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German Pages [263] Year 2018Januar 25
ERICH WOYTEK DIE CIRIS IM KONTEXT DER AUGUSTEISCHEN DICHTUNG
WIENER STUDIEN • BEIHEFT 39 Herausgegeben von Herbert Bannert und Kurt Smolak
DIE CIRIS IM KONTEXT DER AUGUSTEISCHEN DICHTUNG
Erich Woytek
Angenommen durch die Publikationskommission der philosophisch-historischen Klasse der ÖAW: Michael Alram, Bert Fragner, Hermann Hunger, Sigrid Jalkotzy-Deger, Brigitte Mazohl, Franz Rainer, Oliver Jens Schmitt, Peter Wiesinger und Waldemar Zacharasiewicz
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Alle Rechte vorbehalten. ISBN 978-3-7001-8105-7 Copyright © 2018 by Österreichische Akademie der Wissenschaften, Wien Druck und Bindung: Prime Rate kft., Budapest http://epub.oeaw.ac.at/8105-7 http://verlag.oeaw.ac.at
INHALT I. EINLEITUNG ........................................................................... 9 II. DIE CIRIS UND OVIDS FASSUNG DES MYTHOS 1. Grundlegendes ..................................................................... 2. Cirissimilien in met. 8, 1–152 ............................................. 3. Cirissimilien bei Ovid außerhalb der Scyllaerzählung A. In den Metamorphosen ............................................... B. In den Fasten ............................................................... C. In Heroides und Amores ............................................
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III. DER CIRISDICHTER ALS IMITATOR .......................... 73 1. Phänomene einer Multiplikation bzw. Erweiterung A. Wortverdoppelung, Wortvervielfachung ................... B. Erweiternde Strukturimitationen ................................ C. Zwei- oder mehrfache Verwertung einer Vorlage – Dekonstruktion ........................................................... 2. Charakteristischer Worttausch A. Wechsel zu quantitativen bzw. numerischen Attributen .................................................................... B. Wechsel zu kommunen Verba .................................... C. Neologismen ............................................................... 3. Größere Auffälligkeit der Sekundärstelle A. Sachliche oder kontextuelle Auffälligkeit .................. B. Auffälligkeit des Ausdrucks........................................ C. Grammatische Auffälligkeit ........................................ D. Gebrauch von Füllseln ................................................ E. Verstärkung/Überbietung des Prätexts ........................
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IV. DIE IMITATIONSTECHNIK VERGILS 1. Phänomene einer Multiplikation bzw. Erweiterung A. Wortverdoppelung ...................................................... B. Strukturelle Erweiterung a. Hinzufügung einzelner Satzglieder oder Sätze..... b. Verdoppelung von Vergleichen/Gleichnissen ...... c. Vermehrung von (meist erregten) Fragen ............
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C. Zwei- oder mehrfache Verwertung einer Vorlage – Dekonstruktion ............................................................ 97 2. Charakteristischer Worttausch A. Wechsel zu quantitativen Attributen.......................... 101 B. Wechsel zu kommunen Verba ................................... 102 C. Sprachliche Neuerungen a. Semantische Innovation ...................................... 103 b. Neologismen........................................................ 104 3. Größere Auffälligkeit der Sekundärstelle A. Sachliche oder kontextuelle Auffälligkeit ................. 105 B. Auffälligkeit des Ausdrucks....................................... 108 C. Grammatische Auffälligkeit ....................................... 110 D. Füllsel, Verstärkung durch omnis, totus .................... 113 E. Stilistisches ................................................................. 113 V. DIE CIRIS UND VERGIL 1. Bucolica und Ciris .............................................................. 115 2. Georgica und Ciris ............................................................. 131 3. Ciris und Aeneis ................................................................. 142 A. Neues Material ........................................................... 143 B. Alte Streitfälle und vermeintliche Paradebeispiele a. Das stumme Flehen Cassandras (Aen. 2, 405f. ~ Cir. 402f.) .................................. 159 b. Der schattenspendende Majoran (Aen. 1, 692ff. im Vergleich mit Cir. 3f.) ............ 163 c. Die Ohren des Palinurus als Windmesser (Aen. 3,513ff. ~ Cir. 209ff.) ................................. 165 d. Die plötzliche Angst des Aeneas (Aen. 6, 290) und der Scylla (Cir. 214) .................................... 167 e. Der versteckte goldene Zweig der Sibylle (Aen. 6, 406 ~ Cir. 280) ...................................... 168 f. Die Ehre des Göttervaters (Aen. 6, 760 und 779f. ~ Cir. 268f.) .................... 171 C. Ein Sonderfall: Die unlogische Seefahrt des Minos (Cir. 470ff. ~ Aen. 3, 73ff., 124ff.) ..................... 180 VI. CATALEPTON 9 UND CIRIS 1. Die Datierung der Elegie .................................................... 189 2. Catalepton 9 als unorthodoxes Enkomion .......................... 192
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3. Zur Person des Verfassers und seiner Catull- und Vergilrezeption ............................................................................ 195 4. Weitere sprachliche Übereinstimmungen mit dem Cirisautor ........................................................................... 197 5. Identität der Autoren? ......................................................... 204 VII. DER AUTOR VON CATALEPTON 9 UND CIRIS: EIN VORSCHLAG ZU SEINER IDENTITÄT ............. 209 APPENDICES Appendix 1: Die Ciris und Properz A. Properz 1 und die Ciris....................................... 223 B. Die Ciris und Properz 2 ...................................... 228 Appendix 2: Die Ciris und Tibull 1 ............................................. 235 Appendix 3: Catalepton 9, Ciris und Panegyricus Messallae ..... 238 LITERATURVERZEICHNIS Häufig(er) und daher abgekürzt zitierte Literatur........................ 247 Weitere verwendete Literatur ...................................................... 251 REGISTER ................................................................................ 257
I. EINLEITUNG Die Ciris, jenes zur Appendix Vergiliana zählende, nach den Prinzipien neoterischer Dichtkunst verfaßte Kleinepos über die leidenschaftliche Liebe der megarischen Königstochter Scylla zum Landesfeind Minos und deren verhängnisvolle Folgen für sie selbst, ihren Vater Nisus und ihre Heimatstadt, wurde insbesondere im Laufe der letzten hundert Jahre in der römischen Literaturgeschichte arg herumgestoßen und hat bis heute keinen festen, unangefochtenen Platz darin gefunden. Dies läßt sich überdeutlich daran ablesen, daß zwei einigermaßen rezente Aussagen zur Datierung der Ciris um nicht weniger als ein rundes Jahrhundert auseinandergehen: Während D. Gall im Jahre 19991 F. Skutschs damals fast hundert Jahre alte These von der prävergilischen Entstehung des Gedichts2 aus der Feder des Cornelius Gallus3 – dies war die Initialzündung zu einer seitdem nicht mehr zur Ruhe gekommenen philologischen Debatte über die Ciris – mit neuen Überlegungen, aber auf derselben Materialbasis wiederzubeleben versuchte, sprach sich G. Bretzigheimer 2005 für die Entstehung des Werks etwa in der Mitte des 1. Jahrhunderts nach Christus aus, wollte aber auch ein späteres Datum nicht ausschließen.4 Immerhin hatte ja R. O. A. M. Lyne eine Spätdatierung ins zweite5 oder sogar dritte6 nachchristliche Jahrhundert vorgenommen, die M. von Albrecht zwar als „wegen des neoterischen Stils unwahrscheinlich“, aber doch „allenfalls mit der Zurückgebliebenheit eines dilettantischen Poe––––––––––– 1 Zur Technik von Anspielung und Zitat in der römischen Dichtung. Vergil, Gallus und die Ciris, München 1999 (Zetemata 100; in Hinkunft Gall 1999). 2 Zuerst formuliert in: Aus Vergils Frühzeit, Leipzig 1901 (= Skutsch 1901), danach in: Gallus und Vergil. Aus Vergils Frühzeit 2. Teil, Leipzig Berlin 1906 (= Skutsch 1906); dort setzt der Autor das Gedicht recht präzise „zwischen … Lucrez und Calvus’ Io einerseits und Vergils Bucolica anderseits d. h. zwischen 54 und 40“ an (121). 3 Darin hatte Skutsch freilich schon vom 16. Jahrhundert an Vorgänger: zuerst wohl in Hubert von Giffen (Obertus Gifanius, 1534–1604), danach mit Barth, Fontanini, Johann Heinrich Voß, Meineke, Merkel, Weichert und Passow. Vor Gall fand Skutschs Identifikation des Cirisautors nur bei W. Kroll und M. Galdi Anklang. 4 Poeta memor ludensque oder The Making of Ciris, in: N. Holzberg (Hg.), Die Appendix Vergiliana. Pseudepigraphen im literarischen Kontext, Tübingen 2005 (Classica Monacensia 30), 142–224 (= Bretzigheimer 2005), 156. 5 So zuerst in: The Dating of the Ciris, CQ 21 (1971), 233–253 (= Lyne 1971), 252f.; diesen Ansatz präzisiert M. L. Clarke auf 139: The Date of the Ciris, CPh 68 (1973), 119– 121, 120. 6 Lyne korrigierte seine ursprüngliche Datierung noch einmal nach oben: Ciris, A Poem Attributed to Vergil, Edited with an Introduction and Commentary, Cambridge 1978 (Cambridge Classical Texts and Commentaries 20; von nun an Lyne 1978), 54ff.
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ten oder der Bosheit eines raffinierten Fälschers (zu) begründen“7 bezeichnet. Da mir nun weder die Vorstellung von einem isoliert zurückgebliebenen neoterischen Dilettanten im Abstand von zwei oder gar drei Jahrhunderten zu jener Dichterbewegung vernünftig vorkommt8 noch plausibel erscheint, daß ein raffinierter Fälscher Vergil ausgerechnet ein neoterisches Epyllion mit einem „relativ archaischen Charakter“9 hätte unterschieben sollen,10 fehlt in meinen Augen jegliche Grundlage für die Datierung eines in hellenistischem Geist geschriebenen Kurzepos in das doch völlig anders strukturierte poetische Umfeld des zweiten Jahrhunderts nach Christus oder gar in die literarische Wüstenei der Severerzeit. Es muß aber auch festgestellt werden, daß Lynes Datierung von Haus aus faktisch unfundiert ist, da er die Abhängigkeit etlicher Cirisverse von Stellen bei Autoren der silbernen Latinität, insbesondere von Statius, im Grunde nur behauptet, nicht aber argumentativ erweist.11 Selbst wenn man also bei der Eingrenzung der potentiellen Ent––––––––––– 7 Geschichte der römischen Literatur von Andronicus bis Boethius mit Berücksichtigung ihrer Bedeutung für die Neuzeit, Bd. 1, Bern 1992, 562, Anm. 3, bzw. 563. Von Albrecht übernimmt hier, freilich mit pejorativen Untertönen, das Urteil F. Leos, für den der Cirisautor „ein gebildeter Dilettant“, „das treffliche Beispiel eines zurückgebliebenen Neoterikers“ ist: Vergil und die Ciris, Hermes 37 (1902), 14–55 (= Leo 1902), 48f. = Ausgewählte Kleine Schriften, herausgegeben und eingeleitet von E. Fraenkel, 2. Bd., Rom 1960, 29–70, 62f. 8 Lyne muß unter dem Eindruck einer Arbeit von A. Cameron selbst einräumen, daß es im zweiten nachchristlichen Jahrhundert keine epigonale Neoterikerbewegung gab: Lyne 1978, 48, Anm.1. 9 So richtig F. Leo, Nochmals die Ciris und Vergil, Hermes 42 (1907), 35–77 (= Leo 1907), 72 = Ausgewählte Kleine Schriften, 2. Bd., Rom 1960, 71–112, 107. 10 Die Ansicht, die Ciris sei eine bewußte Fälschung, wurde meines Wissens zuerst von G. Némethy vorgetragen (Zur Ciris-Frage: RhM 62, 1907, 482–485) und auch etwa von S. Mariotti (La Ciris è un falso intenzionale, Humanitas 3, 1950/1, 371–373) und E. Paratore (La letteratura latina dell’età repubblicana e augustea, Milano 1969, 365f.) mit Nachdruck vertreten. Sie wird von K. Büchner in seinem RE-Artikel: P. Vergilius Maro. Der Dichter der Römer, RE VIII A 1/2, 1021–1486 (= Büchner RE), 1128 kategorisch zurückgewiesen und sowohl von Lyne (1971, 253 und 1978, 54) als auch von Bretzigheimer (2005, 147f.) abgelehnt, fand aber gerade in jüngster Zeit unter italienischen Philolog(inn)en Akzeptanz: vgl. etwa S. Timpanaro, De ciri, tonsillis, tolibus, tonsis et de quibusdam aliis rebus, md 26 (1991), 103–173, 110, Anm. 20 sowie R. Degl’Innocenti Pierini, Due note sul mito di Scilla (in Ovidio e nella Ciris), A&R 39 (1994), 72–77, 76. 11 Diesen Umstand moniert zu Recht I. Opelt in ihrer eingehenden Gnomon-Rezension von Lynes Kommentar, worin sie die Spätdatierung verwirft: „Bei diesem späten Ansatz, für den die Beweise eigentlich fehlen, wird man L. wohl kaum folgen wollen“ (Gnomon 52, 1980, 246–250, 250). Deutliche Ablehnung des Spätansatzes signalisiert im übrigen auch P. Hamblenne in seiner Besprechung Latomus 40 (1981), 833–835; grundsätzliche Bedenken dagegen auch bei J. A. Richmond im Rahmen seines Forschungsberichts zur Ciris
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stehungszeit des Werks von Lynes extremem, extravagantem Spätansatz besser absieht, verbleibt gemäß den übrigen Datierungsvorschlägen immer noch ein sehr weit gespannter Rahmenzeitraum von etwa der Mitte des ersten vorchristlichen bis in die Mitte des ersten nachchristlichen Jahrhunderts. Es erscheint nicht notwendig und an dieser Stelle auch kaum ratsam, penibel alle zur Datierung und zum präsumtiven Autor des Gedichts jemals irgendwo geäußerten Meinungen zu referieren.12 Unseren Zwecken ist vollauf damit gedient, anstelle einer doch leicht ermüdenden detaillierten Doxographie dem Leser zur ersten Orientierung nur die wesentlichsten in der ausgeuferten Debatte bezogenen Positionen und deren einflußreichste Vertreter vorzustellen. Eine Hauptrolle spielt jedenfalls F. Leo, der in seiner doppelten Entgegnung auf Skutsch13 die von diesem mit dem Ergebnis einer Priorität des Epyllion untersuchten Similien zwischen Ciris- und Vergilversen – hauptsächlich aus den Bucolica und Georgica – mit dem genau entgegengesetzten Resultat interpretierte: Für ihn ist die Abhängigkeit des Cirisdichters vom Gesamtwerk Vergils erwiesen; er setzt die Abfassung oder zumindest Vollendung des Epyllion unmittelbar nach Vergils Tod an, also im Jahr 736 a.u.c. = 18 v. Chr.14 Leos Autorität hatte zweifellos maßgeblichen Anteil daran, daß eine nachvergilische Entstehung der Ciris seither zwar nicht zur gänzlich unbestrittenen communis opinio, aber doch zur eindeutig herrschenden Ansicht wurde und etwa in K. Büchner an denkbar prominenter Stelle einen überzeugten Propagator fand.15 Leos von Büchner übernommene Datierung unmittelbar nach dem Tod Vergils aber fand keine breite Zustimmung.16 Vielmehr gewann die von C. Ganzenmüller bereits im ––––––––––– für die Jahre 1950–1975: Recent Work on the ‘Appendix Vergiliana’, ANRW II.31.2, Berlin New York 1981, 1112–1154, speziell zur Ciris 1137–1141 (= Richmond 1981), 1139. 12 Auch Bretzigheimer läßt es in ihrer Arbeit zumeist bei einer bloßen Namensnennung der wichtigsten Teilnehmer an der Ciris-Diskussion bewenden (2005, 146, Anm. 23 und 24); zu J. A. Richmonds knappem Forschungsbericht siehe die vorhergehende Anmerkung. 13 Leo 1902 und Leo 1907; der Aufsatz: De Ciri carmine coniectanea, Göttingen 1902 = Ausgewählte Kleine Schriften, 2. Bd., Rom 1960, 113–133 (= Leo 1902a) befaßt sich ausschließlich mit textkritischen Problemen. 14 Vgl. die dahingehenden, trotz der dort gewählten „kann“-Formulierung bestimmt klingenden Aussagen 1902, 47. 15 RE 1125, 45ff.: „Der Streit zwischen Skutsch und Leo kann als zugunsten Leos entschieden gelten. Die Ciris ist nach Vergil, und zwar nach Veröffentlichung der Aeneis entstanden.“ 16 Eine Ausnahme ist etwa A. Thill, die das Gedicht „peu de temps après la mort de Virgile … au moment où le grand poète était l’objet d’un véritable culte“ geschrieben sehen möchte: Virgile auteur ou modèle de la Ciris?, REL 53 (1975), 116–134, 133.
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Jahre 1894, also schon vor der chronologischen Kontroverse zwischen Skutsch und Leo, vorgenommene Ansetzung sogar nach Ovid17 – bzw. zumindest in dessen allerletzten Lebensjahren18 – immer mehr Anhänger. Besonders hervorzuheben ist in dieser Hinsicht F. Munari mit seiner vielfach auch heute noch geschätzten, vor kurzem sogar neu aufgelegten Studie aus dem Jahre 1944, worin diese Datierung wohl das einzige Mal einigermaßen ausführlich argumentiert wird.19 Unter ihrem Eindruck erklärt etwa J. A. Richmond die Abhängigkeit der Ciris von Ovid für „overwhelmingly probable;“20 damit im Einklang statuiert R. Degl’Innocenti Pierini eine Abfassung des Gedichts zwischen Ovids Tod und Senecas Medea.21 Auch P. L. Schmidt präsentiert in seinem kurzen Ciris-Artikel im „Neuen Pauly“ dem unabschätzbar großen gegenwärtigen und zukünftigen Benützerkreis dieses Nachschlagewerkes eine analoge Datierung,22 die, wie schon erwähnt, auch Bretzigheimers erste Wahl ist. Alternative Vorschläge, die sowohl von dieser heute vorherrschenden Ansetzung als auch von Galls einzelgängerischer Frühdatierung abweichen, sind zwar selten, aber immerhin doch auch zu registrieren. So ermittelte P. Pinotti 1978 den terminus ante quem 22 vor Christus durch den Vergleich einzelner Formulierungen der Ciris mit ähn––––––––––– 17 Beiträge zur Ciris, JbclPhil, Suppl. 20 (1894), 551–657 (= Ganzenmüller 1894), 637: „So möchte ich denn die Abfassung der Ciris in die Zeit von 19–23 nach Chr. verlegen. Vielleicht … 20 n. Chr.“. 18 So etwa R. Helm, Ein Epilog zur Cirisfrage, Hermes 72 (1937), 78–103 (= Helm 1937a), speziell 103. Helm sieht aber nicht Ovid als Autor, dies zum Unterschied von R. S. Radford (The Juvenile Works of Ovid and the Spondaic Period of His Metrical Art: TAPhA 51, 1920, 146–171 bzw. The Priapea and the Vergilian Appendix: TAPhA 52, 1921, 148– 177) und dessen Schüler R. F. Thomason (The Ciris and Ovid: A Study of the Language of the Poem, CPh 18, 1923, 239–262 und 334–344 sowie CPh 19, 1924, 147–156). Die Kenntnis des gesamten vergilischen Œuvres und der Metamorphosen Ovids setzt beim Cirisdichter auch H. Hielkema voraus: Ciris quod carmen traditur Vergilii, versione Batava commentarioque exegetico instructum, Traiecti ad Rhenum (Utrecht) 1941, XIII. 19 Studi sulla ‘Ciris’, Atti della Reale Accademia d’Italia, Memorie della Classe di Scienze Morali e Storiche ser. 7, vol. 4, fasc. 9, Roma 1944, 241–367 (= Munari 1944), besonders 315–336; Munari denkt „al periodo compreso fra il 17 e il 30 p. Chr.“ (334). ND: A. Cavarzere (Hg.), Introduzione di S. Timpanaro, Reperti. Collana del Dipartimento di Scienze Filologiche e Storiche dell’ Università degli Studi di Trento 8, Trento 1998. Ohne Munaris Arbeit im Detail zu kennen äußert sich W. Ehlers in ganz ähnlichem Sinne: Die Ciris und ihr Original, MH 11 (1954), 65–88 (= Ehlers 1954), speziell 65, Anm. 2. 20 Richmond 1981, 1138. 21 Wie Anm. 10, 77. 22 Der Neue Pauly, Bd. 2 (Ark bis Ci), Stuttgart Weimar 1997, 1220: „… weder vor Ovid, noch erst im 2. Jh. n. Chr. …, sondern in tiberischer Zeit (1. H. des 1. Jh. n. Chr.)“.
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lichen der Scyllasequenz (21–26) im Properzgedicht 3, 19,23 glücklicherweise ohne dabei auf Vergil als Autor des Epyllion zu verfallen. Bei aller mit der Datierung und Autorfrage der Ciris verbundenen Ungewißheit scheint mir nämlich wenigstens diese Identifikation mit Sicherheit von vornherein auszuschließen: Trotz einer Unzahl frappanter Textübereinstimmungen mit Vergil ist die Ciris in Geist und Stil doch so eindeutig unvergilisch, von dessen unverwechselbarer Art zu dichten so weit entfernt, daß eine Zuschreibung an diesen Autor – wie oft sie auch vor allem in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts tatsächlich noch vorgenommen wurde24 – seriöser Weise nicht in Betracht gezogen werden kann.25 So muß das große Engagement, mit dem etwa A. Salvatore auch noch in jüngerer Vergangenheit für den jungen Vergil als Cirisautor eintrat,26 als von Haus aus fehlgeleitet bezeichnet werden. Angesichts der beunruhigenden Vielzahl unterschiedlichster, hier gar nicht einmal mit allen Nuancen wiedergegebener Antworten auf die sogenannte Cirisfrage, die demgemäß selbst Spezialisten mit festen (wenngleich problematischen) Standpunkten wie Lyne und Salvatore in überraschender Objektivität für immer noch offen erklärten,27 ortete D. Knecht wohl nicht zu Unrecht schon vor mehr als 30 Jahren in dieser Angelegenheit bei den Fachkollegen „lassitude“, also Müdigkeit bzw. vielleicht sogar Überdruß.28 Diese ––––––––––– 23 Sui rapporti tra epillio ed elegia narrativa nella letteratura latina del I secolo a. Cr., GIF 30 (1978), 1–26, 21ff.; einen sicheren terminus post quem für das dritte Properzbuch liefert ja der in 3, 18 thematisierte Tod des Marcellus im September 23. 24 Vgl. (in strenger Auswahl) F. Vollmer, Die kleineren Gedichte Vergils, SB der K. B. Ak. d. Wiss. München, philos.-philol. Kl. 1907, München 1908, 331–374 (40–27 v. Chr.); A. Oltramare, L’authenticité de la Ciris, REL 7 (1929), 294–321; R. B. Steele, Authorship of the Ciris, AJPh 51 (1930), 148–184, 184: „before the time of Propertius“; A. Rostagni, Virgilio minore. Saggio sullo svolgimento della poesia virgiliana, Torino 1933, 185–205; E. Bolisani, Dall’Appendix Vergiliana: La Ciris e il Virgilio Maggiore, AIV 117 (1958/59), 1–48. 25 Vgl. dazu die lapidare Feststellung M. von Albrechts (vgl. Anm. 7), 562: „Verfasserschaft Vergils ist auszuschließen.“ 26 Vgl. dazu: Virgilio e Pseudovirgilio, Napoli 1994, einen Sammelband von Aufsätzen aus den Jahren 1948–1994 (= Salvatore 1994), der etliche einschlägige Artikel enthält. Darin verfestigt sich dem Autor die anfängliche Arbeitshypothese einer Priorität der Ciris gegenüber den unstrittigen Werken Vergils unter den Händen zur Gewißheit. 27 Lyne 1978, 56: „The Cirisfrage is still of course wide open“; Salvatore 1994, 25: „… questo problema, che conserva, comunque, il suo fascino e rimane, per noi, ancora aperto.“ 28 In seiner selektiv kommentierten Ausgabe: Ciris. Authenticité, histoire du texte, édition et commentaire critiques, Brugge 1970 (= Knecht 1970), xxf.
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Diagnose liefert eine durchaus plausible Erklärung für den faulen Consensus, den Knecht in Form der heute breiten, meist nicht weiter begründeten29 Anerkennung nachvergilischer Entstehung der Ciris zustandegekommen sieht. Bei ihm selbst hatte die „lassitude“ letztlich Resignation und Kapitulation vor einer unlösbar scheinenden Aufgabe zur Folge: Während Knecht in einem früheren Aufsatz, freilich mit größter Vorsicht, noch eine chronologische Aussage wagte und Vergil als Autor der Ciris zumindest für möglich hielt, wohl sogar favorisierte,30 landete er im Kommentar bei blanker Aporie.31 Mit diesem pessimistischen Agnostizismus blieb der Autor aber nicht allein: In jüngster Zeit äußerte sich etwa A. Bartels zur Frage der Datierbarkeit der Ciris überaus skeptisch,32 und für V. B. Gorman33 beweist die Meinungsvielfalt zu diesem Problem gleich „the fundamental impracticability of these pursuits“ – sc. der Bemühungen, die Ciris zu datieren und ihren Autor wenigstens versuchsweise zu identifizieren.34 Niemand wird leugnen wollen, daß in der gegebenen Situation einer vielfach krassen Widersprüchlichkeit der vorgetragenen Ansichten dem Fortschritt der Wissenschaft weder mit völliger Urteilsenthaltung noch mit Angaben wie der Gormans gedient ist „that someone other than Vergil wrote the Ciris … at some time between the death of Vergil in 19 BCE and the lifetime of Donatus in the fourth century CE.“35 Ein in unseren Augen unumgänglicher neuer Versuch, den toten Punkt zu überwinden, an dem die Forschung zur Chronologie der Ciris heute angekommen scheint, sollte aber ––––––––––– 29 In diesem Zusammenhang erscheint es symptomatisch, daß laut dem Text auf der letzten Umschlagseite des oben in Anm. 4 zitierten, von N. Holzberg herausgegebenen Sammelbandes zur Appendix Vergiliana alle Mitarbeiter wie G. Bretzigheimer im Falle der Ciris „davon aus(gehen), daß es sich“ (sc. bei den Gedichten der Appendix Vergiliana) „um Pseudepigraphen der frühen Kaiserzeit handelt.“ 30 Vgl. das Fazit des Artikels: Virgile et ses modèles latins, AC 32 (1963), 491–512 (= Knecht 1963), 512 mit Fußnote 15. 31 Vgl. Knecht 1970, xiiiff. und das Eingeständnis (xx): „Aussi croyons-nous qu’il est impossible de trancher dans le débat.“ 32 Vergleichende Studien zur Erzählkunst des römischen Epyllion, Göttingen 2004, 62: „Die Datierungsfrage … wird vielleicht nie geklärt werden.“ 33 Vergilian Models for the Characterization of Scylla in the Ciris, Vergilius 41 (1995), 35– 48, 35 Anm. 1. 34 Auch A. Haury schloß, in der Einleitung zu seiner Edition des Gedichts (Bordeaux 1957; in Hinkunft Haury 1957), seine anregend geschriebene kritische Übersicht über die Forschungsgeschichte zur Ciris und zu deren potentiellem Verfasser bewußt ohne eigenen Vorschlag bloß mit dem Wunsch: „Qu’on nous laisse plutôt révéler la Ciris. Son auteur désirait-il rien de plus?“ (XXXI). 35 Gorman loc. cit.
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jedenfalls auf einer verbreiterten und zumindest partiell erneuerten Materialgrundlage unternommen werden, d. h. unter Einbeziehung neuer Cirissimilien sowohl aus Vergil und Ovid als auch aus anderen Autoren: Damit wäre dem erwartbaren Vorurteil zu begegnen, daß das zur Verfügung stehende Parallelenmaterial eben keine sichere Prioritätsentscheidung zulasse. Darüber hinaus aber scheint es geboten, auch neue, nach Möglichkeit unanfechtbare Kriterien ins Spiel zu bringen: Hat man doch gegen die bislang in erster Linie auf ästhetischen Grundlagen gefällten Prioritätsurteile, die axiomatisch von höherer poetischer Qualität der Primärstelle ausgingen, methodisch sicherlich nicht zu Unrecht den Vorwurf der Unbrauchbarkeit wegen zu großer Subjektivität erhoben.36 Auch diesem leicht vorhersehbaren Vorwurf sollte durch die Einführung auch neuer Maßstäbe von vornherein Rechnung getragen und damit die Angriffsfläche entzogen werden. Ganz in Übereinstimmung mit dieser unserer Forderung einer innovativen Annäherung verfuhr im Grundsatz Dorothea Gall: Ihre Absicht, zur Entscheidungsfindung unverbrauchte Kriterien einzusetzen,37 ist prinzipiell aller Ehren wert. Auch der Vorsatz, im Interesse der Objektivität zumindest in erster Linie38 auf formale Auffälligkeiten in Similien zu achten,39 erscheint grundsätzlich plausibel und als logische Konsequenz der oben zitierten – und bei allzu willkürlicher, etwa von Vorurteilen bestimmter Vorgangsweise wohl auch nicht unberechtigten – Skepsis bezüglich der Verläßlichkeit ästhetischer, allenfalls auch inhaltlicher Datierungskriterien. Allerdings muß Gall sich sogar von einem überaus wohlwollenden Kritiker wie H. J. Tschiedel40 zu Recht vorhalten lassen, daß nicht weniger als drei ihrer
––––––––––– 36 In diesem Sinne kategorisch und ganz allgemein H. J. Tschiedel in der einzigen mir bekannten Rezension von Galls Buch AAHG 55 (2002), 177–180, 178. Mit einem anderen Argument gegen ästhetische Urteile in Prioritätsfragen, zumal beim Vergleich einzelner Autoren, Haury 1957, XXIV. 37 Gall 1999, 10: „Einem neuen Beweisgang müssen Richtlinien zugrunde gelegt werden, die von der Forschung bisher nicht bzw. nicht hinlänglich berücksichtigt wurden.“ Sie spricht (90) von „andere(n) Kriterien der Prioritätsbestimmung“ – sc. als den „von Skutsch und Leo und ihren Nachfolgern“ angewendeten. 38 Warum sie auf inhaltliche Interpretation von Vergleichsstellen doch nicht ganz verzichtet, begründet sie 91. 39 Anstelle „einer inhaltlichen Erörterung der Parallelstellen und ihres Kontextes“ (90) will Gall „prüfen …, für welchen Autor und Kontext ein Similienpassus stilistisch oder metrisch ‘typischer’ ist – und diesen mit einiger Sicherheit als den Ursprung bestimmen.“ (48). 40 Wie Anm. 36, 178.
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vier in Frageform gekleideten kritischen „Ansatzpunkte“41 dem von der Autorin selbst erhobenen Objektivitätsanspruch nicht zur Gänze gerecht werden. Nur in Galls erstem Punkt, nämlich der Frage: „Sind die Similien in Wortwahl, Stilistik oder Metrik charakteristisch für eines der beiden Werke?“42 sieht der Rezensent „die Forderung eines objektiven Maßstabs voll erfüllt“ und demgemäß offenkundig ein taugliches Kriterium für sichere Prioritätsentscheidungen. Bei näherer Betrachtung der von Gall an der Ciris speziell hervorgehobenen stilistischen und metrischen Phänomene43 kommen mir jedoch Bedenken auch gegen diesen zentralen Faktor in Galls Argumentation. Versus aurei und versus spondiaci sind – als bevorzugte Elemente neoterischer Metrik – in der Ciris gewiß um einiges häufiger als in Vergils Eklogen und Georgica, finden sich dort aber durchaus auch abseits der Parallelen zu dem Epyllion.44 Dieser Umstand entzieht also Galls Eintreten etwa für Ciris 398 als Prätext zu ecl. 4, 4945 und allen analogen Überlegungen jede Grundlage. Was die Autorin aber als „Stilistische Eigenheiten der Ciris“ bezeichnet, nämlich Binnenreim, Epanalepsis, Parenthese, gelehrte Namensumschreibung, Graecismus, rhetorische Frage, Anapher, Alliteration und Zweiteilung des Verses, ist in aller Regel doch nur eine Ansammlung in römischer Dichtersprache ganz generell häufiger Phänomene, die als solche natürlich auch bei Vergil ubiquitär vorkommen, wie Gall selbst weiß.46 Damit fallen auch diese Stilistica als wirklich verläßliche Indizien in bezug auf die relative Chronologie der Ciris und der Dichtungen Vergils aus, zumal dann, wenn von einer dieser Erscheinungen allein eine Prioritätsentscheidung abhängig gemacht wird. Dementsprechend lassen schon vor einer Auseinandersetzung mit Galls Argumentation im Einzelnen prinzipielle Bedenken gegen die angewendete Methode mit Notwendigkeit Zweifel an der Richtigkeit der damit erzielten Resultate aufkommen, womit ja im übrigen lediglich die Zeiger der Uhr um ein volles Jahrhundert zurückgedreht wer––––––––––– 41 Das betrifft die geforderte Prüfung, ob Similien an besonders hervorgehobener Stelle stünden, in irgendeiner Form als Antwort auf die Parallelversion aufgefaßt werden könnten oder von einem Autor als Folie zu seiner eigenen Ansicht zitiert erscheinen würden: Gall 1999, 90. 42 ibid. 43 Vgl. die Liste Gall 1999, 84–89. 44 Versus spondiaci ohne Cirisentsprechung begegnen etwa ecl. 5, 38 und 7, 53; ecl. 2, 24 und 10, 12 sind hingegen keine versus spondiaci, sondern mit Hiaten nach dem fünften Longum des Hexameters vor den griechischen Eigennamen Aracyntho bzw. Aganippe zu lesen: dies zur Korrektur von Galls Bewertung 89, Anm. 129. 45 Vgl. Gall 1999, 97, dazu ausführlich unten 125ff. 46 Vgl. ihre meist pauschalen Angaben dazu 86–89.
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den.47 Umso mehr sehen wir uns – nicht zuletzt auch im Sinne der von Tschiedel abschließend ausgesprochenen Hoffnung, daß durch Galls Buch „in die seit langem festgefahrene Diskussion des Problems wieder Bewegung käme“48– dazu aufgerufen, unsererseits einen Beitrag zur Cirisdiskussion zu leisten, der einen echten Wissensfortschritt bringen kann. Gemäß den oben formulierten Grundsätzen soll dabei neues, zusätzliches Referenzmaterial zur Ciris herangezogen und auch versucht werden, die Beurteilung der jeweils vorliegenden Abhängigkeit möglichst zu objektivieren. Zur Erweiterung der Materialgrundlage sollen einerseits bedeutend mehr Aeneisparallelen in die Untersuchung einbezogen werden als dies bisher geschah. Die nur sehr selektive Berücksichtigung, fast Vernachlässigung einschlägiger Stellen geht auf Franz Skutsch zurück, der nach dem eingehenden, seiner Meinung nach sicheren Nachweis der Priorität der Ciris gegenüber Vergils Eklogen und Georgica begreiflicherweise keine Notwendigkeit sah, noch eine umfassende Diskussion von Aeneissimilien anzuschließen. Da nun andererseits Leo sein Beweisziel der Widerlegung Skutschs mit Recht am eindrucksvollsten dadurch erreichen zu können glaubte, daß er die von diesem gebrauchten Exempla eines nach dem anderen jeweils mit konträrem Resultat analysierte, erfuhr die Textbasis, auf der die „Prioritätsschlacht“49 zwischen diesen beiden Gelehrten ausgetragen wurde, von seiner Seite keine wesentliche Verbreiterung. Wie sehr Skutschs Stellenauswahl mit Schwerpunkten auf Bucolica- und Georgicaparallelen zur Ciris die Debatte bis heute bestimmt, mag man aus einer analogen starken Disproportionalität auch in Galls Buch ersehen: Der mit „Ciris-Similien in der Aeneis“ überschriebene Abschnitt umfaßt gerade einmal 11 Seiten (126–136), wogegen der Interpretation der Parallelen zu den Bucolica und Georgica insgesamt 35 Buchseiten gewidmet sind (92–126). Dieses Zahlenverhältnis könnte darauf schließen lassen, daß die Autorin von Haus aus ganz im Banne von Skutschs These stand und ihr Buch nicht unvoreingenommen, sondern primär zu deren Verteidigung abfaßte. Doch das bleibe dahingestellt. Wir jedenfalls wollen von der beschriebenen eklatanten Fokussierung auf die Parallelen zwischen den kleineren Werken Vergils und dem Epyllion abrücken und eine weitaus ––––––––––– 47 Positiver urteilt Tschiedel, der Gall bescheinigt, es sei ihr „gelungen, die Gültigkeit des über die Ciris und ihren Dichter ausgesprochenen Urteils zumindest in Frage zu stellen“ (180). 48 ibid. 49 So mit einer krassen, angesichts der tatsächlich überaus hitzigen Kontroverse aber nicht absurden Metapher Lyne 1978, 228 zu Cir. 299. Dazu paßt seine Bezeichnung der Verse 59–61 als „battle-ground for Skutsch and Leo“ (ibid. 127).
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größere Zahl der ja unschwer aufzufindenden Aeneisstellen mit Cirisbezügen in die Untersuchung miteinschließen. Schon dieses Vorgehen sollte eine größere Verläßlichkeit der erzielten Resultate gewährleisten. Zu deren Kontrolle und Absicherung wollen wir in einem zusätzlichen Arbeitsschritt dann aber noch Referenzstellen zur Ciris bei anderen, mit Vergil annähernd gleichzeitigen Autoren heranziehen: Es sollte gelingen, etwa die durchaus nicht raren offenkundigen Bezüge zwischen der Ciris und Properz, aber auch die Parallelen zu Tibull und zu Horaz für unsere Zwecke nutzbar zu machen. Angesichts der – wie oben referiert – heute vorherrschenden Meinung, daß die Ciris erst nach Ovids Tod verfaßt wurde, erscheint es jedoch zweckmäßig, zuallererst das zeitliche Verhältnis der Ciris zu diesem Autor zu klären. Auch das soll auf einer breiteren und damit auch solideren Textgrundlage als bisher unter Anwendung desselben kritischen Instrumentariums erfolgen, das es uns in der Vergangenheit ermöglichte, ein ähnlich lang und so heiß wie die Cirisdatierung umstrittenes Problem, nämlich die Frage der Authentizität oder Nichtauthentizität der angeblichen Sallustbriefe an Caesar, eindeutig zu entscheiden50 sowie der schriftlichen Fassung des plinianischen Panegyricus vor Traian die zweite Hälfte des Jahres 107 als terminus post quem zuzuweisen und den Text so im Vergleich zur allgemeinen Ansicht um nicht weniger als sechs Jahre zu verschieben.51 Dabei kamen einige neue formale Prioritätskriterien zum Einsatz, die sich aus der Analyse evidentermaßen aufeinander bezogener und sicher datierbarer Passagen mit demgemäß von vornherein klaren Abhängigkeiten ergaben. Als Textgrundlage dieser eingehenden Untersuchungen dienten zunächst ausschließlich Werke Ovids, die ja von zahlreichen Fremd- und auch Autoimitationen geprägt sind; dazu trat entweder gezielt erhobenes oder zufällig aufgelesenes ––––––––––– 50 Dies geschah in zwei unmittelbar aufeinander folgenden und auch aufeinander bezogenen Aufsätzen: 1) Klärendes zu den pseudo-sallustischen Epistulae, in: H. Heftner K. Tomaschitz (Hg.), Ad fontes! Festschrift G. Dobesch, Wien 2004, 329–341; 2) Nochmals zu den pseudo-sallustischen epistulae ad Caesarem senem: Ihre relative und absolute Datierung, in: F. Beutler W. Hameter (Hg.), „Eine ganz normale Inschrift…“, Festschrift E. Weber, Wien 2005 (Althistorisch-Epigraphische Studien 5), 155–168. Ihr Resultat: Es handelt sich um Produkte des Rhetorikbetriebs des zweiten Jhdts. n. Chr. von der Hand zweier verschiedener Autoren. 51 Der Panegyricus des Plinius. Sein Verhältnis zum Dialogus und den Historiae des Tacitus und seine absolute Datierung, WSt 119 (2006), 115–156. Vgl. auch die Plautiniana: Sprach- und Kontextbeobachtung im Dienste der Prioritätsbestimmung bei Plautus. Zur Datierung von Rudens, Mercator und Persa, WSt 114 (2001 = "#. Festschrift A. Primmer), 110–142, sowie: Zur Datierung des Poenulus, in: Th. Baier (Hg.), Studien zu Plautus’ Poenulus, Tübingen 2004, 113–137.
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Material aus unterschiedlichsten Autoren von Plautus bis ins Spät- und Mittellatein. Bei diesen Studien stellte sich heraus, daß an Sekundärstellen ganz generell, d. h. sowohl bei Selbstzitaten als auch bei Fremdimitationen, neben den schon bisher als Hinweise auf Abhängigkeit instrumentalisierten Veränderungen im Vergleich zum Original mit auffallender Häufigkeit, wenn auch – natürlich – nicht mit gesetzmäßiger Regelmäßigkeit, eine Reihe später vorzustellender spezifischer Phänomene auftritt: Es ist also methodisch wohl zulässig, aus deren Fehlen bzw. Vorhandensein die relative Chronologie evidenter Similienpaare mit vorerst unbekannter Dependenz zu erschließen. Da aus formalen Beobachtungen abgeleitet, werden Kriterien dieser Art der Forderung nach möglichster Objektivität in dem Ausmaß gerecht, wie es im Bereich sprachlicher Untersuchungen, die ja nicht mit naturwissenschaftlicher Exaktheit durchgeführt werden können, eben erreichbar erscheint. Auf der anderen Seite hat der Umgang mit einer großen Zahl chronologisch eindeutiger Similientexte gelehrt, daß trotz der dagegen oft geäußerten Vorbehalte auch auf traditionelle Prioritätskriterien nicht verzichtet zu werden braucht: Die Erfahrung bestätigte, daß etwa die Bestimmung, welche von zwei korrespondierenden Stellen sprachlich glatter und inhaltlich organischer in den jeweiligen Zusammenhang eingepaßt ist, für die Festlegung des Prätexts nach wie vor maßgebend sein kann. Freilich gilt es in solchen Fällen, die Entscheidung nicht auf den einfachen Prädikaten „besser“ oder „schlechter“ beruhen zu lassen, sondern sie erst nach sorgsamer Analyse eines unter Umständen auch weiteren Kontexts zu treffen, in nachvollziehbarer Weise zu begründen und damit abzusichern. Mit der Einführung neuer, von Subjektivität möglichst weit entfernter Entscheidungsmaßstäbe sowie der empirischen Bestätigung der Gültigkeit traditioneller Prioritätskriterien erscheint neben der vorgesehenen Erweiterung der Referenztexte zur Ciris die zweite der von uns einleitend an eine neue Cirisstudie gestellten Anforderungen erfüllt. Das überaus dichte Geflecht von Bezügen der Ciris zu zeitlich feststehenden Parallelstellen sollte in ausreichendem Maße Gelegenheit bieten, unser kritisches Instrumentarium zur Anwendung zu bringen und damit zumindest eine relative, im Idealfall sogar eine absolute Datierung der Ciris vorzunehmen. Schon Friedrich Leo meinte ja, „es müsste sonderbar zugehen, wenn ein so reichliches Material, wie es da vorliegt, keine sicheren Beweismittel böte.“52 Das bedeutet ––––––––––– 52 Leo 1902, 32. Der gegen Prioritätsentscheidungen auf der Basis von Stellenvergleichen mitunter erhobene methodische Vorwurf der Unsicherheit dieses Verfahrens aufgrund der großen Menge nicht auf uns gekommener Texte ist dann nicht durchschlagend, wenn korrespondierende Stellen in so vielen spezifischen Details miteinander übereinstimmen, daß
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freilich, daß sich der Leser im Zuge unserer Beweisführung mit einer Fülle, vielleicht sogar Überfülle von sprachlichen Einzelinterpretationen konfrontiert sehen wird, wie sie heutzutage zwar nicht modern, zur Erzielung eines verläßlichen Ergebnisses aber unumgänglich ist. Auch in dieser Beziehung gilt Leos Zeugnis: „Die Entscheidung liegt ausschliesslich in der Vergleichung übereinstimmender Stellen, d. h. in der Interpretation.“53 Nun zur Disposition der vorliegenden Arbeit. In den ersten Hauptabschnitt, der die chronologischen Beziehungen der Ciris zu Ovids Werken untersucht (II), soll punktuell an jeweils passender Stelle die Vorstellung unserer Entscheidungsmaßstäbe samt Belegmaterial integriert werden. Bevor im zweiten Hauptteil (V) die Datierung der Ciris in Relation zu den Werken Vergils erfolgen kann, scheint es geboten, in zwei selbständigen Kapiteln (III, IV) die Imitationstechnik der beiden Autoren vorzuführen, um die Anwendbarkeit unserer Kriterien auch auf diese Texte unter Beweis zu stellen. Ein analytischer Vergleich der mit Cirispassagen motivisch und sprachlich verwandten Verse des neunten Cataleptongedichts bietet nicht nur die Möglichkeit, das zuvor erzielte Ergebnis unserer Untersuchungen zu überprüfen, sondern soll auch Grundlage und Ausgangspunkt des anschließenden Versuches sein, den Cirisautor zu identifizieren (VI, VII). Drei abschließende Appendices, die Bezüge der Ciris zu Properz I und II sowie zum ersten Tibullbuch diskutieren und Catalepton 9 und die Ciris in Beziehung zum pseudotibullischen Panegyricus Messallae setzen, lösen nicht nur unser eingangs abgegebenes Versprechen einer Erweiterung der Materialgrundlage für unsere Studie ein, sondern sind auch ein letzter Prüfstein für die Validität unserer neuen Datierung des Cirisepyllion.
––––––––––– eine externe Vorlage für die eine oder andere praktisch auszuschließen ist: Gerade dies trifft aber auf Similien zwischen der Ciris und Autoren wie Vergil und Ovid, auf die es ganz besonders ankommt, im höchsten Maße zu. 53 ibid.
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II. DIE CIRIS UND OVIDS FASSUNG DES MYTHOS 1. Grundlegendes Ovids Version des Scyllamythos am Beginn des achten Metamorphosenbuches (1–151) unterscheidet sich vom Cirisepyllion in erstaunlichem Maße.54 Das gilt nicht nur für die andersartige emotionale Befrachtung des Textes und dessen stilistische Gestaltung, sondern auch für wesentliche Elemente der erzählten Handlung. So verzichtet Ovid etwa auf die in der Ciris gebotene äußere Motivierung der Liebe Scyllas zu Minos als Strafe Amors für eine sakrale Verfehlung des Mädchens gegen Iuno: Er läßt Scyllas Leidenschaft ohne göttliche Intervention einfach aus dem überwältigenden Anblick der Schönheit des Helden erwachsen. Bei ihm fehlt auch die im Mittelteil der Cirisdichtung (220–385) als Dialogpartnerin, Warnerin, Ratgeberin und Komplizin der Protagonistin ganz prominente Gestalt der Amme Carme, deren Auftreten letztlich aber doch nur einen Aufschub der Schandtat Scyllas zur Folge hat: Ovids Heldin geht, sobald sie sich im Verlauf ihres ersten Monologs (44–80) dazu durchgerungen hat, unverzüglich und ungestört an ihr verhängnisvolles Werk. Anders als der Cirisdichter, der auf das Geschehen zwischen dem Abschneiden der Locke des Nisus und der mit genau drei Worten referierten Einnahme Megaras (388: tum capitur Megara) überhaupt nicht eingeht, läßt Ovid den Leser, wenn auch nur in aller Kürze, explizit wissen, daß Scylla dem geliebten Feind mit der väterlichen Locke die Übergabe der Stadt und sich selbst als Frau anbietet, zu ihrer größten Enttäuschung aber zurückgewiesen und für ihre vermeintliche Wohltat von Minos sogar aufs schärfste verurteilt wird. Die markanteste Abweichung von der in der Ciris wiedergegebenen Standardversion des Mythos ist aber die folgende: Ovids Minos läßt Scylla nicht zur Strafe an sein Schiff binden und durch das Meer ziehen, sondern begnügt sich damit, sie einfach zurückzulassen. So hält die Unglückliche bei Ovid ihre Klage- und Anklagerede auf Minos nicht wie in der Ciris im Wasser, sondern vom Ufer aus; danach springt sie aus eigenem Entschluß ins Meer, schwimmt dem Schiff hinterher ––––––––––– 54 Das konstatiert mit Recht bereits der alte Kommentar von Korn – Ehwald: Die Metamorphosen des P. Ovidius Naso, 2. Bd. (Buch VIII–XV), erklärt von O. Korn, in 4. Aufl. neu bearbeitet von R. Ehwald, Berlin 1916, 1 (in der Einleitung zu dieser Episode): „Bei dem zeitlich so naheliegenden Gedicht ist die geringe Verwandtschaft Ovids zu verwundern.“
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und klammert sich daran fest, um so gleichsam als blinde Passagierin doch mitzukommen. Die letzte massive Differenz zwischen den beiden Paralleltexten betrifft die Verwandlungen der Frau und ihres Vaters, die im Cirisepyllion als Gnadenakte Amphitrites (Scylla) bzw. Iuppiters (Nisus) bezeichnet werden und in dieser Reihenfolge vor sich gehen; die Vogelmetamorphose der leblos im Meer treibenden Scylla wird in allen Einzelheiten anschaulichst geschildert (490–507). Ovid hingegen verzichtet auch in diesen beiden Fällen auf eine Angabe göttlicher Veranlassung und dreht die Metamorphosen um: Bei ihm geht die des Nisus in den Seeadler voran, die Verwandlung der Scylla wohl in einen Reiher55 ist die Folge eines Angriffs des Vaters in seiner neuen Gestalt als Raubvogel auf die am Heck des Schiffes hängende treulose Tochter; der Dichter versagt sich und seinen Lesern hier jede Detailbeschreibung. Wie ersichtlich weicht Ovids Version also in nicht wenigen, durchaus auch wesentlichen Punkten von derjenigen der Ciris ab.56 Das könnte auf die Benützung unterschiedlicher Vorlagen durch die beiden Dichter zurückzuführen sein oder aber auf eine unterschiedlich getreue Bearbeitung ein und derselben mythologischen Tradition, die etwa Parthenios von Nikaia kanonisiert hat:57 Der Cirisautor hätte sich an seine Vorlage eng angelehnt, der nonkonformistische, ewige Neuerer Ovid hingegen, der bekanntermaßen mit Vorliebe am Mythos selbständig weiterschreibt,58 hätte auch viel Eigenes eingebracht, vielleicht sogar die schwimmende Scylla erfunden.59 ––––––––––– 55 Büchner spricht unter Berufung auf die Identifikation Joseph Justus Scaligers (vgl. Roschers Ausführliches Lexikon der griechischen und römischen Mythologie, Bd. 3, 430) und auf W. Krolls Artikel „Keiris“ (RE XI, 1 [1921], 115117, 116) von einem „vielleicht reiherartigen Vogel“ (Büchner RE 1109, 5ff.), mit Bestimmtheit so W. Richter in: Der Kleine Pauly, Bd. 3, Sp. 174, 42f.; Bömer hingegen schließt die Möglichkeit einer „Identifizierung mit einem Tier der uns bekannten Fauna“ kategorisch aus: P. Ovidius Naso, Metamorphosen, Kommentar, Buch VIII, IX, Heidelberg 1977 (= Bömer 1977), 54. 56 Vgl. auch die Darstellung von B. Otis, Ovid as an epic poet, Cambridge 1966, 62ff. 57 Zur Frage der Quelle(n) der Ciris und Ovids vgl. Ehlers 1954, 65–88 (passim); A. S. Hollis, Ovid Metamorphoses Book VIII, edited with an introduction and commentary, Oxford 1970 (= Hollis 1970), 33 und Lyne 1978, 6, letzterer gegen Ehlers’ Zweifel entschieden für Parthenios als wenigstens einen Quellenautor der Ciris. 58 Schon W. Kraus betont in dem für seine Zeit bahnbrechenden und immer noch wertvollen Artikel „P. Ovidius Naso“, RE 18, 2, 1942 (= Kraus 1942), 1940, 28ff., Ovids „Selbständigkeit in der Gestaltung ausgewählter Geschichten“, um so „seine poetische Meisterschaft zu bewähren“; Belege dafür sind so ubiquitär, daß es sich erübrigt, Einzelnes anzuführen. 59 Das vermutet R. Heinze (Ovids elegische Erzählung, SB Ak. Lpz., phil.-hist. Kl., Bd. 71, 7 [1919], 115, 1 = Vom Geist des Römertums, Stuttgart 1960, 392f., 14), der das gleiche
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Bei Ovids Erzählung handelt es sich jedoch nicht um einen kompletten, in jedem Detail von der Ciris abweichenden und in sich stimmigen Alternativentwurf: Vielmehr kann man darin auch einige Berührungen mit der traditionellen Fassung des Mythos registrieren, die aber mit einzelnen Elementen in Ovids eigener Schilderung unverträglich sind. Eine sachliche Ungereimtheit dieser Art schaffen etwa die Worte Scyllas quo deserta revertar? / in patriam? superata iacet. sed finge manere (met. 8, 113f.). Letztere Aussage setzt eine Zerstörung der Stadt Megara voraus,60 wie sie wohl laut der Ciris erfolgt – vgl. dort 53: (sc. poenam) pro patria solvens excisa et funditus urbe und 191: direpta crudeliter urbe –, nicht aber nach Ovids eigener Version, die Minos nach der Einnahme der Stadt völlig gewaltlos vorgehen läßt; vgl. met. 8, 101f.: ut leges captis iustissimus auctor / hostibus imposuit. Auch Scyllas Vorwurf an Minos, er wolle sie zur Strafe für ihr Verbrechen töten – so die implizite Aussage der Verse met. 8, 128ff., die wir gleich unten noch einmal heranziehen werden –, entspricht nicht Ovids Darstellung, derzufolge das Mädchen von Minos körperlich unversehrt zurückgelassen wird, sondern der Ciriserzählung, wo Scyllas Tod im Meer als Anhängsel des kretischen Schiffes ja absehbar ist. Weiters paßt die von Ovid met. 8, 142 gebrauchte Formulierung per freta longa trahar zwar perfekt zur Ciriserzählung,61 ist der sich an das Schiff selbst klammernden (141: puppemque amplexa recurvam) unliebsamen „Mitreisenden“ aus freien Stücken (144: comes invidiosa) bei Ovid aber nicht angemessen. Unter den eben angeführten Punkten läßt es besonders der zweite bei näherer Betrachtung sehr problematisch erscheinen, an eine jeweils völlig selbständige und von der Parallelversion unabhängige unterschiedliche Bearbeitung einer gemeinsamen Vorlage durch den Cirisautor und Ovid zu glauben. Wer dies mit Hollis 1970, 33 annimmt, müßte zum Beispiel ja etwa auch die gedankliche und syntaktisch-strukturelle Parallelität62 der Verse Cir. 421ff. (verum istaec … illos … putavi / … / facturos, quorum direptis moenibus urbis / o ego crudelis flamma delubra petivi. / te vero victore prius vel sidera cursus / mutatura suos quam te mihi talia captae / facturum metui) und met. ––––––––––– Motiv bei Hygin fab. 198, 3 für eine Entlehnung aus Ovid hält; akzeptiert von Bömer 1977 ad Ov. met. 8, 150. 60 Richtig Hollis 1970, 48. 61 So heißt es ja auch Cir. 390: per mare caeruleum trahitur Niseia virgo. Auch der Vergleich der Attribute caeruleus und longus erweist im übrigen den Cirisvers als Vorlage: vgl. unten 80, 101 pass. 62 Man beachte die in beiden Fällen an eine Pluralform des Pronomens ille angeschlossenen Relativsätze.
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8, 128f. (sed tamen ex illis aliquis, quos impia laesi, / me perimat. cur, qui vicisti crimine nostro / insequeris crimen?) als rein zufällig zustandegekommen betrachten, was m. E. nicht leicht fiele. Einige sehr spezifische wörtliche Entsprechungen zwischen den beiden Texten machen stattdessen die Annahme eines direkten Zusammenhangs von vornherein wahrscheinlich, bei dem es nun lediglich gilt, die Dependenzrichtung zu bestimmen. Wie schon einleitend referiert, steht die Abhängigkeit des Cirisdichters von Ovid für die meisten heutigen Interpreten ohne nähere Begründung fest: Sie erachten es offenbar wie C. Ganzenmüller vor mehr als hundert Jahren als gänzlich unglaubhaft, daß ein Dichtergenie wie Ovid sich einen „Dichterling zum Vorbild genommen und dessen armseliges Machwerk als Fundgrube gebraucht“ hätte; hingegen finden sie es einleuchtend, wenn „der Verfasser der Ciris, dieser Plagiator katexochen, den ganzen Ovid gekannt und neben all den andern Dichtern für sein kleines Werk benützt hat.“63 Ein solches ausgesprochenes oder auch unausgesprochenes Vorurteil kann die Optik eines Interpreten derart verengen, daß er beim Versuch, die relative Chronologie zweier korrespondierender Stellen zu ermitteln, nicht alle hiefür relevanten Aspekte wahrnimmt und sich infolgedessen zu einem vorschnellen Fehlurteil hinreißen läßt. Als Beleg dafür sei die chronologische Bewertung der sowohl Ov. met. 8, 126 als auch Cir. 191 anzutreffenden Apostrophe Nise pater angeführt, an zwei Stellen, deren direkte Verbindung miteinander Munari (1944, 321) anhand der lexikalischen Übereinstimmungen im Kontext – met. 8, 125f.: exige poenas, / Nise pater! gaudete …; Cir. 191ff.: Nise pater, / … / … dabit tibi filia poenas! / gaudete … – völlig zu Recht für sicher erklärt. Dagegen ist seine Zuversicht, daß im Vergleich mit der auktorialen Apostrophe in der Ciris die Tochter als Sprecherin bei Ovid auf unanfechtbare Art dessen Priorität beweise,64 keinesfalls zu ––––––––––– 63 So Ganzenmüller 1894, 622f. Nach einem ausdrücklichen Hinweis darauf und demgemäß auch ganz entsprechend Munari 1944, 333: „Nessuno potrà seriamente credere che il nostro mediocrissimo poeta abbia in tante particolarità precorso e … agito su Ovidio, in modo tale che tutte le opere di questo ne serbino traccia. È invece naturale pensare che la precedenza spetti a Ovidio, sulla cui originalità linguistica non occorre insistere, e la cui fama e diffusione erano certamente larghissime.“ Genauso hält Bömer (1977, 15) es für „kaum wahrscheinlich, daß Ovid sich in solchem Maße von der Diktion eines „zweitrangigen“ Dichters abhängig gemacht hat“ und möchte sich „nur den Dichter der Ciris als den Nachahmer vorstellen.“ 64 Munari 1944, 321: „La priorità di Ovidio mi sembra incontestabile, sol che si osservi che le parole Nise pater, quanto sono fuori luogo in bocca al poeta, come nella Ciris, altrettanto sono naturali se pronunciate dalla figlia.“ Genauso urteilen H. Kaffenberger (Zur Cirisfrage, Philol. 76, 1920, 139–175; 172: „In wessen Munde nimmt sich der Ausruf
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teilen. Das demonstriert mit größter Eindringlichkeit das Beispiel des von Vergil mit den Aeneasworten invitus, regina, tuo de litore cessi (Aen. 6, 460) nachgeahmten Catullverses invita, o regina, tuo de vertice cessi (c. 66, 39), den die verstirnte Locke der Berenike spricht. Wer wollte leugnen, daß man unvoreingenommen das Original viel eher in Vergils Vers suchen würde, da ein menschlicher Sprecher von vornherein doch weit wahrscheinlicher ist als eine sprechende Haarlocke? Dieses Exempel lehrt uns, Prioritätsurteile nicht übereilt auf allzu schmaler Entscheidungsgrundlage zu fällen, sondern dafür eine möglichst breite Basis zu schaffen, jedenfalls unter Berücksichtigung des Kontexts der zu klärenden Stellen. In unserem konkreten Fall stellt sich dabei heraus, daß die auktoriale Apostrophierung Nise pater in der Ciris durch eine ausdrückliche Erwähnung der Opferrolle des Vaters in Vers 185 vorbereitet und in der Folge durch die Prophezeiung dabit tibi filia poenas in Vers 194 aufgenommen und abgestützt wird.65 Die emphatische direkte Anrede des Dichters an eine Person der von ihm dargestellten Handlung mit einer tröstlich gemeinten Antizipation künftiger Ereignisse wächst also ebenso organisch aus der Erzählung heraus wie die mit ihr formal eng verbundene Apostrophe der Heroen und speziell des Peleus im Epyllion Catulls (23ff.) und hat als traditionelles Element alexandrinischer und demgemäß auch neoterischer Poetik gewiß keinerlei Tadel verdient. Dies gilt auch für die thematisch naheliegende Erweiterung um die Wendung an das Geschlecht der Vögel,66 zu denen Nisus und seine Tochter nach ihrer Verwandlung gehören werden. Munaris Kritik dieser Fortsetzung als „insulsa e inutile“ (321) ist sachlich unbegründet und ungerecht: Speziell die letztlich konkret an die in Vögel verwandelten Dauliaden Prokne und Philomela gerichtete und später (Cir. 200ff.) dann auch begründete Aufforderung, sich auf den zu erwartenden Zuwachs zu ––––––––––– Nise pater natürlicher aus, in dem der Tochter oder des Dichters?“) und R. Helm, der diese Frage 1937a, 100 zustimmend zitiert und im Apparat seiner Cirisausgabe 1937 zur Stelle den parallelen Ovidausdruck mit der Bemerkung „(sagt Skylla selber)“ versieht; auch für Lyne 1978 ist die Apostrophierung durch Scylla natürlicher (180, ad 191: „uttered directly, and when one comes to think of it slightly more naturally, by Scylla herself.“). 65 So auch schon D. Knecht, De „Ciris“ en Ovidius, AC 31 (1962), 236–251 (= Knecht 1962), 241; es sei dem Dichter darum zu tun gewesen, „de familieband tussen slachtoffer en misdadigster in relief te zetten.“ Knecht betrachtet im übrigen in diesem Aufsatz diese Stellen wie zwei andere sprachlich korrespondierende Passagen in der Ciris und Ovids Scyllaerzählung als Beweise für die wahrscheinliche Priorität der Ciris, die er im Kommentar 1970 dann nicht mehr vertritt; vgl. oben 14 mit Anm. 31. 66 Dazu vgl. unten 76.
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freuen, ist keineswegs geschmacklos und sinnlos, vielmehr sogar leichter nachzuempfinden als die Apostrophierung der zerstörten Stadtmauern bei Ovid (met. 8, 126f.). Munari und alle seine Nachfolger hätten m. E. grundsätzlich gut daran getan, die Anrede eines Vaters durch seine Tochter mit einer Kombination aus dem Eigennamen und dem Appellativum rein sprachlich zu hinterfragen. Sie erscheint schon rein formal auffällig – bei Ovid habe ich jedenfalls keine auf einen Menschen bezogene Parallele dazu finden können67 – und wird auch aus dem Zusammenhang nicht erklärlich. Ein Blick auf den Kontext läßt vielmehr erkennen, daß die Apostrophe an Nisos in der langen Rhesis der Scylla an Minos mit ihren zahllosen direkten Anreden des Kreters isoliert für sich steht: Sie hat in den unmittelbar vorhergehenden Überlegungen zur Ursache der Hartherzigkeit des Minos (met. 8, 120–125) keine erkennbare Ausgangsbasis und wird auch in den folgenden Versen nicht weitergeführt; schon ab 131 beschäftigt Scylla sich wieder ausschließlich mit Minos. Die Anrede des Nisos in dieser Situation bereitet überdies deshalb Probleme, weil nicht eindeutig ist, ob sie an den noch lebenden oder doch schon toten Vater geht: Ersteres vermutet Ehlers,68 letzteres Hollis 1970 ad 115f. mit Hinweis auf Scyllas zuvor an Minos gerichtete Worte cape pignus amoris / purpureum crinem nec me nunc tradere crinem / sed patrium tibi crede caput (92ff.). Damit sagt Scylla aber nicht unbedingt, daß ihr Vater tot ist, wie Hollis meint, sondern bringt lediglich zum Ausdruck, daß die Haarlocke soviel wert sei wie der ganze Mensch; Bömer versteht patrium caput m. E. richtig als Periphrasis für patrem ipsum. Ovid wählt diese Ausdrucksweise wohl absichtlich deshalb, weil er damit auch das krasse Bild der in ihrer Leidenschaft hemmungslosen Scylla mit dem abgehauenen Kopf des Vaters in der Hand evozieren kann. Für die Annahme, daß Scylla ihren Vater noch am Leben glaubt, könnte im Gegenteil die Formulierung ihrer jedenfalls rhetorischen Frage 115f. sprechen: Wenn sie ihn für tot hielte, würde sie wohl nicht so konkret patris ad ora? (sc. revertar) sagen. So hat also die Vermutung einiges für sich, daß Ovid auch insoferne von der Standardversion des Mythos abweicht, als er gegen die vom Cirisdichter bewahrte und auch plausible Tradition69 Nisos den Verlust seiner magischen Locke vorerst ––––––––––– 67 Die Anrede Phaethons an seinen Vater mit Phoebe pater (met. 2, 36) liegt auf einer anderen Ebene und hat ein besonderes Motiv; man beachte die Fortsetzung si das usum mihi nominis huius. 68 1954, 68: „Er findet nicht den Tod, sondern lebt, als Skylla nach Abfahrt der Kreter am Strande klagt, noch irgendwo und irgendwie (115, 125f.).“ 69 Das Material bei Ehlers 1954, 68.
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als Mensch überleben läßt. Auch im Zusammenhang mit der ganz lapidar vermeldeten Verwandlung des Königs in einen Seeadler70 fällt bei Ovid kein Wort darüber, ob diese erst post mortem Nisi erfolgte. In jedem Falle dürfen wir feststellen, daß der Vokativ Nise pater im ovidischen Kontext isoliert71 und sachlich wesentlich problematischer ist als beim absolut unanstößigen Gebrauch in der Ciris. Dennoch wollen wir nach diesem einen Vergleich nun nicht gleich unsererseits überhastet die Priorität der Ciris fest behaupten: Das Beispiel eignet sich aber zweifellos sehr gut dazu, den Glauben an Argumente für Ovids Vorbildstellung gründlich zu erschüttern, die von ihren Erfindern für unwiderleglich erklärt wurden. Auch schon dem feinen Sprachempfinden K. Büchners war nicht entgangen, daß manches unter dem von Ganzenmüller 1894 zusammengetragenen, angeblich die Priorität Ovids beweisenden Material „eher für die Priorität des Cirisdichters … zu sprechen (scheint),“72 und er hatte auch bemerkt, „daß Ovid dort ausführlich erzählt, wo in der Ciris Unklarheiten bleiben, und wegläßt, wo die Ciris Gelungenes hat (Verwandlung) oder wo sie mit Weglassung ebenfalls verbessert werden konnte“; dementsprechend wirkt auf diesen Kritiker „Ovids Darstellung … wie eine überlegene Epikrise,“ und „das Verhältnis“ – sc. zur Ciris – „kann kaum anders gedacht werden“ als „später.“73 Büchners nicht ganz konsequent zu Ende geführte,74 in der Tendenz aber eindeutig für eine Imitation der Ciris durch Ovid eintretende Stellungnahme verschafft unserem Vorhaben, die mit der Datierung der Ciris und dabei zuerst ihrem Verhältnis zu Ovids Scyllaerzählung zusammenhängende Problematik zur Gänze neu aufzurollen, zusätzliche Legitimation. Wir wollen also zunächst Stellenpaare aus diesen beiden Texten in der eben an einem Beispiel vorgestellten Art sorgsam interpretieren und danach trachten, Originalstelle und Imitation nach unseren Prioritätskriterien zu unterscheiden. Danach sollen Entsprechungen zwischen der Ciris und Stellen in anderen Werken Ovids auf die gleiche Weise ausgewertet werden, sind es ja gerade ––––––––––– 70 met. 8, 145f.: nam iam pendebat in aura / et modo factus erat fulvis haliaeetus alis. Eindeutig hingegen die Aussage Cir. 523, unmittelbar vor der Vogelmetamorphose: cum pater extinctus caeca sub nocte lateret. 71 Dies ist ebenso ein Merkmal sekundärer Entstehung (vgl. unten 45ff. u. ö.) wie die sachliche Schwierigkeit (dazu siehe unten 39f., 82 u. ö.). 72 So RE 1123, 4ff.; Büchner releviert hier konkret die Stellenpaare Cir. 380 und Ov. met. 8, 10 bzw. Cir. 419 und Ov. met. 8, 91; dazu siehe unten 37ff. 73 RE 1125, 11 und 28ff. 74 Er geht über die Aussage, diese Chronologie sei ein „Wahrscheinlichkeitsresultat“ (RE 1125, 42), letztlich nicht hinaus.
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diese zahlreichen „externen“ Korresponsionen, wodurch Verfechter der Priorität Ovids ihre Ansicht bestätigt sehen.75
2. Cirissimilien in met. 8, 1–152 Es liegt in der Natur der Sache, daß die Dichte von Similien zur Ciris in der Scyllaerzählung Ovids am größten ist. Freilich sind nicht alle davon für unsere Demonstrationszwecke auch wirklich in gleichem Maße brauchbar. So läßt sich etwa, um nur ein Beispiel zu nennen, auf die gewiß spektakuläre Übereinstimmung in Form der Umschreibung Niseia virgo (so Cir. 390; mit umgekehrter Wortfolge Ov. met. 8, 35) allein keine sichere Prioritätsaussage gründen. Weit hilfreicher ist diesbezüglich schon auf den ersten Blick der Vergleich von Cir. 232f. mit den vier Ovidversen met. 8, 81–84: Cir. 232f.: tempore quo fessas mortalia pectora curas, quo rapidos etiam requiescunt flumina cursus? Ov. met. 8, 81ff.: talia dicenti curarum maxima nutrix nox intervenit, tenebrisque audacia crevit. prima quies aderat, qua curis fessa diurnis pectora somnus habet … Die von mir markierten lexikalischen Übereinstimmungen in Verbindung mit der analogen Handlungssituation, nämlich Scyllas heimlichem nächtlichem Gang zum Schlafgemach des Vaters, um diesem die Purpurlocke abzuschneiden,76 legen die Annahme einer unmittelbaren Verbindung zwischen diesen beiden Texten77 von Haus aus nahe. Die Richtung der Abhängigkeit aber ist erst dann klar bestimmbar, wenn man Cir. 232f. mit der ganzen oben zitierten Ovidpassage und nicht nur mit den Versen 83f. zusammensieht.78 ––––––––––– 75 Munari 1944, 325: „… il solo fatto dell’esistenza di numerosi parallelismi si risolve ugualmente in una nuova conferma alla nostra ipotesi che Ovidio precede la Ciris.“ 76 Der Unterschied besteht lediglich darin, daß Ovids Scylla ihre Absicht tatsächlich gleich verwirklichen kann (85f.), während die Scylla der Ciris auf dem Weg zur Tat nach einem Moment der Schwäche und des Zauderns von ihrer Amme Carme aufgehalten und an der Umsetzung ihres Planes vorerst gehindert wird (223ff.); die Amme ist hier im übrigen auch die Sprecherin. 77 Anders (und mir unverständlich) Lyne 1971, 249, der Cir. 232 wegen der sonst nur noch Luc. 5, 504 belegten Junktur fessas curas von dieser Stelle ableiten will. 78 So Knecht 1962, 240, der demgemäß nur eine thematische Verwandtschaft konstatiert, ohne eine Priorität festzulegen.
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Dann erkennt man nämlich bei Ovid im Vergleich zur Ciris eine motivische und, als deren signalhaften Ausdruck, auch eine lexikalische Doppelung, nämlich die des Wortes cura in den Formen curarum (81) und curis (83) gegenüber dem einfachen curas (Cir. 232). Sie kommt dadurch zustande, daß der Dichter das traditionelle Motiv der Befreiung von Sorgen im Schlaf79 in einigermaßen paradoxer, aber eben für ihn typischer Art mit einer per se gleichfalls konventionellen Aussage über eine Zunahme der Sorgen zur Nachtzeit80 kombiniert. Dieser Befund deutet klar auf Benutzung der Cirisvorlage durch Ovid hin, wie etliche MOTIVISCHE VERDOPPELUNGEN in (Auto-) Imitationen des Dichters belegen: In seiner Metamorphosenfassung des Mythos von Daedalus und Icarus dupliziert der Dichter das Namensaition und den zentralen Begriff: ars 2, 96: ossa tegit tellus, aequora nomen habent met. 8, 229f.: oraque caerulea patrium clamantia nomen excipiuntur aqua, quae nomen traxit ab illo 235: … et tellus a nomine dicta sepulti Im Bacchushymnus am Beginn des vierten Metamorphosenbuchs beschreibt Ovid den Silen nicht nur als unsicheren Reiter wie in ars 1, sondern auch als Fußgänger mit schwankendem Schritt. ars 1, 543f.: ebrius, ecce, senex pando Silenus asello vix sedet et pressas continet arte iubas 546: quadrupedem ferula dum malus urget eques met. 4, 26f.: quique senex ferula81 titubantis ebrius artus sustinet et pando non fortiter haeret asello In Nachahmung von Properz- bzw. Tibullstellen nimmt der Dichter eine Verdoppelung der Rettungshandlung für einen Ertrinkenden bzw. von Liebesmalen vor: ––––––––––– 79 Viele Belege bei Pease (A. S. Pease, P. Vergili Maronis Aeneidos liber quartus, Cambridge, Mass. 1935) im Kommentar zu Aen. 4, 528 (Dublette zu Aen. 9, 225); darunter auch Lucr. 4, 907f. und Ov. met. 10, 368f. 80 Beispiele dafür in mannigfacher Variation ab Hom. Od. 19, 512ff. (Penelope!) bei Bömer 1977 ad loc. 81 Man beachte, wie der Dichter hier mit leichter Hand die ferula von einer Reitgerte zu einem Spazierstock umfunktioniert: vgl. Plin. nat. 13, 123.
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Prop. 3, 7, 69: vos decuit lasso supponere bracchia mento Ov. Pont. 2, 6, 13f.: bracchia da lasso potius prendenda natanti nec pigeat mento supposuisse manum Tib. 1, 6, 13f.: tunc sucos herbasque dedi, quis livor abiret quem facit impresso mutua dente venus82 Ov. am. 1, 7, 41 f.: aptius impressis fuerat livere labellis et collum blandi dentis habere notam Zum Vergleich besonders gut geeignet ist aber das folgende Beispiel, das mit unserem Ausgangsfall nicht nur in der motivischen Verdoppelung konform geht, sondern auch in der Duplizierung des zentralen Begriffs der Vorlage: ars 2, 171: nec puto nec sensi tunicam laniasse (sc. puellae) ars 3, 569: nec scindet tunicasve suas tunicasve puellae83 VERDOPPELUNG (VERVIELFACHUNG) EINES VORGEGEBENEN WORTES stellt gerade bei Ovid ein an Imitationsstellen überaus geläufiges und zugleich plakatives Phänomen dar; nachstehend eine knappe Auswahl aus den von mir gesammelten einschlägigen Beispielen. Verg. Aen. 5, 77: hic duo rite mero libans carchesia Baccho Ov. met. 7, 246f.: tum super invergens liquidi carchesia vini alteraque invergens tepidi carchesia lactis Verg. Aen. 2, 504: barbarico postes auro spoliisque superbi Ov. met. 7, 155ff.: … et auro heros Aesonius potitur spolioque superbus muneris auctorem secum, spolia altera, portans Tib. 1, 8, 47f.: at tu, dum primi floret tibi temporis aetas, / utere Ov. ars 3, 65: utendum est aetate, cito pede labitur aetas ––––––––––– 82 Vgl. auch Tib.1, 8, 37f., Prop. 4, 3, 25f. und 4, 5, 39 sowie Hor. c. 1, 13, 12, wo ebenfalls immer nur von Liebesbissen die Rede ist. 83 Man beachte auch die frappante Ähnlichkeit der jeweils gleichsam als Überschrift vorangehenden Verse ars 2, 168 (multaque divitibus non patienda ferat) und ars 3, 566 (multaque tironi non patienda feret) sowie die zusätzliche faktische Übereinstimmung im Motiv einer Attacke auf die Frisur in benachbarten Versen: vgl. ars 2, 169 (me memini iratum dominae turbasse capillos) mit ars 3, 570 (nec raptus flendi causa capillus erit): Hier liegt eine der im dritten ars-Buch öfter zu registrierenden großflächigen Selbstimitationen des Dichters vor.
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Prop. 4, 8, 76: Ov. ars 1, 164f.:
nec cum lascivum sternet harena forum sparsaque sollicito tristis harena foro. illa saepe puer Veneris pugnavit harena
corbis in imposito pondere messor eram Prop. 4, 2, 28: Ov. met. 14, 643f.: o quotiens habitu duri messoris aristas corbe tulit verique fuit messoris imago Hor. epist. 1, 16, 3: … an amicta vitibus ulmo Ov. met. 10, 100: pampineae vites et amictae vitibus ulmi Ov. rem. 181: pastor inaequali modulatur arundine carmen met. 11, 153f.: Pan ibi dum teneris iactat sua carmina nymphis et leve cerata modulatur arundine carmen Ov. ars 3, 549: est deus in nobis et sunt commercia caeli Pont. 3, 4, 93f.: ista dei vox est, deus est in pectore nostro, haec duce praedico vaticinorque deo Ov. am. 1, 5, 1: aestus erat mediamque dies exegerat horam met. 5, 586: aestus erat magnumque labor geminaverat aestum Das angeführte Belegmaterial für Motiv- und Wortverdoppelung als typische Phänomene in ovidischen Imitationen macht die Priorität der in Rede stehenden Cirisverse 232f. vor dem Pendant in Ovids Fassung (met. 8, 81ff.) schon jetzt so gut wie sicher; wir werden uns im Laufe unserer Untersuchungen dieses Kriteriums noch unzählige Male bedienen können. Völlige Gewißheit schafft jedoch die Befolgung eines direkten Fingerzeigs auf seine Vorlage, den Ovid allem Anschein nach mit dem Wort nutrix in Vers 81 eingebaut hat. Zwei Beispiele sollen vorweg demonstrieren, wie der Dichter an der Sekundärstelle gelegentlich LEXIKALISCHE HINWEISE AUF DIE VORLAGE gibt und diese somit andeutungsweise präsent macht. Der erste Fall dieser Art betrifft den Ausdruck Iris Iunonia im Vers met. 14, 85 (quasque rates Iris Iunonia paene cremarat), womit Ovid im Rahmen seiner ganz individuell gestalteten „Aeneis“ den von Vergil im fünften Buch behandelten Brand der troianischen Flotte auf Sizilien gerade nur streift. Das der Götterbotin von Ovid84 hier das einzige Mal verliehene Attribut Iunonia ––––––––––– 84 Vgl. aber Iunonia virgo bei Stat. silv. 5, 1, 103.
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ersetzt und evoziert zugleich Vergils breite Schilderung der Hintergründe des dramatischen Geschehens: Iris handelt ja nur als Werkzeug der Iuno,85 wenn sie in menschlicher Gestalt die der langen Irrfahrt überdrüssigen Troianerinnen aufhetzt und selbst die erste Brandfackel wirft (Aen. 5, 618ff., 641ff.). Der Ausdruck Iris Iunonia ist also mit der Umschreibung custos Iunonius (am. 2, 2, 45, met. 1, 678) für Argos zu vergleichen,86 der von Iuno zum Wächter der Io bestellt wurde. Auch in unserem zweiten Beispiel, das der Erzählung vom Ehebruch der Venus mit Mars in ars 2, 561–592 und der Dublette in met. 4, 171–189 entnommen ist, ruft der Dichter mit einem einzigen bedachtsam gewählten Wort eine Episode des Prätexts in Erinnerung. In der ars-Version läßt Ovid ganz im Einklang mit der Tradition den gehörnten Ehemann Vulcan eine Reise an seinen Lieblingskultort Lemnos vortäuschen, um seiner untreuen Gattin und ihrem Liebhaber eine Falle zu stellen und das Paar in flagranti ertappen zu können: Ov. ars 2, 577ff.: Mulciber obscuros lectum circaque superque disponit laqueos; lumina fallit opus. fingit iter Lemnon; veniunt ad foedus amantes; impliciti laqueis nudus uterque iacent. convocat ille deos; praebent spectacula capti … In der Fassung des Epos kommt die fingierte Reise als solche zwar nicht vor, wohl aber ihr Ziel in Form eines einzelnen spezifischen Wortes: Ov. met. 4, 182ff.: ut venere torum coniunx et adulter in unum, arte viri vinclisque nova ratione paratis in mediis ambo deprensi amplexibus haerent. Lemnius extemplo valvas patefecit eburnas immisitque deos … Die Antonomasie Lemnius für Vulcanus ist vor Ovid unbelegt87 und auch bei ihm auf diese Stelle beschränkt,88 also keineswegs so kommun, daß man ihr von vornherein jede Aussagekraft absprechen müßte. Somit darf angenommen werden, daß der Dichter diese ausgefallene Bezeichnung hier als Ersatz für und zugleich als sprechenden Hinweis auf die von ihm in der spä––––––––––– 85 So Aen. 5, 606: Irim de caelo misit Saturnia Iuno. 86 Anders aber Iunonia Hebe (met. 9, 400): Hebe gilt ja als Iunos Tochter. 87 Vergil hat Aen. 8, 454 aber immerhin pater Lemnius. 88 Sie ist auch später nicht häufig: vgl. Stat. silv. 4, 6, 49, Theb. 2, 269, Claudian 10, 87.
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teren Version nicht ausdrücklich thematisierte vorgebliche Reise des Vulcan nach Lemnos einsetzen konnte. Die beiden eben vorgestellten Beispiele signalhafter lexikalischer Reminiszenzen an eine Vorlage sind Grund genug anzunehmen, daß der Dichter mit den Worten curarum maxima nutrix / nox intervenit an der uns beschäftigenden Stelle ein analoges lexikalisches Signal gesetzt hat. Auch wenn R. Helm dies kategorisch ausschließen wollte:89 Das Vorkommen der singulären Bezeichnung der Nacht als nutrix curarum bei Ovid just an dem Punkt der Erzählung, wo in der Ciris die Amme in persona auftritt, und gerade in einem Kontext mit etlichen klaren Cirisparallelen ist nach aller Wahrscheinlichkeit als Reflex der Vorlage zu werten, als bescheidenes Surrogat für die von Ovid in Abweichung von der beim Cirisdichter bewahrten Tradition90 aus der Handlung entfernte Gestalt der Amme; nach Lage der Dinge wäre die Annahme reiner Zufälligkeit die bedeutend unglaubwürdigere Alternative dazu. Auch die Verwendung des wenig poetischen und von den übrigen augusteischen Dichtern gemiedenen, von Ovid selbst auch nur an zwei anderen Stellen und nicht im Zusammenhang mit einer Tages- oder Jahreszeit gebrauchten Verbums intervenire91 fügt sich zu unserer Interpretation. Sie ermöglicht es dem Dichter, auf einer zweiten Bedeutungsebene den primären Wortsinn des Verbums anklingen zu lassen und damit exakt die in der Ciris in diesem Stadium der Handlung gegebene dramatische Situation anzudeuten: Dort ist es ja die Amme, die wirklich ‚dazwischentritt‘, die ‚einschreitet‘ und Scylla an der geplanten frevlerischen Tat vorerst einmal hindert.92 Mit ––––––––––– 89 1937a, 99: „Niemand wird glauben, daß Ovid (81) zu seinem Ausdruck curarum maxima nutrix nox etwa durch die Erscheinung der wirklichen nutrix in der Ciris angeregt sei.“ Grundsätzlich erkennt Helm die potentielle Existenz derartiger Signale jedoch sehr wohl an, wenn er die Erwähnung der Liebe Myrrhas zu ihrem Vater in Cir. 238 als Hinweis des Cirisautors auf seine Anlehnung an die Myrrhaepisode in Ovids Metamorphosen (10, 300ff.) werten will, aus der er die Gestalt der Amme in sein Gedicht transponiert hätte (ibid.). 90 Die Rolle der Amme als Element der Scyllasage wird durch zwei von der Ciris unabhängige bildliche Darstellungen in der pompeianischen Casa dei Dioscuri bzw. in der Domus aurea Neros bezeugt: vgl. dazu Ehlers 1954, 80f. und 83f. mit der wichtigen Anmerkung 96. Diese Wandgemälde wiegen anderweitig fehlende literarische Erwähnungen einer Amme der Scylla und deren Funktion auf, worauf Lyne (1978, 10f. und 185f.) seine These von der Einführung dieser Gestalt erst durch den Cirisdichter in Anlehnung an Cinnas Zmyrna gründen möchte. 91 Es findet sich sonst nur noch met. 7, 454 und 11, 708. 92 Donats Worterklärung (ad Ter. Ad. 406,1) wäre auch dieser zweiten Sinnebene unserer Ovidstelle angemessen: intervenire est in medio negotio quasi ex insidiis supervenire et opprimere in ipso actu eos, qui rem celatam vellent. Die Einordnung unserer Stelle im
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diesem beziehungsvollen Innuendo93 ist die besprochene Passage ein Beispiel mehr für das unvergleichliche artificium des Dichters, dessen volles genießerisches Verständnis freilich Lesern vorbehalten bleibt, die mit der Ciris vertraut sind. Wir meinen, bereits ausreichend viele Argumente dafür vorgebracht zu haben, daß Ovid dies bei seinem Publikum voraussetzen konnte. Demgemäß könnten wir also die Priorität der Ciris gegenüber Ovids Scyllaerzählung schon nach diesem ersten Textvergleich als erwiesen erachten. Dessenungeachtet wollen wir aber auch andere Similien ex integro einer analogen Prüfung unterziehen, um das bisher erzielte Ergebnis abzusichern. Cir. 380: tanta est in parvo fiducia crine cavendi Ov. met. 8, 10: crinis inhaerebat, magni fiducia regni Schon F. Bömer 1977 wertete (ad met. 8, 10) das Vorkommen von fiducia in der juristischen Spezialbedeutung „Garantie, Unterpfand“ in beiden Versen94 mit Recht als Beweis für eine direkte Verbindung zwischen ihnen, „zumal es sich um die gleiche Situation handelt“, und zugleich als stringentes Argument gegen eine gemeinsame Quelle, „da diese als griechisch gilt“.95 Für seine anschließende Behauptung der Priorität Ovids bleibt Bömer jedoch sowohl an diesem Ort als auch im Kommentar zu met. 7, 595, worauf er verweist, jede nachvollziehbare Begründung schuldig. Im Gegensatz dazu war K. Büchner der Ovidvers „wie eine zusammenfassende, in der Fülle des Gemeinten erst mit Kenntnis des Vorbildes verständliche Aufnahme von Cir. 380 (an bedeutender Stelle)“ und damit als Indiz für die umgekehrte Dependenz erschienen.96 Diese mehr oder weniger intuitive Einschätzung trifft meiner Ansicht nach sicherlich das Richtige und soll nun in zwei ––––––––––– ThlL 7, 1, 2297, 48 unter dem Lemma c. respectu interrumpendi, prohibendi, turbandi ist für das Subjekt nox im Grunde unrichtig: Die Nacht an und für sich ist ja kein Hindernis für Scyllas Plan, sondern geradezu eine Voraussetzung zu dessen Umsetzung; vgl. auch das folgende tenebris audacia crevit. 93 Zu analogen Fällen in größerem Rahmen vgl. Verf., Cedant carminibus reges… Am. 1, 15 – ein Dokument ovidischen Selbstbewußtseins gegenüber Augustus, WSt 110 (1997), 105–131, speziell 121f., zuvor schon in: Die unlauteren Absichten eines Ehrenmannes (Zur Doppelbödigkeit von Amores 1, 3), WSt 107/08 (1994/95 = ȈĭǹǿȇȅȈ. Festschrift H. Schwabl), 417–438. 94 So etwa auch Cic. Flacc. 21, 51. Zur Cirisstelle vgl. E. Fraenkels erklärende Paraphrase ThlL 6, 701, 52: „sc. ipso crine tamquam pignus satis cautae mentis continetur; nullis igitur filiae dolis movetur“; so verstand auch schon Némethy (pignus cautelae, praesidii). Verfehlt Lyne 1978 zur Cirisstelle: „fiducia here has its sense of ‘trust’, ‘confidence’, not its rare one of ‘guarantee’, pignus“. 95 Zur Quellenfrage vgl. oben 22 mit Anm. 57. 96 RE 1123, 6ff.; keine Aussage über die Priorität bei Knecht 1962, 238.
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argumentativen Schritten eine rationale, faktische Bestätigung nachgeliefert erhalten. Beim Vergleich der beiden Stellen fällt auf, daß die in der Ciris formulierte markante Antithese zwischen Klein und Groß, zwischen der Kleinheit der Haarlocke und der Größe ihrer Wirkungskraft, im zitierten Metamorphosenvers und auch in seinem Umfeld kein Pendant hat. Dort ist mit der Apposition magni fiducia regni nur eines der beiden den Sinn der Cirisstelle tragenden Elemente ohne seinen Gegenpol vorhanden; an die Stelle der Antithese „Groß – Klein“ tritt in einigermaßen verboser Ausführung der bei Ovid wie bei allen römischen Dichtern ab Ennius97 beliebte Farbkontrast zwischen Rot und Weiß: (sc. Nisus) cui splendidus ostro / inter honoratos medioque in vertice canos / crinis inhaerebat (8ff.). Eine analoge Entwicklung im Rahmen einer ovidischen Selbstimitation ist gut geeignet, Büchners Prioritätsurteil zu bestätigen und Ovid als den Nachahmer zu erweisen. Man vergleiche: Ov. fast. 6, 263f.: hic locus exiguus, qui sustinet Atria Vestae, tunc erat intonsi regia magna Numae trist. 3, 1, 29f.: hic locus est Vestae, quae Pallada servat et ignem, haec fuit antiqui regia parva Numae Auch hier wird eine ursprüngliche Antithese zwischen Groß und Klein aufgegeben und nur ein Bestandteil davon weitergeführt. Den Wegfall der Größenangabe des Atrium Vestae kompensiert der Dichter durch Angaben anderer Art über das Bauwerk, ein Befund, der den Verhältnissen an der Metamorphosenstelle voll und ganz entspricht. Wer einmal erkannt hat, daß Ovids Variationstechnik eben nicht „gänzlich unberechenbar“ ist, wie Bömer 1976 ad met. 7, 595 meint, sondern in vielen Fällen sehr wohl gewissen wiederkehrenden Mustern folgt, wird in diesem Similienpaar ein starkes Indiz auf die Dependenz Ovids von der Ciris finden. Diese Erkenntnis läßt sich auch durch ein formales Argument absichern, wenn man Cir. 380 nicht nur mit dem eben behandelten Ovidvers, sondern auch mit met. 8, 88 zusammenstellt: Cir. 380: Ov. met. 8, 10: 88:
tanta est in parvo fiducia crine cavendi crinis inhaerebat, magni fiducia regni … meriti fiducia tanta est98
––––––––––– 97 Vgl. Hollis 1970 zur Stelle. 98 Weitere Parallelen sind her. 17, 123 (non est tanta mihi fiducia corporis) und met. 3, 270 (tanta est fiducia formae), wo fiducia beide Male im Sinn von „Vertrauen“ steht; zu anderen Übereinstimmungen des Ciristextes mit Ovids Heroides vgl. unten 62ff.
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Da die Nähe auch und gerade von met. 8, 88 zu der zitierten Ciriszeile unleugbar ist, dürfen wir hier das Vorliegen eines uns von vielen Ovidstellen her bekannten Imitationsmodells festhalten, nämlich der ZWEI- ODER MEHRFACHEN BEZUGNAHME AUF EINEN VORLAGEVERS. Solche Reflexe können unterschiedlichen Umfangs sein und sich unter Umständen auch nur auf ein einziges Wort bzw. eine markante Wortverbindung beschränken bzw. auch mit synonymen Ausdrücken erfolgen. Man sehe folgende Beispiele: 1) Verg. georg. 3, 244: Ov. ars 2, 379: 487:
in furias ignemque ruunt: amor omnibus idem in ferrum flammasque ruit in furias agitantur equae
2)
Verg. Aen. 5, 755: interea Aeneas urbem designat aratro Ov. fast. 4, 819: apta dies legitur, qua moenia signet aratro 825: inde premens stivam designat moenia sulco
3)
Tib. 1, 6, 15f.: at tu, fallacis coniunx incaute puellae, me quoque servato, peccet ut illa nihil Ov. am. 2, 19, 1f.: si tibi non opus est servata, stulte, puella, at mihi fac serves …99 37: at tu, formosae nimium secure puellae …
4)
nec cur fraternis Luna laboret equis Prop. 2, 34, 52: aut, ubi cantatis, Luna laborat equis Ov. am. 2, 5, 38: Ov. met. 2, 208f.: inferiusque suis fraternos currere Luna admiratur equos
5)
6)
Prop. 3, 14, 28: Ov. ars 2, 734: ars 3, 602:
est neque odoratae cura molesta comae sertaque odoratae myrtea ferte comae et nimium duri cura molesta viri
Prop. 4, 11, 73: nunc tibi commendo communia pignora natos Ov. her. 12, 187: … communis respice natos per meritum et natos, pignora nostra, duos 192:
Die angeführten Belege zeigen, daß die beiden Imitationen ganz knapp nacheinander (Beispiele 2, 6), in mittlerem (Beispiel 3) oder auch weiterem (Beispiel 1) Abstand innerhalb eines Gedichts oder Buchs stehen können, ––––––––––– 99 Man beachte hier auch die lexikalische Verdoppelung: Dem einfachen servato bei Tibull stehen bei Ovid mit servata und serves zwei Formen desselben Verbums gegenüber.
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aber auch, wie in Beispiel 5, in unterschiedlichen Büchern desselben Werkes oder sogar in verschiedenen, unter Umständen durch Jahrzehnte voneinander getrennten Werken wie in Beispiel 4. Der Abstand der beiden Zitationen in unserem aktuellen Fall (met. 8, 10 bzw. 88) entspricht annähernd den Gegebenheiten in Beispiel 1. In unmittelbarer Nähe zu dem zuletzt relevierten Vers met. 8, 88, nämlich in met. 8, 91, findet sich eine weitere Ciris-Korresponsion, auf die (unter anderem) K. Büchner seine vorsichtige Entscheidung für die Priorität der Ciris gründete: Cir. 419f.:
… quae sic patriam carosque penates hostibus immitique addixi ignara tyranno … proles ego regia Nisi Ov. met. 8, 90f: Scylla tibi trado patriaeque meosque penates Für Büchner stellt Ovids patriaeque meosque penates „eine schärfere Fassung des gewöhnlichen (Cir. 419) patriam carosque penates“ dar.100 Das Binom patriam carosque penates ist in der Tat ganz konventionell formuliert,101 und auch seine Bedeutung ist im Kontext unmißverständlich: Scylla bezichtigt sich, dem Feind „die Vaterstadt und das teure eigene Haus“ preisgegeben zu haben. Im Gegensatz dazu ist die von Ovid gewählte Formulierung patriaeque meosque penates, die penates zum regierenden Begriff macht, sprachlich anscheinend unikal – zumindest ist im Thesaurus linguae Latinae keine Parallele für penates patriae102 ausgeworfen – und bedeutungsmäßig insofern komplex, als penates hier nach Bömers einleuchtender Interpretation103 bildhaft für die den Bestand des Staates garantierende Haar––––––––––– 100 Vgl. RE 1123, 12ff. 101 Die beiden Substantiva (di) penates und patria stehen in denselben Casus auch Sall. or. Cott. 3 und Ov. met. 9, 639 nebeneinander. Wie die syntaktisch gleichrangigen Zusätze – „Strukturelle Erweiterung“, dazu unten 75f., 94ff. u. ö.; falsch Lyne 1978 ad Cir. 419 – dort zeigen, wird die Cirisstelle von Lucan imitiert (7, 346f.: quisquis patriam carosque penatis, / qui subolem et thalamos desertaque pignora quaerit); ihr Vorbild (vgl. unten 131ff.) muß Verg. georg. 2, 514 (patriam parvosque penates) sein. 102 Recht häufig ist aber die adjektivische Junktur penates patrii (kommentierte Stellensammlung bei Bömer ad met. 1, 773), als gewähltes Äquivalent zu patria etwa Ps.Verg. cat. 9, 35f. und Ov. her. 3, 67; man beachte die Lesarten patriosque bzw. patriamque in manchen Metamorphosenhandschriften, zweifellos durch den ungewohnten Genitiv provozierte Emendationsversuche. 103 1977, 40 ad locum: „In freiem Vergleich sind für den Dichter sowohl die Haarlocke als auch die Penaten das Unterpfand der Sicherheit, wie die ‚Staatspenaten‘ des Aeneas … zu den Unterpfändern der Sicherheit des römischen Staates gehören“. Es sei noch angemerkt,
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locke des Nisos steht; die fürs erste nicht gleich evidente Metapher wird nachträglich in den Versen 92f. aufgelöst. Damit aber entsprechen die „Normalversion“ der Cirisstelle und die unorthodox, ganz individuell formulierte Fassung der Ovidstelle exakt einem von uns an vielen korrespondierenden Stellen beobachteten Modell: Die Primärstelle ist in jeder Hinsicht unauffällig, die Imitation aber zeigt des öfteren SPRACHLICHE UND/ ODER SACHLICHE BESONDERHEITEN, deren Zustandekommen ohne Kenntnis der Vorlage vielfach schwer vorstellbar erscheint. Ov. met. 1, 123f.: semina tum primum longis Cerealia sulcis obruta sunt trist. 3, 12, 11: herbaque quae latuit Cerealibus obruta sulcis Die Verbindung Cerealia semina ist bei Ovid gebräuchlich,104 zu Cereales sulci vgl. nur Silius Italicus Pun. 8, 543 (im Singular). Prop. 3, 16, 5f.: quid faciam? obductis committam mene tenebris, ut timeam audaces in mea membra manus? non timeo strictas in mea fata manus Ov. am. 1, 6,14: strictae manus ist eine Junktur, die auf Ovid beschränkt bleibt.105 Ov. met. 1, 632ff.: … amara pascitur herba, proque toro terrae non semper gramen habenti incubat met. 4, 215: ambrosiam pro gramine habent Ib. 399f.: ut qui terribiles pro gramen habentibus herbis impius humano viscere pavit equos Die Kontamination der beiden für sich genommen völlig unanstößigen Metamorphosenstellen führt zu einem artifiziell anmutenden Präpositionalausdruck, worin die exakte Bedeutung von gramen problematisch ist: „indica qui probabilmente la parte nutritiva dell’erba“ meint A. La Penna106 im Anschluß an den alten Kommentator R. Ellis,107 während Schuster im ––––––––––– daß Bömers Übersetzung „mein Vaterland und mich“ (loc. cit.) mit dieser Deutung inkompatibel ist; Hollis 1970 vermeidet gleich von vornherein jegliche Aussage zu den Versen 92–94. 104 So auch noch am. 3, 6, 15f., rem. 173. 105 Vgl. ebenso auch her. 12, 100 und trist. 5, 2, 30. 106 P. Ovidi Nasonis Ibis, a cura di A. La Penna, Florenz 1957 (Biblioteca di Studi Superiori XXXIV), 100. 107 P. Ovidi Nasonis Ibis, Oxford 1881, ad locum: „gramen hic est esca equorum“.
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ThlL s.l. gramen die Stelle unter ‚usus notabiles‘ führt und, für mich allerdings wenig plausibel, die Bedeutung calamus postuliert.108 Verg. Aen. 5, 644f.: … hic una e multis, quae maxima natu, / Pyrgo Ov. fast. 4, 639: igne cremat vitulos quae natu maxima Virgo est In diesem Fall verführte den Dichter das spielerisch-übermütige Streben, seiner Vorlage, einem Vers aus der Beschreibung des Brandes der troianischen Flotte, so nahe wie nur irgend möglich zu bleiben – seine Zeile ist andererseits Teil der Schilderung des Brandopfers (!) an den Fordicidia – zu einer sachlich zumindest problematischen Aussage. Mit der Übernahme von natu insinuiert Ovid, daß eine Virgo Vestalis Maxima dieses Amt ihrem Alter verdankte, was nach dem Urteil der Mehrheit moderner Religionshistoriker faktisch unzutreffend sein dürfte.109 Man beachte besonders das Klangspiel Pyrgo/virgo. Ov. trist. 1, 8, 15: illud amicitiae sanctum et venerabile nomen Pont. 2, 3, 19: illud Amicitiae quondam venerabile numen Die Paronomasie hat auch hier eine sachliche Auffälligkeit zur Folge. Anders als ihr Pendant #68Ą., für das kultische Verehrung sogar auf der athenischen Akropolis bezeugt ist,110 erscheint die göttliche Personifikation der Amicitia völlig schattenhaft und taucht zum Unterschied von vergleichbaren Numina wie Concordia, Liberalitas u. dgl. beispielsweise niemals auf römischen Münzen auf. Literarisch wird Amicitia neben unserer Stelle nur einmal vollgültig111 genannt, nämlich Tac. ann. 4, 74, wo ein adulatorischer ––––––––––– 108 ThlL 6, 2, 2167, 16; als weiteren, allerdings unsicheren Beleg für diese Bedeutung nennt der Bearbeiter nur noch Plin. nat. 24, 183. 109 Vgl. dazu Bömers Kommentar (F. Bömer, P. Ovidius Naso: Die Fasten, herausgegeben, übersetzt und kommentiert, Bd. II Kommentar, Heidelberg 1958, 264), der Wissowas diesbezügliche Aussage (Religion und Kultus der Römer, 2. Aufl., München 1912, 495, Anm. 1) ablehnt; dagegen auch K. Latte, Römische Religionsgeschichte, München 1960, 109, der gleichwohl grundsätzlich Aporie in dieser Frage einbekennt; seine Erklärung von natu in Anm. 2 ist unsinnig. 110 Allerdings nennt W. H. Roschers Ausführliches Lexikon der griechischen und römischen Mythologie, Leipzig 1902–1909 (ND Hildesheim 1965), Bd. III, 2, 2304, 48ff. daneben mit Ephesos und Nikaia auch nur zwei weitere Kultorte, letzteren sogar mit Vorbehalt. 111 Die Nennung der Amicitia als Tochter der Nacht und des Erebos bei Hygin myth. praef. 1 erfolgt sicherlich im Anschluß an eine griechische Quelle, zählt also wohl nicht in vollem Umfang.
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Senatsbeschluß auf Stiftung eines Altars der „Freundschaft“ zwischen Tiberius und Seian referiert wird. Damit ist aber für mich noch nicht gesagt, daß die Personifikation der Freundschaft als göttliche Wesenheit im Volksglauben der Römer tatsächlich präsent war: Amicitia mag gut und gern auch bloß ein Geschöpf imaginativen ovidischen Sprachspiels sein; Wissowa zeigt sich hingegen „geneigt, Amicitia als Gottheit anzuerkennen.“112 Ov. trist. 1, 9, 19f.: at simul impulsa est, omnes timuere ruinam, cautaque communi terga dedere fugae trist. 3, 5, 5f.: ut cecidi cunctique metu fugere ruinam, versaque amicitiae terga dedere meae Der sekundäre Ersatz der neben terga dare ganz geläufigen Bestimmung fugae113 durch amicitiae ist ausschließlich durch die spezielle Situation bedingt und demgemäß auch singulär. Der vorhergehende Wechsel von timuere – an der späteren Stelle durch metu repräsentiert – zu fugere, der eine synonymische Verdoppelung zu terga dedere bedeutet, stellt ein weiteres für Imitationen generell ganz charakteristisches Merkmal dar.114 Diese Reihe von Beispielen sprachlicher und sachlicher Auffälligkeit in ovidischen Imitationen ist ein starkes Indiz darauf, den Vers Ov. met. 8, 91 mit der sonst unbelegten Verbindung patriae … penates als die spätere Fassung von Cir. 419 anzusprechen, wo die beiden Begriffe ein ganz konventionelles Binom bilden. Ein weiterer Hinweis auf diese Abfolge ergibt sich aus dem Unterschied zwischen addicere in der Ciris und dem von Ovid verwendeten tradere: Da addicere, als terminus technicus der Rechtssprache115 das weit gesuchtere Wort ist, trifft hier auch das Kriterium der SEKUNDÄR EINFACHEREN WORTWAHL zu: Ovid hat nachweislich eine Tendenz dazu, als (Selbst-) Imitator ein spezifisches bzw. gesuchtes Wort durch ein allgemeineres, oft auch banales zu ersetzen, wie an folgenden Beispielen deutlich wird: ––––––––––– 112 Wissowa (wie Anm. 109), 337; kein einschlägiges Lemma bei Roscher und bei Latte. 113 Vgl. so met. 5, 322f., 12, 313, 13, 879, fast. 6, 522. 114 Vgl. dazu die Parallelen unten 74f., 92ff. Man beachte auch das abundierende versa an der Stelle des primären cauta als Ergebnis eines Verschnitts von terga dare mit terga vertere. So kommt eine Potenzierung des Gedankens der Flucht zustande, freilich auf Kosten einer anderen Sinnuance, vgl. unten 66f. 115 In augusteischer Dichtung begegnet addicere nur bei Verg. Aen. 3, 653, Hor. epod. 17, 11, serm. 2, 5, 109, epist. 1, 1, 14, Prop. 3, 11, 2 und 32.
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Verg. Aen. 1, 46f.: ast ego, quae divum incedo regina Iovisque et soror et coniunx Ov. met. 3, 265f.: … si sum regina Iovisque et soror et coniunx, certe soror Verg. Aen. 6, 134: bis Stygias innare lacus … Ov. met. 14, 590f.: satis est … / … Stygios semel isse per amnes Verg. Aen. 9, 572: hic iaculo bonus, hic longe fallente sagitta Ov. trist. 3, 10, 55: hostis equo pollens longeque volante sagitta Ov. ars 1, 67: tu modo Pompeia lentus spatiare sub umbra ars 3, 387: at licet et prodest Pompeias ire per umbras Ov. rem. 721: Thestias absentem succendit stipite natum trist. 1, 7, 17f.: utque cremasse suum fertur sub stipite natum Thestias … Ov. her. 21, 94: fast. 4, 638:
sectaque fumosis ingerit exta focis sectaque fumosis exta dedere focis
Diese Beispielreihe ermöglicht einen sicheren Analogieschluß auf die Substitution von ursprünglichem addicere durch tradere.116 Die Abhängigkeit Ovids von der Ciris ist also auch anhand der korrespondierenden Stellen Cir. 419f. und Ov. met. 8, 90f. gleich mit mehreren Argumenten zu sichern. Überprüfen wir dieses Resultat aber noch an folgendem Textbeispiel: Cir. 487f.: aeriis potius sublimem sustulit alis, esset ut in terris facti de nomine ciris117 Ov. met. 8, 148ff.: illa metu puppim dimisit, et aura cadentem sustinuisse levis, ne tangeret aequora, visa est. pluma fuit: plumis in avem mutata vocatur ciris, et a tonso est hoc nomen adepta capillo ––––––––––– 116 Sie liefert aber auch ein zusätzliches Argument für die schon oben auf anderem Wege ermittelte Priorität von Cir. 232f. vor Ov. met. 8, 83: Dem lexikalisch auffälligen transitiven requiescere der Ciris – tempore quo fessas mortalia pectora curas … requiescunt; so noch Calvus, fr. 13 M, Verg. ecl. 8, 4 – steht bei Ovid ja eine Periphrasis mit recht alltäglichen Bauelementen gegenüber: prima quies aderat, qua curis fessa diurnis / pectora somnus habet. 117 Vgl. Verg. Aen. 1, 367: facti de nomine Byrsam, wozu unten 153f.
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In den zitierten Versen wird jeweils die Verwandlung der Frau in einen Vogel und dessen Name samt aitiologischer Erklärung referiert. Bei Ovid geschieht dies in einfacher, partiell prosaisch anmutender Sprache, dafür aber wortreicher: Er spricht explizit von der Vogelmetamorphose und gibt im Umfang nahezu eines ganzen Verses fast pedantisch die den Namen Ciris begründende Tat der Scylla genau an, während der Cirisautor sich diesbezüglich mit einer knappen, allgemein gehaltenen Andeutung begnügt, die dem des Griechischen kundigen Leser nach der Lektüre des Epyllion gleichwohl keinerlei Verständnisproblem bereitet. Dieser Befund hat eine Entsprechung in folgenden Stellenpaaren, aus denen die Tendenz des Imitators Ovid zu einer AUSFÜHRUNG VON BLOSSEN ANDEUTUNGEN IN DER VORLAGE hervorgeht. Prop. 4, 1, 3: atque ubi Navali stant sacra Palatia Phoebo Ov. ars 3, 389f.: visite laurigero118 sacrata Palatia Phoebo (ille Paraetonias mersit in alta rates) Prop. 4, 1, 65f.: scandentes quisquis cernit de vallibus arces, ingenio muros aestimet ille meo Ov. am. 3, 15, 11ff.: atque aliquis spectans hospes Sulmonis aquosi moenia, quae campi iugera pauca tenent, ‘quae tantum’ dicet ‘potuistis ferre poetam, quantulacumque estis, vos ego magna voco’119 ––––––––––– 118 Der Tausch des spezifisch auf den historischen Anlaß bezogenen und demgemäß singulären Apollo-Epithetons navalis – sonst nur AP 7, 771 in Übersetzung :.B9þD