffenen Räumen  – vor allem bei Abwesenheit eines Gewaltmonopols  – entstehen.«12 Allein das fehlende Gewaltmonopol reicht allerdings nicht aus, es bedarf noch eines Anschlusses an eine funktionierende Marktwirtschaft: »Wenn Marktwirtschaft und gewaltoffene Räume zusammentreffen, kann es zu einer positiven Rückkoppelung kommen: Die marktökonomischen Interessen vergrößern die gewaltoffenen Räume und in gewaltoffenen Räumen werden Marktinteressen in wachsendem Maßstab realisiert. Es entsteht das sich selbst stabilisierende System des Gewaltmarktes. Abstrakter formuliert, sollen wir unter einem Gewaltmarkt ein von Erwerbszielen bestimmtes Handlungsfeld verstehen, in dem sowohl Raub und Warentausch als auch ihre Übergangs- und Kombinationsformen (wie Lösegeld­ erpressung, Straßenzölle, Schutzgelder usw.) vorkommen. Dabei knüpfen die unterschiedlichen Handlungsformen derart aneinander an, dass einerseits jeder Akteur grundsätzlich mehrere Optionen von Raub bis Handel hat (also nie nur reine Händler gegen reine Räuber stehen) und dass andererseits ein (zwar konfliktuelles aber) sich selbst stabilisierendes Handlungssystem entsteht«.13

In der Regel überdauern aber Gewaltmärkte nur wenige Jahrzehnte, bis sie entweder durch innere Faktoren (Erschöpfung der Ressourcen) oder äußere (Handelsblockade oder Etablierung eines Gewaltmonopols) zum Erliegen kommen. Da sich die beiden oben skizzierten Konzepte der Kategorie des Gewalt­ monopols bedienen, liegt es nahe, diese in einer historischen Perspektive zu verbinden und somit zu versuchen, die ältere Gewaltgeschichte des östlichen Europas im Spannungsfeld von Gewaltmonopol, Gewaltmärkten und Gewaltgemeinschaften neu zu betrachten. Im Folgenden versuchen wir zunächst aufzuzeigen, dass die Merkmale des Gewaltmarktes auch auf die frühneuzeitliche Schwarzmeerregion zutreffen, wobei der Anschluss an die Weltmärkte und Sklavenhandel eine entscheidende Rolle spielten. Des Weiteren wird ein Export von Gewalt(-gemeinschaften) und der Söldnermarkt Ukraine thematisiert; und letztlich gilt es zu verfolgen, welche Auswirkung die Phänomene des westlichen Einflusses und der »militärischen Revolution« auf den Gewaltmarkt Ukraine hatten. 11 Elwert, Markets of Violence, S. 86. 12 Ders., Gewaltmärkte. Beobachtungen zur Zweckrationalität der Gewalt, in: Trutz von Trotha (Hg.), Soziologie der Gewalt. Sonderheft der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Opladen 1997, S. 86–101, hier S. 88 (Hervorhebungen durch die Verfasser). 13 Ebd.

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1. Die Integration der osteuropäischen Sklavenwirtschaft und des Gewaltmarktes Ukraine in die europäische und globale Gewaltgeschichte Ungeachtet der bereits oben von Davies angesprochenen Verflechtung zwischen Livland und der Ukraine sind die jeweiligen Gewaltstrukturen typologisch unterschiedlich. Trotz jahrzehntelanger Kriege (seit der Koadjutorfehde 1556 fast ununterbrochen bis 1629 und sporadisch bis 1721) sowie bestehender Anbindung an die Weltmärkte durch die Hanse findet man an der Ostseeküste keine Gewaltmärkte, und das aus zweierlei Gründen: Zum einen gab es in der Region keine leicht zu erbeutenden und gut transportierbaren (Luxus-)Waren, die die etwaige Nachfrage auf einem Markt stillen konnten; zum anderen führte das andauernde Ringen der Nachbarmächte um Livland nie zur Entstehung eines Machtvakuums, vielmehr waren die konkurrierenden Mächte bemüht, das Land langfristig an sich zu binden und administrativ zu erschließen, zumal wir im Fall von Schweden ein Musterbeispiel des fiscal-military state beobachten können.14 Eine ganz andere Machtkonstellation herrschte in der nördlichen Schwarzmeerregion vor. Das nach dem Mongoleneinfall in der Mitte des 13. Jahrhunderts weitestgehend entvölkerte Gebiet zwischen dem Dnjestr und dem Don verwandelte sich in eine Einöde, die als die »wilden Felder« bezeichnet wurde. Regelmäßig überquerten tatarische Kriegerverbände diese Steppen auf ihren Beute- und Menschenraubzügen gen Norden. Spätestens seit dem 15. Jahrhundert ist eine Besiedlung aus den ruthenischen Gebieten Polen-Litauens und dem Moskauer Reich nachweisbar, die wohl zum größten Teil aus entlaufenen Bauern und Geächteten bestand. Diese ließen sich an den Flüssen entlang in kleineren Gruppen nieder, gingen seminomadischen agrarischen Tätigkeiten (Jägerei, Fischerei, Zeidlerei, Viehzucht)15 nach und übernahmen als Selbstbezeichnung das turksprachige Wort kazak (Kosak) von den vorher schon dort ansässigen turksprachigen Steppenbeutern. Auch diese setzten sich aus Verbannten und Flüchtigen zusammen, die im Rahmen von Stammes- und Thronfolgekonflik­ ten der Goldenen Horde und ihrer Nachfolger aus ihrem Stammes- oder Klientelverband ausgestoßen worden oder geflohen waren, mitunter aber wieder unter eine lose Herrschaft des Krimkhanats gerieten.16 Wie Mihnea ­Berindei heraus14 Jan Glete, War and the State in Early Modern Europe. Spain, the Dutch Republic and Sweden as Fiscal-Military States, 1500–1660, London 2002, S. 174–212. 15 Unter dem Jahr 1489 erwähnt der polnische Chronist Marcin Bielski zum ersten Mal die Kosaken am Dnepr. Józef Turowski (Hg.), Kronika Marcina Bielskiego, 3 Bde., Sanok 1856, hier Bd. 2, S. 882; er hinterließ auch die erste Beschreibung der Zaporoger Kosaken: ebd., Bd. 3, S. 1358–1361. 16 Yücel Öztürk, Özü’den Tuna’ya Kazaklar [Die Kosaken vom Dnepr bis zur Donau], Istanbul 2004, S. 214 f.

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stellte, war der Begriff kazak im 16. Jahrhundert sowohl auf osmanischer wie auf polnischer Seite noch nicht ethnisch konnotiert und bezeichnete vornehmlich »Raubbeuter« (brigands) und sekundär eine Gattung irregulärer (Grenz-) Truppen. So wurden die Tataren und Nogaier im Budžak noch in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts auch als kazak bezeichnet.17 Auch später noch finden sich tatarische Überläufer in den Reihen der mehrheitlich slawisch-sprachigen, orthodoxen Kosaken. Von Anfang an mussten sich diese kleinen, außerhalb tatarischer Oberhoheit stehenden Gemeinden gegen die Tataren zur Wehr setzten,18 es bedurfte aber zweier Kriegsunternehmer, bis sich die Kosaken in der Mitte des 16. Jahrhunderts militärisch dauerhaft etablieren konnten: Bernhard von Prittwitz und Dmytro Wiśniowiecki. Prittwitz (1500–1561), ein schlesischer Adliger aus der deutsch-polnischen Grenzregion um Groß-Wartenberg und Schildberg in polnisch-litauischen Diensten, warb Ende der 1530er Jahre eine Privattruppe der Kosaken an, um vor allem seine eigenen Landgüter und das ihm anvertraute Amt als Starost von Bar in Podolien vor Tatarenüberfällen zu schützen. Seit 1540 fiel er aber selbst regelmäßig in die tatarischen Gebiete ein und nahm reiche Beute, auch an Menschen, mit. Andrzej Dziubiński zufolge ging dieser Strategiewechsel auf eine Initiative des Hetmans Jan Tarnowski zurück, der in seiner Jugend an der Seite der Portugiesen gegen die Berber kämpfte und die portugiesischen Taktiken nun auf die Ukraine angewandt wissen wollte.19 Sein Zeitgenosse Dmytro Wiśniowiecki (Vyšnevec’kyj, † 1564) galt nicht nur als Begründer der Zaporoger Sič (ukrainisch »Verhau«), dem ersten adminis­ trativen Zentrum der Kosaken am Dnepr, sondern legte auch den Grundstein des kosakischen Söldnertums, indem er seine Dienste an Polen-Litauen, den Moskauer Zar, den moldauischen Adel und sogar an den osmanischen Sultan zu verkaufen suchte.20 Gemeinsam wurde beiden Anerkennung als Verteidiger der

17 Mihnea Berindei, Le problème des »Cosaques« dans la seconde moitié du XVIe siècle, in: Cahiers du monde russe et soviétique 13 (1972), S.  338–367. Siehe auch Andrzej Dziubiński, La province turque d’Aqkerman. Nouveau facteur politique et économique sur les confins méridionaux de l’Etat polono-lituanien au XVI siècle, in: Revue Roumaine d’Histoire 35 (1996), S. 137–148, hier S. 140, 144. 18 Vgl. Elwerts These zu Afrika: »Sedentary peasants had to enter the military structure as mercenaries, serfs or as self-defending communities, if they wanted to avoid slavery«.­ Elwert, Markets of Violence, S. 86. 19 Andrzej Dziubiński, Polsko-litewskie napady na tureckie pogranicze czarnomorskie w epoce dwu ostatnich Jagiellonów [Polnisch-litauische Überfälle an der osmanischen Schwarzmeergrenze in der Epoche der letzten beiden Jagiellonen], in: Kwartalnik Historyczny 103 (1996), H. 3, S. 53–87, hier S. 55–57. 20 Die jüngste Biographie: Oleg Ju. Kuznecov, Rycar’ Dikogo polja. Knjaz’ D. I. Višneveckij [Ritter des wilden Feldes. Fürst D. I. Wiśniowiecki], Moskau 2013; Wiśniowiecki als Kriegsunternehmer: Chantal Lemercier-Quelquejay, Un condottiere lithuanien du XVIe siècle. Le prince Dimitrij Višneveckij et l’origine de la Seč Zaporogue d’après les Archives ottomanes, in: Cahiers du monde russe et soviétique 10 (1969), S. 257–279.

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Grenze gegen die tatarischen Menschenraubzüge entgegengebracht – eine Aufgabe, die die staatliche Gewalt nicht bewältigen konnte. Wie Peter Lock schreibt: »In gewaltoffene Räume, aus denen sich der Staat bewusst oder gezwungenermaßen zurückzieht, können neben kriminellen Organisationen auch private Sicherheitskräfte eindringen – wobei die Grenzen zwischen beiden Gruppen mitunter fließend sein können«.21

Die Handlungsmotivationen sowohl der kosakischen als auch der tatarischen Gewaltgruppen waren vordergründig vom Weltmarkt bestimmt,22 zu dem sie in einer reziproken Beziehung standen. Zum einen brauchten sie Absatzmärkte für ihre Beute und Dienste; zum anderen war »die Logistik militärischer Opera­tio­ nen, auch solchen auf niedrigem Niveau, […] auf internationale Warenströme, zum Beispiel Munition angewiesen«.23 Mitte des 16. Jahrhunderts beschrieb der litauische Chronist Michalon Litwin, zahlreiche Schiffe vom anderen Schwarzmeerufer würden die Tataren mit Waffen, Kleidung und Pferden versorgen. Und wenn ein einfacher Reiter keine Sklaven zum Verkaufen habe, »so verpflichte er sich seinem Gläubiger vertraglich gegenüber, diesen zum gewissen Tag für Kleidung, Waffen und lebende Pferde ebenfalls mit Lebendem, aber nicht mit Pferden, sondern mit einer bestimmten Anzahl der Menschen unseres Blutes abzufinden. Und diese Versprechen werden immer gehalten, als ob sie immer unsere Menschen im Viehhof parat hätten«.24 Politisch besaßen solche Militärunternehmer nur begrenzten Rückhalt: Nach einigen schwerwiegenden Raubzügen auf osmanischem Territorium während der Persienkampagne Süleymans von 1548/49 wurde Prittwitz vorgeworfen, die Neuauflage des Friedens mit den Osmanen nach dem Tod Sigismunds I. zu gefährden, so dass er sich durch die Verlesung eines Memorandums vor dem Senat zu verteidigen suchte.25 Er führte aus, dass die Osmanen selbst den Frieden brächen, da sich hinter den vordergründig tatarischen Überfällen, osmanische 21 Peter Lock, Sicherheit à la carte? Entstaatlichung, Gewaltmärkte und die Privatisierung des staatlichen Gewaltmonopols, in: Tanja Brühl u. a. (Hg.), Die Privatisierung der Weltpolitik. Entstaatlichung und Kommerzialisierung im Globalisierungsprozess, Bonn 2001, S. 200–231, hier S. 211. 22 Peter Lock: »Die Bühne, auf der Parteien bewaffneter Konflikte um des Überleben willens eine Rolle finden müssen, ist die Weltwirtschaft«. Zitiert nach Thomas Eppacher, Private Sicherheits- und Militärfirmen. Wesen, Wirken und Fähigkeiten, Berlin 2012, S. 243. 23 Ebd., S. 242. 24 Michalonis Lituani, De moribus tartarorum, lituanorum et moschorum, Fragmina X,­ Basileae 1615, S. 10 f.: »[…] promittit in contractibus creditori quilibet numeraturum se ad certum diem pro vestibus, armis, et equis vivacioribus, vivaces etiam, verum non equos, sed homines, eosque sanguinis nostri. Et statur huiusmodi promissis eorum secure, perinde ac si in vivariis, et cortibus suis reclusos semper habeant illi homines nostros«. 25 Ausführlich zu Prittwitz siehe Dziubiński, Polsko-litewskie napady, sowie Gilles Veinstein, Prélude au problème cosaque (À travers les registres de dommages ottomans des années 1545–1555), in: Cahiers du monde russe et soviétique 30 (1989), S. 329–361.

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Kaufleute als Hintermänner befänden und sich auch »Türken«, also osmanische Untertanen, den Raubzügen anschließen würden. So heißt es im Memorandum: »Und Türken pflegten mit ihnen [den Tataren] zu gehen und schickten auch ihre Diener mit, und andere gaben den Tataren Pferde für die Hälfte der Beute, wie sie das auch heute tun. Und wie ihnen das schmeckte, denn sie bereicherten sich sehr daran: denn was der Tatar mithilfe der Pferde in die Hände bekam, davon musste er die Hälfte dem Türken geben, und die zweite Hälfte kaufte der Türke für soviel ab, wie er wollte und die Pferde nahm er wieder zurück.«26

Die Praxis, armen Tataren für Raubzüge Pferde und Ausrüstung zu leihen und dafür einen Teil  der Beute einzubehalten, hatte Tradition in der eurasischen Steppe und lässt sich auch durch andere Beispiele belegen.27 Bei 15 der 16 im Memorandum erwähnten und von Prittwitz zerschlagenen czambułs (Raidingformation, von türk. çapul – Raubzug) sollen laut Prittwitz ein Teil oder sogar alle Pferde »türkisch« gewesen sein, wobei er häufig tatarische Gefangene als Quelle aufführt. Auch behauptet er, dass die Schadenslisten28 der Osmanen Verlustlisten dieser Kaufleute seien, um den Wegfall ihrer den T ­ ataren zur Verfügung gestellten, von Prittwitz abgenommenen Pferde zu kompensieren. Zweimal berichtet er von der direkten Teilnahme von »Türken« an den Raubzügen, einen der nicht-tatarischen Rädelsführer identifiziert er als Mustafa »den Türken«. Auch im Zusammenhang mit der Gesandtschaft des polnischen Hochadligen Piotr Zborowski († 1580) an den osmanischen Hof von 1568 gibt es von polnischer Seite Beschwerden über die Teilnahme von »Türken«.29 Der 26 Andrzej Tomczak, Memoriał Bernarda Pretwicza do Króla z 1550 r. [Bernhard Prittwitz Memorandum an den König aus dem Jahr 1550], in: Studia i Materiały do Historii Wojskowości 4 (1960), S. 328–357, hier S. 343, vgl. auch S. 345. 27 Jędrzej Taranowski, Krótkie wypisanie drogi z Polski do Konstantynopola, a z tamtąd zaś do Astrachania […] [Kurze Wegbeschreibung von Polen nach Konstantinopel und von dort nach Astrachan […]], in: Podróże i Poselstwa do Turcyi, hg. v. Józef Ignacy­ Kraszewski, Krakau 1860, S. 41–63, hier S. 55; Jean Baptiste Tavernier, Le six voyages de Jean Baptiste Tavernier, Ecuyer Baron d’Aubonne qui’il a fait en Turquie, en Perse et aux Indes, Paris 1676, S. 341. 28 Die Schadenslisten wurden kürzlich ediert in Hacer Topaktaş/H.  Ahmet Arslantürk,­ Kanuni Sultan Süleyman Dönemi Osmanlı-Leh İlişkilerine Dair Belgeler (1520–1566) [Dokumente zu den osmanisch-polnischen Beziehungen in der Epoche Süleymans des Gesetzgebers (1520–1566)], Istanbul 2014, S. 269–324. Polnische Beschreibungen gibt es bei Zygmunt Abrahamowicz/Ananiasz Zajączkowski, Katalog dokumentów tureckich. Dokumenty do dziejów Polski i krajów ościennych w latach 1455–1672 [Katalog türkischer Dokumente. Dokumente zur Geschichte Polens und seiner Nachbarländer in den Jahren 1455–1672], Warschau 1959. Untersucht wurden sie bei Veinstein, Prélude, und Dziubiński, Polsko-litewskie napady. 29 Janusz Pajewski, Legacja Piotra Zborowskiego do Turcji w 1568 r. Materiały do historii stosunków polsko-tureckich za panowania Zygmunta Augusta [Die Gesandschaft Piotr Zborowskis in das Osmanische Reich im Jahre 1568. Materialien zur Geschichte der polnisch-türkischen Beziehungen in der Herrschaftszeit Sigismund Augusts], in: Rocznik Orientalistczyny 12 (1936), S. 29–87, hier S. 48.

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Vorwurf wurde von polnischer Seite vor allem deswegen hervorgebracht, weil die Osmanen immer wieder auf den gewalttätigen »Mutwillen« (swawola) der Tataren verwiesen, auf die Tatsache, dass diese nur dem Krimkhan unterstünden und die Tataren im Recht seien, weil die Aushändigung der upominki (»Aufmerksamkeiten«/Geschenke) genannten Tribute ausbliebe.30 Tatsächlich ist die Teilnahme von »Türken«, vor allem osmanischer Festungsbesatzungen, auch aus osmanischen Quellen nachweisbar.31 Einer der Kaufleute, der mit den Tataren Geschäfte einging, wird in Schadens­ listen unter dem Namen Aradym (wohl eine Verunstaltung von Hayreddin) aufgeführt. Er wird viermal im Kontext der Auslösung tatarischer Gefangener erwähnt. An einer Stelle heißt es: »Item Sienka von den Radziejowskis wurde von Bigocza und Taxary an den Akkermaner Türken Aradym verkauft.«32 Auffallend ist, wofür er ausgelöst wurde: neben Geld waren es Felle, Tuch, Honig, Pferde und vor allem teures »Lündisch«/Londoner Tuch (sukno luńskie). Das Lösegeldgeschäft bot somit einen billigen Zugang zu von den Osmanen begehrten »nördlichen« Luxuswaren.33 Genau dies boten die Tatareneinfälle auch Prittwitz, einen Zugang zu schwer zugänglichen osmanischen Handelsgütern. Aus Prittwitz’ Briefen an Albrecht von Preußen wird klar, dass Prittwitz einen ansehnlichen Handel mit Vieh und mitunter auch anderen orientalischen Waren betrieb. Zu seinen Handels­waren gehörten »turckische kuhe«, »turkische schaffe mit grossen schwenzen«,34 »tur30 Vgl. beispielhaft Piotr Zborowskis Gesandtschaftsbericht: Relacya p. wojnickiego królowi j. Mości w Warszawie [Bericht des Herrn zu Wojnicz an ihre Hoheit den König in Warschau], in: Podróże i Poselstwa, S.  65–82; Transakcya Jaśnie Wielmożnego Stanisława Żółkiewskiego Wojewody Kijowskiego i Kanclerza i Hetmana Koronnego z Skinder Baszą Hetmanem Cesarza Tureckiego. Die 23 septembris Anno Dni 1617 [Die Verhandlungen des Hochehrsamen Stanisław Żółkiewski, des Woiwoden von Kiew, Kanzlers und Kronhetmans mit Skinder Pascha, dem Feldherrn des Osmanischen Kaisers], in: Zbiór pamiętników historycznych o dawnej Polszcze, Bd. 6, Lemberg 1833, S. 5–33. 31 Başbakanlık Osmanlı Arşivi (im Folgenden BOA), Mühimme Defteri (im Folgenden MD) 7, hüküm 151; MD 83, Nr. 7. Vgl. Yoldaki Eliçi, Osmanlı’dan Günümüze Türk-Leh ilişkileri. Poseł w drodze. Stosunki Turecko-Polskie od czasów osmańskich do dnia dzisiejszego [Der Gesandte ist unterwegs. Türkisch-polnische Beziehungen von den Osmanen bis heute], hg. v. Osmanischen Archiv des Ministerpräsidenten, Istanbul 2014, Nr.  26, S. 52 f., Nr. 48, S. 118 f. 32 AGAD, Libri Legationum [LL] 11, 98v. Vgl. Andrzej Dziubiński, Handel niewolnikami polskimi i ruskimi w Turcji w XVI wieku i jego organizacja [Der Handel mit polnischen und ruthenischen Sklaven im Osmanischen Reich im 16. Jahrhundert und dessen Organisation], in: Zeszyty Historyczne Uniwersytetu Warszawskiego 3 (1963), S. 36–49. 33 Zum Londoner Tuch als von den Osmanen begehrtes polnisches Exportgut siehe Andrzej Dziubiński, Na szlakach orientu. Handel między Polską a Imperium Osmańskim w XVI– XVIII wieku [Auf den Spuren des Orients. Der Handel zwischen Polen und dem Osmanischen Reich im 16.–18. Jahrhundert], Breslau 1997, S. 148 f. 34 Elementa ad fontium editiones 49. Documenta ex Archivo Regiomontano ad Poloniam spectantia XIX pars H B A, B 4, 1542–1548, hg. v. Carolina Lankorońska, Rom 1980, Nr. 473, S. 86–88, hier S. 87.

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ckische pferde«,35 »dirckische[n] oxen«,36 sogar »arräpisch ross«.37 Aber auch ein voll ausgestattetes türkisches »Gezelt«, das angeblich einst im Besitz des Großwesirs Empry Wassa (vermutlich Ibrahim Paşa) gewesen war und laut Prittwitz’ Istanbuler Agenten nun zum Verkauf stand, bot er Albrecht zum Kauf an.38 Als Bonus gab es auch mal einige Tataren dazu.39 Wie Prittwitz selbst berichtet, war es, vor allem während osmanischer Kriegszüge, schwierig, durch Kauf an türkische oder walachische Pferde zu kommen, denn die Ausfuhr wurde verboten.40 Da die Osmanen im 16. Jahrhundert große Probleme hatten, Istanbul mit ausreichend Fleisch zu versorgen, war auch die Ausfuhr von Vieh eingeschränkt bzw. verboten.41 Ein Weg, an eine Erlaubnis zur Ausfuhr zu kommen, war Bestechung,42 der andere war zu rauben. Obwohl Prittwitz in seinen Briefen nur vom Grenzhandel als Quelle für seine Waren spricht, lassen die osmanischen Schadenslisten andere Rückschlüsse zu. Auch 35 Elementa 49, Nr. 486, S. 108–113, hier S. 110; Elementa ad fontium editiones 50. Documenta ex Archivo Regiomontano ad Poloniam spectantia XX pars H B A, B 4, 1549–1568, hg. v. Carolina Lanckorońska, Rom 1980, Nr. 544, S. 35–37, hier S. 36. 36 Elementa 49, Nr. 508, S. 151–153, hier S. 153. 37 Ebd., Nr. 488, S. 116–118, hier S. 118. 38 Ebd., Nr. 508, S. 151–153, hier S. 153. 39 »Ich schickh auch E. P. G. darneben zwen gefangne Tattern, mentlich und waytlich [,] guete gesellen und drefflich guet schytzen, da den sie E. P. G., wo es sich etwas anheben wuerte, gern umb sich haben wuerte, den sye seynt der mentlichen gesellen payte.« Brief an Albrecht von Preußen (8.1.1549), vgl. Elementa 50, Nr. 529, S. 7–9, hier S. 8. 40 Ebd., Nr. 509, 529, 536. Zum Verbot, gute Pferde an Ausländer zu verkaufen, siehe MD 5, Nr. 72, 73, 181, vgl. 5 Numaralı Mühimme Defteri (973/1565–1566). Özet ve İndeks [Zusammenfassung Index], hg. v. Osmanischen Archiv des Ministerpräsidenten, Ankara 1994, S. 14 f., 33; MD 28, Nr. 884; MD 31, Nr. 165; MD 52, Nr. 628. 41 Sam White, The Climate of Rebellion in the Early Modern Ottoman Empire, Cambridge 2011, S. 101 f. Istanbul wurde vornehmlich über die europäischen Provinzen mit Fleisch versorgt, wobei der rumelischen Bevölkerung sogar vorgeschrieben wurde, nur Ziegenund Rindfleisch zu konsumieren und die Schafe nach Istanbul zu schicken, siehe Suraiya Faroqhi, Towns and Townsmen of Ottoman Anatolia. Trade, Crafts and Food Production in an Urban Setting, 1520–1650, Cambridge 1984, S. 221–241. Vgl. auch MD 31, Nr. 850. Die Bedeutung des polnisch-osmanischen Grenzgebiets für die Fleischversorgung zeigt ein Dekret von 1593, in dem zum Schutze der dort befindlichen »200 Schafsherden zu je 10 bis 15 000 Schafen« vor »polnischen Räubern«, sprich Kosaken, der Wiederaufbau der Festung Hoca Bayı (das spätere Odessa) befohlen wurde. Dies sollte »die volle Kapazität für Istanbuls Versorgung« sicherstellen (İstanbul ẕaḫīresine küllī vüsʿat). Siehe MD 71, Nr. 169. Um die Versorgung von Istanbul zu gewährleisten, untersagten die Osmanen die Ausfuhr aus der Moldau und dem nördlichen Schwarzmeerhinterland, vgl. MD 31, Nr. 58 (1577), und MD 40, Nr. 597 (1579). 42 »Den, allergenedigister fierst, ich schickh jetz meinen diener hinein in die Dirckhey zu dem öbristen wässa, der da hayst Rustum wassa, mit etlichen fogeln, die man pflegt aus Moshkhua zu pringen, die hayst man auf polnisch wiloser, und schickh auch etlich par folckhen, auch englische hundt, derhalben, g.f., das er mier die prief ausricht bey dem dirckhischen kaysser, das man mier die oxen frey herauslies«, Elementa 49, Nr.  506, S. 146–149, hier S. 148.

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die in seinem Memorandum erwähnten »türkischen Pferde« werden sich nicht in Luft aufgelöst haben. Vielmehr ist es wahrscheinlich, dass er mit dieser Rhetorik versuchte, höhere Preise für seine Ware zu erzielen. Laut Gabriel Tarło soll König Sigismund August so über Prittwitz geurteilt haben: »Ich habe so viel jore her nicht wenig sonder vil tausent etc. mich kosten lassen, domit ich Brethwitzen gerne an den grenitzen hette erhalten mögen. Ist aber keyn vormhanen und auch der stennde radt angesehen worden, sonder Brethwitz hot stets uff den grenitzen mit den Turcken und Thatern ursach zu suchen sich eingelassen, geraubt und genommen, und dyselbe feynde wider duse lande erweckt. Des hab ich so offte potschafter in fremde reich und landen seynerhalben mit groser unkost und geltspillunge senden müssen. Was mir von denselben etc. vor unwillige andtwort widderumb bogegnet, hab ich wol vorstanden; alzo, das ich gespurdt mehr seynen und so bey im gewesen nütz und frommen mit ochssen und pferde wegfüren gesucht dan duse landen gedindt etc.«43

Ähnlich urteilte auch der polnische Gesandte Zborowski, indem er betonte, dass die polnischen Grenzkommandeure sich wenig darum scherten, die T ­ ataren aufzuhalten, sobald sie einmal im Land waren, sondern sofort den Vorwand nutzten, um den Osmanen Vieh zu stehlen.44 Handel mit geraubtem Vieh war jedoch nicht das einzige »ukrainische« Geschäftsfeld, in dem Prittwitz tätig war, er war wohl auch der erste, der versuchte, Kosaken als Söldner an einen anderen europäischen Fürsten (Albrecht von Preußen) zu vermitteln.45 Die Fallstudie Prittwitz macht deutlich, wie die osmanische Sklavenwirtschaft unter den spezifischen Bedingungen des ukrainischen »Gewaltmarkts« entsprechende ökonomische Logiken auf der polnischen Seite der Grenze provozierte, die sich jedoch nach anderen Absatzmärkten richteten (europäischer Viehmarkt). Wie das Beispiel von der durch Prittwitz angeführten Kooperation tatarischer Sklavenfänger mit osmanischen Kaufleuten zeigt, ist das Phänomen der massenhaften Versklavung osteuropäischer Menschen in der Frühmoderne gut bekannt. Schließlich hängt die weltweite Durchsetzung des Internationalismus »Sklave« – abgeleitet von den »Slaven«, der Mehrheitsbevölkerung des östlichen Europa – mit dem intensiven Auftreten slavischer Sklaven auch noch in der Frühen Neuzeit im gesamten Osmanischen Reich und im Mittelmeerraum eng zusammen. Zwar ist eine Quantifizierung schwierig, doch gehen unterschiedliche Schätzungen von ca. zwei Millionen geraubter Menschen aus dem östlichen Europa aus, die zwischen 1500 und 1700 um und über das Schwarze Meer ge43 Elementa ad fontium editiones 43. Documenta ex Archivo Regiomontano ad Poloniam spectantia XIII pars H B A, B 2a, 1534–65, hg. v. Carolina Lanckorońska, Rom 1978, Nr. 124, S. 107–111, hier S. 108. 44 »Eine schamlose Rache ist es, sich die von den Tataren entführten Menschen, mit Vieh zu entlohnen« [»A też sprosna to pomsta ludzi od Tatarów pobrane, tureckiem bydłem sobie nagradzać«]. Siehe Relacya p. wojnickiego królowi j. Mości w Warszawie [Bericht des Herrn zu Wojnicz an ihre Hoheit den König in Warschau], in: Podróże i Poselstwa, S. 65–82, hier S. 67. Vgl. Dziubiński, Polsko-litewskie napady, S. 78. 45 Elementa 50, Nr. 562, S. 103–104; vgl. Dziubiński, Polsko-litewskie napady, S. 81.

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handelt und verkauft wurden.46 Damit übersteigt der osteuropäische Sklavenhandel in dieser Epoche den transatlantischen Sklavenhandel. In der älteren Forschung wie manchmal auch in der modernen Publizistik wurde das Phänomen vielfach entweder mit dem Zusammenstoß von islamischen »Sklavenhaltergesellschaften« mit den osteuropäischen Großmächten Polen-Litauen und Russland erklärt, der die Ukraine – wörtlich das Land »an der Grenze« – zu einem unkontrollierbaren Gewaltraum gemacht habe. Zugleich hätten »parasitäre Verbände« wie das Krimkhanat sich am Sklavenhandel bereichert, während schließlich »progressive Mächte« wie Russland den Fortschritt gebracht hätten (Sowjethistoriographie).47 Gegenwärtige Ansätze betonen dagegen die Rolle von regionalen Gewaltgruppen wie den Tataren – und auf der Gegenseite den Kosaken – sowie der erst genuesischen, dann von moldauischen Zwischenspielen im Mündungs­gebiet von Donau und Dnjestr abgesehen osmanischen Schwarzmeerstädte (Kilia,­ Akkerman, Kaffa, Očakiv etc.), die aus rationalem Kalkül Sklavenhandel betrieben und an den Einnahmen partizipierten. Auch kleine tatarische, manchmal auch ethnisch gemischte Gewaltverbände,48 im Osmanischen als beş baş (Fünf 46 Mikhail B. Kizilov, The Black Sea and the Slave Trade. The Role of Crimean Maritime Towns in the Trade of Slaves and Captives in the Fifteenth to Eighteenth Centuries, in: International Journal of Maritime History 17 (2005), S. 211–235; Dariusz Kołodziejcyzk, Slave Hunting and Slave Redemption as a Business Enterprise. The Northern Black Sea Region in the Sixteenth to Seventeenth Centuries, in: Ebru Boyar/Kate Fleet (Hg.), The Ottomans and Trade, Rom 2006, S. 149–159. 47 Vitalij V. Tichonov, Rasprodaža solnečnoj zdravnicy. Boi zu istoriju Kryma v poslevoennom SSSR [Der Ausverkauf der sonnigen Kurorte. Der Kampf um die Geschichte der Krim in der Nachkriegs-UdSSR], in: Rodina 1 (2015), S. 152 f. 48 Man muss davon ausgehen, dass »Tatare« bis zu einem gewissen Grad ein kultureller Code war. So heißt es bei Evliya Çelebi über die Potentaten von Ismail: »Und die zu ihren Ayanen gehörenden Ermenioglu und Muradoglu und der Janitscharenkommandeur Kepçe Ali Beşe, sie alle tragen Zobel, mit Twill bedeckte Schafs- und Fuchspelze und den tatarischen Kalpak, denn die Dörfer des Kreises (nahiye) sind alle tatarisch.« Vgl. Evliya Çelebi, Seyahatnamesi [Buch der Reisen], hg. v. Yücel Dağlı u. a., Bd. 5, Istanbul 2001, S. 60. Sehr wahrscheinlich ist, dass die genannten Personen keine ethnischen Tataren waren. Dieser Code wird auch in einem anderen Fall, in einem Dekret von 1604, deutlich: »Momentan gibt es in jenen Gegenden [Silistra, Baba, Hırsova] einige Räuberbanden, die im Namen der Tataren Kalpaks auf ihre Köpfe setzen und mit Bögen und anderen Waffen von Dorf zu Dorf spazieren und reaya [Nichtmuslime] gefangen nehmen und verkaufen sowie andere Verbrechen ausüben.« Vgl. MD 75, Nr. 459 bzw. Adem Keleş, 75 Numaralı Mühimme Defteri’nin Transkripsyonu ve Değerlendirilmesi (S. 172–331) [Transkription und Analyse des Mühimme Defteri Nr. 75 (S. 172–331), unveröffentlichte Masterarbeit, Erzurum 2011, S. 117 f. Dass Kalpak tragen, Tatare sein und beş baş zusammengehören, wird in folgendem Zitat Evliya Çelebis über die Bevölkerung Akkermans deutlich: »Und es gibt keine großen Ayane unter ihnen. Es sind alles am Hungertuch nagende Kaufleute und Mucahids auf Gottes Pfad. Die meisten davon sind vom Schwertkampf lebende Gazis, die den tatarischen Kalpak aufsetzen, Pferdefleisch essen und Lammfell tragen, Hirsebier (boza) und Met trinken und einmal im Monat mit Gottvertrauen zum beş baş ins Kosakenland aufbrechen, dort rauben und entweder reich an Beute mit Juchhe oder

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Köpfe)  bezeichnet, hätten von der heutigen Dobrudscha und Budžak-Region aus (heute Teile Bulgariens und Rumäniens und der Ukraine am Schwarzen Meer) einen kontinuierlichen Menschenhandel betrieben (ca. 1.000 Sklaven pro aber mit Auweh zurückkehren.« Vgl. Evliya Çelebi, Bd. 5, S. 63. Der Kalpak ist also ein Erkennungszeichen der Tataren und wird somit auch genutzt, um sich als solche auszugeben. So gibt es auch weiter südlich von den Hauptsiedlungsgebieten der Tataren Fälle sogenannter »falscher« Tataren, so z. B. in der Gegend von Vize in Thrakien. Dieser Fall von 1618 ist besonders interessant, da er von Devlet Giray, einem Angehörigen der Khansdynastie, an den Sultan gemeldet wird. Siehe MD 82, Nr. 323; vgl. zudem 82 Numaralı Mühimme Defteri (1026–1027/1617–1618). Özet – Transkripsiyon – İndeks ve Tıpkıbasım [Das Mühimme Defteri Nr. 82 (1026–1027/1617–1618). Zusammenfassung – Transkription  – Facsimile], hg. v. Osmanischem Archiv des Ministerpräsidenten, Ankara 2000, S. 216. In einem anderen Fall bei Köstence (Constanța) sind es Räuberbanden, von denen es heißt, sie würden auf Art der »Zigeuner, Tataren und Heiducken« ihr Unwesen treiben. MD 89, Nr. 109, vgl. Eren Bahri Gök, 89 Numaralı Mühimme Defteri [Das Mühimme Defter Nr. 89], unveröffentlichte Masterarbeit, Istanbul 2003, S. 79. Zudem gibt es einige Fälle, in denen desertierte Janitscharen und Sipahis sich den Tataren in der Dobrudscha anschlossen, um mit ihnen auf Raubzüge in der Moldau und Walachei zu gehen, oder bei jenen im Donaudelta untertauchten. Siehe MD 75, Nr. 510 bzw. Adem Keleş, 75 Numaralı Mühimme, S. 154, und Relațiile țărilor române cu poarta otomană în documente turcești, 1601–1712 [Die Beziehungen der rumänischen Länder mit der osmanischen Pforte in türkischen Dokumenten, 1601–1712], hg. v. Tahsin Gemil, București 1984, Nr. 39. Weiterhin gibt es noch in sogenannten Herden (ocak) organisierte Yörüks (Türkmenen), Tataren und muslimische »Zigeuner« (çingāne). Diese finden sich vornehmlich in der südlichen Dobrudscha, Bulgarien, Thrakien und Makedonien, vereinzelt jedoch auch in der nördlichen Dobrudscha und dem Budžak. Sie wurden neben ihrer Haupttätigkeit als Hirten unter anderem gemeinsam zu verschiedenen Tätigkeiten eingesetzt, wie dem Schiffs- und Brückenbau (vgl. MD 5, Nr. 1102), dem Fällen von Bäumen (vgl. MD 16, Nr. 604), dem Straßenbau und zum Rudern auf Galeeren (vgl. MD 24, 101), häufig jedoch auch zum Ausbau von Festungen im Bucak (vgl. MD 3, Nr. 556, ver­ öffentlicht in 3 Numaralı Mühimme Defteri 966–968/1558–1560, hg. v. Osmanischen Archiv des Ministerpräsidenten, Ankara 1993, S. 243 f.). Jeder Ocak musste im Kriegsfall eine bestimmte Anzahl an eşkincis, eine Art berittene Hilfssoldaten, stellen. Dafür genossen sie eine Reihe steuerlicher Begünstigungen sowie eine gewisse Immunität ähnlich den Stiftungen. Ob diese Tataren tatsächlich mit ethnischen Tataren gleichzusetzen sind oder es sich nur um eine Gattungsbezeichnung für muslimische Nomaden handelt, ist unklar. Siehe M. Tayyib Gökbilgin, Rumeli’de Yörükler, Tatarlar ve Evlâd-i Fâtihân [Yörüken, Tataren und Evlâd-i Fâtihân in Rumelien], Istanbul 1957; Abdülkadir Özcan, Eşkinci, in: İslâm Ansiklopedisi 11 (1995), S.  469–471; Elena Marushiakova/Veselin Popov, Gypsies in the Ottoman Empire. A Contribution to the History of the Balkans, Hatfield 2001, S.  33; Emine Dingeç, XVI . Yüzyılda Osmanlı Ordusunda Çingeneler [Zigeuner in der osmanischen Armee im 16. Jahrhundert], in: SDÜ Fen Edebiyat Fakültesi Sosyal­ Bilimler Dergisi 20 (2009), S. 33–46. Jedoch ist davon auszugehen, dass es Verflechtungen zwischen diesen Ocaks und den Tataren im Budžak und in der Norddobrudscha gab. Vgl. Hamza Keleş, Akkerman Sancağı’nda Yavuz Sultan Selim Han Vakıfları. The Wakfs of The Sultan Selim II in the Sancak of Akkerman, in: G. Ü. Gazi Eğitim Fakültesi ­Dergisi 21 (2001), S. 179–188. Aus dem Milieu der Ocaks sind Überfälle in der Gegend von Vize in Thrakien und in Razgrad an der Grenze zur Dobrudscha bekannt, bei denen es zu gemeinsamen Raubaktionen zwischen Tataren und »Zigeunern« kam. Vgl. MD 5, Nr. 663,

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Jahr).49 Infolge der überwindbaren Entfernung zwischen diesen Gewaltgruppen und dicht besiedelten bäuerlichen Regionen – ca. 500 km zwischen dem Norden und Nordwesten der Schwarzmeerregion und Rotreußen östlich und südlich von Lemberg – konzentrierten sich Praktiken des Menschenraubs vor allem in dieser Region. Hier verlaufende internationale Handelsrouten machten Metallprodukte und Waffen verfügbar und begünstigten einen gewalttätigen Konfliktaustrag.50 Am Menschenhandel51 war auch die polnische Krone beteiligt, die etwa 1532 Lemberger Juden einen Geleitbrief ausstellte, wonach diese »schuldige Jugendliche« im Osmanischen Reich verkaufen durften.52 Ein solches Prozedere regionaler Verwaltungen, also ein Verkauf in die Sklaverei, ist ebenso aus rotreußischen Gerichtsakten überliefert. Mit einem verdeckten Sklavenhandel, aber auch mit einer Vermittlung von Freikäufen waren darüber hinaus transnationale Kaufmannseliten wie armenische und jüdische, im 17.  Jahrhundert verstärkt osmanische Händler53 sowie auch Kosaken beschäftigt. Noch deutlicher wird eine situative Zusammenarbeit zwischen konkurrierenden Gewaltgruppen in der Ukraine in den großen Kriegskampagnen 1649, 1653, 1660 und 1667, in denen tatarische Verbände mit kosakischen oder polnischen Truppen verbündet waren und die jeweils mit formellen Waffenstillständen endeten, bei denen die Tataren mit ihrer menschlichen Beute abziehen durften.54 Der deutsche Söldner in polnischen Diensten Hieronymus

49 50 51 52 53 54

und MD 6, Nr. 1282, veröffentlicht in 6 Numaralı Mühimme Defteri (972/1564–1565) [Das Mühimme Defter Nr. 6 (972/1564–1565)], hg. v. Osmanischen Archiv des Ministerpräsidenten, Ankara 1995, S. 254 f. Das Phänomen der »falschen Tataren« ist auch auf der polnischen Seite der Grenze bekannt. Siehe Daria Starcenko, Vom einrittslustigen Adel und fehdeanalogen Praktiken. Zwischenadelige Gewalt in den frühneuzeitlichen ruthenisch-ukrainischen Woiwodschaften Polen-Litauens im 16.  und 17.  Jahrhundert, in: Mathis Prange/Christine Reinle (Hg.), Fehdehandeln und Fehdegruppen im spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Europa, Göttingen 2014, S.  109–142, hier S.  138 f. Weitere Beispiele in Władysław Łożyński, Prawem i Lewem. Obyczaje na czerwonej Rusi w pierwszej połowie XVII wieku [Auf rechte und linke Art. Bräuche in Rotreußen in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts], Bd. 1, Krakau 1960, S. 162 f., 215, 222, 229. Dziubiński, Handel niewolnikami. Georg Elwert u. a., The Dynamics of Collective Violence. An Introduction, in: Ders. u. a. (Hg.), Dynamics of Violence. Processes of Escalation und De-Escalation in Violent Group Conflicts, Berlin 1999, S. 9–31, hier S. 12–14 zu »warring and oscillating violence«. Dziubiński, Na szlakach Orientu, insbes. S. 203–216 das Kapitel »Handel mit Sklaven«. Geleitbrief (Salvus conductus) v. 18.06.1532 »ac item abducere in Turciam et illic in servitutem vendere aliquot iuvenes inculpato«, Tadeusz Wierzbowski, Matricularum Regni Poloniae summaria, Bd. 2, Warschau 1907, S. 421. Beispiele bei Dziubiński, Na szlakach Orientu, S.  204–206; Mikhail B. Kizilov, Slaves, Money Lenders, and Prisoner Guards. The Jews and the Trade in Slaves and Captives in the Crimean Khanate, in: Journal of Jewish Studies 58 (2007), S. 189–210. Dariusz Kołodziejczyk, Slave Hunting and Slave Redemption as a Business Enterprise. The Northern Black Sea Region in the Sixteenth to Seventeenth Centuries, in: Oriente Moderno, Nuova serie 86 (2006), H. 1, S. 149–159, hier S. 153.

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­ olsten (vgl. S. 131) beschreibt die Gefangennahme russischer Militärs nach der­ H Blockade durch polnische Truppen im Herbst 1660 so: »Aber ach leyder! Wie es nun gantz Abend und die Parole ward außgegeben, da ward anbefohlen, daß kein Accord mit den Moskowitern sollte gemacht werden. Die Vornemsten waren gefangen in Arrest, der rest sollte den Tatarn übergeben oder nidergesebelt werden […] hatte auch zu dem Ende unterschiedliche Tartarn bey mir versamlet, welche meine Moscowiter auf gut Avantage gefangen nahmen. Des Morgens lagen ohndem über tausendt auf dem Meydan und zwischen unsern Hütten nackend außgezogen und nidergemacht. […] Die Tartarn hatten damahlen über 8000 gefangen bekommen und also giengen sie, weilen es schon spät im Winter war, nach ihrer Tartarey zu. Unterdessen behielte ich die moscowitische Wagen und [hatte] viel köstliche Sachen prosperirt, war also über etliche 1000 [Thaler] wiederum reich.«55

Die ökonomische Bedeutung des Menschenhandels für die Gewaltgruppen in der Ukraine ist schwer zu beziffern  – unbestritten ist die erhebliche Bedeutung des Sklavenhandels für die Schwarzmeertataren, für die etwa gleichgewichtige Einnahmen aus Kriegsbeute (in der Regel in osmanischen Diensten), Menschenhandel und landwirtschaftlichen Einnahmen postuliert werden. Weniger klar, aber nicht niedrig einzuschätzen ist seine Rolle als verdeckte Einnahmequelle auch für andere Gewaltgruppen (neben unmittelbarem Verkauf Provisionen für Freikauf, Einnahmen durch Vermittlung von Nachrichten und Erbeutung von Gefangenen). Weiterhin förderte der Menschenhandel Gewaltpraktiken wie eine hohe Mobilität, von der der jeweilige Erfolg abhing, sowie den Aufstieg von finanzkräftigen Unternehmern. Ein Beispiel: Im Frühjahr 1643 taten sich die Azower Tataren mit etlichen Hunderten Zaporoger Kosaken zusammen für einen gemeinsamen (und erfolgreichen) Überfall auf die russischen Südgebiete. Die Einigung sah vor, dass die Tataren Gefangene als Beute behielten und die Kosaken alles Übrige (Vieh, Geld u. Ä.).56 Unter den osmanischen Tataren war nur ein kleiner Teil, einige Hundert, die sogenannten cebelü tatar (Tataren in Waffen), besoldet oder von Steuern befreit,57 ansonsten sicherte man sich die Kontrolle der Tataren über ihre Anfüh55 Kriegsabenteuer des Rittmeisters Hieronymus Christian von Holsten 1655–1666, hg. v. Helmut Lahrkamp, Wiesbaden 1971, S. 36 f. 56 Aleksej A. Novosel’skij, Bor’ba Moskovskogo gosudarstva s tatarami v pervoj polovine 17 veka [Der Kampf des Moskauer Staates mit den Tataren in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts], Moskau 1948, S. 317 f. 57 Die cebelü tatar lebten in ca. dreißig Dörfern in den Kreisen (nahiye) Baba und Tekfurgölü in der Dobrudscha. Sie unterstanden seit 1577 der Stiftung der Sultansmutter-­Moschee in Üsküdar (heutige Valide-i Atik Camii). Für ihren Militärdienst genossen sie zahlreiche Steuerprivilegien. Während ihres Kriegsdienstes erhielten sie einen Sold (cebelü bedeli) von der Stiftung. Ihre Zahl betrug ungefähr 150, wobei davon auszugehen ist, dass auf jeden cebelü mehrere Männer Gefolge kamen. Siehe MD 30, Nr. 244 und 245; MD 34, Nr. 60 bzw. Yunus Eren, 34 Numaralı ve H. 986/1578 Tarihli Mühimme Defteri, S. 1–164. İnceleme-Metin [Das Mühimme Defteri Nr. 34 datiert auf das Jahr 986 n.d. H. 986/1578. Untersuchung-Text], unveröffentlichte Masterarbeit, Istanbul 2011, S.  36 f., sowie das

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rer. Diese wurden durch die Verpachtung von Höfen auf Sultansland ­(çiftlik) oder die Vergabe von besoldeten Posten in den osmanischen Festungen kooptiert.58 In der Dobrudscha gab es auch tatarische Sipahis, das heißt tatarische Steuerregister TT 626 M (BOA). Dem leider unvollständigen Steuerregister (nur zwölf Dörfer) zufolge handelte es sich um »immunes Stiftungsland« (min külli’l-vücūh serbest ve mefrūzu’l-ḳalem ve maḳtūʿu’l-ḳadem), das heißt, eine Strafverfolgung vonseiten der osmanischen Militärgouverneure war eingeschränkt. Vgl. dazu Marlene Kurz, Das sicill aus Skopje, Wiesbaden 2003, S. 67–71, und Halil İnalcik, Autonomous Enclaves in Islamic States. Temlîks, Soyurghals, Yurluḳs-Ocaḳlıḳ, Mâlikâne-Muḳâṭaʿas and Awqāf, in: Judith Pfeiffer u. a. (Hg.), History and Historiography of Post-Mongol Central Asia and the Middle East. Studies in Honour of John E. Woods, Wiesbaden 2006, S. 112–134. Dieses Problem war im Budžak noch akuter, da dieser nur aus ḫavāṣṣ-i hümāyūn (»Krongütern« des Sultans) und Stiftungsland bestand. Vgl. MD 64, Nr. 212, und Gilles Veinstein, Les »çiftlik« de Colonization dans les Steppes du Nord de la Mer Noire aux XVIe siècle, in: Istanbul Üniversitesi Iktisat Fakültesi Mecmuası 41 (1985), H. 1–4, S. 177–210, hier S. 182. Wie einige Dekrete des Sultans zeigen, nutzten tatarische Räuberbanden dieses »Schlupfloch« bewusst aus. Vgl. MD 5, Nr. 755; MD 29, Nr. 300; MD 30, 39; MD 60, Nr. 414 bzw. Recep Burhan Ertaş, Mühimme Defter-60 (sayfa 105–208: Hüküm 258–491: Tarih 993–994/1585–1586) Tahlil-Metin [Mühimme Defter Nr. 60 (S. 105–208: Dekret 258–491: Datum: 993–994/1585–1586). Analyse-Text], unveröffentlichte Masterarbeit, Istanbul 1998, S. 100 f.; MD 71, Nr. 164. In zwei Sultansdekreten von 1605 werden die Anführer der tatarischen Räuberbanden im Budžak und der Dobrudscha genannt, von denen zumindest einige mit hoher Wahrscheinlichkeit aufgrund der geographischen Übereinstimmung (Baba und Tekfurgölü) zu den cebelü tatar gehörten. Vgl. MD 75, Nr. 154, 155 bzw. Selçuk Demir, 75 Numaralı Mühimme Defteri’nin Transkripsyon ve Değerlerndirilmesi (S. 1–171) [Transkription und Analyse des Mühimme Defteri Nr. 75 (S. 1–171)], unveröffentlichte Masterarbeit, Erzurum 2008, S. 130 f. 58 Wenn man sich die Tatarenanführer aus MD 75, Nr. 155 vor Augen führt, dann hatte ein Großteil von ihnen ein Amt inne. Von den neun Anführern trugen zwei den Titel müteferrika, eine Art Ehrenrang für osmanische Bedienstete, einer war Quartiersmeister (odabaşı) der beşlüs (eine Art Grenzsoldat) von Akkerman, einer cebeci ağası (Aga der Einheiten, die mit dem Erhalt und Transport von Waffen betraut waren) in Babadağ. Ein anderer war Prophetennachkomme (seyyid) und damit Mitglied eines privilegierten Stands. In seiner Arbeit über die Kolonisierung der Steppe durch çiftliks, Pachtgüter mit Steuererleichterung, hat Veinstein aufgezeigt, dass diese wohl auch einen Versuch darstellten, die lokale tatarische Bevölkerung stärker unter osmanische Kontrolle zu bringen, siehe Veinstein, Les »çiftlik«, S. 208. Diese Strategie der Osmanen wird besonders im Falle Kantemirs deutlich, siehe dazu Alexander Piaseczyńskis Gesandtschaftsbericht in: Trzy relacje z polskich podróży na Wschód muzułmański w pierwszej połowie XVII wieku [Drei Berichte von polnischen Reisen in den muslimischen Osten in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts], hg. v. Adam Walaszek, Krakau 1980, S. 49–88, hier S. 85 f.: »Ich traf ihn [Murtaza Paşa] an, als er, angefangen mit Kantemir alle Murzas versammelt hatte, und diese im Namen des Kaisers [d. h. des Sultans] streng dazu gemahnte, von ihren Einfällen in die Länder der Krone abzulassen, und zwar mit der Erklärung, dass sie, solange sie den Willen der Emire und des Kaisers befolgen würden, ihnen des Kaisers Gnade zu kommen wird, und er ihnen gute Timare und ulafy [v. tr. ulūfe – Sold] beim Kaiser erwirken wird, dank derer sie es ohne Rauferei gut haben werden, andernfalls würden sie den ganzen Mutwillen (swawola)  ihrer Tataren, selbst wenn sie nicht mit ihnen [auf Raubzügen] gewesen wären, mit ihrem Kopf bezahlen.« Auch die Khane

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Inhaber eines timar (Lehnsgutes).59 Diese Vorgehensweisen sind als Versuche der Osmanen zu werten, die Tataren durch Sesshaftmachung einzuhegen. Dies scheint auch weitestgehend funktioniert zu haben, so dass die Tatarendörfer in den kommenden Generationen bald selbst zu Opfern von neu aus der Steppe kommenden, noch nomadischen, Tatarengruppen wurden.60 Der weitaus größte Teil der Tataren verdingte sich bei Feldzügen aber ausschließlich durch Beute.61 Auch ein Teil der osmanischen Festungsbesatzungen (irreguläre Infanterie- und Reitersoldaten wie die azaps und beşlüs), die unregelmäßig bezahlt wurden oder unbesoldet waren, schloss sich immer wieder tatarischen Raids an.62 Zentral für die Verwendung der Tataren durch die Osmanen ist, dass hier eine traditionelle Beuteökonomie, die immer schon ohne Sold auskam, auf die Degeneration des klassischen osmanischen Militärsystems (also der Janitscharen

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verfügten über Güter in der Region, vgl. MD 83, Nr. 39. Tatsächlich finden wir die Namen einiger tatarischer Räuberanführer auch als Pächter von çiftliks in den Steuerregistern, so z. B. Danabaszyn/Dana başı/Tana Baş, vgl. Memoriał Bernarda Pretwicza, S. 354, und Veinstein, Les »çiftlik«, S. 201. Der bekannteste Anführer der Budžak-Tataren im 16. Jahrhundert, İsa Koca, so deutet es Berindei, soll für seine Dienste im Kampf gegen die »Russen« ein Timar erhalten haben, siehe Berindei, Le problème des »Cosaques«, S. 343. MD 75, Nr. 154. MD 76, Nr. 300, veröffentlicht in Gemil, Relațiile țărilor, Nr. 30, siehe das Beispiel von Deniz Aga karyesi, ebd., Nr. 218. Deniz Aga war einer der Anführer der tatarischen Räubergruppen zu Beginn des 17. Jahrhunderts, vgl. MD 75, Nr. 155, und Gemil, Relațiile țărilor, Nr. 9. Evliya Çelebi macht das sehr schön deutlich. So berichtet er über eine Auseinandersetzung zwischen osmanischen Fußsoldaten und tatarischer Reiterei während der SiebenbürgenKampagne von 1661: »Alle Janitscharen, Fußsoldaten der Pforte, der Festungen Buda und Eger, im Lager sagten einhellig: Wir als Fußsoldaten lassen uns schlachten, erobern das Lager des Feindes, aber gehen leer aus. Bei Gott ist das gerecht? Darauf stürzten sie sich auf die Tataren und auch die anderen Wagen, sogar über unseren. Sie rissen die Tataren von ihren Pferden, entrissen ihnen ihre Gefangenen und nahmen so viel Raubgut an sich, wie sie nur vorfanden.« In der folgenden Auseinandersetzung starben auf beiden Seiten viele Soldaten. Daraufhin beschwert sich der Aga der Tataren beim osmanischen Serdar. Als dieser seine Soldaten damit konfrontiert, behaupten sie folgende Abmachung mit den Tataren getroffen zu haben: »Wir sind ein Infanterie-Regiment und an unsere Beine gebunden. Ihr mit euren Pferden könnt losreiten und plündern. Wenn, so Gott es will, es zu Eroberungen kommt, dann lasst uns teilen.« Die Tataren verneinen ein solches Versprechen gegeben zu haben und sagen: »Wenn ihr im Gaza sterbt und marschiert, dann sterbt ihr nicht ohne Sold zu erhalten. Aber wir sind bedürftige Gazis. Ihr kommt um uns Leben und Hab und Gut aus den Händen zu reißen.« Vgl. Evliya Çelebi, Bd. 6, S. 40 f. Siehe auch Mehmed Yaşar Ertaş, Evliya Çelebi’nin Seyahatnâmesi’nde Gazâ [Der Gaza in Evliya Çelebis Seyahatname], in: Tarih İncelemeleri Dergisi 27 (2012), H. 1, S. 79–100, hier S. 89 f. Vgl. den polnischen Vorwurf »türkischer Beteiligung« an den Raubüberfällen; zu Beginn des 17. Jahrhunderts begannen die Osmanen vermehrt, die Grenzfestungsbesatzungen aus der lokalen Bevölkerung zu rekrutieren. Die Besoldung blieb jedoch mitunter über lange Perioden aus. Vgl. Abdülkadir Özcan, Serhad kulu [Grenzsklaven], in: İslâm­ Ansiklopedisi 36 (2009), S. 560 f. Deshalb ist davon auszugehen, dass sich auch einige Tataren unter ihnen befanden, ein Umstand, der die Teilnahme der Festungsbesatzungen an Raids begünstigte.

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und Sipahis) stieß, wie sie nach der Schlacht von Mezőkeresztes/Haçova 1596 offen zu Tage trat.63 Während der Feldzüge verdingten sich die Tataren neben dem Sklavenfang vor allem durch den Verkauf von erbeuteten Nahrungsmitteln im Lager der Osmanen64 und Schutzgelderpressung bzw. im Fall Siebenbürgens auch als Dorfschützer.65 63 Öktay Özel, The reign of violence. The celalis c. 1550–1700, in: Christine Woodhead (Hg.), The Ottoman World, New York 2012, S. 184–204, hier S. 189. Die osmanische Reaktion führte zu einer Dezentralisierung des Militärs und damit einhergehend zu dessen Reethnisierung bzw. Retribalisierung, wofür der vermehrte Rückgriff auf die Tataren beispielhaft ist. Vgl. Ágoston, Military Transformation; Virginia Aksan, Ottoman Ethnographies of Warfare, 1500–1800, in: Wayne E. Lee (Hg.), Empires and Indigenes. Intercultural Alliance, Imperial Expansion and Warfare in the Early Modern World, New York 2011, S. 141–163, und Joseph Fletcher, Turco-Mongolian Monarchic Tradition, in: Harvard Ukrainian Studies 3/4 (1979–1980), S. 236–251. 64 So heißt es in der Chronik des Ali von Temeschwar: »Sie [die Tataren] baten unseren Herrn Pascha um die Erlaubnis zu einem Beutezug, und er geruhte, sie nach Lugosch und Schebesch zu weisen und ihnen siebzig oder achtzig Berittene als Führer mitzugeben. Sie streiften also dorthin, steckten die Vorstädte von Lugosch und Schidwar in Brand und fingen nicht nur dort alle Weiber und Buben zusammen und trieben alles Herdenvieh mit sich fort, sondern holten sich auch aus den umliegenden Dörfern sämtliche Huftiere, Lebensmittel und stattliche Weiber und Knaben und brachten das alles nach Temeschwar, wo sie am dritten Tag wieder eintrafen. Da war denn nunmehr vom Weizen, der bisher einen Piaster pro Okka gekostet hatte, gleich ein ganzer ›zsák‹ (wie man dort die Säcke [auf Ungarisch] nennt) zu fünfzig Okka um nur einen Zolta und einen halben Piaster und gelbe Butter, die vorher um einen Para die Drachme verkauft worden war, in sieben bis acht Okka fassenden Kürbisköpfen um einen halben Piaster pro Kürbis zu haben; vom Steinsalz, bisher zu einem Para die Drachme, kostete ein dreißig Okka schwerer Block nur mehr zehn Para; das Okka Fleisch kostete bisher einen Piaster, jetzt aber ein ganzer ungarischer Ochse von hundertachtzig Okka Gewicht nur anderthalb bis zwei Piaster, und ein Schaf, vorher dreißig Piaster, wurde einem von allen Seiten mit dem Ruf ›Was tut’s, Gevatter, nimm’s hin!‹ schon um zwanzig schlechte Para angeboten. Sechzig Okka gesiebtes Feinmehl kosteten einen Piaster und Honig in Schläuchen zu dreißig bis vierzig Okka je einen Zolta. Für andere Getreide als Weizen brauchte man erst gar keine Waage – da hieß es einfach: ›Zahl’ halt, was du willst, Gevatter!‹, und wenn man ihnen fünf oder zehn Para in die Hand drückte, boten sie einem gleich an: ›Schönen Dank, und wenn du noch welches willst, so kann ich dir’s beschaffen.‹« Vgl. Der Löwe von Temeschwar. Erinnerungen an Caʿfer Pascha den Älteren, aufgezeichnet von seinem Siegelbewahrer ʿPas. Unter Mitarbeit von Karl Teply übersetzt, eingeleitet und erklärt von Richard F. Kreutel, Graz 1981, S. 85 f. Die Tataren konnten allerdings auch von Engpässen im osmanischen Heer profitieren und ihre Ware zu Wucherpreisen verkaufen: »Wir mussten das halbe Maß Pferdefutter von den Tataren um einen Löwenpiaster kaufen, und selbst zu diesem Preis war kaum noch welches zu haben, also verfütterten wir den Pferden Weizen, Roggen und Hafer.« Vgl. Krieg und Sieg in Ungarn. Die Ungarnfeldzüge des Großwesirs Köprülüzâde Fâzil Ahmed Pascha 1663 und 1664 nach den »Kleinodien der Historien« seines Siegelbewahrers Hasan Ağa. Übersetzt, eingeleitet und erklärt von Erich Prokosch, Graz 1976, S. 225. 65 Beispiele für Städte, die sich mit Schutzgeld freikauften, sind Klausenburg und Kronstadt 1658. Bezüglich Klausenburg berichtet der Pfarrer Johannes Graffius in seiner Chronik, dass die Vertreter der Stadt dem Khan gegenüber behauptet hätten, sie seien nicht dazu in der Lage, die geforderte Summe in voller Höhe zu bezahlen. Darauf ließ der Khan in der

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Thesenhaft zusammengefasst: Im Menschenhandel trafen frühneuzeitliche Marktwirtschaft, die durch die Nachfrage aus Istanbul und dem Mittelmeerraum bedingt war, und gewaltoffene Räume zusammen. Den tatarischen Gruppen standen ab der Mitte des 16.  Jahrhunderts die Kosaken gegenüber, die zunächst als Sicherheitskräfte eingesetzt worden waren, sich jedoch verselbstständigen und in die Handlungslogiken des Gewaltmarktes verfielen, indem sie ebenfalls häufig zu Menschenraub, Lösegeldforderungen und Seitenwechseln griffen.

2. Osteuropäische Gewaltgruppen in der europäischen Geschichte (Polnische Reiter, Kosaken, Tataren) Die Entstehung des Gewaltmarktes im nördlichen Schwarzmeerraum hatte in der Frühen Neuzeit für die gesamte osteuropäische Großregion weitreichende Folgen. Die erste und unmittelbare bestand in der raubgestützten Expansion: Sowohl die Kosaken als auch die Tataren erbeuteten ihre Raubgüter in den benachbarten, oft unter einer staatlichen Obrigkeit stehenden Gebieten (Landund Seeraubzüge).66 Darüber hinaus nutzten die beiden Verbände die Zeiten der politischen Instabilität, um kurzfristig die Kerngebiete der Nachbarstaaten in gewaltmarktähnliche Strukturen zu verwandeln (während der Smuta 1606 bis 1613/1618 im Moskauer Reich und des Chmelnickij-Aufstandes und der darauffolgenden Krise im Potop 1648–1660 in Polen-Litauen). Stadt ein Gewand zum Verkauf anbieten. Da dieses von einer Kaufmannswitwe gekauft worden sei, konnte der Khan beweisen, dass genug Geld in der Stadt gewesen sei, um seine Forderungen zu begleichen, vor allem in Anbetracht dessen, dass das Kleid der Käuferin »nichts nütze sey«. Darauf waren die Klausenburger gezwungen, die Summe zu zahlen. Siehe Siebenbürgische Ruin, beschreibts in Wahrheit nach deme, war er wehrend der Belagerung in der Königlichen Hermanstadt jämmerlich gesehen, vernommen, und erlebt Johannes Graffius ehestens Pfarherr in Reichsdorff, derzeit Pfahrherr in der Königl. Hermanstadt, in: Deutsche Fundgruben der Geschichte Siebenbürgens, hg. v. G. Joseph­ Kemény, Bd. 2, Klausenburg 1840, S. 156 f. Zum Kronstädter Schutzbrief siehe die Chronik von Trostfried Hegenitius, in: Quellen zur Geschichte der Stadt Brassó. Chroniken und Tagebücher, Bd. 3, Brassó 1915, S. 214–226, hier S. 222, 226. In Siebenbürgen wurden Tataren auch in Sold genommen, um Dörfer und Höfe vor Übergriffen zu schützen, vgl. die Chronik des Paulus Sutoris, in: Quellen zur Geschichte der Stadt Brassó. Chroniken und Tagebücher, Bd. 1, Brassó 1903, S. 33; Diarium des P. Beckner d. Ä., in: Quellen zur Geschichte der Stadt Brassó. Chroniken und Tagebücher, Bd. 1, Brassó 1903, S. 211; Chronik von Michael Seybriger, in: Quellen zur Geschichte der Stadt Brassó. Chroniken und Tagebücher, Bd. 2, Brassó 1909, S. 436–444, hier S. 444. Siehe auch Memorialul lui Nagy Szabo Ferencz din Tîrgu Mureș [Das Tagebuch des Nagy Szabo Ferencz aus Neumarkt am Mieresch], hg. v. Ştefania Găll Mihăilescu, București 1993, S. 160. 66 Daria Starčenko, Verheerende Geschwindigkeit – Zweckrationalität von Gewalt. See-Expeditionen und (Beute-)Kriege bei polnisch-litauischen Kosaken am Beispiel der KhotinKampagne 1621, in: Horst Carl/Hans-Jürgen Bömelburg (Hg.), Lohn der Gewalt. Beutepraktiken von der Antike bis zur Neuzeit, Paderborn 2011, S. 167–199.

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Zugleich stellte aber dieser Gewaltmarkt womöglich den größten frühneuzeitlichen Söldnermarkt dar. Nicht nur die formellen Souveräne über diese Gegend, wie Polen-Litauen und das Osmanische Reich, griffen auf die Dienste der Söldner zurück, sondern es nahmen zu verschiedenen Zeiten auch das Moskauer Reich, der polnisch-litauische Adel und die moldauischen und walachischen Herrscher, die schwedischen Feldherren und sogar die römischen Kaiser und französischen Könige dieses Söldnerangebot wahr.67 Der vor allem über Jahrzehnte andauernde Kleinkrieg, aber auch das fehlende Gewaltmonopol machte die Kosaken und Tataren zu geschätzten Kriegern, die typologisch sehr wohl als »marginal area soldiers« aufgefasst werden können.68 Grundsätzlich bestehen alle aus dem östlichen Europa stammenden militärischen Verbände vor dem 18. Jahrhundert zahlenmäßig zum wesentlichen Teil aus gegen Beuteversprechen verpflichteten Freiwilligen, im Deutschen den sogenannten »Freireitern«, sowie ethnisch konnotierten, aber tatsächlich gemischt zusammengesetzten Gewaltgruppen wie den »Kosaken« oder »Tataren«.69 So soll 1620/21 bei der Abwehr eines osmanischen Angriffs durch die polnisch-­ litauische Armee bei Chocim (Chotyn, heute Ukraine) diese aus 55.000 Personen, darunter 30.000 Kosaken, bestanden haben. Auf osmanischer Seite standen diesen Gruppen erhebliche Verbände des Kantemir Murza († 1637) gegenüber. Kantemir war in den Jahren zuvor zum unangefochtenen Führer der Tataren im Budžak aufgestiegen und hatte sich auf polnischer Seite einen Namen als Räuberhauptmann gemacht.70 Kantemirs Beispiel zeigt, wie der tatarisch-kosakische Antagonismus rudimentäre Staatsbildungsprozesse nach sich zog. Karen 67 George Gajecki/Alexander Baran, The Cossacks in the Thirty Years War, 2 Bde., Rom 1969–1983; Aleksandr L. Stanislavskij, Graždanskaja vojna v Rossii 17 v. Kazačestvo na perelome istorii [Der Bürgerkrieg in Russland im 17. Jahrhundert. Das Kosakentum an der Wende der Geschichte], Moskau 1990; Andrij V. Fedoruk, Najmane kozac’ke vijs’ko (16 – sered­y na 17 st.), Ideologija, organizacija ta vijs’kove mysteztvo [Das kosakische Söldnerheer (16. bis Mitte 17.  Jahrhundert). Ideologie, Organisation, Heerführung], Diss.­ Černihiv 2000. 68 Daniel Pipes, Slave Soldiers and Islam. The Genesis of  a Military System, New Haven 1981, S.  75–86, hier S.  77: »Several elements contributed to the recurrent military superiority of marginal area soldiers: the hardships of their way of life, their healthiness, and their social organization; the fact that no government controlled them was of key­ importance.« 69 Vgl. akıncı im Osmanischen Reich: »Die türkischen Jäger sind Freiwillige, und sie nehmen an den Feldzügen freiwillig und zu ihrem eigenen Nutzen teil«. Renate Lachmann (Hg.), Memoiren eines Janitscharen oder Türkische Chronik, Paderborn 2010, S.  139. Russland engagierte seit dem 16. Jahrhundert Kosaken und Nogaier, aber auch beim regulären Adelsaufgebot spielten Beuteaussichten eine wichtige Rolle: Richard Hellie, Slav­ ery in Russia, 1450–1725, Chicago 1982, S. 472. 70 Zu Kantemir siehe Victor Ostapchuk, The Ottoman Black Sea Frontier and the Relations of the Porte with the Polish-Lithuanian Commonwealth and Muscovy, 1622–1628, unveröffentlichte Diss. Cambridge, MA 1989; Mihena Berindei, La Porte Ottomane face aux Cosaques Zaporogues, 1600–1637, in: Harvard Ukrainian Studies 1 (1977), H. 3, S. 273–307; Nicolae Iorga, Geschichte des Osmanischen Reiches, Bd. 3, Gotha 1910, S. 358–391, so-

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Barkey hat dargelegt, dass eine wesentliche Strategie des osmanischen Verstaatlichungsprozesses darin bestand, Rebellen und übermächtig gewordene Räuberanführer zu kooptieren und in staatliche Strukturen einzubinden.71 Genau dies geschah mit Kantemir nach der Schlacht von Chocim – er wurde zum ­Beylerbey von Silistra ernannt. Dies ist durchaus ungewöhnlich, da er nicht dem Pfortensklavensystem entstammte.72 Wie Mihnea Berindei ausgeführt hat, ist Kantemirs Aufstieg komplementär zur Zunahme kosakischer Raubaktivitäten zu sehen. Nur mit Kontrolle über die Tataren und den lokalen Staatsapparat konnte den Kosaken effektiv Einhalt geboten werden.73 Gleichzeitig bedeutete seine Einsetzung eine klare Drohung an die Krimkhane. Kantemir war es, der wesentlich dazu beitrug, die beiden rebellischen Brüder Mehmed und Şahin Giray und ihre kosakischen Verbündeten niederzuschlagen. Mit Kantemir begann sich auch die Möglichkeit einer alternativen tatarischen Staatsbildung abzuzeichnen. Dies blieb von osmanischer Seite nicht ohne Folgen. So bedeutete Kantemirs Vertrauen auf die Osmanen letztlich auch seinen Untergang. Als der neue Khan Inayet Giray auf Druck der Stammesaristokratie der Krim sich­ weigerte, mit den Osmanen gegen die Safawiden zu ziehen, kam es zum Showdown, da Kantemir sich der Rebellion verweigerte und zu den Osmanen hielt.74 Dem Chronisten Katib Çelebi zufolge war gar einer der Gründe für die Weigerung des Khans, am Persienfeldzug teilzunehmen, die Furcht davor, dass Kantemir die Krim in Abwesenheit des Khans und seines Heers an sich reißen könnte.75 Als Kantemir jedoch klar wurde, dass er den Truppen des Khans unterlegen war, floh er nach Istanbul. Inayet schickte daraufhin einen interessanten Drohbrief an den Religionsgelehrten Yayha Efendi, in dem es unter anderem heißt: »Kantemir ist unser Untertan. Ich möchte vom glückseligen Padishah, dass er ihn zu mir schickt. […] Wenn uns der Padischah Kantemir nicht gibt, dann komme ich vor die Tore Istanbuls und werde nach diesem Janusgesichtigen verlangen. Wenn sie sagen werden, Kantemir sei das Eyalet von Özü und Silistre gegeben worden und er sei einer von unseren Beys, dann ist das ein Grund zur Rebellion (fitne). Nun werdet ihr uns ins Gesicht lächeln und sagen, ihr seid wie eh und je Khan mit allen Ehren und Würden und wir werden euren Lügen glauben und umkehren. Und die Tataren unter unserem Befehl auflösen. Nach einigen Tagen werdet ihr einen neuen zum Khan machen und losschicken, das darf nicht sein! Wir werden unsere Krieger nicht auflösen

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wie Alper Başer, Bucak Tatarları (1550–1700) [Die Budžak-Tataren (1550–1700)], unveröffentlichte Diss. Afyonkarahisar 2010. Karen Barkey, Bandits and Bureaucrats. The Ottoman Route to State Centralization, Ithaca, NY 1994. Ostapchuk, The Ottoman Black Sea Frontier, S. 35. Berindei, La Porte, S. 291, 293. Başer, Bucak Tatarları, S. 122–130. Zeynep Aycibin, Kâtib Çelebi, Fezleke. Tahlil ve Metin [Kâtib Çelebi, Fezleke. Analyse und Text], unveröffentlichte Diss. Istanbul 2007, S. 874.

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und wenn, dann möchten wir eine wertvolle Geisel. […] Wie auch immer, es ist uns ein leichtes, dorthin zu gehen, um Kantemir zu fordern. Später soll es nicht heißen, wir hätten es nicht angekündigt.«76

Schließlich brach Inayets Rebellion zusammen, als es Kantemirs Gefolgsleuten, die sich zuvor Inayet ergeben hatten, gelang, die beiden Brüder des Khans hinterrücks zu ermorden. Sowohl Kantemir wie auch Inayet wurden darauf in Istanbul hingerichtet. Kantemirs Exekution, die nach der Inayet Girays erfolgte, lässt sich dabei als Zugeständnis an die krimtatarische Stammesaristokratie werten, gleichzeitig war es eine Gelegenheit, den Forderungen der Polen nachzukommen.77 Tatsächlich hatte es schon länger Pläne gegeben, Kantemir auf die Peloponnes (Mora) oder nach Anatolien zu versetzen.78 Kantemirs Absetzung fällt jedoch wohl nicht ganz zufällig in die Zeit nach dem Ende des ­Smolensker Kriegs (1632–1634) mit Moskau, als Polen vermehrt begann, gegen die Kosaken vorzugehen, und die Festung Kudak am Dnepr zu deren Kontrolle errichtete. Mit dem Wechsel zu dem inneren kosakisch-polnischen Konflikt und der Abnahme der nach außen gerichteten Überfälle wurde Kantemir als Wächter der osmanischen Steppengrenze obsolet. Kantemirs Beispiel zeigt, wie staatliche Durchdringungsprozesse von einer Seite Gewaltmärkte beeinflussen können, und auch, wie sie vormals erfolgreiche Gewaltunternehmer wie Kantemir zu Fall bringen konnten. Ihr zwischen Feindschaft und Partnerschaft lavierendes Verhältnis ermöglichte es Tataren wie Kosaken, zwischen den großen Anrainermächten der Steppe zu agieren und eigene frühneuzeitlich erfolgreiche Staatstraditionen auszubilden bzw. zu erhalten, nämlich das Krimkhanat (1441–1783) und den sogenannten kosakischen »Hetmanstaat« (1648–1709, mit eingeschränkter Autonomie bis 1764), die sich jeweils auch auf Einnahmen durch Beutezüge und Sold oder Tribute stützten. Ihnen an die Seite gestellt werden müssen kleinere tatarische und kosakische Gewaltgruppen wie die bereits erwähnten Budžak-Tataren oder die »freien Kosaken« am Don, die vor dem 18. Jahrhundert ökonomische Modelle entwickelten, die auf einer Mischung von Agrarerträgen, Schutzgelderpressung und Beutepraktiken aufbauten. Diese Relation prägte aber auch die Gewaltpraktiken in der Großregion, da fiskalische Militärstaaten (Schweden, Osmanisches Reich, dann auch Preußen) im östlichen Europa randständig blieben (und bei Expansionstendenzen infolge von Ressourcenknappheit und Infrastrukturproblemen wiederholt scheiterten). Dominant war dagegen eine kurzzeitige Anwerbung von Gewaltverbänden mit einem Beuteversprechen, an die sich ausbleibende Zahlungen und schließlich 76 Ebd., S. 874 f. 77 Başer, Bucak Tatarları, S. 125; Berindei, La Porte, S. 306. 78 Başer, Bucak Tatarları, S. 120; Brief Murtaza Paşas an Stanisław Koniecpolski (ca. 1632), in: Korespondencja Stanisława Koniecpolskiego hetmana wielkiego koronnego 1632–1646 [Die Korrespondenz des Krongroßhetmans Stanisław Koniecpolski 1632–1646], Krakau 2005, Nr. 1, S. 95.

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Entlassungen anschlossen. Die so freigesetzten Gruppen bildeten vor allem im 17.  Jahrhundert einen sich häufig auf eigene Faust versorgenden Gewalt- und Söldnermarkt, Gewaltphänomene traten kumulativ nach Kriegskampagnen und der Freisetzung von Verbänden auf (Kosaken 1625, 1637).79 Grundsätzlich darf man sich diese Gewalt- und Beuteverbände nicht ethnisch einheitlich vorstellen – eine ethnische Homogenität wird nur durch Zuschreibungen von außen erzeugt.80 Die »polnischen Reiter« (1607–1626) wurden situativ im Großfürstentum Moskau als »Litauer« und »Polen«, in Polen als »Russen« oder »Litauer«, in deutschsprachigen Quellen im Alten Reich als »Kosaken« und sogar als »Kroaten« wahrgenommen.81 Bei tatarischen Verbänden waren auch Moldauer und Walachen,82 Türken, Ungarn und Kosaken (die sogenann79 Daria Starčenko, Kosaken zwischen Tatendrang und Rechtfertigungsdruck. Ordnungsvorstellungen einer Gewaltgemeinschaft im Kontext von Konkurrenz und Gewaltkultur, in: Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung 60 (2011), S. 494–518. 80 Als eine Ethnie wahrgenommen wie z. B. die Wallonen: Allerunderthänigste Supplication, Etlicher NiederOesterreichischen Landständ An Die Kayserliche Mayestät: Daraus das Grawsamb, Unmenschlich, und Barbarisch Tyrannisieren des Kayserlichen Kriegsvolcks, sonderlich der Cosaggen und Walonen wieder dieselbe Land, zu sehen ist, o. O. 1620. Auch unter den europäischen Gelehrten herrschte diese Auffassung: So bat die Universität Jena im März 1622, den bevorstehenden Durchzug »ein Anzahl Wallonen und Coßagken«, die »diese Fürstenthumb zuverheeren und in die Asche zulegen vorhabens sein«, abzuwenden, weil sonst »durch die Grausamkeit dieser Völcker nicht so sehr die Region, als unsere wahre und allein seligmachende Religion |: welcher sie von Herzen Feindt :|in Gefahr gesetzet werden möchte«. Rector und Professores der Universitet Jena an Herzog Johann Philipp von Sachsen-Altenburg, 9.3.1622, in: Hauptstaats­archiv Dresden, 10024 Geheimer Rat, Loc. 9195/3, S. 274. Manchmal auch synonymisch zu den Polen: »die Polen oder Cosacken«, so Boudewijn de Jonge, Expeditiones Caesareo-­Bvqvoianae: Das ist, Warhafft vnd eigentliche Beschreibung alles dessen was durch den Herren Grafen von Bucquoy, etc. Keyserlicher Maiestät Kriegsheers Generalen, bey wehrender Vnruh in Böhenn, Österreich, Mehren vnnd Vngaren verrichtet worden: Darinn sonderlich der gantze Verlauff der Pragerischen Schlacht grundt, vnnd außführlich angezeigt wirdt; Endlich welcher gestalt Wollgemelter Graf in Vngaren Ritterlich sein Leben geendet, o. O. 1621, S. 59. 81 Hans-Jürgen Bömelburg, Strukturen einer mobilen Gewaltgemeinschaft im östlichen Europa. Der polnisch-litauische Freireiterverband der »Lisowczycy« von der Entstehung im Moskauer Reich bis zur gewaltsamen Auflösung durch den polnisch-litauischen Reichstag (1607–1626), in: Winfried Speitkamp (Hg.), Gewaltgemeinschaften. Von der Spätantike bis ins 20. Jahrhundert, Göttingen 2013, S. 185–208, hier S. 196. 82 Ostapchuk, The Ottoman Black Sea Frontier, S. 44; Andrzej Gliwa, Kraina upartych niepogód. Zniszczenia wojenne na obszarze ziemy przemyskiej w XVII wieku [Das Land beharrlicher Unwetter. Kriegszerstörungen auf dem Gebiet des Przemysler Lands im 17. Jahrhundert], Przemyśl 2013, S. 106, 269. Kantemir pflegte gute Beziehungen zu den moldauischen Voivoden Stefan Tomşa und Miron Barnovschi. Siehe Iorga, Geschichte des Osmanischen Reiches, S. 384 f. Strategische Partnerschaften mit moldauischen Bojaren ermöglichten es ihm, das Moldauer Territorium als Ausgangspunkt und Rückzugs­ gebiet seiner Raubzüge in Polen unbehelligt zu nutzen. Vgl. Ostapchuk, The ­Ottoman Black Sea Frontier, S. 40, und Gliwa, Kraina, S. 109. Der moldauische Chronist ­Miron Costin berichtet: »Sobald sie aber vom Tode Radu-vodăs und von der Herrschaft­

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ten kardeş kazak – »Brüderkosaken«)83 beteiligt. Der siebenbürgische Chronist Georg Kraus berichtete, dass Ungarn, Moldauer, Walachen und Deutsche, die die Tataren auf ihrem Mährenfeldzug 1663 begleiteten, Namen auf Tschechisch, Deutsch und Ungarisch in die Wälder riefen, um die sich darin versteckende Bevölkerung hervorzulocken.84 »Paul der Kosake«, ein 1663 gefasster tatarischer Spion mit polnisch-litauischem Hintergrund, berichtete über seinen eigenen Werdegang und teilte mit, in den tatarischen Verbänden seien auch deutsche Söldner, die zuvor in brandenburgischen Diensten gestanden hätten, beteiligt.85 Die so freigesetzten Verbände verfügten über eine hohe Mobilität und – damit verbunden – eine erhebliche Gewaltbereitschaft, da sie situativ auf einmalige Kontakte und Raids gegenüber vorher und nachher unbekannten Bevölkerungen eingestellt waren. Gewaltbegrenzende Faktoren wie Opportunitätsüberlegungen oder Rücksichtnahmen durch Koexistenz traten zurück. Das prägnanteste und durch die russische, polnische, böhmische und deutsche Überlieferung gut bekannte Beispiel stellen die sogenannten »polnischen Reiter« (Lisowczycy) dar, die zwischen 1608 und 1622 große Teile Europas zwischen Zentralrussland und Lothringen in lockerer und oft eher theoretischer Unterstellung unter polnische und habsburgische Militärkommandos ausplünderten.86 Ihnen an die Seite gestellt werden können tatarische Verbände, die unterstützt von polnischen Einheiten 1656 das östliche Preußen verheerten, Moskau ausplünderten (1571) oder in osmanischen Diensten in die Donaufürstentümer einfielen, sowie die Kosaken mit Raids bis in die Vororte von Istanbul. Sichtbar wird hier die erhebliche Handlungsmacht dieser Gruppen, die nur durch hohe Mobilität und Nutzung der Ressourcen von Markt und Gewalt erklärbar ist. Diese Gewaltgemeinschaften bilden deshalb zumindest für die zwei Jahrhunderte vor dem Großen Nordischen Krieg (1700–1721) einen zentralen und autonomen Faktor der osteuropäischen Gewalt- und Militärgeschichte. Auch in der westeuropäischen Militärgeschichte hinterließen diese Verbände nachhaltige Spuren. Die Kosaken waren als leichte Kavallerie im Dreißigjährigen Krieg (1618–1648), vor allem von Wallenstein, sehr geschätzt und trugen maßgeblich zur Etablierung dieser Waffengattung in den westlichen Barnovski-vodăs anstelle Radu-vodăs erfuhren, fügten sie [Kantemirs Tataren] dem Land keinen Schaden mehr zu, außer, daß sie hier, ihre Pferde weideten, denn Cantemir war der Wahlbruder des Hetmans Barnovski. Als dieser noch im Bojarenamt stand, liefen seine Dörfer nie vor den Tatarenhorden weg, wenn diese über Czernowitz nach Polen zogen, Cantemir aber verbrachte mehrere Tage in Toporăuți, im Hause des Hetmans Barnovski.« Siehe Grausame Zeiten in der Moldau. Die Moldauische Chronik des Miron Costin 1593–1661, hg. und übers. v. Adolf Armbruster, Graz 1980, S. 118. 83 Vgl. Evliya Çelebi, Bd. 5, S. 67. 84 Georg Kraus, Siebenbürgische Chronik des Schässburger Stadtschreibers Georg Kraus: 1608–1665, Bd. 2, Wien 1864, S. 350 (für das Jahr 1663). 85 Mária Ivanics, Krimtatarische Spionage im osmanisch-habsburgischen Grenzgebiet während des Feldzuges im Jahre 1663, in: Acta Orientalia Academiae Scientiarum Hungaricae 61 (2008), H. 1/2, S. 119–133. 86 Bömelburg, Strukturen, S. 183–205.

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Armeen bei.87 Ein anderes kosakisches Know-How waren die leichten Boote, die sogenannten čajkas, die auf der Ostsee zunächst von Polen und im frühen 18. Jahrhundert von Peter I. gegen die schwedische Flotte erfolgreich eingesetzt wurden.88

3. Westliche Spezialisten in osteuropäischen Gewaltgemeinschaften Der Gewaltmarkt Ukraine prägte somit stark die ganze Region und wirkte sich bis hin zum westlichen Europa aus, er war jedoch auch selbst dramatischen und manchmal verhängnisvollen westlichen Einflüssen ausgesetzt. Diese lassen sich vor allem auf personeller, aber auch auf damit verbundener technologischer und militärisch-administrativer Ebene verfolgen. An erster Stelle seien die Erfindung und der steigende Einsatz des Schießpulvers genannt. Dieser Vorbote der militärischen Revolution gab im 16. Jahrhundert den zerstreuten kosakischen Gemeinden eine effiziente Verteidigungswaffe in die Hand, mit der sie schnell zum bedeutenden Akteur in der Region aufstiegen. Nun traten die Kosaken, die – anders als oft angenommen – bis in die 1620er Jahre vorwiegend als Infanteristen kämpften, dem berittenen Gegner erfolgreich entgegen, indem sie sich in den Stützpunkten oder in der Wagenburg verschanzten und den Angriff mit dichtem Gewehrfeuer abwehrten.89 Es war zunächst das Schießpulver, das die Entstehung der kosakischen Gewaltgemeinschaften und somit eine strukturelle Stabilisierung des Gewaltmarktes möglich machte.90 87 Osip L. Wajnštejn, Rossija i Tridcatiletnjaja vojna [Russland und der Dreißigjährige Krieg], Moskau 1947, S. 80; Gajecki/Baran, The Cossacks in the Thirty Years War, Bd. 2, S. 60–67. 88 Agnieszka Biedrzycka, Wojsko J. K. M. Zaporoskie nad Bałtykiem. Próby wykorzystania Kozaków w walce ze Szwecją w I połowie XVII wieku (do roku 1635) [Das Zaporoger Heer an der Ostsee. Versuche, die Kosaken im Kampf gegen die Schweden in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts einzusetzen (bis 1635)], in: Przegląd Gdański 59 (1999), S. 19–32; Maciej Franz, Zaporožskie kazaki v bor’be za Pribaltiku [Zaporoger Kosaken im Kampf an der Ostsee], in: Studia Slavica et Balcanica Petropolitana 15 (2014), H. 1, S. 88–97. 89 Bei Chocim 1621 bestürmte die osmanisch-tatarische Armee sechsmal das kosakische Lager, aber ohne Erfolg: Pauli Żegota (Hg.), Pamiętniki o wyprawie chocimskiej r. 1621 [Erinnerungen an die Expedition nach Chocim 1621], Krakau 1853. 90 Serhii Plokhy, The Cossacks and Religion in Early Modern Ukraine, New York 2001, S. 30: »The growth of the Cossacks’ military significance in the late sixteenth and early seventeenth centuries and the success of their struggle with the Tatars were due at least in part to the military revolution that swept Europe in the early modern period. […] As infantrymen bearing firearms displaced mounted warriors armed with swords, lances, or bows, the Ukrainian Cossacks, who were predominantly infantrymen, became more successful in their struggle with the steppe nomads and the Crimean Tatars, who fought mainly on horseback. The use of gunpowder should therefore be regarded as one of the major preconditions for the colonization of the Ukrainian steppe and the growing power of Ukrainian Cossackdom«.

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Ein derartiger Wissenstransfer lässt sich zum erheblichen Teil auf einzelne auswärtige Persönlichkeiten zurückführen (wie die erwähnten Prittwitz oder Wiśniowiecki), aber auch die unmittelbare kosakische Beteiligung als Söldner an den europäischen Konflikten trug zu diesem Prozess bei. Die Frage nach der politischen und kulturellen Auswirkung der Rückkehrer mag zwar diskutabel bleiben,91 unumstritten erscheint allenfalls der Wandel in der Taktik des kosakischen Heeres, nämlich die steile Bedeutungszunahme der Kavallerie. Kosakische Reiter sind spätestens seit Prittwitz bekannt, sie spielten aber als Aufklärer und Wächter eine untergeordnete Rolle und wurden kaum im Kampf eingesetzt. Ein erheblicher quantitativer Ausbau der kosakischen Kavallerie erfolgte zunächst während der Smuta, als die Kontrolle und Ausbeutung der weiten und dünn besiedelten Landschaften eine logistische Herausforderung darstellte, die nur mithilfe leichter Kavallerieeinheiten zu bewältigen war. Darüber hinaus konnten sich die unter Aleksander Lisowski dienenden Kosaken selbst von der Effizienz der leichten Reitertruppen als Furagierer und Aufklärungsund gegebenenfalls Strafkompanien überzeugen. Eben in dieser Rolle wurden die Kosaken 1619–1622 im Reich eingesetzt und später von Wallenstein für seine Art der Kriegführung (bellum se ipsum alit) so sehr begehrt. Trotz einzelner Erfolge – wie in der Schlacht bei Suzdal am 7. (17.) September 1609, in der Lisowskis Reiter mit einem schnellen Angriff die unverschanzten Musketiere von Feodor Šeremetev überrannten92  – blieb jedoch ihre Einsatzfähigkeit auf dem Schlachtfeld eher gering. So erlitt die größtenteils aus Zaporoger Kosaken bestehende Armee des Falschen Demetrius im Januar 1605 bei Dobryniči eine schwere Niederlage, nachdem die polnische und kosakische Kavallerie nach dem ersten erfolgreichen Angriff durch das Musketenfeuer abgeschlagen worden war und auf dem Rückzug die eigenen kosakischen Fußtruppen auseinandergebracht hatte, wonach diese samt der Artillerie vom russischen Gegenangriff aufgerieben wurde. Die bescheidene Durchschlagskraft der leichten Reiter und die mangelnde Kooperation zwischen verschiedenen Waffengattungen waren somit die wesentlichen Schwächen des kosakischen Heeres.93 Ihr Potential konnte die kosakische Kavallerie erst während des Dreißigjährigen Krieges völlig entfalten. Ursprünglich als Gegenpart der ungarischen

91 Gajecki/Baran, The Cossacks in the Thirty Years War, Bd. 2, S. 75–79. 92 »Bojar Fedor Ivanovič Šeremetev kam mit den Leuten vom Nieder-Wolga-Gebiet nach Vladimir und ging nach Suzdal, er wusste aber nicht, dass es bei Suzdal keinen guten Platz gibt, wo sich das Fußvolk verschanzen könnte, sondern nur Felder. Und Lisowski zog mit den litauischen Leuten gegen sie ins Feld. Und es war eine große Schlacht, und viele von Šeremetevs Leuten wurden niedergeschlagen und konnten sich kaum noch nach Vladimir retten«. Kniga nazyvaenaja »Novyj letopisec« [Das sogenannte Buch »Der neue Chronist«], in: Boris N. Morozov (Hg.), Chroniki smutnogo vremeni, Moskau 1998, S. 263–410, hier S. 336. 93 Fedoruk, Najmane kozac’ke vijs’ko, S. 156–158.

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Husaren Gabor Bethlens angeworben,94 wurden die Kosaken von den Kaiserlichen Feldherren vor allem als Furagierer und Streife eingesetzt, nahmen aber auch an den »regulären« Schlachten teil, wie beispielsweise am Weißen Berg bei Prag am 8. November 1620 oder unmittelbar davor bei Rakonitz (vom 27. Oktober bis zum 5. November 1620). Hier standen sie unter dem Kommando von Charles Bucquoy (1571–1621), der 1600 bei Nieuwpoort gegen Moritz von Oranien gekämpft und wohl gesehen hatte, wie sein Gegner die Waffengattungen kombinierte und koordinierte. Er brachte den kosakischen Söldnern nicht nur Disziplin und Schlachtordnung bei, sondern ließ sie auch altbewährte Kriegslisten wie die des Scheinrückzuges perfektionieren: Als die Kaiserliche Armee Anfang November von Pilsen aus »auf Räckhonicz zuemarchirt, vnd zwischen daselbst vnd Rokhiczan durch die Cosaggen, welche ein Heerdt Viehe von inen her getrieben, den Feindt ins Veldt gelockht, imnüttelst Bucquoi mit dem Geschütz nahent bey Rackhonicz gerückht, vnd eine Ambascada mit 14 Stuckhen gemacht. Als nun die Beheimben auf die Cosaggen getrungen in Meinung inen das Viehe abzuiagen, haben sich dieselbe in die Flucht zum Bucquoi begeben, alß dann man die Stuckh aufn Feindt loßbrennen lassen, vnd ime einen grossen Abbruch gethan, volgents haben neben den Cosaggen die Teutschen vnd Wahlonen in Feindt gesezt, vnd in der Flucht alles nidergehawen, also das in die 200 Mann dem Feindt erligen bliben«.95

Womöglich war an solchen Zusammenstößen auch der kosakische Hauptmann Taras Fedorowicz – genannt Trjasilo – beteiligt. Im Juli 1620 überquerte er mit seinen Kosaken die ungarische Grenze und begab sich in kaiserliche Dienste. Trjasilo war gebürtiger Tatare aus der Krim, wo er als »Murzak Isain« auftaucht,96 konvertierte jedoch während des Moskauer Feldzugs des damaligen Kronprinzen und polnischen Königs Władysławs IV. 1618 zum orthodoxen Christentum und muss bald großes Ansehen unter den Kosaken erlangt haben (Capitano di molto valore), da er eine angeblich 5.000 Mann starke Kompanie anführte.97 Vor 1629 kehrte er in die Ukraine zurück und wurde 1630 zum Hetman der Zaporoger Kosaken gewählt. In den nächsten Jahren kämpfte er zunächst gegen die polnisch-litauische Armee und dann im Smolensker Krieg 1632–1634 als deren Verbündeter gegen Moskau. Das Markenzeichen seiner 94 Am Weißen Berge hieß es, »nachdem der Feind den Rucken gewendt / haben die Polen mit verhengtem Zaum und einem grewlichen geschrey oder vielmehr geheul ihme nachgesetzt / und niemand verschonet, insbesondere aber die Ungarn / denen sie sehr auffsetzig / auffs eusserst verfogt / deren viel dann sich lieber in die Mulda stürzen, dann in der Cosacken Händt kommen wollen«. Boudewijn de Jonge, Expeditiones Caesareo-­ Bvqvoianae, S. 53 f. 95 Agentenbericht an den Würzburger Bischof, Wien, 11.11.1620, in: Staatsarchiv Würzburg, Militärsachen 3049, S. 90. 96 George Gajecki, Origins of Taras Triasylo, in: Harvard Ukrainian Studies 5 (1981), S. 354–357, hier S. 354. 97 Gajecki/Baran, The Cossacks in the Thirty Years War, Bd. 2, S. 73 f.

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Kriegführung war der durch Erfahrungen des Dreißigjährigen Krieges geprägte intensive Einsatz der leichten Reiterei zum einen in Form des Kleinen Krieges (Raids, Störung des feindlichen Nachschubs) und zum anderen in Gestalt der Zusammenarbeit von Infanterie und Artillerie auf dem Schlachtfeld. Diese Taktik erwies sich als durchaus erfolgreich, und etablierte somit die Reiterei als einen unentbehrlichen Bestandteil des Zaporoger Heeres. Taras Fedorowicz, der maßgeblich zur Entstehung und Entwicklung der kosakischen Kavallerie beitrug, ist das markanteste Beispiel, es gab aber offensichtlich viel mehr Heimkehrer. Zwischen 1619 und 1637 dienten 12.000–14.000 Kosaken im Reich.98 Diese Zahl verdoppelt sich, wenn man die kosakische Teilnahme an der russischen Smuta, den polnisch-schwedischen Kriegen 1600–1629 und bei Chocim 1621 berücksichtigt. Sie sind uns zwar namentlich nicht bekannt, jedoch müssen sowohl ihr Anteil als auch ihr Einfluss in der Sič nicht gering gewesen sein. Parallel zu diesem Prozess konnten sich in Westeuropa (Niederlande, Altes Reich) ausgebildete und geschulte nordwesteuropäische Gewaltunternehmer an der Spitze kleiner Regimenter als gesuchte Experten etablieren. Im östlichen Europa setzte man auf solche »modernen« Verbände zur Bekämpfung seminomadischer Gewaltgemeinschaften. Mit ihnen verband sich die Hoffnung, endlich wirkungsvolle Strategien gegenüber den Gewaltgruppen zu etablieren. Auch gegenüber diesen Experten erfolgten oft ethnische Zuschreibungen als »Deutsche« oder »Schotten«. Es muss deshalb betont werden, dass es sich auch hier im Kern um ethnisch gemischte Verbände handelte. Bei einer Durchmusterung der im östlichen Europa tätigen Spezialisten drängt sich eine Gruppe in den Blick, die in der deutschen Forschung viel besser aus adliger und ständischer Perspektive bekannt ist, aber nur sehr selten als Gewaltspezialisten betrachtet wird. Es handelt sich um die rund um die Ostsee, in Pommern, im Preußenland und in Livland ansässigen Kleinadligen und Soldunternehmer. Die östliche und südliche Ostseeküste, insbesondere das historische Altlivland, aber auch das Preußenland, bildete im 16.  und 17.  Jahrhundert eine Bruchzone zwischen verdichteten Zentralstaaten mit erheblichen Militärapparaten. Demonstriert sei das am Beispiel der Familie Dönhoff-Denhof.99 Die Dönhoffs tauchen in den Kriegen auf polnisch-litauischer und schwedischer Seite 98 Dies., The Cossacks in the Thirty Years War, Bd. 1, S. 93. Fedoruk gibt 25.000 an: Fedoruk, Najmane kozac’ke vijs’ko, S. 233–236. 99 Zu den verschiedenen Tätigkeitsfeldern der Familie und deren Aufstieg im 17. Jahrhundert: Hans-Jürgen Bömelburg, Die Dönhoffs. Der Aufstieg der Familie in Ostmitteleuropa vom Mittelalter bis zum frühen 18. Jahrhundert, in: Kilian Heck/Christian Thielemann (Hg.), Friedrichstein. Das Schloß der Grafen von Dönhoff in Ostpreußen, München 2006, S. 12–29; Ders., Między Infantami, Prusami i Rzeczpospolitą. Kariera rodu Denhoffów (1580–1650) [Zwischen Livland, Preußen und Polen-Litauen. Der Aufstieg der Dönhoffs (1580–1650)], in: Bogusław Dybaś/Dariusz Makiłła (Hg.), Prusy i Inflanty między średniowieczem a nowożytnością. Państwo – społeczeństwo – kultura, Toruń 2003, S. 125–138.

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um 1580 zunächst als Oberste der »deutschen Fußtruppen«, einer nach westeuropäischer Art ausgerüsteten und aufgestellten Infanterieeinheit, auf. Otto Dönhoff (1554–1609) beteiligt sich mit einem Regiment an den Feldzügen­ Stefan Báthorys; Gert Dönhoff († um 1598) wird als schwedischer Oberst 1591 im Krieg gegen Moskau erwähnt.100 Das für diese Tätigkeitsfelder erforderliche Wissen wurde um 1600 durch adlige Kavalierstouren in das Alte Reich, in die Niederlande und nach Frankreich erworben. Für Magnus Ernst Dönhoff (1581–1641) heißt es zeitgenössisch: »Woselbst [in den Niederlanden] vnser Herr Magnus Ernst Dönhoff mit den vornehmsten Gelehrten Leuten als Josephoro Scaligero, Justo Lipsio und vielen anderen in sonderbare Kundschafft und Freundschafft gerahten, dass er von denselben die vornehmsten Stücke auss den historicis und den politicis scriptoribus […] neben Erlernung unterschiedlicher Sprachen gefasset vnd zugleich als in einer vornehmen Kriegsschul die Art zu kriegen gelernet hat.«101

Ganz ähnlich verlief auch der Lebenslauf von Magnus Ernst Dönhoffs Bruder Gerhard Dönhoff (1590–1648): »Sein erstes Tyrocinium [seinen ersten Einsatz] hat er in Frankreich unter dem Hertzoge von Boullion abgeleget, nachgehens in Holland sowohl eine grosse Kriegsexperience, als ansehnliche Chargen und Geschicklichkeiten durch grosse Bemühung ihm zuwege gebracht«.102

So ausgebildet konnten die Dönhoffs nach ihrer Rückkehr nach Livland als Militärunternehmer insbesondere im Ostseeraum eigene Einheiten anwerben. Angeworben wurden sowohl kur- und livländische Soldaten wie Söldner aus dem Reich, die dann im östlichen Europa eingesetzt wurden. Genannt seien einige typische Zeugnisse: An der Belagerung von Smolensk 1617 nahm ein »Herr Dinolf [wahrscheinlich Theodor Dönhoff, † 1622] mit 200 Reitern und 600 Mann deutschen Fußvolks«103 teil. Hermann Dönhoff (1591–1620) fiel bei Cecora im Kampf gegen osmanische Truppen, dessen Brüder Magnus Ernst und Gerhard nahmen 1621 an der Schlacht von Chocim gegen die Osmanen teil, noch an dem Entsatz Wiens 1683 waren mehrere Dönhoffs beteiligt. Diese militärischen Karrieren stützten sich durch das gesamte 17. Jahrhundert auf ähnliche Faktoren. Durch ihre Ausbildung und die Kavaliersreisen, 100 Friedrich Konrad Gadebusch, Livländische Jahrbücher, zweyter Abschnitt von 1587 bis 1626, Riga 1781, S. 36, 154. 101 Magnus K. H. von Busse, Magnus Graf von Dönhoff, Nachrichten über ihn und sein Geschlecht, in: Mittelungen aus dem Gebiete der Geschichte Liv-, Est- und Kurlands 7 (1854), S. 281–303, hier S. 287. 102 Gustav Sommerfeld, Zur Biographie des pomerellischen Wojewoden und Oekonoms zu Marienburg, Gerhard Grafen von Dönhoff, in: Altpreußische Monatsschrift 58 (1921), S. 214–225, hier S. 216. 103 »Pan Dinolf rajtarów 200 niemieckiej piechoty 600«, Zbigniew Ossoliński, Pamiętnik [Erinnerungen], bearb. v. Jan Długosz, Warschau 1983, S. 95.

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insbesondere in die Niederlande, besaßen die Dönhoffs militärisches Fachwissen; die Herkunft aus Kurland und die deutschen Sprachkenntnisse erleichterten den Zugang zu dem rund um die Ostsee ansässigen Kleinadel (eine Quelle für den Offiziersnachwuchs und Klientelverhältnisse gegenüber den Dönhoffs) wie zum deutschen Söldnermarkt. Das mehrheitlich reformierte Bekenntnis der Dönhoffs begünstigte den Erwerb von militärischem Fachwissen, das im 17. Jahrhundert vor allem über die Niederlande und calvinistische Militäreliten (Niederländer, Schotten, Hugenotten) im nördlichen Ostmitteleuropa Verbreitung fand. Schließlich akzeptierten diese Söldner wiederum die Dönhoffs als ihresgleichen und als militärische Führer. Die Dönhoffs und andere livländische Gewaltunternehmer machten dabei vor allem auf dem zentralen Kriegsfeld der Epoche, in der Ukraine, Beute. Wie deutschsprachige Söldner die Region erlebten, sei aus den Erinnerungen von Hieronymus Christian Holsten nachgezeichnet, der die Region 1659/60 kennenlernte: »Diese wüsten Felder erstrecken sich im Umbkreis fast bey die 100 Meilen, es wächset alda das schönste fette Graß und in der Länge wie Rett. Es ist fast alda gar keine Holtzung mehr zu finden, auch wenig frisch Wasser, meist lauter Schlamm und Mudde. Es ist gantz eben Land, seyndt gar keine Wege zu finden, wie auf der offenbahren See. Man regulirt sich nach dem Todtengebein, allwo vor diesem die großen Schlachten geschehen, oder nach den Mogillen, allwo unten in dem Berge bey vielhundert Todte begraben ligen.«104

Von Heinrich-Henryk Dönhoff-Denhof († um 1667) ist bekannt, dass er 1637 nach einem Kosakenaufstand in der Ukraine tätig war und dort ein erhebliches Vermögen erwarb. Dabei geriet er 1648 in tatarische Gefangenschaft, aus der er einige Monate später freigekauft wurde.105 Die Dönhoffs standen nicht allein: Mehrere Dutzend vor allem kurländische, aber auch deutsche Familien machten im 17. Jahrhundert in polnisch-litauischen Armeen Karriere.106 Damit verbunden war in vielen Fällen ein Übergang zu slawischen Sprachen, in der Regel zum Polnischen, als Umgangssprache und polnische Indigenatserteilung, wie im Falle von Christoph von Houwald (poln. auch Huwald, 1601–1661), womöglich einem der erfolgreichsten Kriegsunternehmer des 17. Jahrhunderts, der 1651 nach dem Sieg gegen die Kosaken und Tataren bei Berestečko sein Wappen um den gekrönten Polnischen Adler ergänzen durfte.107 104 Holsten, Kriegsabenteuer, S. 28. 105 Polski Słownik Biograficzny, Bd. 5, Krakau 1946, S. 110–112. 106 Nach Nagielskis Schätzungen waren 35 % der Gardeoffiziere preußischer oder kur- und livländischer Herkunft, dagegen nur 30 % polnischer. Mirosław Nagielski, Społeczny i narodowy skład gwardii królewskiej za dwóch ostatnich Wazów (1632–1668) [Soziale und nationale Zusammensetzung der königlichen Garde unter den letzten beiden Wasa (1632–1668)], in: Studia i materiały do historii wojskowości 30 (1988), S. 61–102, hier S. 99. 107 Interessanterweise begann Houwald, Sohn eines Tuchmachers aus Grimma, seine Militärkarriere unter Bucquoy, begegnete jedoch den Kosaken zum ersten Mal als ­Gegnern,

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Ein weiteres, zeitgenössisch relativ bekanntes livländisches Beispiel ist die Familie Fahrensbach. Söldnerverbände unter Leitung von Jürgen von Fahrensbach (1551–1602) trugen zu dem als wegweisend eingeschätzten Erfolgen Moskauer Truppen gegen die Tataren in der Schlacht bei Molodi (1572) bei. Dessen Sohn Georg Wolmar von Fahrensbach (1586–1633), Soldunternehmer und Obrist aus Livland, war wegen seiner Brutalität bekannt – eine rigasche Chronik teilt über ihn zum Juli 1614 mit: »Den 7. Ditto ließ Wolmar Fahrensbach einen jungen Kerl, der ihm Brieffe gebracht, erschießen.«108 Dahinter standen möglicherweise Konflikte zwischen verschiedenen Militärunternehmerverbänden um die Familien Chodkiewicz und Radziwiłł – später war Fahrensbach in der Moldau und Ukraine tätig, geriet dort in Gefangenschaft, tauchte auf siebenbürgischer Seite wieder auf und wurde 1633 wegen Verrats in bayrischen Diensten hingerichtet.109 Im östlichen Europa agierten die livländischen und baltischen Gewaltunternehmer vielfach als Oberste oder Mitglieder einer Söldnergruppe unter einem ethnischen Label, nämlich den »deutschen Regimentern« oder »deutschen Reitern«. Dahinter verbergen sich als »westeuropäisch« angesehene Gewaltgruppen. Hier gibt es durchaus eine Parallele zu den Kroaten oder den »polnischen« bzw. »kosakischen Reitern« im Dreißigjährigen Krieg, ethnische Zuschreibungen funktionierten ähnlich, zugleich tauchten manchmal ähnliche Verständigungsprobleme auf. Es entbehrt vielleicht nicht einer gewissen Ironie, dass man sowohl im Westen als auch im Osten glaubte, die »wahren« Gewaltexperten kämen von außerhalb, aus der Fremde. Zeigen kann man das am Beispiel Hieronymus Christian von Holstens (um 1638–1692), einem holsteinischen Söldner zunächst in schwedischen, dann in polnischen Diensten, der einen autobiographischen Text hinterließ. Solche Texte sind gerade im östlichen Europa sehr selten, aus unserer Sicht kann er exemplarisch für einen Gewaltexperten aus dem deutschen Ostseeraum stehen. Um 1657 bestanden Holstens »deutschen Reuter« an der Spitze aus folgender Zusammensetzung: »Unser Obrister war ein Freiherr aus Mähren, mein Capitain-Lieutenant ein getaufter Jude und hieß Maudner, der Major hieß Kassinsky, zwei Rittmeister, der eine hieß Debron, der andere Lassofsky.«110 Holsten selbst war Wachmeister, es gab noch zwei »Rittmeister Markofsky und Rittmeister Olsofsky«. Bereits an als er im Böhmisch-Pfälzischen Krieg unter dem Grafen von Thurn und Mansfeld kämpfte. Nach schwedischen, polnischen und preußischen Diensten starb er mit sechzig Jahren auf der von ihm erworbenen Herrschaft Straupitz. Polski Słownik Biograficzny, Bd. 10, Krakau 1960/61, S. 35 f. 108 Bodeckers Chronik livländischer und rigascher Ereignisse, 1593–1638, hg. v. Jakob­ Gottlieb Leonhard Napiersky, Riga 1890, S. 54. 109 Zur Biographie Fahrensbachs Polski Słownik Biograficzny, Bd. 6, Krakau 1946, S. 371; Tätigkeit 1632/33: Hanns Kuhn, Obrist Graf von Fahrensbach. Ein Abenteurerschicksal aus dem 30-jährigen Kriege. Sammelblatt des Historischen Vereins Ingolstadt, Ingolstadt 1932. 110 Holsten, Kriegsabenteuer, S. 20.

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den Namen ist die gemischte ethnische Zusammensetzung deutlich erkennbar, Mährer, Polen, ein Franzose (?) und der »schwedische Holsteiner« Holsten, jedoch war die Gruppe als »deutsche Reiter« eindeutig ethnisch gelabelt. Diese Zuschreibung als »deutsch« und »fremd« bereitete der Gruppe erhebliche Schwierigkeiten. Hier eine bezeichnende Passage, die 1657 am oberen San, heute unmittelbar an der Grenze zwischen Polen und der Ukraine, spielte. Die Gruppe erhielt ein Dorf zur Verpflegung und Einquartierung zugewiesen: »Wie ich nun in mein assignirtes Dorff kam […] die Baurenweiber und Kinder lieffen in den Gründen und Gebürgen […]. Ich logirte nebst einem Corporal und Freyreuter bey dem Woit [= Dorfschulze], so den andern Bauren zu gebieten hatte. […] setzte uns Wein, Käß, Butter und Brodt auf den Tisch, bate, wir sollten vorlieb nehmen, er wollte hin und sein Weib und Kinder zu Hause holen, alsdenn sollten wir besser tractiret werden. Wir waren darauf guten Muths, sattelten unsere Pferde ab und ließen sie in dem Graß laufen. […] Die Sonne war noch nicht untergegangen, siehe, das kamen über die 100 Bauren aus den Gründen mit Sensen, Spiessen und Stangen und fiengen jämmerlich an zu rufen: Sabito, pohansky sin skurfessin, daß heißt so viel: Schlaget todt die verfluchten Schelmen und Hurensöhne!«111

Hier übersetzt Holsten nicht ganz richtig und vollständig: »pogański« muss als »unchristlich«, in diesem Kontext also als »nicht katholisch« oder »orthodox«, übersetzt werden, eine Ursache für den Konflikt lag also in der anderen Konfession der Söldnergruppe. Holsten wurde von den Bauern nach Gegenwehr übel zugerichtet und sollte hingerichtet werden – »zwei wurden die Köpffe mit der Sensen glatt abgeschnitten« –, wurde dann aber durch den adligen Dorfeigentümer gerettet. Er war wütend, noch aus der Rückschau, nach Jahrzehnten, schrieb er: »Hätte ich mein Pferd und Sachen wiedergehabt, so wäre es meine Lust gewesen, dass Dorff im Feuer lassen auffliegen.«112 Tatsächlich waren solche Brandstiftungen ein häufiges Phänomen. Am nächsten Tag wurde der Vorfall geklärt: »sagten, es wäre ein Mißverstand der Bauren gewesen, darzu hätten sie ihr Lebtag keine teutschen Soldaten gesehen.«113 Die Gruppe wurde entschädigt, die Bauern wurden geprügelt. Holsten war damit aber nicht zufrieden: »Weilen ich nun den Schimpf, den Woit und das Dorff unmüglich vergessen konnte, gedachte ich allezeit auf eine kleine Revange; so marchirte ich etliche Tage vorher selbiges Dorf vorbey, wie die Katzen umb einen heißen Brey, damit sie sollten dreist werden. […] Ich ritt mit etlichen Reutern ins Dorff hinein, es gelange mir, daß ich den Woit in seinem Haus ertapte, nahm ihn alsbald bey der Seprin [poln. czupryna  – Haarschopf] fast, […] überantwortete ihn meinem Corporal, welcher ein Lübecker war und ein rechter Baurenfeind. Er muste ein halb Meil bey dem Pferd anlauffen, ließ 111 Ebd., S. 22. 112 Ebd., S. 23. 113 Ebd., S. 24.

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ihn hernach braf durchprügeln und ließ ihn also ligen, sagte auch zu ihm, nun könnte er nach seinem Dorff gehen und lernen die teutschen Soldaten recht kennen.«114

Grundsätzlich plünderten und bereicherten sich die »deutschen Verbände« im östlichen Europa ähnlich wie einheimische Gewaltgruppen. Holsten selbst beschreibt: »der damals am besten mausen kondte, war der beste Soldat«.115 Sie erbeuteten nicht nur Güter, sondern auch Menschen: »Meiner Beute die beste war 4 große Ochsen und ein junges adeliches ungarisches Mädgen von 14 Jahren, welches ich wie ein polnischer Junge gekleidet.«116 Unklar ist, was mit dem Mädchen passierte, ob es gegen Geld ausgelöst wurde.117 An mehreren Stellen beschreibt Holsten deutlich Vergewaltigungsszenen, an denen er auch als Täter beteiligt war. Westliche und östliche Gewaltspezialisten standen sich in Gewaltpraktiken in nichts nach. Der seit Władysławs IV. Militärreformen der 1630er Jahre vermehrte Einsatz der westeuropäischen Söldner durch Polen-Litauen rief aber nur einen geringen strukturellen Wandel in der polnisch-litauischen Armee hervor. Immer wieder griffen Warschau und einzelne Adlige im Kampf gegen die Kosaken und Moskau auf die altbewahrte Werbepraktik zurück, wonach ganze Söldnerregimenter nur für die Zeit einer Kampagne angeworben wurden, eine Praktik, auf die die andere aufstrebende Regionalmacht, das Moskauer Reich, zu diesem Zeitpunkt verzichtete. In dieser Hinsicht ist es interessant, dem einmaligen Selbstzeugnis Holstens das ihm zeitgenössische Tagebuch eines schottischen Offiziers in russischen Diensten gegenüberzustellen.118 Patrick Leopold Gordon of Auchleuchries (1635–1699) entstammte einem schottischen Uradelsgeschlecht, verließ aber mit 16 Jahren seine im Bürgerkrieg versinkende Heimat und trat 1655 als Reiter in schwedische Dienste ein. Ein Jahr später wechselte er zur polnischen Armee, in der er, wie auch Holsten, unter Fürst Jerzy Lubomirski (1616–1667) diente und trotz eindringlicher Angebote der Moskauer Werber bis 1661 blieb. Nach der Entlassung entschied er sich doch für Moskau,119 wo er, begleitet von drei weiteren schottischen Offizieren, Anfang September 1661 eintraf. 114 Ebd. 115 Ebd., S. 20. 116 Ebd., S. 21. 117 Karol Żojdź unterstellt hier eindeutig einen sexuellen Kontext: Ders., Przeciwko moral­ ności, czy dyscyplinie? Przestępstwa seksualne popełniane przez żołnierzy koronnych i litewskich w XVII . [Gegen die Moral, das heißt die Disziplin? Sexualdelikte von Soldaten der Krone Polen und Litauens im 17. Jahrhundert], in: Zbigniew Hundert u. a. (Hg.), Studia nad staropolską sztuką wojenną, Bd. 3, Oświęcim 2014, S. 95–112, hier S. 104 f. 118 Im Folgenden werden alle Zitate nach der älteren deutschen Übersetzung angegeben: Michail A. Obolenskij/Moritz Posselt (Hg.), Tagebuch des Generalen Patrick Gordon, Bd. 1, Moskau 1849. In dieser Ausgabe wird von Gordon in dritter Person gesprochen, ansonsten stimmt die Übersetzung wörtlich mit dem Original überein. 119 Seine Landsleute übermittelten ihm, dass im Zarenreich »ohngeachtet der Sold geringe sei, so werde er doch ordentlich ausgezahlt, und ein Officier bald befördert«. Ebd., S. 288.

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Gordon war bei weitem nicht der erste Schotte in der Moskauer Armee. Zu dieser Zeit waren bereits drei seiner Landsleute im Generalsrang: Alexander Leslie († 1663), Thomas Dalyell (1615–1685) und William Drummond (um 1617–1688).120 Ihre Aufgabe war nicht nur die unmittelbare Heeresführung, sondern auch die Ausbildung der ihnen unterstellten Regimenter. Als Dalyell und Drummond 1666 nach Schottland zurückkehrten, hieß es in ihren Abschieden, sie hätten unter anderem ihre Soldaten in der Schlacht und in der Übung angeführt und richtig instruiert.121 So musste auch Gordon seine Kompetenzen in der Waffenhandhabung unter Beweis stellen, wobei diese Prüfung vom Schwiegervater des Zaren Il’ja D. Miloslavskij selbst abgenommen wurde: »[Miloslavskij] war bereits auf dem Felde, und befahl ihnen, Lanzen und Musketen, welche daselbst fertig waren, zu nehmen und zu zeigen, wie sie damit umzugehen wüßten. Gordon wunderte sich über dieses Zumuthen, und sagte, wenn er dies gewußt hätte, so würde er einen von seinen Bedienten mitgebracht haben, welche vielleicht beßer exerciren könnten, als er selbst, und setzte hinzu, das Exerciren wäre bei einem Officieren das Geringste, aber Truppen anzuführen die Hauptsache. Indeßen, versetzte der Bojarin darauf ganz kurz, ein jeder, auch der beste Obriste, müße, wenn er nach Rußland komme, solches thun. […] Und nachdem er [Gordon] also alle Handgriffe mit der Lanze und Muskete zu großer Zufriedenheit des Bojarin gemacht hatte, gieng er wieder nach Hause«.122

Zwei Tage später erfuhr Gordon, er sei im Majorrang in Zarendienste angenommen, und nach einer Woche kam der »Befehl, von einem Rußen 700 Mann in Empfang zunehmen, welche unter das Regiment sollten gesteckt werden. […] Selbige wurden, bei gutem Wetter, täglich zwei Male in den Waffen geübt«.123 In den nächsten fünf Jahren war der Waffendrill seine Hauptbeschäftigung, was wohl auch dem Alltag eines ausländischen Offiziers in russischen Diensten entsprach. So schreibt Gordon, dass »er das Regiment täglich zweimal exerciren mußte, und außerdem kein Tag vergieng, da er nicht Soldaten empfieng und wieder andere nach den verschiedenen Besatzungen und Regimentern, zu denen sie gehörten, zurück schicken mußte.«124 Ähnlich wie bei Holsten findet man auch in Gordons Tagebuch rege Schil­ derungen der Gewaltausbrüche, der Kontext unterscheidet sich aber komplett. Als ein russischer Kapitän seines Regiments des Nachts die Soldaten beim Kartenspielen ertappte, konfiszierte er nicht nur das ganze Geld, sondern erpresste 120 Aleksandr A. Rogožin, Generalitet polkov »novogo stroja« v Rossii vtoroj poloviny 17 veka [Die Generalität der Einheiten »neuen Stils« in Russland in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts], Diss. Orel 2014, S. 56. 121 Sobranie gosudarstvennych gramot i dogovorov [Sammlung der staatlichen Urkunden und Verträge], Bd. 4, Moskau 1826, Nr. 39, S. 143 f. 122 Obolenskij/Posselt, Tagebuch des Generalen Patrick Gordon, S. 289 f. 123 Ebd., S. 290 f. 124 Ebd., S. 292 f.

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von ihnen unter Androhung eines Strafverfahrens noch weitere sechzig Rubel. Als Gordon dies am nächsten Tag berichtet wurde, »schickte [er] also nach dem Capitain; nachdem er die Wachen und alle seine Bedienten bis auf einen weggeschickt hatte, trat der Capitain ins Zimmer. Gordon schalt ihn aus, und sagte, daß er dergleichen Mißbräuche nicht länger dulden könne, und gewiß einmal übel mit ihm umspringen würde. Der Capitain fing an zu lärmen, allein Gordon ergriff ihn beim Kopfe, warf ihn zu Boden, und prügelte ihn mit einem kurzen eichenen Knittel so durch, daß er kaum aufstehen konnte. Zugleich versprach er demselben noch zehn Mal so viel, wenn er dergleichen Streiche noch einmal spielen würde, und so warf er ihn zur Thür hinaus«.125

1667 versetzte man Gordon nach Sevsk,126 dem größten militärischen und administrativen Zentrum des Zarenreiches an der Grenze zur Steppe. Hier beschäftigte er sich mit Festungsbau und Militärverwaltung und warb ein Dragonerregiment an, mit dem er erfolgreich 1674–1678 in der Ukraine gegen die Osmanen und den proosmanischen Hetman Petro Dorošenko kämpfte.127 1678 erfolgte seine Ernennung zum Kommandanten von Kiev mit dem Auftrag, die Stadt zu befestigen, wozu er im November die Moskauer Regierung um Ingenieure und Fachleute bat; von den acht ihm zu Hilfe geschickten Oberoffizieren trug nur einer einen russischen Namen. 1684 reichte Gordon beim Kanzler ­Vasilij V. ­Golitsyn einen Aufsatz ein, in dem er die Möglichkeit, ja Notwendigkeit eines Offensivkrieges gegen das Krimkhanat begründete. Zwei Krim­ feldzüge 1687 und 1689 waren die Folge; zum ersten Mal in der Geschichte ging das Moskauer Reich zu einer Offensive gegen die Krim über. Dies war teilweise auch deswegen möglich, weil Moskau seit den 1630er Jahren unter maßgeblicher Beteiligung der westeuropäischen Spezialisten ein großdimensioniertes Verteidigungssystem an seinen Südgrenzen errichtete, wovon die sogenannten Belgorod- und Izjum-Linien wohl die bekanntesten Elemente sind. Dieses System umfasste nicht nur Festungen und Erdwälle, sondern auch reguläre Truppen und wehrpflichtige Bauern. Die military colonization,128 mit der die administrative Vereinnahmung und Durchdringung einhergingen, schuf einen gewaltfreien Raum, der sich immer weiter gen Süden ausdehnte und dem die zivilen Kolonisten folgten.129 Und dies geschah auf Kosten der ge125 Ebd., S. 295. 126 Im Tagebuch fehlt ein großer Teil zwischen 1667 und 1683, Gordons Biographie wird nach Akten rekonstruiert: Dmitrij G. Fedosov/Michail R. Ryženkov (Hg.), Patrik Gordon. Dnevnik 1677–1678, Moskau 2005, S. 101–129. 127 Brian L. Davies, The Second Chigirin Campaign. Late Muscovite Military Power in Transition, in: Eric Lohr/Marshall Poe (Hg.), The Military and Society in Russia. 1450–1917, Leiden 2002, S. 97–118. 128 Davies, Warfare, S. 81–85. 129 Brian J. Boeck, Containment vs. colonization. Muscovite approaches to settling the steppe, in: Nicholas B. Breyfogle u. a. (Hg.), Peopling the Russian Periphery. Borderland Colonization in Eurasian History, London 2007, S. 41–60; Carol B. Stevens, The Politics

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waltoffenen Räume in der nördlichen Schwarzmeerregion; dem Gewaltmarkt wurde nicht nur der geographische Raum, sondern auch die wirtschaftliche Basis entzogen. Ein solcher Ansatz lässt auch die Krisenerscheinungen des jungen Hetmanstaates, die in der ukrainischen nationalen Historiographie als Bürgerkrieg unter dem Namen Ruina (1657–1687) aufgefasst werden, in einem anderen Licht erscheinen: Die knapp gewordenen Ressourcen verschärften zum einen die Konkurrenz innerhalb der Gewaltgemeinschaften und zum anderen zwangen sie nun zum Handeln jenseits der routinierten Logiken, so dass z. B. die früheren Gegner, die Kosaken und die Tataren, immer häufiger als Verbündete auftraten. Als dem Kosakentum unter Ivan Mazepa 1704 eine kurzzeitige Konsolidierung gelang, befand sich bereits der größte Teil der Region de facto unter Moskauer Herrschaft. Nach Mazepas gescheitertem Versuch, sich mithilfe des schwedischen Königs von Moskau zu lösen, ließ Peter I. 1709 die Sič zerstören. 1716 folgte die Unterstellung der Donkosaken unter das neugebildete Kriegskollegium.130 Patrick Gordon, der symbolischerweise in seinen letzten Lebensjahren ein enger Freund und Vertrauter des jungen Peter war, ist das bekannteste, aber auch ein typologisch sehr aussagekräftiges Beispiel. Er steht für die Hunderte westeuropäischer Fachleute und Offiziere, die sich im Laufe des 17.  Jahrhunderts in Moskauer Dienste begaben und hier Karriere machten.131 Nicht nur Fachwissen brachten sie mit, sondern stellten auch die Moskauer Regierung vor eine soziale und administrative Herausforderung: Wie integriert man die ausländischen Gewaltspezialisten in das bestehende komplizierte System der Militärverwaltung, das allein durch mestničestvo, das heißt Amtsbesetzung nach Geburtsrecht bzw. nach Adelsrang, bestimmt wird? Nach den Versuchen, ein Parallelsystem der »neuen/deutschen Regimenter« zu schaffen, wurde 1682 eine radikale Lösung gefunden: Das mestničestvo wurde abgeschafft. Von nun an wurden Offiziere gemäß ihrer Kompetenzen und Verdienste befördert. Eine passende Vergleichsebene hierzu bietet das polnisch-litauische autorament-System, wonach das Heer in zwei Teile zerfiel, die »nationale Armee« (autorament narodowy) und die »fremde Armee« (autorament cudzoziemski), die auf allen Ebenen streng voneinander getrennt waren. Und während die Moskauer Eliten darum bemüht waren, die ausländische Fachkräfte zu integrieren, sei es auch

of Food Supply. Grain and the State in Southern Russia, 1640–1700, Diss. Ann Arbor 1988, S. 36–42; Dies., Russia’s Wars of Emergence, 1460–1730, Harlow 2007, S. 133–138, 193–196. 130 Die lokalen Eliten »had to adjust to new rules of professionalism and loyalty if they­ wished to succeed in the fiscal-military states«. Glete, War and the State in Early ­Modern Europe, S. 14. 131 Der schwedische Ingenieur Erik Palmqvist zählte 1673 nur in Moskau und Sibirien 103 westeuropäische Oberoffiziere. Tatjana V. Černikova, Evropeizacija Rossii vo vtoroj­ polovine 15–17 vekach [Die Europäisierung Russlands von der zweiten Hälfte des 15. bis zum 17. Jahrhundert], Moskau 2012, S. 411.

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auf Kosten des Verzichts auf ein altbewährtes System, drängte der polnische Adel 1667 auf die komplette Auflösung der fremden Krontruppen.132 Westlich akkulturierte Gewaltakteure übten einen enormen Einfluss auf den frühneuzeitlichen Gewaltmarkt im östlichen Europa aus. Dieser reichte (direkt) von Taktik und Technologien bis hin zum (indirekt) grundlegenden Wandel in Militär und Verwaltung in den benachbarten Staaten, von denen das Moskauer Reich, in dem vorwiegend westeuropäische Gewaltspezialisten die militärische Revolution vorantrieben, der erfolgreichste war.

4. Ergebnisse: Das lange Bestehen des Gewaltmarkts Ukraine und dessen Zusammenbruch Im östlichen Europa tauchen im späten 15.  und 16.  Jahrhundert Gewaltverbände (Tataren, später Kosaken) auf, die an der Grenze von Imperien in einem staatsfernen Raum Gewaltpraktiken wie Menschenraub, Erpressung und Beutezüge in einem zeitgenössisch kaum gekannten Ausmaß etablierten und sich durch die Nähe zu lukrativen Absatzmärkten (vor allem im Schwarzmeerraum) verfestigten. Die Beteiligung örtlicher Eliten (osmanische und polnische Verwaltungsfunktionäre, armenische und jüdische Kaufleute)  an dem gewinnbringenden Prozedere des Menschenraubs stabilisierte die Gewaltgruppen. Dabei beförderte eine erhebliche Ressourcenakkumulierung die Machtausweitung dieser Gewaltgemeinschaften, die lukrative Raids auch in Regionen weit außerhalb ihres Machtbereichs unternahmen (Moskau 1571, Vororte Istanbuls 1615, Böhmen und die Steiermark 1620). Der direkte Einsatz von westeuropäischen Spezialisten (livländischer Adel, Schotten, Holländer, deutsche Regimenter) zur Bekämpfung der stabilen Gewaltmarktstruktur war nur situativ erfolgreich, da osteuropäische Staatsverbände keine hinreichenden Ressourcen, Steuereinnahmen und dauerhaften Strukturen (etwa das Scheitern des polnischen Festungssystems am Dnepr nach 1648) für einen fiskalischen Militärstaat aufbauen konnten bzw. bei den Osmanen nicht mehr aufbringen konnten. Der Gewaltmarkt Ukraine konnte allerdings nur bestehen, solange drei Bedingungen erfüllt wurden: 1. fehlendes Gewaltmonopol; 2. vorhandene marktwirtschaftliche Basis in Form von leichter Zugänglichkeit der Handelsressourcen des Schwarzmeer- und Mittelmeerraums und die Möglichkeit, diese abzusetzen; 3.  militärische Parität der hier agierenden Gewaltgemeinschaften und staatlichen Armeen. Die fortschreitende militärische Revolution, die zunächst den Gewaltmarkt stabilisierte (Schießpulver), entzog ihm jedoch im späten 17.  Jahrhundert im Endeffekt alle drei Bedingungen. Die Errichtung der Schutzlinien durch den Moskauer Staat, die administrative Durchdringung an 132 Zbigniew Hundert, Wojsko koronne wobec elekcji 1668 roku [Die Kronarmee in der Königswahl 1668], in: Adam Dobroński u. a. (Hg.), Studia z dziejów wojskowości, Bd.  1, Białystok 2012, S. 91–114, hier S. 94.

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der Moskauer Südgrenze und die steigende Effizienz der westlich ausgebildeten Truppen verringerten die Basis der regionalen Beuteökonomie erheblich und führten zu einer dauerhaften Krise des Kosakentums (1657–1687) und zu einer politischen Instabilität im Krimkhanat. Auch militärisch unterlagen die Kosaken und die Tataren immer häufiger den polnischen (Podhajce 1667) und insbesondere den Moskauer Truppen. Die im Laufe der territorialen Expansion des Zarenreiches eroberten Gebiete wurden sofort befestigt und administrativ erschlossen. Der Gewaltmarkt Ukraine schrumpfte, bis die Ressourcenakkumulierung des Russländischen Kaiserreichs seit Peter I. ihn im 18. Jahrhundert endgültig zerschlug (Annexion der Krim 1783) und die Gewaltgemeinschaften integrierte und instrumentalisierte.

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Gewaltgemeinschaften, Gewalttaten und die Neuordnung des westlichen Balkanraumes zwischen 1645 und 1718 Adria- und östlicher Mittelmeerraum wurden in der zweiten Hälfte des 17. und in den ersten zwei Jahrzehnten des 18.  Jahrhunderts von schweren Kriegen heimgesucht, in denen sich die politische Ordnung und Gliederung dieser Geschichtsregion ebenso folgenreich verschoben wie die ethnische und religiöse Zusammensetzung ihrer Bevölkerung. Zeit und Region boten und bieten sich daher für Fallstudien zum Thema Gewaltgemeinschaften an. Die hier zur Rede stehende versucht, die Schicksale einer Gruppe von paramilitärischen Gewaltgemeinschaften einschließlich ihrer devianten Abspaltungen zu verfolgen, die in den Kriegen des 17. und frühen 18. Jahrhunderts zwischen der Republik Venedig und dem Osmanischen Reich eine nicht zu vernachlässigende Rolle spielten und dabei vorwiegend (allerdings nicht ausschließlich) auf venezianischer Seite agierten.1 Diese Kriege waren der Kreta- oder Candiakrieg, mit dem sich die Republik Venedig unter Anspannung aller ihrer Kräfte ein Vierteljahrhundert lang (von 1645 bis 1669) letztlich erfolglos der osmanischen Eroberung der seit dem frühen 13. Jahrhundert venezianischen Insel Kreta zu widersetzen versuchte, sowie der (in der venezianischen Terminologie) erste und zweite Moreakrieg (1684–1699 und 1715–1718),2 in denen die nun an der Seite kontinentaleuropäischer Großmächte kämpfende Republik, an Gewicht unter diesen Mächten immer weiter verlierend, sich erst der Halbinsel Peloponnes (oder Morea)  als imperialem Ersatz für das verlorene Kreta bemächtigte, die Beute dann aber nicht behaupten konnte. Im Fokus steht dabei einer der vielfältigen Kriegsschauplätze dieser langen Auseinandersetzungen, nämlich die Landgrenze zwischen Venedig (einem Stadtstaat mit

1 Die genannte Fallstudie soll noch in diesem Jahr als Monographie publiziert werden. Ziel dieses Beitrages ist es, ein Resümee der Forschungsarbeit und eine Vorschau auf das Buch zu liefern. Markus Koller hat den theoretischen Teil des Aufsatzes verfasst, Andreas Helme­dach die übrigen. Die Anmerkungen wurden so stark wie möglich beschränkt; genauere Verweise finden sich demnächst in der Monographie. 2 Der erste Moreakrieg begann aus mittel- und südosteuropäischer Sicht ein Jahr früher, 1683, mit der zweiten Belagerung Wiens durch die Osmanen und ist dort unter Bezeichnungen wie »großer Türkenkrieg« oder auch »Wiener Krieg« (im Serbischen bečki rat) in den Geschichtsbüchern zu finden.

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angeschlossenem Imperium)3 und dem Osmanischem Reich, zwischen Dalmatien und Bosnien.

1. Theoretischer Rahmen Seit dem Ende der 1990er Jahre hat sich im politischen Diskurs innerhalb der Europäischen Union der in der politischen Sprache vorher nahezu unbekannte Terminus »westlicher Balkan« etabliert, mit dem die Nachfolgestaaten Jugoslawiens (ohne Slowenien) sowie Albanien und somit – neben Kroatien – die derzeitigen potentiellen Beitrittskandidaten bezeichnet werden.4 Dieses Raumkonzept orientiert sich zwar an den Grenzen der heutigen Nationalstaaten und scheint sich daher nur wenig für eine Perspektive zu eignen, die auch Zeiträume vor dem 20. Jahrhundert in den Blick nimmt. Auf die Bedeutung, die den Grenzräumen zwischen den Großreichen zukam, deren Herrschaftsstrukturen die politischen und administrativen Strukturen auf der Balkanhalbinsel zwischen dem 15. und dem späten 19. Jahrhundert maßgeblich prägten, verweist jedoch der Verlauf einiger Staatsgrenzen im westlichen Balkan. Dies gilt beispielsweise für Bosnien-Herzegowina, dessen Grenzlinien zu Kroatien im Norden und Südwesten weitgehend den Vereinbarungen in dem ostmittel- und südosteuropäischen System der Friedenverträge von Passarowitz (1718) und Belgrad (1739) entsprechen.5 Die Vereinbarungen von Passarowitz bedeuteten aber nicht nur die Herausbildung einer Grenzlinie, mit der das venezianische Dalmatien zum dritten Mal weiter landeinwärts erweitert worden ist und die sich über die folgenden drei Jahrhunderte verfestigen sollte. Vielmehr beendete der Friedensvertrag auch den letzten Krieg zwischen der Markusrepublik und dem Osmanischen Reich. Frühneuzeitliche Machtrivalitäten brachten in Südosteuropa, wie auch in anderen Teilen des Kontinents, Grenzverläufe hervor, die sich als realpolitische Konstanten oder auch »Phantomgrenzen«6 in den sich immer 3 Zur Problematik der Republik Venedig als aristokratisch regiertem Stadtstaat mit Imperium – zu dem immerhin unter anderem drei ehemalige Königreiche gehörten – jetzt der Sammelband von Gherardo Ortalli u. a. (Hg.), Il Commonwealth veneziano tra 1204 e la fine della repubblica. Identità e peculiarità, Venedig 2015. 4 In wissenschaftlichen Texten ist er als Ableitung vom »Balkan«-Konzept gelegentlich schon vorher verwendet worden, so etwa in der Form »Westbalkan« bei Fikret Adanır, Heiduckentum und osmanische Herrschaft. Sozialgeschichtliche Aspekte der Diskussion um das frühneuzeitliche Räuberwesen in Südosteuropa, in: Südost-Forschungen 41 (1982), S.  43–116, hier S.  86. Ausgangspunkt jeder Diskussion der Probleme des Raumkonzeptes »Balkan« – die hier nicht aufgegriffen werden kann – ist nach wie vor Maria Todorova, Imagining the Balkans, Oxford 1997. 5 Noel Malcolm, Geschichte Bosniens, Frankfurt a. M. 1996, S. 107. 6 So der von einer Berliner Projektgruppe (»Phantomgrenzen in Ostmitteleuropa«, am Centre Marc Bloch) geprägte Begriff. Siehe dazu Béatrice von Hirschhausen u. a., Phantomgrenzen. Räume und Akteure in der Zeit neu denken, Göttingen 2015.

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wieder verändernden politischen Raumordnungssystemen innerhalb dieser Region etablierten. Die hier angesprochene Verbindung von Vergangenheit und einer an der Bedeutung und Funktion von Grenzen wieder zunehmend interessierten Gegenwart hat in den vergangenen Jahren dazu beigetragen, dass sich die Grenzforschung zu einem der innovativsten Felder der Geschichtswissenschaft entwickelt hat.7 Wenn sich der folgende Beitrag auf gesellschaftliche Gruppen und daraus hervorgegangene Gewaltgemeinschaften im venezianischosmanischen Grenzraum konzentriert, fügt er sich in eine der zu beobachtenden Neuakzentuierungen in der Grenzforschung ein. Diese ist eng mit dem Einfluss des cultural turn auf die Osmanistik und andere Disziplinen verbunden, die sich an der historischen Südosteuropaforschung beteiligen. Eine Vielzahl von Studien hat verdeutlicht, dass trotz der militärischen Auseinandersetzungen die Grenze zwischen der Markusrepublik und dem Osmanischen Reich nicht nur für Diplomaten und Kaufleute keineswegs unüberwindlich war. Die vielfältige Einbindung der Serenissima in die levantinische Welt, die ihre Spiegelung in fast allen Sphären der Gesellschaft in Venedig fand, veranschaulichen insbesondere Ausdrucksformen in Kunst und Handwerk.8 Es ist jedoch immer noch ein Signum dieser Forschung, dass sich der Blick meist auf die Stadt am Rialto richtet,9 während die dalmatinischen Gebiete bedeutend weniger Aufmerksamkeit erfahren haben. Egidio Ivetić hat deshalb von den zwei Geschwindigkeiten der Venezianistik gesprochen, die ihr Untersuchungsobjekt, den in Dominante, domini da terra und domini da mar dreigeteilten Staat, sehr unterschiedlich behandelt hat. Während die Stadt Venedig und die Terra Ferma sehr intensiv behandelt worden seien, habe sich der Stato da mar in der Forschung mit einem unterprivilegierten Status begnügen müssen.10 Dies mag auch ein immer noch andauernder Nachklang des Selbstverständnisses einer städtischen Oberschicht im historischen Venedig sein, wo beispielsweise die ehemaligen Besitzungen im albanischen Raum nach deren Verlust an die Osmanen im 15. Jahrhundert weitgehend in Vergessenheit geraten waren. Ebenso berichtet die spätmittelalterliche venezianische Geschichtsschreibung nur am Rande über die Geschehnisse in den Provinzen, vor allem wenn sich 7 Einen Überblick bietet Gabriele Metzler/Michael Wildt (Hg.), Über Grenzen. 48. Deutscher Historikertag in Berlin 2010. Berichtsband, Göttingen 2012. Instruktiv vom Standpunkt der italienischen Forschung Egidio Ivetić, Territori di confine (secoli XV–XVIII), in: Gherardo Ortelli u. a. (Hg.), Il Commonwealth veneziano tra 1204 e la fine della repubblica. Identità e peculiarità, Venedig 2015, S. 183–201. 8 Einen sehr informativen Einblick gewährt der Katalog zur Ausstellung Venise et l’Orient 828–1797, Paris 2006. 9 Eine aktuelle Forschungsübersicht bei Suraiya Faroqhi, Im Angesicht des Feindes? – Die osmanische Elite und Venedig. Ein Überblick über die Forschungslandschaft, in: Eckhard Leuschner/Thomas Wünsch (Hg.), Das Bild des Feindes. Konstruktion von Antagonismen und Kulturtransfer im Zeitalter der Türkenkriege. Ostmitteleuropa, Italien und Osmanisches Reich, Berlin 2013, S. 215–232. 10 Ivetić, Territori di confine, S. 189.

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dort führende Repräsentanten Venedigs im Kampf gegen die Osmanen profilieren konnten.11 Eine solche Geschichte Venedigs wird aber den gesellschaftlichen Gegebenheiten am Rialto selbst nicht gerecht, wo sich viele Bewohner aus den Kolonien und Grenzprovinzen aufhielten, die das Leben in der Stadt ebenso prägten wie Kaufleute oder Gesandte aus anderen Staaten. Nathalie Rothman hat diese Personen jüngst als »trans-imperial subjects« bezeichnet und deren Rolle »[…] in defining foreign and local, Muslim and Christian, Turk and Venetian, Levantine and European, and East and West in early modern Venice« untersucht.12 In ihrer Studie verweist die Autorin immer wieder auf Personen, deren Lebenswelt die Grenzen zwischen dem Osmanischen Reich und Venedig transzendierte und die im jeweiligen sozio-kulturellen Kontext mit ihren multiplen Identitäten spielten, um für sich Vorteile zu erreichen. Dieses Konzept rückt somit Personen in den Vordergrund, »[…] who were caught in the web of complex imperial mechanisms but who were at the same time essential to producing the means to calibrate, classify, and demarcate imperial alterities. In particular, it calls attention to how these subjects articulated the actual location of sociocultural boundaries, the prototypical centers of different categories, and the meaning of their own ›in-betweeness‹«.13 Das Aushandeln des »Dazwischenseins« eröffnet den Blick auf innergesellschaftliche Dynamiken, die zu einer kritischen Auseinandersetzung mit traditionellen Bildern von venezianischen Gesellschaftsordnungen führen. Die Autorin verweist zudem auf die immer noch andauernde Wirkmächtigkeit eines mythologisierten Bildes der Gesellschaft am Rialto, das im 16. Jahrhundert von den dortigen Eliten selbst geschaffen worden sei. Gemäß dieser Vorstellung war die Gesellschaft der Markusrepublik in Patrizier, Bürger und Plebejer geteilt.14 Ein solches statisches Verständnis ist von der historischen­ Forschung bereits deutlich revidiert worden, aber dennoch bleiben die identitären und rechtlichen Einordnungen zahlreicher Bevölkerungsgruppen noch unzureichend erforscht. Dies gilt in einem noch stärkeren Maße für die venezianischen Grenzräume, deren gesellschaftliche Strukturen bis in die jüngste Vergangenheit vor allem unter dem Gesichtspunkt des Verhältnisses von Herren und Untertanen untersucht worden sind.15 Ein derartiges Bild hat im albanischen Raum besonders mit Blick auf die administrativen Strukturen seine Berechtigung, allerdings werden gerade in der Kommunikation der venezianischen Verwaltung mit den lokalen Eliten bzw. zwischen der städtischen und ländlichen Bevölkerung identitäre Aushandlungsprozesse und damit eine wenig statische und mit dem Begriffspaar von Herr und Knecht nur partiell fass11 Oliver Jens Schmitt, Das venezianische Albanien (1392–1479), München 2001, S. 642. 12 E. Nathalie Rothman, Brokering Empire. Trans-Imperial Subjects between Venice and­ Istanbul, Ithaca, NY 2012, S. 3 (Hervorhebungen im Original). 13 Ebd., S. 13. 14 Ebd., S. 11. 15 Schmitt, Das venezianische Albanien, S. 367.

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bare Gesellschaft erkennbar. In diese Mechanismen waren auch jene mobilen Gruppen eingebunden, die auf beiden Seiten der osmanisch-venezianischen Grenze agierten und dort als Gewaltgemeinschaften in Erscheinung traten. Wenn wir das Modell der »trans-imperial subjects« auf Grenzräume anwenden, stellt sich die Frage, wie sich deren Angehörige in ihrer sozialen, politischen oder auch räumlichen Zugehörigkeit verorteten. Der indische Wirtschaftswissenschaftler und Philosoph Amartya Sen hat in seinem Buch »Identity and Violence. The Illusion of Destiny« darauf verwiesen, dass es in jedem sozialem Kontext eine Reihe von potentiell praktikablen und relevanten Identitäten wie Religion, Ethnizität, Sprache oder politische Einstellung gibt, die jeder Einzelne nach ihrer Annehmbarkeit und Bedeutung bewerten kann. Der Betroffene muss dann entscheiden, welche Bedeutung er den verschiedenen Zugehörigkeiten beimisst.16 In der Form und gegebenenfalls in der Begründung der Gewaltanwendung, die im venezianisch-osmanischen Grenzraum ausgeübt wurde, konnte die angesprochene Bewertung eben auch ihren Ausdruck finden. Der Grenzraum erscheint damit als ein soziales Gebilde, in dem sowohl der Grenzverlauf17 und das als Grenzgebiet definierte Territorium als auch die gesellschaftliche Ordnung immer wieder in kommunikativen Aushandlungsprozessen innerhalb der dort lebenden Bevölkerung bzw. zwischen dieser und den imperialen Institutionen geschaffen worden sind. Dies unterstreicht, wie bedeutsam die Frage nach der Raummacht und damit nach der Handlungsmacht lokaler Akteure ist, die eben nicht nur Objekte einer von Venedig – oder auch Istanbul – vorgegebenen Politik waren. Vielmehr gestalteten sie Entwicklungen im Grenzraum aktiv mit, die auch heute häufig verallgemeinernd als venezianische Politik dar­gestellt werden.

2. Der Schauplatz: Eine Grenze zwischen ungleichen Imperien Werfen wir zunächst einen Blick auf den dalmatinisch-bosnischen Grenzraum zum Zeitpunkt des Beginns der militärischen Auseinandersetzungen zwischen Venezianern und Osmanen nach einer immerhin zwei Generationen lang währenden Friedenszeit. Das venezianische Dalmatien der Zeit zwischen 1573 und 1645 war nur noch ein Restbestand des einstigen Königreiches. Es trennte als nicht immer zusammenhängender und nie die küstennahen Gebirgskämme überschreitender, in Nord-Süd-Richtung längs der Adria verlaufender Landstreifen die osmanische Provinz Bosnien (zu der auch die Herzegowina ge-

16 Hier wird die deutsche Übersetzung zitiert: Amartya Sen, Die Identitätsfalle. Warum es keinen Krieg der Kulturen gibt, München 2006, S. 43 f. 17 Achim Landwehr, Die Erschaffung Venedigs. Raum, Bevölkerung, Mythos 1570–1750, Paderborn 2007, zeigt dies am Beispiel der venezianisch-habsburgischen Grenze bis zum 17. Jahrhundert.

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hörte) weitgehend vom Meer.18 Dieser Landstreifen zerfiel in einen nördlichen und einen südlichen »Hauptteil«, die durch das Territorium der Stadtrepublik Ragusa (Dubrovnik) voneinander getrennt wurden. Ragusa ist als ein Vasallenstaat des Osmanischen Reiches anzusehen, pflegte aber während osma­ nisch-­vene­zia­nischer Auseinandersetzungen zum allseitigen Nutzen neutral zu bleiben. Venedig hatte »seinen« Anteil Dalmatiens zwischen 1409 und 1444 erworben; für die Republik war der Küstenstreifen (der sich südlich in Albanien und Griechenland fortsetzte) von großer strategischer Bedeutung, da er der Sicherung der Schifffahrtswege in die Levante diente. Doch schon im 15. Jahrhundert waren die venezianischen Besitzungen unter großen osmanischen Druck geraten. Nach den drei venezianisch-osmanischen Kriegen zwischen 1499 und 1573 war der Serenissima in Dalmatien praktisch nur noch das unmittelbare Vorland der Festungen – vor allem Zara bzw. kroatisch Zadar, Šibenik (Sebenico), T ­ rogir (Traú), Split (Spalato), Kotor (Cattaro) – geblieben. Die alteingesessene katholische Bevölkerung war durch osmanische Raubzüge dezimiert worden, viele Menschen waren zudem nach Italien ausgewichen. Die verbliebene Acker- und Weidefläche war so gering, dass Dalmatien von außen versorgt werden musste. Erst im Kretakrieg sollte es den Venezianern gelingen, den dalmatinischen Festungen und Städten durch Eroberungen wieder etwas Raum und damit auch vorgelagerte landwirtschaftliche Fläche zu verschaffen.19 Nicht erst seit dem Kretakrieg war es kennzeichnend für den dalmatinischen Kriegsschauplatz, dass es hier  – bei beiden Kriegsgegnern, die sich in vielem ähnlicher waren als man auf den ersten Blick vermuten könnte – vor allem auf lokale Kräfte ankam und die Kriegführung oft den Charakter des Kleinen Krieges oder sogar des Guerillakrieges aufwies. Auf beiden Seiten der Grenze gab es zwar eine zentrale Leitung der Operationen, aber beide – die Osmanen noch 18 Über Dalmatien in der Zeit der großen Kriege des 17. und frühen 18. Jahrhunderts, wenn auch nur dessen nördlichen Teil näher in den Blick nehmend, vor allem Tea Mayhew, Dalmatia between Ottoman and Venetian Rule. Contado di Zara 1645–1718, Rom 2008. Zum Kretakrieg in Dalmatien siehe auch die Dissertation von Domagoj Madunić, Defensiones Dalmatiae. Governance and Logistics of the Venetian Defense System in Dalmatia During the War of Crete (1645–1669). Central European University, Budapest 2012. Für das 18. Jahrhundert in Dalmatien: Filippo Maria Paladini, »Un chaos che spaventa«. Poteri, territori e religioni di frontiera nella Dalmazia della tarda età veneta, Venedig 2002; Šime Peričić, Dalmacija uoči pada Mletačke Republike [Dalmatien vor dem Fall der Republik Venedig], Zagreb 1980, sowie Larry Wolff, Venice and the Slavs. The Discovery of Dalmatia in the Age of Enlightenment, Stanford, CA 2001. Zum Stato da mar von Istrien bis Z ­ ypern: Benjamin Arbel, Venice’s Maritime Empire in the Early Modern Period, in: Eric R. Dursteler (Hg.), A Companion to Venetian History, 1400–1797, Leiden 2013, S. 125–253. 19 Harald Roth/Oliver Jens Schmitt, Im Zeichen imperialer Herrschaft. Das christlich beherrschte Südosteuropa in der Frühen Neuzeit, in: Konrad Clewing/Oliver Jens Schmitt (Hg.), Geschichte Südosteuropas. Vom frühen Mittelalter bis zur Gegenwart, Regensburg 2011, S. 296–340, hier S. 308 f.

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mehr als die Venezianer – mussten mit dem Einfluss lokaler Kräfte rechnen; sowohl einheimischer Notabeln wie auch ganzer Bevölkerungsgruppen. Geborene Südosteuropäer stellten im Kretakrieg – wie auch in den beiden Moreakriegen – im westlichen Balkanraum wohl die Mehrzahl der Kombattanten, wenngleich genaue Zahlen nicht angegeben werden können. Wichtige Entscheidungen aber fällten die Amtsträger der beiden Imperien. Auf venezianischer Seite war dies an erster Stelle der Provveditore generale di Dalmazia ed A ­ lbania mit Sitz in­ Zadar, dem in Kotor, dem Zentrum des südlichen Teils des dalmatinischen Landstreifens, ein Provveditore estraordinario zugeordnet war. Auf osmanischer Seite unterstand die Region dem Pascha von Bosnien (osmanisch Bosna) mit Sitz in Travnik, dessen Verwaltungsbereich (paşalık bzw. ­eyâlet) in Sandschaks (sancaklar, Sg. sancak) wie etwa Klis, Lika oder Herzegowina gegliedert war, denen Sandschakbeys vorstanden, die oft aus der lokalen Oberschicht stammten. Von einer einheitlichen osmanischen Politik ist somit nicht zwingend auszugehen, da mit dem Einfluss lokaler osmanischer Kräfte in Bosnien (mitunter auch in Albanien) auf die Formulierung der Kriegsziele der jeweiligen militärischen Verbände zu rechnen ist. Sehr viel straffer war dagegen die vom Dogenpalast in der Dominante ausgehende venezianische Kommandokette, nicht zuletzt wegen des noch heute faszinierenden Kommunikations­systems der Serenissima, das auf den die Küsten entlang unablässig Briefe und Depeschen hin und her tragenden Galeeren beruhte. Dennoch muss auch hier mit dem Eigensinn der Untertanen (die sich nicht immer auch selbst als solche sahen) gerechnet werden. Dem »offiziellen« Kriegsbeginn 1645 in Dalmatien waren im Jahr zuvor bereits Auseinandersetzungen vorausgegangen, die sich nicht mehr in das Schema der von den Friedensschlüssen zwischen den Osmanen und ihren südosteuropäischen Nachbarn tolerierten Grenzscharmützel einfügen lassen. Einige der lokalen osmanischen Befehlshaber – Tea Perinčić-Mayhew nannte sie nach dem kroatischen und ungarischen Analogon in unkonventioneller, aber zutreffender Weise magnates  – trachteten offen nach der Vergrößerung ihrer Machtbereiche – und Familiendomänen – auf Kosten des venezianischen Dalmatiens, während andere am Frieden mit den Venezianern festhielten. Streithähne und Unruhestifter, die nach »irgendeiner Rache« (qualche vendetta) dürsteten – so kein geringerer als der Provveditor General der Provinz Giovanni Battista Grimani –, Diebstähle oder Grausamkeiten begingen, gab es in diesem armen Grenzland freilich auch unter den venezianischen Untertanen.20 Gemessen an dem, was noch kommen sollte, kann von einem verhaltenen Beginn des Krieges auf dem 20 Giovanni Battista Grimani, Provveditor General di Dalmatia et Albania, in seiner Abschlussrelation an Doge und Senat vom 10. August 1644, die einen Überblick über die Lage in Dalmatien am Vorabend des Kretakrieges vermittelt; gedruckt in Grga Novak (Hg.), Commissiones et relationes Venetae, Bd.  7: Annorum 1621–1671, Zagreb 1972, S.  165–185, hier S.  168. Grimani schrieb »vendetta«, Grausamkeiten (»crudeltà«) und Diebstähle (»furti«) den frisch aus dem Osmanischen Reich entwichenen und in den Stato da mar eingewanderten Morlaken zu. Mehr dazu unten. Vgl. auch Mayhew, Dalmatia, S. 28 f., die den Bericht Grimanis allerdings irrtümlich auf den Oktober 1644 datiert.

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dalmatinischen Nebenkriegsschauplatz gesprochen werden, der vor allem in osmanischen Beutezügen auf das venezianische Territorium bestand. Das Hauptaugenmerk der Kontrahenten lag auf Kreta; die Venezianer versuchten, die Entscheidung des Kampfes um die Insel auf hoher See herbeizuführen, vor allem, nachdem sie auf der Insel in der Festung Candia (heute Iráklio) eingeschlossen worden waren.21 An den Grenzen von Bosnien und Dalmatien mussten die Militärs mit dem auskommen, was die Anstrengungen anderswo übrigließen. Nichtsdestotrotz war das Kriegsziel der Osmanen dort die Eroberung möglichst großer Teile, wenn nicht der ganzen venezianischen Provinz. Dies sollte sich im dritten Kriegsjahr (1647) in der Belagerung der Hafenstadt Šibenik ­(Sebenico) manifestieren, die für einen deutlichen Politikwechsel steht. Lange Zeit hatte der osmanische Staat nicht ernsthaft versucht, sich in den Besitz der venezianischen Küstenstädte zu bringen, in denen er sogar eigene muslimische Konsuln unterhielt, um den Handel zu fördern. Mit dieser Zurückhaltung war es nun vorbei. Auf venezianischer Seite wiederum lautete der Auftrag, mit den geringen zur Verfügung stehenden Mitteln möglichst große Teile der Provinz zu behaupten. Dem osmanischen Druck begegneten die Venezianer zunächst mit einer Politik und Taktik der verbrannten Erde. Siedlungen und Befestigungen, die man nicht halten zu können glaubte, wurden geräumt und zerstört. War der westliche Balkanraum auch nur Nebenschauplatz, sollte doch der Krieg dort binnen weniger Jahre beide Seiten der Grenze sehr gründlich verwandeln. Die Begrenztheit der Kriegsmittel verhinderte keineswegs die schnelle Entgrenzung des Gewalthandelns.

3. Gewaltgemeinschaften im Grenzkrieg Aus den ersten Überfällen und Scharmützeln wurde bald ein zäher und zunehmend grausamer werdender Krieg um Weiden, Felder, Dörfer, um feste Häuser, Türme, um oft (für das 17. Jahrhundert) recht altertümliche Befestigungsanlagen, um schüttere Siedlungen aus weißem Kalkstein, die nach zeitgenössischen mitteleuropäischen Maßstäben selten den Namen »Stadt« verdienten. Ein Krieg an der Grenze, am Rand dreier Imperien, in einem Handlungsraum, der durch Gewaltoffenheit und Staatsferne gekennzeichnet war, in dem Guerillataktiken dominierten, Hinterhalt und Überfall, und in dem die Aktionen größerer Armeekorps, die es auch gab – nicht zuletzt bei Belagerung und Entsatz von Šibenik – gleichsam nur »eingestreut« waren. Die Haupttypen von militärischen Gewaltgemeinschaften des Kretakrieges sowie der beiden Moreakriege sind damit schon angesprochen. Natürlich gab es 21 Noch immer lesenswert dazu Heinrich Kretschmayr, Geschichte von Venedig, Bd. 3: Der Niedergang, Stuttgart 1934, hier S. 321 f. Kretschmayr spricht vom »Dardanellengedanken« der venezianischen Strategie.

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auf beiden Seiten einen Kern regulärer militärischer Verbände, die im Regelfall aus Berufssoldaten bzw. Söldnern bestanden, die mehr oder weniger weit entfernt, aber jedenfalls abseits des eigentlichen Kriegsschauplatzes und – im vene­ zianischen Fall – fast ausschließlich in Drittstaaten angeworben worden waren. Dazu kamen bei den Venezianern zur Territorialverteidigung traditionell Milizen aus der Stadt- und Landbevölkerung (Cernide, später nach dem südslawischen Wort für »Grenze« auch als Craine bezeichnet), deren Mitglieder somit aus dem eigenen Staatsgebiet und der umkämpften Region selbst stammten. Eine dritte Kategorie bildeten die zu paramilitärischen Verbänden zusammengefassten »Freischärler«, bei denen es sich zu einem erheblichen Teil  oder sogar vollständig um übergelaufene Untertanen des feindlichen Imperiums handelte, wie etwa die unter Namen wie Morlacchi, Panduri und Haiduchi (bzw. ­Caiduchi) in den Quellen erscheinenden, aus Südslawen zusammengesetzten Verbände der venezianischen Streitkräfte.22 Die Verhältnisse auf osmanischer Seite waren durchaus vergleichbar, denn neben den von der Reichszentrale gesandten Einheiten (Pfortentruppen) gab es diejenigen, die zum »Haushalt« des Paschas von Bosnien oder denen der Sandschakbeys gehörten. Zudem gab es auf dem Boden des Paschaliks Bosnien 29 Kapetanate oder Grenzhauptmannschaften, die sich jeweils auf eine Festung zentrierten und den Kern des bosnischen serhad, der osmanischen Militärgrenze in Bosnien ausmachten. Die Grenzhauptleute oder Kapetane wie auch ihre Soldaten waren Muslime, und zwar zumeist einheimische bosnische, Südslawisch sprechende; sie dienten nicht nur als Bewacher der das Grenzland Bosnien schützenden Festungen, sondern wurden auch im Feld verwendet.23 Die Verbände der dritten Kategorie bei den Osmanen dagegen setzten sich aus einheimischen orthodoxen Christen zusammen. Sie wurden Martolosen (osmanisch martoloslar) und auch Panduren genannt, wirkten in Friedenszeiten bei der Bewachung des serhad mit oder leisteten im Inneren der Provinz Polizeidienste. In sozialer Hinsicht waren sie vor allem mit der vlachischen Bevölkerung verbunden.24 22 Zum Stand der venezianischen Militärgeschichtsschreibung zuletzt Piero Del Negro, L’esercito e le milizie, in: Gherardo Ortelli u. a. (Hg.), Il Commonwealth veneziano tra 1204 e la fine della repubblica. Identità e peculiarità, Venedig 2015, S. 473–494. Del Negro erwähnt die paramilitärischen Verbände allerdings nur am Rande. Zu Recht weist er aber darauf hin, dass sich die Militärgeschichte des venezianischen Staates nicht umstandslos in das idealtypische Schema Michael Howards zur europäischen Kriegsgeschichte der Vor- und Frühmoderne einfügen lässt, ebd., S. 478 f. Vgl. Ders., Der Krieg in der euro­ päischen Geschichte. Vom Ritterheer zur Atomstreitmacht, München 1981 [zuerst Oxford 1976], bes. S. 56 ff. (»Die Kriege der Kaufleute«) und S. 76 ff. (»Die Kriege der Profis«). 23 Zu den Kapetanaten nach wie vor das Standardwerk Hamdija Kreševljaković, Kapetanije u Bosni i Hercegovini [Grenzhauptmannschaften in Bosnien und der Herzegowina], Sarajevo 1954. 24 Ebenso bisher unersetzt: Milan Vašić, Martolosi u jugoslovenskim zemljama pod turskom vladavinom [Die Martolosen in den jugoslawischen Ländern unter türkischer Herrschaft], Sarajevo 1967.

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Es versteht sich fast von selbst und könnte an individuellen Lebenswegen und Schicksalen gezeigt werden, dass in beiden Armeen die »Übergänge« zwischen den genannten Gruppen und Kategorien von Gewaltgemeinschaften in mehrfacher Hinsicht fließend waren. Dies gilt für die Herkunft in geographischer und ethnischer Hinsicht ebenso wie für den Status innerhalb der Armeen. Natürlich kam es auch zu Seitenwechseln. Fließend waren nicht zuletzt die »Übergänge« zu den nichtmilitärischen Gewaltgemeinschaften, den Banden und Banditen. In dem hier zur Rede stehenden Projekt ging es fast ausschließlich um die »paramilitärischen« Gewaltgemeinschaften der Morlaken, Panduren und­ Haiducken auf venezianischer Seite, denn diese sind es in erster Linie, die hier das Besondere ausmachen, und dieses Besondere und Neue  – soviel sei hier vorweggenommen  – ist vor allem die Akteursmacht der Einheimischen, der autochthonen Bevölkerung gegenüber den von außen kommenden Imperien, und die Folgen, die diese besondere Akteursmacht im Grenzkrieg hatte. Doch ist hier nicht der Raum, dem Weg der venezianischen Morlaken und Haiducken durch die komplexen Kriegshandlungen der drei venezianisch-­ osma­nischen Kriege zwischen 1645 und 1718 im Detail zu verfolgen und noch weniger dem durch die wenigen und oft wenig friedlichen Friedensjahre, die zwischen diesen Kriegen lagen. Einige Schlaglichter sollen lediglich auf die Situation zu Anfang des Kretakrieges besonders im Norden und die gegen Ende dieses Krieges im Süden des venezianischen Dalmatiens geworfen sowie die Entstehung einer »Heimat für Gewaltgemeinschaften« in Form der venezianischen Militärgrenze angesprochen werden, bevor auf einer abstrakteren Ebene die Bedeutung dieser Gewaltgemeinschaften für die Geschichte Südosteuropas thematisiert werden wird. Auf venezianischer Seite war die Situation bei Kriegsausbruch schwierig: Es mangelte an Soldaten, um die Festungen zu bemannen, deren Zustand im Übrigen häufig zu wünschen übrig ließ.25 Reguläre Truppen mussten erst aus Italien herbeigeschafft werden; frisch angeworbene Soldaten aus Dalmatien und aus dem umliegenden osmanischen Kroatien und Albanien wurden sogar nach Kreta verschifft, wo der Mangel noch größer war.26 Wie bereits erwähnt, begegneten die Venezianer in der Anfangsphase des Krieges dem osmanischen Druck mit einer Politik und Taktik der verbrannten Erde. Siedlungen und Befestigungen, die man nicht halten zu können glaubte, wurden geräumt und zerstört, ihre Bewohner auf die Dalmatien vorgelagerten Inseln und nach Istrien evakuiert.27 Angesichts dieser Ausgangssituation mag es verwundern, dass es der Republik seit dem zweiten Kriegsjahr gelang, nicht nur in bald beachtenswertem Umfang osmanische christliche Untertanen für den Kampf gegen ihre bisherigen Herren zu gewinnen, sondern auch, den Osmanen die strategische Initiative an 25 Mayhew, Dalmatia, S. 32. 26 Ebd., S. 30. 27 Marko Jačov, Le guerre veneto-turche del XVII secolo in Dalmazia, Venezia 1991, S. 17 f.; Mayhew, Dalmatia, S. 32.

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der dalmatinisch-bosnischen Front zumindest teilweise abzuringen. Eine wichtige Rolle spielte hierbei sicher die Ernennung des tatkräftigen und entschlossenen Leonardo Foscolo zunächst zum Provveditore estraordinario, dann wenige Wochen später zum Provveditore generale in Dalmazia ed Albania. Zwar gelang den Osmanen im Sommer 1646 als größter Erfolg noch die Eroberung der zum Schutz der dalmatinischen Hauptstadt der Venezianer Zadar und ihres contado wichtigen Festung Novigrad (Novegrado). Aber schon in der Kampagne des Jahres 1647 drehte Foscolo den Spieß herum und eroberte nicht nur Novigrad zurück, sondern brachte noch weitere befestigte Orte in venezianische Hand, darunter im Gebiet von Zadar Zemunik (Zemonico), Islam, Vrana und weitere sowie andere auch im Territorium von Šibenik. Dies war mehr als nur ein Achtungserfolg und dürfte der Attraktivität der venezianischen Sache bei unzufriedenen osmanischen Untertanen äußerst zuträglich gewesen sein, aber der in der älteren Forschung gelegentlich hergestellte direkte chronologische Zusammenhang zwischen venezianischen Eroberungen und dem Zustrom neuer Freiwilliger besteht so keineswegs.28 Denn schon im März 1646 berichtete Foscolo erstmals an den Senat, dass Morlaken (italienisch Morlacchi, »schwarze Vlachen«29) aus dem osmanischen Bosnien angeboten hätten, sich im Falle eines Feldzuges der Venezianer auf bosnisches Gebiet gegen die osmanische Herrschaft aufzulehnen und auf die Seite der Venezianer überzugehen.30 Weiter im Süden boten die Einwohner von Makarska mit dem umliegenden Primorje ebenfalls schon 1646 ihren Übertritt unter die Herrschaft des Dogen an, was die venezianischen Autoritäten gerne akzeptierten. Die Unzufriedenheit der christlichen Unter­ tanen des Osmanischen Reiches im westlichen Balkanraum beschränkte sich keineswegs auf die Morlaken allein. Morlaken, transhumant lebende Wanderhirten, aus Bosnien und der Herzegowina, waren seit dem 15. Jahrhundert als Einwanderer im venezianischen Dalmatien aufgetreten. Doch blieb ihre Zahl bis ins 17. Jahrhundert gering, was einerseits daran lag, dass die Republik die für die Lebensweise der Morlaken geeigneten Gebiete Dalmatiens im 16. Jahrhundert größtenteils an die Osmanen verloren hatte, andererseits aber auch daran, dass das Osmanische Reich die Privilegien der Vlachen im Großen und Ganzen achtete und in ihre Lebensweise

28 So verweist etwa Adanır, Heiduckentum und osmanische Herrschaft, S. 85 f. auf das Dokument Nr. 4 bei Boško Desnica, Istorija kotarskih uskoka [Geschichte der Uskoken des Ravni kotari], Bd. 1, Beograd 1950, S. 12 f. Dieses stammt aber vom April 1647. 29 Aus dem neugriechischen Mavrovlachos. Der an die südslavischen Sprachen angelehnte Terminus Vlache bezeichnet hier eine soziale Gruppe (balkanische Wanderhirten mit besonderem Rechtsstatus), keine ethnische. Zu dieser Hirtenbevölkerung vgl. Adanır, Heiduckentum und osmanische Herrschaft, S. 59 ff. – der noch den Begriff Walache bevorzugte –, sowie grundlegend Zef Mirdita, Vlasi u historiografiji [Die Vlachen in der Geschichtsschreibung], Zagreb 2004. 30 Desnica, Istorija kotarskih uskoka, Bd. 1, Beograd 1950, S. 11 f., Dokumente 1 und 2, beide vom März 1646.

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nicht eingriff.31 Aber schon vor Kriegsausbruch hatten sich die zunehmenden Spannungen auch auf die osmanischen Morlaken ausgewirkt. Einer der aggressivsten osmanischen Grenzkommandeure, Durak-Bey Durakbegović, hatte seine vlachischen Untergebenen immer dichter an die venezianische Grenze heran­gerückt, damit sie diese mit ihren Herden häufig überschreiten mussten, was für zusätzliche Unruhe sorgen sollte. Unruhe war auch dadurch entstanden, dass Morlaken – offenbar zunächst individuell bzw. familienweise – von dem auf sie ausgeübten gesteigerten Druck genug hatten, ihre osmanischen Herren verlassen und auf die venezianische Seite übergegangen waren. Jeden Tag flüchteten Morlaken vor der osmanischen Tyrannei, um sich unter den Schutz des Dogen zu begeben, schrieb der bereits erwähnte Provveditore generale Giovanni Battista Grimani in der Schlussrelation zum Ende seiner Amtszeit im August 1644.32 Man solle sie zur Erhaltung von »Ruhe und Frieden«33 auf den Inseln oder in Istrien ansiedeln, aber nicht an den Grenzen des dalmatinischen Festlandes, um sie aus der Sichtweite ihrer alten Herren zu entfernen, die häufig genug gereizt reagierten, und um sie an Übergriffen auf der osmanischen Seite zu hindern. Verbote des Grenzübertritts hatten dagegen wenig geholfen, bis der Kriegsausbruch sie dann gegenstandslos machte.34 Zu Migrationen gehören push- und pull-Faktoren. Zu fragen ist deshalb (da sich venezianischerseits größere militärische Erfolge erst später einstellen sollten), ob es nicht auch die Fürsorge der Serenissima für ihre Untertanen unter den Bedingungen des Krieges war, die Zuwanderer aus Bosnien anzog. Die Republik hatte in dieser Hinsicht aus den Erfahrungen früherer Kriege gegen die Osmanen gelernt und versuchte viel, um die Verluste unter der Untertanenbevölkerung gering zu halten, indem sie die Frauen, Alten und Kinder, oft auch den wertvollsten Besitz, nämlich das Vieh vieler betroffener Siedlungen auf die dalmatinischen Inseln oder auf die Halbinsel Istrien evakuieren ließ, wo sie vor osmanischem Zugriff – der Versklavung oder Tod der Menschen bedeutet hätte – einigermaßen sicher waren. Selbst bei der Belagerung von Šibenik sollten die Nichtkombattanten auf Wunsch der dortigen Bürger abtransportiert werden. Viele der aus dem Osmanischen Reich zu den Venezianern übergehenden Morlaken machten in diesen Jahren die Rettung ihrer Familien und ihres Viehs zur Voraussetzung für den Seitenwechsel. Venedig konnte dies leisten, indem es seine maritimen Kompetenzen und Ressourcen ausspielte, wenngleich die Bedingungen an den Zielorten der Evakuierten oft schwierig waren – insbe31 Mayhew, Dalmatia, S. 188; Boško Desnica, Stojan Jankovič i uskočka Dalmacija [Stojan Jankovič und das Dalmatien der Uskoken], Belgrad 1991, S. 20. 32 Das Zitat dort: »[…] li Morlacchi, che fuggono quotidianamente dalla tirannide ottomana per ricoverarsi sotto la prottetione della Serenità Vostra«, in: Novak, Commissiones et relationes Venetae, S. 168. 33 Ebd. Die von Grimani verwendete Formel »calma  e quiete« (wörtlich etwa: Stille und Ruhe) bezeichnet in den venezianischen Quellen dieser Epoche häufig das politische Ziel für die Grenzen gegenüber dem Osmanischen Reich. 34 Ebd., S. 167. Vgl. auch Mayhew, Dalmatia, S. 28.

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sondere im durch den Gradiskaner- oder Uskokenkrieg (1615–1617) gegen die österreichischen Habsburger entvölkerten venezianischen Istrien.35 Trotz aller zeitspezifischen oder durch die Kriegsumstände bedingten Probleme waren diese – noch wenig untersuchten – Evakuierungs- und Fluchtbewegungen, eine »Flüchtlingskrise« des 17.  Jahrhunderts, für die Loyalität und Kampfbereitschaft der einheimischen westbalkanischen Bevölkerung von allergrößter Bedeutung. In einer Zeit und in einem Raum, in denen Menschen zur wertvollsten Kriegsbeute gehörten, schädigten die Venezianer damit ihren Kriegsgegner doppelt. Leonardo Foscolos Bereitschaft, auf den Wunsch der zum Übertritt bereiten Morlaken nach Schutz für ihre Familien und Herden einzugehen und dies auch gegenüber dem Senat in Venedig zu vertreten (denn ohne Zustimmung der »Zentrale« hätte er niemanden in den Dienst der Republik übernehmen dürfen), war sicher ein pull-Faktor, der neue Kämpfer in seine kleine Armee führte, als er seinen späteren Kriegsruhm noch nicht erworben hatte. Die Sorgen der über die Grenze gegangenen Morlaken um ihre Familien waren nicht völlig unberechtigt, denn ihre ehemaligen Herren aus Bosnien hatten den Seitenwechsel ihrer bisherigen Untertanen mit dem Schwur quittiert, diese auszurotten.36 Zur Erbitterung der Osmanen trugen nicht nur die mit der Abwanderung verbundenen materiellen und Ehrverluste bei. Für sie war es eine völlig neue Situation, dass die Venezianer zum Gegenangriff übergingen und Gebiete Bosniens eroberten oder verheerten, die seit Menschengedenken oder sogar seit der osmanischen Eroberung nicht mehr von Christen bedroht worden waren. Und der Krieg traf die osmanische Elite der Provinz: Die Vertreibung der Durakbegovići von ihren Gütern in Vrana etwa bedeutete nicht nur einen beachtlichen materiellen Verlust für diese mächtige bosnische Familie; dazu kam, dass das Familienoberhaupt, der Sandschakbey der Lika Halil-Bey­ Durakbegović im März desselben Jahres bei der Eroberung von Zemunik von den Venezianern gefangengenommen worden war (er starb neun Jahre später in Gefangenschaft in Brescia), während sein Sohn Durak-Bey bei dem Versuch, Entsatz herbeizuschaffen, ums Leben kam. Die vielen Morlaken, die auf den Gütern der Durakbegovići in Vrana lebten, mussten nun nicht mehr migrieren, wenn sie in venezianische Dienste übertreten wollten. Trotz der venezianischen Gebietsgewinne war aber Migration der Normalfall. Die große Mehrzahl der Zuwanderer trat nicht individuell, sondern in patriarchalisch strukturierten Verwandtengruppen, Clans sowie ganzen Dorfgemeinschaften über. Sie blieben also in ihre bisherigen Macht- und Loyalitätsbeziehungen größtenteils eingebunden. Eine wichtige Rolle spielten für die zunehmend routinierter vonstattengehende Migrationsbewegung Mittelsmän35 Zur Lage im venezianischen Istrien siehe die Arbeiten von Miroslav Bertoša, vor allem Jedna zemlja, jedan rat. Istra 1615/1618 [Ein Land, ein Krieg. Istrien 1615–1618], Pula 1986, sowie Istra. Doba Venecije (XVI .–XVIII . stoljeće) [Istrien. Die Zeit Venedigs (16.–18. Jahrhundert)], Pula 21995. 36 Dazu Jačov, Le guerre veneto-turche, S. 48 ff.; vgl. auch Mayhew, Dalmatia, S. 192.

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ner und Vermittler zwischen der Morlakengruppe, welche die Seite wechseln wollte, und der venezianischen Regierung. Die Venezianer nannten den Mittelsmann confidente (Vertrauter).37 Er konnte der Anführer der Morlaken­gruppe (harambassá), aber auch ein Priester oder Mönch sein, je nach Religionszugehörigkeit der jeweiligen Morlaken ein katholischer oder orthodoxer.38 Unter den Kirchenmännern sticht auf diesem Feld der katholische prete (Priester) Stefan (oder Stjepan) Sorić heraus, der Ortspriester in dem osmanischer Herrschaft unterstehenden Morlakendorf Gorica bei Biograd gewesen war, bevor er sich 1647 mit den Mitgliedern seiner Gemeinde und insgesamt über tausend Morlaken aus der Gegend von Biograd Leonardo Foscolo unterstellte.39 Schon im Mai dieses Jahres unternahmen Sorićs Morlaken zusammen mit denen des serdars (»Anführer, Befehlshaber« – venezianisch auch serdaro) Petar Smiljanić (der wie wohl fast alle seiner Leute der orthodoxen Kirche angehörte) einen Kriegszug über den südlichen Velebit nach dem befestigten osmanischen Städtchen Gračac, das sie plünderten und niederbrannten.40 Auch diesmal gelang es ihnen, zahlreiche Morlakenfamilien ins contado von Zadar mitzubringen. Mit den kriegsfähigen Männern, die er inzwischen »gesammelt« hatte, fiel Sorić im Dezember 1647 (nachdem er mit seinem Morlaken am Entsatz von­ Šibenik beteiligt gewesen war)41 erneut im osmanischem Sandschak Lika ein, bewog zahlreiche weitere christliche Untertanen dazu, mit ihm davonzuziehen,

37 Das Wort kann im modernen Italienisch auch Spitzel bzw. Polizeispitzel bedeuten. 38 Vgl. Mayhew, Dalmatia, S. 205 f. 39 Eine fast zeitgenössische Beschreibung des Übertritts bietet Girolamo Brusoni, Historia Dell’Ultima Guerra Tra’Veneziani, E Turchi. Nella quale si contengono i successi delle passate Guerre nei Regni di Candia, e Dalmazia, Dall’Anno 1644. fino al 1671., Venezia 1673, S. 127 ff. 40 Das erste Stück des Weges aus der Gegend von Zadar bis nach Modrić legten die Morlaken mit ihren Barken (»colle nostre barche«) zurück. Vgl. die Niederschrift des mündlichen Berichts (»[…] et constituito disse«) des Petar Smiljanić (der selbst wohl nicht schreiben konnte), gedruckt bei Desnica, Istorija kotarskih uskoka, Bd.  1, S.  24 f., Dokument 15 vom 24. August 1647. Der Serdar schildert dort anschaulich den Angriff, die eigenen und osmanischen Verluste, die Zerstörungen, die Beute einschließlich der zwei männlichen und 76 weiblichen Sklaven und auch den Beginn des Ranzionierungsgeschäftes, das allerdings zunächst nur die »done [donne] et putti«, d. h. die Frauen und Mädchen betreffen sollte. Vgl. zum Angriff auf Gračac auch Jačov, Le guerre veneto-­ turche, S. 51 f., sowie Mayhew, Dalmatia, S. 37. 41 Archivio di Stato di Venezia (im Folgenden A. S. V.), Senato Dispacci, Provveditori da Terra  e da Mar (im Folgenden P. T. M.), busta 691, Tomaso Contarini, Zara 21.  Zugno 1647; Brusoni, Historia Dell’Ultima Guerra Tra’Veneziani, E Turchi, S. 135 ff. Zu Sorićs Rolle bei der Belagerung siehe vor allem Jačov, Le guerre veneto-turche, S. 56 f. und S. 61 (dagegen in manchen Details etwas ungenau Mayhew, Dalmatia, S. 37 f.). Demnach trafen Sorić sowie dreihundert seiner Morlaken am 30. August in Šibenik ein und ließen sogleich die osmanischen Belagerer wissen, dass sie erst am 16. desselben Monats Gračac (im Sandschak Lika) angezündet hätten. Daraufhin seien viele Likaner aus dem Lager der Osmanen geflohen, um sich um ihre Familien kümmern zu können.

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und richtete große Verheerungen an.42 Das Moment der Freiwilligkeit wurde nun mehr und mehr durch den Zwang ergänzt. Bereits mehrfach ist in der historischen Literatur ein Befehl Foscolos thematisiert worden, mit dem er veranlasst hatte, die alten Heimatdörfer der Morlaken auf der osmanischen Seite niederzubrennen, um diese dauerhaft von der Rückkehr abzuhalten. Unterstrichen wird dabei gern der Zynismus des venezianischen nobile, dem es nur um Kämpfer für seinen Krieg gegangen sei.43 Gerne übersehen wird dabei aber, dass die Morlaken selbst inzwischen fanatisch genug waren, ihre bisher zurückgebliebenen ehemaligen Nachbarn und Vettern zum Mitkommen zu zwingen und den Widerspenstigen auch dann die Hütten anzuzünden, wenn diese eigentlich zu Hause bleiben wollten.44 Die durchaus beachtlichen Zahlen der ins venezianische Lager übergewechselten Morlaken sollten nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Mehrzahl der als Hirten lebenden Morlaken im Kretakrieg die osmanische Seite ebenso wenig verließ, wie viele der Martolosen und Panduren, deren Verbände sich meist aus »geborenen« Morlaken zusammensetzten.45 Selbst im ersten Moreakrieg hielten es viele Morlaken noch mit den Osmanen. Historiographischen Traditionen, die darin Verrat an der kroatischen bzw. serbischen Sache sahen und sehen, muss die Erklärung dieses Phänomens schwerfallen. Wohl spätestens mit der im Normalfall nicht gerade ungefährlichen Passage auf die venezianische Seite können wir die Morlakengruppen als zunächst 42 A. S. V., Senato Dispacci, P. T. M., busta 373 (rubica) und 465, Leonardo Foscolo, mehrere Schreiben an Doge und Senat zwischen November 1647 und Januar 1648; Brusoni, Historia Dell’Ultima Guerra Tra’Veneziani, E Turchi, S. 139 f.; Jačov, Le guerre veneto-turche, S. 62 ff.; Mayhew, Dalmatia, S. 37. 43 So Adanır, Heiduckentum und osmanische Herrschaft, S. 86, und auch Mayhew, Dalmatia, S. 37, die freilich nicht unterschlägt, dass die Morlaken selbst (Mit-)Täter waren. Tea Perinčić-Mayhew spricht zu Recht davon, dass der Krieg in diesem Jahr zu einem Krieg um Leute geworden sei: »Here [nach dem Raid gegen Gračac, A. H.] the war turned into a real battle for subjects.« 44 Diese Seite des Geschehens vernachlässigt Adanır, Heiduckentum und osmanische Herrschaft, S. 86, der sich an dieser Stelle auf Dokument 9 in Desnica, Istorija kotarskih uskoka, Bd.  1, S.  16 f. vom 15.  Mai 1647 stützt, in dem Foscolo den »Signor governator« Francesco Possedaria (aus »eingesessenem« dalmatinisch-venezianischem Adel) nicht nur zur Zerstörung von Morlakenhäusern, sondern in deutlichster Weise zur Schaffung von verbrannter Erde auf osmanischem Territorium überhaupt auffordert, und zwar gerade auch in weiter entfernten Gegenden (»[…] devastar le campagne e frutti del nemico […] ne ­lochi piu lontani«), in denen es den eigenen Leuten nicht möglich sei, die Ernte selbst einzubringen. Als Ausführende dieser Aktionen tief im Feindesland kamen nur einheimische Kräfte in Betracht. Sicher wollte Foscolo damit nicht nur den Feind materiell schädigen, sondern auch weiteres Öl ins Feuer gießen. Noch interessanter scheint an diesem Dokument allerdings der Hinweis des Proveditor general an Possedaria, dass kaiserliche Untertanen aus dem Uskokenstädtchen Senj unter den auf die (venezianische) Insel Pag (Pago) evakuierten Morlaken für deren Übertritt in den österreichischen Dienst warben (»[…] passar al servitio di cesare«), und dies offenbar nicht ganz erfolglos. »Negative« Anreize allein reichten auf diesem Gewaltmarkt eben nicht aus. 45 Zahlen anzugeben, ist beim derzeitigen Stand der Forschung freilich nicht möglich.

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noch ephemere Gewaltgemeinschaften ansehen. Allerdings waren einige der Morlaken schon auf osmanischer Seite als christliche paramilitärische Verbände (Martolosen) aktiv gewesen und formten damit bereits vor ihrem Übertritt Gewaltgemeinschaften. Alle kriegsfähigen Männer wurden dann unter ihrer neuen Herrschaft in paramilitärischen Verbänden zusammengefasst, die im Sinne der diesem Band zugrundeliegenden Definition als Gewaltgemeinschaften anzusehen sind. Keinen Zweifel kann es daran geben, dass Foscolo wie kein anderer Zeit­ genosse das militärische Potential der Morlaken erkannte und zu nutzen wusste, unabhängig davon, ob sie schon in osmanischen militärischen Diensten gestanden oder bisher ihr Leben als Wanderhirten zwischen Sommer- und Winterweide gefristet hatten. Ihr Einsatz in irregulären, paramilitärischen Einheiten (Tea Perinčić-Mayhew verwendet für sie das englische »guerilla«, aber alle drei Termini sind nicht nur anachronistisch, sondern werden auch der Realität dieses Gewaltraumes im 17. Jahrhundert nur unvollkommen gerecht) war die entscheidende strategische Neuerung des Kretakrieges in Dalmatien – man könnte sie die »Osmanisierung« der venezianischen Kriegführung nennen, die mit den Morlakenverbänden ein Instrument in die Hand bekam, den Osmanen tief im Inneren ihres eigenen Territoriums Schläge zu versetzen und Schaden zuzufügen. Überflüssig zu erwähnen, dass auch die Osmanen weiterhin auf diese Art der Kriegführung setzten. Zur Meisterschaft entwickelte Foscolo seinen Bewegungskrieg (der sich nicht nur auf die mobilen und mit dem Land bestens vertrauten Morlaken, sondern auch auf seine regulären Kavallerieverbände und nicht zuletzt auch auf amphibische Operationen unter Zuhilfenahme von Galeeren und kleinen Segelschiffen stützte) im Schlüsseljahr des dalmatinischen Kriegsschauplatzes 1648. Die Morlaken Sorićs (der nun – wohlgemerkt als Priester – offiziell eine große Morlakengruppe befehligte und den Serdartitel trug) und die anderer Befehlshaber drangen nun, teilweise unterstützt durch reguläre Truppenverbände, immer tiefer in die Lika ein, wo sie die dortigen kleinen Städte eroberten oder plünderten. Deren Moscheen wurden verbrannt, die Vorbeter umgebracht, die muslimischen Bevölkerungsteile versklavt oder vertrieben, die christlichen  – wenn nötig, mit Gewalt – zum Übertritt auf die venezianische Seite bewogen.46 Auch Stefan Sorić und Petar Smiljanić mit ihren Leuten taten sich bei Aktionen dieser Art hervor. Im Juli 1648 allerdings gerieten sie bei einem Angriff auf die Festung Ribnik in der Lika an überlegene Gegner. Smiljanić fiel im Kampf, Sorić aber wurde gefangengenommen und unter brutalen Foltern hingerichtet. Wohl 46 Jačov, Le guerre veneto-turche. Im bereits erwähnten Bericht des Serdars Petar Smiljanić über den Raid gegen Gračac (Desnica, Istorija kotarskih uskoka, Bd.  1, Beograd 1950, S. 24 f., Dokument 15 vom 24. August 1647; vgl. oben Fußnote 40) wird das Niederbrennen der Moschee dieser Stadt explizit angeführt. Gräueltaten (aus heutiger Sicht) venezianischer Einheiten bis hin zur Leichenschändung bei ähnlichen Anlässen auch bei Brusoni, Historia Dell’Ultima Guerra Tra’Veneziani, E Turchi (etwa S. 176 ff., 184).

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kein anderer hatte die Rache der Osmanen so sehr auf sich gezogen wie er.47 Sein Ende kann als Symbol der völligen Entgrenzung der Gewalt in diesem Krieg gesehen werden.48 An dieser Entgrenzung aber hatte der prete und Morlakenführer, ein frühes Beispiel des »Priesters mit dem Maschinengewehr« (Hans­ Gerhard Kippenberg)49 selbst mitgewirkt. Vom Kleinen Krieg (wenn man den Begriff »Guerillakrieg« vermeiden möchte) zum Exterminationskrieg war der Weg auf diesem Höhepunkt venezianischosmanischer, christlich-islamischer Konfrontation nicht weit. Der Krieg an den Grenzen des nördlichen Teils von Dalmatien war durch die Gräueltaten trotz der schillernden Vielfältigkeit der Kombattanten schnell und deutlich dichotomisch geordnet. Freund und Feind, »wir« oder »sie« waren Christen und Muslime, Venezianer und Osmanen. Was »dazwischen« stand oder hätte stehen können – etwa auf osmanischer Seite kämpfende christliche Verbände –, geriet im Zuge der schnellen Eskalation des Krieges unter schweren Druck und Verdacht und das von beiden Seiten. Die zunehmende Polarisierung schränkte die Handlungsmöglichkeiten der Akteure ein. Sehr deutlich spürten dies die Morlaken, wenn sie versuchten, sich gegen die Pläne und Entscheidungen der venezianischen Befehlshaber aufzulehnen und eigene Interessen zu verfolgen. War 47 Zu den – in der Literatur immer wieder aufgegriffenen – letzten Tagen des Stefan Sorić vor allem der Bericht Foscolos an Doge und Senat, A. S. V., Senato Dispacci, P. T. M., busta 466, Nr. 437, Zara, 14. Juli 1648, der mit dem Satz beginnt »Ritornati sono Morlachi ma con poca fortuna«, sowie Foscolos »Nachtrag« mit weiteren Details, ebd., Nr. 441, Zara, 22.  Juli 1648. Aus beiden spricht das Bedauern des Provveditore generale über diesen grausamen Tod sowie den Verlust des »armen Sorićs« (»povero Sorich«) überhaupt. (Gedruckte Fassungen – der zweite Text allerdings stark zusammengekürzt – bei D ­ esnica, Istorija kotarskih uskoka, Bd.  1, S.  41 ff. bzw. S.  44 f. als Dokumente 37 und 40). Vgl. auch die Schilderung der Ereignisse bei Girolamo Brusoni, Historia Dell’Ultima Guerra Tra’Veneziani, E Turchi, S. 185 f. Eine etwas frühere Würdigung der Verdienste des militanten Priesters durch Foscolo zudem als Dokument 88 (Zara, 25. Dezember 1647) bei Marko Jačov, Le missioni cattoliche nei balcani durante la guerra di Candia (1645–1669), Bd. 1, Città del Vaticano 1992, S. 146 ff. Foscolo hatte sich mit diesem Schreiben in Rom erfolgreich für eine kirchliche Pfründe für Sorić verwendet, dieser konnte die ihm versprochene Stelle als Kanoniker an einer Kathedrale Dalmatiens aber nicht mehr antreten (vgl. ebd., S. 148 die entsprechende Entscheidung der Heiligen Kongregation vom 3. März 1648). Zum Tod Sorićs außerdem zuletzt Jačov, Le guerre veneto-turche, S. 87 ff., sowie Mayhew, Dalmatia, S. 40 f. 48 Brusoni, Historia Dell’Ultima Guerra Tra’Veneziani, E Turchi, S. 184 f. schildert in farbigen Details osmanische Gräueltaten gegen Religiosi aus der derselben Phase des Krieges (1648), wie etwa die Pfählung von Franziskanermönchen wegen des Vorwurfs der Spionage und der Aufwiegelung der Bevölkerung. Dieser Vorwurf war übrigens keineswegs aus der Luft gegriffen, wie Brusonis eigene Schilderung zeigt. Die venezianische Kriegspropaganda versäumte es nicht, von solchen Vorfällen Gebrauch zu machen. Zum gewaltsamen Tod der Vorbeter bosnischer Moscheen durch morlakische oder andere venezianische Hand haben sich (bisher) keine vergleichbaren Quellen osmanischer Herkunft gefunden. 49 Bei der Tagung »Religion und Gewaltgemeinschaften« der Forschergruppe »Gewalt­ gemeinschaften«, die im Februar 2013 in Gießen stattfand.

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der Weg in diesen Krieg noch ihre eigene Entscheidung gewesen, verwandelte sie der Druck der Umstände von (Fast-)Bündnispartnern zu Rädern in der nicht großen, aber effektiven Kriegsmaschine des Leonardo Foscolo. Die Morlaken bildeten unter venezianischer Herrschaft über längere Zeit stabile Gewaltgemeinschaften. Stabil oft schon wegen der Kriegsdauer von einem Vierteljahrhundert; aber mehr noch deshalb, weil sie durch die gemeinsame Gewaltanwendung gegen die Osmanen konstituiert und zusammengehalten wurden und weil es dadurch für ihre Mitglieder, nachdem sie einmal die Waffen gegen ihre bisherige Herrschaft (das Osmanische Reich) erhoben hatten, unter den Bedingungen des langanhaltenden Staatenkrieges zwischen Venezianern und Osmanen keinen Weg mehr zurück in ihr voriges Leben gab.50 Gleichzeitig wirkten sich diese den angestammten Lebensgemeinschaften der Morlaken geschuldeten Loyalitäten auch in der Weise aus, dass sie Momente, die sonst offenkundig häufig destabilisierend auf Gewaltgemeinschaften gewirkt haben, gleichsam entschärften. Nach dem Tod eines Anführers  – nicht selten einer charismatischen Persönlichkeit – im Kampf folgte häufig ein naher Verwandter (etwa ein Bruder oder Onkel des bisherigen Anführers) oder – wenn schon alt genug – einer seiner Söhne, so dass ein Führungsvakuum kaum entstehen konnte – zumal im Hintergrund die venezianische Staatsmacht wirkte, die großes Interesse daran hatte, die als integralen Teil der venezianischen Streitmacht angesehenen Morlakenverbände intakt zu halten. Die von ihren Untergebenen ebenso wie von den venezianischen Herren des Landes mit den in osmanischen Martoloseneinheiten üblichen Titeln wie serdar und harambassà (vom osmanisch-türkischen haramibaşı »Räuberhauptmann«; kroatisch und serbisch­ harambaša) geschmückten Führer der morlacchi sollten sich, soweit sie überlebten, zu einem Teil der einheimischen Führungsschicht des postosmanischen Dalmatien entwickeln. Ein gutes Beispiel hierfür bietet die Familie der Smiljanići. Nachdem Petar Smiljanić beim Angriff auf Ribnik in der Lika 1648 gefallen war, folgte ihm in der Führung seiner Morlakengruppe sein Sohn Ilija. Aber auch Ilija Smiljanić fand 1654 sein Ende im Kampf gegen die Osmanen.51 Daraufhin wurde mangels eines anderen geeigneten Erben der Sohn der Schwes50 Zu ›normalen‹ Zeiten konnten Individuen oder kleine Gruppen, die Widerstand geleistet hatten, durchaus Vergebung vom osmanischen Staat erlangen und sich dann wieder in die Ordnung einfügen. Siehe dazu Andreas Helmedach/Markus Koller, Herrschaft, Macht und Gewalt, in: Dies. u. a. (Hg.), Das Osmanische Europa. Methoden und Perspektiven der Frühneuzeitforschung zu Südosteuropa, Leipzig 2014, S. 27–51, hier S. 49. Ein Beispiel, dass dies auch während der Kriege des 17. Jahrhunderts möglich gewesen wäre, hat sich bisher noch nicht gefunden. 51 Die serbische Wikipedia macht ihn umstandslos zum Serben und nennt ihn einen »serbischen morlakisch-uskokischen Harambassa und Serdar sowie Volkshelden Dalmatiens aus dem 17. Jahrhundert« (srpski morlačko-uskočki harambaša i serdar i narodni junak Dalmacije iz 17. veka), https://sr.wikipedia.org/sr-el/%D0%98%D0%BB%D0%B8%D1%9 8%D0%B0_%D0%A1%D0%BC %D0%B8%D1%99%D0%B0%D0%BD %D0%B8%D1%9B (Zugriff am 5.10.2016).

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ter Ilijas zum serdar ernannt, der dafür erst den Namen Smiljanić annehmen musste. Vater und Sohn verdankten ihr großes Ansehen bei den Morlaken wohl vor allem ihrer Tapferkeit und ihrem Charisma. Foscolo förderte den Aufstieg Petars; sein Nachfolger im Amt des Provveditore generale Gerolamo Foscarini soll über den Religionsunterschied hinweg Ilija Smiljanić und dessen Männern mehr vertraut haben als den Söldnertruppen.52 Loyalitätsverpflichtungen gegenüber den religions- und stammesverwandten Führern, verbunden mit eingeführten und akzeptierten Gewohnheitsrechten, sorgten für Stabilität in den Morlakengemeinschaften und scheinen auch Auseinandersetzungen um die Beute verhindert oder wenigstens eingegrenzt zu haben, da von solchen innerhalb der Morlakengemeinschaften – anders als zwischen diesen und anderen im Auftrag der Venezianer kämpfenden Gruppen – in den Quellen so gut wie nie die Rede ist. Beschleunigt wurde die Spirale der Gewalt im Grenzkrieg der Jahre 1646/47 also durch die wohlkalkulierte Instrumentalisierung »innerosmanischer« Konflikte durch die venezianische Führung in Dalmatien, die es zudem zumindest zeitweise verstand, mit bemerkenswertem Geschick auf die Bedürfnisse und Wünsche (insbesondere nach Land), aber auch die Ängste der einheimischen Gewaltgemeinschaften (vor allem die vor osmanischer Rache) einzugehen und die Morlaken damit zu einer wertvollen Waffe der Republik zu formen. Aber es waren die Morlaken – nicht alle, aber viele –, die sich dafür entschieden hatten, am Krieg der Venezianer gegen die Osmanen teilzunehmen – wobei das Charisma des Provveditors Leonardo Foscolo, des »Meisters des Gebirgsund Grenzkrieges« (wie Heinrich Kretschmayr ihn genannt hat)53 sicher eine Rolle gespielt, ihnen aber die Entscheidung nicht abgenommen hat. Sie waren es vor allem, die im Nordteil der dalmatinisch-bosnischen Grenze für den Kleinen Krieg zuständig waren, der dort meistens der eigentliche gewesen ist, und sie waren es auch, die zusammen mit ihren bosnisch-osmanischen Gegnern diesem Kleinen Krieg den besonderen, ethnokonfessionell polarisierten und sehr gewaltförmigen Charakter gaben, der den Kretakrieg in Dalmatien wie ein Vorgewitter zur gewalttätigen »modernen« Nationswerdung der Balkanvölker im 19. und 20. Jahrhundert erscheinen lässt. Doch ist ein Vorgewitter noch nicht das eigentliche Unwetter und auch auf dem bosnisch-dalmatinischen Kriegsschauplatz gab es die Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen. Die Morlaken gerieten schon in den ersten Jahren des Krieges in eine Situation extremer politischer Polarisierung, die zu einer starken Erhöhung des Gewaltniveaus führte, bis hin zu mitunter fast völliger Entgrenzung des Gewalthandels. Für die »einheimischen« Hilfstruppen der Venezianer im südlichen Teil Dalmatiens rund um die Bucht von Kotor gilt dies nicht im selben Maße. Schon die Stämme (popoli) des Südens, die venezianischen Untertanenstatus hatten wie etwa die Pastrovići, waren durch die venezianische 52 Jačov, Le guerre veneto-turche, S. 101; vgl. dazu Mayhew, Dalmatia, S. 42 und S. 206. 53 Kretschmayr, Geschichte von Venedig, S. 327.

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Verwaltung schwer zu kontrollieren und regierten sich in Friedenszeiten mehr oder weniger selbst, wenngleich der Krieg auch sie näher an den venezianischen Staat heranführte, der noch am ehesten den Schutz der nichtkampffähigen Teile der Bevölkerung gewährleisten und außerdem Lebensmittel (vor allem Getreide) liefern konnte. Noch sehr viel unabhängiger agierten die Haiducken (die venezianischen Quellen nennen sie Aiduchi, Haiduchi oder Caiduchi, vom kroatischen und serbischen haiduk, Pl. haiduci – Räuber)54 genannten Gewaltgemeinschaften, deren Mitglieder wohl überwiegend orthodoxe Christen waren und die fast ausschließlich aus dem Inneren des Osmanischen Reiches gestammt haben dürften. Zahlreiche Haiduckenverbände schlossen während der venezianisch-osmanischen Kriege Verträge mit den Venezianern und unterstellten sich formell deren Befehl, kämpften aber durchaus auf eigene Rechnung. Sie konnten dies, weil sie über Rückzugsgebiete verfügten, die staatlicher Kontrolle – sei es venezianische, osmanische oder ragusanische – praktisch nicht unterworfen waren. Das im Südosten des heutigen bosnisch-herzegowinischen Staates, entlang der heutigen bosnisch-serbischen und bosnisch-montenegrinischen Grenzen, im südlichen Serbien, in Montenegro und Nordalbanien bis zu 350 km tiefe, unwegsame, wasser- und damit siedlungsarme, verkarstete Dinarische Gebirge mit seinen Zweitausendern, das wohl staatsfernste Gebiet des Osmanischen Europas, bot dazu unübertroffene Voraussetzungen. Wie sicher die Haiducken sich mitunter zwischen den Fronten bewegen konnten – oder: wie unklar die Frontverläufe zuweilen gewesen sind – lässt sich an einer Episode aus der Spätphase des Kretakrieges zeigen.55 Eine Handels­ karawane ragusanischer Kaufleute war auf ihrem Weg vom Hafen Ragusa (Dubrovnik) ins Innere Bosniens im Frühjahr 1666 auf osmanischem Gebiet von Osmanen und Haiducken überfallen worden. Ein Vorfall also, der die Vertreter der Serenissima nicht allzu sehr hätte interessieren müssen, wären nicht die beteiligten Haiducken solche aus venezianischem Dienst gewesen. Ein weiterer überraschender Umstand ist, dass ein nennenswerter Teil  der Waren aus dem Besitz venezianischer Kaufleute stammte. Überwiegend waren es wertvolle Textilien, die für den Pascha von Bosnien bestimmt gewesen waren; kein Wunder, dass der Pascha gegen die mit den Haiducken im Bunde befindlichen osmanischen Unterführer aus Herceg Novi (Castel Nuovo; im heutigen Montenegro) ziemlich aufgebracht war, die die treibende Kraft bei dem Überfall gewesen waren. Die Osmanen aus Herceg Novi hatten sich bei dieser Gelegenheit auch 54 Zur »Wortgeschichte«, die im Balkanraum letztlich zum ungarischen hajtók (Plural von hajtó) zurückführt, nach wie vor Adanır, Heiduckentum und osmanische Herrschaft, S. 58 f. und S. 74. Adanır weist zu Recht darauf hin, dass es das ungarische Wort gewesen ist, dass im Balkanraum Karriere gemacht hat – und damit wohl auch die von dort kommende, hinter dem Wort stehende soziale Erscheinung –, und nicht das aus dem tatarischen Raum stammende osmanisch-türkische haydamak (Viehtreiber, Marodeur, Freibeuter) mit ganz ähnlicher Bedeutung. 55 A. S. V., Senato Dispacci, P. T. M., busta 665, Schreiben des Provveditore estraordinario Zorzi [= Giorgio] Corner an Doge und Senat, Cattaro, 4. und 25. August 1666.

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gleich der (christlichen) Panduren entledigen wollen, die bei dem Überfall hatten mitwirken müssen. Osmanen und Haiducken gemeinsam versuchten direkt im Anschluss an die Raubtat, die Panduren als Mitwisser auszuschalten, doch dies misslang. Sei es, weil sie das Komplott geahnt hatten, sei es, weil osmanische Soldaten und Haiducken schon zu sehr mit der Beute beschäftigt waren – vielen der Panduren (ihren Namen nach waren sie orthodoxe Südslawen) gelang die Flucht auf die venezianische Seite, wo sie nach einem Verhör offenbar ohne lange Verzögerung in ihrer angestammten Profession (Panduren, venezianisch Panduri waren wie gesagt eine Art Landpolizei) und in einer Einheit mit derselben Bezeichnung weiterdienen durften. Die venezianischen Offiziellen hielten ihre übereinstimmenden Aussagen, dass sie keineswegs treibende Kräfte bei der Raubaktion gewesen seien, offensichtlich für glaubwürdig. – In den an sich nüchternen Verhörprotokollen schimmert die Anspannung der Panduren allerdings auch nach dreieinhalb Jahrhunderten mitunter noch durch.56 Diese Männer hatten nochmal Glück gehabt. Um ihre zukünftige Loyalität scheinen sich die Venezianer keine besonderen Sorgen gemacht zu haben. Wir sehen hier einen Gewaltmarkt, auf dem die Anbieter nicht gerade zimperlich mit potentieller Konkurrenz umgingen. Jedoch reicht die Kategorie des Marktes zur Beschreibung dieser Situation nicht aus, denn es muss konstatiert werden, dass der Hass der bosnischen und herzegowinischen Osmanen gegen ehemalige Martolosen und Panduren, die auf die venezianische Seite übergegangen waren, unversöhnlich war und sich auf die ganze Waffengattung übertrug.57 Die am Überfall auf die ragusanischen Kaufleute beteiligten Haiducken aber mussten sich lediglich einige Ermahnungen der Vertreter der Serenissima anhören.58 Andere Sanktionsmöglichkeiten sah die Republik wohl nicht. Die Haiducken wurden gebraucht: andere Haiducken verkauften beispielsweise – ebenfalls in der Spätphase des Krieges, 1668 – gefangene (christliche!) osmanische

56 A. S. V., Senato Dispacci, P. T. M., busta 665, Schreiben des Provveditore estraordinario Zorzi Corner an Doge und Senat, Cattaro, 25. August 1666 mit Beilagen Adi primo Maggio 1666 und Adi 14 Decembre 1666. 57 Dieser Hass scheint sich von Generation zu Generation übertragen zu haben, hatte aber selbstverständlich mit der Funktion der Panduren als Grenz- und Polizeitruppe zu tun. Noch im Sommer 1758 beschwerte sich der venezianische Provveditore beim Pascha in Travnik darüber, dass mitten im Frieden eine über hundertköpfige bewaffnete osmanische Gruppe danach getrachtet habe, eine Pandureneinheit der Serenissima zu beseitigen (»levare di vita li nostri panduri«). Dabei dürfte mehr als nur der Wunsch nach Verdeckung einer Straftat eine Rolle gespielt haben. Die Quelle Hrvatski Državni Arhiv ­Zadar [Kroatisches Staatsarchiv Zadar] (im Folgenden HR DAZD), Bestand 2 – Mletački­ Dragoman [Venezianischer Dragoman – bzw. Übersetzer –] (im Folgenden 2-MD), ­Kutija [Schachtel] (im Folgenden Kut.) 9, Filza [Reihe, Faszikel] LXXIII, Pozicija Broj [Laufende Nummer] (im Folgenden Poz. Br.) 7/1, Juni 1758. 58 A. S. V., Senato Dispacci, P. T. M., busta 665, Schreiben des Provveditore estraordinario Giacomo Loredan an Doge und Senat, Cattaro, 7. November 1666.

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Untertanen, angeblich über 100, an eine venezianische Galeere, der es an Ruderern fehlte.59 Ungebundenheit wie Aktionsmacht der Haiducken zwischen den beiden Imperien zeigte sich nicht zuletzt nach dem Friedensschluss von 1669. Haiduckenverbände traten immer wieder mit offenen Raubzügen hervor und sorgten so für erneute osmanisch-venezianische Spannungen. Berichte aus den Jahren 1678–1680 zeigen, welch großen Umfang die Beute – vor allem Vieh – haben konnte. Der (jedenfalls nach Ansicht der Osmanen) venezianische C ­ aiducho Hazimavich und sein Kumpan Savabaskia etwa sollen dem desdaro (osmanisch dizdar) der Festung Dobrota und einigen anderen in der Nähe der Festung lebenden Osmanen nahezu tausend Stück animali minuti (Schafe und Ziegen) geraubt haben. Von Haiducken der Boccha di Cattaro (Bucht von Kotor, heute in Montenegro) hieß es in diesem Zusammenhang, sie hätten aus drei­ Cadiluochi (Kadiamtsbezirken) der Herzegovina nicht weniger als 300 Pferde und 1.000 Stück animali minuti weggeführt.60 Ein Jahrzehnt nach dem Friedensschluss konnte von wirklichem Frieden noch immer keine Rede sein, weshalb in Semunik bei Zadar auch eine Konferenz von osmanischen und venezianischen Vertretern stattfinden sollte; die erwähnten Berichte waren wohl in diesem Zusammenhang gesammelt worden. Solche Mengen an Vieh verweisen auf kommerzielle Netzwerke, derer sich die Haiducken bedienen konnten. Im ersten Moreakrieg fanden sich dann viele Haiducken wieder an der Seite der Venezianer ein; nach dem Beginn des zweiten traten schon im Herbst und Winter 1714 große Gruppen von Haiducken aus der südlichen Herzegowina und aus Montenegro in den Sold der Republik. Die Raubzüge der Haiduckengemeinschaften sind mehr als nur »Kriegsökonomie«. Sie sind ein Ausdruck dessen, dass Krieg und Gewalt in diesen Jahrzehnten alle Lebensbereiche der betroffenen Landschaften des westlichen Balkanraumes überformt hatten. Im Kampf gegen die, wie es nun allgemein hieß, barbari, die doch, wie der zeitgenössische Historiker Girolamo Brusoni gemeint hat, die »gefürchtetste Macht der Welt«61 gewesen sind, war den Venezianern jedes Mittel recht. Aber nicht dies ist die entscheidende Neuerung, denn bei der Wahl ihrer Mittel war die Serenissima nie zimperlich gewesen. Neu dagegen war die hohe und durch Propaganda massenwirksame ideologische Aufladung 59 Stipan Zlatović, Kronaka O. Pavla Silobadovića o četovanju u Primorju (1662–86) [Die Chronik des Pavel Silobadović über die Haiduckenzüge im Primorje], in: Starine 21 (1889), S. 86–115, hier S. 104. 60 HR ZAZD 2-MD, Kut. 7, Filza LXVII, Poz. Br. 54/12–13. Über die Konferenz in­ Zemonico ebd., Poz. Br. 54/1. Diese Beispiele werden ausführlicher behandelt in Andreas­ Helmedach, Beute im Alltag des Grenzraums. Dalmatien, Bosnien und die Herzegowina im 17. und 18. Jahrhundert, in: Horst Carl/Hans-Jürgen Bömelburg (Hg.), Lohn der Gewalt. Beutepraktiken von der Antike bis zur Neuzeit, Paderborn 2011, S. 201–222, hier S. 220 f. 61 Brusoni, Historia Dell’Ultima Guerra Tra’Veneziani, E Turchi, S. 51: »contro la più temuta Potenza del Mondo.«

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des Konfliktes mit den Osmanen und die so verursachte beidseitige Brutalisierung, die auf dem dalmatinischen Kriegsschauplatz an moderne Exterminationskriege gemahnt. Gewaltgemeinschaften aus Morlacchi, Panduri und Haiduchi standen dabei in der ersten Reihe. Einen entscheidenden Wendepunkt in der Geschichte der venezianischen Gewaltgemeinschaften des Westbalkans markiert deshalb der Friedensschluss von Passarowitz (Požarevac im heutigen Serbien) 1718, nach dem die Serenissima nie wieder an einem Krieg mit dem Osmanischen Reich teilgenommen hat. In der Lika entstand nun der Triplex Confinium aus habsburgischer, osmanischer und venezianischer Militärgrenze. Das Näherrücken der habsburgischen Macht und ihrer oft unruhigen Grenzer (graničari) sollte sich für den venezianischen Staat schnell als eine neue Herausforderung erweisen, auf die er nie wirklich eine Antwort fand. Die venezianische Grenzregion war militarisiert, aber hier lebte nun ein Militär im nur durch grenzüberschreitende Räuber gelegentlich gestörten tiefen Frieden. Die habsburgischen Grenzer dagegen hatten nicht nur nach Passarowitz noch zwei Kriege gegen das Osmanische Reich auszufechten, sondern gehörten auch in den vielen Kriegen der sich nun konsolidierenden österreichischen Großmacht auf anderen Kriegsschauplätzen zum Kernbestand der Armee. Für die Gewaltgemeinschaften der Veteranen der venezianisch-­ osmanischen Auseinandersetzungen, die sich über Jahrzehnte in einer alle Lebensbereiche umfassenden Kriegsökonomie eingerichtet hatten, bedeutete dies Destabilisierung und Auflösung, wobei wiederum von einer Übergangszeit von einigen Jahren auszugehen ist, bis der Frieden wirklich umgesetzt war. Letztlich hörten die »kriegerischen« Gewaltgemeinschaften der Morlaken zu bestehen auf, weil ihr Weiterbestehen weder von der venezianischen Obrigkeit noch von den sich nun zu einer Art von neuem einheimischen Landadel wandelnden, Titel sammelnden Anführern mehr gewünscht wurde.62 Dabei blieben aber die bisherigen Familiengemeinschaften und die dazugehörigen Loyalitätsverpflichtungen bestehen, und gewöhnlich erfolgte eine Ansiedlung der Morlaken im bisherigen Gruppenzusammenhang, so dass die meisten Individuen Halt und 62 Stellvertretend für diesen Wandel einige Quellenbeispiele die Familien Smiljanić­ (Smiglianich) und Mitrović (Mitrovich) betreffend bei Boško Desnica, Istorija kotarskih uskoka [Geschichte der Uskoken des Ravni kotari], Bd. 2, Beograd 1951, Dokument 368, S. 398 (Februar 1709: Marco, Sohn des Lazzaro Smiglianich, folgt diesem als Serdar; da er noch nicht volljährig ist, wird ein Vertreter ernannt); siehe auch etwa die Dokumente 377 (S. 405 f., August 1726: das contado di Zara mit den alten und neuen Eroberungen ist in einen oberen, mittleren und unteren Verwaltungsbezirk geteilt worden; »Alli superiore e medio sono stati destinati due sardari, titoli che presentemente sono conferiti a due raggazi delle famiglie Mitrovich e Smiglianich: Collazione con la quale ha voluto la pubblica generosità segnalare ne figli ed eredi le benemerenze veramente distinte de genitori e degli avi.«), Dokument 379 (S. 407 f., August 1729: zur Übertragung des Namens Mitrovich an einen Schwestersohn), Dokumente 381–383 (S. 408–412, November 1731: als Nachfolger des verstorbenen Elia Mitrovich erhält die Serdarswürde Chiriaco Dedich Mitrovich »discendente da famiglia benemerita, e munito principalmente dei requisiti necessarij di valore e di fedeltà«.).

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einen neuen Platz fanden.63 Wer sich in die Friedensordnung nicht einfügen wollte oder konnte, wurde als Aufständischer oder als Räuber und Haiduck von der Obrigkeit verfolgt. Stellvertretend hierfür kann das Schicksal des morla­ kischen Popen Petar Jagodić angeführt werden, der, 1704 als Rädelsführer eines Aufruhrs verurteilt, vier Jahrzehnte lang in Haft gesessen hatte, bis er 1746 als über achtzig Jahre alter Greis freigelassen worden ist.64 Räuber und Haiduck – schon am Sprachgebrauch zeigt sich, dass sich auch die Haiduckengruppen des dalmatischen Südens auf eine neue Situation einlassen mussten: Vom beargwöhnten, aber dennoch gefragten Bündnispartner wurden sie zu Gesetzlosen, wenn sie ihren Lebensstil nicht änderten. Erst jetzt verlor der Haiduckenbegriff seinen Bedeutungsanteil »(para-)militärischer Verband« und bürgerte sich Regionen und Sprachen übergreifend der Name der Haiducken in ganz Südosteuropa schnell als die Bezeichnung für eine Räuberbande ein; wohlgemerkt aber meist mit der mythologischen Überhöhung durch die Vorstellungen von Sozialbanditentum und Widerstand gegen das »osmanische Joch«. Den als Haiducken firmierenden Räubergruppen, die nun in erster Linie als Beutegemeinschaften zu (politischen) Friedenszeiten anzusehen sind, mag sich zwar auch so mancher zu den Morlaken zählender venezianischer Untertan angeschlossen haben. Dennoch wiesen die Banden des 18. Jahrhunderts eine deutlich andere soziale Zusammensetzung und Dynamik sowie wesentlich flachere Hierarchien als die paramilitärischen Verbände der Kriegsjahrzehnte auf. Mochten auf lokaler Ebene Gruppen und ganze Gemeinden Vorteile aus den Raubzügen ziehen, waren sie gleichwohl für Osmanen als auch Venezianer eine Last. Dies führte in der langen Friedensperiode zwischen diesen beiden Staaten nach 1718 zumindest offiziell sogar zum gemeinsamen Vorgehen gegen räuberische Aktivitäten, zumal nun immer öfter – und häufig genug zu Recht – eine dritte Partei, nämlich die Bewohner der österreichischen Militärgrenze, verantwortlich gemacht werden konnte. De facto war aber der Verfolgungsdruck auf der jeweils anderen Seite der Grenze gering, solange diese Gruppen ihre Raubzüge auf ein staatliches Territorium beschränkten. Details der Zerfallsprozesse der eher ephemeren Haiducken- und Räubergemeinschaften sind mit den vorhandenen Quellen nur im Einzelfall zu fassen. Die ad hoc gebildete Gruppe scheint sich aufgelöst zu haben, wenn sie ihre Ziele erreicht hatte oder absehbarer Verfolgungsdruck dazu zwang. Wirklich zerschlagen wurden Gewaltgemeinschaften dieser Form dagegen nur selten.65 Morlakenverbände, Panduren und Räuberbanden verbindet indes eine gemeinsame Eigenschaft: ihr virtuoser Umgang mit den schnelles Auftauchen und schnelles Verschwinden begünstigenden geographischen Charakteristika des 63 Vgl. Mayhew, Dalmatia, S. 191 ff. und S. 209 ff. 64 Desnica, Istorija kotarskih uskoka, Bd.  2, Dokumente 356 (S.  386 f., Dezember 1704), 389–392 (S.  416–420, März 1746 bis April 1749  – letzteres der Sterbemonat des Petar­ Jagodić). 65 Dazu Helmedach, Beute im Alltag des Grenzraums, S. 213 ff.

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westlichen Balkanraumes, ihre ganz eigene Aktionsmacht im Raum, die ohne die transhumante Lebensform der Vlachen, ohne die Spannweite ihrer politische Grenzen häufig überschreitenden Wanderungsbewegungen wohl kaum zu verstehen ist. Erfahrungen mit Grenzen, Grenzüberschreitungen und nicht zuletzt auch Grenzverschiebungen waren tief ins Leben dieser Menschen eingeschrieben. Sommer- und Winterweide der Vlachen blieben eben am selben Fleck – bis von ihnen nur schwer zu beeinflussende Umstände sie zwangen, sich neue Weiden zu suchen. Der fließende Charakter der Grenzen, die Gewaltoffenheit und Staatsferne der so geschaffenen Handlungsräume gehören zu der eigentümlichen Form transimperialer Biographien, die jene Mitglieder der paramilitärischen venezianischen Gewaltgemeinschaften der Frühen Neuzeit auszeichnet. Solche Biographien schreiben zu wollen – womöglich als »transimperiale Kollektivbiografie« – stößt angesichts der geringen Zahl von Selbstzeugnissen und Egodokumenten allerdings auf wohl unüberwindliche Schwierigkeiten. Während es den Venezianern auf Kreta im 17. Jahrhundert nicht mehr gelang, in nennenswertem Umfang die Unterstützung einheimischer Kräfte zu gewinnen, fanden sie unter dem Druck der Umstände in Dalmatien zu einer Strategie, die jener entsprach, die von den großen landbasierten europäischen Imperien des europäischen Ostens  – denen der Habsburger, Osmanen und­ Romanows – mit Erfolg angewendet wurde: Sie ließen sich auf die komplexe Situation ethnischer und religiöser Bindungen vor Ort ein und gingen Kompromisse mit einheimischen Eliten ein.66 Ob diesem Ergebnis eine Wahl zugrunde lag oder anders gesagt, ob langfristige politisch-militärische Planung oder gekonnte Ausnutzung glücklicher Zufälle beim Zustandekommen der venezianischen Strategie eine größere Rolle spielten, kann derzeit nicht abschließend beantwortet werden. Keine Antwort allerdings wird ohne das kriegerische Geschick des Leonardo Foscolo auskommen können und dessen unbedingten Willen, den Osmanen Schaden zuzufügen whatever it takes. Dank des durch die Mitwirkung der »Einheimischen« erreichten Zugewinns an militärischer Macht gelang es jedenfalls den Venezianern, Dalmatien nicht nur zu halten, sondern nennenswerte Geländegewinne auf Kosten des osmanischen Bosniens zu machen, die zu einem erheblichen Teil  auch nach dem für Venedig an sich ungünstigen Friedensschluss von 1669 in venezianischer Hand verblieben sind. Und selbst dort, wo die Venezianer als Ergebnis der äußerst geschickten Politik der bosnisch-osmanischen Eliten nach dem Waffenstillstand Gebiete wieder aufgeben mussten, die ihnen auf der Basis des zunächst vereinbarten uti possidetis eigentlich zugestanden hätten, konnten die Osmanen Bosniens nicht wirklich Nutzen aus diesen ziehen, denn zwischen ihnen und den dort lebenden Morlaken (soweit diese nicht ohnehin versuchten, sich in den Stato da mar abzusetzen) war ein gedeihliches Auskommen nicht mehr möglich. Zu einer 66 Vgl. dazu Virginia H. Aksan, Locating the Ottomans Among Early Modern Empires, in: Dies., Ottomans and Europeans. Contacts and Conflicts, Istanbul 2004, S. 81–110 (zuerst in: Journal of Early Modern History 3 (1999), S. 21–39), hier S. 84 f.

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Befriedung oder gar Konsolidierung dieser Gebiete kam es nicht, und im ersten Moreakrieg (der von den 29 Kapetanaten des Serhad nur zwölf noch in osmanischer Hand übriglassen sollte)67 waren sie die ersten, die unter tatkräftiger Hilfe der Morlaken wieder in venezianischen Besitz übergingen.

4. Handlungen und ihre Bedeutung Es lohnt sich, die Handlungen der Gewaltgemeinschaften der Morlaken und Haiducken über Dalmatien und Bosnien hinaus in einen größeren Bedeutungszusammenhang zu stellen. In der venezianischen Geschichte war die hohe ideologische und das heißt in der Frühen Neuzeit vor allem religiöse Aufladung von Konflikten mit dem Osmanischen Reich keineswegs selbstverständlich. Sie hat sich seit dem 16. Jahrhundert nach und nach entwickelt und befand sich in der zweiten Hälfte des 17. und den frühen Jahren des 18. Jahrhunderts auf dem Höhepunkt. (Danach verschwand sie recht schnell.)68 Von Konzepten wie dem der convivenza, des Zusammenlebens mit den Osmanen, und dem des tempo­ reggiare coi Turchi, des »Zeit Gewinnens«, Zeit, in der ihr Handel mit dem Orient so hätte fortgesetzt werden sollen, wie die Venezianer es gewohnt waren, hatten sie sich unter dem Druck der seit den Erfolgen Sultan Selims I. entstandenen osmanischen Weltmacht verabschieden müssen.69 Venedig steckte nun zwischen den Großreichen der Habsburger und Osmanen fest. Dabei war es ökonomisch weiterhin auf das Osmanische Reich angewiesen. Nicht nur die politische Lage hatte sich geändert, sondern auch der Stellenwert der Religion. Die Vene­zianer der Zeit um 1600 waren »katholischer« als die der Jahre um 1500. Im Zeitalter der katholischen Reform wurde die Religion mehr gelebt. Und auch auf der osmanischen Seite scheinen sich zunehmende Verhärtungstendenzen gezeigt zu haben, wenngleich hier weitere Forschungen nötig sind. Spätestens mit dem Ausgreifen der Osmanen zu den heiligen Städten Mekka und Medina unter Selim I. nahm auch im Osmanischen Reich die Bedeutung der Religion zu. Gewisse Parallelen zum »Zeitalter der Konfessionalisierung« in West- und Mitteleuropa gab es im Osmanischen Reich sehr wohl; in dieser Zeit schwächte sich die Legitimationsbasis des Reiches bei den (orthodoxen) Christen, bei denen es bis ins 17. Jahrhundert hinein durchaus auch Zustimmung und Unterstützung erfahren hatte. Der Prozess der Delegitimierung der osmanischen Herrschaft bei den orthodoxen Christen des Reiches verlief schleichend, hat sich offenbar aber im 17. Jahrhundert beschleunigt.70 Der Islamisierungsdruck 67 Kreševljaković, Kapetanije u Bosni i Hercegovini, S. 18. 68 Ausführlich zu dieser Problematik demnächst Andreas Helmedach, Venedig und die Osmanen. Europäisch-christlich-islamische Beziehungen in der Frühen Neuzeit und die Rolle der Gewalt, in einem Themenheft zum Osmanischen Europa der Zeitschrift: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht. 69 Dazu Kretschmayr, Geschichte von Venedig, S. 21 ff. 70 Zu dieser Problematik Helmedach/Koller, Herrschaft, Macht und Gewalt, S. 48 ff.

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dürfte vielerorts zugenommen haben; christliche Bewaffnete wie die Verbände südslawischer Hilfstruppen, die Martolosen oder Panduren wurden zunehmend weniger akzeptiert; nur mit Glück schafften es, wie gezeigt, einige dieser Gewaltgemeinschaften, noch rechtzeitig auf die »christliche« Seite, auf die der Venezianer, überzugehen. Zwar sollte trotz dieser Entwicklungen nicht von »Religionskriegen« gesprochen werden, denn weiterhin wurden die Kriege gegen den jeweils anderen von den imperialen Zentralen in erster Linie politisch und damit mit »Vernunftgründen« begründet. Für die Venezianer war es das offizielle Ziel des Kreta­ krieges, der »predominante forza ottomana«,71 die der Republik ihren rechtmäßigen Besitz entreißen wolle, zu widerstehen. Die Osmanen wurden seit der Renaissance von venezianischen Intellektuellen wohl häufiger antikisierend als barbari (Barbaren) denn als infedeli (Ungläubige) bezeichnet. Trotz dreier »Heiliger Ligen« gegen die Osmanen (1538, 1571, 1684) unter päpstlicher Schirmherrschaft blieb der Einfluss des »Antemurale«-Mythos auf das venezianische Denken gering: nüchtern sah man eher im Arsenal oder in der friaulischen Festung Palmanova eine Vormauer gegen die Osmanen als sich selbst in der Rolle der Vormauer der Christenheit.72 Aber eine allmähliche Verschärfung der Rhetorik bis zum Beginn des 18.  Jahrhunderts ist dennoch unverkennbar, etwa wenn der Staatshistoriker (pubblico storiografo) Pietro Garzoni die Osmanen 1705 als »il giurato Nimico del Cristianesimo«, den geschworenen Feind der Christenheit bezeichnete.73 Zwei Ursachen können wohl für die große Konflikttiefe und Gewaltförmigkeit auf beiden Seiten des säkularen Konfliktes zwischen Osmanen und Venezianern benannt werden. Zum einen ist hier aus der Perspektive der imperialen Zentralen die bei beiden Konfliktparteien zu beobachtende große Sorge vor einem Gesichtsverlust anzuführen, die mit dem bei beiden (wenn auch in unter71 So die Formulierung in dem berühmten, vielfach kopierten und zitierten Erlass des Senates vom 15. Februar 1645, mit dem einem Jeden gegen die Zahlung von 100.000 Dukaten die Mitgliedschaft im venezianischen Patriziat in Aussicht gestellt worden ist. Für eine Kopie des Erlasses siehe z. B. Biblioteca Marciana, Ms. It. VII . 626 (8047) – Aggregazioni di famiglie alla nobilità veneta per la guerra di Candia. 72 Als Beispiel kann hier das berühmte und für die Selbstdarstellung der Republik programmatische Werk von Francesco Sansovino, Venetia Citta Nobilissima et Singolare. Descritta in XIIII Libri, Venedig 1581 dienen, in dem der Begriff »Antemurale« nur ein einziges Mal, nämlich bei der Schilderung des Arsenals der Stadt, auftaucht (vgl. dort fol. 135v–136r). In der Fortschreibung dieses Werkes von Giustiniano Martinioni, Venedig 1663, kommt dann zum Arsenal als Antemurale (dort S. 366) lediglich noch die Festung Palmanova (S. 625) hinzu. Allgemein zum »Türkenbild« der Venezianer und noch immer unentbehrlich Paolo Preto, Venezia e i Turchi, Rom 2013 [Florenz 1975], hier bes. S. 140 ff. (»I vizi di una nazione ›barbara‹«) sowie S. 171 ff. (»La storiografia veneta sulla Turchia (sec. XVI–XVII)«). 73 Pietro Garzoni, Istoria della Repubblica di Venezia in Tempo della Sacra Lega contra Maometto IV., e tre suoi Successori, Gran Sultani de’ Turchi, 2 Bde., Venedig 1705, hier Bd. 1, unpaginierte Widmung an den Dogen und den Consiglio di Dieci.

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schiedlichem Ausmaß) bereits prekären Status als Großmacht zu tun hatte und die beide Seiten zu außerordentlich harter und entschlossener Kriegführung bis hin zur Überausbeutung der jeweiligen Ressourcen anspornte. Dazu kam bei der bosnischen regionalen Elite der Osmanen noch die Sorge vor dem Status- und Einnahmenverlust durch die Abwanderung der morlakischen Untertanen. Zum anderen ist die in weiten Teilen Europas und ebenso des Osmanischen Reiches im 17. Jahrhundert zu beobachtende zunehmende religiös-ideologische Verhärtung zu nennen, die gemeinhin als »Konfessionalisierung« bezeichnet wird. Im osmanischen Europa hat diese Tendenz offenbar dazu geführt, dass größere zuvor privilegierte Christengruppen ihre bisherigen Privilegien verloren oder den Verlust zumindest befürchteten. Darunter befanden sich bewaffnete Verbände wie die Martolosen und im Alltag bewaffnete zivile Gruppen wie die im Balkanraum traditionell zahlreichen Wanderhirten oder Vlachen, die mit Abwanderung reagieren konnten und dies auch taten. Die venezianische Führungsschicht nutzte die höhere religiöse »Empfänglichkeit« breiter Bevölkerungsschichten unter dem Einfluss der katholischen Reform als ein Mittel der Mobilisierung und ideologischen Stabilisierung in einem überlangen, entbehrungsreichen Krieg. So wurde etwa an hohen religiösen Feiertagen in Zadar die religiöse Seite des Kampfes gegen die Osmanen dadurch thematisiert, dass gefangene, versklavte Muslime festlich katholisch getauft worden sind. Leonardo Foscolo dürfte nicht nur derjenige gewesen sein, der diese Zeremonie (wieder?) ins Leben gerufen hat, natürlich unter Rückgriff auf ältere italienische und venezianische Traditionen – er hat auch mit seiner Gemahlin und seinem Offizierskorps durch die Übernahme offizieller Patenschaften eine tragende Rolle bei diesen Staatsschauspielen eingenommen.74 Spätere Provveditori sind ihm darin gefolgt. Für die besondere Dynamik des Krieges an der bosnisch-dalmatinischen Grenze bildeten Großmachtbewusstsein und religiöse Orientierungen aber nur den Hintergrund. Sie verdankte sich vor allem der Beteiligung örtlicher, im Lande verwurzelter Gewaltgemeinschaften. Zwar war Religion stets Teil  des kulturellen Kontextes solcher Gemeinschaften – in der Frühen Neuzeit wenig verwunderlich. Deren innere Ordnung aber beruhte weniger auf Religion als auf personalen Bezügen. Dazu gehörte die ideelle und ethische Festigung und Überhöhung von Gemeinschaft und Gewalt durch eine Binnenmoral, durch ein kollektives Tugendideal, dass sich häufig auf religiöse Deutungen und Normen bezog. Diese personalen Bezüge scheinen es auch gewesen zu sein, die dazu führten, dass die paramilitärischen Morlakengemeinschaften des 17. Jahrhunderts in Hinsicht auf das religiöse Bekenntnis ihrer Mitglieder einigermaßen homogen gewesen sind, denn man schloss sich nicht leicht einem Anführer an, der ein anderes Bekenntnis vertrat. In solchen Gemeinschaften konnten damit Konstruktionen von Religiosität eine wichtige Rolle spielen, aber nicht als Ursache von Gewalt, sondern als deren Begleiterscheinung, denn Religion gab Deutungs- und Wahrnehmungsmuster von Gewalt vor. Doch gehören Emo74 Jačov, Le guerre veneto-turche.

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tionen wie Vertrauen, Ehre, Hass oder Angst, die bei der Gewaltausübung eine Rolle spielten, auch zu den Dimensionen religiösen Erlebens. Nicht nur deshalb gehörte und gehört Gewalt immer wieder zum sozialen und kulturellen Kontext religiöser Praxis. Es kann keinem Zweifel unterliegen, dass die schnelle Eskalation der Gewalt schon kurz nach Kriegsbeginn 1645 auf dem dalmatinischen Kriegsschauplatz der Dynamik und Logik gewalttätigen Gruppenhandelns im (meist) Kleinen Krieg folgte und die »dunkle Seite der Religion«, das heißt, die grundsätzlichen Eignung von Religion »als Begründung, Legitimation, Vorwand für ausschließendes, abgrenzendes, unterdrückendes und sogar vernichtendes Verhalten von Menschen« – so der Theologe Jürgen Paul75 – dabei von besonderer Bedeutung war. Der Unterschied der Religion hat das Töten leichter gemacht.76 Erinnert sei aber an Amartya Sens Hinweis, dass es in jedem sozialen Kontext eine Reihe von potentiell nutzbaren und wichtigen Identitäten wie Religion, Ethnizität, Sprache oder politische Einstellung gebe, die jeder Einzelne nach ihrer Annehmbarkeit und Bedeutung bewerten könne, bevor er über die Bedeutung der verschiedenen Zugehörigkeiten für sich selbst entscheide.77 Der venezianische Staat hat die osmanischen Untertanen nicht manipuliert oder verführt, sondern war die eine Seite in den kommunikativen Aushandlungsprozessen zwischen der dort lebenden Bevölkerung und den imperialen Institutionen, aus denen die neue Grenze und das neue Dalmatien erwachsen sind. Damit zeigt sich der Kretakrieg als ein häufig unterschätzter Wendepunkt in der Geschichte des Mittelmeer- und des südosteuropäischen Raumes. Für Venedig war er der letzte Auftritt als selbständige, allein handlungsfähige Großmacht im Mittelmeerraum. Zwar konnte die Republik den Verlust Kretas nicht verhindern, schuf aber im Zusammenwirken mit einheimischen Kräften durch die Geländegewinne in Dalmatien die erste postosmanische Provinz Süd­ost­ europas und damit ein Vermächtnis, das bis heute nachwirkt, denn die Chancen in der Moderne sind pfadabhängig, wie sich in der Entwicklung der verschiedenen Völker Südosteuropas nur zu deutlich zeigt. Das von den Venezianern neu gewonnene und in den zwei osmanisch-venezianischen Kriegen, die zwischen 1684 und 1718 noch folgen sollten, weiter vergrößerte Territorium entlang der östlichen Adriaküste bezeichnet den ersten Schritt der Verdrängung des Osmanischen Reiches aus Südosteuropa und nahm somit eine Entwicklung vorweg, die in anderen Teilen des Balkans zum Teil erst ein Vierteljahrtausend später erfolgt ist. Aus zwei Gründen ist die Verschiebung der osmanisch-venezianischen 75 Jürgen Paul, Einleitung, in: Ildikó Bellér-Hann/Lisette Gebhardt (Hg.), Religion und Gewalt. Japan, der Nahe Osten und Südasien, Halle/Saale 2003, S. VII–XII, hier S. XI . 76 Etwas zu leicht macht es sich wohl Srećko M. Džaja, Konfessionalität und Nationalität Bosniens und der Herzegowina. Voremanzipatorische Phase 1463–1804, München 1984, S. 46, wenn er behauptet, »die Walachen [gemeint sind hier die in der vorliegenden Arbeit ›Vlachen‹ genannten Wanderhirten, A. H.] und Morlaken […] töteten, plünderten und betrieben Sklavenhandel, ohne dabei zwischen ›ideologischem‹ Feind und Freund viel zu unterscheiden.« Das taten sie auch – umständehalber und gelegentlich. 77 Sen, Die Identitätsfalle, S. 43 f.

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Grenze im Adriaraum für die Geschichte des ganzen osmanischen Europas sehr wichtig. Zum einen wirkte sie bei der einheimischen Bevölkerung, aber auch darüber hinaus, als Präzedenzfall dafür, dass die Verdrängung der osmanischen Herrschaft möglich war. Zum anderen aber zeigte sie schon all die Züge, die für die blutige Verdrängung des Osmanischen Reiches aus Südosteuropa auch späterhin nur zu oft kennzeichnend waren, wie etwa die starke Mobilisierung der einheimischen Bevölkerung entlang religiöser und ethnischer Grenzen, die damit verbundene außerordentlich hohe Konflikttiefe und Gewaltförmigkeit der Auseinandersetzungen und der große Umfang der mit den Konflikten verbundenen Migrationsbewegungen. Mit anderen Worten: Die »ethnischen­ Säuberungen« späterer Jahrhunderte im Balkanraum finden sich hier bis in die Techniken ihrer Durchführung hinein präfiguriert. An spätere Zeiten erinnert auch die Rolle von in der Region verwurzelten Akteuren. Die historischen Fernwirkungen der Konfrontation entlang ethnokonfessioneller Grenzlinien sollten nicht unterschätzt werden; eingeordnet in die mündlichen Volksüberlieferungen wurden die Erinnerungen an sie jederzeit abrufbarer Teil  der Erinnerungskultur der westbalkanischen Gesellschaften. Der »Werkzeugkasten« lag bereit.

5. Zusammenfassung Die historische Südosteuropaforschung hat sich in den vergangenen beiden Jahrzehnten verstärkt der Frage nach lokalen bzw. regionalen Gewaltkonfigurationen im Kontext der Staats- und Nationsbildungsprozesse des 19.  und 20. Jahrhunderts zugewandt. Im Vordergrund standen und stehen Fragen nach spezifischen Gewaltformationen, die durch eine zunehmende und meist religiös konnotierte »Ethno-Nationalisierung« bestimmt worden sein sollen. Jedoch hat der dominante Fokus auf den Zeitraum der »Moderne« verhindert, dass die damit verbundenen Gewaltmechanismen mit größerer historischer »Tiefenschärfe« beleuchtet werden. Viele charakteristische Merkmale jener Gewalt­ mechanismen sind, wie gezeigt, bereits in den »vormodernen« langen osmanisch-venezianischen Kriegen zwischen 1645 und 1718 deutlich erkennbar, und zwar deutlicher noch als in den habsburgisch-osmanischen nach der zweiten »Türkenbelagerung« Wiens. In diesen Kämpfen gelang es den Venezianern auf dem dalmatinischen Kriegsschauplatz immer wieder, in größerem Umfang autochthone Akteure zu mobilisieren, und zwar nicht nur eigene, sondern in beachtlichem Umfang auch bisher osmanische Untertanen, die in mehreren Wellen auf die venezianische Seite übergingen und damit für die Republik gleichsam doppelt in die Waagschale fielen. Die Beteiligung örtlicher, im Lande verwurzelter Gewaltgemeinschaften auf der Seite beider Mächte führte auf dem bosnisch-dalmatinischen Kriegsschauplatz zu einer schnellen Eskalation der Gewalt, die der Dynamik und Logik gewalttätigen Gruppenhandelns im (meist) Kleinen Krieg folgte und die für die ganzen sechs Dekaden dieses Aus-

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schnittes der großen Auseinandersetzung zwischen »Okzident« und »Orient« im westlichen Balkanraum prägend bleiben sollte. Unter nennenswerter Beteiligung einheimischer, lokaler Akteure entstand hier seit 1646 zum ersten Mal in der neuzeitlichen Geschichte des Balkanraumes ein größeres »postosmanisches« Territorium, das den ersten Schritt der Verdrängung des Osmanischen Reiches aus Südosteuropa bezeichnet und somit eine Entwicklung vorwegnahm, die in anderen Teilen des Balkans zum Teil erst ein Vierteljahrtausend später erfolgt ist. Die Bedeutung der Verschiebung der osmanisch-venezianischen Grenze im Adriaraum für die Geschichte des ganzen Osmanischen Europas sollte nicht unterschätzt werden, denn das neue, »postosmanische« Dalmatien wirkte bei der Bevölkerung des Balkanraumes, aber auch darüber hinaus, als Präzedenzfall dafür, dass die Verdrängung der osmanischen Herrschaft möglich war. Unter den charakteristischen Zügen, die für die blutige Verdrängung des Osmanischen Reiches aus Südosteuropa auch späterhin nur allzu oft kennzeichnend waren, sind die starke Mobilisierung der einheimischen Bevölkerung entlang religiöser und ethnischer Grenzen zu nennen wie auch die damit verbundene außerordentlich hohe Konflikttiefe und Gewaltförmigkeit der Auseinandersetzungen, die Elitenbildung aus den Konflikten heraus sowie der große Umfang und die weitgehende Irreversibilität der konfliktbedingten Migrationsbewegungen.

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Gewalt lernen? Generation, Geheimnis, Wissen bei Gewaltgemeinschaften in der Geschichte Afrikas (ca. 1860 bis 1960) 1. Gewalt lernen? Wer »Gewalt lernen« bei Google eingibt, erhält mehrere Millionen Einträge. Davon lauten die ersten etwa »Gewaltfrei lernen«, »Gewaltfreiheit lernen«, »Gewaltprävention lernen«, »gewaltfrei umgehen lernen«, »Lernen ohne Gewalt«, »Lernen ohne Angst«. Das Stichwort »Gewalt lernen« dagegen taucht nicht auf, es erscheint als Widerspruch in sich, offenbar sinnlos, denn nur das Gegenteil wird sinnhaft verknüpft, eben Gewaltfreiheit und Lernen. Dahinter steht, vereinfacht, die Vorstellung, dass Gewalt etwas Schlechtes, Lernen dagegen etwas Gutes sei. Gewalt erscheint als etwas Rohes, etwas allgemein Menschliches oder Urmenschliches, Vorzivilisiertes, das eben nicht gelernt wird, sondern das man einfach kann, das quasi dem Kindheitszustand des Menschen oder der in ihm verborgenen Anlage entspricht, die zu überwinden oder zu beherrschen ist. Lernen muss man demnach nur, diese rohe, atavistische Potenz, ob bloß Fähigkeit oder auch schon Bedürfnis, zu bekämpfen, zu umgehen, darauf verzichten zu können. Gewaltfreiheit lernen – das ist in diesem Sinn ein Prozess der Zivilisation, Ausstieg aus selbstverschuldeter Gewalttäterschaft. Denn Lernen gilt als Zivilisationsprozess schlechthin, als ein Prozess, den ganze Kulturen, aber auch einzelne Menschen durchmachen müssen, und sei es nur im Verlauf des Erwachsenenwerdens. Lernen wird dabei – unterschwellig normativ betrachtet – verstanden als ein Prozess auch der moralischen Verbesserung des Menschen. Auch wer Handbücher der Gewaltforschung aufschlägt, wird vergeblich nach einem Artikel suchen, der »Gewalt lernen« zum Thema macht.1 Zwar widmet sich beispielsweise schon der erste Artikel eines neueren interdisziplinären Handbuchs zur Gewalt der »Erziehung« und besonders dem Zusammenhang zwischen Erziehung und Gewalt bzw. Gewalttätigkeit von Heranwachsenden. Aber dabei geht es nicht um intentionale Erziehung zur Gewalt. Vielmehr wird die nicht intendierte, funktionale Erziehung zu Gewalttätigkeit in den Blick genommen und nach Möglichkeiten der Vermeidung gefragt. Dabei wird eine einfache Gleichung zum Ausgangspunkt genommen: »Erziehung mit Gewalt – Erziehung zur Gewalt«, und in der Folge differenziert und relativiert. »Die Jugend 1 Christian Gudehus/Michaela Christ (Hg.), Gewalt. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart 2013; Wilhelm Heitmeyer/John Hagan (Hg.), Internationales Handbuch der Gewaltforschung, Wiesbaden 2002.

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reproduzierte zu allen Zeiten die Bedingungen ihrer Aufzucht und wendete sie, wenn nötig, gegen ihre Educatoren.«2 Gleichwohl wird eingeräumt, dass es keine determinierte Beziehung zwischen gewalttätiger Erziehung und gewalttätigem Verhalten von Heranwachsenden gibt. Dennoch heißt es in dem Artikel, bezogen auf die Gewalt: »In der Aneignung eines gesellschaftlichen Umfeldes wird die Gewalt des Lebens zur Gewalt im individuellen Handlungsbereich.«3 Ausgangspunkt und Ziel zugleich ist allerdings eine Norm; vorausgesetzt wird, dass Gewalt zu ächten und zu vermeiden ist: »Gewalt und Erziehung – für die Erziehung in einer westlichen Industriegesellschaft ist der zivilisierte Umgang mit unvermeidlichen Schädigungen, die Beherrschung emotionaler Erregungen und das Finden zivilisierter Reaktionen, die im sozialen Zusammenleben entstehen, die zentrale Aufgabe eines sozialen Aushandlungsprozesses.«4

Dieses Zitat birgt nicht nur problematische Gegenüberstellungen: mit der­ zweifachen Verwendung des Begriffs vom »Zivilisierten«, das westlichen Gesellschaften als offenbar spezifisch zugesprochen und damit implizit anderen Gesellschaften abgesprochen wird, vor allem mit der Parallelisierung von Zivilisierung und »Beherrschung emotionaler Reaktionen«. Unabhängig davon, ob man dem dahinterstehenden, unter anderem auf Norbert Elias5 zurück­ gehenden Verständnis von Modernisierung als Zivilisierung grundsätzlich folgen will, wird hier gar nicht in Erwägung gezogen, ob Gewalt, oder bestimmte Formen der Ausübung von Gewalt, vielleicht auch der Beherrschung, Steuerung oder Kanalisierung emotionaler Reaktionen dienen könnte. Physische Gewalt wird vielmehr per se als verwerflich angesehen und ist demnach grundsätzlich zu vermeiden. Die angesichts der Persistenz von Gewalt zu unterschiedlichen Zeiten und in unterschiedlichen Gesellschaften eigentlich naheliegende Frage, ob dies überhaupt gelingen kann, wird nicht weiter diskutiert. Und ebenso wenig wird erörtert, dass die Frage der Legitimität von Gewalt historisch und kulturell höchst unterschiedlich beantwortet worden ist; das als westlich und zivilisiert identifizierte Modell der Ächtung nichtstaatlicher Gewalt wird gewissermaßen als generalisierbare Norm vorausgesetzt. Gewaltgemeinschaften, also Gruppen, die ihren Zusammenhalt, ihre Identität oder ihren Lebensunterhalt aus der Anwendung physischer Gewalt beziehen,6 haben die Frage der Legitimität von Gewalt aber für sich selbst schon anders be2 Rainer Dollase, Erziehung, in: Christian Gudehus/Michaela Christ (Hg.), Gewalt. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart 2013, S. 17–24, hier S. 17. 3 Ebd. 4 Ebd., S. 24. 5 Norbert Elias, Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen [1939], Frankfurt a. M. 1976. 6 Siehe Winfried Speitkamp, Einführung, in: Ders. (Hg.), Gewaltgemeinschaften. Von der Spätantike bis ins 20. Jahrhundert, Göttingen 2013, S. 7–13; Ders., Gewaltgemeinschaften, in: Christian Gudehus/Michaela Christ (Hg.), Gewalt. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart 2013, S. 184–190.

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antwortet, unabhängig davon, ob sie der »Vormoderne« oder der »Moderne«, dem »Süden«, »Norden«, »Osten« oder »Westen« zuzurechnen sind. Gewalt ist für sie gewissermaßen Teil der Tätigkeitsbeschreibung und per se legitimiert, ob durch Gründe oder Ziele, ob durch politische, religiöse oder ökonomische Bedingungen und Motive – und dies unabhängig davon, ob die jeweilige Trägergesellschaft ähnliche Legitimationsvorstellungen hat. Charakteristischerweise gibt es eine Spannung zwischen der Gewaltlegitimation in der Gesellschaft generell und in der in ihr agierenden Gewaltgemeinschaft speziell. Unter dieser Voraussetzung bedeutet der Eintritt in die Gewaltgemeinschaft die Übernahme einer grundsätzlich anderen oder zumindest spezifischen Einstellung zur Gewaltausübung; der Eintritt in die Gewaltgemeinschaft ist eine Grenzüberschreitung, so wie »Gewalt als Grenzüberschreitung« gedeutet werden kann.7 Gewaltgemeinschaften müssen eine spezielle Legitimation von Gewalt vermitteln und zugleich in die Ausübung von Gewalt einführen. Denn man kann nicht voraussetzen, dass ein Neumitglied quasi beim Eintritt in eine Gewaltgemeinschaft schon weiß, wann und wie es Gewalt nun  – nach den Regeln der neuen Gemeinschaft  – ausüben darf und muss. Auch und gerade Gewaltgemeinschaften müssen Gewalt regulieren und kanalisieren, Gewaltgemeinschaften sind insofern Instanzen der Gewaltsozialisation und des Gewaltlernens. Sie verwalten das Wissen um die Gewalt und das Wissen der Gewalt, und sie geben es weiter an andere Menschen, Gruppen, Generationen. Je breiter die Kluft zwischen dem Denken über Gewaltlegitimität in der Gesellschaft einerseits und dem Handeln in der Gewaltgemeinschaft andererseits ist, desto wichtiger ist es, das Wissen der Gewalt als Geheimnis zu bewahren. In Gewaltgemeinschaften lernen die Mitglieder Gewalt in fast systematischer Form, durch gemeinsame Übung, durch Einstimmen auf die Aktion, durch gemeinsame Taten, durch Austausch, Erfahrung, Erzählung und Erinnerung. Sie lernen möglicherweise auch den Einsatz von Grausamkeit, den Gewaltexzess, die aktive Nutzung der Verletzungsoffenheit des menschlichen Gegenübers.8 Und dies nicht (nur) deshalb, weil Gemeinschaft enthemmend wirkt und dabei hilft, Moralschranken fallen zu lassen. Sondern auch, weil neue Regeln und Bedeutungen von Gewalt gelernt werden, weil die Gemeinschaft eine neue Moral setzt, die durchaus aus der Herkunftsgesellschaft bekannte Werte wie Mut, Ehre, Kameradschaft und Treue umfassen kann, diese aber neu ordnet und hierarchisiert. Die Gemeinschaft gibt vor, was und wie gelernt wird. Gewalt­ gemeinschaften sind Lerngemeinschaften. Die afrikanischen Beispiele, die hier vorgestellt werden, kann man unter dem Stichwort »Gewalt lernen« in den Blick nehmen. Dies berührt Fragen, die in der jüngeren Forschung zur Kolonialgeschichte in den Fokus gerückt sind. Im Zuge 7 Vgl. Dirk Schumann, Gewalt als Grenzüberschreitung. Überlegungen zur Sozialgeschichte der Gewalt im 19. und 20. Jahrhundert, in: Archiv für Sozialgeschichte 37 (1997), S. 366–386. 8 Vgl. Trutz von Trotha/Jakob Rösel (Hg.), On Cruelty – Sur la cruauté – Über Grausamkeit, Köln 2011.

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des neuen wissenschaftlichen Interesses an Kolonialkriegen und kolonialen Gewaltinstanzen hat man den Zusammenhang von Raum und Gewalt9 sowie das Lernen vom Feind untersucht, beispielsweise das, was manche als »transkulturelle Kriegführung«, als »Anpassung […] an die afrikanische Gewaltkultur« oder gar als »Afrikanisierung der Gewalt« bezeichnet haben.10 Damit ist allerdings eine mehrfache Problematik verbunden, zum Beispiel eine Essentialisierung von kollektiven Verhaltensweisen, indem eine vermeintlich »europäische« mit einer vermeintlich »afrikanischen« Kampfweise kontrastiert wird. Im vorliegenden Beitrag dagegen geht es primär um das Lernen in der eigenen Gesellschaft, dies freilich auch angesichts neuer Herausforderungen, in Konflikten und in einem transkulturellen Beziehungsgefüge. Die beiden afrikanischen Fallstudien betreffen zwei Modelle des Lernens von Gewalt: das Generationen-Modell und das Geheimbund-Modell. Das erste hat Sascha Reif an ostafrikanischen Beispielen am Vorabend der Kolonialisierung untersucht.11 Das zweite hat Stephanie Zehnle am Fall der sogenannten Leopardenmänner und Leopardenmannmorde im kolonialen West- und Zentralafrika in den Blick genommen.12 Jeweils geht es um Wissen: Wissen um Gewaltpraktiken, um Gewaltsituationen und um Gewaltfunktionen, aber auch Wissen um Gefährdung und Sanktion. Gewalt, so das Resümee, war nicht einfach da, als Veranlagung und Möglichkeit. Und Gewalt wurde auch nicht einfach instrumentell eingesetzt, bloß um Beute, Macht oder Ansehen zu erringen. Gewalt wurde vielmehr erlernt – und konnte sich dadurch, in einem beständigen Prozess des Lernens, auch wandeln. Daraus erklärt sich letztlich die Logik der Gewalt.

9 Vgl. Susanne Kuß, Deutsches Militär auf kolonialen Kriegsschauplätzen. Eskalation von Gewalt zu Beginn des 20. Jahrhunderts, Berlin 2010. 10 So Tanja Bührer, Die Kaiserliche Schutztruppe für Deutsch-Ostafrika. Koloniale Sicherheitspolitik und transkulturelle Kriegführung 1885 bis 1918, München 2011, S. 275, 483. 11 Sascha Reif, Generationalität und Gewalt. Kriegergruppen im Ostafrika des 19. Jahrhunderts, Göttingen 2015; Ders., Fehde in Ostafrika? Kollektive Gewaltpraxis im 19. Jahrhundert, in: Mathis Prange/Christine Reinle (Hg.), Fehdehandeln und Fehdegruppen im spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Europa, Göttingen 2014, S. 195–218; Ders., Theater der Aggressivität. Jugendliche Krieger in ostafrikanischen Gesellschaften des 19.  Jahrhunderts, in: Annette Kämmerer u. a. (Hg.), Gewalt und Altruismus. Interdisziplinäre Annäherungen an ein grundlegendes Thema des Humanen, Heidelberg 2015, S. 79–94. 12 Stephanie Zehnle, »Der Leopard spielt mit den Herrschern.« ›Leopardenmorde‹ im kolonialen Afrika (ca. 1870–1950), in: Jessica Ullrich/Antonia Ulrich (Hg.), Tiere und Tod. Tierstudien 5, Berlin 2014, S. 89–102; Dies., Leoparden, Leopardenmänner. Grenzüberschreitungen in Raum und Spezies, in: Winfried Speitkamp/Stephanie Zehnle (Hg.), Afrikanische Tierräume. Historische Verortungen, Köln 2014, S. 91–111; Dies., Of Leopards and Lesser Animals. Trials and Tribulations of the »Human-Leopard Murders« in Colonial Africa, in: Susan Nance (Hg.), The Historical Animal, Syracuse 2015, S. 221–239. Eine Monographie zu dem Thema ist in Vorbereitung.

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2. Gewalt und Generation 2.1. Grundlagen

Dass Gewalt und Adoleszenz einerseits, Gewalt und Erziehung andererseits in Beziehung stehen, ist oft beobachtet oder behauptet und zu erklären versucht worden. Was den Zusammenhang von Gewalt und Adoleszenz angeht, so standen hier in der Forschung vor allem männliche Heranwachsende und deren vermeintlich intrinsische Motivation der Gewalttätigkeit im Blick, oft mit der einschränkenden, aber aussagekräftigen Formulierung, dass es sich nicht um eine anthropologische Konstante handele, vielmehr um eine Reaktion im Zusammenhang von Erlittenem, zum Beispiel von Demütigungen und mangelnder Anerkennung. Gewalt und Erziehung ist dagegen in doppelter Weise zum Thema gemacht worden: zum einen im Bemühen, durch Erziehung Gewaltprävention zu betreiben, zum anderen in der Wahrnehmung oder Behauptung, dass Erziehungsmethoden ihrerseits Gewalt produzieren könnten. Das ist freilich auch wieder relativiert worden: Friedlichkeitsorientierte, empathische Erziehung führt demnach nicht zwingend zu friedliebenden Kindern. Und gewalttätige Erziehung führt nicht zwingend, quasi determiniert, zu gewalttätigen Heranwachsenden.13 Wichtiger ist: Gewaltbereitschaft Heranwachsender, ob individuell oder in Gemeinschaften, wird in dieser Perspektive als Mangel wahrgenommen und auf Defiziterfahrungen zurückgeführt. Würde das Defizit erkannt und behoben, so muss man schlussfolgern, wäre auch die Gewalt­ option ausgeschaltet. Aus ethnologischer Sicht sind andere Perspektiven eröffnet worden. Hier ist eher auf Parallelen in den Etappen und Konstellationen des Heranwachsens in einem Generationszusammenhang hingewiesen worden. Das Verhalten Heranwachsender als »junge Krieger« oder »junge Wilde«, so Georg Elwert,14 ist demnach nicht nur auf traditional verfasste Gesellschaften beschränkt, sondern Charakteristik einer Lebensphase des Erprobens, Abgrenzens und provozierenden Selbstbehauptens, insofern als unvermeidlich und konsequent einzustufen, wenn damit auch aus Sicht der Trägergesellschaft unkalkulierbare Risiken verbunden sind. Freilich sind die selbstgewählten Generationenverbände in modernen urbanen Gesellschaften doch zu unterscheiden von den qua Geburt, Geschlecht, Ort und eventuell Stand oder Beruf bestimmten Pflichtvereinigungen Heranwachsender in traditionalen Gesellschaften. Hier hat man zwar schon öfter gefragt, welche Funktion Gewalt für die Gemeinschaft hatte, nämlich im Blick auf die Begründung von Autorität und Charisma, die Stiftung von Solida13 Zu den Forschungspositionen vgl. Dollase, Erziehung. 14 Georg Elwert, Kein Platz für junge Wilde, in: Die Zeit, Nr. 14, 26.3.1998; auch unter dem Titel: An Afrika ein Beispiel nehmen?, in: Körber-Stiftung (Hg.), Reflexion und Initiative. Zur Arbeit der Körber-Stiftung 97/98, Hamburg 1997, S. 72–77.

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rität und Loyalität, die Verpflichtung auf gemeinsame Haltungen und Werte.15 Aber man hat weniger gefragt, welche Funktion die Gemeinschaft für die Gewalt hatte. Das ist hier die Fragestellung. Die Forschung hat wiederholt versucht, vorkoloniale Generationensysteme und Altersklassenmodelle beispielsweise für Ostafrika zu rekonstruieren, ihre Praktiken darzustellen, ihre Bedeutung zu erfassen.16 In vielen ostafrikanischen Gemeinschaften des vorkolonialen 19. Jahrhunderts spielten Altersklassen eine zentrale Rolle bei der Sozialisation Heranwachsender. Für männliche Jugendliche bedeutete das vor allem die Einführung in Riten und Praktiken der Gewalt. Die Initiationsriten hatten in dieser Beziehung zwei zentrale Aufgaben: die Vermittlung von Wissen und die Einführung in Gewaltpraktiken. Erster Schritt dazu war vielfach die Absonderung der Kinder, die auf die Initiation vorbereitet werden sollten. Sie wurden von ihren Familien gelöst und außerhalb oder am Rande der Siedlung in eigenen Unterkünften zusammengefasst; Mädchen und Jungen wurden dabei voneinander getrennt. Das war keine bloß ostafrikanische Praxis, sondern ist auch für westafrikanische Gesellschaften nachweisbar. Die Lager wurden von Älteren, Angehörigen früherer Beschneidungsjahrgänge oder sogar der vorangehenden Generationseinheit, geleitet und begleitet, in unterschiedlichen Funktionen, von der Ausbildung in der Waffennutzung bis hin zur Einführung in religiöse Rituale.17 Die Lager wurden zugleich gegen Außenstehende geschützt: Was vermittelt wurde und wie es vermittelt wurde, gehörte zum Geheimnis der Gemeinschaft. In den Lagern wurden nicht nur die gemeinsame Geschichte, Traditionen, Regeln und Rechte, Gesänge, Funktionen der Ämter in der Gemeinschaft, Verhältnis zu Nachbarethnien, Techniken des Ackerbaus vermittelt, sondern auch die Techniken, Praktiken und Erfahrungen der Gewalt. Die Gewalterfahrung bestand zum einen in der Initiation selbst: Bei der Beschneidung, also der gezielten und angekündigten Verletzung des Körpers, musste der angehende Krieger Angst und Schmerz ertragen. Dies geschah – im Unterschied zur Vorbereitung darauf – öffentlich, und nachzuweisen war hier nicht nur individueller Mut, sondern auch die Identifizierung mit der Alters­ gruppe, die Vorführung von Gemeinschaftssolidarität im Ertragen von Schmerz. Das diente der Einübung künftiger Verhaltensweisen im Kampf ebenso wie es die Akzeptanz der Geschlechterrolle signalisierte. Auch Mädchen sollten die Beschneidung ohne erkennbare Angst- und Schmerzreaktionen ertragen, dies aber 15 Vgl. Burkhard Schnepel, Max Weber’s Theory of Charisma and its Applicability in Anthropological Research, in: Journal of the Anthropological Society of Oxford 18 (1987), S. 26–48. 16 Vgl. zum Folgenden neben Reif, Generationalität, besonders Bernardo Bernardi, Age Class Systems. Social Institutions and Polities Based on Age, Cambridge 1985; Esei­ Kurimoto/Simon Simonse (Hg.), Conflict, Age and Power in North East Africa. Age Systems in Transition, Oxford 1998; Paul T. W. Baxter/Uri Almagor (Hg.), Age, Generation and Time. Some Features of East African Age Organisations, London 1978. 17 Vgl. Reif, Generationalität, S. 67.

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in Bezug auf ihre spätere Rolle als Frau, zum Beispiel als Gebärende. Damit war offenbar keine Vorbereitung auf eigene Gewaltanwendung verbunden. Die eher mythischen Erzählungen über die Amazonen von Dahomey in Westafrika berichten von Ritualen und Mutproben der Männlichkeit und vom Verzicht auf weibliche Rollenmuster (Keuschheit, Gebärverzicht), belegen also einen symbolischen Wechsel des Geschlechts.18 Für Ostafrika sind keine vergleich­baren Erzählungen über Amazonengruppen oder kriegerische Frauenverbände überliefert. Die Vorbereitungsaktivitäten der Jungen umschlossen höchst gewalthafte Rituale, etwa das Ertragen von Schlägen oder Peitschenhieben. Wer daran scheiterte, ob aus Furcht oder Erschöpfung, konnte, so wurde es jedenfalls für manche Gruppen berichtet, getötet und begraben werden, ohne dass seine Familie darüber zunächst auch nur Nachricht erhielt. In den Vorbereitungs­lagern gehörte der Einzelne nicht mehr zur Herkunftsfamilie, Gruppensolidarität rangierte an erster Stelle.19 Ebenso wichtig wie zu lernen, Gewalt zu ertragen, war die Einübung in eigene Gewalttätigkeit. Dazu zählten Körperbeherrschung und Waffengebrauch. Hinzu kamen taktische Fähigkeiten, die Nutzung von Beweglichkeit und Überraschung, von Aggressivität und Drohung als Instrumente. Zum Korpus des weitergegebenen Wissens gehörten auch Informationen über den Raub von Vieh, über die landschaftlichen Gegebenheiten des Raums, über nutzbare Pfade und Geheimwege für Raids und über aktuelle militärische Bündnisse mit benachbarten Siedlungen und Clans. Denn bei Jungen in Ostafrika war die Kasernierung verbunden mit kriegerischen Mutproben, namentlich mit der Herausforderung benachbarter Ethnien, auch durch Raub und Mord.20 Gewalt wurde dabei allein aus Gründen der Übung und Bestätigung ausgeübt. Der materielle Wert der Beute war hier nicht primär Ziel der Aktion, vielmehr war die Beute an erster Stelle Nachweis des Lernerfolges und Indikator für Mut und Ehre. Wichtig war das konkrete Verhalten im Vorfeld und bei der Durchführung der Aktion. Das Erlegen von Tieren oder das Töten von Menschen wurden qualitativ nicht unterschieden; beide stellten die Gewaltfähigkeit unter Beweis. Zur Vorbereitung versetzten sich die (angehenden) Krieger in eine tranceartige Stimmung und bestätigten sich beispielsweise durch Gesänge, dass Gewalt und die Tötung von anderen, willkürlich ausgewählten Opfern kein Regelverstoß seien, sondern zwingende Elemente der Aktion. Im nächsten Schritt, nach der Initiation, konnten bei derartigen Praktiken besonders Genitaltrophäen erworben werden, die dazu dienten, Kraft, Mannhaftigkeit und Fruchtbarkeit unter Beweis zu stellen und so eine Braut zu gewinnen. Wichtiger war zuvor, dass die gemeinsame Gewalt von der Initiationsgruppe gefordert und gefördert wurde, kollektiv vorbe18 Vgl. Robert B. Edgerton, Warrior Women. The Amazons of Dahomey and the Nature of War, Boulder 2000. 19 Vgl. Jomo Kenyatta, Facing Mount Kenya. The Tribal Life of the Gikuyu. With an Introduction by Bronislaw Malinowski, New York 1965 [1938], S. 191. 20 Vgl. Reif, Generationalität, S. 111.

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reitetet und eingeübt durch den Ablauf bestimmter Rituale. Der Initiation folgte die ritualisierte Übergabe der Waffen des Kriegers, die wiederum möglichst umgehend genutzt werden mussten. Damit war die Identitätsbildung abgeschlossen, der Lernprozess der Gewalt in seiner Vielschichtigkeit beendet.21 In diesem System wurden Regeln der Gewalt durch Initiation und Seklusion der Jugendlichen und Krieger inter- und intragenerationell gelernt, wurde Gemeinschaft praktiziert, wurden Rollen eingeübt, Kampfbereitschaft und Aggressivität demonstriert, beispielsweise in sogenannten Kriegstänzen. Ähnlich wie bei der europäischen Parallele, den Paraden, war das aber keineswegs eine bloße Entgrenzung von Gewalt, sondern Mittel der Einhegung und Kontrolle von Emotionen und Aggressivität. Auch im Kampf wurde Aggressivität vorgeführt, als Drohpotential ebenso wie als Einstimmung auf Grausamkeit. Schwer zu erkennen ist, ob Exzesse von Gewalt und Grausamkeit gewollte Konsequenz und Bestätigung dieses Systems waren oder es gerade in Frage stellten, weil sie es unsteuerbar machten und eine nicht beherrschbare Dynamik der wechselseitigen Gewaltanwendung in Gang setzten. Die europäischen Beobachter jedenfalls sprachen mit Schaudern von der Wildheit und Unberechenbarkeit afrikanischer Krieger im Kampf, stellten aber sehr wohl die Berechenbarkeit afrikanischer Kriegsherren zum Beispiel bei Verhandlungen fest.22 Basis des Lernprozesses war die zeitweilige Abschließung in einem Lager, das Geheimnis der Riten und der Einweisungen, das nicht aufgebrochen werden durfte, auch wenn durchaus Nachrichten und Gerüchte nach außen drangen. Das machte die Vorgänge umso bedeutsamer, die erfolgreichen Absolventen hob es umso mehr heraus. Dem Lernen von Gewalt kam dabei eine dreifache Aufgabe zu: Erstens mussten Geschlechterrollen erkannt und akzeptiert werden, und diese definierten sich nicht zuletzt aus dem Umgang mit Gewalt. Zweitens musste die Altersrolle angenommen und akzeptiert werden, einschließlich der kollektiven Aufgabe des Kriegers und der individuellen Aufgabe des Ehemannes. Drittens mussten die Verhaltensanweisungen internalisiert und die Sanktionen akzeptiert werden. Das bedeutete keinen Drill, keine bloße Unterwerfung. Die neuen Kriegergruppen waren nicht bloß ausführende Organe, sondern Akteure, die mit der gelernten Gewalt umzugehen wussten und auch ihre Position in der Gemeinschaft festigten. Sie konnten wiederum, besonders wenn sie auf den lebenslange Verbindungen begründenden Beschneidungsjahrgängen aufbauten, Netzwerke bilden, die bis in die koloniale Zeit hinein wirksam blieben und in einzelnen Fällen in Widerstandsbewegungen mündeten.23 21 Siehe auch Monica Wilson, For men and elders. Change in the relations of generations and of men and women among the Nyakyusa-Ngonde people 1875–1971, London 1977, S. 98. 22 Vgl. Winfried Speitkamp, Die Ehre der Krieger. Gewaltgemeinschaften im vorkolonialen Ostafrika, in: Ders. (Hg.), Gewaltgemeinschaften. Von der Spätantike bis ins 20. Jahrhundert, Göttingen 2013, S. 297–315, hier S. 305. 23 Das gilt etwa für Zusammenschlüsse im Vorfeld des Mau-Mau-Aufstandes in Kenia, siehe zum Beispiel Henry Kahinga Wachanga, The Swords of Kirinyaga. The Fight for Land and Freedom, Kampala 1975.

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Das Ergebnis ist ambivalent: Die hier zugrunde gelegten ostafrikanischen Gesellschaften waren auf Gewalt angewiesen, um sich zu verteidigen und zu stabilisieren. Sie mussten ihre Heranwachsenden an Gewalt gewöhnen, ihnen alle Techniken der Nutzung beibringen. Damit schufen sie ein Element der Destabilisierung, vor allem dann, wenn sich Herausforderungen plötzlich veränderten, wenn sich neue Chancen boten wie durch arabischen Handel und europäischen Kolonialismus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.24 Gewalt als zentrales Identifikations- und Legitimationsmuster und als Handlungs­option wurde gelernt, und sie wurde genutzt, als konkurrierende Ordnungssysteme auf den Plan traten. Aus einem stabilisierenden Element der Gesellschafts- und Generationenordnung wurde in der Übergangszeit ein Instrument der Destabilisierung. 2.2. Afrikanische Gewalt im Blick europäischer Beobachter

Gewalt galt aus europäischer Perspektive lange als fester Bestandteil der Lebensweise in Afrika. So berichteten Missionare, Völkerkundler und Reisende immer wieder von einem gewalthaften Habitus sowie exzessiver und scheinbar regelloser Gewaltausübung. Sie sahen darin lebhafte Beweise für ein gewalthaftes Dispositiv, obwohl sie nicht selten selbst deutliche Spuren der Gewalt in der afrikanischen Erinnerungskultur hinterließen. Der Topos afrikanischer Gewalttätigkeit findet sich bereits in missionarischen Quellen des 17. Jahrhunderts und bleibt bis in die frühe Kolonialzeit in der Überlieferung präsent. So charakterisierte der deutsche Kolonialoffizier Friedrich Kallenberg die Gewalthaftigkeit der Massai mit den Worten: »Mit selbst die Rothäute übertreffender Grausamkeit gehen sie bei ihrer Räuberei zu Werke, sie haben keine Empfindung für Gutes oder Böses, sie morden rein handwerks­ mäßig, ja foltern die in ihre Hände Gefallenen.«25

Mit Blick auf Verwerfungen und Veränderungen des 19. Jahrhunderts kann vieles aus diesen Berichten neu gedeutet oder in Verbindung mit etablierten Institutionen und Streitkulturen gebracht werden. Letztere befanden sich inmitten einer tiefgreifenden Wandlung, als sie von ersten westlichen Beobachtern dokumentiert wurden. Dezentrale Gesellschaften Ostafrikas kannten vorwiegend organisierten Viehraub als gängige Form der Gewaltpraxis. Die als »gewaltsame Selbsthilfe«26 bezeichnete Form kollektiver Gewalt war fest in die politisch-soziale Organisationsform integriert und folgte Regeln und Konventionen. Das 24 Siehe auch Richard J. Reid, Frontiers of Violence in North-East Africa. Genealogies of Conflict since c. 1800, Oxford 2011, S. 23. 25 Friedrich Kallenberg, Auf dem Kriegspfad gegen die Massai. Eine Frühlingsfahrt nach Deutsch-Ostafrika, München 1892, S. 89. 26 Grundlegend hierzu Gerd Spittler, Konfliktaustragung in akephalen Gesellschaften. Selbsthilfe und Verhandlung, in: Erhard Blankenburg u. a. (Hg.), Alternative Rechtsformen und Alternativen zum Recht, Opladen 1980, S. 142–164.

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beinhaltete neben Informationen zur Orientierung in der Umgebung und bestehenden Bündnissen mit benachbarten Gemeinschaften auch die Weitergabe von Wissen über Gewaltanwendung und Waffennutzung. Betrachtungen über die Vermittlung von Gewaltpraktiken nahmen einen zentralen Platz im Rahmen völkerkundlicher Studien des 19. Jahrhunderts ein. Heinrich Schurtz verortete sie im Kontext von Altersklassen und Männerbünden und beschrieb eine große Bandbreite verschiedener Riten Ostafrikas, in denen Gewalt eine Rolle spielte.27 Genauere Beschreibungen lieferten weitere Forscher, Missionare und Reisende. So erfuhr der Theologe und Missionar Johann Krapf im Jahr 1854 von einem in Ostafrika praktizierten Ritus namens Wagnaro. Sein Informant, ein junger Mann aus dem Hinterland, berichtete ihm von Beeinträchtigungen des Karawanenhandels und einer Erprobung der neu initiierten Krieger. Jene zögen nach dem Zeremoniell in kleinen Gruppen los, um einen Menschen zu erschlagen. Krapf dokumentierte einen dialogischen Gesang, der während der Gewaltaktion wiedergegeben wurde. Den Text übersetzte er aus dem Dialekt des Hinterlandes mit »zu töten ist keine Schande, das ist es, was wir wollen«.28 Im Laufe seines Aufenthaltes in Ostafrika sammelte er weitere Details und hinterließ ausführliche Dokumentationen in Form von Missionstagebüchern, Wörterbüchern und einem in zwei Bänden publizierten Reisebericht. Auch andere Reisende schrieben ihre Erfahrungen mit ostafrikanischen Kriegspraktiken nieder. Die dort geschilderten Phänomene sind ähnlich und weisen auf ein etabliertes System hin, mit dessen Hilfe Gewaltpraktiken, Regeln, die Handhabung von Waffen und Taktiken gelehrt und gelernt wurden. Friedrich Kallenberg beschrieb »eine wohlorganisierte, aus den unverheirateten und kräftigen jungen Männern bestehende Kriegsmacht«, die er als Beleg für eine »natürliche Wildheit« ansah.29 Der Status als Krieger war jedoch Teil einer kulturell überformten Lebensphase, die durch Riten geschaffen wurde und mit sozialen Rollen und Aufgabenbereichen verbunden war. Die Initiation war dabei nur ein kleiner, wenngleich besonders prägnanter Teil. Völkerkundler, Ethnologen und Soziologen sahen diese Übergänge zwischen Kindheit und Erwachsenenstatus als Schwelle von der kindlichen Existenz im Rahmen der Familie zum Leben als erwachsenes und vollwertiges Mitglied der Gesellschaft.30 Mit dieser Erweiterung der Handlungssphäre des einzelnen war ein Sozialisationsschub verbunden, der die jüngeren Gemeinschaftsmitglieder in ihre künftigen Verantwortungsbereiche einführte. Initiationsriten waren Kristallisationspunkte für die Konventionen der dezentral organisierten Gemeinschaften. 27 Vgl. Heinrich Schurtz, Altersklassen und Männerbünde. Eine Darstellung der Grund­ formen der Gesellschaft, Berlin 1902. 28 Johann Ludwig Krapf, Reisen in Ostafrika ausgeführt in den Jahren 1837–1855, hg. v. Werner Raupp, Münster 1994 [1858], S. 337. 29 Kallenberg, Auf dem Kriegspfad gegen die Massai, S. 89, 93. 30 Vgl. Shmuel Noah Eisenstadt, African Age Groups. A Comparative Study, in: Africa: Journal of the International African Institute 24 (1954), H. 2, S. 100–113.

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Die Riten und deren Inhalte wurden nicht nur von europäischen ethnographischen Studien vielfach beschrieben, sondern auf der Basis mündlicher Überlieferung auch von afrikanischen Historikern. So berichtete auch der spätere kenianische Präsident Jomo Kenyatta von einem Kriegerschwur, der von allen Beteiligten unter Geheimhaltung geleistet werden musste. Die rituellen Texte aus Schwüren und Liedern betonten den Zusammenhalt der Kriegergruppe, die Aggressivität des Handelns und die Expertise im Umgang mit Waffen.31 Dies war Teil einer Einhegung von Gewalt durch Regeln und Grenzen; die Streitkultur wurde durch Schiedsrichter überwacht und nach Bedarf um neue Elemente erweitert. Als Paten der Initianden fungierten ältere Männer, die ihre Waffen ebenso wie ihre Expertise an die jüngeren weitergaben.32 Das betraf sowohl lokal produzierte Waffen wie Speere, Macheten und Messer als auch die besonders seit den späten 1860er Jahren immer häufiger anzutreffenden Schusswaffen aus europäischer Produktion. Mit der Modernisierung der Bestände europäischer Armeen nach dem Krimkrieg (1853–1856) ging ein reger Waffenexport einher, der den ostafrikanischen Raum mit ausgemusterten Restbeständen überflutete.33 Die Gewehre, Pistolen und Steinschlossflinten wurden in etablierte Waffenkulturen eingegliedert. Regelmäßige Tanzfeste boten einen lokalen Rahmen für die Distinktion junger Krieger. Bei diesen von europäischen Beobachtern meist als »Kriegstänze« bezeichneten Erscheinungen wurde ein aggressiver Habitus eingeübt, die persönliche Expertise im Umgang mit Waffen demonstriert und vergangene Gewalt nachgestellt. Aus der Sicht der Beobachter wiederum waren diese Theater der Aggressivität Belege für eine archaische Rückständigkeit der Afrikaner.34 Sie wurden oft detailreich beschrieben und als faszinierende Zeugnisse für die »Natürlichkeit« und »Wildheit« angesehen, die der europäischen Bevölkerung im eigenen Zivilisationsprozess vermeintlich verloren gegangen waren. In der ostafrikanischen Überlieferung finden sich Berichte über ritualisierte »Tänze, die den Mut, die Kraft und die Virtuosität der Teilnehmer zum Ausdruck brachten. Sie sind gleichermaßen zentrale Anlässe für öffentlichen Diskurs und feierliche Ansprache.«35 Der britische Elfenbeinhändler und Abenteurer John Boyes 31 Vgl. Kenyatta, Facing Mount Kenya, S. 190–192. 32 Vgl. Godfrey Uzoigwe, The Warrior and the State in Precolonial Africa, in: Journal of Asian and African Studies 12 (1977), S. 20–47, hier S. 35 f. 33 Grundlegend Raymond W. Beachey, The Arms Trade in East Africa in the Late Nineteenth Century, in: The Journal of African History 3 (1962), H. 3, S. 451–467. Siehe hierzu auch Reinhard Klein-Arendt, Vielfältige Erinnerung, zwiespältige Erinnerung. Feuerwaffen im vorkolonialen Ostafrika, in: Winfried Speitkamp (Hg.), Kommunikationsräume – Erinnerungsräume. Beiträge zur transkulturellen Begegnung in Afrika, München 2005, S. 37–64. 34 Vgl. Reif, Theater der Aggressivität, S. 80. 35 »[…] danses lesquelles s’expriment le courage, la force et la virtuosité des participants. Ces occasions sont également un moment privilégié pour des annonces publiques, des discours et des harangues«; Clélia Coret, Le »pouvoir de l’écrit«. Les chroniques swahili dans l’historiographie, in: Nicoué T. Gayibor u. a. (Hg.), L’écriture de l’histoire en Afrique. L’oralité toujours en question, Paris 2013, S. 369–393, hier S. 378 (Übersetzung Sascha Reif).

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schilderte seine Beobachtungen eines solchen Tanzfestes und hob besonders die Gleichförmigkeit der Bewegungen hervor, die ihn an ein Regiment ausgebildeter Soldaten erinnerte: »the warriors would come to the dances in a body, sing­ ing as they marched along, and keeping as perfect time and step as a regiment of trained soldiers«.36 Während Tanzfeste oft als Teil einer monolithischen und abgeschotteten afrikanischen Tradition angesehen wurden, finden sich in Berichten darüber auch immer wieder Hinweise auf deren Rolle als Forum für die Darstellung von Neuerungen in der Gewaltpraxis. Richard Francis Burton beobachtete bereits während der 1860er Jahre die Nutzung von Schusswaffen in einem solchen Rahmen. Mit der Distinktion der Krieger ging die Vergabe von Kriegernamen und Ehrenzeichen wie Federn und Bändern einher, und es entstand eine Rangfolge innerhalb der einzelnen Untergruppen. Als Kontrollinstanz fungierten lokale Ältestenräte, die aus angesehenen Männern und erfahrenen Kriegern bestanden.37 Sie leiteten die Weitergabe des Wissens, planten zukünftige Gewaltaktionen wie Raids auf andere Siedlungen, sorgten für die Einhaltung von Regeln und Konventionen des Gewaltgebrauchs, sprachen Sanktionen aus und leiteten gegebenenfalls Verhandlungen mit anderen Streitparteien. Neben diesen Kontrollfunktionen wirkten Elders, das heißt ehemalige Krieger, die im Alter von ca. dreißig Jahren einen Übergangsritus in diesen Status absolviert hatten, aber auch als Innovatoren der Gewaltpraxis. Sie aktualisierten ihr Wissen über Waffentechnik und lebten zeitweise in der Nähe bekannter Waffenschmieden und Experten für die Herstellung von Schilden, um später zurückzukehren und die gewonnenen Erkenntnisse an die Waffenmacher der Herkunftsgemeinschaft weiterzugeben.38 Auch in der Reparatur von Schusswaffen sowie der Produktion von Schießpulver eigneten sich ostafrikanische Schmieden Wissen an und nutzten es zur Innovation tradierter Waffen- und Gewaltkulturen.39 2.3. Mobilisierung und die Professionalisierung der Gewalt

Die weitreichende Mobilisierung im 19. Jahrhundert, der expandierende Sklaven- und Karawanenhandel, die Verbreitung der Zwangsarbeit auf den Plantagen der Inseln Sansibar, Pemba und Mafia sowie Krankheiten, Dürren und Viehseuchen brachten tiefgreifende Veränderungen des Umgangs mit Gewalt mit sich. Für junge Männer ergab sich die Möglichkeit, am Karawanenhandel teilzunehmen und mit der Kultur der Swahili-Küste Kontakt aufzunehmen. Sie 36 John Boyes, King of the Wa-Kikuyu, London 1968 [1911], S. 102. 37 Vgl. George Wynn Brereton Huntingford, Nandi political Record. Kapsabet 1927. Typoskript, School of Oriental and African Studies London (SOAS) Archives. Ref. No. PP MS 17/11: Nandi Political Record, S. 1. 38 Vgl. Henry O. Ayot, Historical texts of the lake region of the East Africa, Nairobi 1977, S. 21. 39 Siehe Klein-Arendt, Vielfältige Erinnerung, S. 43.

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konnten hier nicht nur Schusswaffen, sondern auch Wissen erwerben und dadurch bei ihrer Rückkehr tradierte Autoritätsbeziehungen zwischen Jung und Alt umgehen.40 Handelskontakte junger Männer und deren Einkünfte aus dem Karawanenhandel verschafften ihnen eine stärkere Position gegenüber den traditionellen Autoritäten der Ältestenräte, die auf solche Gefährdungen entweder mit rigoroser Bestrafung »böser Künste« reagierten oder die jüngeren Männer kurzerhand in die eigenen Reihen integrierten. In dem zunehmend von Gewalt geprägten Klima des 19. Jahrhunderts konnte das Wissen um neue Waffentechnik und deren Aneignung zum »temporären Vorteil« (John Iliffe) werden.41 Im Zuge der Expansion des Karawanenwesens entwickelte sich eine Kultur professioneller Krieger und »Gewaltunternehmer« (Georg Elwert), die traditionelles Wissen mit neuen Techniken und Einflüssen kombinierten und Gewalt zur Basis ihrer Lebensweise machten.42 Sie handelten auf eigene Faust, boten ihre Dienste gegen Bezahlung an oder pressten Wegzölle von Karawanen ab. Dabei kombinierten sie traditionell im Rahmen von Initiationsriten vermitteltes Wissen über regionale Begebenheiten, Techniken lautlosen Anschleichens und plötzlicher Attacken mit den Praktiken von Sklavenhändlern der Swahili-Küste, die in den Dörfern des Hinterlandes Kinder entführten, um sie zur Plantagenarbeit weiter zu verkaufen. Tradierte Regeln verloren ihre Verbindlichkeit, und das Wissen um Gewalt wurde aus der hergebrachten Einbettung in einen regulierten Ablauf von Riten und Lebensphasen gelöst. Träger dieser Veränderungen waren als Ruga Ruga bzw. Mafiti bezeichnete Gruppen, die meist aus jungen Männern bestanden, die der Zwangsarbeit auf den Plantagen oder als Träger im Karawanenhandel entkommen waren oder sich freiwillig den Kriegergruppen anschlossen.43 Die veränderten Formen der Gewalt dieser Akteure schlossen die Praxis ein, Dörfer niederzubrennen, Vieh zu rauben, Besitz zu plündern sowie Frauen und Kinder zu entführen. Die Anführer solcher professionalisierter Gruppen organisierten angesichts dieser Veränderungen die Weitergabe von Wissen über Gewalt neu. So integrierte Nyungu-Ya-Mawe, ein bekannter Führer einer solchen Gruppe, der sich selbst den Beinamen Sipemba (»einer, der Dörfer niederbrennt«) gab, die entführten Kinder zwangsweise in die Reihen seiner Krieger und leitete deren Ausbildung.44 Der ebenfalls berüchtigte Mirambo baute die Ziegelsteinsied40 Vgl. Stephen J. Rockel, Carriers of Culture. Labor on the Road in Nineteenth-Century East Africa, Portsmouth 2006, S. 229 ff. 41 John Iliffe, A Modern History of Tanganyika, Cambridge 1994, S. 52. 42 Georg Elwert, Gewaltmärkte. Beobachtungen zur Zweckrationalität der Gewalt, in: Trutz von Trotha (Hg.), Soziologie der Gewalt. Sonderheft der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Opladen 1997, S. 86–101, hier S. 86. 43 Vgl. Reif, Generationalität, S.  208 ff., sowie Michael Pesek, Ruga-ruga. The History of an African Profession, 1820–1918, in: Nina Berman u. a. (Hg.), German Colonialism Revisited. African, Asian, and Oceanic Experiences, Ann Arbor 2014, S.  85–100, hier S. 85 f. 44 Siehe Aylward Shorter, Nyungu-Ya-Mawe, Nairobi 1969, S. 10.

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lung Izela Magazi (»Blutstrom«) als Unterkunft und Ausbildungsstätte für seine Krieger.45 Er übernahm die Rekrutierung, Ausbildung und die Versorgung mit Waffen und leitete die Verteilung der Beute nach erfolgreichen Überfällen. Somit steht er für die Kombination verschiedener Funktionen traditioneller Ältestenräte. Andere folgten seinem Beispiel, inszenierten sich auch noch als alte Männer in der Art von Kriegern und nahmen zum Teil selbst Mirambos Namen an. Charismatische Kriegerfiguren prägten die Gewaltkultur des späten 19. Jahrhunderts und wurden von den Geschichtsschreibern der Nachkolonialzeit als Helden kolonialen Widerstands avant la lettre und Identifikationsfiguren »afrikanischer« Handlungsmacht angesehen. Sie bauten eigene Milizen auf und umgaben sich mit einer festen Gruppe von Elitekriegern, wie es etwa für Orkooik Koitatel berichtet wurde, der eine ständige Privatmiliz von 150 Kriegern unterhielt.46 Auch auf lokaler und regionaler Ebene formten sich traditionelle Ratsinstanzen um, und es entstanden Räte, die sich ausschließlich mit der Organisation von Kriegergruppen, militärischen Kooperationen, Präventivmaßnahmen und möglichen Reaktionen auf erlittene Gewalt befassten.47 Das Wissen um schlagkräftige Gewaltaktionen und die wirkungsvolle Inszenierung als Krieger war in der zunehmend von Gewalt geprägten Umgebung des 19. Jahrhunderts zur lebens- und überlebenswichtigen Ressource geworden. Während die tradierten Formen organisierten Viehraubs im festen Rahmen von Altersorganisationen und Jahreszyklus eine Gewaltkultur der gewalt­samen Selbsthilfe pflegten, brachten die destabilisierten Zonen der Handelsnetzwerke eine Reihe von Dynamisierungen und Eskalationen. Situationen der Begegnung waren stets von Gewalt überschattet, und umgekehrt war Gewalt stets als Handlungsoption präsent. Diese Erfahrung brachte den bekannten Sklaven- und Karawanenhändler Tippu Tip dazu, in seiner Autobiographie zu betonen, dass man die »Kunst des Krieges« beherrschen müsse, um in dieser Lebenswelt erfolgreich zu sein.48 Wie Dierk Walter jüngst betont hat, spielen gegenseitiges Lernen und Amalgamieren im Umgang mit Gewalt besonders in der Konstellation transkultureller Begegnung eine zentrale Rolle.49 Für den ostafrikanischen Kontext des 19. Jahrhunderts bedeutet das die gezielte Täuschung des Gegners mit ihm unbekannten Mitteln, um eine Drohkulisse zu erzeugen. So schrieb Johann Krapf einen Vorfall vom 27.  August 1848 in sein Tagebuch, bei dem sein Sonnen-

45 Vgl. Fritz Spellig, Die Wanjamwesi. Ein Beitrag zur Völkerkunde Ostafrikas, in: Zeitschrift für Ethnologie 59 (1927), H. 3/6, S. 201–252, hier S. 205. 46 Huntingford, Nandi Political Record, S. 1 f. 47 Vgl. ebd. Siehe auch Hans Meyer, Zum Gipfel des Kilimandscharo [1890], Leipzig 1989, S. 82. 48 Vgl. François Bontinck, L’autobiographie de Hamed ben Mohammed el-Murjebi, Tippo Tip (ca. 1840–1905), Brüssel 1974, S. 45. 49 Siehe Dierk Walter, Organisierte Gewalt in der europäischen Expansion. Gestalt und­ Logik des Imperialkrieges, Hamburg 2014, S. 263.

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schirm als gefährliche Waffe inszeniert wurde. Als sich eine Gruppe von Kriegern der Karawane näherte, nutzte deren Anführer Kiwoi das den Angreifern unbekannte Objekt zur Täuschung. Krapf berichtete: »In der Verwirrung und bei dem schnellen Laden hatte ich den Ladstock in dem Flintenlauf stecken lassen und abgefeuert, so daß er in die Luft flog, und ich jetzt nicht mehr laden konnte. Auch konnte ich an meiner Doppelflinte nur einen Lauf benützen, weil mir in Kiwois Dorf eine Nadel in dem Zündloch abgebrochen war, und ich dieselbe nicht entfernen konnte […]. Während wir feuerten und unsere Karawane sich zum Kampf anschickte, befahl Kiwoi einer seiner Frauen, meinen Regenschirm aufzumachen. Sogleich giengen die Räuber langsamer.«50

Durch dieses Täuschungsmanöver konnte der Angriff vereitelt werden, und man einigte sich ohne Gewaltgebrauch mit den Angreifern. Der Gebrauch von Leuchtraketen wurde in ähnlichen Situationen ebenso zur gezielten Einschüchterung genutzt wie das demonstrative Erschießen von Kühen mit Maschinengewehren oder das Imitieren gewalthaften Auftretens und Drohens.51 Neben solchen situativen Adaptionen ergaben sich jedoch auch dauerhaftere Veränderungen. Mit der weitreichenden Militarisierung großer Bereiche des Lebens veränderte sich auch das Erlernen, Androhen und Einüben von Gewalt. Einzelne Kriegerpersönlichkeiten und deren Gefolge wurden zu »gatekeepers« (Justin Willis),52 die in den vielfältigen Situationen der Begegnung im Ostafrika des 19. Jahrhunderts besonders in den Vordergrund traten: Karawanen trafen auf die Krieger der benachbarten Siedlungen, professionelle und mobile Kriegergruppen prägten das Umfeld des Handels, indem sie sich als bewaffnete Eskorten anwerben ließen oder ihr traditionelles Wissen abwandelten und Karawanen wie Siedlungen überfielen. Die dauerhafte Gewalterfahrung führte dazu, dass man sich langfristig darauf einstellte. Wie der deutsche Reisende Hans Meyer in den 1890er Jahren beobachtete, war »der Wachtdienst überall gut eingerichtet […] und die meisten Landesgrenzen da, wo ihr Übergang am leichtesten ist, durch tiefe Gräben gesichert«. Daher seien »unerwartete Überfälle eine Seltenheit«: »Meist bleibt dem Bekriegten Zeit, entweder seine Bewaffneten in überlegener Zahl auf die Beine zu bringen und dadurch den kundschaftenden Feind zum stillen Rückzug zu veranlassen, oder sich mit einem Teil seiner Habe in den Schutz des Waldes zu flüchten, so daß Blutvergießen nur ausnahmsweise vorkommt.«53

50 Krapf, Reisen in Ostafrika, S. 232. 51 Vgl. Friedrich Fülleborn, Das deutsche Njassa- und Ruwuma-Gebiet, Land und Leute, nebst Bemerkungen über die Schire-Länder, Berlin 1906, S. 45. 52 Justin Willis, Potent Brews. A Social History of Alcohol in East Africa 1850–1999, Oxford 2002, S. 77–79. 53 Meyer, Zum Gipfel des Kilimandscharo, S. 82.

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2.4. Kolonialisierung und das Erlernen neuer Gewalt

Im Kontakt zwischen europäischen Forschern, Händlern der Swahili-Küste und der ostafrikanischen Bevölkerung entstand ein Spannungsfeld, in dem Gewalt auf vielfältige Weise inszeniert und angedroht wurde. Die Situationen interkultureller Begegnung führten zu einem Prozess der Adaption und Amalgamierung.54 So wurden einerseits traditionelle Theater der Aggressivität auch im Rahmen von Karawanenreisen und somit entkoppelt vom lokalen Raum des gemeinschaftlichen Ngoma-Tanzfestes aufgeführt, andererseits passten sich Europäer und andere Akteure an das Umfeld kontinuierlicher Macht- und Gewaltinszenierung an. Dieses situative und punktuelle gegenseitige Lernen erfuhr durch das deutlichere Hervortreten kolonialer Akteure eine weitere Veränderung. Hatten bisher einzelne charismatische Anführer, Karawanenhändler und Plantagenbesitzer durch das Anwerben von Kriegern deren Professionalisierung vorangetrieben und das Wissen traditioneller Institutionen des Erlernens von Gewalt wie Krieger- und Ältestenräte um neue Facetten erweitert, übernahmen nun zunehmend koloniale Akteure das Lehren von Gewaltpraktiken. Europäer bezeichneten die beobachtete Gewaltnutzung meist als unstrukturierten »mad rush« (John Boyes)55 und nutzten westlich geprägte Militär­traditionen als Modell für die Organisation kolonialer Hilfstruppen und Milizen. Hans Meyer beschrieb während seiner Reise zum Kilimandscharo die gewaltsamen Konflikte in Ostafrika wie folgt: »Unter Kriegführen sind natürlich keine offenen Gefechte und Massenkämpfe zu verstehen. Die Angreifer fallen möglichst unerwartet mit großem Geschrei über die Grenzbezirke des Feindes her und schleppen die Bewohner, die nicht rechtzeitig flüchtig werden konnten, als Sklaven davon. Die Hütten werden geplündert und niedergebrannt, und als wertvollste Beute das Vieh weggetrieben, die Pflanzungen aber nicht absichtlich geschädigt.«56

Im Umfeld interkultureller Kontaktzonen akzeptierten europäische Akteure meist ausschließlich die eigenen Regeln der Gewaltnutzung, was sich auch auf der Vermittlungsebene bemerkbar machte: Der genannte John Boyes hatte sich durch sein gewalttätiges Eingreifen in den Gebieten des kenianischen Hochlandes bereits ein Netzwerk von Beziehungen zu lokalen Anführern aufgebaut, als er beschloss, die militärische Organisation des Dorfes zu verändern, in dem er zwei Jahre lang gelebt hatte: »I found it very necessary to have the natives better organized, from a military point of view, seeing the danger with which we were threatened, not only in respect of keeping guard, but also in their method of fighting. They had never been accustomed to ob54 Siehe Walter, Gewalt, S. 263. 55 Boyes, King of the Wa-Kikuyu, S. 119. 56 Meyer, Zum Gipfel des Kilimandscharo, S. 82.

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serve any sort of formation in their attack, but simply made a mad rush at the enemy, so I taught them to keep together, forming a line with their shields touching.«57

Wie er weiterhin berichtete, inspizierte er zunächst die Funktionstüchtigkeit der vorhandenen Schusswaffen und ließ die defekten Waffen mit Hilfe seiner Handelskontakte durch kampftaugliche Gewehre ersetzen. Er sorgte zudem für khakifarbene Uniformen, baute ein Fort und begann, Schießübungen und regelmäßiges Exerzieren durchzuführen. Dabei verwendete er englischsprachige Kommandos und trainierte seine Krieger in der Manier europäischer Armeen: »Having managed to get some ammunition, I selected the best men out of the tribe and armed them with these rifles, taking great trouble in teaching them how to use them. After a time I was able to put the squad through the manual exercises in English, though it always puzzled me to know how they understood what I wanted them to do, as not one of them knew a word of English, but I suppose they simply imitated what they saw me do when showing them the various movements, and associated certain sounds with those movements.«58

Auf diese Weise baute er eine schlagkräftige Miliz aus ansässigen Kriegern auf, deren Ruf schließlich die britische Kolonialadministration zur Reaktion bewegte. Boyes wurde festgenommen und unter anderem wegen »Gesetzlosigkeit« angeklagt.59 Sowohl Boyes als auch die Anführer von Kolonialtruppen standen in einem Spannungsfeld zwischen überlieferten dezentralen Gewaltpraktiken und Regeln sowie den Vorstellungen eines europäisch geprägten zentralistischen Polizei- und Militärwesens. Vor dem Hintergrund der bereits seit Jahrzehnten verbreiteten Nutzung von Schusswaffen konnten sie sich bei der Anwerbung afrikanischer Hilfstruppen bereits auf die Expertise professioneller Krieger stützen. Unterfinanzierte Kolonialarmeen warben die Mitglieder mobiler Kriegergruppen an, und auch deren körperliche Verfassung traf bei einigen Kolonialoffizieren regelrecht auf Begeisterung. So schrieb der preußische Kolonialoffizier Sigl am 31. August 1891 an die Kommandantur von Tabora: »Die Wangoni-Rekruten benehmen sich äußerst gut und es ist eine Freude, diese Kerle abzurichten, es steckt da viel mehr Leben dahinter als in den schlafmützigen Waniamwezis«.60 Unter kolonialer Administration wurden die Gewehre und Pistolen, bis dahin primär Lärm und Schrecken erzeugende Elemente einer Kulisse, die die Schockwirkung schneller Überfälle aus dem Hinterhalt unterstützte, zu Werk57 Boyes, King of the Wa-Kikuyu, S. 109. 58 Ebd. 59 Wegen »dacoity […]. It was explained to me that ›Dacoit‹ was an Indian term, meaning a native outlaw«, ebd., S. 285. 60 Sigl an Soden aus Tabora am 31.8.1891 (Bericht Nr. 6), in: Achim Gottberg, Unyamwesi. Quellensammlung und Geschichte, Berlin 1971, S. 317–319, hier S. 319.

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zeugen gezielten Tötens. Kolonialoffiziere kontrollierten die Verwendung von Munition und honorierten das Töten von Gegnern durch Erschießen. Unter diesen kolonialen Vorzeichen wurden junge Männer von charismatischen Kriegern zu militärisch organisierten »Experten der Gewalt« (Bernhard Gißibl),61 die wirkungsvolle Inszenierung von Aggressivität und Gewalthaftigkeit wich einer extremen Form von Gewalt, die daher auch im ostafrikanischen Kontext des 19. Jahrhunderts zur Grundlage der europäischen Expansion gezählt werden kann. Unter dem Paradigma kolonialer Landnahme wurde das Erlernen von Gewalt, gesteuert und organisiert nach den Vorgaben westlicher Militärorganisation, zum Werkzeug einer gezielten Nutzung von Massakern und sogenannten »Strafexpeditionen« (»punitive expeditions«) im Zuge der kolonialen Landnahme.62 Die Verbindlichkeit tradierter dezentraler Regeln der Gewaltnutzung verfiel mit dem sich durchsetzenden kolonialen Bewusstsein endgültig und wurde durch die zentralistische Machtdynamik des Kolonialstaats ersetzt. Zwar wurden Riten, Ngomas und die saisonalen Raids frisch initiierter Krieger weiterhin durchgeführt, westliche Beobachter bewerteten sie jedoch als sinnentleerte Phänomene kultureller Rückständigkeit, die sich in ethnographischen Werken studieren und im touristischen Rahmen besichtigen ließen.

3. Gewalt und Geheimnis 3.1. Grundlagen

In Schlüsselphasen der Ausbildung junger Krieger standen Wissen und Geheimnis in enger Verbindung. In den Lagern der Initiationskandidaten wurde, für diese Zeit streng abgeschottet, das Wissen um Formen und Zwecke der Gewalt vermittelt und eingeübt. Nur befugte Ältere, manchmal Mitglieder der eigenen lokalen Gemeinschaft, aber auch – jedenfalls in Westafrika – externe Experten, durften es weitergeben. Die Gruppen der Eingeweihten wiesen insofern Merkmale von Geheimbünden auf. Das vor- und frühkoloniale Afrika kannte verzweigte Geheimbundsysteme. Geheimvereinigungen konnten lokal beschränkt und ephemer sein, sie konnten dauerhaft etabliert sein, sie konnten translokal vernetzt sein. Derartige Bünde waren in West- und Zentralafrika beispielsweise oft an Berufszweige gekoppelt. Sie bildeten translokale Netz61 Bernhard Gißibl, Die »Treue« der askari. Mythos, Ehre und Gewalt im Kontext des deutschen Kolonialismus in Ostafrika, in: Nikolaus Buschmann/Karl Borromäus Murr (Hg.), Treue. Politische Loyalität und militärische Gefolgschaft in der Moderne, Göttingen 2008, S. 214–252, hier S. 246. 62 Siehe hierzu auch Erick J. Mann, Mikono ya damu: »Hands of Blood«. African Mercenaries and the Politics of Conflict in German East Africa, 1888–1904, Frankfurt a. M. 2002, S. 25–27.

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werke, die Austausch, Handel und Kommunikation organisierten, den eigenen Beruf und seine Mitglieder schützten. Sie sicherten ökonomische Verbindungen und persönlichen Schutz. Zugleich stifteten sie Ordnung in ihren Aktions­ räumen. Und schließlich konnten sie religiöse Funktionen übernehmen. Auch im Kontext der Gewaltgemeinschaften tauchen Geheimbünde oder geheime Vereinigungen auf, Gruppen, die im Geheimen operierten oder auf Geheim­ wissen basierten, nämlich auf Wissen, das vor anderen Personengruppen, an erster Stelle Frauen, Nicht-Initiierten oder Fremden, geheim gehalten wurde. Dazu zählten in der Kolonialzeit Verbindungen, denen die sogenannten Leopardenmann-Morde zugeschrieben wurden. Es ging um hunderte von belegten Todesfällen vor allem in West- und Zentralafrika (an erster Stelle Liberia, Sierra Leone, Nigeria, Kongo) zwischen ca. 1870 und 1950, bei denen Leopardenreste, etwa Fellteile oder Krallen, am Tatort gefunden wurden.63 Anfangs war nicht sicher, ob es sich bei den Tätern um echte Tiere oder um Menschen in Leopardenverkleidung handelte. Schließlich stellte sich nach langwierigen Untersuchungen heraus, dass die Taten nur auf Menschen zurückgeführt werden konnten, die Verhaltensweisen von Leoparden praktizierten – oder vortäuschten. Letzteres war jedenfalls die Sicht der Europäer und der Vertreter afrikanischer Eliten. Andere afrikanische Bevölkerungsteile dagegen nahmen zwar ebenfalls eine Verbindung unter den sogenannten Leopardenmännern an, ließen die Frage des Mensch- oder Tiercharakters aber offen. Vermutet wurden hier eher Prozesse einer Mensch-Leopard-Verwandlung, die gewissermaßen eine Gruppe von Eingeweihten oder einzelne Personen auf Zeit und zumindest zum Teil in eine andere Spezies transformierte. Beide Deutungen brachten die Leopardenmorde in Verbindung zu Geheimgesellschaften. In den Quellen der Region Sierra Leone/Liberia ist in diesem Zusammenhang von Poro-Geheimgesellschaften die Rede. Über die Geheimgesellschaften, die im Hintergrund der sogenannten Leopardenmorde vermutet wurden, waren sehr unterschiedliche Gerüchte im Umlauf. Gefürchtet wurden sie von den Missionaren, die ein Weiter- und Wiederaufleben heidnischer religiöser Praktiken zu erkennen glaubten, und von den europäischen Kolonialbeamten, die hier manchmal sogar eine antikoloniale Widerstandsbewegung vermuteten und verfolgten. Europäische Ethnologen begannen sich dafür zu interessieren, auch Popularisierungen machten die Runde.64 Aus den Geschichten der indigenen Bevölkerung ergab sich für europäische Beobachter kein klares Bild. Einesteils wurden die Vorkommnisse mit 63 Vgl. zum Folgenden neben Zehnle, Der Leopard, und Dies., Leoparden, auch David­ Pratten, The Man-Leopard Murders. History and Society in Colonial Nigeria, Edinburgh 2007; Birger Lindskog, African Leopard Men, Uppsala 1954. 64 Siehe etwa zu Comic-Adaptionen des Mythos Stephanie Zehnle, Der kolonialistische Comic. Die Genese des »Leopardenmannes« und die Verbildlichung kolonialer Ängste, in: Closure. Kieler e-Journal für Comicforschung 2 (2015), S.  90–116, http://www.closure. uni-kiel.de/closure2/zehnle (Zugriff am 7.12.2015).

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Vorstellungen von Hexerei verbunden und dadurch erklärt, dann in einen sinnhaften Zusammenhang mit benennbaren Ursachen gebracht. Anderenteils war, in Bezug auf die Täter, von Personen die Rede, die durch Magie, also zwangsweise, in die Gruppen verpflichtet worden und durch Opfer, Blut und Rituale gebunden seien. Andere sprachen von »Ritualspezialisten«, die im Auftrag von Gemeinschaften Ordnungsverstöße aufklären und sanktionieren sollten. Jedenfalls wurden durch Rituale und gemeinsame gewalthafte Praktiken Verhaltensweisen und Normen angeeignet und eingeübt. Dabei ging es um die Regeln der Gemeinschaft, um die Prinzipien der Geheimhaltung und um die Instrumente und Formen der Sanktionierung. So wenig man auch über das Innenleben dieser Verbindungen weiß, so offenkundig scheint doch, dass hier in der Form der Mensch-Tier-Verwandlung, die mit Ritualen eingeleitet und überhöht, dadurch in den Bereich des Geheimnisses verschoben wurde, auch Normverschiebungen möglich und erlaubt wurden. Das betraf besonders die Anwendung von Gewalt. Die virtuellen Tiere verließen den Normenrahmen, die Handlungsnormen ihres soziopolitischen Herkunftsverbandes, oder sie setzten sich jedenfalls zeitweise über ihn – manchmal durchaus, um ihn zu bekräftigen. Die Täter bewegten sich wie Tiere, was die Laufwege anging, agierten nachts, verletzten und töteten wie Tiere, ohne eine erkennbare Begründung zu hinterlassen oder vorab ihre Taten anzukündigen. Freilich mordeten sie nicht willkürlich, sondern griffen einzelne Personen gezielt an. Gerade weil die Schritte als tierlich deklariert waren, folgten sie genauer Planung und Ordnung, keineswegs zügelloser Gewalt, und dies selbst bei extremer Grausamkeit, etwa dem Herausreißen oder Heraustrennen von inneren Organen. Offenbar brachten die Geheimbünde ihren Mitgliedern auch genauere Kenntnisse über den Aufbau des menschlichen Körpers und über das Vorgehen von Beutegreifern bei. Das Lernen von Gewalt hatte hier mithin einen etwas anderen Charakter als im beschriebenen ostafrikanischen Generationenmodell, obwohl auch in Westafrika – wie etwa in Sierra Leone – die Altersklassen für Initiation und Gewalteinweisung zuständig waren. Das Erlernen von Gewalt bezog sich dabei auf eine besondere Konstellation, nämlich auch auf die Sanktionierung, also den korrigierenden Eingriff durch Gewalt, während im Kontext des ostafrikanischen Altersklassensystems Gewaltlernen zumindest im Prinzip als Phase der Sozialisation angesehen wurde. Die Gewalt der sogenannten Leopardenmänner richtete sich auch nach innen, auf Angehörige der eigenen Gruppe, wenn diese als Kollaborateure beispielsweise im Dienst der Fremden standen. Gemeinsam war im Generationen- wie im Geheimbundmodell aber doch das Leben und Handeln nach einem je eigenen Wertesystem. Beide Modelle zeichnete außerdem aus, dass das Erlernen von Gewalt mit Wissen und Geheimnis verbunden war. Wer Gewalt lernte, bewegte sich in einem Arkanbereich, er betrat den Raum des Tabuisierten oder zumindest Verborgenen, der höchste Loyalität verlangte und durch Rituale wie Schwurzeremonien abgesichert werden musste. Nicht die­ Gewalt selbst war allerdings tabuisiert, obwohl der aufwändige Vermittlungsprozess darauf hinwies, dass hier Tabus überschritten wurden. Wichtiger noch:

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Der Lernprozess war nur den unmittelbar zu Gewalt Befugten zugänglich, wurde auf sie beschränkt und als Geheimnis eingehegt. Auch in der Variante der als Leopardenmänner bezeichneten Geheimgesellschaften, in der spezifischen Verbindung von Geheimnis, Wissen und Gewalt, kam dem Lernen von Gewalt eine dreifache Aufgabe zu: Erstens ging es darum, soziale Rollen zu akzeptieren. Das betraf einmal die Sanktionierten, aber auch die Täter selbst, die nach ihren Erzählungen oft nicht freiwillig kooperierten. Sie wurden magisch gezwungen, sich ihrer Aufgabe der Ordnungsstiftung bewusst zu werden. Der Täter war nicht frei in seinem Handeln, er handelte in seiner Tierrolle und damit quasi instinktiv. Täter und Opfer waren insofern unlösbar verschlungen. Zweitens mussten Normen und Autoritäten anerkannt und vermittelt werden. Dem ging eine Entscheidung für ein Normensystem, ein dezidiert nichtkoloniales, voraus. Drittens mussten die Gruppenmitglieder Verhaltensanweisungen verstehen, konkrete Gewaltpraktiken lernen und sie bedenkenlos anwenden. Sie mussten die Formen der Gewaltausübung durch Leoparden wie selbstverständlich übernehmen, sich also mit ihrer Rolle als Leoparden identifizieren. Das Geheimnis schirmte auch hier einen neuen Werte­ kodex ab, der für die Zeit der Mensch-Tier-Verwandlung den alltäglichen ersetzte und Handlungen möglich machte, die ansonsten als willkürliche Gewalt abzulehnen waren. 3.2. Kontinuitäten eines Konflikts: Pubertät und (religiöse) Normenkonkurrenz

Die sogenannten Poro-Geheimgesellschaften waren vermutlich schon vor der Kolonialisierung im 19. Jahrhundert und auch noch nach der Unabhängigkeit der westafrikanischen Kolonien im 20.  Jahrhundert aktiv. In der Gegenwart­ rücken die Poro in Sierra Leone, Liberia, Guinea und der Elfenbeinküste wieder in den Fokus; sie werden kritisiert und bekämpft. Zum einen werden ihr ritueller Umgang mit Verstorbenen und ihre ablehnende Haltung gegenüber westlicher Medizin für die epidemische Verbreitung des Ebola-Erregers mitverantwortlich gemacht,65 und zum anderen sind sie Akteure in gewaltsamen religiösen Auseinandersetzungen in einigen Regionen Westafrikas. Im Norden der Elfenbeinküste, wo neben Muslimen und Katholiken besonders auch protestantische Kirchen missionieren, gehen Poro-Gruppen angeblich gezielt gegen protestantische Konvertiten oder deren Eigentum vor, bedrohen sie oder grei65 »Disease transmission was further enabled by the influential Zoes (traditional healers, ritual specialists) of the secret societies, who not only denied Ebola’s very existence, but continued to hold public village gatherings and secret Poro activities within their Sacred Groves.« Neil Carey, Ebola and Poro. Plague, Ancient Art, and the New Ritual of Death, http://www.porostudiesassociation.org/ebola-and-secret-societies/ (Zugriff am 31.8.2015).

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fen sie an. Ein staatlich forcierter inter-religiöser Dialog zwischen unterschiedlichen Autoritäten und Konfessionsvertretern soll diesen Konflikt nun lösen.66 Eine solche, primär religiöse öffentliche Deutung und Wahrnehmung der Poro-Gesellschaften ist indes kein Novum, wobei dies weniger durch die histo­ risch konstante religiöse Ausrichtung der Poro begründet sein dürfte, sondern viel eher der besonders intensiven Präsenz und Propaganda muslimischer und christlicher Missionare in dieser Region seit ca. 1800 geschuldet ist. Weil sich die missionierenden Enklaven in Konkurrenz zu den Glaubensinhalten der Poro sahen, verurteilten sie sämtliche ihrer Praktiken und Utensilien als »Fetische« des »Aberglaubens«. Und tatsächlich folgte das Kolonialregime oftmals ihren Forderungen nach einer rigorosen Bekämpfung der Geheimgesellschaften. In der britischen Kolonie Sierra Leone wurde das auch gesetzlich fixiert, so dass bereits die Mitgliedschaft in einer Geheimgesellschaft zeitweise kriminalisiert wurde. Thomas Joshua Alldridge, der zwischen 1894 und 1905 als District Commissioner in der Region Sherbro eingesetzt war, behauptete schon 1901: »Happily the persistent and effective measures adopted by the Government have been so successful that I quite believe the Human Leopard Society is now simply a matter of history.«67

Ganz explizit erklärte der Kolonialbeamte, dass erst die zivilisatorische Wirkung der britischen Kolonialherrschaft die Bewohner Sierra Leones aus einer Situation des Terrors befreit habe.68 Die politisch-religiöse Konkurrenz ergab und ergibt sich nicht allein aus Differenzen bezüglich transzendenter Ontologien, etwa im Christentum und in religiösen Überzeugungen der Poro. Es ging hier um die allgemeine Sicherung von Macht, wobei die Bildungs- und Ausbildungsphase von Jugendlichen ein besonders umkämpftes Feld der Konkurrenz darstellte. Missionen und Poro-Gesellschaften boten jeweils Unterstützung, Initiationsrituale und eine Art schulische Unterrichtung für Heranwachsende an. Und zumindest die christlichen Missionare vertraten diesen Lehranspruch mit Ausschließlichkeit, so dass ihren Schülern parallel keine Seklusion im poro bush, im Ausbildungscamp der Poro, erlaubt wurde. Geheimgesellschaften waren also für ganz verschiedene Aufgaben zuständig, neigten aber besonders dann zu gewaltsamem Vorgehen, wenn ihr Anspruch auf die Ausbildung und Initiation der Jugendlichen bedroht wurde. Die Ausbildung und Sozialisierung während der Pubertät sicherte den Poro die Option, langfristige Loyalitäten und Institutionen sowie Beziehungsgeflechte sozialer Kontrolle aufzubauen. Konflikte zwischen Poro und Missionaren können folglich als kompetitive Versuche 66 Vgl. zur Debatte dieser Vorkommnisse eine Diskussion auf der afrikawissenschaftlichen Sektion der historischen Webseite www.h-net.org: Kathryn Green, Query. Religious conflict in Africa, 27.7.2015, https://networks.h-net.org/node/28765/discussions/76589/ query-religious-conflict-africa (Zugriff am 21.8.2015). 67 Thomas Joshua Alldridge, The Sherbro and Its Hinterland, London 1901, S. 156. 68 Ebd., S. 159.

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gewertet werden, durch Ausbildung und Kasernierung Macht über die (männliche) Jugend auszuüben und sie auch für eigene politische oder ökonomische Ziele einzusetzen. Während die Missionen ihre Lehren jedoch dezidiert nach außen trugen, versuchten die Poro ihr Wissen geheim zu halten. 3.3. Geheimnis und Gemeinschaft

Es stellt sich jedoch die Frage, worin das eigentliche Geheimnis dieser PoroGesellschaften bestand und besteht. Zwar muss davon ausgegangen werden, dass diese Institution historischem Wandel unterlag. Dennoch veranlassen bestimmte Kontinuitäten – etwa die durchgehende öffentliche Wahrnehmung als Opposition gegenüber dem Fortschritt, der Christianisierung sowie der kolo­ nialen und nachkolonialen Staatlichkeit  – dazu, grundlegende Formen und Funktionen von Geheimgesellschaften festzuhalten. Der Soziologe Georg Simmel sprach 1908 von der Verwendung von Geheimnissen als einer »soziologischen Technik, als einer Form des Handelns«.69 Diese Technik werde allein durch den Anspruch auf Geheimhaltung effektiv, also »prinzipiell unabhängig von dem Inhalt, den es hütet«.70 Denn Gesellschaften würden alles Geheimnisvolle typischerweise immer für etwas besonders Bedeutsames halten: »Der natürliche Idealisierungstrieb und die natürliche Furchtsamkeit des Menschen wirken dem Unbekannten gegenüber zu dem gleichen Ziele, es durch die Phantasie zu steigern und ihm eine Aufmerksamkeitsbetonung zuzuwenden, die die offenbarte Wirklichkeit meistens nicht gewonnen hätte.«71

Damit liefert Simmel eine Erklärung dafür, weshalb die kolonialen Akteure ein übersteigertes Interesse an den Poro-Gesellschaften zeigten, die in deren systematische  – jedoch relativ erfolglose  – Ablehnung und Bekämpfung mündete. Das Geheimnis schafft zunächst ein Verhältnis zwischen Wissendem und Unwissendem, während es für Geheimgesellschaften auch die Wechselbeziehung derer bestimmt, »die das Geheimnis gemeinsam besitzen«.72 Das Geheimnis als verbindendes Element schafft Vertrauen und einen geschützten Raum für Eingeweihte. Deshalb sind Geheimgesellschaften insbesondere dann zu finden, wenn sie als neue Bewegungen oder Institutionen im Entstehen oder im Verschwinden begriffen sind  – in einem »Übergangsstadium zwischen Sein und Nichtsein«.73 Dies bedeutet wiederum, dass Geheimgesellschaften als Phänomen in Perioden der Normenkonkurrenz und des sozialen Umbruchs auftre69 Georg Simmel, Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Leipzig 1908, S. 359. 70 Ebd., S. 360. 71 Ebd. 72 Ebd., S. 372. 73 Ebd., S. 374.

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ten. In einer solchen politischen Umwelt entwickle sich der Grundsatz der Verschwiegenheit zum dominanten Anliegen solcher Gruppen, und er werde noch über den Inhalt des zu Verschweigenden gestellt.74 In typisch rassistischer Logik seiner Zeit erläutert Simmel, dass es besonderer Anstrengung bedürfe, das »Geschwätz des Kindes und des Negers«75 durch psychologische Methoden und sozialen Druck einer Gemeinschaft abzuwehren. Jedoch nennt der Soziologe auch allgemein gültige Vorgehensweisen wie etwa Eid und Strafandrohung, die beide kulturübergreifend vorzufinden seien und die Etablierung strikter Hierarchien mit sich bringen würden: »Die Wissenden bilden eine Gemeinschaft, um sich gegenseitig die Geheimhaltung zu garantieren.«76 Vermutlich durch die ethnologische Literatur um 1900 hatte Simmel ebenfalls Kenntnis über afrikanische Geheimgesellschaften, die er selbstredend ohne weitere Differenzierung als kohärente Kategorie solcher Institutionen behandelt. Diese Bünde seien immer Männerbünde, deren Zweck in der Abgrenzung von den angehörigen Frauen bestehe: »Die Mitglieder erscheinen, sobald sie als solche in Aktion treten, in Masken, und es pflegt den Frauen bei schwerer Strafe verboten zu sein, sich ihnen zu nähern. Dennoch ist es den Frauen hier und da gelungen, hinter das Geheimnis zu kommen, dass die schreckhaften Erscheinungen keine Gespenster, sondern ihre Männer sind. Wo das geschah, haben die Bünde oft ihre ganze Bedeutung verloren und sind zu einem harmlosen Mummenschanz geworden.«77

Das eigentliche Geheimnis bestehe demnach darin, den Frauen gegenüber als maskierte Geister oder Monster aufzutreten und zu verbergen, dass es tatsächlich die bekannten Männer sind, durch die sie erschreckt werden. Sobald eine Demaskierung erst einmal vorgenommen sei, verliere der Geheimbund seine Macht über das andere Geschlecht. Aus einer solchen Haltung spricht sicher auch eine durch christliche Missionare übermittelte Hoffnung, wonach afrikanischer Aberglaube nur als solcher offengelegt werden müsse und er durch diese Demystifizierung unmittelbar an Anziehungskraft verliere. Die kolonialistische Agenda verlangt also danach, afrikanische Frauen über den Betrug durch ihre Männer aufzuklären und die Masken gezielt abzunehmen, um die »wahre« Identität dieser Wesen zu präsentieren. Diese Anonymisierung durch Masken, so Simmel, ermögliche schließlich die Verübung organisierten Verbrechens, das er detailreich ausführt: »Die meisten afrikanischen Geheimbünde sind durch einen als Waldgeist verkleideten Mann gleichsam repräsentiert; dieser begeht an den ihm zufällig Begegnenden jede beliebige Vergewaltigung, bis zu Raub und Mord. Eine Verantwortung für seine Schandtaten trifft ihn nicht, und zwar ersichtlich nur wegen seiner Maskierung: das 74 75 76 77

Ebd., S. 375. Ebd., S. 376. Ebd., S. 383. Ebd., S. 390.

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ist die etwas unbehilfliche Form, unter der jene Bünde die Persönlichkeit ihrer Anhänger verschwinden lassen und ohne die diese letzteren zweifellos von Rache und Strafe ereilt werden würden. Aber die Verantwortung ist eben so unmittelbar mit dem Ich verknüpft, – auch philosophisch fällt das ganze Verantwortungsproblem in das Ichproblem hinein – daß die Unkenntlichmachung der Person für dies naive Empfinden alle Verantwortung aufhebt.«78

Auch Kolonialreisende beschäftigten sich stark damit, dass sich durch das höchste Prinzip der Geheimhaltung schlimmste Verbrechen kaschieren ließen. Wenn Zeugen daher vor kolonialen Gerichten von ihrem Recht zu schweigen Gebrauch machten, wurde dies als Resultat eines gemeinsamen Schwurs zur Initiation in die Geheimgesellschaft der Poro gedeutet. Über solche Loyalitäten äußerte sich auch Walter Volz, ein Schweizer Zoologe, als er die liberianisch-­ sierra-­leonische Grenzregion bereiste. Auf Basis verschiedener Informanten hielt er 1906 in seinem Reisetagebuch fest: »Wenn z. B. ein Poromann dazu kommt, wie ein anderer ein Menschen tötet, so hilft er ihm begraben + geht weg, ohne je davon zu sprechen. Er soll sich eher töten laßen, als den andern Poromann verklagen od. gegen ihn vor Gericht zu nennen.«79

Diese maskierten Männerbünde würden folglich gegen die Normen der eigenen Gesellschaft verstoßen und eine willkürliche Gewaltherrschaft ausüben. Auch wenn diese völlig oberflächlichen Thesen über das Wesen afrikanischer Männerbünde in diesem Zusammenhang kaum einer Diskussion würdig sind, so konnte Simmel doch weiterführende Merkmale von Geheimgesellschaften konstatieren, besonders in Bezug auf deren Verhältnis zur Gesamtgesellschaft bzw. zum Staat. Weil nämlich bei diesen Gemeinschaften das »Geheimnis soziologischer Selbstzweck« sei,80 »erscheint der Geheimbund schon rein auf Grund seines Geheimnisses der Verschwörung gegen die bestehenden Mächte gefährlich benachbart«.81 Geheimbünde sind demnach qua definitionem Feinde von Staatlichkeit, weil sie für den Staat nicht zugänglich und folglich nicht gesellschaftlich integrierbar sind. Konflikte und Eskalationsdynamiken sind hier also gewissermaßen vorgezeichnet: Ein Staat versucht die geheime Vereinigung offenzulegen, und die Geheimgesellschaft zieht sich noch stärker in die staatliche Peripherie zurück. Die Poro-Gemeinschaften waren innerethnisch tatsächlich nur gegenüber Nicht-Initiierten eine zum Teil geheime Einrichtung, also vor allem gegenüber Frauen und Kindern sowie fremden Männern. Schließlich mussten alle Jungen diese Riten durchlaufen, bis durch die europäische Kolonialisierung, die Ansiedlung ehemaliger schwarzer Sklaven aus den USA oder von beschlagnahm78 79 80 81

Ebd., S. 400 f. Burgerbibliothek Bern, Privatarchive, Msshh XXIV 136.2 (27.06.1906–18.08.1906), S. 291. Simmel, Soziologie, S. 383. Ebd., S. 402.

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ten Sklavenschiffen, christliche Missionierung und Islamisierung im 18.  und 19.  Jahrhundert ein alternatives Angebot der Ausbildung Jugendlicher hinzukam und das bestehende Herrschaftsverhältnis zugunsten dieser neuen Akteursgruppen verschoben wurde. Erst durch die Kolonialisierung und Missionierung sowie die dadurch entstandene Kriminalisierung indigener Praktiken wurden die Poro also tatsächlich zu Gemeinschaften, die im erweiterten Sinne im Geheimen agierten. Sie sind als Geheimgesellschaften insofern Produkte kolonialer Entwicklungen. 3.4. Gemeinschaft und Gewalt: Die Mobilisierung von war boys

Unter strenger Segregation wurden die Poro-Jungen abseits ihres elterlichen Zuhauses über Monate oder sogar Jahre ausgebildet. Diese Unterweisung war umfassend, bezog sich aber stark auf Sexualität, Vaterschaft und Kriegführung. Zwar war für die Kriegführung üblicherweise auch die Zustimmung der Frauenbünde erforderlich, doch wurde die Ausübung von Gewalt während der PoroZeit unter Männern und männlichen Jugendlichen gelehrt und gelernt. Diese Organisationsform hatte zur Folge, dass während der Seklusionszeiten keine Kriege und Plünderungen stattfinden durften.82 Dabei sind Simmels Über­ legun­gen zur anonymisierten Kriminalität der Mitglieder einer Geheimgesellschaft für die Poro nicht zutreffend, weil gerade nicht initiierte Jungen für ihre Taten nicht zur Verantwortung gezogen werden konnten – also unmündig waren – und erst nach ihrer Initiation für ihr Handeln verurteilt werden sollten. In einigen Poro-Gesellschaften Westafrikas wurden die Gruppen noch weiter in eine allgemeine Klasse, eine militärische Klasse und eine priesterliche Klasse eingeteilt. Gaiyumbo genannt, wurden die Krieger schon während ihrer Ausbildung einem zu initiierenden Sohn des lokalen chiefs unterstellt.83 Ein spezieller und notwendigerweise externer Lehrer vermittelte den Heranwachsenden Kriegslieder, verschiedene militärische Übungen und Taktiken.84 Die dazugehörige Maske des Lehrers, die für kriegerisch-maskuline Stärke steht, war entsprechend die wichtigste Poro-Maske und durfte keinesfalls je von Frauen gesehen werden. Zudem war dies auch diejenige Maske, die für Rechtsprechung, Körperstrafen oder gar beschlossene Exekutionen von den Entscheidungsträgern getragen wurde. Daher kam die Maske auch häufig mit Blut in Kontakt, das durch Beschneidungen, rituelle Vernarbungen oder getötete Feinde bzw. Verbrecher ausgetreten war.85 Krieg als Gewalt nach außen sowie Körper- und Todesstrafen als Gewalt nach innen waren also auf der organisatorischen und auf der symbolischen Ebene keine absolut separaten Sphären. 82 83 84 85

George W. Harley, Notes on the Poro in Liberia, Cambridge, MA , 1941, S. 6. Ebd., S. 8. Ebd., S. 17. Carey, Ebola and Poro.

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Obwohl die offizielle Kriegführung während der Poro-Ausbildung untersagt war, ließen sich gerade die neu initiierten und im Kampf geschulten Jungen sehr effektiv zu Angriffen und Plünderungen motivieren. In Sierra Leone entwickelten sich beispielsweise die Missionsschulen zu einflussreichen Konkurrenten der Geheimbünde in Bezug auf die Mobilisierung von männlichen Jugendlichen. Sophia Neale-Caulker, ein weiblicher chief um 1900, gab einem Missionar zu Protokoll, dass in den 1890er Jahren sowohl Missionsstationen als auch die Geheimbünde ihre adoleszenten Anhänger als war boys zum Waffengebrauch und Diebstahl ermunterten.86 Gemeinschaftlicher Raub war für die Poro-Jungen häufig auch erforderlich, wenn die gespendete Nahrung durch die eigenen Angehörigen den Bedarf im poro bush überstieg.87 Auch der Zoologe Volz berichtete, dass Poro-Jungen den bush nur bewaffnet verließen: »Gleich wie man die Bundumädchen an den kleinen Antilopenhörnern (diese Antilope ist sozusagen das Wappentier der Bundu) die sie an einer Schnur um den Hals tragen, an der weißen Farbe, mit der sie den Körper beschmieren, erkennt, wenn sie ausgehen, trägt der sich noch im Porobusch befindliche junge Mann, wenn er die Stadt besucht, einen hölzern geschnitzten Speer.«88

Obwohl die Poro-Gemeinschaften häufig als traditionalistisch und transformationsresistent eingeschätzt werden, veränderten sie sich gerade während der Kolonialzeit in Westafrika erheblich. Während sie zuvor für Erwerbszweige wie Jagd und Agrikultur zuständig waren, banden sie Ende des 19.  Jahrhunderts vermehrt auch Händler der Küstenregionen in ihre Initiation ein. Diese kreolischen Akteure waren als Zwischenhändler zwischen Küste (globalisierten maritimen Räumen) und Hinterland (lokalen Produktionsstätten von Rohstoffen und Produkten) tatsächlich stark abhängig vom Zugang zu den Zirkeln der Poro-Autoritäten. Daher strebten viele Händler die Mitgliedschaft in einem Poro-Bund an, obwohl sie altersgemäß die Pubertät längst hinter sich gelassen hatten. Das System der Alterskohorte wurde dadurch um andere Zugangsformen für Angehörige externer Gesellschaften ergänzt. Gleichzeitig spielten die Zwischenhändler auch eine bedeutende  – vielleicht die fatalste  – Rolle in den kolonialgerichtlichen Prozessen gegen Poro-Angehörige. Denn sie wurden als Übersetzer, Gerichtshelfer und Hilfspolizisten eingesetzt, so dass sie durch diese Schnittstelle in der juristischen Kommunikation letztlich auch das kolonialistische Bild primitiver Kannibalen verbal zu bestätigen wussten, um ungeliebte Konkurrenten und politisch-merkantile Widersacher beseitigen zu lassen. Viele Händler bekämpften die Poro-Gemeinschaften allein aus ökonomischen Gründen, denn wann immer ein poro bush als Lager ausgerufen wurde, wurden 86 Vgl. Sophia Neale-Caulker, The Caulker Manuscripts, in: Imodale Caulker-Burnett, The Caulkers of Sierra Leone. The Story of a Ruling Family and their Times, Bloomington, IN 2010 [1920–1925], S. 171–205, hier bes. S. 193. 87 Harley, Notes on the Poro, S. 16. 88 Burgerbibliothek Bern, Privatarchive, Msshh XXIV 136.2 (27.06.1906–18.08.1906), S. 293.

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die Handelsrouten durch dieses Gebiet für Monate oder gar Jahre gesperrt und unter Androhung drastischer Strafen auch kontrolliert. Gleichzeitig wussten einige Poro-Ältere solche Handelsboykotte auch gegen koloniale Akteure und deren Forderungen einzusetzen, so dass die Küstenregionen in den 1890er Jahren immer wieder unterversorgt waren. Seit den 1850er Jahren sind solche Handelsembargos durch die Poro etwa für Holz nachgewiesen.89 Dabei war für die koloniale Elite nicht eindeutig zu klären, inwiefern solche Boykotte Nebenprodukte traditioneller Initiation waren oder von politisch intendiertem Vorgehen zeugten. Klar ist jedoch, dass die war boys der Poro an diesen Blockaden beteiligt waren und Verbindungswege absicherten. Die koloniale Wahrnehmung der Poro-Gruppen als konspirativ-antikoloniale Kräfte wurde schließlich 1898 endgültig zum vorherrschenden Denkmuster, als sich Großbritannien in Sierra Leone nach der Einführung spezieller Steuern im Hinterland qua »Hütte« (bzw. Haushalt) mit der Weigerung vieler Steuereintreiber mitzuwirken und dem zum Teil bewaffneten Widerstand der Steuerpflichtigen konfrontiert sah. Dieser antikoloniale Hut Tax War brach für die Kolonialmacht Großbritannien so überraschend aus, dass angenommen wurde, nur die translokalen Netzwerke der Poro seien zur Organisation des Widerstands imstande gewesen. Der Westafrikareisende Walter Volz notierte diese Deutung wenige Jahre nach diesem Krieg in seinen Tagebuchaufzeichnungen: »Zum Mendi-Aufstand 1898 wurde von den Häuptern der Poro Gesellschaft überall im Lande lange berichtet, an dem + dem Tage habe jeder gegen das Gouvernement aufgemischt + so geschah es […]: Waffen gegen England.«90

Letztlich besiegte das koloniale Militär die Aufständischen und ließ fast einhundert Anführer hängen, von denen viele auch Poro-Autoritäten gewesen waren. Geprägt durch diese militärische Katastrophe, wuchs das gegenseitige Misstrauen zwischen Kolonialmacht und Poro-Gesellschaften weiter an. Viele Poro-Aktivitäten wurden gesetzlich untersagt oder so stark eingeschränkt, dass die Poro-Ausbildung verstärkter Geheimhaltung und Vorsicht bedurfte, um sie vor kolonialen Organen zu schützen. Im Hut Tax War trat auch das konfliktreiche Verhältnis zwischen Missionsschulen und Poro-Klassen offen zutage. Die meisten Missionen zeigten sich loyal gegenüber der Kolonialregierung, unter deren Schutz sie standen. In diesem Krieg wussten jedenfalls beide Seiten die heranwachsenden Jungen, mit deren Ausbildung und Unterbringung sie einige Monate oder Jahre betraut waren, zur eigenen Verteidigung zu nutzen: Die Jugendlichen wurden bewaffnet, plünderten die gegnerischen Schulklassen und töteten in einigen Fällen die Schüler. Über die Missionsschule für Mädchen der United Brethren in Christ Mission in Shenge (Sierra Leone)  wurde bekannt, dass Poro-Schüler die Missionarinnen und Missionsschülerinnen auf Geheiß der Poro vergewaltigten und sogar tö89 Neale-Caulker, Caulker Manuscripts, S. 184. 90 Burgerbibliothek Bern, Privatarchive, Msshh XXIV 136.2 (27.06.1906–18.08.1906), S. 292.

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teten.91 Doch bereits vor den Ausschreitungen während dieses Krieges wurden Poro-Schüler mit Speeren oder Messern bewaffnet ausgesandt, um Nahrungsmittel und Handelsgüter zu erbeuten und dadurch die Poro-Angehörigen während der langen Ausbildungszeit zu ernähren. In den 1880er Jahren war gerade die Missionsschule in Shenge ein häufiges Opfer solcher Raubüberfälle. Küstenbewohner waren oftmals in Missionsschulen ausgebildet worden, so etwa auch der chief von Shenge, Thomas Neale-Caulker, der gleichzeitig auch die koloniale »Hüttensteuer« eintreiben sollte und daher während des Hut Tax War getötet wurde.92 Doch auch in lokalen Konflikten des späten 19. Jahrhunderts wurden PoroNetzwerke genutzt, um war boys zu mobilisieren. Solche Fälle sind gerade in Familienfehden von Händlerfamilien der Küstenregion nachgewiesen, in denen nur einige, jedoch nicht alle männlichen Angehörigen über einen Zugang zu den militärisch-personellen Ressourcen der Poro verfügten.93 Die Geheimbünde entwickelten sich unter dem Einfluss mächtiger Händlerclans verstärkt zu rein männlichen Einrichtungen, weil Familien wie die Caulkers oftmals ihre Töchter in die Missionsschulen schickten, während sie die Söhne den Poro überließen, um wichtige Kontakte mit den Händlern des Hinterlandes zu schließen.94 Über die Poro gelang es ihnen auch, die eigenen Handelswege vor Plünderungen durch war boys zu bewahren und in Konflikten schnell loyale Krieger zu mobilisieren. 3.5. Rituelle Verletzungen und Kannibalismusmetaphern

Um die zu initiierenden Kinder zu versammeln, wurden diese von maskierten Poro-Lehrern unter Androhung von Gewalt  – wohl aus einer Mischung karnevalesken Humors und tatsächlicher und disziplinierender Drohkulisse – im Zweifel auch gegen ihren Willen in den Wald gebracht. Zeitgleich wurden Kinder trotz der Abschaffung der Sklaverei Ende des 19. Jahrhunderts häufig immer noch als Pfand oder Schuldenzahlung eingesetzt. Bei kolonialen Behörden gingen viele Anzeigen wegen Kindesentführung ein, was auch bei den Prozessen gegen die sogenannten Leopardenmänner mitverhandelt wurde. Beispielsweise ließ sich in den 1880er Jahren ein muslimischer Gelehrter aus einer islamisierten Region Westafrikas im oben genannten Shenge nieder, wo er vom lokalen chief in die Politik eingebunden wurde und außerdem Schüler in Koranstudien ausbildete. Er betrat angeblich verbotenerweise als nicht Initiierter den dörf91 Die drei Missionarinnen Dr. Marietta Hatfield, Dr. Mary C. Archer und Ella M. Scherick wurden während des Hut Tax War getötet. Vgl. Caulker-Burnett, The Caulkers of Sierra Leone, S. 75. 92 Ebd., S. 118–122, 148. 93 Ebd., S. 142. 94 Ebd., S. 128 f.

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lichen poro bush, woraufhin die Poro-Autoritäten einen seiner Schüler in den Poro-Wald brachten. Der Muslim verlangte den Jungen zurück, wurde jedoch von der Poro-Gesellschaft festgehalten, bis der chief von Shenge ihnen zur Wiedergutmachung des Tabubruchs durch den Koranlehrer eine Entschädigungssumme zukommen ließ: »The porrohmen, in turn demanded that a fine be paid by him [Shenge chief] because the stranger had violated the porrohlaw by going into the bush.«95 Im November 1910 verhandelte ein Gericht den Fall des etwa zehnjährigen tot aufgefundenen Mädchens Satta im Verwaltungsdistrikt Ronietta (Sierra Leone). Angeblich hatten zwei nicht initiierte Männer  – darunter der wegen Mordes angeklagte Kainwo – zufällig eine Versammlung von Poro-Mitgliedern im Wald entdeckt; sie seien daraufhin erst nach einem Schwur der Geheimhaltung wieder freigelassen worden. Später habe man dazu aufgerufen, dass ein Kind der Geheimgesellschaft geopfert werden müsse, und die Wahl fiel auf Satta. Sie wurde nach Zeugenberichten von einem Mann im Leopardenfell aus ihrem Dorf entführt: »I saw a man with a leopardskin down to his waist […]. He was carrying Satta into the bush.«96 Diese Beobachtung bestätigten laut gerichtlicher Dokumentation gleich mehrere Zeugen sowie mitangeklagte PoroAngehörige. Der Angeklagte Kainwo erklärte, er habe Satta lediglich aus dem Wald befreien wollen: »I followed the marks made by the leopard dragging the child.«97 Was Satta nach ihrer Entführung zustieß, ist aus den Zeugenaussagen nicht einmal annäherungsweise herauszulesen. Es bleibt völlig unklar, was mit »Opferung« oder »kannibalischer Verspeisung« gemeint sein könnte. Ebenso wenig herrscht in den Aussagen Klarheit über die Spezies bzw. die Transformation des Kidnappers, der mal als wirklicher Leopard, welcher beim Rückzug in den Wald tierliche und nicht etwa menschliche Abdrücke hinterließ, mal als Mensch in einem Leopardenfell beschrieben wurde. Sicher schienen sich die Zeugen nur über die Tatsache, dass nicht ein völlig normaler Mensch diese Tat vollbracht haben konnte, sondern eine bestimmte Verwandlung der Entführung des Mädchens vorausging. Sattas Leiche gelangte später zum kolonialen medical officer des Distrikts und wurde von ihm untersucht. Sie wies am ganzen Körper Wunden auf, die aus jeweils drei parallelen Kratzern bestanden. Der Gerichtsmediziner sagte aus: »The punctured wounds on the face and arms might have been caused by a leopard’s claw but I think it is very unlikely, as there was no laceration except on the face.«98 Als tödliche Verletzung vermerkte er jedoch eine Schnittwunde im Bauchbereich, über welche die Eingeweide des Mädchens aus dem Körper 95 Neale-Caulker, Caulker Manuscripts, S. 188. 96 Hier musste aufgrund der Reisesicherheit in Sierra Leone zunächst auf die unvollständige Transkription der Zeugenaussagen in diesem Fall von Kalous zurückgegriffen werden. Siehe Milan Kalous, Cannibals and Tongo Players of Sierra Leone, Auckland 1974, S. 63. 97 Ebd., S. 64. 98 Ebd.

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herausgezogen worden waren. Für diesen Mord wurde Kainwo zusammen mit einem weiteren Mitangeklagten schließlich zum Tode verurteilt. Bei den meisten dieser Prozesse wegen angeblicher Ritualtötungen ging es um verstorbene Kinder, die zuvor freiwillig in den poro bush mitgegangen oder gewaltsam dorthin gebracht worden waren. Dass ihr Tod jedoch absichtlich herbeigeführt worden war, kann allein auf Basis sehr wenig verlässlicher und zum Teil mehrfach übersetzter Zeugenaussagen nicht bestätigt werden, obwohl dies im Sinne der britisch-kolonialen Richter als grausame, aber einleuchtende Version erschien. Denn tatsächlich trat der »natürliche« Tod nach Infektionen durch die genitale Beschneidung sowie rituelle Verwundungen und Vernarbungen während der Seklusionszeit häufiger auf als während anderer Phasen in diesem Lebensalter. Auch dem Reisenden Volz waren solche Todesfälle nach Wundinfektionen bekannt: »In Folge von Krankheit od. in Folge der Beschneidung kann es vorkommen, daß Mädchen od. Porojünglinge während ihres Aufenthaltes im Busch sterben. Ihren ­Eltern wird die Tatsache oft lange nicht mitgeteilt. Der od. die Tote wird von den Angehörigen der Gesellschaft im Walde begraben + das Grab als solches unkenntlich gemacht + den Angehörigen nicht gezeigt.«99

Zum Eintritt in die Initiationsphase mussten die Jungen während der schmerzvollen Operation unter Beweis stellen, dass sie ihren Körper und ihre Emotionen beherrschen konnten. Die Genitalbeschneidung war daher der erste körperliche Eingriff, der im poro bush vorgenommen wurde. Damit war die Initiation jedoch keineswegs abgeschlossen, denn diese Operation markierte erst den Beginn der Transformation, die durch rituelle Vernarbungen mit bestimmten Mustern auf der Haut vollendet und durch eine spirituelle Ausbildung begleitet wurde. Die Beschneidung der Jungen und der Mädchen wurde direkt in Verbindung gesetzt, da die abgetrennte Vorhaut der Männer an den Frauenbund und die entfernten Teile der Klitoris an die Poro übergeben wurden.100 Dieser Eingriff konnte aufgrund von Blutverlust und Infektionen bei beiden Geschlechtern tödlich verlaufen, und wegen der Verwendung nicht steriler Messer für ganze Beschneidungsjahrgänge war die Infektionsrate mitunter hoch. Von einigen Gebieten wurde berichtet, dass beim Auftreten von Infektionskrankheiten im poro bush die Leichen verstorbener Jungen verbrannt wurden, um eine Epidemie zu verhindern.101 Immer wieder gaben Zeugen der kolonialen Mordprozesse zu Protokoll, dass sie als Mitglieder der Geheimgesellschaft der Poro eines ihrer Kinder zu Zwecken des Rituals und »Kannibalismus« für die Gesellschaft opfern müssten. Auf genauere Nachfragen hin erläuterten die Zeugen, dass das menschliche Fett dieser geopferten Kinder für die Aktivierung eines Fetisches des Namens B ­ orfima 99 Burgerbibliothek Bern, Privatarchive, Msshh XXIV 136.2 (27.06.1906–18.08.1906), S. 293. 100 Harley, Notes on the Poro, S. 15. 101 Ebd., S. 16.

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benötigt werde. Einerseits bestätigten solche Aussagen vor kolonialen Gerichten vorhandene stereotype Wahrnehmungen der britischen Beamten über rückschrittlich-afrikanische Gesellschaften. Andererseits verwiesen sie jedoch auch auf Gerüchte und vage Vermutungen besorgter Eltern darüber, was während der Poro-Seklusion genau passierte, welches Wissen weitergegeben wurde und welche rituellen Handlungen im sogenannten poro bush praktiziert wurden. Daher ist es sprachlich kaum möglich, zwischen physischen Handlungen und Metaphorik sowie transzendenter Bedeutungsebene trennscharf zu unterscheiden. Schon der Eintritt der Jungen in den abgesperrten Abschnitt im Wald wurde als Gefressenwerden durch ein Raubtier inszeniert, worauf nach einer prekären Phase des Todes während der Initiationszeit zum Austritt aus dem Wald die Wiedergeburt als Erwachsener folgte. Für den rituellen Tod wurde häufig Tierblut verwendet, um die Szene noch realistischer darzustellen.102 Wenn besorgte Eltern den Kolonialbeamten gegenüber also vom Tod ihrer Kinder durch die Poro sprachen, so konnten sie sich folglich auf den metaphorischen Tod der Kindheit als Lebensphase beziehen. Während des Aufenthalts im bush, so erläuterte man, befänden sich die Jungen im Bauch des Geistes bzw. eines Tier-Mensch-Mischwesens. Dort müssten sie sich weiterentwickeln bis zur Wiedergeburt, die durch eine rituelle Waschung, die Körperbemalung und die feierliche Rückkehr ins Dorf markiert wurde.103 In manchen Regionen wird dieses Mutterwesen als Leopardengeist bezeichnet. Dieser steht in der Regel für Kriegführung, Bestrafung und Gewalt jeglicher Art. Außerdem fügt dieser den Jungen, so heißt es, mit seinen »Krallen« die rituellen Narben bei; dadurch könne er sie als erwachsene Männer gebären.104 In jener todesgleichen Zwischenphase im poro bush waren körperliche und seelische Risiken zu überwinden, die mit starken Schmerzen verbunden waren. Neben der Beschneidung betrifft dies auch rituelle Vernarbungen und Tätowierungen. Spezielle Masken, die während der Beschneidung und der Tätowierung getragen wurden, deuteten sogar durch einen geöffneten Mund mit gespitzten Lippen an, dass die Jungen nicht schreien, sondern tief atmen sollten, um die Prozedur standhaft zu überstehen.105 Die Poro-Priester, die für diese rituellen Verletzungen zuständig waren, waren häufig in weiten Regionen bekannt und wurden als externe Experten zu lokalen Poro-Seklusionen hinzugezogen. Auch Mädchen konnten zu solchen Priestern ausgebildet werden, mussten dann jedoch eine männliche Identität annehmen und im poro bush als Jungen sozialisiert werden, weil es Mädchen in ihrer geschlechtlichen Rolle nicht erlaubt war, in Kontakt mit der spirituellen Welt zu treten. Daneben sollen auch schmerzhafte Körperstrafen angewendet worden sein, um die Jugendlichen zu disziplinieren. Diese strenge Ausbildung sowie die Tatsache, dass die Leichen 102 103 104 105

Ebd., S. 3, 13 f. Ebd., S. 17. Ebd., S. 26 f. Carey, Ebola and Poro.

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verstorbener Poro-Jungen nicht an deren Familien ausgehändigt und keine Informationen zu dem Verbleib ihrer Körper bzw. dem Ort der Gräber weitergetragen wurden, beflügelten Gerüchte und mythische Deutungen über rituelle Tötungen und das Verspeisen der Getöteten, gerade weil die Opferung von Hühnern und anderen Tieren für sehr viele Poro-Aktivitäten notwendig war.106 Angeblich drohte man den Jungen nach Ankunft im poro bush mit dem Tode, sollte jemand den Frauen die Geheimnisse der Poro berichten; den Jungen wurden demnach zur Warnung abgetrennte Körperteile von Vorgängern gezeigt, die sich nicht an die Regeln gehalten hatten. Festzuhalten ist nur, dass wann immer ein Junge im poro bush oder eine der Poro-Autoritäten starb, eine gewöhnliche Bestattung und Trauer nicht erlaubt waren.107 Die Todesumstände und den Todeszeitpunkt galt es dann dauerhaft geheim zu halten. 3.6. Elterlicher Widerstand gegen die Poro-Gesellschaften

Die Geheimhaltungsmechanismen wirkten für bestimmte soziale Funktionen zwar stabilisierend, konnten jedoch auch zu enormen innerfamiliären Spannungen zwischen den Generationen führen. Dies wurde besonders dadurch verschärft, dass in Sierra Leone ab Mitte des 19.  Jahrhunderts ganz verschiedene Optionen der Ausbildung, Sozialisierung und beruflichen Migration oder auch Verschleppung im legalen und dann illegalen Sklavenhandel bestanden. Das hatte wiederum zur Folge, dass die Väter der Poro-Jungen nicht unbedingt selbst diese Ausbildung und Initiation durchlaufen hatten. Viele Eltern waren daher besonders misstrauisch und weigerten sich, den Poro ihre Kinder zur Ausbildung zu überlassen. Die Väter fürchteten möglicherweise auch eine starke Diskrepanz an Wissen und Erfahrung über die Poro im Vergleich mit ihren Söhnen und wollten einer solchen Entfremdung entgegenwirken. Ein kolonialer Gerichtsprozess von 1912 zum Tod eines Poro-Jungen kann diesen Konflikt anschaulich verdeutlichen: Im sierra-leonischen Dorf Kale wurde der Sohn eines Bauern von Poro-»Geistern« zur Initiation in den Wald verschleppt. Bald schon beschwerte sich der Vater bei den Poro-Anführern und verlangte, der Sohn solle nicht monatelang im Wald leben, da er für die Arbeit auf den Feldern gebraucht werde. Man vereinbarte, dass drei Jungen in einer Hütte nahe ihrem Heimatdorf schlafen dürften und nur dann zur Feldarbeit eingesetzt werden sollten, wenn keine Frauen und Mädchen sie dabei sehen könnten. Nach einigen Nächten kam aber – laut Aussage der beiden überlebenden Jungen – ein mit einem Leopardenfell maskierter Mann mit einigen Begleitern zu dieser Hütte und erstach einen der Jugendlichen mit einem Messer in der Halsregion. Die Mörder verschwanden, die Angehörigen der Opfer bestatteten das Kind und 106 Harley, Notes on the Poro, S. 9. Harley schenkte auch den Gerüchten Glauben, dass die Poro-Autoritäten Verbrecher hinrichteten und dann gemeinschaftlich aufäßen. 107 Ebd., S. 12.

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nahmen den beiden überlebenden Jungen das Versprechen ab, bei Nachfrage immer auszusagen, ein Leopard (also ein Tier) habe ihren Freund getötet. Die Richter ließen sich von den Jungen die Verletzungen erklären und folgerten daraus, dass der Angriff nicht durch einen realen Leoparden erfolgt sein konnte. Damit konfrontiert, widerriefen der mitangeklagte Vater des Getöteten und die zwei Überlebenden ihre Aussagen und bezichtigten stattdessen die Poro-Männer der Tat. Das Gericht verurteilte schließlich zwei der drei angeklagten Männer, die Vertreter der Leopardenmänner gewesen seien. Wenige Wochen später wurden sie öffentlich gehängt. Die verurteilten Mörder behaupteten bis zuletzt, das Opfer sei von einem Leoparden getötet worden. Die Schuld liege bei jenen, die den Jungen erlaubt hatten, entgegen den Verboten als Poro-Schüler den Poro-Wald zu verlassen, wo man eben ungeschützt Leopardenangriffen ausgesetzt sei. Andere Zeugen räumten ein, jemand habe echte Leoparden nur instrumentalisiert, um den Jungen zu töten.108 Auf der Basis der widersprüchlichen, gerichtslinguistisch mehrfach übersetzten und verformten Aussagen und Beschuldigungen kann der Tathergang nicht rekonstruiert werden. Jedoch verdeutlicht dieser Fall, dass Eltern die Poro-Ausbildung für ihre Kinder zunehmend in Frage stellten, die damit verbundenen Normen zu unterwandern und die Poro-Akteure dennoch vor Gericht zu schützen versuchten. Angesichts der unklaren Beweislage verschoben sich in den kolonialen Gerichtsprozessen allerdings die Machtverhältnisse zugunsten der Poro-Jungen und ihrer Übersetzer, deren Anschuldigungen die Hinrichtung von Poro-Autoritäten zur Folge hatten. Die überlebenden Jungen nannten erst einen Leoparden als Mörder, auch die Poro-Angeklagten stellten diese Behauptung auf. Die Schuld wurde so dehumanisiert, auf Tiere verlagert und damit  – zumindest in den Augen kolonialer Richter, soweit wusste man die Kolonialherrscher einzuschätzen – zu einem Unglücksfall der natürlichen, nicht aber der menschlichen Normensphäre. Erst als der Vater des toten Jungen selbst eine Strafe zu befürchten hatte, trugen er und die beiden überlebenden Jungen eine andere Version vor, die schließlich zur Hinrichtung der PoroAngehörigen führte. 3.7. Poro und Gewalt

Die Poro-Geheimgesellschaften Westafrikas waren als primär männliche Organisationen für viele gesellschaftliche Belange zuständig, wobei sich die Ini­ tiation von Jungen in einer längeren Seklusionsphase während der Kolonialzeit zu einer der umstrittensten Aufgaben dieser Gemeinschaften entwickelte. 108 Siehe dazu die Memoiren eines der beteiligten britischen Kolonialrichter in Kenneth James Beatty, Human Leopards. An Account of the Trials of Human Leopards Before the Special Commission Court. With a Note on Sierra Leone, Past and Present, London 1915, S. 27–35.

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Indem dort die Jugendlichen auch als Krieger ausgebildet und eingeschworen wurden, sicherten sich die Poro auch die militärische Unterstützung der künftigen jungen Männer. Umfassende und vor allem gemeinschaftlich organisierte Wehrfähigkeit als Krieger war ein wesentlicher Teil  des Verantwortungsbereichs erwachsener Männer. Dieser Anspruch auf die Vermittlung von Gewaltpraktiken und Gewaltwissen wurde in der Kolonialzeit in Sierra Leone durch eine zunehmende Normenkonkurrenz herausgefordert. Wie erwähnt, mobilisierten christliche Bildungseinrichtungen beispielsweise ihre Missionsschüler, während sich die Poro auf ihre war boys stützten, die zum Training als Mutprobe und aus ökonomischen Zwängen heraus plünderten und Händler oder Missionen angriffen. Die Konkurrenz um die Ausbildung und Sicherung der Loyalität der männlichen Heranwachsenden verschärfte sich dann Ende der 1890er Jahre durch den Hut Tax War, weil die Missionen zum britischen Kolonialstaat hielten und die Poro eng mit dem antikolonialen Widerstand verflochten waren. Aber lange vor diesem Krieg hatte die Geheimhaltung bestimmter Riten und bestimmten Wissens die Poro auf die Seite der Opposition gegen den Staat gestellt. Doch übten die Poro nicht nur exogene, sondern auch endogene Gewalt aus – etwa zur Bestrafung von Verbrechen. Sicherlich kam es dabei auch zu Hinrichtungen, wobei zu Kannibalismusmythen ein kritischer Abstand eingenommen werden muss. Wenn erwachsene, noch nicht initiierte Männer nachträglich in die Poro-Gemeinschaft aufgenommen wurden und dafür ein Kind »geopfert« werden musste, kann damit ganz einfach gemeint gewesen sein, dass ein Kind zur dauerhaften Ausbildung an die Poro abgegeben werden musste. Warum es zum Tod von Kindern im poro bush kam, kann wohl in vielen Fällen durch schwere Infektionen in Folge von operativen Eingriffen während der Initiation erklärt werden. Die Gerichtsprozesse legen indes deutliche Konflikte zwischen Poro-Autoritäten und besorgten Eltern offen, die ihre Kinder möglicherweise vor gefährlichen operativen Eingriffen und kriegerischen Verwicklungen schützen wollten oder sich schlicht weigerten, die Kontrolle über ihre Nachkommen gänzlich abzugeben, deren Zustand ihnen vorerst verborgen blieb. All die genannten »blutigen« Praktiken von der Beschneidung bis hin zur Tötung im Kampf verlangten nach besonderer Vorbereitung, nach Unterweisung durch priesterliche Autoritäten und nach metaphorischen Sprachregelungen. Die Poro verweisen trotz ihrer lokalen Akzeptanz als normative Instanzen auf sehr dynamische Tabuisierungsprozesse von gemeinschaftlicher Gewalt. Man könnte wie Jan Philipp Reemtsma behaupten, dass Gewalt hier »nicht spricht«.109 Und wenn das Kommunizieren über und durch Gewalt in der Ausbildung unumgänglich war, so wurde dies durch strenge Geheimhaltung geschützt, und es wurden ferner Möglichkeiten geschaffen, Gewaltwissen zu vermitteln, ohne konkrete Täter und Schuldige zu nennen. Die Gewalt zu lernen bedeutete auch die Transformation zwischen zivilem Mann und tierlich-spiri109 Jan Philipp Reemtsma, Die Gewalt spricht nicht. Drei Reden, Stuttgart 2002.

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tuellem Krieger zu lernen. Es galt das Wissen über Gewalt sowie Regeln der Gewalt in einer Metamorphose zwischen Kind und Mann, zwischen Mensch und Tier zu internalisieren.

4. Gewalt lernen! Gewaltgemeinschaften wurden in diesem Beitrag diskutiert als Instanzen der Gewaltsozialisation und des Gewaltlernens. Gewaltgemeinschaften verwalten das Wissen um die Gewalt, und sie geben es weiter an neue Mitglieder und andere Generationen. Gewaltgemeinschaften dienen nicht nur dazu, Gewalt auszuüben, sondern erst einmal dazu, Gewalt  – und eventuell auch Grausamkeit – zu erlernen, durch Austausch, Übung, Taten, Erfahrung, Erzählung und Erinnerung. An den hier vorgestellten Fallbeispielen wurde deutlich, dass Gewaltgemeinschaften eine mehrfache Funktion im Prozess des Erlernens von Gewalt hatten, oder anders ausgedrückt: Das Lernen von Gewalt erfolgte in drei Schritten. Dazu gehörte es erstens, Wissen zu erwerben, wann, wozu und wie Gewalt angewendet wurde und anzuwenden war; zweitens gehörte dazu zu üben, wie Gewalt angewendet, wie sie aber auch kaschiert und geheim gehalten werden konnte. Drittens ging es darum zu bewerten, wie Gewalt angewendet wurde, wer Gewalt angemessen angewendet, was Gewalt bewirkt hatte. Auch Erinnerungskultur und Mythosbildung waren Teil dieses Bewertungsprozesses, für den gerade die Gemeinschaft von grundlegender Bedeutung war. Gewaltgemeinschaften sicherten und vermittelten Wissen, sie schützten das Geheimnis und damit die Besonderheit der Praktiken und die Auserwähltheit der Mitglieder; das hob nach außen ihren Nimbus. Und sie garantierten die Loyalität und Gewaltbereitschaft der Mitglieder, die sich als Sachwalter der gemeinschaftlichen Interessen etwa der jeweiligen Ethnie oder Gesellschaft verstehen und dabei dennoch, oder gerade deshalb, ebenso ihre Gruppenloyalität als handlungsleitend etablieren konnten. Nebeneffekt war freilich, dass sich die Gewaltgemeinschaften als privilegierte, mit Arkanwissen versehene, mit der Vertretung von Gemeininteressen beauftragte Personen verstehen konnten. Das bestärkte ihren inneren Zusammenhalt, konnte allerdings auch zu Entfremdungsprozessen in ihrem gesellschaftlichen Zusammenhang führen. Handelte es sich bei den so betrachteten Gewaltgemeinschaften und ihren Aktionen um Folgen defizitärer Staatlichkeit oder sogar um Ordnungsmodelle in staatsfreien Räumen? Vielleicht auch, aber das erklärt die Phänomene nicht hinreichend. Eher würde der Begriff der Normenkonkurrenz hier sowohl in Bezug auf das Generationensystem wie auf die Geheimbünde erklären, wann und warum die Gewaltgemeinschaften aktiv wurden, wann und wie latentes Gewaltpotential aktiviert wurde. Nicht Staatsfreiheit, sondern Ordnungs­ unsicher­heit erklärt demnach Schwankungen der Gewaltphänomene in Afrika im 19.  und 20.  Jahrhundert. Die Umbrüche des 19.  und 20.  Jahrhunderts bestärkten Versuche der Rekonstruktion von Ordnung. Dabei ging es nicht da-

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rum, Unordnung zu nutzen, sondern bedrohte Ordnungsmodelle zu verteidigen oder alternative zu etablieren. In Krisen- und Umbruchszeiten wurden Gewaltgemeinschaften unterschiedlichen Charakters aktiv, wurde Erlerntes genutzt, wandelte sich die Gewalt auch und musste Neues erlernt werden. Manchmal explodierte die Gewalt bis hin zur Grausamkeit – für Beobachter von außen schwer verständlich, aber doch einer Logik folgend. Nicht die Hypothese einer Schwäche des Gewaltmonopols und gewaltoffener Räume als Bedingung des Agierens von Gewaltgemeinschaften, wie oft angenommen, spielt in der Perspektive des bisher Gesagten die entscheidende Rolle. Wichtiger ist, wie Wissen um und von Gewalt gespeichert, gedeutet, transformiert, weitergegeben und genutzt wurde. Dadurch entstanden translokale und transtemporale Verbindungen, und daraus erklären sich räumliche Verteilung und zeitliche Konjunkturen der Gewalt.

Christine Hardung

Zur Rolle der Religion in (imaginierten)1 Gewaltgemeinschaften Mauretaniens und des südwestlichen Afrika (19./21. Jahrhundert) Dieser Beitrag geht der Bedeutung des Religiösen für die soziale Ordnung und Prozessualität von gewaltausübenden oder als gewaltbereit imaginierten Gruppen nach. Er schlägt einen Bogen vom südwestlichen Afrika des 19. Jahrhunderts nach Mauretanien im 21. Jahrhundert und wird sich im Rahmen einer Typologie der Gewaltgemeinschaften mit zwei Organisationstypen befassen: der charismatischen Gewaltgemeinschaft in ihrer spezifischen Verbindung von charismatischer Führung und Enttraditionalisierung und der imaginierten Gewaltgemeinschaft, die hier ebenfalls Züge charismatischer Führung trägt. Im Mittelpunkt stehen aus vergleichender Perspektive zwei charismatische leader und ihre Anhängerschaften, deren abweichendes Verständnis von der jeweils vorherrschenden Religionsausübung (Christentum/Islam) zum konstitutiven Moment der Gruppenbildung wird. Anhand der Gewalt ausübenden prophetischen Bewegung Hendrik Witboois und der von Teilen der maurischen Bevölkerung freier Herkunft als gewaltbereit vorgestellten mauretanischen Anti-SklavereiBewegung Initiative de Résurgence du mouvement abolitionniste en Mauritanie (IRA) wird es ferner um die Frage gehen, wie sich Gemeinschaft und (imaginiertes) Gewalthandeln unter den Bedingungen der Orientierung an einer charismatischen Idee verändern. Den Witkam, Hendrik Witboois Anhängerschaft, gehörten neben den Witbooi (/Khobesin) auch Mitglieder anderer Nama/Oorlam-Gruppen an, die sich in politisch militärischen Einheiten, sogenannten komandos organisierten und im vor- und frühkolonialen Namibia faktische Gewaltgemeinschaften bildeten. Die IRA unter der Führung Biram Dah Abeids, zu deren Anhängerschaft überwiegend Hratin, frühere Sklaven und Nachkommen von Sklaven2 der mau1 Da dieser Beitrag zum einen von einer de facto Gewalt ausübenden Gemeinschaft handelt und sich zum anderen mit einer Gruppe befasst, der potentielle Gewaltbereitschaft zugeschrieben wird, die aber ihrem Selbstverständnis nach dem Prinzip der Gewaltfreiheit folgt, ist ›imaginert‹ im Klammern gesetzt, wenn vergleichend von beiden Gemeinschaften die Rede ist. 2 In der herkömmlichen maurischen Gesellschaft wurden als Hratin befreite Sklaven und Nachkommen von Sklaven bezeichnet. In einer Redefinition der sozialen Kategorie ›Hratin‹, wie sie auch die IRA vornimmt, wird heute die Statusgruppe der Sklaven (abd’) in den Terminus mit eingeschlossen. Siehe auch Roger Botte, Esclavages et abolitions en terres d’islam. Tunisie, Arabie saoudite, Maroc, Mauritanie, Soudan, Waterloo (Belgien) 2010, S. 195.

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rischen Gesellschaft, zählen, stellt eine imaginierte Gewaltgemeinschaft dar. Imaginierte Gewaltgemeinschaften werden hier als soziale Kollektive, Gruppen und Bewegungen definiert, denen auf der Grundlage von Gewaltphantasien Gewalttätigkeit als grundlegende Eigenschaft und Gefahr zugeschrieben wird oder die sich in Abhängigkeit von dieser Zuschreibung und ihrer Spiegelung als Drohung vergemeinschaften.3 Auch wenn die 2008 gegründete IRA inzwischen wohl tausende von Mitgliedern zählt, bildet sie eine Gemeinschaft innerhalb der Gruppe der Hratin,4 von denen sich vor allem jene von der IRA distanzieren, die sich der maurischen Kultur zugehörig fühlen und gleich ihren früheren Herren die von der IRA und anderen Menschenrechts- und Anti-Sklavereiorganisationen in ihrem Fortbestehen angeprangerte Sklavereiproblematik im heutigen Mauretanien negieren. Im Unterschied dazu umfasste die Witbooi-Bewegung nahezu die gesamte Gruppe der Witbooi. Bei dieser und aller weiteren Verschiedenheit der hier vorgestellten Bewegungen lassen sich aber auch einige Gemeinsamkeiten hervorheben: Die Macht des Imaginären, Vorstellungs- und Überzeugungskraft, sind konstitutive Merkmale beider Typen von (imaginierten) Gewaltgemeinschaften. Beide Gruppen gehen aus ephemeren Gebilden von frontier-Gesellschaften hervor, in denen Beweglichkeit, Anpassung und Bereitschaft zur Innovation zu den Überlebensstrategien zähl(t)en. Während die Oorlam, zu denen die Witbooi gehören, sich im gewaltoffenen Raum der nördlichen Kapprovinz im Grenzgebiet zum heutigen Namibia herausbildeten,5 bewohnen die Hratin keinen geographischen Grenzraum. Doch bewegen sie sich, in Mauretanien weder der arabisch berberischen Bevölkerung noch den subsaharischen Bevölkerungen der Senegal-Flussregion gänzlich zugehörig, als »ambivalente Dritte«6 in einem sozialen Grenzraum. Fundamentale Gewalterfahrungen waren und sind bestimmend sowohl für die Hratin als Nachkommen von Sklaven (ab’d) als auch für die Oorlam als zunächst kleine Gruppen von Grenzkriegern, die sich aus Desserteuren, entlaufenen Sklaven und vor der expansiven burischen Besiedelung geflüchteten Khoisan zusammensetzten. Wie sich im Folgenden zeigen wird, standen für die Herausbildung der beiden Bewegungen zwei zentrale Geschehnisse in unmittelbarem Zusammenhang mit einer emotionalen Erschütterung ihrer beiden charismatischen Führer. Die affektive Seite des Weberschen Charismabegriffs7 findet sich hier belegt. 3 In das Konzept der imaginierten Gewaltgemeinschaft sind Überlegungen von Trutz von Trotha eingegangen. 4 Die Hratin machen etwa fünfzig Prozent der mauretanischen Bevölkerung aus. Präzise demographische Angaben sind nicht vorhanden. Auch zur Größe der IRA liegen keine genauen Zahlen vor. 5 Siehe Tilman Dedering, Hate the Old and Follow the New. Khoekhoe and Missionaries in Early Nineteenth-Century Namibia, Stuttgart 1997. 6 Zygmund Bauman, Moderne und Ambivalenz, Hamburg 2005, S. 282. 7 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundrisse der verstehenden Soziologie, Tübingen 51980.

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1. Wendepunkte im Entstehungsprozess von (imaginierten) Gewaltgemeinschaften Prophetische Bewegungen reflektieren gesellschaftliche Umbrüche und politi­ sche Krisen,8 wie sie auch das südwestliche Afrika im 19. Jahrhundert kennzeich­ neten. Hier sei nur knapp auf die Veränderung der wirtschaftlichen Grundlagen der Nama/Oorlam-Gruppen in Zusammenhang mit den Transformationen ihrer Werteordnung hingewiesen. Die meist von Gewalt begleiteten Viehrazzien, eine der wichtigsten Einnahmequellen dieser Gruppen im 19. Jahrhundert,9 waren aus christlicher Perspektive moralisch verwerflich und faktisch durch den von den Europäern immer schärfer kontrollierten Waffenhandel mit dem Kap im Laufe des 19. Jahrhunderts immer mehr erschwert worden. Um ihre Schulden bei den Händlern zu bezahlen, sahen sich die Nama/Oorlam-Oberhäupter (Kapteins) in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zunehmend gezwungen, Land zu verkaufen. Die Verknappung von Land, auf dem sich die Wasserstellen befanden, gefährdete unter anderem den Viehbestand, die ökonomische Basis für Tausch und Kauf von Handelsgütern, vor allem Waffen und Munition, und verschärfte die kriegerischen Konflikte mit den Herero wie auch der Nama/ Oorlam untereinander. Die prophetische Botschaft, die Hendrik Witbooi erhielt, steht in unmittelbarem Zusammenhang mit einem dieser kriegerischen Ereignisse. 1880 kam es zu einer gewaltsamen Auseinandersetzung zwischen Herero- und Nama/ Oorlam-­Viehhirten mit mehreren Toten auf beiden Seiten. Sie endete mit dem Befehl des Herero-chiefs Kamaharero, alle sich auf seinem Gebiet aufhaltenden Nama/Oorlam zu töten. Etwa zwanzig Nama/Oorlam, die in friedlicher Absicht zum Pferdehandel in den Ort Okahandja gekommen waren, wurden ermordet.10 Der Vorfall löste in den 1880er Jahren eine Reihe von kriegerischen Konflikten zwischen Nama/Oorlam und Herero aus und, unter der Beteiligung von San und Damara, eine intensive Phase von Viehrazzien.11 Hendrik Witbooi, der sich zum Zeitpunkt des Tötungsbefehls Kamahareros ebenfalls in der Region aufgehalten hatte, kam knapp mit dem Leben davon und 8 Siehe etwa Michael Adas, Prophets of Rebellion. Millenarian Protest Movements against the European Colonial Order, Cambridge 2009 [1979] [digitally printed version]; David M. Anderson/Douglas H. Johnson (Hg.), Revealing Prophets. Prophecy in Eastern African History, London 1995. 9 Marion Wallace/John Kinahan, A History of Namibia, Cape Town 2011, S. 166. 10 Es gibt mehrere Versionen darüber, wie es zum Ausbruch dieses Konflikts kam. Eine besagt, dass sich unter dem geraubten Vieh die ›heiligen Ochsen‹ des Kamaharero befunden hätten, Tiere also, die für die Begräbnisrituale des chiefs vorgesehen und damit für das Fortleben der Gemeinschaft von hoher symbolischer Bedeutung waren. 11 Dag Henrichsen, Herrschaft und Alltag im vorkolonialen Zentralnamibia. Das Hereround Damaraland im 19. Jahrhundert, Basel 2011, S. 168; Wallace/Kinahan, History of Namibia, S. 111.

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schrieb dies Gottes Fügung zu. Wie in seinem berühmt gewordenen Tagebuch12 festgehalten, hatte Witbooi am Ausgang einer Schlucht ein Erweckungserlebnis. Es bestand in dem ihm von Gott zugewiesenen Auftrag, die südlichen Nama/ Oorlam-Gruppen zu einen und ›in das gelobte Land‹ der Witbooischen, Hereroland, das im Norden liegt, zu führen. Witbooi sammelte Gefolgschaft und brach gen Norden auf. Die kriegerischen Auseinandersetzungen mit den Herero waren jetzt religiös legitimiert.13 Auch für die »zweite Geburtsstunde der IRA«,14 wie ihre Mitglieder das folgende Geschehnis nennen, gab es einen ›Auslöser‹ in einer Zeit der Krise. Am 14.  April 2012 hatte ein mauretanischer Rundfunksender die Rede eines hohen saudi-arabischen Geistlichen, Saleh al-Maghamisi, ausgestrahlt, in der dieser den Muslimen am Arabischen Golf den Rat gab, in Mauretanien Sklaven zu kaufen, um sich mit deren Freilassung ihre Sünden vergeben zu lassen. Auf Nachfrage des Redakteurs nannte der Geistliche den genauen Kaufpreis von Sklaven. Damit hatte er indirekt das Fortbestehen der Sklaverei und die religiöse Legitimität der Institution bestätigt. Dass der Aufforderung der IRA, öffentlich Stellung zum Inhalt dieser Sendung zu beziehen, von Seiten des höchsten muslimischen Rats in Mauretanien nicht nachgekommen wurde, hatte für Empörung unter den Hratin gesorgt, die sich neben der politischen, sozialen und ökonomischen auch einer fundamentalen religiösen Diskriminierung ausgesetzt sehen. Knapp drei Wochen zuvor, am 26. März 2012, konnte die einzige bis dahin jemals wegen Sklavenhaltung inhaftierte Person schon kurz nach Haftantritt das Gefängnis wieder verlassen,15 was ebenfalls für Unmut unter den in Menschenrechtsfragen aktiven Hratin sorgte. Der Angeklagte war auf der Grundlage eines 2007 verabschiedeten Gesetzes16 verurteilt worden, das erstmals in

12 The Hendrik Witbooi papers, hg. v. Brigitte Lau, Windhoek 1995. 13 Witboois militärisch-religiöses Unterfangen tangiert Fragen nach dem Verhältnis von Christentum und Politik, allgemeiner dem Religiösen und Säkularen. Siehe hierzu Jean Comaroff/John Comaroff, Of Revelation and Revolution. Christianity, Colonialism, and Consciousness in South Africa, Bd. 1, Chicago 1991; Birgit Meyer, Christianity in Africa. From African Independent to Pentecostal-Charismatic Churches, in: Elias K ­ ifon Bongmba (Hg.), The Wiley-Blackwell Companion to African Religions, Malden, MA 2012, S. 153–170. 14 Als »erste Geburtsstunde« der IRA wird ihre Gründung im Jahr 2008 verstanden. Die Zitate im Folgenden sind mit Ausnahme derer von Biram Dah Abeid anonymisiert. Sie sind Gesprächen mit Hratin, Mitgliedern der IRA und der Bevölkerung freier Herkunft entnommen, die ich während meiner Forschungsaufenthalte 2013–2015 in Mauretanien führte. 15 Ahmed Ould Hassine war am 21.11.2011 wegen Sklavenhaltung nach Artikel 4 und 7 des Gesetzes 2007–48 zur Ahndung der Sklaverei zu zwei Jahren Haft verurteilt und am 26. März 2013 unter Auflage einer Kaution provisorisch freigelassen worden. 16 Loi n°2007–048 portant incrimination de l’esclavage et réprimant les pratiques esclavagistes. Siehe hierzu Christine Hardung, Das Gesetz n°2007–048 zur Ahndung der Sklaverei (Mauretanien), in: Inamo 61 (2010), S. 27–33.

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der Geschichte Mauretaniens Sklaverei als Straftat ahndet, aber de facto nicht angewandt wird.17 Kurz nach den beiden genannten Vorkommnissen kam es am 27. April 2012 in Riadh, einem Vorort von Mauretaniens Hauptstadt Nouakchott, zu einem Ereignis,18 das eine Zäsur in der politisch-religiösen Geschichte des Landes­ darstellen sollte. Biram Dah Abeid, der leader der mauretanischen Anti-Sklavereibewegung IRA, verbrannte mehrere islamische Rechtsschriften mit der Begründung, dass sie die Sklaverei legitimierten; darunter die im 14. Jahrhundert verfasste Schrift des Khalil ibn Ishaq al-Jundi, ein Referenzwerk in allen religiösen Ausbildungsstätten des Landes und Grundlage der sunnitisch malikitischen Rechtsschule (fiqh) in Mauretanien.19 Mit diesem Akt endete ein Freitagsgebet, zu dem sich überwiegend Hratin an einem öffentlichen Platz zusammengefunden hatten. Die Zusammenkunft stellte als solche schon eine Provokation dar: Die hier Anwesenden verrichteten an diesem Tag ihr Gebet nicht in den Moscheen, deren religiöse Obrigkeit sie für das Fortbestehen der Sklaverei verantwortlich machten. Die Ideologie der Sklaverei, so ihre Kritik, bestehe bis heute fort, weil sie ihre Legitimität und ihr juristisches Fundament in der lokalen Auslegung des Islam finde. Die Entscheidung zum großen Freitagsgebet außerhalb der Moschee, das der Bücherverbrennung voranging, hatte unmittelbar Gefühle religiöser Zugehörigkeit tangiert und war nicht von allen Mitgliedern der IRA geteilt worden. Die Gegner einer solchen im getrennten Freitagsgebet vollzogenen Distanzhandlung beschworen die Bindekraft der Religion und wollten die seltene Einheit zwischen Hratin und den Gläubigen freier Herkunft als ›im Gebet vor Gott Gleiche‹ nicht aufgehoben wissen. Dem setzten die Befürworter der Aktion die sich in der religiösen Praxis manifestierende Verfestigung sozialer Gegensätze entgegen. Sie verwiesen auf die Moschee als einen Ort der Ungleichheit, der Sklaven und ihren Nachkommen den Gebetsplatz hinter dem Vorbeter freier Herkunft zuweise. Was sich aber dem umstrittenen Freitagsgebet anschließen würde, wusste keiner der an der Debatte Beteiligten. 17 Die Sklaverei im heutigen Mauretanien ist mehrfach per Erlass abgeschafft worden, mit dem Dekret von 1905 durch die französische Kolonialmacht, ein weiteres Mal im Zuge der Unabhängigkeit Mauretaniens und seiner Verfassung von 1961, dort allerdings nur indirekt angesprochen in der Erklärung vom Recht auf Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz, und schließlich am 9. November 1980 per Ordonanz 81–234. Keiner der Erlasse hatte bei Zuwiderhandlung strafrechtliche Folgen. 18 Ich stütze mich hier auf in der IRA intern vorhandenes Filmmaterial, das die Bücher­ verbrennung in ihrem gesamten Ablauf dokumentarisch belegt, und auf in Nouakchott geführte Gespräche über den Vorfall. 19 Zur Bücherverbrennung in ihrer politisch religiösen Dimension und den ihr vorangegangenen Vorkommnissen, siehe Zekeria Ould Ahmed Salem, Prêcher dans le désert. Islam politique et changement social en Mauritanie, Paris 2013; siehe auch Roger Botte, République islamique de Mauritanie. Feu l’esclavage? Le monde, http://www.liberation.fr/ monde/2012/05/28/republique-islamique-de-mauritanie-feu-l-esclavage_821958 (Zugriff am 31.5.2012).

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Die Bücherverbrennung, »eine Geste von ungeheurer symbolischer Gewalt«,20 war keineswegs ein impulsiver, in seinen Konsequenzen unüberlegter, »wilder Akt«, »ein politischer Selbstmord«,21 wie er zunächst in Mauretanien wahrgenommen wurde, sondern war mit Bedacht gewählt.22 Dah Abeid wollte eine öffentliche und noch immer weitgehend tabuisierte Debatte über das Verhältnis von Islam und Sklaverei anstoßen, die muslimischen Gelehrten dazu bringen, sich zu positionieren und eine Fatwa zu erstellen, die in der Auslegung des Koran Sklaverei für illegitim erklärt.23 Zwei Momentaufnahmen des politisch religiösen Protestakts gingen als Ikonographie des Blasphemischen in die nationalen Medien ein: die brennenden Bücher und Dah Abeid mit dem Buch des Khalil in der Hand waren die beiden bestimmenden Bilder, die das nationale Fernsehen über mehrere Tage in Wiederholungsschleifen sendete. Dass ein Teil  der mauretanischen Bevölkerung, darunter viele der mehrheitlich schriftunkundigen Hratin, die hochgehaltene Schrift für das ›Heilige Buch‹ hielten, kam der staatlich medialen Lenkung dieses Vorfalls entgegen. Der profanen Rechtsschrift sakralen Charakter zuzuschreiben, fügte sich in die Argumentation des mauretanischen Präsidenten Mohamed Ould Abdel Aziz ein, der öffentlich erklärte, er selbst werde Biram Dah Abeid nach der Scharia richten und seinen »Akt der Apostasie« ahnden.24 Dah Abeid wurde zusammen mit einigen seiner Mitstreiter verhaftet.25 Rundfunk und Fernsehen ließen religiöse Autoritäten zu Wort kommen, die von einer »ketzerischen«, »satanischen« und »gotteslästerlichen« Tat sprachen, von »Schändung« und »Anschlag auf die heilige Religion«.26

20 Botte, République islamique de Mauritanie. Feu l’esclavage? 21 »Biram s’est suicidé politiquement par ce geste«. Moustapha Ould Limam ChafiÎ, zitiert in La Tribune, N. 593, 30.4.2012, S. 4. 22 Dieses Urteil bilde ich auf Basis einer Vielzahl von Gesprächen, die ich seit 2006 mit­ Biram Dah Abeid geführt habe. 23 Die Frage der Sklaverei und ihrer Abschaffung in Mauretanien mit Referenz auf das muslimische Recht und hier insbesondere die Konzeption einer allein gültigen »islamischen Emanzipation« als zentraler Komponente für das Verstehen der Widerstände von Teilen der Ulama (Gemeinschaft der religiösen Rechtsgelehrten) gegenüber den Forderungen der IRA nach einer Relektüre des Koran, muss hier außer Acht bleiben. Siehe hierzu ­Abdel Wedoud Ould Cheikh, Islam et esclavage en Mauritanie, unveröffentlichtes Manuskript, Metz 2009. Siehe auch Botte, Esclavages et abolitions. 24 Auf Apostasie steht nach der Scharia die Todesstrafe. 25 Dieser Passus geht zurück auf Christine Hardung, Politische Mobilisierung und das Erbe der Sklaverei in Mauretanien, in: Inamo 86 (2016), S. 21–25, hier S. 22. 26 Siehe Botte, République islamique de Mauritanie. Feu l’esclavage?

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2. Orte radikaler Entscheidungen Zündende Ideen, so Biram Dah Abeid, entstehen nur im Alleinsein. Wie dem Eremiten in der Einsamkeit der Wüste sei ihm die Eingebung, die Sklaverei legitimierende Rechtsschriften dem Feuer zu übergeben, in der Einsamkeit der Zelle gekommen, als er 2011 zum ersten Mal in Folge eines Anti-Sklavereiprotests im Gefängnis saß.27 Das Heranreifen der Idee wird hier mit einer solitären Lebensform verknüpft, die bereits die Genese des Gedankens der Bücherverbrennung in den Bereich des Sakralen rückt. Im einen Fall war die enge Zelle eines Gefängnisses, im anderen Fall die Weite des Buschlandes Ort des Rückzugs. Von Hendrik Witbooi wird berichtet, dass wenn er »einen Raubzug plante, […] er abends ins Feld zu gehen und in nächtlicher Einsamkeit eine göttliche Offenbarung abzuwarten [pflegte]. Oft blieb er mehrere Tage fort und nach seiner Rückkehr befahl er je nach erhaltenem Auftrage entweder zu satteln oder noch zu warten.«28 Witbooi, der die Lebensführung der Beutekrieger enttraditionalisierte, war gleichwohl auf performative Riten angewiesen, um das Bedürfnis seiner Gefolgschaft nach Sichtbarkeit des Transzendenten zu befriedigen. Denn auch die Nama/Oorlam, die das Christentum übernommen hatten, schienen sich keineswegs von der Vorstellung gelöst zu haben, dass einzig das Ineinandergreifen von magischen und anderweitig schützenden Praktiken, von Technik und menschlichem Einsatz eine kriegerische Unternehmung erfolgversprechend ausgehen ließ. Demgemäß wurden neue Kriegstechnologien wie das Gewehr »traditionalisiert«, d. h. in spirituelle Praktiken und rituelle Zusammenhänge integriert. Bevor ein komando auszog, wurde jetzt beispielsweise ein krähenähnlicher­ Vogel getötet, sein Herz pulverisiert und in den Gewehrlauf gegeben: Der Feind sollte die Feigheit der Krähe annehmen und beim ersten Angriff flüchten.29 Zu den die Krieg- und Razzienführung beeinflussenden Maßnahmen gehörten vor allem auch Schutz- und Abwehramulette, die die Krieger um den Hals trugen.30 Wer aber dem Witbooi-komando angehören wollte, hatte diese unter den Augen aller Kombattanten zu verbrennen.

27 Gespräch mit Biram Dah Abeid, Neapel, 28.10.2012. 28 Ludwig Conradt, Erinnerungen aus zwanzigjährigem Händler- und Farmerleben in Deutsch-Südwestafrika, hg. v. Thomas Keil, Göttingen 2006 [1905/06], S. 126. 29 Theophilus Hahn, Ein Rassenkampf im nordwestlichen Theile der Cap-Region, in: Globus 14 (1869), S. 270 f. 30 Sie finden sich als »Hölzchen« für die Khoikhoi im südlichen Afrika schon in der frühen Reiseliteratur des 17. Jahrhunderts erwähnt. So etwa bei Johann Schreyer, Reise nach dem Kaplande und Beschreibung der Hottentotten 1669–1677, in: S. P. L’Honoré Naber (Hg.), Reisebeschreibungen von deutschen Beamten und Kriegsleuten im Dienst der niederländischen west- und ost-indischen Kompagnien 1602–1797, [Bd.] VII, Den Haag 1931, S. 1–66, hier S. 32.

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Die unter Witboois komando-Führung strikt verbotenen magisch-kultischen Objekte und kriegsvorbereitenden Handlungen, die einer indigenen ›Kultur des Krieges‹ und der Razzia entstammen, mussten nun durch andere, vergleichbar expressiv-szenische Akte ersetzt werden. Gottes Schutz für raubkriegerische Unternehmungen, der an die Stelle der spirituellen Schutz symbolisierenden Amulette der Khoikhoi treten sollte, konkretisierte sich in einer von Hendrik Witbooi ostentativ vollzogenen Handlung. Sein für alle sichtbarer Rückzug in die Einöde und seine Rückkehr aus derselben brachte Gewissheit darüber, ob der Raubzug mit Gottes Segen vonstattengehen konnte. Ein weiterer Ort von zentraler Bedeutung für die Entscheidungsfindung in Hendrik Witboois religiös militärischen Unternehmungen war das Grab seines Großvaters Kido Witbooi. Solange Hendrik Witbooi in Gibeon lebte, soll er es regelmäßig in der Hoffnung auf Inspiration und Weisung aufgesucht haben.31 Witbooi schloss in seinem christlich prophetischen Identitätsverständnis und der von ihm unter seinen Anhängern geforderten ›Verinnerlichung‹ des ­Glaubens alle Praktiken seiner Krieger aus, die in der spirituellen Welt der Khoisan gründeten und auch in einem christlich geprägten Alltag noch fortbestanden. Einen zentralen Bereich der Khoisan-Religiosität32 jedoch schien Hendrik Witbooi unangetastet belassen zu haben: Er ließ den Ahnen, mit denen er selbst kommunizierte, ihren Platz in der kosmologischen Ordnung der Khoikhoi. Witbooi folgte ihrem Auftrag, mit seinen Leuten weiter nördlich in das Hereroland zu ziehen, in der Überzeugung, dass Gott ihm ein Zeichen setzen würde, wenn »die Zeit erfüllt sei« und ihm »Beginn und Ablauf dieses Werks« »offenbaren«33 werde. Mit dem Aufbruch nach Norden trat an die Stelle der unmittelbaren Interaktion mit den Toten am Grab die (göttliche) Weisung, in das gelobte Land der Väter zu ziehen. Die Stätte der Ahnenverehrung wurde deterritorialisiert und ein immanenter Akt transzendiert. Das Inkontakttreten mit Gott und den Ahnen war jetzt nicht mehr an eine rituell bestimmte Kommunikationsstätte, wie sie das Grab darstellt, gebunden.34 Über Hendrik Witbooi wird berichtet, dass er bereits als junger Mann göttliche Eingebungen und Visionen hatte. So ist in einem Missionsbericht über Hendrik Witbooi zu lesen: »Da gab es Träume und Offenbarungen, die als Befehle des Herrn ausgegeben wurden. […] Damals erklärte Hendrik, dass seine Offenbarungen nicht erst kürzlich begonnen hätten, sondern schon jener Zeit angehörten, wo sein Großvater noch Kapitän in 31 Ludwig Helbig/Werner Hillebrecht, The Witbooi, Windhoek 1992, S. 11. 32 Siehe hierzu Theophilius Hahn, Tsuni-Goam. The Supreme Being of the Khoi-Khoi, ND London 2000 [1881]. 33 Hendrik Witbooi to the Rev. Olpp, Hoornkrans, 3 January 1890, in: The Hendrik Witbooi papers, hg. v. Brigitte Lau, Windhoek 1995, S. 38. 34 Siehe Christine Hardung, God, the Warlord and the Way of Ancestors. On the Inter­ twinement of Christianity and Ancestry in Hendrik Witbooi’s Politico-Religious Mission of the 1880s (Southwest Africa), in: Civilisations 63 (2014), S. 81–98.

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Pella und er Hütejunge war. Damals habe der Herr ihm schon gezeigt, dass er noch etwas Großes ausführen müsse.«35

Doch noch fanden Witboois Offenbarungen in seiner religiösen Umgebung keine Anerkennung, blieben »privates Erlebnis«.36 Erst mit seinem Erweckungserlebnis wurden sie von seiner Anhängerschaft als religiöse Erfahrung gemeinschaftlich angenommen und einem »Wirklichkeitsbereich« zugeordnet, für den Hendrik Witbooi »Autorität beanspruchen«37 konnte. Hendrik Witbooi erwarb jetzt religiöse und zunehmend politische Autorität. Unter seiner Führung veränderten sich die sozialen Grundlagen des komandos.38

3. Beutekrieger – Glaubenskrieger Das komando entstand in der Kap-Kolonie aus der militärischen Struktur kolonialer Herrschaft und war zugleich eine Reaktion auf diese. Dazu ausersehen, die Gegenwehr der Khoisan und ihre Mittel gewaltsamer Selbsthilfe zu zerschlagen, verhalf das komando gerade umgekehrt dazu, durch Übernahme neuen, militärischen Erfahrungswissens die Gegenwehr zu perfektionieren.39 Seine institutionalisierte Form war ein positionsreiches Gefüge mit verschiedenen militärischen Graden und dem Kaptein an der Spitze. Er war mit politischer Macht ausgestattet, Kriegsherr und Razzienführer zugleich. Auf diesem Weg gingen die Grundsätze von Disziplin und Unterordnung unter eine zentrale Befehlsgewalt in die Nama/Oorlam-komandos ein; sie konkurrierten mit egalitären Mustern der Kriegführung, die auf der akephalen Ordnung der Nama basierten. Solcherweise gekennzeichnet durch einen Zwiespalt von ­Hierarchie und Heterarchie,40 ergab sich im Inneren der komandos eine Dynamik, die für die Krieg- und Razzienführung der Nama/Oorlam von Vorteil wie von Nach35 Missionsarchiv der Vereinten Evangelischen Mission, Wuppertal, Rheinische Missionsgesellschaft (im Folgenden RMG) 2.580b, Ci/2a, Nachruf für Missionar F. Rust, Auszug von Missionar H. Hegner, Berseba [ohne Datum, um 1894]. 36 Karl-Heinz Kohl, Die Macht der Dinge. Geschichte und Theorie sakraler Objekte, München 2003, S. 161. 37 Reinhold Bernhardt, Religion und Offenbarung, in: Orient-Institut Beirut (Hg.), Religion und Offenbarung. Arbeitskreis »Episteme der Theologie interreligiös«. 27.  bis 29.  April 2012. Dokumentation des zweiten Treffens, Azhar-Universität Kairo, Beirut 2013, S. 24–33, hier S. 26. 38 Zur Institution des komando siehe Brigitte Lau, Southern and Central Namibia in Jonker Afrikaner’s Time, Windhoek 1987. 39 Siehe Nigel Penn, The Forgotten Frontier. Colonist and Khoisan on the Cape’s Northern Frontier in the 18th Century, Athens 2005. 40 Siehe Christine Hardung/Trutz von Trotha, Komando und »Bande«. Zwei Formen von Gewaltgemeinschaften im südwestlichen Afrika des ausgehenden 18. und 19. Jahrhunderts in: Winfried Speitkamp (Hg.), Gewaltgemeinschaften. Von der Spätantike bis ins 20. Jahrhundert, Göttingen 2013, S. 275–296.

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teil war. Den Beutekriegern fiel es einerseits leicht, sich den mentalen Herausforderungen eines Guerillakrieges zu stellen: dem Spannungsverhältnis von Kollektivität und Individualität, dem Wechsel zwischen der Eingliederung in die Kriegshandlung der Gruppe und dem Heraustreten aus der Kampfgemeinschaft in der eigenverantwortlichen Entscheidung, die dem Moment des Einzelkampfs geschuldet ist. Doch lag gerade in der Selbstständigkeit jedes einzelnen Beutekriegers andererseits eine Gefahr. Die Krieger zogen als ein komando los, das sich unter den Befehl des Kapteins oder eines von ihm beauftragten Unterkapteins stellte. Gebot es aber die Kampfsituation oder nur einfach die Gunst der Stunde, dann brachen einzelne Teile vom komando ab, machten sich mit der bereits gewonnenen Beute davon, kehrten um oder gingen mitten im Kampfgeschehen mit ein paar Gleichgesinnten auf eigenen Beutezug. Kapteine mit geringer Führungskraft entglitt solcherweise leicht die Kontrolle über ihre Gefolgschaft und damit über den Erfolg raubkriegerischer Aktion. Auch schien, zieht man die Berichterstattung von Missionaren heran, solche Selbständigkeit immer wieder mit entgrenzter Gewalt verbunden gewesen zu sein. »Die Greuel früherer Kriege beginnen wieder. Vor etwa einem Monat schickte Jan [Jonker Afrikaner] ein Kommando Nama und Bergdamara, um von den Herero ­R inder zu rauben. Sie fanden bei Snyrivier eine große Werft der Herero und griffen diese bei Tagesanbruch an. In die Werft gefeuerte Schüsse streckten Frauen und Kinder nieder. Die Männer flohen schließlich und die Nama verfolgten die Flüchtenden. Unterdes sollen die zurückgebliebenen Bergdamara gräßlich unter den Frauen und Kindern gewütet haben. […] Die Nama waren entrüstet über diese Taten, aber die Bergdamara sagten, das sei die Vergeltung für dieselben Taten der Herero bei ihnen. Von der Beute habe ihnen Jan einen großen Teil abgenommen und diese sind dann wieder in die Berge gegangen.«41

Diese Passage ist in vielerlei Hinsicht aufschlussreich. Erstens weist sie in der Taktik des Kleinen Krieges auf die Funktionsweise eines komandos, das hier offenbar im Moment des Überfalls unter keiner zentralen Befehlsgewalt stand, sich situativ den Erfordernissen entsprechend in rascher Entscheidung aufspalten konnte und in selbstständig operierenden, in diesem Fall ethnisch getrennten Untereinheiten agierte. Zweitens verweist sie auf die Verschachtelung von Gewaltaktionen, die unterschiedlich motiviert sein konnten. Innerhalb des Beutezuges vollzog sich eine weitere Gewalttat, ein Racheakt für selbst erlittene Gewaltanwendung, der nach anderen Gewaltmitteln verlangte. Drittens findet sich hier ein Hinweis auf die Abstufungen innergemeinschaftlicher Akzeptanz von Gewalt. Die Taktik der Nama/Oorlam-Krieger grundsätzlich am frühen Morgen, wenn in den Werften alles noch schlief, einen Angriff zu starten und dabei gezielt in die Hütten der Attackierten zu schießen, findet sich verschiedentlich 41 Zitiert in Richard Vollmer, Missionar Friedrich Heidmann. Ein Pionier von Rehoboth. Sein Leben und Werk in Namibia, Adelberg 1996, S. 86.

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in den Quellen belegt. Beim Beschuss der Werften konnten auch Frauen und Kinder zu den Opfern zählen. Die Quellen legen für das 19. Jahrhundert aber ein Regelwerk nahe, das zwar situativ an Bedeutung verlieren konnte, normativ aber Frauen und Kinder von gezielter Tötungsabsicht auszunehmen schien. Gleichwohl finden sich von Nama/Oorlam-komandos praktizierte Verstümmelungen an Frauen und Kindern in den Missionsquellen beschrieben, so etwa beim Überfall von Jonker Afrikaners Gefolgschaft auf die Missionsstation Schmelens-Erwartung im August 1850. Missionar Kolb hatte die Attacke selbst miterlebt und beschreibt sie in allen drastischen Details eines Massakers.42 Ob exzessive Gewaltausübung im Zuge von Viehrazzien oder kriegerischer Überfälle wegen ihres Ausnahmecharakters in den Missionsberichten Erwähnung fand oder ob sie im Verlauf des 19.  Jahrhunderts als Ausdruck eines Prozesses der Veralltäglichung von Gewalt verstanden werden muss, darüber lässt die Quellenlage nur schwerlich Aussagen zu. Es ist aber anzunehmen, dass sich Formen der Entgrenzung von Gewalt auf einzelne Situationen beschränkten, die jeweils zu kontextualisieren wären, und keiner grundsätzlich gemeinschaftlichen Akzeptanz unterlagen. Gewaltpraxis, Häufigkeit und Intensität von Gewalt­ anwen­dungen unterschieden sich in den einzelnen Nama/Oorlam-Gruppen und unterlagen im Laufe des 19. Jahrhunderts Veränderungen. Was die Praxis der Razzien betrifft, so konnten diese grundsätzlich auch ohne Gewaltanwendung vonstattengehen, wenn es etwa gelang, mit List das Vieh abzutreiben oder einen Überfall allein durch Androhung von Gewalt erfolgreich durchzuführen. Bezeichnenderweise wurden Gewaltexzesse, ob auf Raubzug oder im Kriegsfall verübt, meist dem gemeinschaftsexternen und statusniederen Teil der komandos zugeschrieben, etwa den erwähnten Bergdamara, die auf den größeren Beute- und Kriegszügen der Nama/Oorlam oft das Fußvolk bildeten. Eine Ethik der Razzia und des Krieges, die vorgab, sich nicht an Frauen und Kindern zu vergehen, blieb solcherweise unangetastet, unabhängig davon, ob sie de facto zum Normcodex der in ihrer Rechtsprechung jeweils weitgehend autonom agierenden Nama/Oorlam-Gruppen gehörte oder ob sie nur im Moment weltanschaulicher Konfrontation mit den Missionaren formuliert wurde und deren Werteordnung geschuldet war. Die von einem Kaptein nicht nur gegenüber dem Missionar, sondern bisweilen auch gegenüber den eigenen Leuten oder der attackierten Bevölkerung vorgenommene Distanzierung von Gewalthandlungen, die von den komandos verübt wurden, muss in einen herrschaftssystemischen Zusammenhang gestellt werden. Dass die Gewalt der Beutekrieger in ihrer innergemeinschaftlichen Zuschreibung von legitim oder illegitim ambivalent gehalten wurde, war Ausdruck der Definitionsmacht des Kapteins und Mittel zur Herrschaftsbildung. Denn der komando-Führer, dem in der Regel die Distribution der Beute oblag, konnte 42 Friedrich Wilhelm Kolbe, Tagebuch, gehalten auf Schmelens-Erwartung im Ovaherolande von April bis August 1850, darin: Zerstörung der Station Schmelens-Erwartung durch Jonker Afrikaner, RMG 2.585 C/i6.

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noch im Nachhinein über Ein- und Ausschluss der an den Überfällen beteiligten Gewaltakteure entscheiden. Er konnte dem Druck von Allianzpartnern nachgeben oder aufgrund eigener politischer Interessen anordnen, dass der Raub als Diebstahl eingestuft wurde und damit unter Strafe stand. Nur wenn der Kaptein die Gewaltakte seiner und sich ihm anschließender Beutekrieger akzeptierte, fanden die komando-Mitglieder Zugang zu materiellem und symbolischem Kapital (Beute, Zugehörigkeit, Prestige). Die Kapteine führten meist selbst die Kriegs- und Razzienzüge an oder gaben zumindest die Order dazu. In den Missionsquellen finden sich aber auch zahlreiche Hinweise, dass vor allem komando-Führer in schwacher Führungsposition die Raubüberfälle, die von Mitgliedern ihrer Gefolgschaft in Eigenregie unternommen worden waren, tolerierten oder machtpolitisch nicht in der Lage waren, gegen sie vorzugehen. Es war Hendrik Witbooi, der den egalitären Tendenzen des komandos und den sich der Kontrolle der komando-Führung entziehenden Razzien ein Ende setzte und mit den Witkam der Kriegführung der Nama/Oorlam im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts eine neue Wendung verlieh. Witbooi stellte seine Gefolgschaft auf ihren Raub- und Kriegszügen unter strenge Regeln: sexuelle Enthaltsamkeit vor einem Kriegszug, keine Beutezüge außerhalb der von ihm bestimmten, Abstrafung bei Diebstahl noch während eines Kriegszuges, Rückgabe unrechtsam erbeuteten Gutes an seine Besitzer und Absage an alle magisch kultischen Praktiken. Der Händler Ludwig Conradt, der an Witbooi in den 1880er Jahren Munition verkaufte, schrieb über ihn, er sei »der einzige Hottentottenkapitän, der wirklich Macht über seine Leute besaß. Bei den anderen gab es nur Gehorsam, wenn es den Leuten passte«.43 Conradt lässt seiner Beschreibung vorangehen, dass »Hendrik ein religiöser Fanatiker [sei], der glaub[e], direkt göttliche Eingebungen zu empfangen.«44 Wie vielfach hervorgehoben, wurde auch von anderen Zeitgenossen, vor allem den Missionaren, Witboois religiöses Handeln und seine Beziehung zu Gott als Aberglaube, Wahn oder Schwärmerei abgetan. Zu dem »Treiben auf Hornkranz«, dem einer Festung gleichenden Rückzugsort der Witkam und ihrer Familien, von dem man sich »die wunderlichsten Dinge« erzählte, gehörte auch das Singen. »Fromme Lieder, namentlich solche mit kriegerischen Anhang hallen […] den ganzen Tag durch das Lager und werden bei der Arbeit wie beim Nichtsthun von Männern, Frauen und Kindern geträllert,«45 wusste der Reisende Bernhard Schwarz, der sich 1889 für kurze Zeit auf Hornkranz aufhielt, zu berichten. Diese Lieder, die sich als Einstimmung auf den Krieg verstehen lassen, konnten in ihrer sinnlich auditiven Ausführung vergleichbare, tradierte Formen der rituellen Kriegsvorbereitung leicht ersetzen. Vor allem waren sol43 Conradt, Erinnerungen aus zwanzigjährigem Händler- und Farmerleben, S. 127. Die Aufzeichnungen basieren auf Conradts Aufenthalt im heutigen Namibia in den 1880er Jahren. 44 Ebd. 45 Bernhard Schwarz, Im deutschen Goldlande. Reisebilder aus dem südwestafrikanischen Schutzgebiet, Berlin 1889, S. 13.

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che Formen der Vergemeinschaftung dazu bestimmt, die Witkam auf ein Leben mit Gott ausrichten. Fern der Missionsstation wurden Gottesdienste abgehalten. Witboois religiöse Instruktionen, Tabuvorschriften und »eine sehr strenge Manneszucht«46 sollten in die Routinepraktiken eines gewalt- und razzien­ bestimmten Alltags eingehen und die Mitglieder der komandos disziplinieren. Witbooi setzte militärische Disziplin im komando durch und er verband komando und Religion.

4. Kriegerisches Ethos und die Auseinandersetzung mit der Wirkmächtigkeit der christlichen Religion Witboois prophetische Bewegung47 lässt sich nicht nur als Reaktion auf eine ökonomisch und politisch zunehmend prekärer werdende Situation verstehen. Ihr vorausgegangen war auch eine Zeit des religiösen Dilemmas. Mit der Übernahme des Christentums und der Präsenz der Missionare im südlichen heutigen Namibia48 als »agents of change«49 war die Legitimität von Raub- und Gewalthandlungen, wie sie die Ordnung der Razzia und des Krieges vorgab, fundamental in Frage gestellt worden. Gleichwohl hatten sich die Nama/Oorlam die christliche Religion angeeignet, die sie mit neuen Sinndeutungen versahen und in ihre Lebensführung als Beutekrieger zu integrieren suchten. Und auch die Missionare der Rheinischen Missionsgesellschaft waren in das Kriegsgeschehen involviert. Mit ihnen, die sich selbst als Schutzherren begriffen oder sich unwillentlich, aber wohl darum wissend von den Nama/Oorlam-Oberhäuptern in diese Rolle hineingedrängt sahen, hatten die Krieger es mit einem dritten Part in der Figuration zweier verfeindeter Kampfparteien zu tun. Zu Akteuren im Kriegsverlauf wurden sie allein schon dann, wenn sie den Zugang zur Beute, d. h. den Raub von Frauen und Kindern, verwehrten, indem sie ihnen im Missionshaus Schutz boten, manchmal dort auch einzelne Männer versteckten. »Am 29.  Juli [1852] gab’s in Otjimbingue ein schreckliches Erwachen. [Missionar] Schöneberg war zum Besuch gekommen. Sehr früh wurde morgens an die Tür geklopft, gelärmt und gerufen. […] Indem sich [Missionar] Rath anzog, fielen die ersten Schüsse. So wie er die Tür öffnete, stürzte eine Menge fliehender Männer, Weiber und Kinder hinein. Rath riegelte schnell die Hinterkammer ab, in der sich seine Frau mit den Kindern befand und vorn ließ er hinein, was kam.«50 46 Ebd., S. 12. 47 Mit der Frage des Prophetischen bei Hendrik Witbooi befasst sich insbesondere Tilman Dedering, Hendrik Witbooi, the prophet, in: Kleio 25 (1993), S. 54–78. 48 Die Rheinische Missionsgesellschaft nahm 1842 ihre Tätigkeit in Südwestafrika auf. Siehe insbesondere Ders., Hate the Old and Follow the New. 49 Thomas O. Beidelman, Study of Christian Missions in Africa, in: Africa 44 (1974), S. 235–249, hier S. 235. 50 RMG 2.588 C-i8, Carl Schmitz, Otjimbingue: Stationschronik, 29. Juli 1852.

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Die Kapteine, in deren Einflussbereich eine Missionsstation lag, banden Missionshaus und Kirche strategisch in ihre Krieg- und Razzienführung ein. Sie wussten um die Hemmung der gegnerischen Kriegführer, auf Kirchen wie überhaupt Missionsstationen schießen oder diese einnehmen zu lassen.51 Die Zurückhaltung vor Eroberung und Zerstörung bestand für die einen, weil sie sich mit der Übernahme der christlichen Lehre dem Gebot einer (Re-)Ethisierung des Krieges verpflichtet fühlten, die das Töten von Missionaren ausschloss, für die anderen, weil sie die Macht der Folgewirkung der von ihnen abgelehnten christlichen Religion und ihrer Repräsentanten nicht einschätzen konnten. In beiden Fällen war, was das Gewalthandeln betraf, die Konsequenz dieselbe. Der kirchliche Raum blieb, wenn auch nicht immer, so doch weitgehend vom Gewaltgeschehen ausgenommen. Und so wussten die Kapteine, die sich ›ihre Missionare‹ an den Platz ihres Wirkens geholt hatten, im Falle von Überfällen oder kriegerischen Attacken Frauen und Kinder, die es schafften, in das Gebäude zu flüchten, hinter dessen Mauern geschützt. Die Kirche, steinerner Schutzraum für die nicht Nicht-Kombattanten, konnte aber auch zum Aktionsraum der Krieger werden, wenn etwa in Abwesenheit des Missionars Schießscharten in kirchliches Gemäuer eingebaut wurden. Dort, wo dies gegen die missionarische Intention geschah, wie auch dort, wo gerade auf Geheiß des Missionars Flucht- und Wehrgräben um die Kirchen herum entstanden, wurde die Kirche gleich den in unwegsamen Gebiet versteckt liegenden Schanzen zum Bestandteil der Topographie der Razzia und des Krieges. Missionar und Kaptein konnten je nach Personalität, Führungsgeschick, sozio-politischer und regionaler Situation sich konkurrierend, gänzlich ablehnend oder einander ergänzend gegenüberstehen. War letzteres der Fall, so handelte es sich um ein äußerst fragiles und vor allem persönliches Verhältnis, eine Relation, die bei Missionarswechsel oder Wegzug eines Kapteins wieder auseinanderbrechen konnte. In beiden Positionen ging es um Bindung von Gefolgschaft, im einen Fall um Taufanwärter und Gemeindemitglieder, im anderen um politische Anhängerschaft. Auffallend ist, dass die jeweils an den beiden Enden einer ›Hierarchie des Prestiges‹ stehenden Kapteine gezielt um Missionare in ihren lokalen Machtzentren ansuchten, d. h. besonders starke und wiederum besonders schwache Führungspersönlichkeiten. Letztere suchten Tendenzen der Abspaltung von Anhängern und dem Verlust der eigenen politischen Einflussnahme entgegenzuwirken, indem sie das Bestreben der Missionare nutzten, über den Anreiz des Zugangs zu Ressourcen (Bildung, Nahrung, überregionale

51 Ausgenommen Strafaktionen gegen Missionare, die der Einmischung in inner- oder intertribale kriegerische Konflikte bezichtigt wurden. Auch wenn gezielte Überfälle auf Missionsstationen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zunahmen und es zur gänzlichen Zerstörung kommen konnte, scheinen Kirchen und Missionshäuser meist verschont geblieben zu sein.

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Handelsbeziehungen etc.) die verstreut lebenden Bewohner kleinerer Werften um die Station herum zu sammeln.52 Die Kapteine und ihre Gefolgschaft, die äußerlich die Nähe zu den Missions­ stationen und innerlich die zur christlichen Lehre suchten, hatten in einer sich dynamisch ändernden Vorstellungswelt der Nama/Oorlam einen unsichtbar mächtigen Bündnispartner an ihrer Seite. Denen, die das ›Wort‹ (Gottes) verkündeten, wurde nachgesagt, sie hätten eine Medizin gegen den Tod. Während diese Überzeugung mit einer okkulten Handlung verbunden wurde und sich somit dem sichtbaren ›Beweis‹ entzog, teilte sich die außeralltägliche Macht der Missionare, die in den Augen der nicht christlich gläubigen Nama/Oorlam den Kriegsverlauf entscheidend mitzubestimmen schien, in der Performanz der Gottesdienste und Gebete ostentativ mit. »Der größte Hass der Feinde gegen uns Missionare richtet sich gegen unser Beten. Damit verfluchen wir sie nach unserer Meinung, und so können ihre Kugeln unsere Leute nicht treffen. Wenn die Gegner den Gesang der Gibeoner während der Andacht hörten, so wurden sie wütend und begannen entsetzlich zu fluchen. Soviel Respekt haben die Namaqua doch noch vor dem Gebet der Christen, dass sie fest glauben, dass sie erhört werden – und darin liegt die Hauptmacht der Christen gegen die Heiden.«53

Die Vorstellung von der Unversehrtheit des ›Feindes‹ durch christlich spirituellen Schutz und das Wissen, gegen einen solcherweise selbst gegen die Destruktionskraft von Gewehrkugeln immunisierten und damit unsterblichen Gegner zu kämpfen, musste in die Kampfmoral derjenigen eingreifen, die darüber nicht verfügten. »Einer [ein Nama-Krieger], der Feuer machen wollte, um es aufs Haus zu werfen, hörte eine Stimme laut beten, dass ihn Furcht überfiel und er weglief. […] Ferner hat er erzählt, er habe ein merkwürdiges Ding über dem Missionshause sitzen sehen, um zuzusehen, wie es seinen Kindern ginge. Als sie aber das Haus hätten in Brand ­stecken wollen, sei jenes wundersame Ding aufgestanden und wie ein Blitz sei es unter sie gefahren. Verwirrung über Verwirrung sei über sie gekommen. Da im Augenblick wären sie auf der Flucht gewesen und die Ovaherero hinter ihnen her mit ihren entsetzlichen Assagaien [Wurfspeere]. Da wäre es mit ihnen aus gewesen. Das stand

52 Eine Politik der Sedentarisierung der Khoikhoi Pastoralisten hatten bereits die Missionare der London Missionary Society (LMS) verfolgt, die 1806 die ersten Missions­ stationen nördlich des Oranje im heutigen Namibia errichteten. Ihr Vorgehen hatte zu heftigen Konflikten mit den Khoikhoi und oftmals zum Abbruch der Missionsstationen geführt. Siehe Dedering, Hate the Old and Follow the New, S. 56. Das Bestreben der Missionsgesellschaften, dauerhafte »village Christianities« zu schaffen, fand sich auch in anderen Regionen Afrikas. Terence Ranger, The Local and the Global in Southern African Religious History, in: Robert W. Hefner (Hg.), Conversion to Christianity. Historical and Anthropological Perspectives on a Great Transformation, Berkeley 1993, S. 65–98, hier S. 66. 53 RMG 2.579 C/i1, J. Schröder, Berseba, 12.1.1865.

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bei den Afrikanern [Oorlam] fest, dass die Mission an ihrer Niederlage schuld sei, weil gebetet worden war, das sie so scheu gemacht habe. Darum versuchten sie auch die Missionare weg zu bekommen, weil sie ihnen bei einem erneuten Kampfe wieder hinderlich sein würden.«54

Die angenommene »Wirkmächtigkeit« des Christentums wurde von den Gewaltakteuren in ihrer Krieg- und Lebensführung an seiner »Nutzwertigkeit« gemessen. Ein junger Mann, so wird in einem Missionsbericht von 1866 ein Gespräch zwischen zwei Nama aus der Gruppe der ›Zeibschen‹ (!Kara!oan) wiedergegeben, »hatte immer geglaubt, wenn man das Evangelium annähme, würde man nicht sterben und er fuhr fort: ›Da es nun aber doch nicht der Fall ist, warum sollten wir es annehmen?‹«55 Eine solche Haltung weist auf eine Lebenspraxis, die von Pragmatismus gekennzeichnet ist. Wie auch in ihren kriegerischen Unternehmungen integrierten die Nama/Oorlam in ihre religiöse Lebenswelt Neues, das sie für Erfolg versprechend befanden. Sie konnten dem Aufgenommenen aber auch rasch wieder abtrünnig werden, wenn sich der Erfolg nicht einstellte. Die Schutzmacht der christlichen Religion wurde von den Skeptikern auf ihren Raub- und Kriegszügen auf den Prüfstand gestellt, zugleich aber in aller Ambivalenz als gegeben vorausgesetzt. »[Die Missionarsfamilie] Kleinschmidt ist in größerer Lebensgefahr gewesen, als sie selbst gewusst hat. 5 Kugeln waren in die Nähe der Werkstatt, 20 in die Mauer des Wohnhauses, eine durchs Fenster in die Kammer gedrungen. […] Wir hörten schon, dass die Nama das Haus in Brand stecken wollten. Später warfen jedoch die Afrikaner [Oorlam-Fraktion] alle Schuld von sich ab auf die Hilfsvölker. Sie meinten auch, weil man diese Übeltat hätte begehen wollen, deswegen sei der Ausgang der Schlacht für sie so übel abgelaufen. Vor der Schlacht, als die Afrikaner noch in Barmen waren, sollen etliche gesagt haben: Wir wollen doch mal einen Lehrer [= Missionar] töten und sehen, ob der Himmel einfallen wird.«56

Mit jedem Schuss auf eine Missionsstation, mit jeder Zerstörungstat an kirchlichen Objekten, denen kultische Bedeutung zugesprochen wurde, entzauberte der partiell skeptische oder auch offen missionsgegnerische Teil einer Gefolgschaft die christliche Symbolwelt und mit ihr deren Repräsentanten, die Missionare. Dass solchen Attacken auf den kirchlichen Raum die Niederlage in den Kampfhandlungen folgen musste, davon schien der sich vom Angriff auf die Missionsstationen distanzierende Teil der komandos überzeugt. Die Auseinandersetzung der Beutekrieger mit der christlichen Religion im Kontext ihrer Kriege und Raubzüge führte zu einer Dynamisierung im Inneren der Gewaltgemeinschaften. Auch wenn davon auszugehen ist, dass die Nama/ Oorlam im 19.  Jahrhundert weitgehend christianisiert waren, zeichnen die 54 RMG 2.588 C-i8, C. Schmitz, Otjimbingue: Stationschronik, 1863. 55 RMG 2.579 C/i1, 056, J. G. Schröder, Berseba, 20.3.1866. 56 RMG 2.588 C-i8, C. Schmitz, Otjimbingue: Stationschronik, 1863.

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Missionsberichte ein komplexes Bild bestehender religiöser Praxen und Glaubensvorstellungen. Von der Übernahme des christlichen Glaubens aus innerer Überzeugung,57 der vor allem strategischen Nutzung58 des Christentums bis hin zu dessen entschiedener Ablehnung, vom Beibehalten der vorkolonialen Khoikhoi-­Religion besonders unter einigen Nama-Gruppen bis zur Religionsausübung in »christlich-indigene[r] Gleichzeitigkeit«59 lassen sich alle Schattierungen aus den Quellen herauslesen. Diese Pluralität von Werten und Weltbildern konnte in toleranter Koexistenz bestehen, ebenso aber auch in inner- und interkommunitären Spannungen ihren Ausdruck finden, die auf den Kriegsund Beutezügen verschiedener Nama/Oorlam-Gruppen untereinander und gegen die Herero diskursiv verhandelt und konfrontativ ausgetragen wurden. Der Widerstreit verschiedener Wertesysteme zeigt sich besonders deutlich in der Haltung gegenüber der Praxis des Abendmahls, von dem die ›WitbooiLeute‹, wie in Missionsberichten mehrfach bemerkt, zunehmend fernblieben. Auf die Frage des Missionars, warum »die Witkam zwar ihre Kinder taufen lassen, dagegen den Gebrauch des Abendmahl verbieten«, erklärte deren Unterkaptein, dass »es ihm unmöglich sei, seinem Kapitän manchmal sogar zum Blutvergiessen zu folgen, alsbald für das Abendmahl bereit zu sein, um darauf wieder dasselbe Leben fortzusetzen«.60 Die moralische Ordnung des Krieges und mit ihr die bislang praktizierten Formen legitimer Gewalt wurden, so ließe sich sagen, einem Prozess der »Culpabilisation«61 unterworfen. Der einzelne Krieger wie auch die Gruppe als Ganze musste sich jetzt vor Gott verantworten, was einen entscheidenden Einfluss auf das Selbstverständnis der Gewalt­a kteure wie auch ihr Kampfhandeln gehabt und zu einem inneren Loyalitätskonflikt geführt haben muss.

5. Das Gebot der Reinheit und der Glaube an die höhere Sache In der spirituellen Praxis der Khoisan wurden die Beutekrieger Gemeinschaftsritualen unterzogen, die sie mental und körperlich auf den Krieg vorbereiteten und sie nach Rückkehr von ihrem Gewalthandeln rituell reinwuschen. Die Frage der Legitimität von Gewalthandlungen war hier externalisiert, wohin­ gegen sie im Kontext christlich protestantisch inspirierter Lebensführung inter57 Die Vorfahren der christlichen Gläubigen aus den Khoisan-Gemeinschaften der Cap-­ Region hatten zu Teilen bereits im 18. Jahrhundert das Christentum in ihr indigenes religiöses Verständnis integriert. Vgl. Elizabeth Elbourne, Early Khoisan Uses of Mission Christianity, in: Kronos. Journal of Cape History 19 (1992), S. 3–27. 58 Etwa um von den Handelsbeziehungen der Missionare mit dem Kap zu profitieren. 59 Anna Meiser, »Ich trinke aus zwei Flüssen«. Zur Logik transkultureller Prozesse bei christlichen Achuar und Shuar im oberen Amazonien, Stuttgart 2013, S. 21. 60 RMG 2.579 C/I 1, H. Hegner, Berseba, 18. Januar 1894. 61 Vgl. Heike Behrend, Alice und die Geister. Krieg im Norden Ugandas, München 1993, S. 60.

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nalisiert wurde. Setzte sich ein komando in Bewegung, musterte Hendrik Witbooi die Krieger aus, »die sich in letzter Zeit grober Sünden schuldig gemacht hatten«, da »er nur mit den ›reinen‹ Leuten in den Krieg ging«.62 Das Gebot der Reinheit stand im Zentrum der prophetischen Bewegung. Einem verlorenen Kampf wurde die Qualität eines Reinigungsprozesses zugesprochen, der dazu verhalf, sich der Ungläubigen zu entledigen. »Die Niederlage«, so gibt ein Missionsbericht die Überzeugung der Witkam-Krieger wieder, »war vorauszusehen, wir haben während des Gefechtes Fleisch gegessen, was Hendrik verboten hat. Die Niederlage aber schadet nichts, weil wir gesichtet werden müssen. Wir müssen die Ungläubigen, die nicht zu uns gehören, ausscheiden. Sie sind es, die im Gefecht fallen, nicht aber die Gläubigen. Unsere Zahl ist noch zu groß. Gott kann erst Wunder an uns wirken, wenn wir weniger geworden sind.«63 Die Witkam verinnerlichten ein von Witbooi vorgegebenes, Komplexität reduzierendes Deutungsschema: Das Einhalten von Geboten und von Witbooi aufgestellten Tabuvorschriften führt zum Sieg, ihr Nichteinhalten zur Niederlage. Die Unterlegenheit im Kampf wird zu einer inneren Angelegenheit der Gruppe, zu einer moralischen Frage. In der Umdeutung der Niederlage als Ausdruck religiöser Verfehlung und Vorgang kollektiver Reinigung musste kriegerischer Misserfolg nicht mehr als militärische Schwäche des komandos wahrgenommen werden. Zu den Initialerfahrungen der künftigen Gefolgschaft, und zwar sowohl der Witkam-Krieger als auch der Anhänger der IRA, gehört der Bruch mit der bisherigen Lebensführung. Hendrik Witbooi forderte ihn von seinen Leuten für den Aufbruch gen Norden in einer Mischung aus Drohung und Verheißung ein: »Solchen, die sich nicht gleich anschließen wollen, sondern sagen: Wir wollen erst sehen, wie es euch dort geht, und wenn es euch dann gut geht, so kommen wir nach, – wird gesagt: Keiner kann uns mehr nachfolgen, der Weg wird hinter uns geschlossen werden, und auf alle, die hierbleiben, wird Feuer vom Himmel regnen und sie verderben.«64

Witbooi verlangte eine kompromisslose Haltung. Wer sich ihm nicht unverzüglich und zur Gänze anschloss, dem würde »der Weg«, Symbol für Aufbruch, Neuanfang und göttliche Eingebung, für immer verschlossen bleiben. Ähnliches wurde auch von den Mitgliedern der IRA verlangt. Dah Abeid hatte die oben geschilderte Bücherverbrennung im völligen Alleingang geplant. In der Folge stand die Loyalität seiner Anhängerschaft auf dem Prüfstand, die auf diesen Akt nicht vorbereitet gewesen war. Wer in diesen Tagen zu ihm stand, rückte selbst in die Nähe der Gotteslästerung. Mit ihrem Eintritt in die IRA, einer staatlich nicht anerkannten und als radikal geltenden Organisation, die jedoch ihrerseits Gewaltfreiheit proklamiert, hatten viele Anhänger schon einmal einen biographischen Schnitt vollzogen. Nun wurden sie mit ihrer Entschei62 Conradt, Erinnerungen aus zwanzigjährigem Händler- und Farmerleben, S. 126. 63 National Archives, Namibia, Vedder Quellen, Bd. 6B, F. Judt, Hoachanas, 10. Mai 1886. 64 RMG 2.580b, Ci/2a, F. Rust sen., Gibeon, 1. Juli 1885.

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dung, sich nicht von Dah Abeids Tat zu distanzieren, von der Gemeinschaft der Gläubigen freier Herkunft zu religiös Abtrünnigen erklärt. Da Biram Dah Abeid nicht den Koran, sondern eine Rechtsauslegung verbrannt hatte, war das Delikt der Gotteslästerung juristisch nicht haltbar. Nach mehreren Monaten Haft, anfangs in Einzelhaft in einem Geheimgefängnis für Terrorverdächtige, wurde er am 3.  September 2012 provisorisch freigelassen. Aus dem Gefängnis trat er, von Menschenmassen umringt, mit hochgehobenem Koran in der Hand. Im Gefängnis habe er, so sagte er später, den »Willen­ Allahs gespürt«.65 Er benutzt jetzt religiöse Metaphern, etwa wenn er, auf Erfolge angesprochen, von der »Hand Gottes« zu ihren (der IRA) »Gunsten« spricht.66 Wenn auch die Auseinandersetzung mit der religiösen Legitimierung der Sklaverei für Biram Dah Abeid seit Beginn der IRA zu den zentralen Themen gehörte, so hatte sich doch bis zu diesem Zeitpunkt die IRA keiner religiösen Symbolik bedient. Nun aber beginnen sich in Selbstverständnis und Darstellung sakrale und profane Elemente zu mischen. Den Rappern, die die öffentlichen Auftritte Dah Abeids einleiten, ist jetzt die Rezitation einiger Koranverse eines Imams vorangestellt. Dah Abeids Habitus verändert sich. Dem »juvenile[n] Helden« (junger Rebellierender, Popstar), der eine soziale und politische Neuordnung fordert, folgt mit dem jetzt »visionäre[n] Heilsbringer« (Botschaft und Verkündigung)67 ein anderer Typus charismatischer Führung. »Heute ist ein historischer Tag«, begann Dah Abeid seine Rede, bevor er die Bücher dem Feuer übergab. »Wir müssen die Religion, wie sie in Mauretanien praktiziert wird, reinigen. Wir müssen die Menschen und ihre Gebete reinigen […] und zur wahren Religion zurückkehren, die eine Religion der Gleichheit ist«.68 Dieser Vorstellung folgten die Anhänger der IRA nun auch in Abwesenheit ihres leaders, in dem vor allem Jüngere einen »von Gott Auserwählten« sehen. Ihre Gefolgschaft drückt sich jetzt in Bekenntnissen wie diesen aus: »Allah ist unser Gott, unsere Religion ist der Islam, der Koran ist unsere Verfassung und Mohamed unser Prophet. Wir alle folgen unserem Führer Biram Dah Abeid.«69 Wie bei den Witkam tritt an die Stelle einer überkommenen Zugehörigkeit zu einer Gruppe die gemeinschaftsstiftende Idee, für eine höhere und die moralisch richtige Sache zu kämpfen. 65 Gespräch mit Biram Dah Abeid, Nouakchott, 19.5.2014. 66 Gespräch mit Biram Dah Abeid anlässlich seines Erhalts des Uno-Menschenrechtspreises, New York, 10.12.2013. 67 Johannes Steyrer, Jörg Haider. Charismatischer Führer, narzisstische Persönlichkeit und Rechtspopulist, in: Berit Bliesemann de Guevara/Tatjana Reiber (Hg.), Charisma und Herrschaft. Führung und Verführung in der Politik, Frankfurt a. M. 2011, S.  77–101, hier S. 86. Bei der Zitierung dieses Artikels beziehe ich mich allein auf die allgemeineren Überlegungen zu den verschiedenen Typen von Charismaträgern, die Steyrer seiner Analyse zu Jörg Haider voranstellt. Es ist nicht beabsichtigt, die beiden Personen vergleichend in Beziehung zueinander zu setzen. 68 27. April 2012, Ansprache Biram Dah Abeids, bevor er die Rechtsschriften dem Feuer übergab. Übersetzt aus dem Hassanyia. Zum Beleg siehe Fußnote 18. 69 Banderole zum Empfang Dah Abeids in Zouerat, März 2014.

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6. Die zweite Geburtsstunde der IRA Dah Abeid erklärte den Tag der Bücherverbrennung zum Gedenktag, der jährlich zelebriert werden sollte. Barfuß, auch dies eine religiös aufgeladene Geste, zog er am ersten Jahrestag 2013 mit seinen Anhängern zum Ort des Geschehens, um dort zu beten. Ein Erinnerungsmythos wurde geschaffen, der die »revolutionäre Energie«70 der ersten Phase bewahren sollte. Der 27.  April 2012, so ihre Mitglieder, »ist die wahre Geburtsstunde der IRA, weil wir sichtbar geworden sind«.71 Wurde die IRA bis zu diesem Zeitpunkt vor allem in der Person Dah Abeids wahrgenommen, trat sie nun in einer Vielzahl von Akteuren und Aktionen als ein zunehmend wirkmächtiges Kollektiv in Erscheinung. Nach der Verhaftung Dah Abeids begann die IRA in einer noch nicht dagewesenen Weise über Monate hinweg in verschiedenen Aktionsformen physische Präsenz im öffentlichen Raum zu zeigen. Mit Slogans wie »Biram lässt uns rebellieren« und Forderungen nach Freilassung der Inhaftierten (»befreit sie, befreit sie oder verhaftet uns mit«) zogen Männer und Frauen der IRA und ihre Sympathisanten auf die Straße. Auch das sich im Paradoxon ausdrückende Comité de la paix, ein Kreis junger uniformierter Männer, deren Habitus und Auftritt in der Gruppe, unter Außenstehenden eher an militärische Doktrin denn an einen Friedensauftrag denken lassen, wurde jetzt zunehmend sichtbar im öffentlichen Raum. In Reaktion auf Morddrohungen gegen Biram Dah Abeid hatte es sich zu dessen Schutz gegründet. Seitdem begleiten ihn, wo immer er öffentlich auftritt, einige junge Männer aus dem C ­ omité de la paix. Unbeweglich und in Reihe formiert platzieren sie sich hinter ihrem leader Dah Abeid, wenn dieser seine Reden hält. Als ›Leibgarde‹ von der maurischen Gesellschaft freier Herkunft wahrgenommen, ist jetzt das C ­ omité de la paix bei wachsender Anzahl seiner Mitglieder auf den Manifestationen präsent und nimmt dort zunehmend ordnende Funktionen wahr. Vor allem aber ist diese Sub-Organisation der IRA zur performativen Ausdrucksform von Jugendlichen geworden, die ihrem von ihnen selbst geschaffenen Organ Sinn und Struktur verleihen, eine Ordnung, die jedoch äußerst fragil ist. Sie visualisiert sich nicht zuletzt im Auftritt der jungen Männer. Schwarze Sonnenbrillen, weiße Hemden, schwarze Anzüge und Krawatten. Die Wahl der Farbgebung, so eine der Interpretationen seitens des Comité de la paix, stehe für die »nationalen Einheit« mauretanischer Bürger schwarzer und weißer Hautfarbe, für die Vision eines Zusammenlebens »in Gleichheit«. Kleiderordnung und Aufstellung der Gruppe lassen aber auch an Anleihen der Nation of

70 Winfried Gebhardt, Charisma und Ordnung. Formen des institutionalisierten Charisma. Überlegungen im Anschluss an Max Weber, in: Ders. u. a. (Hg.), Charisma. Theorie, Religion, Politik, Berlin 1993, S. 47–68, hier S. 61. 71 Gruppengespräch mit Anhängern der IRA , Nouakchott, 25.5.2014.

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Islam72 denken, ebenso an den Kleidungsstil des jungen Malcom X, mit dem sich Biram Dah Abeid in der argumentativen und sprachlichen Radikalität, für eine Sache einzustehen, verbunden sieht. Als »Krieger« in elegantem Aufzug werden die Männer des Comité de la paix von Teilen der maurischen Gesellschaft verstanden. Seine Mitglieder sind unbewaffnet. Gleichwohl werden die jungen Männer von der Bevölkerung freier Herkunft als wenn auch nicht sichtbar, so doch schwerbewaffnet imaginiert. Es ist ihre Uniformierung, die nach innen das Wir-Gefühl und nach außen Potentiale der Drohung stärkt. Das Phänomen der Drohung als Möglichkeit sozialen Handelns und als­ spezifischer Erfahrungsmodus, der körperlich erlebt wird, kann in diesem Rahmen nur knapp angerissen werden. Im Prozess der Vergemeinschaftung der IRA stellen deren Aktionen einen paradoxen Vorgang dar. Einerseits stellt sich über das kollektive Droh- und Protesthandeln eine spezifische, von Victor Turner als communitas bezeichnete Gemeinschaft her, »eine Form der Sozialbeziehung«, die sich vom »Bereich des Alltagslebens«73 unterscheidet. Andererseits bildeten sich in der Performanz des Protestes und des Drohens – etwa in den über Wochen hinweg stattfindenden Sit-Ins vor Gerichtsgebäuden, Polizeistationen und Gefängnissen, die im Konfliktfall weder ein Hineinkommen noch Heraustreten aus den Gebäuden zuließen –, »leibliche Gewohnheitsstrukturen«, die Grundlage für »prä-reflexives« Alltagshandeln74 heraus. In der kollektiven Gebärde der Drohung, der Anklage und der Widerständigkeit wird ein sozialer Raum geschaffen, in dem sich nach innen Sicherheit und Solidarität konstituiert. Für Sklaven und ihre Nachkommen, die in ihrer Vereinzelung als eine der wenigen Formen des Widerstands meist nur die Flucht kannten und die die Furcht vor der Strafe Gottes (Rebellion gegen die Herren ist Rebellion gegen Gott) an Auflehnung hinderte, vollzieht sich im physischen und mentalen ›Nichtweichen‹ eine Sozialisation in die Angstfreiheit. Der Aufforderung ihres leaders, »bis zum Äußersten« zu gehen, überhöht im heroischen Sprachduktus (»Das Tryptichon unserer Bewegung: Sieg, Gefängnis oder Tod«75), haftet hierbei nicht die Vorstellung vom passiven Erleiden des Märtyrers an. »Die Viktimi-

72 In der von African Americans in den 1930er Jahren in den USA gegründeten Organisation politisch religiöser Ausrichtung traten deren ausschließlich männliche Mitglieder ebenfalls in schwarzen Anzügen und weißen Hemden auf. Ich danke Abdel Wedoud Ould Cheikh für diesen Hinweis. 73 Victor W. Turner, Liminalität und Communitas, in: Andréa Belliger/David J. Krieger (Hg.), Ritualtheorien. Ein einführendes Handbuch, Wiesbaden 1998, S.  251–262, hier S. 252. 74 Teresa Koloma Beck, Jenseits des Ausnahmezustands. Alltag und Veralltäglichung von Bürgerkriegen, Vortragsmanuskript 2014, http://gewalt.hypotheses.org/573 (Zugriff am 12.1.2015). Siehe auch Dies., The Normality of Civil War. Armed Groups and Everyday Life in Angola, Frankfurt a. M. 2012, S. 39 ff. 75 Gespräch mit Biram Dah Abeid, Nouakchott, 1.6.2014.

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sierung ist unsere Stärke.«76 Auch die Opferhaltung wird in ein Drohgebaren mit friedlichen Mitteln überführt. Der auf die IRA mit zahlreichen Verhaftungen und gewaltsamer Auflösung ihrer Protestaktionen zunehmend repressiv reagierende Staat soll bedrängt, er soll herausgefordert und als Gewaltakteur vorgeführt werden. Der mauretanische Staat, der sich als demokratisch versteht, soll sich in seiner Abhängigkeit von vor allem westlichen Geldgebern vor der internationalen Gemeinschaft delegitimieren.77 Die IRA ist eine Menschenrechtsorganisation, universalistisch ausgerichtet und global vernetzt. Sie ist aber auch eine Bewegung der Hratin, die für ein redefiniertes Selbstverständnis einer Gruppe von Sklavenherkunft steht. Dabei unterscheidet sich das Protesthandeln der IRA in einem Staat wie Mauretanien, der in den 1990er Jahren im Zuge der Demokratisierungswelle afrikanischer Staaten zwar eine zivile Verfassung verabschiedet und ein Mehrparteiensystem eingeführt hatte, dessen innerer Zirkel der Macht aber wenn auch nicht exklusiv auf Familienbanden basierend, so doch weitgehend in den tribalen Strukturen verankert blieb,78 in einem zentralen Aspekt von vergleichbaren Aktionsformen zivilen Ungehorsams. Hier geht es nicht nur um Kritik an einer Unrechtssituation, auch nicht allein um Forderungen nach Gleichheit und politischer Partizipation innerhalb des gegebenen Herrschaftssystems, wie sie von vorange­gan­ genen Anti-Sklavereiorganisationen, Parteien und Emanzipationsbewegungen in Mauretanien und darüber hinaus in Westafrika gestellt wurden.79 Mit der Sklavereifrage wird vielmehr die bestehende politische, soziale und religiöse Ordnung grundlegend in Frage gestellt und ein »vollständiger Bruch« gefordert. Die alte Ordnung soll einer neuen weichen. »Die Angst hat die Seite ge76 Gespräch mit einem Mitglied der IRA , Nouakchott, 12.6.2014. 77 Hardung, Politische Mobilisierung, S. 23. Die Glaubwürdigkeit und internationale Anerkennung der IRA wiederum findet ihren symbolischen Ausdruck in einer Reihe von Menschenrechtspreisen, unter anderem dem Menschenrechtspreis der Vereinten Nationen, mit dem Biram Dah Abeid im Dezember 2013 ausgezeichnet wurde. 78 Cédric Jourde, Constructing Representations of the ›Global War on Terror‹ in the Is­lamic Republic of Mauretania, in: Journal of Contemporary African Studies 25 (2007), H. 1, S. 77–100, hier S. 79. 79 Zekeria Ould Ahmed Salem, Bare-foot activists. Transformations in the Haratine movement in Mauritania, in: Stephen Ellis/Ineke van Kessel (Hg.), Movers and Shakers. Social Movements in Africa, Leiden 2009, S.  156–177; Alice Bullard, From Colonization to Glob­a lization. The Vicissitudes of Slavery in Mauritania, in: Cahiers d’Études africaines 179–180 (2005), H.  3, S.  751–769; Ann E. McDougall u. a., Legacies of Slavery, Promises of Democracy. Mauritania in the 21st Century, in: Malinda S. Smith (Hg.), Globalizing Africa, Trenton, NJ 2003, S.  67–87; Ann E. McDougall, The Politics of Slavery in Mauritania. Rhetoric, reality and democratic discourse, in: The Maghreb Review. Special Issue on Mauritania 35 (2010), H. 3, S. 259–286; Dies., Living the Legacy of Slavery. Between Discourse and Reality, in: Cahiers d’Études africaines 179–180 (2005), H.  3, S. 957–986. Für Westafrika siehe Eric K. Hahonou/Lotte Pelckmans, West African Anti­ slavery Movements. Citizenship Struggles and the Legacies of Slavery, in: Stichproben 20 (2011), ­S. 141–162.

Zur Rolle der Religion

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wechselt«,80 so charakterisierte ein Redakteur freier Herkunft effektvoll und pointiert den Einfluss der IRA auf das Verhältnis zwischen den Hratin und ihren früheren Herren. Es ist die latente Furcht der maurischen Minderheit freier Herkunft vor Machtverlust und mehr noch, vor »Überwältigung durch reaktive Gewalt«,81 eines Gewalthandelns, das durch tradierte und rezente Erfahrungen von Stigmatisierung, Gewalterleben und Repression unter den Hratin ausgelöst werden könnte. Die Verbrennung der muslimischen Rechtsschriften und die mit ihr einhergehende Kritik an der lokalen Auslegung des Islams stellte eine Wende in der Konfliktführung der IRA dar. Die ›Bücherverbrennung‹, wie das Ereignis als feststehender Begriff in den mauretanischen Wortschatz eingegangen ist, wurde von der Bevölkerung freier Herkunft als elementarer Akt der Bedrohung wahrgenommen, als Angriff auf das Fundament des sozialen und politischen Systems. Für die Gruppen von Sklavenherkunft stand sie hingegen am Beginn einer Entwicklung, in der sich gemeinschaftsbildende Erfahrungen des Widerstands und der Macht der Drohung im performativen Akt der kollektiven Mobilisierung verdichteten. Die »Biramisierung«82 unter den jugendlichen Hratin, selbstbewusst, kompromisslos und angstfrei zu agieren, stößt an den ambivalenten Rändern der dezidiert Gewaltfreiheit proklamierenden IRA auf ein Potential der Gewaltbereitschaft. »Lasst nicht nur die Bücher brennen […]«. In Graffitis und Slogans, die – von der IRA entschieden abgelehnt –, zum gewaltsamen Aufstand gegen Staat und Post-Sklavenhaltergesellschaft aufrufen, manifestiert sich in einem Teil der Hratin-Jugend ein Wandel von der imaginierten zu einer potentiellen Gewaltgemeinschaft.

7. Schlussbetrachtung Die prophetische Bewegung Witboois und die Bewegung IRA sind nicht nur Ausdruck inner- und intergemeinschaftlicher Spannungen, sondern sie erzeugen diese auch, wie unter anderem in der Dichotomie Gläubige/Ungläubige zum Ausdruck kommt. Der »prophetische Moment«,83 die radikale Umformulierung religiöser Vorstellungen in gesellschaftlichen Krisenkonstellationen aus einem Gespür des Charismaträgers für den richtigen Augenblick zum ›heroischen Entschluss‹ und dem kollektiven Bedürfnis nach einer charismatischen Idee, findet sich in beiden Bewegungen, der IRA und der politisch religiösen 80 Das Gespräch mit dem in Mauretanien lebenden Unterstützer der IRA wurde am 31.3.2013 in Paris geführt. 81 Hartmann Tyrell, Physische Gewalt, gewaltsamer Konflikt und ›der Staat‹. Überlegungen zur neueren Literatur, in: Berliner Journal für Soziologie 9 (1999), S. 269–288. 82 Ein in der mauretanischen Öffentlichkeit kursierender Ausdruck. 83 Marcia Wright, Maji-Maji. Prophecy and Historiography, in: David M. Anderson/­ Douglas H.  Johnson (Hg.), Revealing Prophets. Prophecy in Eastern African History, London 1995, S. 124–142, hier S. 124.

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Witbooi-Bewegung, mit weitreichenden Folgen für Gemeinschaftsgefüge und (imaginiertes) Gewalthandeln beider Gruppen. Hendrik Witbooi berief sich in seinem politisch religiösen und militärischen Vorgehen auf Gott, der sich ihm in seiner Weisung zum Frieden wie zum Krieg offenbarte. Unter der Führung des prophetisch charismatischen Kriegführers wurde das komando zu einer Gefolgschaft im Glauben, die in der Überzeugung der Rechtmäßigkeit ihrer raubkriegerischen Gewalt in Aktion trat. Kreatives Handeln in der Person Hendrik Witboois oder, mit Popitz, »sinnstiftende Phantasie«84 gaben den Raub- und Kriegszügen der Nama/Oorlam ihre Legitimität zurück. Auch die IRA als ein sozialer Ort, der beschützt und ermächtigt, setzt Potentiale der Innovation frei. Das »Erwachen« der Hratin hat mit dem neuen Sendungsbewusstsein der Anti-Sklavereibewegung eine religiöse Dimension gewonnen und wird inzwischen von salafistischen gewaltbereiten Gruppen in Mauretanien und angrenzenden Nachbarländern aufmerksam verfolgt. Die Frage nach dem Verhältnis von Religion und Gewalt hat ihre Aktualität in der ›postsäkularen Moderne‹ (wieder-)gefunden.85

84 Heinrich Popitz, Wege der Kreativität, Tübingen 2000 [1997], S. 96. 85 Thomas Vollmer, Das Heilige und das Opfer. Zur Soziologie religiöser Heilslehre, Gewalt(losigkeit) und Gemeinschaftsbildung, Wiesbaden 2009, S. 12.

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Frontiers of violence Paramilitärs als Gewaltgemeinschaften im Ostmitteleuropa der 1920er Jahre

Die Geschichte paramilitärischer Gewalt ist für die »shatter zone of empires«1 im östlichen Europa inzwischen ein intensiv untersuchtes Feld.2 Dabei fokussieren entsprechende Arbeiten in der Regel auf einzelne Konfliktherde und ordnen die Einzelbefunde in den Kontext der Umbrüche ein, die mit den beiden Balkankriegen, dem Ersten Weltkrieg und den sogenannten Kleinen Kriegen bis Anfang der 1920er Jahre einhergingen. Ergebnis eines Prozesses, der das Territorialerbe der drei multinationalen Imperien in eine nationalstaatlich geprägte neue politische Topographie überführte, war die Vielzahl an regionalen Konflikten, die die gesamte Zwischenkriegszeit hindurch miteinander eng verzahnt blieben. Das komplexe Verhältnis der Akteure in diesen Konfliktszenarien wurde in der Forschung jedoch lange den Deutungstraditionen national­ geschichtlicher Konkurrenznarrative untergeordnet. Im Folgenden sollen die drei in diesem Beitrag verglichenen Gewaltgemein­ schaften  – die deutschen Freiwilligen im Baltikum 1918–1919, die deutschen 1 Omer Bartov/Eric D. Weitz (Hg.), Shatterzone of Empires. Coexistence and Violence in the German, Habsburg, Russian, and Ottoman Borderlands, Bloomington 2013. 2 Siehe hierzu z. B. Robert Gerwarth, Die Besiegten. Das blutige Erbe des Ersten Weltkriegs, München 2017; Ders./Erez Manela (Hg.), Empires at War 1911–1923, Oxford 2014; Totentanz. Der Erste Weltkrieg im Osten Europas, Schwerpunktheft Osteuropa 64 (2014), H. 2–4; Jochen Böhler u. a. (Hg.), Legacies of Violence. Eastern Europe’s First World War, München 2014; Robert Gerwarth/John Horne, War in Peace. Paramilitary Violence in Europe after the Great War, Oxford 2012; Béla Bodó, Pál Prónay. Paramilitary Violence and Anti-Semitism in Hungary, 1919–1921, Pittsburgh 2011; Julia Eichenberg/John Paul Newman, Introduction: Aftershocks. Violence in Dissolving Empires after the First World War, in: Contemporary European History 19 (2010), H. 3, S. 183–194; Peter Gatrell, War after the War. Conflicts, 1919–23, in: John Horne (Hg.), A Companion to World War I, Chichester 2010, S. 558–575; Alexander Victor Prusin, The Lands Between. Conflict in the East European Borderlands, 1870–1992, Oxford 2010; Piotr Wróbel, The Seeds of Violence. The Brutalization of an Eastern European Region, 1917–1921, in: Journal of Modern European History 1 (2003), H. 1, S. 125–149; Vejas Gabriel Liulevicius, War Land on the E ­ astern Front. Culture, National Identity and German Occupation in World War I, Cambridge 2000, deutsch: Kriegsland im Osten. Eroberung, Kolonisierung und Militärherrschaft im Ersten Weltkrieg, Hamburg 2002; Edward D. Wynot, Caldron of Conflict. Eastern Europe, 1918–1945, Wheeling 1999.

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und polnischen Kampfeinheiten in Oberschlesien 1918–1921 und die Verbände des paramilitärischen Eisernen Wolfes (Geležinis vilkas) 1927–1929 – zunächst in Hinblick auf ihre Motivation, ihre Funktion und die Handlungsoptionen der betreffenden Gruppen analysiert werden. Auch wird nach dem Operationsgebiet und den Mustern der Gegnerwahrnehmung gefragt und das Gewalt­handeln, das Gemeinschaftserlebnis und deren Rückwirkungen für die Gruppenkohäsion thematisiert. Die Frage der Verarbeitung, Tradierung und Perpetuierung von Gewaltpraxis, Selbstbild und Gruppenzusammenhalt leitet über zu einer kurzen abschließenden Bilanz, die die untersuchten Kontexte noch einmal in den Gesamtansatz der Gewaltgemeinschaften einordnet.

1. Motivation, Funktion, Handlungsoptionen Die Motive, die die Mitglieder der untersuchten Gewaltgemeinschaften dazu bewogen, sich entsprechenden Strukturen anzuschließen, sind keineswegs für alle Teilnehmer einheitlich und in gleichem Ausmaß gültig. Sofern wir überhaupt über Ego-Dokumente aus der Zeit der Tätigkeit oder über vertrauenswürdige (Selbst-)Berichte im Nachgang des Gewalteinsatzes verfügen, lässt sich erkennen, dass die individuellen Motive auf einem recht breiten Spektrum anzusiedeln sind.3 Anzunehmen ist z. B., dass selbst dort, wo eine radikale ideologische Grundüberzeugung als Ausgangsmotiv festzustellen ist, in der Regel weitere Gründe hinzutraten, ohne die die Bereitschaft zum Einsatz nicht erklärt werden kann. Immer wieder spielten etwa Abenteuerlust und das Gefühl eine Rolle, die versäumte Gelegenheit, sich in Kriegen zu bewähren, nachholen zu müssen. Die Bereitschaft, sich einer Gewaltgemeinschaft anzuschließen, wurde auch über Anreizstrukturen, Werbeaktionen und Netzwerke befördert – wie beispielsweise die gezielte Anwerbung deutscher und polnischer Freiwilliger in Oberschlesien zeigt. Dies trifft auch im Fall der Baltikumer zu.4 3 Hierbei liegt eines der größten Probleme bei der Analyse der Primärquellen, d. h. der Selbstzeugnisse, Tagebücher, Memoiren und Briefsammlungen, in dem größtenteils parteinehmenden Charakter der Quellen. Trotz ihrer Unerlässlichkeit müssen sie äußerst kritisch beurteilt werden, nicht zuletzt aufgrund der weitverbreiteten Selbststilisierung und Überhöhung der geschilderten Ereignisse. 4 Seine Grundlage hatte die Tätigkeit der Verbände in einem am 29.  Dezember 1918 geschlossenen Vertrag zwischen der lettischen Regierung und dem Deutschen Reich, welcher vereinfacht zusammengefasst die Unterstützung deutscher Truppen gegen das weitere Vordringen der Bolschewiki regelte. Besonders folgenschwer war diesbezüglich der erste Paragraph des Abkommens  – dieser garantierte allen ausländischen Freiwilligen die sich mindestens vier Wochen im Verband der Freiwilligeneinheiten befanden, auf Antrag die lettische Staatsbürgerschaft, woraus später das Siedlungsversprechen abgeleitet wurde. Darüber hinaus war das angebliche Versprechen der lettischen Regierung, Land zu Siedlungszwecken zur Verfügung zu stellen, nie in offiziellen Dokumenten festgehalten und vertraglich geregelt worden. Vgl. hierzu auch Annemarie H. Sammartino, The ­Impossible Border. Germany and the East, 1914–1922, Ithaca, NY 2010, S. 49–52, sowie Johannes Zobel,

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Im Deutschen Reich bestand die extra geschaffene ›Anwerbestelle Baltenland‹, und potenzielle Freiwillige wurden durch Werbeplakate an Litfaßsäulen und in Schaufenstern sowie durch häufig geschaltete Werbeinserate in Zeitungen systematisch angesprochen, mit dem Ergebnis, dass im Frühjahr 1919 Tausende von Freiwilligen zum Teil unter völlig falschen Annahmen ins Baltikum zogen.5 Wenn wir die jeweiligen Konflikttopographien und die Interessenlagen der politisch-militärischen Akteure in Rechnung stellen, die beim Entstehen der Gewaltgemeinschaften im Hintergrund aktiv waren, werden innerhalb eines ebenfalls recht breiten Spektrums einige Gemeinsamkeiten offensichtlich. Vor allem dann, wenn wir die Funktion der Gewaltgemeinschaften in den betreffenden politischen Konstellationen in den Blick nehmen, wird in den drei Fällen eine Chronologie erkennbar: Alle untersuchten Gruppen nahmen eine spezifische Rolle ein, wenn es galt ein staatliches Vakuum aufzufüllen oder – dies trifft vor allem auf den Eisernen Wolf zu – die Durchdringung und damit Sicherung von gesellschaftlichen Teilbereichen für den neu etablierten Autoritarismus zu flankieren. Mit den Gewaltgemeinschaften verband sich die Selbstermächtigung von bewaffneten Gruppen in rechtsfreien Räumen oder auch in Regionen, in denen die staatliche Souveränität noch nicht zweifelsfrei geklärt bzw. das Regierungsregime noch durchzusetzen war. Sie waren aber auch funktional in die gewaltgestützte Umsetzung von Partikularinteressen eingebunden – so nahmen etwa die deutschen Freikorps in Oberschlesien 1918/19 auch Sicherheits- und Polizeiaufgaben wahr, wie etwa bei der Unterdrückung von Streiks und sozialen Unruhen im oberschlesischen Industriegebiet.6 Vieles deutet hier wie in Litauen und teilweise auch im Baltikum 1918/19 in Richtung arbeitsteiliger Strategien für das Outsourcing eigentlich staatlicher Gewalt. Damit verfolgten die Mentoren von Gewaltgemeinschaften auch das strateZwischen Krieg und Frieden. Schüler als Freiwillige in Grenzschutz und Freikorps, Berlin ³1934, S. 74; zur Bedeutung des sogenannten »Siedlungsversprechens« siehe auch Wipert von Blücher, Deutschlands Weg nach Rapallo. Erinnerungen eines Mannes aus dem zweiten Gliede, Wiesbaden 1951, S. 70: Für Blücher wurde der »Siedlungsvertrag« zum »Ausgangspunkt zu dem sogenannten Baltikum-Unternehmen«. 5 Siehe hierzu Forschungsanstalt für Kriegs- und Heeresgeschichte (Hg.), Darstellungen aus den Nachkriegskämpfen deutscher Truppen und Freikorps, Bd. 2: Der Feldzug im Baltikum bis zur zweiten Einnahme von Riga. Januar bis Mai 1919, Berlin 1937, S. 140 f. Der Hauptsitz der »Anwerbestelle Baltenland« lag in Berlin, wobei sich mehrere Zweigstellen über ganz Deutschland verteilten. Ihre Arbeit war offiziell vom Kriegsministerium genehmigt, was jedoch nicht bedeutet, dass viele Rekrutierungen nicht auch in Hinterzimmern von Kneipen stattfanden. Nicht selten verfügten Freikorps über eigene Werbebüros. Vgl. hierzu Gustav Noske, Von Kiel bis Kapp. Zur Geschichte der deutschen Revolution, Berlin 1920, S. 116, sowie Georg Maercker, Vom Kaiserheer zur Reichswehr. Geschichte des freiwilligen Landesjägerkorps. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Revolution, Leipzig 1921, S. 226. 6 Boris Barth, Freiwilligenverbände in der Novemberrevolution, in: Rüdiger Bergien/Ralf Pröve (Hg.), Spießer, Patrioten, Revolutionäre. Militärische Mobilisierung und gesellschaftliche Ordnung in der Neuzeit, Göttingen 2010, S. 95–115, hier S. 99 f.

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gische Ziel, im Rahmen einer Übergangssituation zwischen politischen Systemen die Spielräume für staatliche Politik zu erweitern und gleichzeitig deren Intentionen sowie eine direkte Verantwortung und Beteiligung an der Gewalteskalation vor Ort zu verschleiern. Im Vorfeld der Volksabstimmung in Oberschlesien begriffen etwa deutsche wie polnische Entscheidungsträger paramilitärische Gewalt als legitimes Mittel zur Erreichung ihrer außenpolitischen Ziele. Der Eiserne Wolf wiederum steht für eine besondere Verschränkung zwischen einem paramilitärischen Verband und der funktionalen Exekutive: Er war sowohl Geheimorganisation als auch funktionaler Bestandteil eines sich noch durchsetzenden autoritär-konservativen Regierungssystems. Entsprechend handelte der Eiserne Wolf unter quasistaatlichen Vorgaben und Handlungsprämissen, war aber in einer für Litauen neuartigen Form in der Fläche präsent und unterstützte damit in bisher staatsfernen ländlichen Regionen die Durchsetzung der litauischen Staatlichkeit unter Einsatz gesetzlich nicht gedeckter Mittel. Die vorübergehende Schwäche des staatlichen Gewaltmonopols begünstigte in allen drei Fällen die Entstehung eines regionalen »Gewaltmarktes«,7 bei dem unter dem Vorwand nationalpolitischer Ziele ökonomische Motive (wie ein eigener Sold oder die materielle Unterstützung in schwierigen Zeiten) im Vordergrund standen.8 So konnte nach November 1918 in Oberschlesien die öffentliche Sicherheit von der jungen deutschen Republik nur rudimentär aufrechterhalten werden. Dieses Vakuum wurde nun von Paramilitärs ausgefüllt  – vor allem demobilisierte Weltkriegsveteranen boten hier ihre Dienste an und wurden für ihre ›Schutzleistung‹ auch finanziell entlohnt.9 Ihnen wurde zudem gegen bewaffnete politische Untergrundbewegungen und kriminelle Strukturen freie Hand gelassen. Entsprechend sind Tendenzen zur Verselbstständigung paramilitärischer Gruppierungen belegt,10 und es lassen sich Mischstrukturen zur organisierten Kriminalität erkennen.11 Selbst beim Eisernen Wolf spielten materielle Interessen oder das Vertrauen auf anschließende Karriereoptionen eine wichtige Rolle. So war z. B. in vielen Gemeinden Litauens die Chance auf einen öffentlichen Posten oder auf lukrative Aufträge informell an eine Mitgliedschaft im Eisernen Wolf gebunden. 7 Zur Theorie des Gewaltmarktes vgl. Georg Elwert, Gewaltmärkte. Beobachtungen zur Zweckrationalität der Gewalt, in: Trutz von Trotha (Hg.), Soziologie der Gewalt. Sonderheft der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Opladen 1997, S. 86–101. 8 Der materielle Anreiz als eine der Hauptmotivationen lässt sich beispielsweise aus verschiedenen Kriegstagebüchern und den Regimentsakten herausarbeiten. Siehe hierzu exemplarisch im Bundesarchiv Freiburg/Militärarchiv PH 26–2; PH 26–3; PH 26–12. 9 Barth, Freiwilligenverbände, S. 98 f. 10 Piotr J. Wróbel, The Revival of Poland and Paramilitary Violence, 1918–1920, in: Rüdiger Bergien/Ralf Pröve (Hg.), Spießer, Patrioten, Revolutionäre. Militärische Mobilisierung und gesellschaftliche Ordnung in der Neuzeit, Göttingen 2010, S. 281–304. 11 In Bezug auf die Verhaftung und Zerschlagung der ›Hajok-Bande‹ durch die 3. Marinebrigade von Loewenfeld am 8. August 1919 in Hindenburg/Oberschlesien (Zabrze) vgl. Stefan Zwicker, »Nationale Märtyrer«. Albert Leo Schlageter und Julius Fučík. Heldenkult, Propaganda und Erinnerungskultur, Paderborn 2006, S. 48.

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Aus diesen Beispielen wird ersichtlich, wie sehr die Gewaltgemeinschaften zum einen von staatlichen Akteuren abhängig blieben und letzteren über Mittelsmänner, informelle Kontaktstrukturen und logistisch unterstützende Netzwerke auch ein Mindestmaß an Planungseinfluss garantiert blieb. Zum anderen eröffneten sich daraus für die Gewaltgemeinschaften eigenständige Handlungsund Eskalationsspielräume. Hier lassen sich nicht intendierte Folgewirkungen des staatlichen Outsourcings beobachten, da die Mitglieder der untersuchten Gewaltgemeinschaften in der Regel ein elitäres und interventionalistisches Gewaltverständnis propagierten und kultivierten. Sie betrachteten sich als Gewaltavantgarde, die auf die Transformation der von ihnen infiltrierten und terrorisierten Gesellschaften abzielte. Sobald diese Gewalt ein bestimmtes Ausmaß überschritt oder sobald sich der Einsatzkontext so weit veränderte, dass die Funktion, die die Gewaltgemeinschaften im Gelände erfüllen sollten, verzichtbar wurde, gerieten diese in allen drei Fällen sehr schnell in die Defensive. Dass die darauf folgenden Verselbständigungstendenzen auch in Gewaltkriminalität und anlassloses, vandalistisches Gewalthandeln umschlugen, lässt sich als Teil der Chronologie von Gewaltgemeinschaften begreifen.

2. Chronologie der Fallbeispiele Hierfür steht das Beispiel der Baltikumer, dem sich Mathias Voigtmann in sei­ nen Untersuchungen widmet: Ursprünglich als Sicherheitseinheiten für die sich zurückziehenden deutschen Truppen des Ersten Weltkrieges gedacht,12 interpretierten die in Lettland eingesetzten Einheiten der Baltischen Landeswehr und der mit ihr im Verbund kämpfenden deutschen Freikorpseinheiten ihre Aufgaben rasch um und agierten sehr offensiv, mit dem übergeordneten Zielpunkt Riga (Rīga). Die Einnahme der Stadt am 22. Mai 1919 durch Verbände der Baltischen Landeswehr und der reichsdeutschen Formationen stellte für die meisten Freiwilligen ein biographisches Schlüsselerlebnis dar.13 Angesprochen 12 Hannsjoachim W. Koch, Der deutsche Bürgerkrieg. Eine Geschichte der deutschen und österreichischen Freikorps 1918–1923, Dresden 2002, S. 123. 13 Zur allgemeinen Kriegszielthematik und zu militärisch-diplomatiegeschichtlichen Fragestellungen siehe vor allem Hans-Erich Volkmann, Die deutsche Baltikumpolitik zwischen Brest-Litowsk und Compiègne. Ein Beitrag zur »Kriegszieldiskussion«, Köln 1970, sowie Jobst Knigge, Kontinuität deutscher Kriegsziele im Baltikum. Deutsche BaltikumPolitik 1918/19 und das Kontinuitätsproblem, Hamburg 2003; vgl. auch Andreas Purkl, Die Lettlandpolitik der Weimarer Republik. Studien zu den deutsch-lettischen Beziehungen der Zwischenkriegszeit, Münster 1997; zur allgemeinen Geschichte des Baltikums siehe auch Jürgen von Hehn u. a. (Hg.), Von den baltischen Provinzen zu den baltischen Staaten. Beiträge zur Entstehungsgeschichte der Republiken Estland und Lettland ­1918–1920, Marburg 1977, sowie Sigmar Stopinski, Das Baltikum im Patt der Mächte. Zur Entstehung Estlands, Lettlands und Litauens im Gefolge des Ersten Weltkrieges, Berlin 1997; zur Geschichte Lettlands vgl. trotz einiger Kontroversen explizit auch Daina Bleiere u. a., Geschichte Lettlands. 20. Jahrhundert, Riga 2005.

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fühlten sich hauptsächlich Männer mit folgendem biographischem Hintergrund oder Werdegang: Demobilisierte Offiziere des Ersten Weltkriegs, Kadetten der kaiserlichen Heeresanstalten, die zwar eine militärische Erziehung genossen hatten, aber nicht mehr aktiv an den Kampfhandlungen des Weltkrieges teilnehmen konnten, sowie nationalistisch gesinnte Studenten oder Schüler und Gymnasiasten.14 Neben der Aussicht auf Siedlungsland und einem zusätzlichen finanziellen Anreiz – denn alle Freikorpsfreiwilligen im Baltikum erhielten zusätzlich zu ihrem normalen Sold eine Zulage – reichten die persönlichen Motive der einzelnen Freiwilligen vom patriotischen Pflichtgefühl über die Möglichkeit, ein militärisches Betätigungsfeld zu finden, bis hin zum Bedürfnis, die Fantasien eines romantisierten Soldatenlebens real auszuleben und sich aktiv im Kampf zu beweisen. Dass solche Kriegsunternehmungen zum Teil auch Persönlichkeiten anlockten, deren patriotische Gefühle bezweifelt werden können bzw. deren Absichten eher aus niederen Beweggründen gespeist wurden, kann man unter anderem aus den Aufzeichnungen von Walter von Rohrscheidt aus dem Jahr 1938 erschließen, eines Teiltruppenführers einer in Lettland eingesetzten Einheit: »Zu diesen alten Soldaten stießen Scharen von Entwurzelten aller Art, Abenteurer, Arbeitsunlustige, moralisch stark anfechtbare Elemente, die sich in erster Linie da draußen ›gesund machen wollten‹«.15 Bilanziert man diese vielfältigen Motive und das aggressive Anwerben,16 so war es nicht weiter verwunderlich, dass der Kommandant und Oberbefehls­ haber der gesamten Einheiten im Baltikum, Rüdiger Graf von der Goltz, im März 1919 bereits über 14.000 Mann verfügte. Insgesamt liegt die Gesamtzahl der im Baltikum agierenden Personen bei ca. 40.000 Mann.17 Mit der beginnenden Märzoffensive 1919 nahm der Baltikumfeldzug rasch den Charakter eines 14 Vgl. hierzu vor allem Hagen Schulze, Freikorps und Republik 1918–1920, Kiel 1967, S. 47–54. 15 Zitiert bei Walter von Rohrscheidt, Unsere Baltikumkämpfer. Die Ereignisse im Baltikum 1918 und 1919, Braunschweig 1938, S. 29. Zum Motiv der patriotischen Pflichterfüllung siehe beispielsweise Erich Balla, Landsknechte wurden wir… Abenteuer aus dem Baltikum, Berlin 1932, insbes. S.  16; zur allgemeinen Motivlage siehe auch Ernst von­ Salomon, Sturm auf Riga, in: Ernst Jünger (Hg.), Der Kampf um das Reich, Essen 1929, S. 98–111, hier S. 106. 16 Zu den Verbindungslinien der Paramilitärs und nationalistischen Gruppierungen in der frühen Weimarer Republik vgl. Robert Gerwarth, Im »Spinnennetz«. Gegenrevolutionäre Gewalt in den besiegten Staaten Mitteleuropas, in: Ders./John Horne (Hg.), Krieg im Frieden. Paramilitärische Gewalt in Europa nach dem Ersten Weltkrieg, Göttingen 2013, S. 108–133; Rüdiger Bergien, Die bellizistische Republik. Wehrkonsens und »Wehrhaftmachung« in Deutschland 1918–1933, München 2012, sowie Bernhard Sauer, Schwarze Reichswehr und Fememorde. Eine Milieustudie zum Rechtsradikalismus in der Weimarer Republik, Berlin 2004; zur besonderen Metapher des Netzes vgl. auch Ernst von­ Salomon, Nahe Geschichte. Ein Überblick, Berlin 1936, S. 99 f., sowie Joseph Roth, Das Spinnennetz, Frankfurt a. M. 1970. 17 Vgl. hierzu Schulze, Freikorps, S. 134, sowie Bernhard Sauer, Die Baltikumer, Berlin 1995, S. 1.

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Kleinkriegs mit »wildem und großzügigem Charakter«18 an, wie dies der ehemalige Soldat Franz Nord 1929 rückblickend beschrieb. Die Kampfweise und die Struktur der Gruppen gewannen immer mehr partisanenähnliche Züge, da die kleinen, selbständig operierenden Einheiten der Freikorps der unübersichtlichen Lage eher entsprachen.19 Sein inoffizielles Ende fand das Baltikumunternehmen, als im Dezember 1919 die letzten deutschen Einheiten die deutsche Reichsgrenze überschritten. Zuvor war wiederholt gegenüber der Weisung aus Berlin, das Baltikum umgehend zu verlassen, von einem Teil der Truppen der Gehorsam verweigert worden, was einer offenen Meuterei und der Los­sagung von der Weimarer Republik gleichkam. Dies änderte jedoch nichts daran, dass die deutschen Freiwilligeneinheiten militärisch zusehends ins Hintertreffen gerieten. Die Rückzugsgefechte zeichneten sich durch große Grausamkeiten aus. Teilweise wurde das Prinzip der verbrannten Erde angewandt, indem Freikorpsmitglieder aus reinem Vergnügen ganze Parks und Obstplantagen mit Hilfe von Benzin niederbrannten bzw. beim Abzug aus einzelnen Dörfern strategisch wichtige Gebäude, wie beispielsweise Proviantämter und Kasernen, in Brand steckten.20 Die vergleichende Studie über die deutschen und polnischen Gewaltgemeinschaften in Oberschlesien von Wojciech Pieniazek zeigt besonders gut den sich verändernden Charakter von paramilitärischen Formationen. Mit der Niederschlagung des ersten von drei polnischen Aufständen im August 1919 durch Reichswehr und Freikorps waren die deutschen Sicherheitskräfte gemäß dem Versailler Vertrag verpflichtet, das zukünftige Abstimmungsgebiet bis Ende Januar 1920 zu verlassen. Am 11. Februar 1920 erfolgte die Übernahme der öffentlichen Sicherheit durch interalliierte Verbände der Franzosen, Italiener und Briten. Die deutschen und polnischen Stellen bereiteten sich politisch, aber auch durch den Aufbau von paramilitärischen Untergrundstrukturen auf die kommende Abstimmung vor.21 Diese Gemengelage stand am Anfang eines »Kriegs im Dunkeln«, wie Friedrich Glombowski, ein Freikorpsveteran, die informelle Kriegführung und die damit verbundene Atmosphäre vor und während der Ab18 Zitiert bei Franz Nord, Der Krieg im Baltikum, in: Ernst Jünger (Hg.), Der Kampf um das Reich, Essen 1929, S. 63–97, hier S. 66. 19 Zusammengefasst kann von drei Einzelfeldzügen gesprochen werden: dem ›Bolschewistenzug‹ von Dezember 1918 bis Mai 1919, dem ›Estenkrieg‹ von Mai 1919 bis September 1919 und dem ›Lettenkrieg‹ von September 1919 bis Dezember 1919. In allen drei Einzelperioden war die politische Situation um die Freikorps maßgeblichen Veränderungen ausgesetzt. Vgl. hierzu Markus Josef Klein, Ernst von Salomon. Revolutionär ohne Utopie, überarb. Neuauflage, Aschau i.Ch. 2002, S. 53, insbes. Fußnote 77. 20 Zur allgemeinen Überblicksliteratur bezüglich der letzten Kriegsmonate Fußnote 13 bzw. zum »Prinzip der verbrannten Erde« vgl. auch Herder-Institut für historische Ostmitteleuropaforschung Marburg, Dokumentesammlung (im Folgenden DSHI) 190 BR /BLW 19. 21 Siehe hierzu Wojciech Pieniazek, Subversive Kriegsführung in Oberschlesien 1920–1921, in: Marek Białokur/Adriana Dawid (Hg.), Spór o Górny Śląsk 1919–1922. W 90. rocznicę wypuchu III . powstania śląskiego [Der Konflikt um Oberschlesien 1919–1922. Das 90. Jubiläum des III . Austandes in Oberschlesien], Oppeln 2011, S. 191–195.

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stimmungszeit in Oberschlesien 1920/21 beschrieb.22 Die lokale und nachbarschaftliche Gewalt wurde durch örtliche und mobile Schlägertrupps bei Demonstrationen und nationalen Veranstaltungen der gegnerischen Seite in die Öffentlichkeit getragen. Die öffentlichen Räume mutierten so zu ›Schlachtplätzen‹ deutscher und polnischer Unterstützer, die von den Gewaltgemeinschaften beider Seiten mit ihren Aktionen aktiv mitstrukturiert wurden. Die Gewalt folgte hierbei einem fast rituellen Muster und wurde zu einer Art Kommunikationsform der Paramilitärs untereinander sowie zwischen ihnen und ihren Unterstützern.23 Wie in den anderen beiden Fällen übten manche Mitglieder dabei auch Rache an ihren persönlichen Konkurrenten und Feinden. Die ungewohnt plötzliche und brutale Gewalt aus dem Hinterhalt führte insbesondere in den strategisch wichtigen Brennpunktzonen Oberschlesiens zu einer rapiden Brutalisierung des Alltags der Menschen und beförderte eine allgemeine Atmosphäre der Angst in beiden nationalen Lagern. Befürchtungen vor einer feindlichen Konspiration und die Angst vor Verrat in den eigenen Reihen führten zu erhöhter Vorsicht und teilweise auch zu Paranoia, die die Bereitschaft zur sofortigen Anwendung von Gewalt in tatsächlichen und vermeidlichen Gefahrensituation noch steigerte. Welche Gewaltintensität in diesem Konflikt vorherrschte, wird aus den Zeugenaussagen des ›Gewaltnetzwerkers‹ Heinz Oskar Hauenstein24 ersichtlich, der im Stettiner Fememordprozess 192825 auftrat: »Vors.: ›Es ist hier behauptet worden, dass von ihren Untergebenen eine Anzahl von Verrätern beseitigt worden ist. Es wurde von 200 Fällen gesprochen.‹ Hauenstein: ›Ich habe mir einen kleinen Überschlag gemacht, es kann schon sei, dass es sich um 200 handelt. Für die von den Polen begangenen Mordtaten aber lässt sich überhaupt keine Ziffer anführen. Auch die Zahl von 1066 Mordtaten stimmt noch nicht.‹ Vors.: ›Ja, glaubten Sie denn damals, im Kriegszustand zu leben?‹ Zeuge: ›Das nicht. Wir bezeichneten diesen Zustand als einen Krieg im Dunkeln.‹«26 22 Friedrich Glombowski, Spezialpolizei im Einsatz, in: Ernst von Salomon, Das Buch vom deutschen Freikorpskämpfer, Berlin 1988, S. 253–258. 23 Timothy Wilson, Ritual and Violence in Upper Silesia and Ulster 1920, in: Journal of the Oxford University History Society 1 (2004), S.  1–24, https://sites.google.com/site/ jouhsinfo/issue2 %28trinity2004 %29 (Zugriff am 10.11.2015). 24 Heinz Guido Oskar Hauenstein (1899–1962) war Kriegsfreiwilliger, Mitglied der III . Marinebrigade von Loewenfeld, Experte in der subversiven Kriegführung, Organisator der »Spezialpolizei« in Oberschlesien, Führer der Selbstschutzorganisation »Sturmabteilung Heinz« in Oberschlesien sowie früher Unterstützer des Nationalsozialismus. Später geriet er in Konflikt mit der nationalsozialistischen Partei und wurde in nationalrevolutionären Splittergruppen tätig. Während der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft stand er unter Überwachung und wurde mit einem Publikationsverbot belegt. Siehe hierzu Koch, Bürgerkrieg, S. 261, 301 f., 338–341. 25 Fememorde waren politische Morde von rechtsextremistischen Kräften in der Weimarer Republik, unter denen sich ehemalige Freikorpsveteranen befanden. Einer der bekanntesten Fälle ist die Ermordung des deutschen Außenministers Walter Rathenau 1922 durch Täter aus dem Freikorps-Milieu. Mehr dazu: Sauer, Schwarze Reichswehr. 26 Berliner Tageblatt und Handelszeitung, Nr. 194, 25. April 1928, S. 3 f.

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Beide Seiten setzten auf ein intensives Anwerben bewährter Freikorpsveteranen, darunter auch einige Baltikumer und polnische Aktive aus dem Kämpfen um die Region um Lemberg (Lwów, Ľviv) 1918/19. Eine besondere Bedeutung kam hierbei den sogenannten ›Gewaltnetzwerkern‹ zu, wie auf deutscher Seite z. B. Heinz Oskar Hauenstein. Diese waren meist selbst Mitglied paramilitärischer Milieus, pflegten in diesem Umfeld intensive Kontakte, vernetzen sich untereinander und standen in Verbindung mit staatlichen Institutionen wie Militär oder Geheimdienst. Die inoffizielle Ausbildung in Geheimdiensttechniken erfolgte für die deutschen Formationen in Deutschland durch staatliche Stellen,27 finanziert wurden sie durch inoffizielle Kanäle von der deutschen Regierung.28 So entstand ein Reservoir von routinierten Gewaltexperten, die sich in Bereitschaft hielten, bis die Gewaltverbände erneut aktiv wurden. Aber auch die Polnische Militärorganisation Oberschlesiens (Polska Organizacja Wojskowa Górnego Śląska – POW) durchlief eine strukturelle Transformation, da konspirative Operationsweisen und eine subversive Kriegführung aus der Zeit der Konfrontation mit der zarischen Geheimpolizei Ochrona im russischen Teilungsgebiet auf die Region Oberschlesien übertragen und ihre Aktivitäten durch geheimdienstliche Aufklärung optimiert und verstärkt wurden.29 Das Ergebnis war die »Polnische Kampforganisation« (Bojówka Polska), ein effektives Kommando zur Durchführung paramilitärischer Gewaltunternehmungen aller Art.  Bei der Rekrutierung von Gewaltpraktikern griff man auch auf männliche polnische Oberschlesier zurück, die Kriegserfahrung in der deutschen Armee vorweisen konnten. Sie waren vor den deutschen Behörden geflohen und verfügten über entsprechende Lokalkenntnisse. Die geheimdienstliche Ausbildung und Rekrutierung erfolgte in der Nähe der polnischen Grenzstadt Sosnowice durch den polnischen Militärnachrichtendienst, der dorthin auch seine bewährtesten Mitarbeiter entsandte.30 Bezeichnend für das Handeln von Gewaltgemeinschaften in Oberschlesien war, dass sowohl die deutsche als auch die polnische Seite sich den veränderten Bedingungen immer wieder anpasste. Bei beiden Konfliktparteien kam es 27 Friedrich Glombowski, Organisation Heinz (O. H.), Das Schicksal der Kameraden­ Schlageters, Berlin 1934, S. 41–80. 28 Die Finanzierung der deutschen Paramilitärs in Oberschlesien belief sich bis zum Mai 1921 auf knapp 72,1 Millionen Mark. Siehe hierzu Peter-Christian Witt, Zur Finanzierung des Abstimmungskampfes und der Selbstschutzorganisationen in Oberschlesien 1920–1922, Freiburg i. Br. 1973, S. 5–59. 29 Einige der von Piłsudski entsandten Männer zum Ausbau der POW Oberschlesiens waren routinierte Geheimdienstler, die eine militärische Grundausbildung in den Polnischen Legionen unter Führung der Mittelmächte oder der imperialen Armeen erhalten hatten und zusätzlich geprägt waren durch die klandestine Praxis der POW während der Okkupationszeit Kongresspolens durch die Mittelmächte 1914–1918. Vgl. hierzu Bohdan Urbankowski, Józef Piłsudski. Marzyciel i strateg [Józef Piłsudski. Träumer und Stratege], Posen 2014, S. 170 f., 689–704, 723–731. 30 Ausführlicher dazu: Edward Długajczyk, Wywiad Polski na Górnym Sląsku 1919–1922 [Der polnische Militärgeheimdienst in Oberschlesien 1919–1922], Kattowitz 2001.

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zu einer ›Professionalisierung‹ ihres Gewalthandelns, was auch darauf beruhte, auf das Verhalten der Gegenseite präventiv zu reagieren und einzelne Methoden und Taktiken zu übernehmen. Gegenüber den deutschen Gewaltgemeinschaften hatten die polnischen Verbände zunächst einen gewissen Vorsprung. Die oberschlesischen Mitglieder der polnischen Rollkommandos entwickelten ein spezifisches Selbstverständnis des wehrhaften polnischen Mannes, der sich nicht mehr von deutschen Amtsträgern oder der Exekutive »schikanieren« ließ, sondern mit aller Härte zurückschlug. Dieses Männlichkeitsbild hatte seine kulturellen Wurzeln in der Mentalität des oberschlesischen Proletariers, die geprägt war von gewaltsamen Streiks, dem Widerstand gegen staatliche Autoritäten und einer im reichsweiten Vergleich erhöhten Kriminalität.31 Das allgemeine Gewaltniveau bewog sogar Politiker aus der Region, bei der polnischen Regierung zu intervenieren. Der spätere polnische Ministerpräsident und damals führende polnische Politiker in Oberschlesien, Wojciech Korfanty, reagierte auf die ausufernde Gewalt von Seiten der Bójowka Polska, indem er bei dem polnischen Verteidigungsminister Kazimierz Sosnkowski eine stärkere Kontrolle dieser Paramilitärs oder deren Demobilisierung verlangte: »In der Traugutt-Kaserne in Sosnowice befinden sich ungefähr 600 Flüchtlinge aus Oberschlesien. Die Hälfte von ihnen ist demoralisiert und ist nicht nur eine Plage für Sosnowice und die Region, sondern sie sind noch in den Schmuggel und höchstwahrscheinlich auch in Diebstähle auf dem oberschlesischen Gebiet ver­w ickelt. […] In Sosnowice amüsierten sich die Rollkommandos der Warschauer Herren M ­ achnicki, Głupek und anderer.32 Es existiert ein begründeter Verdacht, dass diese Leute auf eigene Faust in Oberschlesien handeln und sich dabei des Mordes und Raubens schuldig machen. Dieses Banditentum hat fatale Auswirkungen auf die örtliche Bevölkerung.«33

Die Interessengegensätze zwischen den nationalen Führungen, der lokalen Bevölkerung im Einsatzgebiet und den Gewaltgemeinschaften lassen sich in einer anderen Konstellation auch für den von Vytautas Petronis bearbeiteten li31 Die deutschen Ostprovinzen wiesen eine hohe Kriminalitätsrate im reichsweiten Vergleich auf, dazu gehörte auch Oberschlesien. Eine genaue Aufarbeitung der Kriminalität im deutschen Osten für den Zeitraum 1871–1918 ist ein Desiderat. Vgl. Volker Zimmermann, Der »Einfluß des slavischen Elements«. Zeitgenössische Erklärungen für die Kriminalität im Osten des Deutschen Kaiserreiches, in: Dietmar Neutatz/Volker­ Zimmermann (Hg.), Die Deutschen und das östliche Europa. Aspekte einer vielfältigen Beziehungsgeschichte, Essen 2006, S. 131–147. Zu der besonderen Prägung einiger polnischer Gewaltaktivisten siehe Karl Hoefer, Oberschlesien in der Aufstandszeit 1918–1921. Erinnerungen und Dokumente, Berlin 1938, S. 82. 32 Stanisław Machnicki (1899–1977) war ein Polizist, Gründer der Bojówka Polska und ausgebildet auf dem Gebiet der klandestinen Kriegführung. Głupek war ein Mitarbeiter von Machnicki. Mehr dazu: Zyta Zarzycka, Polskie działania specjalne na Górnym Śląsku 1919–1921 [Polnische Spezialeinheiten in Oberschlesien 1919–1921], Warschau 1989, S. 28. 33 Długajczyk, Wywiad Polski, S. 247 f.

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tauischen Beispielfall feststellen. Hier überdauerten Bedrohungswahrnehmungen und Elitenkonkurrenzen aus der Staatsgründungsperiode die Frühzeit der parlamentarischen Demokratie. Sie wurden durch die ständigen Regierungswechsel noch vertieft (in den acht Jahren zwischen der Installierung der ersten Regierung am 11. November 1918 und dem Putsch vom 17. Dezember 1926 amtierten in Litauen insgesamt 13 Regierungen), und bereits im Vorfeld der Parlamentswahlen von 1922 erreichten die politischen Animositäten und die all­ gemeine Aggressivität einen ersten Höhepunkt.34 Auch in der Folge blieb die im öffentlichen wie im privaten Bereich praktizierte Gewalt einer der Hauptkatalysatoren des politisch-sozialen Wandels.35 Vor diesem Hintergrund bedingte die scharfe Polarisierung des politischen Spektrums in Litauen, dass auf beiden Seiten Formationen bereitstanden, um ihre Gesellschaftsentwürfe auch unter Anwendung von Gewalt zu realisieren.36 Ausschlaggebend für den Putsch vom 17. Dezember 1926 war zwar die Bildung einer linksgerichteten Regierung unter Ministerpräsident Mykolas Sleževičius Monate zuvor; diese hatte am 28. September 1926 in Moskau einen Nichtangriffspakt mit der Sowjetunion unterzeichnet, was ihr die rechten Parteien und die Militärs als nationalen Verrat auslegten. Der Putsch zielte jedoch nicht allein auf einen bloßen Regierungswechsel, sondern auf den strukturellen Umbau des mittlerweile als funktionsunfähig angesehenen, im Kern zunächst jedoch belassenen parlamentarischen Systems. Dieses sollte durch Repression und den parallelen Ausbau autoritärer Herrschaftselemente schrittweise in ein Präsidialsystem überführt werden. Da der politische Rückhalt für das neue System in der litauischen Bevölkerung gering war, diskutierten Präsident Antanas Smetona und Ministerpräsident Augustinas Voldemaras zu Jahresbeginn 1927 insgeheim die Möglichkeiten der Gründung einer paramilitärischen Geheimorganisation mit dem Ziel, die neu geschaffene Situation zu stabilisieren und Umsturzversuchen vorzubeugen. Voldemaras wurde dann die treibende Kraft bei der Gründung des Eisernen Wolfes, der zwar formell dem Innenministerium zugeordnet war, seine Befehle jedoch meist direkt von einem eigenen Generalstab erhielt, der innerhalb 34 Ähnliche Taktiken einer aggressiven politischen Rhetorik wurden, wenn auch in kleinerem Rahmen, vor allem von den litauischen Christdemokraten bereits während der allerersten Parlamentswahlen 1920 angewandt. Vladas Sirutavičius, Lithuanian administration and participation of Jews in the elections to the constituent Seimas, in: Ders./Darius Staliūnas (Hg.), A Pragmatic Alliance. Jewish-Lithuanian Political Cooperation at the Beginning of 20th Century, Budapest 2011, S. 181–205, hier S. 196 f. 35 Vgl. hierzu unter anderem George L. Mosse, Shell-shock as a Social Disease, in: Journal of Contemporary History 35 (2000), H. 1, S. 101–108; Ginta Brūmane-Gromula, Violence as political agitation. The example of political posters in Latvia, 1920–1934, in: Zeitschrift für Ostmitteleuropaforschung 60 (2011), S. 539–570; Emily R. Gioielli, The enemy at the door. Revolutionary struggle in the Hungarian domestic sphere, 1919–1926, in: Zeitschrift für Ostmitteleuropaforschung 60 (2011), H. 4, S. 519–538. 36 Raimundas Lopata, Die Entstehung des autoritären Regimes in Litauen 1926. Voraussetzungen, Legitimierung, Konzeption, in: Erwin Oberländer (Hg.), Autoritäre Regime in Ostmittel- und Südosteuropa 1919–1944, Paderborn 2001, S. 95–141, hier S. 103 f.

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der Regierung wiederum nur mit Voldemaras in direkter Verbindung stand.37 Im Vergleich zur staatlichen Exekutive bediente sich der Eiserne Wolf außer­ gesetzlicher Mittel, und zwar der Anwendung von Gewalt oder durch Einschüchterungen und Gesinnungsterror. Er verfügte über eine regionale Untergliederung, die dem territorial-administrativen Aufbau Litauens entsprach, mit einem Hauptquartier in der damaligen Hauptstadt Kaunas.38 Auf diese Weise koexistierte er nicht nur in wohlkalkuliertem Abstand zu den entsprechenden staatlichen Stellen, sondern übernahm auch besondere Funktionen, die jenseits des staatlich-legalen Handlungsrahmens lagen. Die radikal antipolnischen und antijüdischen Ausschreitungen des Eisernen Wolfes (wie jene in Kaunas am 2.  August 1929), vor allem aber die offene Konkurrenz zwischen Voldemaras und Smetona in der Frage der Weiterentwicklung des autoritären Systems ließen den Eisernen Wolf bereits drei Jahre nach seiner Gründung zu einer Bedrohung für die politische Stabilität werden. Auf die Absetzung Voldemaras als Ministerpräsident folgten daher im Mai 1930 das Verbot des Eisernen Wolfes und die Teileingliederung in das autoritäre Präsidialsystem. Der Rest ging in den Untergrund und verübte von dort aus Anschläge und Sabotageakte.

3. Gewalträume Wie waren jedoch die Einsatzregionen der Gewaltgemeinschaften letztendlich strukturiert? Gibt es hier Gemeinsamkeiten über die drei Beispielfälle hinweg, etwa in Bezug auf die Frage, wie sich das Gewalthandeln zum lokal vorhandenen Gewaltniveau verhielt? Um diese Fragen beantworten zu können, muss zunächst festgehalten werden, dass keine der drei Regionen als gewaltarm gelten konnte. Tim Wilson hat konstatiert, dass vor dem Ersten Weltkrieg das Gewaltniveau in Oberschlesien selbst im Vergleich zu Ulster höher einzuschätzen war, und auch Vytautas Petronis hat für das ländliche Litauen eine endemische lokale Gewalt festgestellt, die auch mit der fehlenden Präsenz staatlicher Regulative auf dem Land zu erklären ist. Auf die entgrenzende Wirkung des Ersten Weltkriegs im Baltikum hat erstmals der amerikanische Historiker Vejas Liulevicius in mehreren Arbeiten hingewiesen.39 Insgesamt war bei Ende des Ersten Weltkriegs die Ablösung der vor37 Valentinas Gustainis, Nuo Griškabūdžio iki Paryžiaus. Atsiminimai apie Lietuvos spaudą, jos darbuotojus (1915–1940) ir Lietuvos rašytojus (1924–1966) [Von Griškabūdis bis Paris. Memoiren über die litauische Presse, ihre Arbeiter (1915–1940) und die litauischen Schriftsteller (1924–1966)], Vilnius 2005, S. 104–107. 38 Litauisches Zentrales Staatsarchiv (LCVA), Instrukcija Nr. 2 [Instruktion Nr. 2], 563–1–2, S. 3. 39 Siehe hierzu Liulevicius, Kriegsland im Osten; Ders., Der Osten als apokalyptischer Raum. Deutsche Frontwahrnehmungen im und nach dem Ersten Weltkrieg, in: Gregor Thum (Hg.), Traumland Osten. Deutsche Bilder vom östlichen Europa im 20. Jahrhundert, Göttingen 2006, S. 48–65.

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mals imperialen Verwaltungen auch mit der Teilauflösung von Ordnungs- und Legitimitätsvorstellungen einhergegangen. In ethnisch gemischten Räumen, für die die drei Untersuchungs­gebiete exemplarisch stehen, rivalisierten konkurrierende nationale Gruppen um das Regelungs- und Gewaltmonopol. Wie James Diehl eruiert hat, brachte die massive Mobilisierung von Gesellschaften im Ersten Weltkrieg vormals passive oder marginalisierte Gruppen in die ökonomische und politische Arena: »Postwar empowerment of previously disenfranchised groups made mass politics a reality. Wartime sacrifice combined with postwar economic difficulties created widespread disillusionment. As postwar economic difficulties mounted, the wartime practice of dividing the world into friends and foes and demonizing enemies was carried over into peacetime and furthered by the increasingly ideological nature of politics. […] Social and political opponents were seen as an existential threat and delegiti­mized. Compromise was ruled out. Total destruction of one’s enemies was sought.«40

Diese Gesamtentwicklung stellte vormals »stabile« Hierarchien nachhaltig zur Disposition und schuf aus lokaler Perspektive neue Bedrohungsszenarien, die bisherige Interessengegensätze entlang ethnischer, ideologischer, sozialer oder konfessioneller Bruchlinien in gewalthafte Gruppenkonflikte überführten. Dies traf selbst im Fall des Eisernen Wolfes zu, bei dem sich die Mitglieder der Ge­ waltgemeinschaft zwar nicht gegen bewaffnete konkurrierende Formationen durchzusetzen hatten, ihre führenden Kader aber eine wesentliche Aufgabe darin sahen, als überwiegend aus dem städtischen Milieu stammende Aktivisten, die ländliche Gesellschaft zu durchdringen. Das Netz an Ortsgruppen wurde deshalb seit Dezember 1926 zügig ausgebaut, so dass Mitte 1929 die Sektionen des Eisernen Wolfes bereits in jeder kleineren Stadt und in den meisten Landgemein­ den Litauens in der einen oder anderen Form präsent waren. Konkrete Gewaltund Drohaktionen richteten sich in der Folge vor allem gegen Personen, die sich dem neuen Regime gegenüber unzufrieden zeigten oder die als potenziell illoyal eingestuft wurden, aber auch gegen korrupte Staatsbedienstete, wirtschaftliche Konkurrenten oder polnische wie jüdische Minderheiten. Ein weiterer Teil an Aktivitäten betraf das »Ausspionieren der Feinde des Staates«, über die örtliche Mitglieder des Eisernen Wolfes sogar zu Gericht saßen und sich  – vom Staat geduldet – damit auch pseudo-juristische Kompetenzen anmaßten. Angesichts der Passivität der staatlichen Organe genügten zur Durchsetzung eines Definitions- und Regelungsanspruchs sowie zur Disziplinierung der lokalen Gesellschaft meist das gezielte Ausstreuen von Gerüchten und die punktuelle Ausübung von Gewalt (vor allem durch das Statuieren von Exempeln). Der Fall des Eisernen Wolfes bleibt daher im Vergleich zu den anderen hier analy40 James M. Diehl, No More Peace. The Militarization of Politics, in: Roger Chickering/Stig Förster, The Shadows of Total War. Europe, East Asia, and the United States, 1919–1939, Cambridge 2003, S. 97–112, hier S. 98.

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sierten Gewaltgemeinschaften insofern paradox, da die Notwendigkeit, tatsächlich Gewalt auszuüben, offensichtlich gering blieb. Das Auftreten der Geheimgesellschaft erweckte das Gefühl der Omnipräsenz der neuen Gewaltformation. Landesweit entstand so binnen weniger Monate ein generelles Klima der Angst und Einschüchterung, in dem bereits Gewaltandrohung und einzelne gezielt ausgeführte Gewaltaktionen genügten, um als Organisation die lokale Gesellschaft strukturell zu durchdringen. Für alle drei Beispielfälle lassen sich hier Netzwerke rekonstruieren, die Ortskundige und Ortsfremde in einer ganz spezifischen Aufgabenverteilung miteinander verbanden: Die Ortsfremden verfügen über die nötigen Außenkontakte, um die für den Gewalteinsatz notwendige logistische und finanzielle Unterstützung sicherzustellen  – vor allem bei den Baltikumern und in Oberschlesien übernahmen sie innerhalb der Gewaltgemeinschaften auch leitende Funktionen. Im Dunstkreis der Gewaltgruppen finden sich jedoch noch weitere Personengruppen, die nicht zu den eigentlichen Mitgliedern der Gewaltgemein­ schaft zu zählen sind, im Rahmen des gemeinschaftlichen Gewalthandels jedoch jene notwendigen Zuarbeiten leisteten, für die eine genaue Kenntnis der lokalen Verhältnisse notwendig war. In Oberschlesien sind hier auch Frauen zu finden, die aktiv an der Denunzierung von möglichen Feinden beteiligt waren.41 Am Beispiel der Baltikumer wird besonders deutlich, wie schwierig sich das Verhältnis zwischen den rivalisierenden Gewaltgemeinschaften und der einheimischen Land- und Stadtbevölkerung gestaltete, vor allem ab der Mitte des Jahres 1919, als die Nachschublieferungen aus dem Reich fast vollständig zum Erliegen kamen oder ganz eingestellt wurden.42 Folglich kam es zu immer stärkeren Plünderungen und einem noch rigoroseren Vorgehen gegen die ansässige Bevölkerung. Auf Eigeninitiative einzelner Teilgruppen konnte es immer wieder zu gewaltsamen Inbesitznahmen und Beschlagnahmungen beim Einrücken in verschiedene Ortschaften kommen. Nicht selten wurden Türen eingeschlagen, die Privatsphäre der Ortsansässigen missachtet und diese mit direkter Gewalt am Widerstand gehindert; man verschaffte sich Zutritt und »lebte kurze Stunden ›aus dem Hause‹«.43 Wiederholt lassen sich Episoden in den persönli41 Die Rolle der Frau als Unterstützerin von Gewaltgemeinschaften im oberschlesischen Konflikt wird aus den Aktenbeständen des Archiwum Państwowe w Katowicach [Staatsarchiv in Kattowitz] (im Folgenden AP Katowice)  ersichtlich: AP Katowice 12/15/0/1/ 37–51, 12/15/0/4/282–228, 12/15/0/4/291–39, 12/15/0/4/296–385, 12/15/0/4/297–329; zum Verhältnis zwischen Ortskundigen und Ortsfremden vgl. etwa die Ausführungen von Nicolaus von Grote über »Wesen und Sinn der Baltischen Landeswehr«, in welchen er betont, welchen Vorteil zum Beispiel diejenigen hatten die »vom Lande stammten« bzw. wie sich dies positiv auf die Kämpfe auswirkte. DSHI 120 BR /BLW 161. 42 Charakteristisch für den Konflikt im Baltikum war der Umstand, dass die deutschen Formationen unter sich häufig wechselnden Feindkonstellationen kämpften. Bestand der Hauptfeind zu Beginn der Ereignisse in den Bolschewiki, wurde später unter bürgerkriegsähnlichen Zuständen auch gegen Letten und Esten gekämpft. 43 Vgl. DSHI 120 BR /BLW 2.

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chen Aufzeichnungen der Baltikumer finden, die auch eine Missachtung sozialer Normen erkennen lassen: »Unterwegs bleibt das eine Regiment zurück um im Dorf T. Quartier zu machen. Wie ein Rudel Wölfe stürzen sich die Soldaten in die Häuser, oft mit Gewalt sich den Eingang erzwingend. Es muss nicht schön sein so stürmische Einquartierung zu bekommen.«44

Was erschwerend hinzukam, war der Umstand, dass ein gewisser Teil der Einheimischen mit den Bolschewiki sympathisierte und diese auch unterstützte. Dies hatte massive Auswirkungen auf die Art der Kriegführung, erachteten die deutschen Freiwilligenformationen doch einen Großteil der Landbevölkerung zuerst einmal als einen potentiellen Feind, was eine ganz eigene Dynamik der Gewalt zur Folge hatte.

4. Gewalthandeln und Gemeinschaftserlebnis Wenn wir uns nun dem Gewalthandeln selbst sowie dem Gemeinschaftserleb­ nis und der Gruppenkohäsion zuwenden, lässt sich für alle drei Fälle belegen, dass die Einbindung in die Gewaltgemeinschaften bei den Mitgliedern stark emotional besetzt war. Ein gewisser Teil der Kombattanten befand sich in einem »Tunnel der Gewalt«,45 der sich nicht zuletzt auch auf die kollektive Gewaltausübung unmittelbar auswirkte. Oder es lässt sich mit dem Osteuropahistoriker Felix Schnell formulieren: »Kollektive Gewalt ist eine sehr effektive Art und Weise, ›Wir‹ zu sagen.«46 Für alle drei Fälle lassen sich daher auch Eigen­ dyna­mi­ken einer Brutalisierung des Gewalthandelns ausmachen, deren konkrete Ausformung jedoch stark von den unterschiedlichen Rahmenbedingungen abhing. Gruppenloyalität war eine der obersten Handlungsprämissen: Eine oberschlesische semikriminelle Gruppierung erschoss auf offener Straße einen deutschen Polizisten, um so ihre Macht in einem Stadtbezirk zu manifestieren, und setzte nachts unter Anwendung von Waffengewalt aus einem Krankenhaus ein verwundetes Mitglied frei, das sich unter Polizeibewachung befand.47 44 DSHI 120 BR /BLW 52. In diesem Zusammenhang lassen sich auch immer wieder Hinweise auf sogenannte »Speckpatrouillen« finden, wie die eigenständige und meist gewaltsame Verpflegung aus dem Lande genannt wurde. 45 Randall Collins, Dynamik der Gewalt. Eine mikrosoziologische Theorie, Hamburg 2011, S. 544. 46 Felix Schnell, Räume des Schreckens. Gewalträume und Gruppenmilitanz in der Ukra­ ine, 1905–1933, Hamburg 2012, S. 36. Ähnliche Vergemeinschaftungsprozesse, wie von Schnell in seiner sehr interessanten Studie über die Ukraine herausgearbeitet, findet man auch bei späteren SA-Abteilungen. Vgl. Sven Reichardt, Vergemeinschaftung durch Gewalt. Der SA-»Mördersturm 33« in Berlin-Charlottenburg, in: Stefan Hördler (Hg.), SA-Terror als Herrschaftssicherung. »Köpenicker Blutwoche« und öffentliche Gewalt im Nationalsozialismus, Berlin 2013, S. 110–129. 47 Siehe zu diesem beschriebenem Vorfall Glombowski, Organisation Heinz, S. 17.

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Leitend blieb auch ein bestimmter Wertehorizont, der aus dem Wunsch nach praktizierter Gemeinschaft, nationaler Mission und Männlichkeits- wie Heldenphantasien gespeist wurde. Die kollektive Gewaltausübung hatte in diesem Zusammenhang einen stark integrierenden Aspekt. Herkunft und Alter waren bis zu einem gewissen Grad zweitrangig, eher zählten die Tat und die Aktion im Rahmen von Gewalthandeln. Die Illusion einer egalitären Gruppenstruktur und einer kameradschaftlichen Grundeinstellung ließ sich in Oberschlesien auch daran erkennen, dass sich in einigen Freikorps die Mitglieder untereinander unabhängig von ihrem alten Dienstrang als »Freiwillige« ansprachen und Führungspersonen aufgrund ihrer sozialen Fähigkeiten und ihrer Gewalt­ expertise in den Rang eines Vorgesetzten erhoben wurden. Die Phase des Einsatzes wurde auch als Phase einer biographischen Verdichtung wahrgenommen, als Prägephase, in der die eigene Virilität am intensivsten erlebt werden konnte. Ein Beispiel hierfür bietet folgender Ausspruch von ­Nicolaus von Grote, einem ehemaligen Adjutanten eines Bataillons der im Baltikum kämpfenden Einheiten, aus einem im Jahr 1968 verfassten Erinnerungsblatt für die Baltische Landeswehr: »›Ich habe nie mehr so intensiv gelebt, wie in der Landeswehr‹, schrieb unlängst ein ehemaliger Stoßtruppler aus einem fernen Kontinent. Wir stimmen dieser Äußerung zu nicht deshalb, weil wir 1918–1920 jung waren, sondern weil wir später selten so engagiert waren wie in jenen Jahren. Das wirkte sich im Geist der Truppe aus und formte eine feste Gemeinschaft. Ihr kam zugute, daß Begriffe wie Heimatliebe, Treue, Gehorsam, Kameradschaft noch nicht in Frage gestellt waren. Das hat erst der Mißbrauch dieser Tugenden später bewirkt. Unsere Kameradschaft war spontan. […]«48

Das bestimmende Element eines besonderen Gruppenverständnisses war die kollektive Gewaltausübung, sei es im Umgang mit dem Feind, sei es zur Selbstdisziplinierung der Gruppe nach innen. Die Gewalt hatte bei einigen Einheiten daher eine Doppelfunktion: als soziales Element und als bestimmende Handlungsmaxime. Hierbei bindet Menschen kaum etwas so intensiv aneinander wie das gemeinsame Bestehen einer Todesgefahr, auch aufgrund des Umstandes, dass sich die jeweiligen Gruppenmitglieder bedingungslos aufeinander verlassen können mussten. War dies nicht mehr gewährleistet oder funktionierte ein Mitglied der Gruppe nicht mehr in der notwendigen Weise, kam es meist zu einem raschen und selbstregulierenden ›Reinigungsprozess‹ von Seiten der Mehrheit der Gruppe.49 Neben der Disziplinierungsfunktion nach innen resultierte die kollektive Gewaltausübung aber auch in einem Bestätigungs­effekt nach außen, in Abgrenzung zu anderen. Als eines der Musterbeispiele für Selbststilisierung und ein besonderes Gruppen- und Identitätsverständnis kann die »Kompanie Hamburg«, eine Teileinheit des »Freikorps von Liebermann«, 48 Zitiert bei DSHI 120 BR /BLW 161. 49 Zur Selbstregulierung nach innen siehe Ernst von Salomon, Die Geächteten, Berlin 1930, S. 81.

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herangezogen werden, die 1919 im Baltikum aktiv war.50 Die »Hamburger« hoben sich schon rein optisch von den anderen Einheiten ab, indem sie sich lange wilde Bärte wachsen ließen und als Symbol ihrer Herkunft die Flagge der deutschen Hansestadt Hamburg als Kompanieflagge zur Schau stellten. Auch in ihrem Verhalten in Kampfsituationen entwickelten sie bestimmte Alleinstellungsmerkmale, wie beispielsweise das Singen eines Seeräuberliedes nach erfolgreich verlaufenen Kämpfen oder aber die Verwendung eines eigenen Schlachtrufes, nämlich der Hamburger Grußformel »Hummel, Hummel«.51

5. Selbstverständnis und Erinnerungskultur Infolge der kollektiven Gewaltausübung und der damit verbundenen spezifi­ schen Raumerfahrung kam es sukzessive zu einer Wandlung im Selbstverständnis eines großen Teils der Baltikumer. Im Lettland des Jahres 1919 wurden nicht nur »verschiedene Rollen der deutschen Geschichte […] ausprobiert und gegen andere ausgetauscht«, wie Liulevicius schreibt, vielmehr wirkte der gesamte »Schauplatz wie ein riesiges, gewalttätiges Kostümfest«.52 In der historischen Rückschau sah sich dann ein Großteil der ehemaligen Kombattanten auch eher als Landsknechte denn als reguläre Soldaten.53 Diese Extremerfahrungen hinterließen unterschiedliche Spuren in den Gedächtnissen der Kombattanten und beeinflussten deren zukünftige Handlungen und Lebenswege zum Teil erheblich. Die Frage nach Gewaltkarrieren und einer generationenspezifischen Ver­arbeitung von Gewalterfahrungen ist in der Forschungsliteratur schon seit langem präsent. So hat beispielsweise Bruno Thoß festgehalten, dass für die Generationen der vor 1900 Geborenen »der epochenprägende Zusammenhang der beiden Weltkriege das eigentliche Signum erfahrener Zeit«54 gewesen sei. Entsprechend hätten die Jahre des Ersten Weltkrieges bewirkt, so auch Joachim­ Tauber, dass viele Männer auf Grund der Gewalterfahrungen »nicht mehr in eine zivile Gesellschaft zurückkehren konnten oder wollten«.55 50 Ein Mitglied der »Kompanie Hamburg« war beispielsweise der wohl bekannteste Freikorpschronist und spätere Schriftsteller Ernst von Salomon. Siehe hierzu vor allem­ Salomon, Geächtete; Klein, Salomon. 51 Salomon, Geächtete, S. 79 f. 52 Liulevicius, Kriegsland im Osten, S. 289. 53 Zum Selbstbild des Landsknechts vgl. beispielsweise Ernst von Salomon, Die Versprengten, in: Ernst Jünger (Hg.), Der Kampf um das Reich, Essen 1929, S. 112–115, hier S. 113; siehe auch Helmut Franke, Staat im Staate. Aufzeichnungen eines Militaristen, Magdeburg 1924, S. 92, sowie Balla, Landsknechte. 54 Bruno Thoß, Die Zeit der Weltkriege. Epochen als Erfahrungseinheit?, in: Ders./HansErich Volkmann (Hg.), Erster Weltkrieg  – Zweiter Weltkrieg. Ein Vergleich. Krieg, Kriegserlebnis, Kriegserfahrung in Deutschland, Paderborn 2002, S. 7–30, hier S. 7. 55 Joachim Tauber, Editorial, in: Ders. (Hg.), Über den Weltkrieg hinaus. Kriegserfahrungen in Ostmitteleuropa 1914–1921, Nordost-Archiv. Zeitschrift für Regionalgeschichte, Neue Folge 17/2008 (2009), S. 7–12, hier S. 7.

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Dies trifft in allen drei Fällen jedoch nur auf Teile der Gewaltgemeinschaften zu. Mathias Voigtmann differenziert zwischen vier grundsätzlichen Formen der Verarbeitung, Tradierung und Perpetuierung von Gewaltpraxis, mit unter­ schiedlichen Konsequenzen für erinnerungskulturelle Praktiken und den Gruppenzusammenhalt nach dem Einsatz als Gewaltgemeinschaften. Ein Teil der Rückkehrer nahm, so der erste Typ, einen bewussten biographischen Schnitt vor, um die Gewalterfahrungen vollkommen hinter sich zu lassen. Jeglicher Kontakt zu alten Kameraden wurde abgebrochen und die temporäre Gemeinschaft für immer verlassen. Dieser Typ zog sich ganz ins Privatleben zurück und lebte ein ›normales‹ Leben. Naturgemäß verlieren sich diese Biographien und werden bald nicht mehr fassbar. Ein zweiter Typ entschied sich ebenfalls, Abstand vom aktiven Gewalthandeln zu nehmen. Charakteristisch war hier jedoch, dass ihnen keine vollkommene Loslösung vom Thema Krieg, Gewalt, Freikorps und Paramilitarismus gelang. Auf verschiedenen Wegen versuchten sie, das Erlebte zu verarbeiten, zu bewahren und an die Daheimgeblieben zu vermitteln. Die autobiographischen Aufzeichnungen und das Verfassen der verschiedenartig gelagerten Erlebnis- und Lebensberichte stellten stets einen Versuch dar, der Unsicherheit in der eigenen Biographie Herr zu werden sowie der Selbstentfremdung entgegenzuwirken und sich historisch neu zu verorten.56 Einen weiteren, dritten Typ verkörperten diejenigen Baltikumer, die, geprägt durch die besondere Kriegführung mit einer äußerst selbständigen und offensiven Stoßrichtung sowie dem absoluten Willen zur Tat, einen nahezu bedingungslosen und unbedingten Aktivismus und eine extreme Initiativbereitschaft 56 Vgl. hierzu beispielsweise den biographischen Werdegang des deutschen Lyrikers und Schriftstellers Karl Christian Müller, alias Teut oder Teut Ansolt. Müller, wie so viele des Baltikumer Jahrgangs 1900, war Mitglied des Freikorps »Freiwilligen-Bataillon von­ Liebermann«, welches überwiegend in Westlettland Einsatz fand. Zeigen seine frühen Gedichte unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg die Trauer über die verpasste Weltkriegsteilnahme und die »Last des zu spät gekommen seins«, so belegen seine Aufzeichnungen über seine Freikorpszeit, dass sich seine heroisch-romantischen Erwartungen an das Kämpferdasein schnell als Illusion erwiesen. Vielmehr sind seine Tagebuchaufzeichnungen geprägt von den Entbehrungen, den Strapazen, der schlechten materiellen Versorgung der Truppe und den prägenden Negativerfahrungen der Kämpfe. Zur Biographie Müllers siehe Torsten Mergen, Ein Kampf für das Recht der Musen. Leben und Werk von Karl Christian Müller alias Teut Ansolt (1900–1975), Göttingen 2012; Ders., Erlebte und gedeutete Geschichte. Der Erste Weltkrieg im Werk von Karl Christian Müller, in: Ralf Georg Bogner (Hg.), Im Banne von Verdun. Literatur und Publizistik im deutschen Südwesten zum Ersten Weltkrieg von Alfred Döblin und seinen Zeitgenossen/Internationales Alfred-Döblin-Kolloquium Saarbrücken 2009, Bern 2010, S. 329–349, sowie Karl August Schleiden, Literatur an der Saar im Spannungsfeld von Politik und Geschichte, in: Uwe Grund/Günter Scholdt (Hg.), Literatur an der Grenze. Der Raum Saarland – Lothringen  – Luxemburg  – Elsass als Problem der Literaturgeschichtsschreibung. Festgabe für Gerhard Schmidt-Henkel, Saarbrücken 1992, S.  25–36; zur künstlerischen Verarbeitung des Freikorpserlebnisses bei Müller vgl. Teut Ansolt, Kranz des Jünglings, Saar­ brücken 1929, S. 56 f.; Lieder der Trucht, Plauen i. V. 1934, sowie Karl Christian Müller, Der Meerhornruf. Reigen, Heidenheim 1974.

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mit nach Deutschland brachten und nicht gewillt waren, sich wieder in die zivilen Strukturen und Verhältnisse einzugliedern. Wie sich aus einer Vielzahl von Memoiren, Tagebuchaufzeichnungen sowie aus persönlichen Briefwechseln herausarbeiten lässt, hat die spezifische, in Lettland erlebte Gewaltkultur und das dort Erlebte, Gelernte und Verinnerlichte die Männer nachhaltig geprägt. In den frühen 1920er Jahren ließen Männer dieses Typs kaum eine Gelegenheit aus »aktiv zu werden«, indem sie sich gewaltbasierten Aktionen, wie beispielsweise den diversen Putschversuchen, anschlossen, diese aber nicht selbst organisierten und anführten.57 Die Organisation und Leitung der verschiedenen Aktionen und Zusammenschlüsse ehemaliger Freikorpsverbände übernahmen Männer des vierten Typs, welche wohl am ehesten als »Gewaltnetzwerker« bezeichnet werden können. Nach der Rückkehr der Baltikumer nach Deutschland war der Reichsregierung daran gelegen, die bestehenden Formationen vollständig aufzulösen.58 Um dieser Auflösung entgegenzuwirken und um den Kontakt beizubehalten, organisierten sich viele ehemalige Einheiten im sogenannten Arbeits- und Siedlungsdienst bzw. einzelnen Arbeitsgemeinschaften. Charakteristisch für den Arbeitsdienst war der Umstand, dass eine »Disziplin wie bei den Freikorps« gefordert und auch erreicht wurde. Dass jedoch die Arbeitsgemeinschaften letztlich zu einem großen Teil  nur Tarnorganisationen für paramilitärische Verbände und Organisationen waren, zeigt nicht zuletzt die Analyse der Freikorpszeitschriften und persönlichen Erinnerungsschriften.59 57 Einer dieser »Gewaltveteranen« war z. B. Ernst von Salomon. Bei Salomon schlug sich die besondere Gewaltsozialisation aus dem Baltikum unter anderem nieder im aktiven Waffenschmuggel, Sabotageakten und politischen Attentaten zu Beginn der 1920er Jahre. So war er beispielsweise indirekt am Mordanschlag auf Walter Rathenau beteiligt, indem er dessen Tagesablauf auskundschaftete und ihn intensiv beobachtete. Zum Lebensweg Ernst von Salomons nach seiner Rückkehr aus dem Baltikum vgl. Klein, Salomon, S. 67–124. 58 Viele ehemalige Freikorps blieben informell und im Geheimen zusammen, häufig indem sie sich in verschiedenen Tarnfirmen organisierten, so zum Beispiel in Detektivbüros, Wanderzirkussen oder Rollfuhrfirmen. Siehe hierzu auch Salomon, Geschichte, S. 98. 59 Exemplarisch für den vierten Typ stehen Gerhard Roßbach und die von ihm geleiteten Arbeitsgemeinschaften. Roßbach, Jahrgang 1893 und ehemaliger Infanterieleutnant im Ersten Weltkrieg, pries die Dienste seines getarnten Korps öffentlich in Zeitungsinseraten an. Er und seine Männer boten sich vor allem Großgrundbesitzern in Mecklenburg, Pommern und Schlesien an, auf deren Gütern sie eine Art Landschutz verkörperten, welcher geprägt war von einer großen Gewaltbereitschaft sowie Gewaltexpertise. Vgl. Bernhard Sauer, Gerhard Roßbach – Hitlers Vertreter für Berlin. Zur Frühgeschichte des Rechtsradikalismus in der Weimarer Republik, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 50 (2002), H. 1, S. 5–21, hier S. 7; zur Tätigkeit der Roßbacher siehe Emil Julius Gumbel, Verschwörer. Zur Geschichte und Soziologie der deutschen nationalistischen Geheimbünde 1918–1924, Heidelberg 1979, S. 89 f. In Ansätzen finden wir hier das, was Georg Elwert in seinen interessanten Ausführungen »Gewaltmärkte« genannt hat, vgl. Ders., Gewaltmärkte, S. 86–101. Zu den Freikorpszeitschriften als Quelle siehe Der Reiter gen Osten 5 (1934), H. 7, S. 12, sowie Der Reiter gen Osten 6 (1935), H. 4, S. 13. Zum Vergleich siehe auch das Beispiel Oberschlesien: Anm. 22.

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Das besondere Gruppenverständnis und das während der kriegerischen Auseinandersetzungen gewachsene Zusammengehörigkeitsgefühl zeigten sich bei einem Großteil der ehemaligen Kombattanten allerdings nicht nur bei der aktiven Beteiligung in den halb illegalen Arbeitsgemeinschaften. Nicht wenigen Baltikumern war auch auf legalem Wege daran gelegen den Kontakt untereinander aufrechtzuerhalten. Hierzu organisierte man sich in einer Vielzahl von Kameradschaften. Eine der größten war die »Kameradschaft ehemaliger Baltikumer- und Freikorpskämpfer«, die über Deutschland verteilt war, wobei Berlin und sein Umland eine Sonderstellung einnahmen. Auf den regelmäßigen Kameradschaftsabenden  – diese fanden mindestens einmal im Monat statt  – wurden Vorträge gehalten, in denen vorwiegend auf das gemeinsam Erlebte Bezug genommen wurde. Häufig wurden besonders außergewöhnliche Episoden und heldenhaft erscheinende Handlungen vorgestellt und heroisiert. Auffällig hierbei ist, dass bestimmte Ereignisse hinter anderen zurücktraten und sich eine spezifische Erinnerungskultur entwickelte, in der ausgewählte Geschehnisse überbetont und in den Mittelpunkt des gemeinsamen Erinnerns gerückt wurden. Solch ein zentraler Punkt ist wie schon erwähnt die Eroberung von Riga am 22. Mai 1919.60 Für das erinnerungskulturelle Fortleben der Gewaltgemeinschaften waren neben den monatlichen Treffen vor allem die alle fünf oder zehn Jahre stattfindenden Jubiläumstreffen von besonderer Bedeutung. Meist mit mehreren hundert Personen, einschließlich der Ehepartner, liefen diese Treffen nach einem vorgezeichneten Muster ab: Begrüßungsworte, Verlesen von Grußbotschaften, Kranzniederlegungen, Vorträge, gemeinsames Singen und gemeinsames geselliges Beisammensein. Genauso wie es im Baltikum spezifische Orte der Gewalt gab, bildeten sich auch spezifische Erinnerungstopographien aus, seien dies Denkmäler oder Gedenktafeln, aber auch diejenigen Orte, wo man in einem gewissen Rhythmus zusammenkam und gemeinsam der Vergangenheit gedachte. Oft traf man sich auch in den Privatwohnungen besonders aktiver Ehemaliger.61 Einmal geschlossene Kontakte und Freundschaften wurden bis ins hohe Alter gepflegt, worüber der rege Briefwechsel zwischen den Ehemaligen detailliert Aufschluss gibt. Der hohe Grad der Vernetzung und die wechselseitige Achtung zeigen sich nicht zuletzt an dem gemeinsamen Begehen von Geburtstagen, der Ehrbekundung bei Beerdigungen sowie dem Spendensammeln für materiell schlechter gestellte Kameraden.62

60 Vgl. beispielsweise Der Reiter gen Osten 7 (1936), H. 7, S. 15; zur Bedeutung Rigas siehe DSHI 120 BR /BLW 57. 61 Siehe hierzu unter anderem DSHI 120 BR /BLW 90, sowie DSHI 120 BR /BLW 69. 62 Beispielsweise: DSHI 120 BR /BLW 85.

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6. Bilanz Gunther Mai hat darauf hingewiesen, dass die Zeit zwischen den beiden Weltkriegen in Europa »von einer verwirrenden Kumulation Gewalt begünstigender Konstellationen geprägt war.«63 Selbst wenn die in diesem Beitrag verglichenen Kampfgemeinschaften in unterschiedlichen Kontexten entstanden, verdeutlichen sie diese Annahme gleich in mehrfacher Weise. Die vom Ersten Weltkrieg ausgehende systemische, ökonomische und soziale Destabilisierung und Verunsicherung und die offenen Konkurrenzen in der Übergangszeit von den monarchischen Systemen zur Nationalstaatenordnung begünstigten gleichermaßen die Formierung von Gruppen, die ganz im Sinne des Rahmenkonzepts als Gewaltgemeinschaften verstanden werden können. Denn sie konstruierten eine eigenständige Gewaltkultur, die die fast durchgehend männlichen Gewaltbereiten unterschiedlicher Herkunft in Gruppenstrukturen entwickelten. Diese definierten sich über die Art und Weise der Gewaltanwendung und Gewaltandrohung und wurden in ihrer jeweiligen Aktivitätsregion rasch zu Trägern einer neuen Form von Gewaltpräsenz. Dennoch wäre die Vorstellung von vereinzelt und selbstbestimmt agierenden Gruppen irreführend, denn alle drei Fälle haben gezeigt, dass die Motivationen von Akteuren außerhalb der eigentlichen Gewaltgemeinschaften auch dann in das Bild miteinbezogen werden, wenn – wie im Baltikum – die Befehlsstruk­ turen nicht mehr reibungslos funktionierten. Die paramilitärischen Verbände der Zwischenkriegszeit standen zwar vor allem in den späten Phasen ihrer Aktivitäten in einem ambivalenten oder sogar prekären Verhältnis zur Staatsmacht, leisteten aber selbst dann noch jede Menge an mittelbarer Unterstützung und Vorbereitungsarbeit zur Durchdringung regionaler Räume durch den Staat. Gerade hier lässt sich für die untersuchten Gewaltgemeinschaften die Frage beantworten, die Robert Gerwarth und John Horne folgendermaßen formuliert haben: »how [became] military violence […] subsumed into politics following the First World War, before being re-established into the supercharged military violence of the Second. The processes concerned were anything but linear.«64

Was bringt uns die Annäherung an diese Frage über den Umweg der Gewaltgemeinschaften? Die Ergebnisse dieses Beitrags legen den Schluss nahe, dass die Perspektive von einem direkten Transfer von Gewaltdispositionen und Gewaltpraktiken aus dem Ersten in den Zweiten Weltkrieg höchstens einen Ansatzpunkt, keinesfalls aber eine umfassende Erklärung bieten kann. Zwar finden 63 Gunther Mai, Europa 1918–1939. Mentalitäten, Lebensweisen, Politik zwischen den Weltkriegen, Stuttgart 2001, S. 13. 64 Robert Gerwarth/John Horne, The Great War and Paramilitarism in Europe, 1917–23, in: Contemporary European History 19 (2010), H. 3, S. 267–273, hier S. 269.

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sich immer wieder Hinweise auf die nachhaltige Prägewirkung des Kampfeinsatzes in den Kollektivbiographien zahlreicher Protagonisten. Wie gerade das Beispiel des Eisernen Wolfes jedoch zeigen kann, eröffneten sich den Mitgliedern durch ihre Aktivitäten in den Gewaltgemeinschaften auch andere Gelegenheitsstrukturen, um abseits von Gewaltkontinuitäten zum Ersten Weltkrieg ihre neue Ordnungs- und Gemeinschaftsvorstellungen auszuleben. Insofern sind paramilitärische Verbände im Ostmitteleuropa der Zwischenkriegszeit zwar Übergangsphänomene, aber auch Vertreter einer utopistisch orientierten Gewaltavantgarde im Zeitalter der Extreme.

Friedrich Lenger/Michael Schellenberger

Gewaltgemeinschaften im urbanen Raum der Zwischenkriegszeit Barcelona, Belfast, Berlin1

1. Einleitung Gewalt in Großstädten, zumal kollektiv verübte Gewalt, war in der europäischen Zwischenkriegszeit Teil  der urbanen Lebenswirklichkeit.2 An diesem Gewaltgeschehen hatten verschiedenste Akteure Anteil, vom Kleinkriminellen bis zu politischen Organisationen. Einen prominenten Platz eroberten sich dabei Gewaltgemeinschaften, die in sehr unterschiedlichen Formen in Erscheinung traten.3 Die von diesen in das städtische Leben getragene physische Gewalt bestimmte zeitweise Alltag und Ordnung, auch wenn nicht zwangsläufig immer alle Milieus und Räume der städtischen Zentren betroffen waren. ­Beobachten lässt sich dieses historische Phänomen in vielen europäischen Metropolen, gleichwohl war es in solchen Städten präsenter, in denen die politischen, nationalistischen respektive regionalistischen und konfessionellen Konfliktlinien ausgeprägter waren. Der folgende Aufsatz nimmt mit Barcelona, Belfast und 1 Die Autoren, von denen Friedrich Lenger den ersten, dritten sowie vierten und Michael Schellenberger den zweiten sowie fünften Abschnitt konzipiert hat, danken Sharon Bäcker-­ Wilke und Florian Grafl, die im Rahmen des Gesamtprojekts die Gewaltgemeinschaften der Zwischenkriegszeit in Berlin und Barcelona erforscht haben. Sie stellten aus ihren vor dem Abschluss stehenden Dissertationen Material für diesen Aufsatz zur Verfügung und kommentierten das dem Beitrag zugrundeliegende Vortragsmanuskript. Vgl. schon­ Sharon Bäcker-Wilke u. a., Gewaltgemeinschaften im städtischen Raum. Barcelona, Berlin und Wien in der Zwischenkriegszeit, in: Winfried Speitkamp (Hg.), Gewaltgemeinschaften. Von der Spätantike bis ins 20. Jahrhundert, Göttingen 2013, S. 317–341; Florian Grafl, »¡Deú nos en guardi, quins lladres!« – Urbane Gewalt in Barcelona zur Zeit der zweiten Republik, staatliche Interventionsversuche und die Reaktion der städtischen Akteure, in: Informationen zur modernen Stadtgeschichte (2013), H. 2, S. 31–42, sowie jetzt Sharon Bäcker-Wilke, Städtische Ordnungsstrukturen der nichtorganisierten Berliner Großstadtjugend der Weimarer Republik, in: Informationen zur modernen Stadtgeschichte (2015), H. 2, S. 42–53; Michael Schellenberger, Troubles and Riots. Gewaltgemeinschaften in Belfast während der Zwischenkriegszeit, in: Philipp Batelka u. a. (Hg.), Zwischen Tätern und Opfern. Gewaltbeziehungen und Gewaltgeschichte, Göttingen 2017, S. 259–288. 2 Vgl. Friedrich Lenger (Hg.), Kollektive Gewalt in der Stadt. Europa 1890–1939, München 2013. 3 Zur Definition des Begriffs vgl. Winfried Speitkamp, Gewaltgemeinschaften, in: Christian Gudehus/Michaela Christ (Hg.), Gewalt. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart 2013, S. 184–190.

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Berlin ebensolche Städte in den Blick. Diese drei in vielerlei Hinsicht so unterschiedlichen Industriestädte sollen und können an dieser Stelle nicht eingehend vorgestellt werden. Auf eine differenzierte Beschreibung dieser Unter­suchungs­ orte im Sinne eines typologisierenden Vergleichs der Hafenstädte Belfast und Barcelona mit dem Wirtschaftszentrum Berlin oder eine Erörterung der strukturellen Gemeinsamkeiten der nationalen Hauptstadt Berlin mit den regionalen Metropolen Kataloniens und Nordirlands kann insofern auch verzichtet werden, als die für die folgenden Darlegungen zentralen Rahmenbedingungen und Konfliktlinien aus derartigen Betrachtungen kaum abzuleiten sind. Gemeinsam ist allen drei Untersuchungsstädten freilich die erhebliche Rolle, die der Konflikt zwischen Proletariat und Bourgeoisie spielte. Doch weit wichtiger waren zum einen die Trennlinien zwischen sich feindlich gegenüberstehenden Gruppen unterschiedlicher religiös-konfessioneller oder ethnisch-nationaler Zugehörigkeiten und politischer Überzeugungen, zum anderen die Wirksamkeit und die Glaubwürdigkeit, mit welcher der Staat seinen Anspruch auf das Gewaltmonopol durchsetzen und dessen überparteiliche Ausübung beanspruchen konnte.4 Vergleichsweise übersichtlich und gemessen an der Situation in Barcelona und Belfast friedlich waren die Verhältnisse in Berlin, zumindest nachdem sich die junge Republik gegen ihre revolutionären Herausforderer durchgesetzt hatte und Freikorps und Bürgerwehren, die das staatliche Gewaltmonopol herausgefordert hatten, von der Bühne abgetreten waren.5 So unterschiedlich die in der Spätphase der Weimarer Republik viel Aufsehen erregenden Straßenschlachten zwischen meist jungen Kommunisten und ähnlichen Altersgruppen entstammenden SA-Männern bewertet werden, von einem Bürgerkrieg ist in der neueren Forschung nicht mehr die Rede.6 Die gleichwohl beträchtliche Bedeutung dieser Gewalt lag eher auf der Ebene ihrer diskursiven Be­arbei­ tung und medialen Repräsentation, nicht in der Herausforderung staatlicher

4 Eine Einordnung erlaubt Friedrich Lenger, Metropolen der Moderne. Eine europäische Stadtgeschichte seit 1850, München 22014, bes. S. 385–399. 5 Vgl. zur unmittelbaren Nachkriegsphase zuletzt Robert Gerwarth, Rechte Gewaltgemeinschaften und die Stadt nach dem Ersten Weltkrieg. Berlin, Wien und Budapest im Schatten von Kriegsniederlage und Revolution, in: Friedrich Lenger (Hg.), Kollektive Gewalt in der Stadt. Europa 1890–1939, München 2013, S. 103–121. 6 Vgl. aus der umfangreichen Literatur vor allem Andreas Wirsching, Vom Weltkrieg zum Bürgerkrieg? Politischer Extremismus in Deutschland und Frankreich 1918–1933/39. Berlin und Paris im Vergleich, München 1999; Sven Reichardt, Faschistische Kampfbünde. Gewalt und Gemeinschaft im italienischen Squadrismus und in der deutschen SA , Köln 2002, sowie Ders., Totalitäre Gewaltpolitik? Überlegungen zum Verhältnis von nationalsozialistischer und kommunistischer Gewalt in der Weimarer Republik, in: Wolfgang Hardtwig (Hg.), Ordnungen in der Krise. Zur politischen Kulturgeschichte Deutschlands 1900–1933, München 2007, S. 377–402; Robert Gerwarth/John Horne, Vectors of Violence. Paramilitarism in Europe after the Great War, 1917–1923, in: Journal of Modern History 83 (2011), H. 3, S. 489–512.

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Macht.7 Das lässt sich von den beiden anderen Untersuchungsstädten so eindeutig nicht behaupten. Denn der spanische wie der britische Staat standen hier – unterschiedlich starken  – Unabhängigkeitsbewegungen gegenüber, die eben diesen Staat als kolonialen Unterdrücker betrachteten. In Katalonien hatte das eine jahrhundertelange Tradition, und in den protestantischen Zentren Nordirlands gewann der gleichfalls weit zurückreichende Konflikt für die irisch-­ katholische Minderheit gerade dadurch an Schärfe, dass dem katholischen ›Süden‹ Ende 1921 die Unabhängigkeit gewährt worden war.8 Das machte den spanischen respektive britischen Staat in anderer Weise zur Partei als den deutschen in Berlin, zumal deren bewaffnete Repräsentanten vielfach von außen kamen. Die in Barcelona zum Einsatz kommenden Polizisten waren meist in anderen spanischen Regionen rekrutiert worden, für das britische Militär galt das ohnehin. Dass sich in Belfast Teile der Polizei wie die berüchtigten B-Specials gar aus der lokalen paramilitärischen Ulster Volunteer Force (UVF) rekrutierten und insofern unmittelbare Konfliktpartei waren, spitzte diesen Sachverhalt nur zu. Für ihre Grausamkeit berühmte Einsatztruppen wie die britischen black and tans oder der Missbrauch des spanischen Ley de Fugas, das die Erschießung Flüchtiger erlaubte, unterstreichen die Bedeutung der fehlenden rechtsstaatlichen Einhegung polizeilicher und militärischer Gewalt. Die aus separatistischer Perspektive geteilte koloniale Situation Kataloniens und Nordirlands darf aber über tiefgreifende Unterschiede nicht hinwegtäuschen. Während in Belfast die tiefe Kluft zwischen katholisch-irischen Nationalisten und protestantischen Unionisten allenfalls punktuell wie 1919 in einem gemeinsamen Streik überwunden werden konnte, blieb die katalanische Unabhängigkeit ein dominant bürgerliches Projekt. Die soziale Zerklüftung der städtischen Gesellschaft konnte es nie überbrücken, zumal Streiks in der in Barcelona dominierenden anarcho-syndikalistischen Arbeiterbewegung eine grundsätzlichere Qualität besaßen als bloße Auseinandersetzungen um Lohnhöhen und Arbeitszeiten. In die schon vor dem Ersten Weltkrieg ausgesprochen blutigen Konflikte griffen nicht nur Polizei und Militär ein, sondern auch staatlicherseits zugelassene Bürgerwehren wie die Somaten oder geheime, aber gleichwohl vor allem aus früheren Polizeikräften rekrutierte Kampfverbände wie die banda negra. Die Existenz solcher halbstaatlicher und paramilitärischer Gewaltgemeinschaften allein belegt schon, dass von einem staatlichen Gewaltmonopol selbst während der Diktatur Primo de Riveras, der Blütezeit der­ 7 Vgl. Dirk Schumann, Politische Gewalt in der Weimarer Republik 1918–1933. Kampf um die Straße und Furcht vor dem Bürgerkrieg, Essen 2001; Bernhard Fulda, Press and Politics in the Weimar Republic, Oxford 2009, oder Dirk Blasius, Weimars Ende. Bürgerkrieg und Politik 1930–1933, Göttingen 2005. 8 Vgl. etwa Chris Ealham, Anarchism and the City. Revolution and Counter-Revolution in Barcelona, 1898–1937, Oakland 2010; Alan F. Parkinson, Belfast’s Unholy War. The Troubles of the 1920s, Dublin 2004; Tim K. Wilson, Frontiers of Violence. Conflict and Identity in Ulster and Upper Silesia, 1918–1922, Oxford 2010.

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Somaten, eigentlich nicht die Rede sein kann, wenngleich die Zahl kollektiver Gewalttaten deutlich zurückging. Aller Unterschiede in der Umsetzung des staatlichen Gewaltmonopols zum Trotz nahmen auch in Berlin alle Konfliktparteien die Polizei als Gegner und als parteiisch wahr. In der verklärten Schilderung der Gründung eines Sturmlokals der SA in Charlottenburg z. B. erscheint die Polizei als Verbündeter gewalttätiger Kommunisten. Deren Angriff wird zwar abgeschlagen, »die Polizei verhaftete dann aber sämtliche anwesenden SA-Männer«.9 Und umgekehrt ist in der Roten Fahne immer wieder der Vorwurf zu lesen: »Die SA kann unter der Preußenjustiz, unter der Severingpolizei lachen.«10 Das ganz unterschiedliche Agieren von Polizei und Militär in unseren drei Untersuchungsstädten hebt solche wenig überraschenden Wahrnehmungsmuster aber in keiner Weise auf. Vielmehr sind »Konstellationen unvollständiger Staatlichkeit« für die Häufigkeit, Form und Intensität gewaltsamen Handelns zentral.11 Im Folgenden soll aber der Blick zunächst auf die Bildung und die inneren Strukturen von Gewaltgemeinschaften, dann auf Konjunkturen der Gewaltausübung und für sie typische Gewaltpraktiken sowie auf Räume der Gewalt gelenkt werden, bevor abschließend nach typischen Gewaltsituationen und die in ihnen zutage tretende Gewaltgrammatik gefragt werden kann. Bei dieser Studie – das ist vorab noch einzuräumen – handelt es sich um die Zusammenführung der Ergebnisse von drei Einzelprojekten, die vom erkenntnisleitenden Interesse her die gleichen oder zumindest ähnliche Ziele verfolgt haben und dabei doch bedingt durch die Verschiedenheit der drei Untersuchungsstädte sowie die unterschiedlichen Forschungssituationen als auch Quellenlagen zum Teil andere Wege beschritten. Die folgende Synthese muss daher naturgemäß immer wieder an ihre Grenzen stoßen.

2. Gemeinschaftsbildungen und innere Strukturen Die hier verwendete recht offene Bestimmung des Terminus Gewaltgemeinschaften ermöglicht es, Gemeinschaften in den Blick zu nehmen, die sehr unterschiedlich in der Art ihrer Entstehung und Ausbildung waren. Umso mehr ist zu fragen, was so unterschiedliche Gemeinschaften wie die kommunistischen Gruppierungen im Berlin der ausgehenden Weimarer Republik, die anarchistischen Gruppen in Barcelona während der 1920er Jahre oder die sich spontan bildenden und wieder zerfallenden antikatholischen Straßengemeinschaften aus Männern und mitunter auch Frauen in den Belfaster Troubles und Riots 9 Sturm 33. Hans Maikowski, geschrieben von Kameraden eines Toten, Berlin 31942, S. 32 f. 10 Rote Fahne vom 11. Februar 1932, Grzesinski schließt Arbeiterlokal im Berliner Osten, S. 3. 11 Winfried Speitkamp, Einführung, in: Ders. (Hg.), Gewaltgemeinschaften. Von der Spätantike bis ins 20. Jahrhundert, Göttingen 2013, S. 7–13, hier S. 7.

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der Zwischenkriegszeit verbindet. Eine mögliche Antwort darauf findet sich in der Behandlung einer weiteren Frage, nämlich der nach der Bedeutung des Ersten Weltkriegs als Referenzpunkt für die Entstehung und Konsolidierung urbaner, gewaltbasierter Gruppierungen. Damit sind Aspekte wie die vermeintliche Brutalisierung von Gesellschaften durch das Fronterlebnis, die politischen Auswirkungen des Zerfalls staatlicher Gebilde und gesellschaftlicher Ordnungen, die Ausstrahlungen der bolschewistischen Oktoberrevolution in Russland, die kriegsbedingte Generationenfolge oder auch die kriegsbedingt gesteigerte Verfügbarkeit und Präsenz von Schusswaffen angesprochen.12 In der Summe solcher Bezüge lassen sich die Nachwirkungen des Ersten Weltkriegs am sichtbarsten an der Formierung der politischen Kampftruppen und paramilitärischen Verbände in Berlin fassen. Allen voran der kommunistische Rote Frontkämpferbund und seine Gegenspieler, das sozialdemokratische Reichsbanner wie auch die nationalsozialistische SA, können als Produkte des »schrittweisen Radikalisierungsprozesses« der politischen Kultur und der Lebenswelten proletarischer und kleinbürgerlicher Schichten in der Weimarer Republik angesehen werden.13 Deutlich anders liegen die Verhältnisse in Barcelona und Belfast zumindest im Hinblick auf solche Gewaltgemeinschaften des 20. Jahrhunderts, die  – zieht man ein Erklärungsmodell von Charles Tilly heran  – eine kom­ plexere Organisation aufwiesen und sich durch ein verbindliches Bekenntnis oder Programm auszeichneten, das als gemeinschaftsstiftender ideologischer Fluchtpunkt diente.14 Die Entstehung derart ›moderner‹ Gewaltgruppen in Belfast und Barcelona nahm bereits vor Ausbruch des Weltkrieges ihren Anfang. Zum entscheidenden Ereignis für Nordirland und seine künftige Hauptstadt wurde die 1912 einsetzende Home Rule Crisis. In die politische Auseinandersetzung um die Selbstverwaltung Irlands fiel die Geburtsphase der UVF als paramilitärische Keimzelle der protestantisch-unionistischen Gegenwehr zu einer Verselbständigung der Insel.15 Während in Massenversammlungen Hunderttausende protestantische Nordiren für die Aufrechterhaltung der vollständigen Union von Großbritannien und Irland demonstrierten, formierten sich innerhalb des Oranier-Ordens 12 Vgl. Dirk Schumann, Gewalterfahrungen und ihre nicht zwangsläufigen Folgen. Der Erste Weltkrieg in der Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts, in: Zeitgeschichte-online, Mai 2004, http://www.zeitgeschichte-online.de/thema/gewalterfahrungen-und-ihre-nichtzwangslaeufigen-folgen (Zugriff am 21.1.2015). 13 Vgl. ebd., S. 16. 14 Vgl. dazu Charles Tillys Analyse kollektiver Gewalt im neuzeitlichen Europa, Ders., Collective Violence in European Perspectives, in: Hugh Davis Graham/Ted Robert Gurr (Hg.), Violence in America. Historical & Comparative Perspectives, Beverly Hills 1979, S. 83–118. 15 Zur irischen Geschichte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und zur Formierung der katholisch-nationalistischen und protestantisch-unionistischen Konfliktparteien vgl. unter anderem Thomas Noetzel, Geschichte Irlands. Vom Erstarken der englischen Herrschaft bis heute, Darmstadt 2003.

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erste Freiwilligeneinheiten, die sich unter der Leitung zweier charismatischer Führungsgestalten  – dem Anwalt Edward Carson und dem Politiker James Craig – zu einer Zehntausende Männer umfassenden Einheit zusammenschlossen. Noch vor Kriegsausbruch wurde die Ausrüstung dieser ›Privatarmee‹ mit Gewehren und der notwendigen Munition organisiert; bis zum Beginn der Auseinandersetzungen in Nordirland 1920 lagerte das Waffenmaterial dann in Verstecken.16 Die Gründung der UVF wiederum war bedeutsam für die Neuformierung militanter Gruppierungen innerhalb der katholisch-nationalistischen Bewegungen, aus denen schließlich die IRA hervorgehen sollte.17 Nicht direkt vergleichbar, aber doch in manchem ähnlich zeigt sich die Vorgeschichte der in Barcelona aktiven Gewaltgemeinschaften. Der Beginn der jüngeren Gewaltgeschichte der Stadt setzt ziemlich exakt im Jahr 1890 mit Anschlägen und Attentaten von Anarchisten ein.18 Von da an bis in die 1920er Jahre zieht sich eine fast ununterbrochene Linie gewaltsamer anarchistischer Aktionen, die durch eine Tendenz hin zur vermehrten Organisation gekennzeichnet ist. Bestimmten bis zur Jahrhundertwende anarchistische Einzelaktivisten das Gewaltgeschehen, gerieten diese nach 1900 immer stärker in den Sog organisierter Gruppierungen. Gewalt war für diese grupos de afinidad zwar noch kein dominanter Konstituierungsfaktor, doch formte sie den ideologischen und personellen Nährboden, aus dem sich die kommende Generation gewaltbereiter Anarchisten in Barcelona herausbilden sollte. Ein längeres Vorleben hatten auch die Somaten, die in den ländlichen Gebieten Spaniens traditionell zum Eigentumsschutz herangezogen wurden. In Barcelona übernahmen diese dann zum Ende der Restaurationsmonarchie und unter der Herrschaft Primo de Riveras als eine sich selbstbewaffnende Bürgerwehr die Rolle einer halbstaatlichen Ordnungskraft. Reichen die Anfänge der Gewaltgemeinschaften in Barcelona und Belfast somit vor 1914 zurück, lässt sich aber auch für diese beiden Städte dem Ersten Weltkrieg ein dynamisierender Einfluss auf die Ausbildung von Gewaltgemeinschaften nicht absprechen. So forcierte ganz augenscheinlich der kriegsbedingt zunehmende private Waffenbesitz die Ausbildung von Gewaltgemeinschaften gerade in der unmittelbaren Nachkriegszeit.19 Nicht minder von Bedeutung­ 16 Vgl. Timothy Bowmann, Carson’s Army. The Ulster Volunteer Force, 1910–22, Manchester 2007; Michael Farrell, Arming the Protestants. The Formation of the Ulster Special Constabulary and the Royal Ulster Constabulary, 1920–27, London 1983. 17 Vgl. Peter Hart, The I. R. A. at War 1916–1923, Oxford 2003; Noetzel, Geschichte Irlands, S. 69–73, 92–97. 18 Vgl. Temma Kaplan, Red City, Blue Period. Social Movements in Picasso’s Barcelona, Berke­ley 1992, S. 23–36. 19 Die Zunahme von Waffen, insbesondere von Gewehren in privatem Besitz nach Kriegsende war ein europäisches Phänomen, wie beispielsweise auch Klaus Weinhauers Studie zu Hamburg zeigt. Ders., Protest, kollektive Gewalt und Polizei in Hamburg zwischen Versammlungsdemokratie und staatlicher Sicherheit ca. 1890–1933, in: Friedrich Lenger (Hg.), Kollektive Gewalt in der Stadt. Europa 1890–1939, München 2013, S. 69–102, hier S. 78.

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waren die ökonomischen Verwerfungen infolge des Konfliktes. Der Eintritt vieler arbeitsloser Veteranen in die paramilitärischen Gruppierungen Belfasts kann ebenso als Kriegsfolge gewertet werden wie die Bildung von Bürgerwehren in Barcelona eine Reaktion auf die rezessionsbedingten Streiks der unmittel­ baren Nachkriegsjahre war.20 Freilich ist mit diesen skizzenhaften Ausführungen der Konnex von Krieg und kollektiver Gewalt nicht nur für Barcelona und Belfast, sondern auch für Berlin nur ansatzweise umrissen. Wenn Robert Gerwarth und John Horne aber argumentieren, dass sich die paramilitärische Gewalt der Nachkriegszeit allein im Rahmen längerer Entwicklungslinien erklären lässt,21 so kann doch gezeigt werden, wie zutreffend diese Annahme gerade für Barcelona und Belfast ist, wobei sich beide Städte mit ihren äußerst langen, bis ins 19. Jahrhundert zurückreichenden Gewaltgeschichten sicher von anderen europäischen Städten abheben. Kriegsfolgen und -erfahrungen, so lässt sich konstatieren, waren in diesen Kommunen nicht die ursächlichen oder gar alleinigen Faktoren im Formierungsprozess der urbanen Gewaltgemeinschaften der Zwischenkriegszeit. Desgleichen gab es auch in Berlin keine »einfache Kontinuität von den Schützengräben« in die Gewaltgeschichte der 1920er und 1930er Jahre, um eine Formulierung von Jörn Leonhard aufzugreifen.22 Der Erste Weltkrieg mit all seinen Folgen war weniger der Ausgangspunkt als vielmehr der Katalysator, der in allen drei Städten die Bildung urbaner Gewalt­gemein­ schaf­ten beförderte. So unterschiedlich die Entstehungsgeschichte der betrachteten Gewaltgemein­ schaften war, so schwierig ist es zudem, mit Blick auf ihre innere Struktur und äußere Gestalt einheitliche Muster auszumachen. In allen drei Städten agierten mitunter zur selben Zeit verschiedenartige kollektive Gewaltakteure gegen-, neben- oder miteinander, wobei das Spektrum von selbstständigen Kleinstgruppen bis hin zu tausendköpfigen Formationen reichte. Was sie in der Rückschau verbindet, ist ihre soziale Basis im Proletariat und Kleinbürgertum sowie ihre Prägung durch spezifische Maskulinitätsvorstellungen.23 Die Mitwirkung von Frauen schloss das nicht grundsätzlich aus. Beispielsweise waren 1918 randalie20 Vgl. Jane G. V. McGaughey, Ulster’s Men. Protestant Unionist Masculinities and Militarization in the North of Ireland, 1912–1923, Montreal 2012, S. 171 f.; Farrell, Arming the Protestants, S. 46; Julia Eichenberg, Von Soldaten zu Zivilisten, von Zivilisten zu Soldaten. Polen und Irland nach dem Ersten Weltkrieg, in: Robert Gerwarth/John Horne (Hg.), Krieg im Frieden. Paramilitärische Gewalt in Europa nach dem Ersten Weltkrieg, Göttingen 2013, S. 276–297, hier S. 281–286. 21 Gerwarth/Horne, Vectors of Violence. 22 Jörn Leonhard, Die Büchse der Pandora. Geschichte des Ersten Weltkriegs, München 2014, S. 1012. 23 Zur sozialen Zusammensetzung und den dominierenden Männlichkeitsbildern in einzelnen Gewaltgemeinschaften der Untersuchungsstädte vgl. vorerst Grafl, »¡Deú nos en guardi, quins lladres!«; Bäcker-Wilke, Städtische Ordnungsstrukturen; Hart, I. R. A.; McGaughey, Ulster’s Men; Reichardt, Faschistische Kampfbünde; Schellenberger, Troubles and Riots.

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rende Frauen in großer Zahl und nicht zuletzt in rein weiblichen Gruppen an den Protesten und Streiks in Barcelona beteiligt.24 Vereinzelte anarchistische Aktivistinnen gab es zudem schon vor der Zweiten Republik, obgleich in den 1930er Jahren die Zahl der aktiven Unterstützerinnen von anarchistischen Gewaltgruppen zugenommen zu haben scheint.25 Frauen traten in dieser Zeit auch immer wieder als Mitglieder gewaltbereiter Gruppen hervor, was allerdings schon die Zeitgenossen erstaunte.26 Auch während der Belfaster Riots 1935 traten protestantische Frauen in sich mehr oder weniger spontan bildenden Gewaltgruppen auf. Mitunter agierten sogar reine Frauengruppen, die wohl vorrangig gegen katholische Arbeiterinnen vorgingen.27 Eine weitere sozialstrukturelle Auffälligkeit ist das deutliche Übergewicht von Jugendlichen und jungen Männern (in den Zwanzigern) innerhalb der Gewaltgemeinschaften und das nicht nur in Berlin.28 Dieser Befund ist gerade aus deutscher Sicht wenig überraschend und bestätigt erneut eine ganze Reihe von sozialhistorischen Studien zu den paramilitärischen Verbänden in der Weimarer Republik.29 Die Mehrheit der Jugendlichen in der Weimarer Republik wuchs nicht in die Demokratie hinein, vielmehr erlag sie der »Faszination militärischer Gewalt und militärischer Romantik«,30 und nicht allein die sich radikalisierende Arbeiterjugend sah im kämpferischen, soldatischen Gebaren ein Lebensideal.31 Der Blick nach Nordirland und Spanien trägt nun freilich dazu bei, aus dieser nationalhistorischen Perspektive etwas herauszutreten. Gewalt war in der Zwischenkriegszeit in vielfältiger Weise eben auch Teil der britischen – und damit ebenso der nordirischen – Jugendkultur.32 In der katalanischen Metro24 Vgl. Kaplan, Red City, S. 119–121. 25 Vgl. zum Beispiel Julián Casanova, The Spanish Republic and Civil War, Cambridge 2010, S. 96; Chris Ealham, Class, Culture and Conflict in Barcelona, 1898–1937, London 2005, S. 149. 26 Vgl. Bäcker-Wilke u. a., Gewaltgemeinschaften, S. 329. 27 Vgl. ebd.; A. C. Hepburn, The Belfast Riots of 1935, in: Social History 15 (1990), H.  1, S. 75–96; Belfast Telegraph vom 30. Juli 1935, The Girls Rioters, S. 13. 28 Zu Berlin vgl. Bäcker-Wilke, Städtische Ordnungsstrukturen. 29 Vgl. unter anderem Reichardt, Faschistische Kampfbünde, S. 310–334; Schumann, Politische Gewalt, S. 139 f., 330 f. 30 Bernd-A. Rusinek, Der Kult der Jugend und des Krieges. Militärischer Stil als Phänomen der Jugendkultur in der Weimarer Zeit, in: Jost Dülffer/Gerd Krumeich (Hg.), Der verlorene Frieden. Politik und Kriegskultur nach 1918, Essen 2002, S. 171–197, hier S. 175. 31 Vgl. auch Irmtraud Götz von Olenhusen, Vom Jungstahlhelm zur SA . Die junge Nachkriegsgeneration in den paramilitärischen Verbänden der Weimarer Republik, in:­ Wolfgang R. Krabbe (Hg.), Politische Jugend in der Weimarer Republik, Bochum 1993, S. 146–182; Sven Reichardt, Gewalt, Körper, Politik. Paradoxien in der deutschen Kulturgeschichte der Zwischenkriegszeit, in: Wolfgang Hardtwig (Hg.), Politische Kultur­ geschichte der Zwischenkriegszeit 1919–1939, Göttingen 2005, S. 205–239. 32 Vgl. Jon Lawrence, Forging  a Peaceable Kingdom. War, Violence, and Fear of Brutalization in Post-First World War Britain, in: Journal of Modern History 75 (2003), H. 3, S. 557–589, bes. S. 561.

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pole wiederum drohten Kinder und Jugendliche aus dem Proletariat angesichts der sozialen Konflikte und der oft gewaltgeladenen Atmosphäre permanent in den Sog einer Gewaltkarriere zu geraten, und nicht wenige jugendliche­ Pistoleros des Confederación Nacional del Trabajo (CNT) erhofften sich durch ihre Gewalttaten zu Ehren der Gewerkschaft soziale Aufstiegschancen. Neben solchen in Politik, Ökonomie und Jugendkulturen verankerten Antriebskräften dürfen aber auch weniger zeitabhängige Momente, wie das Ausleben einer rebellischen Jugendlichkeit und das Auskosten eines noch ungebundenen Familienstandes, als Impulse für den Eintritt in Gewaltgemeinschaften nicht übersehen werden. Für die Volunteers der IRA hat Peter Hart dieses Rebellenhafte und Ungebundene dokumentiert.33 Für die Gegenseite sprach die katholische Presse Belfasts 1935 mitunter von Orange Rowdyism, was sowohl auf die Jugendlichkeit der protestantischen Täter und Täterinnen als auch auf ihre Zügellosigkeit abhob. Nicht nur im Deutschen Reich der Zwischenkriegszeit begünstigte also der Drang junger Männer und auch Frauen nach sozialer Vergemeinschaftung und die Suche nach einer neuen sozialen Position außerhalb des gewohnten Lebensumfeldes die Bildung urbaner Gewaltgemeinschaften, vielmehr kann diese Tendenz gepaart mit adoleszenten Verhaltensweisen wohl als eine europaweite Erscheinung beschrieben werden. Ein weiteres verbindendes Strukturmerkmal zeigt sich darin, dass selbst die von Großformationen ausgehende Gewalt stark auf Aktivitäten kleinerer, innerer Gruppierungen basierte, die an einzelne Führungspersönlichkeiten oder enger begrenzte lokale Räumlichkeiten gebunden waren. In Belfast beispielsweise gehörten die protestantischen wie auch katholischen gunmen zu den gefürchtetsten Akteuren der Troubles der 1920er Jahre.34 In den Belfaster Riots gut zehn Jahre später bestimmten dann nicht mehr Organisationen wie die IRA oder UVF/B-Specials, sondern sich ad hoc bildende Gruppierungen den ethnisch-­konfessionellen Konflikt. In Bezug auf ihre räumliche Gebundenheit, also sowohl auf ihr Entstehen als auch auf ihren Aktionsrahmen im engeren Zirkel einzelner Wohn- und Fabrikviertel, ähnelt diese Gruppengewalt den Kampfszenen im Berlin der ausgehenden Weimarer Republik. Auch hier organisierte sich die Gewalt um Kleinkampftruppen auf der Basis der Kiezzugehörigkeit.35 Die Bedeutung der größeren Netzwerke, Formationen und Organisationen wie die politische Kampfbünde in Berlin, der Oranier-Orden in Belfast und ebenso die syndikalistischen Kreise in Barcelona, lag demgegenüber in den von ihnen ausgehenden gemeinschaftsstiftenden Impulsen, die auf die unterschiedlichen Kleingruppen einwirkten. Die zwischen Organisation und Aktion changierenden Charakteristika einer (sozialen) Bewegung fin-

33 Vgl. Hart, I. R.A, S. 120–122. 34 Vgl. Kieran Glennon, From pogrom to civil war. Tom Glennon and the Belfast IRA , Cork 2013, S. 71–74. 35 Vgl. Bäcker-Wilke u. a., Gewaltgemeinschaften, S. 331 f.

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den sich somit nicht nur bei den Kommunisten, Nationalsozialisten und Anarchisten in Berlin und Barcelona, auch die gewaltsamen unionistisch-gesinnten ­Protestanten Belfasts können in diesem Schema verortet werden.36 In solche europäischen Bezüge gekleidet, kann der Beginn der Militarisierung der Bewegungsgeschichte nicht erst auf das Ende des Ersten Weltkrieges verortet werden,37 finden sich in Belfast und Barcelona doch schon seit der Jahrhundertwende Formen kollektiver Gewaltanwendung und organisierter Militarisierung im Zeichen eines Bewegungszieles (irische/katalanische Unabhängigkeit, Unionismus, Anarchosyndikalismus). Ein signifikantes Strukturmerkmal, das sich in allen drei Städten  – wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß – beobachten lässt, sind schließlich die verschiedenartigen Beziehungen der Gewaltgemeinschaften zu kriminellen Gruppierungen. Am sichtbarsten werden diese Verbindungen in Barcelona. Die banda negra als eine Art anti-gewerkschaftliche Geheimpolizei rekrutierte sich fast ausschließlich aus ehemaligen Straftätern. Diese Verbindung von krimineller und polizeilicher Gewaltausübung war nichts völlig Neues, vielmehr kam es in der Stadt schon seit dem 19. Jahrhundert immer wieder zu einer derartigen Zusammenarbeit. Auch auf der Gegenseite waren die Übergänge zwischen Anarchisten bzw. Gewerkschaften und Kriminellen fließend. Mitunter heuerten die Organisationen sogar Kriminelle unter Bezahlung als Pistoleros an. Für die katalanische Hauptstadt kann daher von einer streckenweisen »Kriminalisierung« der Gewaltgemeinschaften gesprochen werden. Kooperativ zeigte sich das kriminelle Milieu auch in den Berliner Kiezen, wo es zwischen linkspolitischen Gruppierungen und kriminellen Clubs wie den Ringvereinen sowie wilden Cliquen zu Verbindungen kam.38 Für Belfast sind solche engen Beziehungen zwar nicht festzustellen, sieht man von einem vermutlichen Sonderfall, der Ulster Protestant Association,39 ab. Dennoch zeigt sich auch dort in der Verbindung von politischer bzw. konfessioneller und krimineller Gewalt ein erhöhtes physisches Gewaltpotential, also eine Gewaltanwendung, die auf die unmittelbare körperliche Beeinträchtigung abzielte. Dieser Befund unterstreicht, dass 36 Zur Definition und Analyse von Bewegungen vgl. Joachim Raschke, Soziale Bewegungen. Ein historisch-systematischer Grundriß, Frankfurt a. M. 21988; Reichardt, Faschistische Kampfbünde, S. 30–36. 37 Raschke, Soziale Bewegungen, S. 305–308; Andreas Wirsching, Politische Gewalt in der Krise der Demokratie im Deutschland und Frankreich der Zwischenkriegszeit, in: Horst Möller/Manfred Kittel (Hg.), Demokratie in Deutschland und Frankreich 1918–1933/40, München 2002, S. 131–150. 38 Vgl. Bäcker-Wilke u. a., Gewaltgemeinschaften, S. 331–334. 39 Die Ulster Protestant Association war eine während der Belfaster Troubles der 1920er Jahre aktive Gruppierung, die mordend gegen katholische Einwohner vorging. Geführt wurde sie von einem kleinen Zirkel brutaler Anführer. Die Gruppe finanzierte sich durch Schutzgelderpressungen, zusammengehalten wurde sie nicht zuletzt durch ein drakonisches Strafsystem. Public Record Office of Northern Ireland, T 2258/1 (Typescript police report).

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Gewaltgemeinschaften nicht allein aus ihrer Binnenperspektive heraus erklärt werden können und als Teil eines lokalen sozio-kulturellen Gefüges verstanden werden müssen.

3. Konjunkturen und Gewaltpraktiken Die untersuchten Gewaltgemeinschaften waren nicht dauerhaft und gleichmäßig aktiv; Gewalt war kein die städtischen Gesellschaften Barcelonas, Belfasts und Berlins kontinuierlich prägendes Charakteristikum. Andernfalls wäre die Frage nach den besonderen Dynamiken der Gewalt wenig sinnvoll. Auch ist offensichtlich, wenn nicht gar tautologisch, dass die Schwächephasen der Staatlichkeit in besonderem Maße von Gewalt geprägt waren. In allen drei Städten waren vor allem die Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkriegs eine Zeit der Kämpfe: in Berlin zwischen revolutionären und gegenrevolutionären Kräften, in Belfast zwischen Befürwortern und Gegnern des Verbleibs von (Nord-)Irland bei Großbritannien. In Barcelona, wo von einer eigentlichen Nachkriegszeit mangels Kriegsbeteiligung nicht gesprochen werden kann, ist es das Nachkriegsjahrfünft mit wohl mehreren Hundert Mordanschlägen pro Jahr, das als Ära des Pistolerismo bekannt wurde und eine besonders blutige Zuspitzung erlebte. Das begründet zusätzliche Zweifel an der älteren Brutalisierungsthese in ihrer Allgemeinheit, welche die Gewalthaftigkeit der Zwischenkriegszeit mit einer durch das Kriegserlebnis bedingten massenhaften Verrohung erklären wollte und schon durch den Verweis auf die Dominanz von Jugendlichen unter den Gewalttätern, die selbst gar nicht mehr Soldat gewesen waren, erschüttert wird.40 Allerdings sind konkrete Einflüsse gar nicht zu übersehen, die im Falle Barcelonas etwa auf den früheren Einsatz von Offizieren in den Kolonialkriegen zurückgehen: »Ich habe in Kuba und auf den Philippinen gedient«, erklärte etwa der Zivilgouverneur Severiano Martinez Anido bei seinem Amtsantritt, »ich hätte in Afrika sein sollen. Aber die Regierung hat entschieden, mich stattdessen nach Barcelona zu schicken und ich werde auch dort nicht anders handeln als zuvor im aktiven Militärdienst.«41 Der vergleichende Befund verweist aber auch auf ganz unterschiedliche Gewaltlevel und Gewaltschwellen. Die gezielte Ermordung von Arbeitgebervertretern oder Gewerkschaftsführern als wiederkehrendes Mittel der Auseinandersetzung wie in Barcelona findet sich in keiner anderen europäischen Metropole wieder, erst recht nicht die gleichfalls häufige Ermordung von Streik40 Die Brutalisierungsthese geht zurück auf George L. Mosse, Fallen soldiers. Reshaping the memory of the World Wars, New York 1990. Vgl. dazu unter anderem Gerd Krumeich, Einleitung. Die Präsenz des Krieges im Frieden, in: Jost Dülffer/Gerd Krumeich (Hg.), Der verlorene Frieden. Politik und Kriegskultur nach 1918, Essen 2002, S. 7–17. 41 Zitiert nach Angel Smith, Anarchism, Revolution and Reaction. Catalan Labour and the Crisis of the Central State, 1898–1923, New York 2007, S. 331 (Übersetzung Florian Grafl).

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brechern oder Vertretern konkurrierender Gewerkschaften. Nicht zufällig waren die dortigen Opfer von Attentaten selbst meist bewaffnet. Für diese Sonderstellung Barcelonas kann hier keine umfassende Erklärung angeboten werden. Wie wichtig indessen die bereits skizzierte Gesamtkonstellation zum Verständnis des Geschehens ist, zeigt nicht zuletzt ein Blick auf die um 1920 in der katalanischen Metropole gleichfalls so zahlreichen bewaffneten Raubüberfälle. Zumindest ein Teil von ihnen lässt sich darauf zurückführen, dass es dem Zivilgouverneur Martinez Anido gelungen war, den CNT an der Eintreibung von Gewerkschaftsbeiträgen zu hindern. Dabei ist der Versuch einer klaren Grenzziehung zwischen politisch motivierter Gewalt und »gewöhnlicher« Kriminalität zwar kaum möglich, gleichwohl erbringt der vertiefte Blick auf den Überlappungsbereich interessante Befunde. Wenig überraschend ist, dass die von der Weltwirtschaftskrise geprägten Jahre eine Zunahme der Eigentumsdelikte, nicht zuletzt der Raubüberfälle erlebten. Dabei erregten Überfälle auf Geldtransporte oder Banken nicht nur das größte Aufsehen, sie provozierten durchaus auch den Widerstand der Einwohnerschaft, der sich bis zu Ansätzen von Lynchjustiz steigern konnte. Die meisten Opfer – wie die in Barcelona besonders häufig überfallenen Taxifahrer – entstammten schließlich genau diesen proletarischen Bevölkerungsteilen. Das war bei den Berliner Wirten oder Prostituierten, die von Schutzgelderpressern oder Zuhältern ausgebeutet wurden, nicht grundsätzlich anders. Dennoch zeigt der Vergleich recht unterschiedliche Konstellationen auf: In den proletarischen Nachbarschaften des nordöstlichen Berlins scheint ein von männlichen Jugendbanden geteilter Ehrenkodex die potentiellen Spannungen zwischen den in Ringvereinen (wie dem im folgenden Zitat angesprochenen Sparverein »Immertreu«) organisierten Kriminellen und den im Rotfrontkämpferbund organisierten Jugendlichen überbrückt zu haben.42 Polizeiquellen wie der im Anschluss an eine Schießerei zwischen National­ sozialisten und Kommunisten an der Grenze zwischen Friedrichshain und Friedrichsfelde erfolgende Antrag auf die Schließung zweier Schanklokale machen das sehr deutlich: »Auf Grund vorstehend aufgeführten Vorganges und weitere Vorgänge betr. Schließung des Lokals der Frau Hoppe, die sich bei dem P. M. IV befinden, bittet das R. die Schanklokale von Hoppe, Fischerstr. 24 und Nussbaum, Fischerstr. 21, zu schließen. In dem Lokal von Hoppe verkehrten ausschließlich kommunistische Elemente und die Schankwirtschaft war und bleibt, solange sie besteht, stets der Ausgangspunkt politischer Ausschreitungen seitens der KPD, die sich durch die Hetze radikaler Elemente von Tag zu Tag vermehren, wohnen doch angeblich in der Fischerstraße a­ llein ca. 180 eingetragene Mitglieder der KPD, nach Ansicht des R. RFB -Leute. Auch in der Schankwirtschaft Nussbaum verkehren nur lichtscheue Elemente, zum größten 42 Vgl. Patrick Wagner/Klaus Weinhauer, Tatarenblut und Immertreu. Wilde Cliquen und Ringvereine um 1930. Ordnungsfaktoren und Krisensymbole in unsicheren Zeiten, in: Martin Dinges/Fritz Sack (Hg.), Unsichere Großstädte? Vom Mittelalter bis zur Post­ moderne, Konstanz 2000, S. 265–290.

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Teil Anhänger des Sparvereins Alt Berlin (Immertreu), die nur auf die Gelegenheit warten um im Trüben fischen zu können, und die mit den kommunistischen Elementen sympathisieren, oder Anhänger der KPD sind.«43

Für die männlichen Berliner Jugendlichen war zwar angesichts von extrem hoher Jugendarbeitslosigkeit die Gangzugehörigkeit, d. h. ihre konkrete Gewalt­ gemeinschaft, absolut prägend für ihre Identität, aber sie blieben jenseits dessen doch in die Nachbarschaft integriert, die sich ihrerseits strikt gegen jede polizeilich-obrigkeitliche Intervention zu behaupten suchte. Die Situation der Pistoleros und Bankräuber der anarcho-syndikalistischen Gewerkschaften Barcelonas oder der gunmen von IRA oder UVF war hingegen eine ganz andere. Zwar bedurften auch sie der Unterstützung durch ein breiteres Umfeld, das Verstecke bereithielt, Waffen deponierte oder auch nur für Nahrung und frische Kleidung sorgte, aber sie operierten gleichwohl im Geheimen, waren »on the run« und griffen nicht selten  – wie etwa die Ulster Protestant Association – zu Mitteln der Solidaritätserzwingung wie Komplizität, Schwur und Bedrohung mit drakonischen Strafen, wie sie in kriminellen Banden üblich waren. Die Übergänge waren hier fließend wie auch im CNT, wo der Wechsel vom bewaffneten Schuldeneintreiber der Gewerkschaft über den Pistolero zum Berufskriminellen häufiger vorkam. Ob und in welchem Maße diese professionalisierten Gewaltgemeinschaften noch in ihrem politisch-sozialen oder konfessionell-nationalen Umfeld verankert waren, zeigte sich regelmäßig bei Beerdigungen von Opfern abgelehnter Gewalt und insbesondere von Gewalt­ tätern der eigenen Seite, die ihr Leben im Kampf verloren hatten.

4. Räume der Gewalt Die angesprochenen und noch gar nicht in ihrer ganzen Vielfalt einbezogenen Gewaltpraktiken lassen sich kaum in Absehung von ihrer räumlichen Dimension diskutieren. In den Berliner Straßenschlachten zwischen jungen Rotfrontkämpfern und SA-Männern dominierten zwei Grundmuster, der Angriff auf Großveranstaltungen und Demonstrationen des politischen Gegners und die gewaltsame Auseinandersetzung um die symbolische Besetzung des sozialen Nahraumes. Massendemonstrationen, die vorhersehbar zu gewaltsamen Auseinandersetzungen führten, kannten im Untersuchungszeitraum alle drei Städte. Dagegen scheint die gewaltsame Störung oder Sprengung geschlossener politischer Großveranstaltungen in Berlin besonders häufig gewesen zu sein. Aber auch der Ort solcher Veranstaltungen war keineswegs zufällig, wie das im folgenden Bericht der Welt am Abend vom 12.  Februar 1927 geschilderte, besonders frühe und besonders aufsehenerregende Beispiel belegt. Dabei 43 Landesarchiv Berlin, A-Bestände Polizei, Pr.Br.Rep. 030 Berlin C, Nr. 7544, Akten des Polizeipräsidiums Berlin, Bl. 71 f.

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erscheint bemerkenswert, dass das zum kommunistischen Zeitungs­imperium Willi Münzenbergs zählende Blatt zu diesem Zeitpunkt Sozialdemokraten und Kommunisten gemeinsam als »Arbeiter« fasst, die sich ganz selbstverständlich gegen ein nationalsozialistisches Eindringen in ihren Raum zur Wehr setzen. »Gestern abend kam es am Wedding zu blutigen Zusammenstößen zwischen provozierenden Nationalsozialisten und Polizei einerseits und Arbeitern vom Wedding andererseits. Die Nationalsozialistische Arbeiterpartei hatte nach den Pharussälen eine Veranstaltung einberufen, in der ein Dr. Goebbels über den Zusammenbruch des bürgerlichen Klassenstaates referieren sollte. Die Versammlung, die von ungefähr 2000 Personen, darunter zahlreiche Kommunisten und Sozialdemokraten, besucht war, nahm von Anfang an einen stürmischen Verlauf. Die Nationalsozialisten hatten es von Anfang an auf Provokation abgesehen. Der Versammlungsleiter Daluege erklärte, als sich Kommunisten meldeten, bei uns gibt es keine Diskussion. Daraufhin kam es zu scharfen Protestkundgebungen, bei denen der etwa 300 Mann starke hakenkreuzlerische Versammlungsschutz in der brutalsten Weise gegen die Arbeiter vorging. Es kam zu schweren Prügeleien, die Faschisten hieben mit Stuhlbeinen und Bierseideln auf die Arbeiter ein. Im Laufe dieser Zusammenstöße wurden mehrere Arbeiter schwer verletzt. Die kommunistischen und sozialdemokratischen Arbeiter wurden von den Hakenkreuzlern schließlich auf die Straße gedrängt, wo sich eine ungeheure Menschenmenge angesammelt hatte. Es kam Polizei, die die Müllerstraße von beiden Richtungen zu räumen versuchte und dabei wie wild auf die Arbeiter losschlug. Es kam zu schweren Zusammenstößen besonders bei der Amrumer Straße, wo insgesamt 17 Verhaftungen vorgenommen wurden. Die Vorfälle in und bei den Pharussälen verbreiteten sich im ganzen Bezirk wie ein Lauffeuer. Immer neue Arbeitermassen kamen herbei, die Empörung richtete sich vor allem gegen den immer weiter provozierenden Hitlerschen Saalschutz. Die Polizei versuchte die Menge abzudrängen, und herbeigeholte Verstärkungen begleiteten die Hakenkreuzjungen zum Bahnhof Putlitzstraße. Ecke Torf- und Triftstraße kam es zu neuen Zusammen­ stößen. Die Polizei behauptet, daß gegen sie Steine geworfen worden seien. Jedenfalls gab die Schupo eine große Zahl von Schüssen ab, es wurden neuerdings 20 Verhaftungen vorgenommen, die Verhafteten auf das Polizeipräsidium gebracht. Die Unruhen fanden aber damit noch nicht ihr Ende. Ecke Nordufer und Lynarstraße kam es neuerdings zu wilden Szenen, als auch hier abmarschierende Hakenkreuzler die Arbeiter anfielen. Auch hier wurden sechs Personen schwer verletzt. Insgesamt wurden bisher sechs Schwer- und dreißig Leichtverletzte festgestellt.«44

Angesichts ihres Ortes im roten Wedding wurde also auch die geschlossene politische Veranstaltung des politischen Gegners als räumliche Intrusion betrachtet, gegen die das eigene Territorium zu verteidigen war. Ebenso resultierte das provokative Eindringen eines SA-Sturms in eine der proletarischen Nachbarschaften Neuköllns oder des Weddings vorhersehbar in Schlägereien wie – noch kleinräumiger – das Auftauchen einer Gruppe von NS -Anhängern in einer von Kommunisten frequentierten Kneipe. Zwischen diesen beiden (innerhalb 44 Die Welt am Abend vom 12. Februar 1927.

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bestimmter Nachbarschaften) wichtigsten Kontrahenten der politischen Auseinandersetzung blieb für die Sozialdemokratie buchstäblich kein Raum mehr. Einer ihrer Vertreter erinnerte sich noch ein halbes Jahrhundert später lebhaft an die Raumdimension »der täglichen politischen Praxis. Auf der einen Seite des Eisenbahntunnels (Görlitzer Tunnel) war das bekannte SA-Sturmlokal Wiener Garten, dort wurden wir von den Nationalsozialisten ›freudig empfangen‹. Am anderen Ende des Tunnels besaß Ecke Görlitzer-Ecke Sorauer Straße die kommunistische Jugend ihr Lokal und wartete auf die Sozis.«45 Bei diesen alltäglichen Scharmützeln spielten häufig Uniformen und andere Erkennungsmerkmale eine erhebliche Rolle als Auslöser gewaltsamer Konflikte. Nicht zuletzt durch solche materielle Komponenten ist von einer mehr oder weniger großen Erwartbarkeit der Gewalteruption auszugehen. Dennoch entstanden diese Konflikte ungleich spontaner als die Provokationszüge ausgesuchter SA-Stürme durch proletarisches Terrain. Ablesbar ist das schon daran, dass letztere regelmäßig von nicht uniformierten SA-Männern – der sogenannten Watte – begleitet wurden, die nicht nur zur Absicherung der geordnet marschierenden SALeuten dienten, sondern parallel Angriffe auf politische Gegner oder auf Bürger verübten, die sie als Juden identifizieren zu können glaubten.46 Die beiden angesprochenen Grundmuster territorialen Konflikts – die Massenveranstaltung wie der kleinräumliche Kampf – finden sich in vergleich­barer Weise auch in Belfast wieder, und doch stechen die Unterschiede ins Auge. So ähnelt zunächst zwar ein Umzug des Oranier-Ordens durch ein katholisches Wohngebiet durchaus dem angesprochenen Einzug eines SA-Sturms. Und doch ist die bewusst provozierte Gewalt in Belfast sozial breiter verankert und extremer in ihrer Ausformung. Nun könnte die in den Quellen häufig anzutreffende Rede vom gewalttätigen mob oder der crowd unspezifischer kaum aus­ fallen und dennoch belegen die Hinweise auf die Gewaltausübung von Frauen und teilweise auch von Kindern ein anderes Täterprofil als die Berliner Quellen.47 Überdies unterscheiden sich die verübten Gewalttaten in der sozusagen zwischen den Lagern geteilten Stadt: Stein- und Bombenwürfe in feindliche Viertel waren hier besonders beliebt, zugleich finden sich Brandstiftung und Schusswaffengebrauch als verbreitete Gewaltformen. In ähnlicher Weise erfolgte der Angriff auf eine Kneipe in Belfast auch nicht in der Absicht der 45 Paul Ibscher (1910–1985) zitiert nach Hans-Rainer Sandvoß, Widerstand in Kreuzberg 1933–1945, Berlin 1997, S. 17. 46 Vgl. Thomas Balistier, Gewalt und Ordnung. Kalkül und Faszination der SA , Münster 1989, bes. S. 155. 47 Die Tatbeteiligung von Frauen sticht vor allem während der konfessionellen Unruhen 1935 in Belfast hervor. Vgl. Hepburn, Belfast Riots, S. 75–96, bes. S. 87 f. Für die zumindest mittelbare Täterschaft von Kindern spricht Bild- und Filmmaterial, das katholische Kinder während der Unruhen von 1932 beim Herausbrechen und Aufhäufen von Pflastersteinen zeigt. Vgl. Abbildung: Cobbled Streets, in: William Maguire, Belfast. A History, Lancaster 2009, S. 195; British Movietone Digital Archive, Belfast is scarred after Day of Riots, Story Number 2056.

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Übernahme und Besetzung derselben durch den politischen Gegner, die angesichts der hochgradig segregierten Wohnviertel der Stadt unvorstellbar ist. Zugleich könnten diese Überfälle auch nicht vordergründig als aus einer situationsbedingten Dynamik geborene Plünderungen verstanden werden, wie es sie beispielsweise auf bessere bürgerliche Geschäfte während der Unruhen im Ruhrgebiet 1919 gegeben hat.48 Vielmehr ging es um die Zerstörung dieses spezifischen sozialen Raums, was die physische Gewalt gegen die Besitzer ebenso umfasste wie die Zerschlagung und Plünderung des Inventars unter Einschluss von Schnaps und Zigarren. Im Ergebnis haben die Berliner Auseinandersetzungen seltener tödliche Folgen. Die zum Einsatz kommenden Waffen vom Schlagstock bis zum Messer stärkten den Einzelnen in der unmittelbaren physischen Auseinandersetzung mit dem Gegner, dessen Tod indessen nicht das Ziel des Kampfes war, sondern allenfalls die Folge seiner ungeplanten Eskalation. Dagegen folgten die Konflikte in Belfast einer noch sehr viel strikteren Territorialität und zielten sehr viel öfter auf die Vernichtung oder die endgültige Vertreibung des Gegners ab. Die Grenzen zwischen katholischen und protestantischen Vierteln waren zumeist so klar gezogen, dass an ein Eindringen kaum zu denken war. Dem entsprechen Praktiken distanzierter und anonymer Gewaltausübung wie das Werfen von Brandkörpern oder Bomben in das feindliche Gebiet oder auch der Einsatz von Heckenschützen. Umso mehr richtete sich die feindliche Begegnung zwischen persönlich Bekannten aus den unterschiedlichen Lagern, was im lokalen Aktionsfeld der Gewalttäter wohl nicht selten vorkam, auf die Verschiebung der Grenze zwischen den konfessionell definierten Wohngebieten aus. Die Androhung der Zerstörung von Haus, Hab und Gut und insbesondere deren Durchführung mittels Brandstiftungen waren dabei die wichtigsten Erscheinungsformen der Gewaltausübung, ja überhaupt eines der markantesten Kennzeichen der Konflikte Belfasts in den 1920er und 1930er Jahren. Diese strikte Territorialität machte Wege außerhalb des eigenen Viertels gefährlich. Die Bombardierung von Straßenbahnen zielte in Belfast auf diejenigen, die außerhalb ihres Wohnviertels arbeiteten. In Barcelona dagegen war das scheinbar gleiche Delikt Teil  einer umfassenderen Strategie der demonstrativen Stilllegung der ganzen Stadt, wie er etwa auch im Bestreiken der Elektrizitätswerke oder den gar nicht seltenen Generalstreiks aufscheint. Ohnehin spielte die demonstrative Besetzung der Straße und des städtischen Raums insgesamt in der katalanischen Metropole eine sehr viel größere Rolle als in Belfast. Während dort die konfessionelle Spaltung mit leichten sozialstrukturellen Unterschieden einherging, war die soziale Topographie Barcelonas sehr viel ausgeprägter und wird von der räumlichen Verteilung der Gewalt- und Eigentumsdelikte gespiegelt. Erstere waren nirgends häufiger als im Hafen- und Ver-

48 Vgl. Karin Hartewig, Das unberechenbare Jahrzehnt. Bergarbeiter und ihre Familien im Ruhrgebiet 1914–1924, München 1993, S. 226 f.

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gnügungsviertel, letztere in bürgerlichen Wohnvierteln überdurchschnittlich verbreitet. Vor allem aber ist hier die zentrale Rolle des Betriebs als konkretem Gewaltort bemerkenswert. Sabotage und Vandalismus, die sich gegen die Betriebseinrichtung richteten, sowie Attentate auf die Eigentümer dieser Betriebe waren in Barcelona verbreitete Gewaltformen. Dabei lagen Werkstätten und Fabriken in sehr viel geringerem Maße als in Berlin und Belfast abseits der proletarisch geprägten Wohnviertel; eigentliche Gewerbe- und Industriegebiete gab es kaum. Nicht der lokale Rahmen, sondern der spezifische Standort der Produktionsstätten wurde so zum urbanen Gewaltraum. Festzuhalten bleibt aber auch, dass die beschriebenen, für Barcelona typischen Gewaltakte zwar gut zu der in der anarcho-syndikalistischen Tradition sehr grundsätzlichen Infragestellung betrieblicher Herrschaft passen, sie sich als im Konkreten meist persönlich motivierte Racheaktionen aber oft einem nach Gewaltgemeinschaften fragenden Ansatz entziehen.

5. Situationen und Grammatik der Gewalt Wenn wir uns zum Abschluss dieser Synthese explizit einzelnen Gewaltsituationen zuwenden und dabei nach der Gewaltgrammatik fragen – in Anlehnung an Jaques Sémelin soll das heißen, spezifische Gewaltereignisse in ihrer Komplexität zu erfassen,49 was hier natürlich nur ganz ansatzweise gelingen kann –, so folgt das zum einen der Einsicht, dass Gewalt »situationsspezifisch codiert« ist,50 zum anderen verbindet sich damit der Versuch, trotz der vielfach zutage getretenen Heterogenität noch einmal zu generalisierenden Einsichten in das großstädtische Gewaltgeschehen der europäischen Zwischenkriegszeit zu gelangen. Zwei sich unterscheidende Gewaltchoreographien sollen herausgegriffen werden: einerseits der gezielte Angriff auf wehrlose bzw. weit unterlegene Opfer und andererseits der Kampf, der sich um eine gewaltprovozierende oder gewaltanziehende, mobile Masse herum entwickelt. Beide Formen treten uns in den drei Untersuchungsstädten entgegen. Zur ersten Choreographie sind also gezielte Angriffe zu rechnen. Dabei reicht die Spannweite von Attentaten auf bestimmte Personen – wie vor allem in Barcelona – und den Überfällen auf spezifische Orte – dabei sei an die Kneipenund Geschäftsüberfälle in Berlin und Belfast gedacht – sowie den Bomben- und Sprengstoffanschlägen, die uns vor allem in Barcelona und Belfast begegnen, 49 Jaques Sémelin, Elemente einer Grammatik der Gewalt, in: Mittelweg 36 (2006), H. 6, S. 18–40; dazu Malte Rolf, Metropolen im Ausnahmezustand? Gewaltakteure und Gewalträume in den Städten des späten Zarenreichs, in: Friedrich Lenger (Hg.), Kollektive Gewalt in der Stadt. Europa 1890–1939, München 2013, S. 25–49. 50 Vgl. Klaus Weinhauer/Dagmar Ellerbrock, Perspektiven auf Gewalt in europäischen Städten seit dem 19.  Jahrhundert, in: Informationen zur modernen Stadtgeschichte (2013), H. 2, S. 5–20, hier S. 9; siehe unter anderem auch Randall Collins, Dynamik der Gewalt. Eine mikrosoziologische Theorie, Hamburg 2011, bes. S. 35.

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bis hin zu wahllosen Übergriffen auf einzelne Personen oder Personengruppen, die erkennbar der ›gegnerischen‹ Partei angehörten. All diese Situationen ähneln sich darin, dass sie eine mehr oder weniger ausgeprägte Planung oder zumindest eine Vorlaufzeit benötigen. Selbst scheinbar spontanere Überfälle von Gruppen bedürfen einer Zeit des sich Zusammenfindens zu einer kritischen Masse. Daraus erklärt sich, warum in allen drei Städten die Gewalthandlungen vorwiegend in den späten Abend- und Nachtstunden der Werktage oder am Wochenende verübt wurden,51 zumal sich in diesen ›freien‹ Stunden auch der ›Zugriff‹ auf die Opfer leichter gestaltete, so wenn diese sich in Pubs, Kneipen und Cafés versammelten hatten. Das alltägliche Gewaltgeschehen unterlag somit einer gewissen temporären Begrenzung, die freilich weder absolut noch ständig gleich war. Hieran schließt sich die Beobachtung an, dass sich diese Gewaltsituationen in dem prinzipiellen Ziel glichen, Aufmerksamkeit zu erzeugen. Deren medialer Verstärkung konnte man sich zwar sicher sein, sie hob gleichwohl aber nicht notwendigerweise auf ein größeres, überlokales Publikum ab.52 Es handelt sich häufig um ein ostentatives Gewalthandeln, welches dem konfessionellen oder politischen Gegner im engeren lokalen Raum die eigene überlegene Macht demonstrieren sollte. Selbst in den opferreichen Belfaster Troubles der 1920er Jahre spielte diese Zurschaustellung des Machtanspruches permanent eine Rolle, wobei die physische Verletzung Einzelner mitunter sogar ausgeschlossen werden sollte, so wenn bei den Hausvertreibungen und Brandschatzungen in Belfast die Bewohner von den späteren Tätern gewarnt oder in Barcelona Straßenpassanten vor der Explosion einer Bombe vertrieben wurden. Das Handeln der städtischen Gewaltgruppen bzw. Gewaltgemeinschaften war somit von einer ausgesprochenen Symbolhaftigkeit geprägt, die mitunter mit einer Einhegung der physischen Gewaltanwendung einhergehen konnte. Eine zweite auffällige Gewaltchoreographie ist der Kampf, der sich um eine mobile Masse herum entwickelt. In Berlin können wir diese Gewaltsituationen vor allem mit den SA-Paraden durch Arbeiterviertel, in Barcelona mit Demonstrationen von katalanischen Nationalisten und in Belfast mit den Umzügen des Oranier-Ordens und protestantischer Musikbands fassen. Obwohl uns damit keine zeitspezifischen Besonderheiten entgegentreten, denn Prozessionen »waren (und sind)  […] in politisch oder religiös polarisierten Situationen immer wieder Kristallisationskerne von gewaltsamen Ausschreitungen«,53 prägten in Gewalt ausufernde Züge und Märsche das Bild der kollektiv verübten Gewalt 51 Im Barcelona der Zweiten Republik fanden bewaffnete Überfälle auf verschiedenste Einrichtungen auffällig häufig samstags statt, was die Lokalpresse veranlasste von den »Atracos de todos los sábados«, den all-samstäglichen Überfällen zu sprechen. Bereits am 11. Juni 1933 wird in El Diario de Barcelona ein solcher Vorfall dokumentiert. Der Bericht in El Diluvio vom 1. März 1936 über einen solchen bewaffneten Raubüberfall auf ein Warenhaus zeigt die Dauerhaftigkeit dieser Gewaltpraxis. 52 Vgl. Wagner/Weinhauer, Tartarenblut und Immertreu, S. 282. 53 Barbara Stollberg-Rilinger, Rituale, Frankfurt a. M. 2013, S. 123.

Gewaltgemeinschaften im urbanen Raum 

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in den Untersuchungsstädten entscheidend mit. Die sich bewegenden Gruppen und Massen waren vielfach symbolhaft aufgeladen durch Fahnen, Uniformen und Abzeichen.54 Das Skandieren von Parolen, das Singen von Liedern und das Abspielen bestimmter Musikmelodien verstärkte einerseits die emotionalen Bindungen innerhalb der sich in Bewegung befindenden Gruppe und der sie begleitenden Sympathisanten, während damit andererseits die Aggressionsgefühle außerhalb der Zuges geschürt wurden. Als regelrecht gewaltprovozierend wurde zum Beispiel das Lied Els Segadors als eine Art inoffizielle Nationalhymne Kataloniens empfunden.55 Es bedurfte daher nicht unbedingt der Begleitung von agents provocateurs wie bei den SA-Demonstrationen,56 um den ›friedlichen‹ Umzug in eine Straßenschlacht zu überführen. Wie Darstellungen einer Beerdigung eines Belfaster Protestanten im Mai 1922 zeigen, war das Emotionspotential in der aufgeheizten Situation von Anbeginn so hoch, dass der Gewaltausbruch keine Frage des Zufalls war. Die Teilnehmer des Leichenzuges zogen nicht etwa still trauernd dahin, sondern feindeten Zuschauer und Passanten immer wieder an, wie es aus einer katholischen Quelle heißt.57 Die katholisch-nationalistische Irish News verwies im Zusammenhang mit diesem und einem anderen Beerdigungszug auf eine »rowdy crowd following the mourners« bzw. eine folgende »rowdy party«, die die anschließenden Straßenkämpfe wohl maßgeblich in Gang gebracht hätten.58 Sie machte zudem Mitglieder eines dieser Beerdigungszüge für die ersten, zu einer Gewalteskalation führenden Schüsse verantwortlich.59 Es ist letztlich wenig entscheidend, welche von beiden Seiten zuerst zum Stein, zum Stock oder zur Pistole griff. Entscheidend ist, dass in diesem Moment auch wenig vernetzte Gruppen zu einer Einheit in der Gewaltausübung fanden.60 Und das geschah 54 Vgl. unter anderem Reichardt, Gewalt, S. 218–229. 55 Vgl. Florian Grafl, Erinnerte Gewalt? Das katalanische Volkslied Els Segadors und seine Rolle bei der Radikalisierung des katalanischen Nationalismus zu Beginn des 20. Jahrhunderts, in: Lied und populäre Kultur/Song and Popular Culture. Jahrbuch des Zentrums für populäre Kultur und Musik 59 (2014), S. 95–110; zu den Umzügen des Oranier-Ordens vgl. Dominic Bryan, Orange Parades. The Politics of Ritual, Tradition and Control, London 2000. 56 Vgl. Balistier, Gewalt und Ordnung, S. 154 f. 57 Vgl. G. B. Kenna, Facts and Figures of the Belfast Pogrom, Dublin 1922 [1997, Reprint hg. v. Tom Donaldson], S. 90. 58 Irish News vom 15. August 1935, We want the Truth, S. 4. 59 Ebd. 60 Einen solchen Moment der Vergemeinschaftung fing auch Victor Klemperer für die Münchner Situation nach der Ermordung Kurt Eisners ein: »Dann sah man einen langen, langen Zug von Arbeitern, Halbwüchsigen, Uniformierten die Ludwigstraße überqueren. ›Zur Theresienwiese!‹ – ›Rache für Eisner!‹ – ›Nieder mit den Schwarzen!‹ wurde gerufen, aber im ganzen zogen die Leute merkwürdig ruhig und ernsthaft einher. Das Publikum sah ihnen recht gedrückt zu. Noch seien sie waffenlos, hörte man mit fataler Betonung des ›Noch‹ häufig genug konstatieren. Dann bildeten sich auf Straßen und Plätzen, die merkwürdigen kreisrunden Menschennester […]. Irgendwo im Kern des Knäuels wird etwas gesprochen oder erzählt, gar nicht sonderlich laut, der Knäuel steht um den

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nicht zufällig. Der Kampf war vielmehr von Anfang an intendiert und vorhersehbar.61 Diese Umzüge waren geplante Gewaltspektakel, die einer sich verstetigenden Inszenierung folgten. Das Drehbuch war unabhängig vom lokalen Kontext immer ähnlich, alle Handlungen und Staffagen dienten der Steigerung des Aggressionspotentials in und um die sich bewegenden Menschenmengen. Diese Gewaltsituationen können somit als einer kommunikativen Dynamik folgende Rituale bezeichnet werden.62 Gleichwohl verliefen dann die Kämpfe zwischen ›Marschierenden‹ und ›Zuschauern‹ keineswegs mehr regelhaft und konnten in rauschhafte, äußerst blutige Auseinandersetzungen übergehen. Es ist eine allgemeine Erkenntnis der Psychologie, dass »emotional motivierte Handlungen« zu »körperlichen und oft spontanen Aktionen« führen, »ohne dass den Handelnden die Ursachen immer völlig bewusst« sein müssen.63 Weder alle Teilnehmer noch die in die Straßenkämpfe später verstrickten Zuschauer müssen also von Beginn als gewaltbereit eingestuft werden. Im Moment des Gewaltausbruchs und der folgenden Gewalteskalation konnten aber auch sie von einer Gruppendynamik erfasst und zu Tätern werden, ganz im Sinne der von Heinrich Popitz festgestellten und von der neueren Gewaltsoziologie bestätigten ›Jedermanns-Ressource‹.64 In den vorgestellten Gewaltsituationen war die Grammatik der Gewalt – so ließe sich schlussfolgern – von einer ausgeprägten Symbolhaftigkeit und auch Ritualisierung geprägt, wobei das physische Gewaltpotential keineswegs gering sein musste. Die soziale Dynamik der Gewalt griff also über den Kern der Gewaltgemeinschaften in Barcelona, Belfast und Berlin hinaus. Und nicht nur für letztere hatte die Gewaltausübung oft weit weniger instrumentellen als vielmehr expressiven Charakter und trug ihren Sinn gleichsam in sich selbst.

Kern und fragt was es dort gebe. […] Ein Schuß würde genügen, die Verschmelzung dieser Gruppe, die chaotische Masse zu formieren.« Ders., Man möchte immer weinen und lachen in einem. Revolutionstagebuch 1919, Berlin 2015, S. 88. 61 In diesem Sinne auch Dirk Schumann hinsichtlich der von der KPD organisierten Demonstrationen von Arbeitslosen. Vgl. Ders., Politische Gewalt, S. 304 f. 62 Vgl. Stollberg-Rilinger, Rituale, S. 169 f., 226 f. 63 Gerd Gigerenzer, Bauchentscheidungen. Die Intelligenz des Unbewussten und die Macht der Intuition, München 52007. 64 Trutz von Trotha, Zur Soziologie der Gewalt, in: Ders. (Hg.), Soziologie der Gewalt. Sonderheft der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Opladen 1997, S. 9–56, bes. S. 25.

Autorinnen und Autoren Claudia Ansorge M. A., Justus-Liebig-Universität Gießen, Wissenschaftliche Mitarbeiterin der DFG -Forschergruppe »Gewaltgemeinschaften« (2012–2015) Philipp Batelka M. A., Justus-Liebig-Universität Gießen, Wissenschaftlicher Mitarbeiter der DFG -Forschergruppe »Gewaltgemeinschaften« (2012–2016) Dr. Guido M. Berndt, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Wissenschaftlicher Mitarbeiter der DFG -Forschergruppe »Gewaltgemeinschaften« (2009–2015) Arkadiusz Błaszczyk M. A., Justus-Liebig-Universität Gießen, Wissenschaft­li­cher Mitarbeiter der DFG -Forschergruppe »Gewaltgemeinschaften« (2013–2017) Prof. Dr. Hans-Jürgen Bömelburg, Justus-Liebig-Universität Gießen, Teilprojektleiter der DFG -Forschergruppe »Gewaltgemeinschaften« Prof. Dr. Horst Carl, Justus-Liebig-Universität Gießen, Teilprojektleiter der DFG -Forschergruppe »Gewaltgemeinschaften« Prof. Dr. Cora Dietl, Justus-Liebig-Universität Gießen, Teilprojektleiterin der

DFG -Forschergruppe »Gewaltgemeinschaften«

Dr. Christine Hardung, Universität Kassel, Wissenschaftliche Mitarbeiterin der

DFG -Forschergruppe »Gewaltgemeinschaften« (2009–2016)

Prof. Dr. Peter Haslinger, Herder-Institut für historische Ostmitteleuropaforschung Marburg/Justus-Liebig-Universität Gießen, Teilprojektleiter der DFG Forschergruppe »Gewaltgemeinschaften« Dr. Andreas Helmedach, Ruhr-Universität Bochum, Wissenschaftlicher Mit­ arbeiter der DFG -Forschergruppe »Gewaltgemeinschaften« (2009–2015) Titus Knäpper M. A., Justus-Liebig-Universität Gießen, Wissenschaftlicher Mitarbeiter der DFG -Forschergruppe »Gewaltgemeinschaften« (2012–2015) Prof. Dr. Markus Koller, Ruhr-Universität Bochum, Teilprojektleiter der DFG Forschergruppe »Gewaltgemeinschaften«

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Autorinnen und Autoren

Prof. Dr. Friedrich Lenger, Justus-Liebig-Universität Gießen, Teilprojektleiter der DFG -Forschergruppe »Gewaltgemeinschaften« Dr. Vytautas Petronis, Herder-Institut für historische Ostmitteleuropaforschung Marburg, Wissenschaftlicher Mitarbeiter der DFG -Forschergruppe »Gewalt­ gemein­schaften« (2010–2013) Wojciech Pieniazek M. A., Herder-Institut für historische Ostmitteleuropaforschung Marburg, Wissenschaftlicher Mitarbei­ter der DFG -Forschergruppe »Gewaltgemeinschaften« (2012–2016) Vadim Popov Dipl. Hist., Justus-Liebig-Universität Gießen, Wissenschaftlicher Mitarbeiter der DFG -Forschergruppe »Gewaltgemeinschaften« (2012–2015) Dr. Sascha Reif, Universität Kassel, Wissenschaftlicher Mitarbeiter der DFG Forschergruppe »Gewaltgemeinschaften« (2009–2012) Dr. Michael Schellenberger, Justus-Liebig-Universität Gießen, Wissenschaftlicher Mitarbeiter der DFG -Forschergruppe »Gewaltgemeinschaften« (2012–2015) Prof. Dr. Winfried Speitkamp, Universität Kassel/Bauhaus-Universität Weimar, Sprecher sowie Teilprojekt­leiter der DFG -Forschergruppe »Gewalt­gemein­ schaften« Mathias Voigtmann M. A., Herder-Institut für historische Ostmitteleuropaforschung Marburg, Wissenschaftlicher Mit­arbeiter der DFG -Forschergruppe »Gewaltgemeinschaften« (2013–2016) Michael Weise M. A., Justus-Liebig-Universität Gießen, Wissenschaftlicher Mitarbeiter der DFG -Forschergruppe »Gewaltgemeinschaften« (2012–2015) Prof. Dr. Hans-Ulrich Wiemer, Friedrich-Alexander-Universität ErlangenNürnberg, Teilprojektleiter der DFG -Forschergruppe »Gewaltgemeinschaften« Dr. Stefan Xenakis, Justus-Liebig-Universität Gießen, Wissenschaftlicher Mitarbeiter der DFG -Forschergruppe »Gewaltgemeinschaften« (2009–2012) Dr. Stephanie Zehnle, Universität Kassel, Wissenschaftliche Mitarbeiterin der

DFG -Forschergruppe »Gewaltgemeinschaften« (2014–2016)