Medien der Aufklärung – Aufklärung der Medien: Die baltische Aufklärung im europäischen Kontext 9783110712506, 9783110774399

The Enlightenment as an epoch and intellectual movement was closely linked to a new way of using media. New formats esta

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German Pages 424 Year 2021

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Einleitung
I. Text, Bild und Architektur als Leitmedien der Aufklärung
Neue periodische Schriftmedien, das Medium Bild und die Programmatik der Aufklärung
Universität ,parlante‘. Johann Wilhelm Krause als Architekt im Spiegel der Zeit. Wort versus Bild
II. Medienphilosophie und Sprachkritik im Zeichen der Aufklärung
Sonnenfinsternis, angeschaut „in einem Gefäße voll Wassers“. Hamanns Medienphilosophie
Konstellationen spätaufklärerischer Sprachreflexion. Überlegungen zu Carl Gustav Jochmann mit einem Ausgriff auf Walter Benjamin
III. Medien der literarischen Kommunikation: Brief und Zeitschrift
Medien der literarischen Kommunikation im Baltikum um 1800
Briefe im 18. Jahrhundert. Die Ergänzung der Öffentlichkeit
Rigaer Moralische Wochenschriften kurz vor der Etablierung einer lokalen Öffentlichkeit in Livland
IV. Mediale Pragmatik der Aufklärer: Autor und Publikum
Die mediale Pragmatik der Aufklärer in der Region: Hupel – Schubart – Möser
„Sage mir […] welches ist denn eigentlich Dein Fach?“ Untangling Garlieb Merkel’s Persona through his Various Forms of Expression
Schiller und „das Urtheil der Welt“
V. Kanzel und Bühne als Bildungsmedien der Aufklärung
Theologen als Medien der Aufklärung. Vom Hallischen Pietismus bis zum Ende der Volksaufklärung
Deutschbaltische Aufklärungstheologie aus der Sicht der zeitgenössischen Druckmedien
Der Wert des Theaters und die Luxusdebatte am Ende des 18. Jahrhunderts in dem nicht so aufgeklärten Livland
VI. Aufgeklärte Medien und Kulturtransfer
Die Archives littéraires de l’Europe (1804−1808). Ein Medium der Aufklärung mit transnationaler Ausrichtung
Cultural Transfer Theory and Exchanges between Britain and the Baltic in the Eighteenth Century
Die ‚Entdeckung‘ der estnischen Nation in Wielands Teutschem Merkur
Erste Begegnungen. Über Angelsachsen, England und Engländer in deutschbaltischen Zeitschriften um 1800
VII. Medien der Volksaufklärung
Übersetzung als Medium der baltischen Aufklärung – am Beispiel von Schillers Ode An die Freude in estnischen Übersetzungen
Lettischsprachige Kalender im 18. Jahrhundert
Gotthard Friedrich Stender and Latvian Vocal Music in the Age of Enlightenment
Autorinnen und Autoren
Recommend Papers

Medien der Aufklärung – Aufklärung der Medien: Die baltische Aufklärung im europäischen Kontext
 9783110712506, 9783110774399

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Liina Lukas, Silke Pasewalck, Vinzenz Hoppe und Kaspar Renner (Hg.): Medien der Aufklärung. Aufklärung der Medien. Die baltische Aufklärung im europäischen Kontext

Schriften des Bundesinstituts für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa

Band 86

Medien der Aufklärung – Aufklärung der Medien. Die baltische Aufklärung im europäischen Kontext

Herausgegeben von Liina Lukas, Silke Pasewalck, Vinzenz Hoppe und Kaspar Renner

Die Publikation ist ein Kooperationsprojekt des Bundesinstituts für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, Oldenburg, und der geisteswissenschaftlichen Fakultät der Universität Tartu.

Der Band geht zurück auf die Tagung „Medien der Aufklärung. Aufklärung der Medien“, die vom 4. bis 6. September 2017 an der Universität Tartu stattfand. Sie war Teil des von 2016 bis 2019 laufenden, von der EU geförderten Erasmus+Programms „Medienpraktiken der Aufklärung“ (2016–2019) der Universitäten Potsdam, Tartu, Riga und Bordeaux-Montaigne.

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress

© 2021 Bundesinstitut für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa (BKGE), Oldenburg Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ohne Zustimmung des Verlags ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen. Einbandgestaltung: Lennart Hoes, leGraph, Delmenhorst Satz, Layout, Druck und Bindung: TZ-Verlag & Print GmbH, Roßdorf Titelbild: Livona. Ein historisch-poetisches Taschenbuch für die deutsch-russischen Ostseeprovinzen 1 (1812). Titelblatt. Universitätsbibliothek Tartu (Ausschnitt) Veröffentlicht durch den Verlag de Gruyter Oldenbourg, Berlin/Boston 2021 ISBN: 978-3-11-071250-6

Inhalt Vorwort

7

Liina Lukas, Silke Pasewalck Einleitung

9

I. Text, Bild und Architektur als Leitmedien der Aufklärung Daniel Fulda Neue periodische Schriftmedien, das Medium Bild und die Programmatik der Aufklärung

21

Juhan Maiste Universität ,parlante‘. Johann Wilhelm Krause als Architekt im Spiegel der Zeit. Wort versus Bild

49

II. Medienphilosophie und Sprachkritik im Zeichen der Aufklärung Andreas Degen Sonnenfinsternis, angeschaut „in einem Gefäße voll Wassers“. Hamanns Medienphilosophie Jost Eickmeyer Konstellationen spätaufklärerischer Sprachreflexion. Überlegungen zu Carl Gustav Jochmann mit einem Ausgriff auf Walter Benjamin

85

111

III. Medien der literarischen Kommunikation: Brief und Zeitschrift Liina Lukas Medien der literarischen Kommunikation im Baltikum um 1800

129

Heinrich Bosse Briefe im 18. Jahrhundert. Die Ergänzung der Öffentlichkeit

155

Aiga Šemeta Rigaer Moralische Wochenschriften kurz vor der Etablierung einer lokalen Öffentlichkeit in Livland

167

IV. Mediale Pragmatik der Aufklärer: Autor und Publikum Martin Klöker Die mediale Pragmatik der Aufklärer in der Region: Hupel – Schubart – Möser

187

Kadi Kähär-Peterson „Sage mir […] welches ist denn eigentlich Dein Fach?“ Untangling Garlieb Merkel’s Persona through his Various Forms of Expression

207

Jean Mondot Schiller und „das Urtheil der Welt“

227

V. Kanzel und Bühne als Bildungsmedien der Aufklärung Björn Hambsch Theologen als Medien der Aufklärung. Vom Hallischen Pietismus bis zum Ende der Volksaufklärung

243

Aira Võsa Deutschbaltische Aufklärungstheologie aus der Sicht der zeitgenössischen Druckmedien

263

Tiina-Erika Friedenthal Der Wert des Theaters und die Luxusdebatte am Ende des 18. Jahrhunderts in dem nicht so aufgeklärten Livland

273

VI. Aufgeklärte Medien und Kulturtransfer Tristan Coignard Die Archives littéraires de l’Europe (1804–1808). Ein Medium der Aufklärung mit transnationaler Ausrichtung

295

Rémy Duthille Cultural Transfer Theory and Exchanges between Britain and the Baltic in the Eighteenth Century

303

Ruth Florack Die ‚Entdeckung‘ der estnischen Nation in Wielands Teutschem Merkur

317

Kairit Kaur Erste Begegnungen. Über Angelsachsen, England und Engländer in deutschbaltischen Zeitschriften um 1800

333

VII. Medien der Volksaufklärung Silke Pasewalck Übersetzung als Medium der baltischen Aufklärung – am Beispiel von Schillers Ode An die Freude in estnischen Übersetzungen

353

Pauls Daija Lettischsprachige Kalender im 18. Jahrhundert

373

Māra Grudule Gotthard Friedrich Stender and Latvian Vocal Music in the Age of Enlightenment

395

Autorinnen und Autoren

415

Liina Lukas, Silke Pasewalck, Vinzenz Hoppe, Kaspar Renner

Vorwort Der vorliegende Band setzt das Gespräch fort, das im Rahmen des von der EU geförderten Erasmus+Programms „Medienpraktiken der Aufklärung“ (2016–2019) begonnen wurde. Beteiligt waren Partner aus den Universitäten Potsdam, Tartu, Riga und Bordeaux-Montaigne sowie aus zwei Forschungsbibliotheken mit reichen handschriftlichen Beständen aus der Epoche der Aufklärung (der Nationalbibliothek Lettlands in Riga und der Universitätsbibliothek Tartu). Während der gemeinsamen Auseinandersetzung mit Quellen der Aufklärung in Estland, Livland und Kurland, in Frankreich und in Preußen sind auf Tagungen, Sommerschulen und in Workshops Forschungsfragen entstanden, die in den hier vorliegenden Artikeln weiterentwickelt und zueinander in Beziehung gesetzt werden. Die Mehrheit der Beiträge geht auf die 2017 in Tartu von Liina Lukas und Silke Pasewalck veranstaltete Tagung „Medien der Aufklärung. Aufklärung der Medien“ zurück, auf der charakteristische Medienformate und -praktiken der baltischen Aufklärung im europäischen Kontext behandelt wurden. Die Diskussion wurde auf den Sommerschulen in Riga, Tartu und Potsdam (2017–2018) sowie auf der Tagung „Medienpraktiken und Transnationalisierung in Europa. 18. bis 21. Jahrhundert“ in Bordeaux (2019) fortgesetzt, wo jeweils unterschiedliche Orte der Aufklärung thematisiert wurden. Die vorausgegangenen Veranstaltungen sowie die Drucklegung des Bandes wurden durch die nachfolgenden Institutionen und Programme gefördert: das Erasmus+ Programm „Medienpraktiken der Aufklärung“, den DAAD, das Exzellenzzentrum für Estonian Studies (CEES) – finanziert von der Europäischen Union durch den Europäischen Fonds für regionale Entwicklung –, das Estnische Bildungs- und Forschungsministerium – im Rahmen des Forschungsprojekts „The Factor of Lyrical Poetry in the Formation of Small Literatures“ –, die Universität Potsdam, das Research Center Sanssouci sowie schließlich das Bundesinstitut für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa (BKGE). Wir bedanken uns bei unseren Autorinnen und Autoren für ihre Mitwirkung am Band sowie für die produktive Zusammenarbeit. Es freut uns sehr, dass das BKGE unser Buch in seine Schriftenreihe aufgenommen hat. Gedankt sei schließlich Stephan Scholz, dem wissenschaftlichen Redakteur des BKGE, für sein genaues Auge bei der Schlussredaktion.

Liina Lukas und Silke Pasewalck

Einleitung Die Aufklärung als Epoche und Denkbewegung ist eng an einen neuen Gebrauch der Medien gebunden. Ohne die neuen Formen der Kommunikation hätten die Prozesse der Aufklärung so nicht ablaufen können, und zugleich prägte die Epoche den Umgang mit den Medien. Zu verstehen sind darunter nicht nur Funktionsträger der Kommunikation wie etwa Druckerzeugnisse, Bibliotheken oder andere Diskussionsforen, sondern auch die Ausbildung einer Öffentlichkeit als Form der Auseinandersetzung, wie wir sie heute kennen. Die neuen medialen Praktiken des Erwerbs, der Vermittlung und des Vertriebs von Wissen mögen zunächst nur das Privileg weniger gelehrter Köpfe gewesen sein, im Kern intendierte die Aufklärung jedoch eine Öffnung der respublica litteraria für alle Menschen. Im Zuge der Volksaufklärung fand diese Einbeziehung aller Gesellschaftsschichten ihre explizite Programmatik. Die Lesefähigkeit erwies sich dabei als conditio sine qua non einer aufgeklärten Gesellschaft. Das Lesen und der anschließende Gedankenaustausch über das Gelesene entwickelten sich zum Kern der neuen Kommunikation in mannigfaltigen Formen und medialen Formaten wie Enzyklopädien und Preisfragen, Zeitschriften und Zeitungen, Kalendern und praktischen Ratgebern. Diese Ausformung der Medien fand nicht nur in den Zentren der Aufklärung statt, sondern ebenfalls in deren Peripherien, wie etwa dem Baltikum. Auch dort entstanden und etablierten sich Medien der Aufklärung; es wurden Druckereien und Verlage, gelehrte Gesellschaften und Lesezirkel gegründet sowie Periodika und Almanache publiziert, und es bildete sich eine literarische Öffentlichkeit aus. Auf welchen Wegen gelangten die neuen Ideen und Praktiken aus den Zentren der europäischen Aufklärung in die baltischen Länder und welche besonderen medialen Formen bildeten sie dabei aus? Welches waren die wirkmächtigsten Medienpraktiken der baltischen Aufklärung? Wo entstanden eigene Zentren und was waren wichtige Kommunikationsformen? Inwiefern gab es einen intensiven Gedankenaustausch mit den Zentren der Aufklärung? Wer waren die wichtigsten Träger und an wen richtete sich die Aufklärung in Estland, Livland und Kurland, um ihre Ziele zu erreichen? Welche Funktionen hatten die unterschiedlichen Sprachen im Vermittlungsprozess? Inwiefern ergänzt oder erweitert die baltische Aufklärung das Gesamtbild der europäischen Aufklärung? Mit seinem Fokus auf Medien und Medienpraktiken knüpft der vorliegende Band an aktuelle Tendenzen in der Aufklärungsforschung an. Hingewiesen sei auf die von Holger Böning herausgegebenen Bände zur Pressegeschichte und zur Beziehung zwischen Kommunikation und Aufklärung, die den spezifischen Gebrauch von Medien in dieser Epoche (und darüber hinaus) thematisieren.1 Einen Akzent auf die 1 Vgl. hierzu u. a. Holger Böning (Hg.): Französische Revolution und deutsche Öffentlichkeit: Wand-

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Liina Lukas und Silke Pasewalck

Medien der Aufklärung – am Beispiel Deutschlands – legt schon das Handbuch von Ernst Fischer, Wilhelm Haefs und York-Gothart Mix Von Almanach bis Zeitung. Ein Handbuch der Medien in Deutschland 1700–1800 aus dem Jahr 1999.2 In ihrem Buch This is Enlightenment aus dem Jahr 2010 haben die US-amerikanischen Anglisten Clifford Siskin und William Warner in radikaler Weise einen medialen Blickwinkel eingenommen, indem sie die Epoche ausschließlich als Effekt der Medienpraxis verstehen und sich damit dezidiert gegen den traditionellen Ansatz der Ideengeschichte richten.3 Diesem exklusiven Verständnis von Aufklärung als Mediengeschichte schließen wir uns mit diesem Band nicht an, da wir unseren medienhistorischen und praxeologischen Ansatz mit der Untersuchung spezifischer Topoi, Gedanken und Entwicklungen in bestimmten Regionen, konkret mit dem historischen Baltikum verbinden und also die Praxis medialer Sichtbarmachung nicht losgelöst von der Kritik und Reflexion der Aufklärung begreifen. Schließlich waren es auch nicht so sehr neue Medienformate, die von den Aufklärern und für den Zweck der Aufklärung etabliert wurden; vielmehr ging es um einen neuen Gebrauch bereits vorhandener Medien, um eine „neue, partizipativ und funktional erweiterte Nutzung auch zuvor schon vorhandener Medien“, wie Daniel Fulda in seinem Einblick in die Entstehung des Begriffs ‚Aufklärung‘ in der Medientheorie um 1700 im ersten Kapitel dieses Buches zeigt.4 So trugen beispielsweise Zeitschriften und andere Druckmedien sowie neue mediale Praktiken, die verschiedene mediale Formate von gedruckten, handschriftlichen und mündlichen Kommunikationsformen kombinierten, dazu bei, einen neuen Öffentlichkeitsraum zu schaffen. Zugleich ging es um eine Umfunktionalisierung und Modernisierung der Medien auf der Grundlage eines erneuerten Wissens entsprechend dem damaligen Stand der Wissenschaften; es kam also gleichsam zu einer Aufklärung der Medien. Diese Wechselwirkung zwischen Aufklärung und Medienpraktiken etablierte sich in England, Frankreich und Deutschland, den sogenannten Zentren der neuen Bewegung, in deren Kernzeit zwischen 1730 und 1790. Sie wirkte allerdings nicht nur weit über das 18. Jahrhundert hinaus, sondern ergriff zeitverzögert weitere Länder und erlangte bald europäische Dimensionen. Einerseits handelte es sich um ein gesamteuropäisches Phänomen, andererseits nahm die neue mediale Praxis jeweils auch eine eigene Prägung an, die den jeweiligen soziokulturellen Kontexten und veränderten historischen Rahmenbedingungen Rechnung trugen. In jüngerer Zeit erweitert die deutschsprachige Forschung ihr Blickfeld über die Zentren hinaus auf die sogenannte Peripherie der europäischen lungen in Presse und Alltagskultur am Ende des achtzehnten Jahrhunderts. München u. a. 1992; ders.: Periodische Presse, Kommunikation und Aufklärung. Bremen 2020. Siehe auch die Festschrift zu Holger Bönings 65. Geburtstag: Rudolf Stöber, Michael Nagel, Astrid Blome u. Arnulf Kutsch (Hg.): Aufklärung der Öffentlichkeit – Medien der Aufklärung. Stuttgart 2015. 2 Siehe dort vor allem die Einleitung: Ernst Fischer, Wilhelm Haefs u. York-Gothart Mix: Aufklärung, Öffentlichkeit und Medienkultur in Deutschland im 18. Jahrhundert. In: Dies. (Hg.): Von Almanach bis Zeitung. Ein Handbuch der Medien in Deutschland 1700–1800. München 1999, S. 9–23. 3 Vgl. Clifford Siskin u. William Warner (Hg.): This is Enlightenment. Chicago u. London 2010. 4 Siehe Daniel Fuldas Beitrag in vorliegendem Band, S. 26.

Einleitung

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Aufklärung und spricht dezidiert – wie die französische Bezeichnung (siècle des lumières) von jeher implizierte – von Aufklärung(en), um sich mit „einer genaueren Topographie der Aufklärung vertraut [zu] machen“.5 Im Zuge der kulturräumlichen Differenzierung wird die Strömung dezentralisiert bzw. zunehmend polyzentral mit regionalen Eigendynamiken begriffen. Zu nennen wäre hier etwa der wegweisende Sammelband von Alexander Kraus und Andreas Renner, der den spezifischen Bedingungen und Besonderheiten regionaler Aufklärungen nachforscht und bewusst nach „Orte[n] eigener Vernunft“ fragt.6 Durch diese Akzentverschiebung auf die medialen Praktiken einerseits und eine Blickverschiebung über die „frühen Kristallisationskerne“7 hinaus und hin zu den Rändern der gesamteuropäischen Bewegung andererseits wird Aufklärung nicht mehr allein als Selbstverständigung innerhalb der Gelehrtenrepublik verstanden, sondern als breitere Strömung, die einen größeren Akteurs- und vor allem einen breiteren Adressatenkreis umfasst und somit explizit die Volksaufklärung einbegreift.8 Der Schwerpunkt des vorliegenden Bandes liegt im historischen Baltikum, das heißt in den drei Ostseeprovinzen des Russischen Kaiserreiches Estland, Livland und Kurland.9 Dieser Raum wird von der deutschen Forschung zur europäischen Aufklärung mitunter vernachlässigt oder schlicht ignoriert.10 Hier fanden dieselben medialen Transformationsprozesse statt wie im übrigen Europa; es entstanden neue Arten von Kommunikationsnetzwerken (Journalismus, Verlags- und Bibliothekswesen,

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Alexander Kraus u. Andreas Renner (Hg.): Orte eigener Vernunft. Europäische Aufklärung jenseits der Zentren. Frankfurt a. M. 2008, S. 10. 6 Ebd. Das Spektrum der in diesem Buch untersuchten Regionen reicht von den hispanischen Aufklärungen, der Aufklärung in Skandinavien und im Baltikum über die polnische und russische bis zu den Aufklärungstransfers ins Osmanische Reich. Zu Aufklärungsregionen des östlichen Europa vgl. aktuell: Silke Pasewalck u. Matthias Weber (Hg.): Bildungspraktiken der Aufklärung. Education Practices of the Enlightenment. Berlin u. Boston 2020 (Journal für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa/JKGE 1). Erwähnt sei außerdem das von Holger Böning in Zusammenarbeit mit Iwan D’Aprile und Hanno Schmidt herausgegebene Buch „Volksaufklärung ohne Ende? Vom Fortwirken der Aufklärung im 19. Jahrhundert“. Bremen 2018. 7 Kraus u. Renner: Orte eigener Vernunft (= Anm. 5), S. 10. 8 Vgl. Holger Böning, Hanno Schmidt u. Reinhard Siegert: Volksaufklärung: biobibliographisches Handbuch zur Popularisierung aufklärerischen Denkens im deutschen Sprachraum von den Anfängen bis 1850. 3 Bde. Stuttgart 1990–2016. 9 Die Begriffe ,Baltikum‘ und ,baltisch‘ sind keine zeitgenössischen Bezeichnungen; sie wurden erst in der Mitte des 19. Jahrhunderts geprägt und werden seitdem aktiv benutzt – als Bezeichnung dessen, was bis dahin als die drei Ostseeprovinzen des Russischen Kaiserreiches Estland, Livland und Kurland bezeichnet wurde. Obwohl Kurland bis 1795 noch nicht zum Russischen Reich gehörte, fühlte es sich sprachlich (Deutsch und Lettisch) und konfessionell (protestantische Religion) mit den ,Ostseeprovinzen‘ verbunden und war somit ein integraler Teil der regionalen literarischen Öffentlichkeit. 10 Symptomatisch hierfür ist etwa das von Dieter Thoma herausgegebene Handbuch der europäischen Aufklärung, das verschiedene Regionen der Aufklärung unterscheidet, wie etwa die niederländische, die schottische, die polnische, die russische, allerdings keinen eigenen Eintrag für die baltische Aufklärung aufweist. Vgl. Heinz Thoma (Hg.): Handbuch europäische Aufklärung. Begriffe – Konzepte – Wirkung. Stuttgart 2015.

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Liina Lukas und Silke Pasewalck

Theaterszene etc.), die eine neue literarische Öffentlichkeit konstituierten.11 Obwohl Estland und Livland seit dem Ende des Großen Nordischen Krieges (1700–1721) und Kurland seit 1795, nach der dritten Teilung Polens, zum Russischen Reich gehörten, dominierte die deutsche Sprache; die literarische Öffentlichkeit im Baltikum war somit eng mit derjenigen in Deutschland vernetzt sowie nach deren Vorbild entstanden. Da es in dieser Region nach dem Nordischen Krieg keine Universität und bis 1775 keine höheren Bildungsinstitutionen mehr gab, bestand Bedarf an Lehrern und Hofmeistern. Entweder kamen junge Akademiker von den deutschen Universitäten in die Ostseeprovinzen und bildeten die dortige neue Literatenschicht, oder Angehörige der deutschen Minderheit aus dem Baltikum studierten im Ausland. Beide Gruppen pflegten enge Beziehungen zur Aufklärung in Deutschland, publizierten in deutschen Zeitschriften und bestellten Periodika wie beispielsweise die Gelehrten Anzeigen oder die Deutsche Gelehrtenrepublik. Durch die kulturellen Beziehungen zu Deutschland gelangten Gedanken und Wertvorstellungen sowie neue Medienpraktiken ins Baltikum. Baltische Literaten betrachteten sich als Teil der deutschsprachigen Gelehrtenrepublik. Jedoch war Wissensvermittlung und -verbreitung nicht mehr nur ein Privileg der respublica litteraria. Mit der Verbreitung der Volksaufklärung umfasste sie sämtliche Bevölkerungsschichten. Auch unter den Bauern reichten die überlieferten Medien der Wissensvermittlung nicht mehr aus. Das Lesen, das Lernen durch das Lesen und der Austausch über das Gelesene waren für sie grundsätzlich neue Kommunikationsformen. Obwohl sich im Baltikum in der Folge der Reformation das Lesen bereits als Kulturtechnik in der bäuerlichen Bevölkerung fest etabliert hatte, blieb der öffentliche Raum vornehmlich deutschsprachig; die indigene Mehrheitsbevölkerung der Esten und Letten, die auch nach der formalen Aufhebung der Leibeigenschaft in den Jahren 1816 (Estland), 1817 (Kurland) und 1819 (Livland) noch bis um die Jahrhundertmitte ohne Recht auf Landbesitz und Freizügigkeit blieb, wurde von den baltischen Literaten und Aufklärern systemisch verkannt oder unterschätzt. Die baltische Aufklärung war deshalb in besonderer Weise eine geteilte Aufklärung: Mehr als anderswo in Europa deckten sich soziale und ethnische Grenzen. Im Baltikum kreuzte sich die horizontale, deutschsprachige gelehrte Aufklärung mit der vertikal ausgerichteten Volksaufklärung, deren Hauptträger deutschsprachige Gelehrte und Gebildete (vor allem Landpastoren) und deren Hauptadressaten die ,Undeutschen‘, das heißt Esten und Letten, waren.12 Die Gretchenfrage der baltischen Aufklärung – die Frage nach der Leibeigenschaft – wurde ausnahmslos auf Deutsch diskutiert. Estnisch und Lettisch wurden für diese Debatte als nicht geeignet ange-

11 Bisher stehen Untersuchungen aus, die die spezifischen Medienumgangsformen im Baltikum mit denen in Preußen oder anderen Aufklärungsregionen systematisch vergleichen. 12 Siehe hierzu: Thomas Taterka: Das Volk und die Völker. Grundzüge deutscher Volksaufklärung unter Letten und Esten in den russischen Ostseeprovinzen Livland, Kurland und Estland (1760– 1840). In: Reinhart Siegert in Zusammenarbeit mit Peter Hoare u. Peter Vodosek (Hg.): Volksbildung durch Lesestoffe im 18. und 19. Jahrhundert. Voraussetzungen – Medien – Topographie. Bremen 2012, S. 323–357, besonders S. 327–330.

Einleitung

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sehen. Die in diesen Sprachen vermittelte Volksaufklärung war in ihren Zielen politisch indifferent und tastete die herrschenden Verhältnisse nicht an. Das Volk aufzuklären hieß, die Bauern zu glücklichen, arbeitsamen und gehorsamen Leibeigenen zu erziehen.13 Die Sprachwahl, also horizontal deutschsprachig zu bleiben und Estnisch oder Lettisch in einem vertikal-paternalistischen Verhältnis zu kommunizieren, bedingte besondere Adressatenmodelle und Medien. Es etablierte sich ein eindimensionales patriarchalisches Autor-Adressat-Verhältnis im Gegensatz zum demokratischeren Modell, das die Herrnhuter als literarische Kommunikationsform eingeführt hatten und das parallel mit der Volksaufklärung (halb-)illegal im Umlauf war. Die Herrnhuter, die in den 1730er Jahren in Liv- und Estland Fuß gefasst hatten und in den 1740er Jahren alle Bevölkerungsschichten einbegriffen, beschränkten sich nicht nur auf das Angebot einer für die religiöse Erweckung und Seelsorge geeigneten Lektüre für die Bauern. Im Rahmen der Brüdergemeinden wurden die Esten und Letten nicht nur als Adressaten, sondern auch als Autoren in die Literaturpraxis miteinbezogen. Mit dieser Literaturpraxis der Herrnhuter hatte die Volksaufklärung im Baltikum zu wetteifern. Letztere brachte einige neue säkulare Gattungen in das estnisch- und lettischsprachige Schrifttum ein, war jedoch wegen ihres implizierten (bevormundeten und unterschätzten) Adressaten14 nicht imstande, ihre realen Leser anzusprechen, sie in die literarische Kommunikation mit einzubeziehen und eine multilinguale literarische Öffentlichkeit zu schaffen. Ein weiteres wesentliches Merkmal der baltischen Aufklärung ist deren multilinguale und nationale Kommunikationssituation. Während die Zentren der Aufklärung (England, Frankreich, Deutschland) trotz gegenseitiger intensiver Rezeption vorwiegend monolingual waren, existierten im Baltikum mehrere Sprachen nebeneinander, die im Aufklärungsdiskurs sowohl thematisiert als auch verwendet wurden. Die baltische Aufklärung ist daher ein gutes Beispiel, um den trans- und multilingualen Charakter der Aufklärung und ihrer Medienpraktiken zu studieren und zu explizieren. Es stellt sich dabei die Frage nach den Funktionen unterschiedlicher Sprachen in den unterschiedlichen Medienpraktiken. Aus Sicht der europäischen Aufklärungsforschung ist die nähere Untersuchung des historischen Baltikums deshalb so relevant, weil sich hier – wie vermutlich in kaum einer anderen europäischen Aufklärungsregion – besonders deutlich die Spannung der Aufklärung zwischen Selbstverständigung der Gelehrten und Volksaufklärung, zwischen universalistischem Ansatz und kolonial geprägten Feudalverhältnissen äußert. In diesen Ambivalenzen und Ungleichzeitigkeiten manifestiert sich das europäische Pro-

13 Siehe vor allem Pauls Daija: Literary History and Popular Enlightenment in Latvian Culture. Newcastle upon Thyne 2017. 14 Siehe Jaan Undusk: Adressat und Sprache im deutschbaltischen Kulturraum. In: Ulrich Obst u. Gerhard Ressel (Hg.): Balten – Slaven – Deutsche: Aspekte und Perspektiven kultureller Kontakte: Festschrift für Friedrich Scholz zum 70. Geburtstag. Münster, Hamburg u. London 1999, S. 347–361.

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Liina Lukas und Silke Pasewalck

jekt.15 Der baltische Kulturraum figuriert somit als Test- und Prüfungsfeld der Theorien und Praktiken der Aufklärung. Es gilt zu fragen, inwiefern die baltische Aufklärung das Gesamtbild der europäischen Aufklärung ergänzt oder erweitert. Während in früheren Studien zur baltischen Aufklärung Akteure und vor allem zentrale Protagonisten – zuweilen auch Protagonistinnen – im Vordergrund standen,16 ist in jüngerer Zeit ein Wechsel von der Akteurs- zur Ebene der Medien zu beobachten. Dadurch kommt die Aufklärung als ein viel breiter angelegter Öffentlichkeitsraum zum Ausdruck, was neben den Akteuren die Adressaten, neben den Intentionen die Wirkung aufklärerischer Medien sichtbarer werden lässt. Unser Band nimmt diesen aktuellen Trend auf, wenn er die Aufklärung in Est-, Liv- und Kurland als eine spezifische Medienlandschaft porträtiert. Ähnlich gehen schon Raivis Bičevskis, Jost Eickmeyer, Andris Levans und ihre Mitherausgeberinnen und -herausgeber vor, die in ihren zwei Bänden zu Baltisch-deutschen Kulturbeziehungen vom 16. bis 19. Jahrhundert „die Formungsprozesse eines europäischen Kulturraums und seiner Teilgebiete“ aus der Perspektive mehrerer geisteswissenschaftlicher Disziplinen beschreiben und Medien, Institutionen und Akteure als heuristische Leitkategorien betrachten.17 Der in diesem Jahr erschienene erste Band der Balti kirjakultuuri ajalugu [Geschichte der baltischen literarischen Kultur], herausgegeben von Liina Lukas, verknüpft die methodischen Ansätze der Gattungs-, Medien- und Diskursgeschichte und behandelt die für die Entwicklung einer literarischen Kultur nötigen institutionellen Netzwerke, Knotenpunkte und Träger der literarischen Kommunikation.18 15 Vgl. hierzu auch Silke Pasewalck u. Matthias Weber: Einleitung. In: Dies.: Bildungspraktiken der Aufklärung (= Anm. 6), S. 1–8. 16 Zu erwähnen wären Studien, die insbesondere Garlieb Merkel, August Wilhelm Hupel, Johann Georg Eisen, Gotthard Friedrich Stender, Georg Friedrich Parrot, Friedrich Konrad Gadebusch, Elisa von der Recke, Johann Georg Hamanns und Johann Gottfried Herders Rigaer Jahre, sowie den Spätaufklärer Carl Gustav Jochmann porträtieren: Jürgen Heeg: Garlieb Merkel als Kritiker der Ständegesellschaft. Zur politischen Publizistik der napoleonischen Zeit in den Ostseeprovinzen Russlands. Frankfurt a. M 1996; Ulrich Kronauer (Hg.): Aufklärer im Baltikum. Europäischer Kontext und regionale Besonderheiten. Heidelberg 2011 (Akademiekonferenzen 12); Indrek Jürjo: Aufklärung im Baltikum. Leben und Werk des livländischen Gelehrten August Wilhelm Hupel (1737–1819). Köln, Weimar u. Wien 2006; Valérie Leyh, Adelheid Müller u. Vera Viehöver (Hg.): Elisa von der Recke. Aufklärerische Kontexte und lebensweltliche Perspektiven. Heidelberg 2018; Māra Grudule (Hg.): Gothards Frīdrihs Stenders (1714–1796) un apgaismība Baltijā Europas kontekstā: kolektīvā monogrāfija / Gotthard Friedrich Stender (1714–1796) und die Aufklärung im Baltikum im europäischen Kontext / Gotthard Friedrich Stender (1714–1796) and the Enlightenment in the Baltics in European contexts. [Riga] 2018; Epi Tohvri: Georges Frédéric Parrot. Tartu keiserliku ülikooli esimene rektor [Georges Frédéric Parrot. Der erste Rektor der Kaiserlichen Universität Dorpat]. Tartu 2019; Christina Kupffer: Geschichte als Gedächtnis. Der livländische Historiker und Jurist Friedrich Konrad Gadebusch (1719–1788). Köln, Weimar u. Wien 2004. 17 Raivis Bičevskis, Jost Eickmeyer, Andris Levans u. a.: Einleitung. In: Dies. (Hg.): Baltisch-deutsche Kulturbeziehungen vom 16. bis 19. Jahrhundert. Medien – Institutionen – Akteure. Bd. 1: Zwischen Reformation und Aufklärung. Heidelberg 2017; Bd. 2: Zwischen Aufklärung und nationalem Erwachen. Heidelberg 2019, S. 1–19, hier S. 1. 18 Das Buch ist bisher nur auf Estnisch erschienen: Liina Lukas (Hg.): Balti kirjakultuuri ajalugu. I: Keskused ja kandjad. [Geschichte der baltischen literarischen Kultur. I: Zentren und Träger]. Tar-

Einleitung

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Zahlreiche Arbeiten der jüngeren Forschung sind den postkolonialen Studien zuzurechnen und legen den Akzent auf die kolonialen Züge, die der baltischen Aufklärung inhärent sind.19 Gerade mit einem praxeologisch-medienhistorischen Zugriff lassen sich die medialen Praktiken der Aufklärung in den Ostseeprovinzen unterschiedlichen Trägerschichten, Sprachen und Adressaten zuordnen. In der Epoche der Aufklärung zeigt sich somit, was der estnische Aufklärungsforscher Indrek Jürjo für die deutsch-estnischen – es lässt sich ergänzen: sowie für die deutsch-lettischen – Beziehungen generell als Zwiespalt benennt: Zum einen führt die Aufklärung hier zu einer „Vermittlung von deutscher und abendländischer Kultur“, zum anderen muss eine „anhaltende Hinderung der sozialen und nationalen Emanzipation der Esten [und Letten]“ konstatiert werden.20 * Der Begriff des Mediums ist in diesem Band absichtsvoll weit gefasst; er bezieht sich sowohl auf Texte als auch auf Bild- und architektonische Werke, sowohl auf Druckmedien wie die Zeitschrift, den Kalender oder den Brief als auch auf oral-performative Medien wie die Predigt, das Lied oder die Theateraufführung. Und er greift auch Autoren und weitere Akteure als „Menschmedien“21 mit ein, die als Pastor, Hofmeister, Lehrer oder Publizist für die Entwicklung und Verbreitung zentraler Medienformate und grundlegender Medienpraktiken wie des Schreibens, Übersetzens, Herausgebens etc. verantwortlich waren. Das Auftaktkapitel widmet sich Text, Bild und Architektur als Leitmedien der Aufklärung und unterstreicht – parallel zu den schriftlichen Medien – die Bedeutung von Bild und Architektur als Vermittler aufklärerischer Ideen und Debatten im 18. Jahrhundert. Daniel Fulda erklärt die Übertragung des Begriffs ,Aufklärung‘ im Deutschen von seiner meteorologischen Bedeutung auf eine intellektuelle Verbesserungsanstrengung in der Zeitungstheorie und -praxis um 1700, die ohne direktes Vorbild in einer anderen Sprache ist. Ferner zeigt er anhand einer Reihe von visuellen Beispielen aus der Frühaufklärung, denen das Motiv des die Dunkelheit vertreibenden Lichts gemeinsam ist und die somit ikonographisch auf die meteorologische Ursprungsbedeutung zurückgreifen, dass zwischen 1710 und 1740 Bildmedien tu 2021. Eine deutsche Übersetzung ist geplant. Siehe zuvor schon Katre Kaju (Hg): Balti kirjasõna ja kultuurielu valgustusajastu peeglis [Das baltische Schrift- und Kulturleben im Spiegel der Aufklärung]. Tartu 2014; dies. (Hg): Uutmoodi ja paremini. Ühiskondlikest muutustest 18. sajandil ja 19. sajandi algul [Anders und besser! Zum gesellschaftlichen Wandel im 18. und frühen 19. Jahrhundert]. Tartu 2018. 19 Vgl. etwa York-Gothart Mix u. Hinrich Ahrend (Hg.): Raynal – Herder – Merkel. Transformationen der Antikolonialismusdebatte in der europäischen Aufklärung. Heidelberg 2017. 20 Indrek Jürjo: Das nationale Erwachen der Esten im 19. Jahrhundert – ein Verdienst der deutschbaltischen Aufklärung? In: Estland und seine Minderheiten. Esten, Deutsche und Russen im 19. und 20. Jahrhundert (Nordost-Archiv NF 4 [1995], H. 2), S. 409–430, hier S. 410. 21 Der Begriff ist von Werner Faulstich entlehnt. Vgl. Werner Faulstich: Mediengeschichte von 1700 bis ins 3. Jahrtausend. Göttingen 2006, S. 7f.

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Liina Lukas und Silke Pasewalck

(Frontispize, Münzen) eine größere Rolle für die Artikulation von Aufklärungsprogrammatik gespielt haben als Texte. Wie das aufklärerische Bildungsprogramm sich hundert Jahre später in der Peripherie der deutschen Aufklärung, im livländischen Dorpat (Tartu), in der Architektur der wiedergegründeten Universität widerspiegelt, behandelt der Kunsthistoriker Juhan Maiste am Beispiel der Entwürfe des Dorpater Universitätsensembles durch den Architekten Johann Wilhelm Krause. Mit der bildlichen Vorstellung der Sonnenfinsternis, die in einem Gefäß voll Wasser betrachtet werden kann (als Analogie einer medialen Repräsentation) führt Andreas Degen in das nächste Kapitel zur „Medienphilosophie und Sprachkritik“ ein. Sein Aufsatz widmet sich Johann Georg Hamanns Hermeneutik des Medialen bzw. seiner impliziten Medientheorie und führt ihn als einen Denker vor, der als erster die Medialität aller Erkenntnis zum Hauptgegenstand seines Denkens macht. Daran schließt sich Jost Eickmeyer an, der der Sprachkritik eines Hamann-Verehrers, des aus Pernau (Pärnu) stammenden Carl Gustav Jochmann, und ihrer Resonanz in der Sprachreflexion von Walter Benjamin nachgeht. Das dritte Kapitel behandelt die „Medien der literarischen Kommunikation“ im Baltikum, indem die Rolle der Druckmedien Zeitschrift, Almanach, Taschenbuch und Brief bei der Etablierung einer literarischen Öffentlichkeit herausgestellt wird. Diese literarische Öffentlichkeit war deutschsprachig. Obwohl hier Texte in französischer, lateinischer, estnischer und lettischer Sprache verfasst wurden, waren diese nicht für Leser gedacht, die diese Sprachen als Mutter- oder Umgangssprachen verwendeten, sondern sie waren Teil der deutschsprachigen literarischen Kommunikation. Liina Lukas untersucht die Rolle der Dichtung in dieser Medienlandschaft, Heinrich Bosse zeigt die Bedeutung von Briefen als Rückseite und mediale Ergänzung der literarischen Öffentlichkeit auf, indem er zum einen auf die Hochkonjunktur dieses Mediums im 18. Jahrhundert und zum anderen auf prägnante Beispiele für die Briefgattung in der baltischen Aufklärung eingeht. Aiga Šemeta schließlich hebt die Rigaer Moralischen Wochenschriften als Vorreiter einer lokalen Öffentlichkeit in der livländischen Stadt und als ein zentrales Medium der Aufklärung hervor. Das vierte Kapitel rückt die mediale Pragmatik der Aufklärer und die kommunikativen Modelle zwischen Autor und Publikum in den Fokus. Martin Klöker zeichnet das aufklärerische Wirken in der Region am Beispiel dreier Aufklärer bürgerlicher Herkunft aus bzw. in unterschiedlichen Regionen des deutschen Sprachraumes nach: an August Wilhelm Hupel für Livland, Christian Friedrich Daniel Schubart für den deutschen Südwesten und Justus Möser für das westfälisch-hannoversche Osnabrück. Er zeigt auf, welche unterschiedlichen Medienformate, angefangen von der Herausgabe von Zeitschriften, über die Veröffentlichung von Abhandlungen, Lehrwerken, Übersetzungen bis zu mündlichen Medienformaten wie der Predigt die drei Aufklärer eingesetzt haben, um ihre Ideen an ihre jeweiligen Adressatenkreise zu vermitteln. Kadi Kähär-Peterson fragt nach der schriftstellerischen Identität und den Formen der öffentlichen Selbstrepräsentation Garlieb Merkels, des baltischen Aufklärers par excellence, und den unterschiedlichen Genres, auf die er in seinem kaleidoskopartigen literarischen Schaffen zurückgegriffen hat. Jean Mondot behandelt Friedrich Schiller als Autor einer neuen Medienepoche, der sich in seiner selbst- und

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zielbewussten Öffentlichkeitsarbeit dem Tribunal seines Publikums stellte und an die Macht der öffentlichen Meinung glaubte. Im fünften Kapitel „Kanzel und Bühne als Bildungsmedien der Aufklärung“ hebt Björn Hambsch die Rolle der Theologen und ihres wichtigsten Mediums – der Predigt – für die Verbreitung aufklärerischen Gedankenguts hervor. Die Pfarrer waren von Berufs wegen mit allen Schichten und Bildungsniveaus im Gespräch und trugen die Aufklärung in die soziale Wirklichkeit hinein. Sie waren auch zentrale Akteure für die Medienproduktion der Volksaufklärung, was Hambsch mit Blick auf die baltische Aufklärung aufzeigt. Die Theologin Aira Võsa gibt eine Übersicht über die Aufklärungstheologie und ihre Druckmedien im Baltikum. Tiina-Erika Friedenthal führt in die Polemik um den Wert des Theaters im Baltikum in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ein und stellt unterschiedliche erzieherische, politische und wirtschaftliche Argumente vor, mit denen man für oder gegen das Theater zu Felde zog. Das sechste Kapitel „Aufgeklärte Medien und Kulturtransfer“ beschäftigt sich mit dem durch die Medien der Aufklärung angestoßenen kulturellen Dialog und der Beschäftigung mit anderen Kulturen in ,aufgeklärten Medien‘. Tristan Coignard stellt ein transnational ausgerichtetes, mit einem internationalen Netzwerk an Beiträgern und Mitarbeitern ausgestattetes Medienprojekt aus dem Anfang des 19. Jahrhunderts vor – die Archives littéraires de l’Europe –, das es sich zur Aufgabe gemacht hatte, den kulturellen Austausch zu fördern, zur kosmopolitischen Annäherung zwischen den Völkern beizutragen und so das kosmopolitische Erbe der Aufklärung weiterzuführen. Das Projekt scheiterte in der Napoleonischen Ära aus politischen Gründen. Ausgehend von der Kulturtransfertheorie von Michel Espagne und Michael Werner untersucht der Anglist Rémy Duthille die kulturellen Beziehungen zwischen Großbritannien und den baltischen Provinzen im 18. Jahrhundert. Ruth Florack geht auf die Präsentation der estnischen Nation und Kultur in Wielands Teutschem Merkur ein und arbeitet dabei heraus, welches Bild der estnischen Kultur der Verfasser Christian Hieronymus Justus Schlegel entwirft und wie er versucht, die Einstellung des Publikums gegenüber diesem aus seiner Sicht verkannten Volk positiv zu beeinflussen. Kairit Kaur beschäftigt sich mit dem Englandbild in deutschbaltischen Zeitschriften um 1800. Welche Medien wurden in der baltischen Aufklärung speziell für die estnisch- und lettischsprachigen leibeigenen Bauern geschaffen? Das letzte Kapitel „Medien der Volksaufklärung“ stellt einige davon vor. Eine zentrale Bedeutung kommt dem Medium der Übersetzung zu, insofern im Baltikum Übersetzungen einen äußerst großen Anteil an der Buchproduktion hatten. Silke Pasewalck stellt in ihrem Beitrag die Doppelbödigkeit der Medienpraxis des Übersetzens für die baltische Aufklärung am Beispiel von Schillers Ode An die Freude heraus und zeigt an zwei Übersetzungen der Ode ins Estnische unterschiedliche Strategien und translatorische Wirkungen sowie generell Verschiebungen der translatorischen Absichten auf, die über die Epoche der Volksaufklärung hinausreichen. Pauls Daija erläutert am Beispiel des lettischsprachigen Kalenders in Livland und Kurland, wie dieses für den gemeinen Mann gedachte Druckmedium von der Aufklärung grundsätzlich geformt und umfunktionalisiert

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wurde. Māra Grudule beschreibt, wie die in Deutschland verbreitete Liedkultur in Lettland Fuß fasste und welche Rolle das aus dem Deutschen übersetzte ,Lied im Volkston‘ in der Volksaufklärung und in der späteren lettischen Liedkultur hatte. Das Ziel dieses Buches ist es, das Baltikum als eine exemplarische europäische Aufklärungsregion herauszustellen und durch unterschiedliche disziplinäre Zugriffe (Germanistik, Geschichte, Komparatistik, Kunstgeschichte und Theologie) die Wirksamkeit aufklärerischer Medienformate an diesem regionalen Beispiel sinnfällig zu machen. Wenn damit das Interesse heutiger Forschender und Studierender auf die baltische Aufklärung gelenkt würde, wäre ein wichtiges Anliegen des Buches erfüllt.

I. Text, Bild und Architektur als Leitmedien der Aufklärung

Daniel Fulda

Neue periodische Schriftmedien, das Medium Bild und die Programmatik der Aufklärung

1. Zur Entstehung des Begriffs ,Aufklärung‘ in der Zeitungstheorie um 1700 Soweit wir wissen, steht der früheste Beleg für das Wort ,Aufklärung‘ – verstanden als intellektuelle Verbesserungsanstrengung – in Kaspar Stielers Zeitungs Lust und Nutz von 1695, einer ‚Benutzungsanleitung‘ für Zeitungen und zugleich Theorie des damals recht neuen Mediums, die man als „‚medienwissenschaftlichen‘ Grundstein“ eingestuft hat:1 „Gleich wie in allen dingen / so zur Aufklär- und Verbesserung des Verstandes gehören / zuförderst eine gute Natur oder Geburts-Art gehöret [...]: also erfodern wir auch bey der Zeitung eine Geistigkeit / gutes Gehirn und ingenium / das schnell und durchdringend sey / eine Sache bald begreifen / sich darein finden und solche vernünftig entscheiden und richten könne.“2 In seinem monumentalen Wörterbuch Der Deutschen Sprache Stammbaum und Fortwachs, oder Teutscher Sprachschatz, das vier Jahre zuvor erschienen war, hatte Stieler eine solche Bedeutung noch nicht angeführt. Dort hielt er ausschließlich eine meteorologische Verwendung fest: „Aufklären [...]. Das Wetter kläret sich auf / nubes dissipantur, cœlum fit sere1 Ina Timmermann: Didaktische Implikationen der deutschen Zeitungsdebatte von Mitte des 17. bis Mitte des 18. Jahrhunderts: Comenius, Weise, Fritsch, Stieler, Ludewig und Schumann. In: MorgenGlantz 12 (2002), S. 136–166, hier S. 151. Grundlegend zur frühneuzeitlichen Zeitungsgeschichte sowie zur Theorie des neuen Mediums vgl. Hedwig Pompe: Famas Medium. Zur Theorie der Zeitung in Deutschland zwischen dem 17. und dem mittleren 19. Jahrhundert. Berlin u. Boston 2012 (Communicatio Bd. 43). 2 [Kaspar von Stieler:] Zeitungs Lust und Nutz / Oder: derer so genanten Novellen oder Zeitungen / wirckende Ergetzlichkeit / Anmut / Notwendigkeit und Frommen; Auch / was bey deren Lesung zu lernen / zu beobachten und zu bedencken sey? Samt einem Anhang / Bestehend: In Erklärung derer in den Zeitungen vorkomenden fremden Wörtern [...]. Hamburg 1695, S. 337. Horst Stuke: Aufklärung. In: Otto Brunner, Werner Conze u. Reinhart Koselleck (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Bd. 1–8 (in 9 Bd.en). Stuttgart 1972–1997, Bd. 1, S. 243–342 behandelt die Begriffsgeschichte vor 1750 sehr knapp (S. 247–249) und übergeht wichtige Belege. Wertvoll ist die komparatistische Begriffsdiskussion von Carsten Zelle: Was ist und was war Aufklärung? In: Herbert Beck, Peter C. Bol u. Maraike Bückling (Hg.): Mehr Licht. Europa um 1770. Die bildende Kunst der Aufklärung. München 1999, S. 449–459. Zur Begriffsentstehung von ,aufklären‘/,aufgeklärt‘/,Aufklärung‘ vgl. auch meine Beiträge: „Aufklärung“ in den 1710/20er Jahren: Theologischer Kampfbegriff vs. philosophisches Programmbild. In: Johannes Birgfeld, Stephanie Catani u. Anne Conrad unter Mitarbeit von Sophia Mehrbrey (Hg.): Aufklärungen. Strategien und Kontoversen vom 17. bis 21. Jahrhundert. Heidelberg [erscheint 2021] sowie, zu Gottsched: Position im Netzwerk der europäischen Aufklärung. In: Sebastian Meixner u. Carolin Rocks (Hg.): Gottsched-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart [erscheint 2022].

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num [die Wolken werden auseinandergetrieben, der Himmel wird heiter]. [...] Aufklärung / sive Ausklärung / die / serenitas [Heiterkeit]“.3 Demnach sprach man dann von ,Aufklärung‘, wenn der Himmel klar oder zumindest heiter wird, weil die Wolken sich (weitgehend) verziehen. Diesen semantischen Kern des Klarwerdens und des dadurch ermöglichten weiten, ungehinderten Blicks übertrug Stieler in seiner Zeitungslehre auf die Arbeit des Verstandes: Der klare, weil aufgeklärte Verstand4 weiß die Dinge zu durchdringen, richtig zu erfassen und vernünftige Urteile zu fällen. Die Übertragung der meteorologischen Bedeutung auf den kognitiven Bereich lag durchaus nahe, war die (deutliche) ‚Klarheit‘ des Denkens in der rationalistischen Philosophie seit Descartes doch zentral.5 Vorterminologisch kann lat. claritas sowohl ‚Helligkeit‘ (der Sonne z.B.) als auch ‚Deutlichkeit‘ (z.B. des Ausdrucks) heißen. Auch das lateinische Aquivalent der meteorologischen Bedeutung von ‚Aufklärung‘ – serenitas – begünstigte die Übertragung auf den Menschen, wenngleich nur vom Prinzip her, denn die übertragene serenitas meint nicht den Verstand, sondern das Gemüt: ‚Heiterkeit‘ im Sinne von ‚frei von Sorgen oder schlechter Laune‘. Die von Stieler vollzogene oder jedenfalls notierte semantische Erweiterung des Aufklärungsbegriffs war einerseits nicht willkürlich, sondern vollzog einen recht naheliegenden Schritt, der durch das lat. ,serenitas‘, eine etablierte philosophische Terminologie sowie den unter Gelehrten beliebten Gebrauch von Wettermetaphorik gut vorbereitet war. Andererseits war sie originell und ohne direktes Vorbild in einer anderen Sprache.6 Hervorzuheben ist zudem die Grundsätzlichkeit des mit dem Wort verbundenen Anspruchs, denn Stielers „Auffklär- und Verbesserung des Verstandes“ bezeichnet nicht bloß Einzelfälle verbesserter Erkenntnis, sondern die Arbeit an einer verbesserten Erkenntnisfähigkeit, d.h. eine Strukturverbesserung. Diese Verbesserung bringt Stieler eng mit dem Zeitunglesen zusammen. Denn der Zeitungsleser bedürfe eines aufgeklärten Verstandes, um das Gelesene erfassen und beurteilen zu können, während das Zeitunglesen umgekehrt zur ‚Aufklär- und Verbesserung des Verstandes‘ beitrage. Dass Stieler auch diesen reversen Nutzen im Blick hat, erhellt aus den Gründen, mit denen er gleich zu Beginn seines Werkes 3 Kaspar von Stieler: Der Deutschen Sprache Stammbaum und Fortwachs, oder Teutscher Sprachschatz [...]. Nürnberg 1691, Sp. 968f. 4 Die Partizip-Perfekt-Form ,aufgeklärt‘ verwendet Stieler selbst allerdings nicht. Ihr Gebrauch war zu seiner Zeit aber schon möglich, wie bei Joachim von Sandrart belegt ist: „die rechte gesunde und aufgeklärte Vernunfft / die endlich überall den Obsieg behält“ (L’Academia Todesca della Architectura, Scultura & Pittura: Oder Teutsche Academie der Edlen Bau- Bild- und Mahlerey-Künste. Bd. 2,3. Nürnberg 1679, S. 95). 5 Vgl. G[ottfried] Gabriel: Klar und deutlich. In: Joachim Ritter, Karlfried Gründer u. Gottfried Gabriel (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 1–13. Basel 1971–2007, Bd. 4, Sp. 846– 848. 6 Ausführlicher diskutiere ich die Eigenständigkeit der Entstehung des deutschen Aufklärungsvokabulars in einer in Arbeit befindlichen Studie über die frühe Begriffsgeschichte von ‚aufklären‘ und ‚Aufklärung‘ und gehen dabei auch der Frage nach, ob dt. ,aufklären‘ „als Übersetzung von ,éclaircir‘ und ,éclaircissement‘ entstanden“ ist, wie vermutet wurde (Fritz Schalk: Zur Semantik von ‚Aufklärung‘ in Frankreich. In: ders.: Studien zur französischen Aufklärung. 2., verb. u. erw. Aufl. Frankfurt a. M. 1977 (Das Abendland N. F. Bd. 8), S. 323–339, hier S. 323).

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für das Zeitunglesen wirbt: „Will aber wer klug seyn und werden / [...] so muß er die Zeitungen wissen / er muß sie stets lesen / erwägen / merken und einen Verstand haben / wie er mit denenselben umgehen soll.“7 Näher betrachtet, machen nicht allein die Informationen, die Zeitungen überbringen, den verheißenen Lerneffekt aus; vielmehr folgt dieser aus dem durch Zeitungslektüre zu schulenden Umgang mit einer Fülle von Informationen. Der aufmerksame Zeitungsleser gewöhnt sich, so Stieler, an einen methodischen Zweifel an unbewiesenen Behauptungen. Ihn vermag nichts mehr so leicht zu täuschen, er übt sich im Ordnen und Beurteilen von Informationen,8 kurzum: „Die Zeitungen sind der Grund / die Anweisung und Richtschnur aller Klugheit / und / wer die Zeitungen nicht achtet / der bleibet immer und ewig ein elender Prülker9 und Stümper in der Wissenschaft der Welt und ihrem Spielwerk“.10 Schauen wir uns noch ein bisschen genauer an, welche Vorstellung von Aufklärung Stieler mit dem Zeitunglesen verknüpft. Weit außerhalb seines Horizonts liegt die Etablierung einer kritisch räsonierenden Öffentlichkeit, die beansprucht, über die Handlungen der Herrschenden und Amtsträger urteilen sowie über die Ordnung der Gesellschaft befinden zu können, wie es sich Kant fast neunzig Jahre später in seiner Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? vorstellte. Nicht einmal an die Diskussion unterschiedlicher Meinungen zu überindividuell interessierenden Fragen, wie es die Absicht von Christian Thomasius mit seiner 1688–90 erschienenen Zeitschrift Monaths-Gespräche war, dachte Stieler. Die Zeitungen, die er im Sinn hatte, berichteten vom Leben, Tun und schließlich Sterben der Großen, von Krieg, Diplomatie und Repräsentation – mit täglichem Erscheinen taten das zum ersten Mal, seit 1650, die Einkommenden Zeitungen aus Leipzig; wöchentlich erscheinende Zeitungen entstanden in den mittel- und westeuropäischen Ländern bereits ab 1605, zuerst in Straßburg. Trotzdem darf man Stielers basalen Impuls aufklärerisch nennen, denn er verlangt dem Privatmann ab, sich als zu eigenem Urteil berufenen Teil der „StatsHandels- und Bürgerl. Gesellschaft“ zu begreifen.11 Die zu erwerbende Urteilsfähigkeit denkt sich Stieler zwar lediglich als für den Einzelnen nützlich, und er nennt auch das ursprünglich höfische Kompetenzmodell, das hier zugrunde liegt, nämlich den „Politicus“,12 der sich in einer unübersichtlichen Interessenkonkurrenz zu behaupten weiß, weil er sie zu durchschauen vermag. Für die deutsche Frühaufklärung ist es indes generell charakteristisch, dass sie den Anspruch auf Urteilskompetenz und Handlungsmächtigkeit für einen erweiterten, meist bürgerlichen Personenkreis erhob, indem sie das Politicusideal, das bislang auf das Hofleben ausgerichtet war, für ‚jedermann‘ adaptierte. Der von Thomasius in seinem Kurtzen Entwurff der 7 8 9

[Stieler:] Zeitungs Lust und Nutz (= Anm. 2), Vorrede, unpag. Vgl. ebd., S. 350, S. 347 u. S. 337. Niedersächsisch für ‚Stümper‘, vgl. Johann Christoph Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart mit beständiger Vergleichung der übrigen Mundarten, besonders aber der oberdeutschen. Bd. 1–4. 2. verm. und verb. Ausg. Leipzig 1793–1801, Bd. 4, Sp. 476. 10 [Stieler:] Zeitungs Lust und Nutz (= Anm. 2), Vorrede, unpag. 11 Ebd. 12 In der Pluralform „Politici“ ebd.

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Politischen Klugheit von 1707 unternommene Nachweis, dass auch der Kaufmann, der Offizier, die Gelehrten aller Fakultäten und sogar das „Frauenzimmer“ von den Kompetenzen eines Politicus profitiere,13 findet sich in Stielers Zeitungs Lust und Nutz in strukturell derselben Weise mit Bezug auf die Zeitungslektüre, denn die soll im Grunde dieselben Fähigkeiten vermitteln. Zwar bleibt die von Stieler gewünschte Befähigung zum Politicus durch Zeitungslektüre stärker als Thomasius’ Aufforderung zum Selbstdenken und Selbsthandeln in der frühneuzeitlichen Hierarchie der Stände befangen. Auch Stieler jedoch hat Anteil an den für die deutsche Frühaufklärung charakteristischen Aufbrüchen zur Erweiterung von Handlungsmöglichkeiten für Gelehrte und Bürger durch verbreiterte und vertiefte Information und Schärfung des Verstandes und der Urteilskraft. Insofern macht es Sinn, dass das Substantiv ,Aufklärung‘ (mit nicht-meteorologischer Bedeutung) in einer Zeitungslehre den ersten, wenn auch einmaligen und nicht mehr als beiläufigen Auftritt hat.

2. Aufklärung als ‚Ereignis‘ in der Mediengeschichte? Weil Stieler sein Lob der Zeitung mit einem neuen, nicht mehr nur meteorologischen Begriff von Aufklärung verband, passt er bestens zu einem Tagungsband mit dem Thema Medien der Aufklärung – Aufklärung der Medien, und zwar zu beiden Perspektiven, die der Tagungstitel anreißt. Fortfahren möchte ich mit ein paar Beobachtungen zur Forschungslage, um dann gewissermaßen mit Stielers Hilfe eine partielle Kritik zu formulieren. Die Analyse des aufklärerischen Mediengebrauchs sollte nicht, so mein Plädoyer, gegen die Aufmerksamkeit für die Programmatik der Aufklärer ausgespielt werden. Die wohl prominenteste Rolle für die Aufklärung wird ‚den Medien‘ in einem amerikanischen Band von 2010 zugewiesen, herausgegeben von den Anglisten Clifford Siskin und William Warner. Der Titel This Is Enlightenment spielt absichtsvoll auf Kants Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? an, die Siskin und Warner für die Zentralreferenz eines ideengeschichtlichen Verständnisses der Epoche halten.14 Dem setzen sie die Frage nach den konkreten Vorgängen des Aufklärens entgegen. Übergehen können wir, dass Kants Position damit ziemlich verzeichnet wird, da er ja keineswegs bloß den „Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“ als Kerngehalt von Aufklärung postulierte, sondern auch die Mittel angab, die dies befördern sollten, nämlich einen bestimmten Medienbestand und den freien Mediengebrauch, der eine deliberative Öffentlichkeit konstituiere.15 Laut Siskin und Warner vollzieht sich Aufklärung stets unter Gebrauch bestimmter Medi13 Vgl. Christian Thomasius: Ausgewählte Werke. Bd. 16: Kurzer Entwurf der politischen Klugheit [1707]. Vorw. v. Werner Schneiders. Personen- und Sachreg. v. Kay Zenker. Hildesheim, Zürich u. New York 2002, S. )(3r. 14 Vgl. Clifford Siskin u. William Warner: This Is Enlightenment. An Invitation in the Form of an Argument. In: dies. (Hg.): This Is Enlightenment. Chicago u. London 2010, S. 1–33, hier S. 2. 15 Immanuel Kant: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?. In: Ehrhard Bahr (Hg.): Was ist Aufklärung. Thesen und Definitionen. Stuttgart 1974, S. 9–17, hier S. 10.

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en und in Beziehungen, die von Medien gestiftet werden. Als allgemeine Aussage ist dies zweifellos zustimmungsfähig, aber auch banal, besonders wenn der Medienbegriff so weit gefasst wird wie hier. Denn die zu untersuchende „mediation“ wird so bestimmt: „in its broadest sense as shorthand for the work done by tools, by what we would now call ,media‘ of every kind – everything that intervenes, enables, supplements, or is simply in between.“16 Profil und eine gewisse Brisanz gewinnt dieser Ansatz erst dadurch, dass er von der These begleitet wird: „Enlightenment is an event in the history of mediation.“17 Die Aufmerksamkeit für die Medien, Werkzeuge generell und alle kommunikativen Beziehungen fungiert bei Siskin und Warner nicht allein als methodisches Prinzip, sondern soll vor allem auch einen neuen Umriss der Epoche Aufklärung begründen. Die Epoche der Aufklärung als „event“, als Ereignis, soll heißen: als Einschnitt in der Medien- bzw. ‚Mediations‘-Geschichte – diese These würden wohl nicht viele Medienhistoriker unterschreiben. Üblich ist es eher, die prinzipielle Konstanz des Medienensembles seit dem 16./17. Jahrhundert zu betonen. Drucktechnisch veränderte sich im 18. Jahrhundert so gut wie nichts, auch wenn die Buch-, Zeitschriftenund Zeitungsproduktion in der zweiten Jahrhunderthälfte deutlich anstieg.18 Erst die Erfindung der Schnellpresse mit rotierenden Walzen im Jahr 1812 war ein technischer Durchbruch, der eine wirkliche Massenproduktion ermöglichte.19 Der Übergang zur modernen Wirtschaftsform des Nettobuchhandels fiel erst in die 1760er Jahre und ist nur für Deutschland wichtig. Zeitungen gab es seit dem frühen, Zeitschriften seit dem mittleren 17. Jahrhundert; die Veränderungen in diesem Bereich bestehen in deutlichen quantitativen Zuwächsen sowie generischer (Moralische Wochenschriften) und fachlicher Ausdifferenzierung mit korrespondierender Differenzierung der Publika (in Deutschland gibt es erst seitdem Zeitschriften für Leser, die des Lateinischen nicht mächtig sind).20 Ähnliches gilt für Almanache und Kalender. Auch der Briefverkehr änderte sich grundsätzlich nicht; vielmehr wurden die Möglichkeiten, die der regelmäßige Postverkehr bereits im 17. Jahrhundert geschaffen hatte, im 18. Jahrhundert von immer mehr Menschen genutzt, nämlich nicht nur von den Herrschenden und ihren Beauftragten sowie den Gelehrten.21 In Deutschland ist der daraus sich ergebende Einschnitt übrigens deutlicher als etwa in Frankreich, wo bereits im 17. Jahrhundert mehr Gruppen an der Briefkommunikation teilhatten, u.a. weit mehr Frauen. Der zuvörderst quantitative Zuwachs der Nutzung von distanzüberwindenden Medien ist keineswegs gering zu schätzen. Denn damit traten neue soziale Gruppen in die Distanzkommunikation ein, und die einzige nicht-herrschende Gruppe, die 16 Siskin u. Warner: This Is Enlightenment (= Anm. 14), S. 5. 17 Ebd., S. 1. 18 Ernst Fischer, Wilhelm Haefs u. York-Gothart Mix: Einleitung: Aufklärung, Öffentlichkeit und Medienkultur in Deutschland im 18. Jahrhundert. In: dies. (Hg.): Von Almanach bis Zeitung. Ein Handbuch der Medien in Deutschland 1700–1800. München 1999, S. 9–23, hier S. 10. 19 Vgl. Dietrich Kerlen: Einführung in die Medienkunde. Stuttgart 2003, S. 140–142. 20 Ebd., S. 118f. u. S. 130f. 21 Ebd., S. 148–153.

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auch bisher schon eifrig daran beteiligt war – die Gelehrten –, kommunizierte nun auch mit Nicht-Gelehrten. Berücksichtigt man, dass nicht immer selbst gelesen, sondern häufig auch vorgelesen wurde, so stellt sich der erweiterte Nutzerkreis als nicht einmal beschränkt auf die wenigen Prozent der Bevölkerung dar, die längere Texte einerseits lesend zu erfassen, andererseits zu kaufen in der Lage waren. Und während die Erweiterung des Mediennutzerkreises, wie angedeutet, eine Differenzierung des Medienangebots nach Adressatengruppen nach sich zog, ist eine gewissermaßen gegenläufige Entwicklung nicht weniger wichtig: die Entstehung einer Öffentlichkeit als virtueller Stätte für prinzipiell jedermann, um Position zu allen Fragen des Lebens zu beziehen, soweit sie nicht religiös oder politisch tabuisiert waren, und darüber in Aushandlung mit anderen zu treten.22 Daher konstatieren Ernst Fischer, Wilhelm Haefs und York-Gothart Mix mit Blick auf die aufklärerische Nutzung von Medien und die Funktion, die ihnen zugeschrieben wurde, nichts Geringeres als einen „Bewußtseinssprung“: „Das 18. Jahrhundert behauptet in einer Vorgeschichte der Informationsgesellschaft deshalb einen besonderen Platz, weil im Zeichen der Aufklärung erstmals ein allgemeines Bewußtsein von der Macht und der gesellschaftsverändernden Wirkung von Medien entstanden ist.“23 Mit der Ausweitung und Ausdifferenzierung von medialer Kommunikation sowie der Entstehung des Ideals einer medienbasierten Deliberationssphäre von höchster Klärungskompetenz sind zweifellos Phänomene angesprochen, die sowohl medienhistorisch als auch aus der Perspektive der Aufklärungsforschung hochbedeutend sind. Wenn aber eine neue, partizipativ und funktional erweiterte Nutzung auch zuvor schon vorhandener Medien charakteristisch ist für die Aufklärungsepoche, wenn also mehr und andere Menschen Medien genutzt haben, um damit ihren Wahrnehmungsbereich, ihren Denkhorizont und ihren Handlungsspielraum zu erweitern und letztlich nicht weniger als ein neues Bild von der Welt und der Rolle des Menschen darin zu schaffen, dann wählt eine Mediengeschichtsschreibung, die dem ‚Kantischen Anthropozentrismus‘ entkommen möchte und deshalb „the work done by tools“ ins Zentrum rückt, nicht den optimalen Ansatz. Wie die Medien der Aufklärung funktionierten, sagt zwar mehr über den Durchsetzungsgrad, man könnte auch sagen: die Realität von Aufklärung im 18. Jahrhundert als die Programmschriften der bekannten Aufklärer. Insoweit kann man sich Siskins und Warners Kritik an primär ideengeschichtlichen Ansätzen gut anschließen. Die beiden gehen jedoch weiter und reduzieren Aufklärung auf einen bestimmten Medienbetrieb: „To identify Enlightenment as an ,event‘ – one that conventionally occupies roughly a half century between the 1730s–1740s and the 1780s – we take a quantitative turn, focusing on the number as well as the kinds of mediation enabled by the early eighteenth century. Enlightenment emerged, we argue, as an effect of these ,proliferating mediations‘.“24 Ein ‚wuchernder‘ Medienbetrieb, diese vermutlich mit Absicht etwas provokative Formulierung zielt auf eine – nach uns ge22 Vgl. James Van Horn Melton: The Rise of the Public in Enlightenment Europe. Cambridge 2009. 23 Fischer, Haefs, Mix: Einleitung (= Anm. 18), S. 9. 24 Siskin, Warner: This Is Enlightenment (= Anm. 14), S. 11.

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läufiger Periodisierung – in der mittleren Aufklärung erreichte Verdichtung, in der z. B. viele ähnliche Zeitschriften nebeneinander existierten, sich Konkurrenz machten und voneinander abschrieben.25 Es ist keine übertriebene Zuspitzung, wenn man so resümiert: Aufklärung finden Siskin und Warner dort, wo ein Medienbetrieb sich selbst antreibt. Als Bedingungen dieses emergenten Funktionierens thematisieren sie u.a. die Gelehrtengesellschaften sowie die bereits genannten nachrichtentechnischen und publizistischen Innovationen des 17. Jahrhunderts, die regelmäßige Post und die periodische Presse. Wie der qualitative Sprung zustande kam von dieser „cardinal mediations“ genannten Vorgeschichte zu den „proliferating mediations“ seit den 1730er Jahren, die die Aufklärung ‚hervorgebracht‘ habe, bleibt dagegen offen.26 Aufklärerische ‚Ideen‘, die womöglich einen veränderten Umgang mit Medien angestoßen haben – etwa die von Stieler propagierte Vorstellung, auch der Privatmann solle sich über die Vorgänge im Staat informieren, oder das Thomasianische Ideal, dass Gelehrte in die Gesellschaft wirken27 –, wollen Siskin und Warner ihrem Ansatz gemäß nicht nennen. Als Argument dafür, dass sie von den Absichten und Idealen der Akteure absehen, führen Siskin und Warner ergänzend an, dass erst „more or less retroactively“ von ,Enlightenment‘ gesprochen worden sei.28 Offensichtlich meinen sie damit nicht den englischen Begriff, der als Bezeichnung für die intellektuelle Bewegung des 18. Jahrhunderts tatsächlich erst im Laufe des Folgejahrhunderts gebildet wurde, denn mit Bezug auf ihn hätte es ‚completely retroactively‘ heißen müssen.29 Vielmehr sehen sie den Ursprung des Aufklärungsbegriffs in der Debatte, die 1783/84 in der Berlinischen Monatsschrift geführt wurde; eben damals sei das damit Bezeichnete jedoch schon an sein Ende gekommen.30 Wenn aber in der Aufklärung genannten Epoche die längste Zeit noch gar nicht explizit von Aufklärung die Rede war: ist dann mit Siskin und Warner zu schließen, dass ein Programm von Aufklärung nicht entscheidend gewesen sei? Eine solche Argumentation ist doppelt anfechtbar: Zum einen stellt der historische Gebrauch eines bestimmten Begriffs weder positiv noch negativ einen sicheren Indikator für das Vorhandensein von Absichten dar, die heute mit diesem Begriff verbunden werden.31 Zum anderen stimmt die von Siskin und Warner unterstellte Begriffsgeschichte einfach nicht: Wie wir durch Stieler und andere

25 Vgl. ebd., S. 15f. 26 Ebd., S. 11 (beide Zitate im Orig. hervorgehoben). 27 Vgl. Frank Grunert: Die Pragmatisierung der Gelehrsamkeit. Zum Gelehrsamkeitskonzept von Christian Thomasius und im Thomasianismus. In: Ulrich J. Schneider (Hg.): Kultur der Kommunikation. Die europäische Gelehrtenrepublik im Zeitalter von Leibniz und Lessing. Wiesbaden 2005 (Wolfenbütteler Forschungen Bd. 109), S. 131–153. 28 Siskin, Warner: This Is Enlightenment (= Anm. 14), S. 9. 29 Vgl. Jonathan C. D. Clark: The Enlightenment. Catégories, traductions, et objets sociaux. In: Lumières 17/18 (2011), S. 19–39, hier S. 28. 30 Vgl. Siskin, Warner: This Is Enlightenment (= Anm. 14), S. 2 u. S. 11. 31 Ausführlicher dazu Daniel Fulda: Gab es ‚die Aufklärung‘? Einige geschichtstheoretische, begriffsgeschichtliche und schließlich programmatische Überlegungen anlässlich einer neuerlichen Kritik an unseren Epochenbegriffen. In: Das achtzehnte Jahrhundert 37 (2013), S. 11–25.

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Belege wissen, beginnt die Begriffsgeschichte von ,Aufklärung‘ (bezogen auf kognitive Verbesserungen) bereits um 1700, und zu frz. ,lumières‘ ließen sich noch einige Jahrzehnte ältere Belege anführen.32 Im Englischen tritt das Partizip ,enlightened‘ 1712 mit säkularer Bedeutung auf, und zwar in der Moralischen Wochenschrift The Spectator, also in einem neuen periodischen Printmedium,33 analog zur von Stieler theoretisierten Zeitung. Der Sachlage angemessener scheint es mir, sowohl nach den medialen Ermöglichungsbedingungen zu fragen als auch nach den Absichten und sogar dem Programm der Aufklärer. Diese beiden Forschungsansätze lassen sich produktiv kombinieren, indem man die mediale Repräsentation, Distribution und womöglich auch ‚Proliferation‘ programmatischer Entwürfe von Aufklärung untersucht. Den größten Gewinn gegenüber traditionellen ideengeschichtlichen Ansätzen verheißt dies, wenn nicht allein Schriftmedien herangezogen werden. Das klingt sehr naheliegend, wurzelt die vor gut 30 Jahren einsetzende breite Adaption des Medienbegriffs in den Geisteswissenschaften doch in einem von den neuen, elektronischen Bildmedien ausgelösten Schock. Damals kam das ‚Ende der Gutenberg-Galaxis‘, das Marshall McLuhan schon 1962 prophezeit hatte,34 in aller Munde. Trotzdem suchte man das Programm der Aufklärung weiterhin insbesondere durch Textinterpretation zu ergründen, keineswegs ganz zu Unrecht – da die Aufklärer erklärtermaßen auf die schriftliche Argumentation als Mittel der eigenen Konzeptionsbildung sowie der Überzeugung anderer setzten –, aber wohl zu einseitig. Denn Bildmedien sind im 18. Jahrhundert weit präsenter, als die vorwiegende Konzentration der Aufklärungsforschung – und zwar auch der medienorientierten – auf Schriftmedien vermuten lässt.35 Was die Bevorzugung von Schriftmedien angeht, sei exemplarisch auf das verdienstvolle Handbuch der Medien in Deutschland 1700–1800 verwiesen, das sich vor allem unterschiedlichen Zeitschriftengenres widmet, ohne näher auf deren Bildanteile einzugehen,36 sowie noch einmal auf den Band von Siskin und Warner.

32 Vgl. Roland Mortier: ‚Lumière‘ et ‚Lumières‘. Histoire d’une image et d’une idée. In: ders.: Clartés et ombres du siècle des Lumières. Etudes sur le XVIIIe siècle littéraire. Genève 1969, S. 13–59; Karin Elisabeth Becker: Licht – [L]lumière[s] – Siècle des Lumières. Von der Lichtmetapher zum Epochenbegriff der Aufklärung in Frankreich. Phil. Diss. Köln 1994. 33 No. 419. Religiös verstanden, ist ,to enlighten‘ auch im 16. und 17. geläufig, vgl. das Oxford English Dictionary (www.oed.com), s.v. to enlighten [15.10.2018]. 34 Vgl. Marshall McLuhan: The Gutenberg Galaxy. The Making of Typographic Man. London 1962. 35 Vgl. Daniel Fulda (Hg.): Aufklärung fürs Auge. Ein anderer Blick auf das 18. Jahrhundert. Halle 2020. Der folgende Abschnitt III. deckt sich in großen Teilen mit der dortigen Einleitung „Vom Nutzen der Bilder für unser Bild von der Aufklärung“, S. 6–29, hier S. 13–22. 36 Vgl. Fischer, Haefs, Mix (Hg.): Von Almanach bis Zeitung (= Anm. 18). Lediglich Reinhard Siegert geht in seinem Beitrag über die Medien der Volksaufklärung (S. 374–387) knapp auf Bildmedien ein (S. 383f.). Siegert sieht, wohl zu Recht, eine erhebliche Diskrepanz zwischen dem Bild- bzw. „Augenlust“-Verlangen des ‚gemeinen Mannes‘ und der Bildskepsis der Aufklärer, insbesondere der Religionsreformer. Keine Vorbehalte habe es gegen „Sachillustrationen in Volkslesestoffen“ gegeben; vor allem Rudolph Zacharias Beckers Noth- und Hilfsbüchlein für Bauersleute von 1788 sei damit erfolgreich gewesen.

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Ob Bildmedien einen nennenswerten Beitrag zur Entwicklung und Verbreitung aufklärerischer Programmatiken geleistet haben, ist die offene Frage, der im Folgenden zumindest ein Stück weit nachgegangen sei.

3. Die Sonne, die sich gegen Wolken durchsetzt, als Programmbild der hallischen Frühaufklärung Beispielhaft diskutiert wird im Folgenden eine Gruppe von ‚Bildern der Aufklärung‘, die das Motiv des zunehmenden Lichts, das die Dunkelheit vertreibt, gemeinsam haben, meist in Gestalt der Sonne, die die Wolken durchbricht (zu einem Bild ohne Sonne vgl. Abschnitt IV.).37 Es handelt sich also um Bilder, die die meteorologische Ursprungsbedeutung von ‚Aufklärung‘ ins Bild setzen. Für die Programmatik von Aufklärung im philosophischen und human-praktischen Sinne sind sie einschlägig, sobald es sich trotz der dargestellten naturhaften Lichtphänomene erkennbar um Verbildlichungen eines geistigen, allgemein kulturellen und schließlich auch sozialen Verbesserungsprogramms handelt. Für die Programmgeschichte der Aufklärung sind einige sogar höchst wichtig, weil sie aus dem frühen 18. Jahrhundert datieren, aus dem wir relativ wenige Belege für das Wort oder gar den Begriff ,Aufklärung‘ haben. Wie gesagt, wurde das Wort mit der bei Stieler erstmalig greifbaren kognitiven Bedeutung nicht sogleich geläufig. Prominenter platziert und, wie es scheint, auch häufiger sind zunächst äquivalente Bilder, die motivisch den ursprünglichen meteorologischen Bedeutungsgehalt aufgreifen, aber zu dem Zweck, die gemeinte intellektuelle Verbesserung zu veranschaulichen. Das klassische Motiv ist die Sonne, die an einem Himmel erstrahlt, auf dem sich die Wolken verziehen. Zum ersten Mal finde ich dieses Motiv in jener Bedeutung als Titelvignette der 45bändigen Reihe Gundlingiana, die 1715 bis 1732 erschien, einer Sammelschrift kleinerer Beiträge des Juristen, Philosophen und Historikers Nicolaus Hieronymus Gundling (1671–1739), der einer der führenden Köpfe an der 1694 neu gegründeten Universität Halle war (s. Abb. 1). Deutlicher könnte die Bildgebung kaum sein: Die Wolken sind überaus dunkel, und dass sie von der Sonne vertrieben werden, wird eigens noch einmal gesagt: „Dispellam“ (ich werde [die Wolken] auseinandertreiben). Noch ist der dargestellte Himmel nicht hell, vielmehr überwiegen die dunklen Wolken. Die Sonne sieht sich dadurch offensichtlich umso mehr herausgefordert, ihre Kraft wirksam werden zu lassen und die „trüben Irrthums-Wolcken“ zu vertreiben, wie Gundling in seiner

37 Als konzisen Überblick über die Ikonographie der Aufklärung vgl. Martin Schieder: Aufklärung. In: Martin Warnke, Uwe Fleckner u. Hendrik Ziegler (Hg.): Handbuch der politischen Ikonographie. Bd. 1–2. München 2011, Bd. 1, S. 95–102. Die im vorliegenden Beitrag erörterte Bildlichkeit, die an die meteorologische Ausgangbedeutung von ‚Aufklärung‘ anknüpft, behandelt Schieder erstaunlicherweise nicht. Grundsätzlich zur Methodik einer die Begriffsgeschichte erweiternden Bildergeschichte vgl. Barbara Stollberg-Rilinger: Die vergessenen Bilder der Begriffsgeschichte. In: Hubert Locher u. Adriana Markantonatos (Hg.): Reinhart Koselleck und die Politische Ikonologie. Berlin 2013 (Transformationen des Visuellen Bd. 1), S. 228–239, bes. S. 228f.

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Abb. 1: Titelseite von [Nicolaus Hieronymus Gundling]: Gundlingiana […]. Bd. 45. Halle 1732.

Vorrede schreibt.38 Ganz im Sinne der von Stieler notierten Bedeutungsübertragung, aber ohne den neuen Aufklärungsbegriff zu verwenden, steht die mit einem Gesicht versehene, also einem Kopf angenäherte, anthropomorphisierte Sonne für intellektuelle Verbesserung, die hier einen ausgesprochen kämpferischen Zug erhält. Dass er mit seinen Aufsätzen dazu beiträgt, ist der Anspruch, den Gundling mit dieser Vignette verkündet; entsprechend kann die erste Person Singular der Bildinschrift nicht allein auf die Sonne, sondern auch auf den Autor des Bandes bezogen werden. Aufklärung formiert sich hier als eruditio militans.39 38 [Nicolaus Hieronymus Gundling]: [„Vorrede“]. In: [ders.]: Gundlingiana […]. Bd. 1. Halle 1715, unpag., hier S. )(4v. 39 Vgl. die Formulierung bei Werner Schneiders: Hoffnung auf Vernunft. Aufklärungsphilosophie in Deutschland. Hamburg 1990, S. 83: „Aufklärung als philosophia militans!“ Gundling tritt in seiner Schriften-Reihe aber nicht bloß als Philosoph, sondern als in vielen Fächern bewanderter Gelehrter auf. Schneiders’ Studie (vgl. ebd., S. 49–109) ist die bislang wichtigste Untersuchung zur

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Abb. 2: Christian Wolff: Vernünfftige Gedancken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen / Auch allen Dingen überhaupt / Den Liebhabern der Wahrheit mitgetheilet. Halle 1720, Frontispiz.

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Die Sonne ist ein sehr starkes, ja das mächtigste Natursymbol überhaupt, absolut unverzichtbar für das Leben auf der Erde. Ihre allenfalls vorübergehend gehemmte Macht reklamierte Gundling für das eigene Unternehmen. Und er blieb damit keineswegs der einzige, gerade an der hallischen Universität nicht. Christian Wolff (1679–1754), der dort Mathematik und Philosophie lehrte, wählte fünf Jahre später das Sonnenmotiv für das Frontispiz der ‚Deutschen Metaphysik‘, seines metaphysischen Hauptwerks in deutscher Sprache von 1720 (s. Abb. 2). Wolff vertrat eine andere, systematischere Philosophie als der Thomasius-Schüler Gundling,40 aber er betrieb dieselbe Bildpolitik. Das meteorologische Aufklärungsbild ist demnach nicht bloß einer einzelnen akademischen Partei oder einem bestimmten Methodenideal zuzurechnen. „Lucem post nubila reddit.“ Aber wer bringt hier nach dem trüben Wetter das Licht zurück? Das Lateinische lässt nicht nur den Bezug auf die ungenannt bleibende Sonne zu, sondern ebenso andere sinnvoll zu ergänzende Subjekte, darunter auch, wie bei „dispellam“, den Autor. Weitere von der Bildtradition der Sonne her naheliegende Subjekte wären ein Herrscher oder Gott.41 Tatsächlich spricht Wolff in seinen Werken oder Briefen viel von der göttlichen Providenz, der er sich unterstellt sieht.42 Hinsichtlich des Frontispizes zu seiner Metaphysik war er gleichwohl selbstbewusst

Programmatik von Bildmedien (in diesem Fall: zahlreichen Frontispizen und Titelvignetten) in der deutschen Frühaufklärung. Schneiders stellt jedoch nicht die Frage, ob die historischen Akteure ihr Tun und Streben bereits mit dem Begriff Aufklärung – oder eben einer bildlichen Vorstellung davon – verbanden. 40 Zu Gundlings philosophischer Kritik an Wolff vgl. Simon Grote: The Emergence of Modern Aesthetic Theory: Religion and Morality in Enlightenment Germany and Scotland. Cambridge 2017, S. 57f. 41 Die Bildmotive der Sonne und anderer Himmelsphänomene wie Wolken oder Blitze haben bekanntlich eine lange und mächtige Tradition christlicher Besetzung. Diese auf Gott und seine Allmacht verweisenden Motive waren auch im 18. Jahrhundert noch sehr präsent, in einem generischen Spektrum von emblematischen Andachtsbildern bis hin zu den Frontispizen physikotheologischer Werke. Wie die motivisch ähnliche Bildlichkeit der Aufklärung im Allgemeinen und Wolffs im Besonderen darauf zurückgriff und sich zugleich davon absetzte, wie sie von der Prominenz der christlichen Bildtradition profitierte, aber auch in den Verdacht der Hybris geriet, kann hier nicht weiter verfolgt werden. Eine solche Untersuchung ist ein Forschungsdesiderat. Sie müsste auch den im ersten Drittel des 18. Jahrhunderts vergleichsweise häufigen, von der Forschung aber völlig übergangenen Gebrauch von ,Aufklärung‘, ,aufklären‘ und ,aufgeklärt‘ in religiösen Schriften einbeziehen, als Ansatz vgl. Fulda: „Aufklärung“ in den 1710/20er Jahren (= Anm. 2). Konkurrenzen und Interferenzen zwischen religiösem und profanem Zugriff prägten sowohl die sprachlichen Belege als auch die bildlichen Repräsentationen von ,aufklären‘/,Aufklärung‘. Zur Sonne als Herrschaftssymbol, insbesondere bei Ludwig XIV., vgl. Sibylle AppuhnRadtke: Sol oder Phaeton. Invention und Imitation barocker Bildpropaganda in Wien und Paris. In: Wilhelm Hofmann u. HansOtto Mühleisen (Hg.): Kunst und Macht. Politik und Herrschaft im Medium der bildenden Kunst. Münster 2005, S. 94–127 sowie Fulda: Einleitung (= Anm. 35), S. 17f. 42 Vgl. Heiner F. Klemme: „daß mich Gott der Universität gewiedmet hätte“. Christian Wolff und die Erfindung der allgemeinen praktischen Philosophie. In: Daniel Fulda u. Andreas Pečar (Hg.): Innovationsuniversität Halle? Neuheit und Innovation als historische und als historiographische Kategorien. Berlin u. Boston 2020 (Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung Bd. 63), S. 261–274.

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genug, expressis verbis zu verkünden, dass die lichtbringende Sonne mit seinem eigenen Verstand zu identifizieren ist. In der Ausführlichen Nachricht von seinen eigenen Schrifften von 1726 schreibt er, wegen der von ihm gepflegten Methode ‚geometrischer‘ Argumentation dürfe er mit Recht behaupten: „ich hätte in dieser Disciplin angefangen es lichte zu machen [es] wird sich niemand verständiges darüber ärgern können / daß ich vor mein Buch die Sonne stechen lassen / wie sie aus denen sich brechenden Wolcken hervor kommet und Hoffnung macht / es werde das Gewölcke nach und nach gantz vertrieben werden.“43 Der mit dem Sonnenbild verbundene Anspruch ist bei Wolff noch größer als bei Gundling: Neben dem Widerstreit zwischen Sonne und Wolken (soll heißen: zwischen richtiger Einsicht und irrigen Meinungen) wird in seinem Frontispiz die vom wiederkehrenden Licht erhellte Welt sichtbar. Über den Streit unter Gelehrten hinaus ist Erkenntnis hier als Welterkenntnis konzipiert und sogar mit einer Perspektive auf Weltgestaltung versehen – Weltgestaltung, wie sie die Bauwerke im unteren Bildteil symbolisieren. Eine Reihe weiterer Frontispize Wolffs hat ebenfalls eine Sonne als zentrales Bildsymbol über einer Landschaft mit den Bauten der Menschen, so dass man bei dieser Bildstruktur geradezu von einem Markenzeichen des Philosophen sprechen kann. Nicht alle davon zeigen sich verziehende Wolken, gewissermaßen in ‚wörtlicher‘ Treue zum meteorologischen Aufklärungsbegriff .44 Wohl aber gilt dies für das Frontispiz zum vierten Band von Wolffs Kleinen philosophischen Schrifften von 1739: Die Landschaft und die Gebäude entsprechen hier spiegelverkehrt dem Frontispiz der Deutschen Metaphysik, während die zwischen (veränderten) Wolken hervorstrahlende Sonne zu drei Vierteln von einem „duncklen Cörper“ (wohl dem Mond) verdeckt wird – und trotzdem ihre Strahlen in alle Richtungen schickt. „Das Licht nimt selbst nicht ab, ein dunckler Cörper machts, / daß ein und anderer, den vollen Schein nicht siehet / doch nur auf kurtze Zeit“, lautet hier die Subscriptio (die Inscriptio von 1720 würde ja nicht passen). Auch das ließ sich leicht auf den Autor beziehen: Wolff war 1723 auf Betreiben der Pietisten aus Halle vertrieben worden und musste an die Universität Marburg ausweichen; 1739 hingegen stand er schon in Verhandlungen über seine Rückkehr und durfte erwarten, Sieger zu bleiben. Dass Wolff ein Selbstverständnis als Aufklärer hatte und ebenso ein Programm, das er als Aufklärung im ganz konkreten Sinne begriff, lässt sich angesichts dieser Bildpolitik kaum in Abrede stellen, obschon er sich der entsprechenden Worte nicht bediente.45 43 Christian Wolff: Ausführliche Nachricht von seinen eigenen Schrifften, die er in deutscher Sprache von den verschiedenen Theilen der Welt-Weißheit heraus gegeben / auf Verlangen ans Licht gestellet. Frankfurt 1726, S. 313f. (§ 113). Wolffs eigene Erklärung übergehend, sieht Jeffrey L. Kosky: Arts of Wonder. Enchanting Secularity – Walter De Maria, Diller + Scofidio, James Turrell, Andy Goldsworthy. Chicago 2012, S. 5–7 in der Sonne hingegen das traditionelle Symbol für Gott, der bei Wolff die Letztursache aller Dinge bleibt. Kosky verwechselt zudem das leicht veränderte Frontispiz der Ausgabe von 1751 mit dem der Erstausgabe. 44 Vgl. die Abbildungen bei Schneiders: Hoffnung auf Vernunft (= Anm. 39), S. 88 (aus der Deutschen Ethik von 1720) u. S. 90 (aus den Anmerkungen zur Deutschen Metaphysik von 1724). 45 Zu Wolffs extensivem Gebrauch von Lichtmetaphorik (mit Sonne, Wolken, Schatten, Dunkelheit usw.), aber ohne ‚Aufklärung/aufklären‘ vgl. Vanessa Albus: Weltbild und Metapher. Unter-

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Abb. 3: Münze von Johann Christian Koch, 1740, Silber, Durchmesser 36,5 mm. Zentrale Kustodie der Martin-Luther-Universität Halle–Wittenberg, Inv.nr. MLU-MS 010. Der Kustodie danke ich für die Fotografie und die freundliche Abdruckgenehmigung.

Wäre der Anspruch, Aufklärung so machtvoll zu betreiben wie die Sonne, lediglich von wenigen einzelnen erhoben worden, so würde dies nicht rechtfertigen, von einer Aufklärungsbewegung zu sprechen. Dies ist erst dann angemessen, wenn sich eine positive und vor allem wiederholte und öffentliche Resonanz feststellen lässt. Tatsächlich wurde jener Anspruch von Wolff nicht nur durch ‚Bildpolitik‘ erhoben, sondern er wurde auch kommunikativ-medial approbiert, und zwar wiederum durch öffentlichen Bildeinsatz. 1740, als Wolff hochgeehrt nach Halle zurückkehrte, „unter Trompeten- und Paucken-Schall“, wie Zedlers Universal-Lexicon festhält,46 wurde eine Medaille mit seinem Porträt im Profil geprägt, die auf der Rückseite eine Ansicht der Stadt mit riesig darüber aufgehender Sonne im Strahlenkranz zeigt (s. Abb. 3). Über die im Hintergrund noch sichtbaren Wolken hat sich diese Sonne siegreich erhoben. Die Bildunterschrift „Halam reversus MDCCXXXX“ (1740 nach Halle zurückgekehrt) stellt unmissverständlich klar, dass der dargestellte Sonnenaufgang mit Wolffs Zurückberufung zu identifizieren ist. Die Bildumschrift lässt sich – dieses Muster finden wir hier zum wiederholten Male – sowohl auf das abgebildete Naturphänomen als auch auf die Person beziehen, deren Geist und Wirken durch das Bild der strahlenden Sonne charakterisiert und gepriesen wird: „Cunctando novo insurgit lumine“ (Zögernd [oder verweilend] hat er/sie sich von neuem mit Glanz/

suchungen zur Philosophie im 18. Jahrhundert. Würzburg 2001 (Epistemata. Reihe Philosophie. Bd. 306), S. 215–220. 46 Art. Wolf, (Christian, Reichs- Frey- und Edler Herr von). In: [Heinrich Zedler:] Grosses vollständiges Universal-Lexicon Aller Wissenschafften und Künste. Bd. 1–64 u. 4 Suppl.-Bde. Halle, Leipzig 1732–1754, Bd. 58, Sp. 549–677, hier Sp. 601. Auch die im Folgenden besprochene Münze wird dort vorgestellt.

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Klarheit erhoben). Das ,cunctando‘ kann man auf die zwei Jahre sich hinziehenden Verhandlungen Wolffs mit dem Berliner Hof,47 aber auch allgemeiner auf seine siebzehnjährige Abwesenheit von Halle beziehen. Daran, dass der Rückkehr ein Weggehen vorausging, erinnert die Vorderseite der Münze explizit – „Christianus Wolfius Halam reliquit MDCCXXIII“ (Christian Wolff hat Halle 1723 verlassen) –, wenngleich dezent, denn es wird natürlich nicht erwähnt, dass es sich um eine regelrechte Ausweisung auf Betreiben seiner pietistischen Gegner handelte, unter Androhung der Todesstrafe.48 Wohlgemerkt stellt die Dramatik dieser Vorgeschichte aber nicht den Grund für die fast irritierend triumphalistische Inszenierung der Rückberufung eines – zugegebenermaßen hochberühmten – Professors an seine alte Universität dar. Als maximal strahlender Sonnenaufgang wird Wolffs Rückkehr vielmehr deshalb inszeniert, weil es der gängigen Ansicht von der Bedeutung seiner Philosophie entsprach. Wie wir sahen, hatte der Geehrte diese Ansicht in Wort und Bild selbst artikuliert – und zwar im Bild zuerst und weit auffälliger. Einen Menschen als aufgehende Sonne darzustellen, war eigentlich nur für Fürsten ein geläufiges Motiv auf Münzen.49 Durch die kurze Erzählung von der Vertreibung und Rückkehr Wolffs nach Halle stellt die Medaille Aufklärung nicht nur als geistige Leistung(sfähigkeit) dar, sondern auch als Praxis, die ideologischen Auseinandersetzungen und politischen Einflüssen unterliegt und deshalb einer institutionellen Absicherung bedarf. Aufklärung wird hier als gesellschaftlicher Prozess verstanden und erscheint nicht allein als intellektuelle Leistung. In gewissem Maße ist dieses Aufklärungsverständnis bereits in den dramatisierenden Darstellungen der meteorologischen Aufklärung in den Gundlingiana und in Wolffs Deutscher Metaphysik angelegt, wo sich die Sonne kämpferisch gegen dunkle Wolken durchsetzt und durch die Inscriptiones zudem eine Zeitverlaufsdimension aufgerufen wird, bei Gundling als Ankündigung zukünftig vollendeter Aufklärung, bei Wolff als impliziter Rückblick auf die nun überwundene Zeit mangelnden Lichts. In der Vorrede zum ersten Band der Gundlingiana findet sich das Verständnis von Aufklärung als Prozess von historischer Dimension sogar explizit: Auf Grotius und Pufendorf, Gassendi und Descartes zurückblickend, konstatiert Gundling: „Die Welt ist in einigen Stücken schon klüger als vor 100. Jahren. Die trübe Irrthums-Wolcken werden 47 Neue Einblicke in diese Verhandlungen ermöglicht jetzt die Edition von Wolffs Briefwechsel mit seinem politisch einflussreichen Förderer Manteuffel, vgl. Christian Wolff, Ernst Christoph von Manteuffel: Briefwechsel, 1738–1748. Hist.-krit. Edition in 3 Bänden. Hg. v. Jürgen Stolzenberg [u.a.]. Hildesheim, Zürich u. New York 2019 (Christian Wolff: Gesammelte Werke. Abt. 3: Materialien und Dokumente Bd. 160). 48 Vgl. John Holloran: Wolff in Halle – Banishment and Return. In: Jürgen Stolzenberg u. OliverPierre Rudolph (Hg.). Christian Wolff und die europäische Aufklärung. Akten des 1. Internationalen Christian-Wolff-Kongresses, Halle (Saale), 4.–8. April 2004. Bd. 1–5. Hildesheim 2007– 2010, Bd. 5 (Christian Wolff: Gesammelte Werke. Abt. 3: Materialien und Dokumente Bd. 105), S. 365–375. 49 Der Medailleur, der die Wolff-Münze gestaltete, hatte es 20 Jahre zuvor zur Verbildlichung der Huldigung vor Johann August I. von Anhalt-Zerbst (1677–1742) gewählt, vgl. Elke Bannicke: Johann Christian Koch. Medailleur des Barock. Berlin 2005 (Die Kunstmedaille in Deutschland Bd. 21), S. 58f. Die Wolff-Medaille ist ebd., S. 220f. verzeichnet.

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Abb. 4: Wöchentliche Historische Müntz-Belustigung, 52. Stück, 27.12.1741, S. 409.

nicht auf einmahl zertheilet.“50 Indem die zu Wolffs Rückkehr geprägte Medaille auf seine Vertreibung 17 Jahre zuvor anspielt, reichert sie die prozessuale Perspektive weiter an: Der Verweis auf 1723 ruft die konkreten ideologischen, sozialen und medialen Konflikte auf, in denen Aufklärung sich vollzieht. Über das bei Stieler erstmalig festgehaltene Verständnis von Aufklärung als ‚Verbesserung des Verstandes‘ geht dies wesentlich hinaus. Die meteorologische Aufklä50 [Gundling:] „Vorrede“ (= Anm. 38), S. )(4v.

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rungsbildlichkeit der beiden Hallenser steht vielmehr schon dem Aufklärungsverständnis nahe, das Kant 1784 explizierte. Zum einen wegen der Bindung von Aufklärung an öffentlich verbreitete Schriften und die „Freiheit [,…] von seiner Vernunft in allen Stücken öffentlichen Gebrauch zu machen“.51 Auf die „Freyheit“ seines öffentlichen Vernunftgebrauchs pochte Gundling schon 1715, und zwar mit einer der Kantischen Argumentation nicht unähnlichen Absetzung des ‚gelehrten‘, soll heißen: des rein an Wahrheit interessierten Vernunftgebrauchs von der in bestimmten Berufen eingeschränkten Meinungsfreiheit (was Kant, etwas irreführend, den „Privatgebrauch“ nannte52): „Die Gelehrsamkeit ist kein Handwerck: und darum bin ich auch nicht in so enge Schrancken eingeschlossen, als diejenige Menschen, welche gewisse InnungsArtickel haben. Andern bleibet eben diejenige Freyheit von mir zu dissentieren“, heißt es in der Vorrede zu den Gundlingiana.53 Zum anderen wird die von Kant gestellte Frage „Leben wir jetzt in einem aufgeklärten Zeitalter?“ durch Gundlings und Wolffs meteorologische Titelbilder sowie die Ehrenmünze für Wolff mit ihren Kombinationen von Bild und Text bereits ebenso beantwortet, wie es Kant getan hat, nämlich mit einem „Nein, aber wohl in einem Zeitalter der Aufklärung.“54 In der Zeitschrift Wöchentliche Historische Müntz-Belustigung vom 27.12.1741 wurde die Gedenkmünze auf Wolff abgebildet, ausführlich besprochen und überdies in Bezug zu dem Programma de necessitate methodi scientificae gesetzt, in dem der Philosoph über das Zustandekommen seiner Rückkehr und seine zukünftigen Vorhaben berichtet (s. Abb. 4).55 Der Berichterstatter zitiert dabei die Zuschrift eines Alethophilus – möglicherweise handelt es sich um den unter diesem Pseudonym publizierenden hallischen Geographen Christoph Eberhard (1675–1750) –, der das rückseitige Bildmotiv unbescheiden findet. Die Sonne habe die ganze Welt zu bescheinen, und wenn Wolff sich „einen Lehrer des gantzen menschlichen Geschlechts“ (praeceptor totius generis humani) nenne oder wenigstens nennen lasse,56 würden mit einem 51 Kant: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? (= Anm. 15), S. 11. Zur Zentralität des öffentlichen Vernunftgebrauchs für ein Verständnis der Aufklärung, das auf deren Praxis abhebt, vgl. Stefanie Stockhorst: Doing Enlightenment. Forschungsprogrammatische Überlegungen zur ‚Aufklärung‘ als kulturelle Praxis. In: Das achtzehnte Jahrhundert 42 (2018), S. 11–29, bes. S. 14. 52 Kant: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? (= Anm. 15), S. 11. 53 [Gundling:] „Vorrede“ (= Anm. 38), [S. )(6r]. Zum Kontext vgl. Kay Zenker: Denkfreiheit. Libertas philosophandi in der deutschen Aufklärung. Hamburg 2012 (Studien zum achtzehnten Jahrhundert. Bd. 33). Vgl. Kant: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? (= Anm. 15), 11: „Ich verstehe aber unter dem öffentlichen Gebrauche seiner eigenen Vernunft denjenigen, den jemand als Gelehrter von ihr vor dem ganzen Publikum der Leserwelt macht. Den Privatgebrauch nenne ich denjenigen, den er in einem gewissen ihm anvertrauten bürgerlichen Posten oder Amte von seiner Vernunft machen darf.“ 54 Kant: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? (= Anm. 15), S. 15. 55 Zu diesem Programma de necessitate methodi scientificae & genuino usu juris naturae ac gentium, quo lectiones suas in Fridericiana in posterum habendas intimat 1741 vgl. Dirk Effertz: Menschenrechte und Staatstheorie. Wolffs zweiter Aufenthalt in Halle (1740–1754). Halle 2014 (Perspektiven der Aufklärung. Bd. 5), S. 12–16. 56 Dass ein Franzose ihn den „Professeur du genre humain genannt“ habe, berichtet Wolff in seinem Brief an Ernst Christoph von Manteuffel vom 8. Juni 1740, s. die Nr. 68 in der oben (= Anm. 47) genannten Edition des Briefwechsels zwischen Wolff und Manteuffel, Bd. 1, S. 295.

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Abb. 5: [O. A.:] Fortsetzung des besonders-curieusen Gesprächs in dem Reiche derer Todten, zwischen zweyen im Reiche der Lebendigen hochberühmten Männern, Christian Thomasio und August Hermann Francken. s. l. 1729, Frontispiz.

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solchen Anspruch und ebenso mit dem Sonnenmotiv „alle Gräntzen der Modestie überschritten“.57 Woran sich der Kritiker konkret stößt, ist das in Wolffs Programma vorgebrachte Argument für die Herabsetzung seiner Lehrverpflichtungen: Um Bücher zu schreiben, die viele Leser erreichen, müsse er seine Vorlesungen reduzieren, die nur von vergleichsweise wenigen gehört werden könnten. Wichtig für uns ist nicht die Missgunst des Kritikers, wohl aber das Allgemeine, das hinter dem von ihm Kritisierten steht. Zum einen stoßen wir erneut darauf, dass programmatisch verkündete Aufklärung mit dem Gebrauch von Druckmedien verbunden war, die den Adressatenkreis weit über Hörer, Gesprächsteilnehmer oder Briefpartner hinaus auszudehnen vermochten. Zum anderen können wir festhalten, dass die meteorologische Aufklärungsbildlichkeit in der Tat dazu tendierte, universalistische Ansprüche zu implizieren, die alle Wissenschaften und alle Menschen betreffen, kurzum: die ganze Welt, die ohne Licht und Wärme der Sonne nicht leben kann. Der Kritiker wandte außerdem ein, dass die hallische Universität auch während Wolffs Abwesenheit nicht von „Finsternuß bedeckt“ gewesen sei. Vielmehr hätten „alle Göttliche und Menschliche Wissenschafften daselbst in vollen Glantze und unverdunckelten Ruhm, von ihrem Anfang an, bis jetzo Weltkündig gestanden“.58 Zumindest bildpolitisch trifft das zu. Bereits in den 1720er Jahren war die über Wolken erstrahlende, licht-, d.h. aufklärungverbreitende Sonne zu einem Markenzeichen der Hallischen Universität geworden (also während Wolffs Abwesenheit), wie ein eher grobes Frontispiz zu einem fiktiven Gespräch zwischen zwei weiteren, kürzlich verstorbenen ,lumina‘ der Universität zeigt: dem bereits mehrfach erwähnten Juristen und Philosophen Thomasius (1655–1728) sowie dem Theologen August Hermann Francke (1663–1727) (s. Abb. 5). Die Stelle der Sonne ist hier von einer Art Universitätsfahne mit den Wappen der Fridericiana sowie der vier Fakultäten besetzt. Von ihr gehen zahlreiche Strahlen aus, die wahrscheinlich als geistige Erhellung verstanden werden sollen.59 Auf die Stadt Halle blickt der Betrachter übrigens von demselben westnordwestlichen Standpunkt, den später auch Koch für seine Wolff-Münze gewählt hat. Erneut haben wir es mit einer Ehrung für eine der philosophischen Leuchten der Universität zu tun, wenn auch künstlerisch und reputationell weit unter dem Niveau der Koch’schen Medaille.60 Die Produktion von gelehrten Totengesprächen war, wie Riccarda Suitner herausgearbeitet hat, nicht das Geschäft der ers57 [Anon.:] Eine Gedächtnuß-Müntze auf die Zuruckkunfft Herrn CHRISTIAN Wolfs in Halle, von A. 1740. In: Wöchentliche Historische Müntz-Belustigung 52. St., 27.12.1741, S. 409–416, hier S. 416. 58 Ebd., S. 414. 59 Die Vorlage der rechten Bildhälfte bildet das Frontispiz von [Caspar Gottschling:] Kurtze Nachricht Von Der Stadt Halle, Und absonderlich Von der Vniuersität daselbst. [Halle] 1709. Im Text (S. 22) werden die „Sonnen-Strahlen“ dort auf die Tugenden des Herrschers, des preußischen Königs Friedrich I., bezogen, dessen Bild das Wappen der Universität im Zentrum der vier Fakultätensymbole zeigt. Die Adaption dieser Vorlage für ein Totengespräch unter Gelehrten belegt die Beerbung der monarchischen Sonnensymbolik durch die aufklärerische Bildprogrammatik. 60 Die künstlerische Mittelmäßigkeit des Totengespräch-Frontispizes zeigt sich nicht zuletzt daran, dass der Stecher sich wenig Mühe gegeben hat, das von oben kommende Licht der Aufklärung bringenden Universität mit den Schatten zu harmonisieren, die den Wolken Plastizität verleihen.

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ten Riege. Vielmehr wurde diese in der Frühaufklärung beliebte Gattung von noch nicht arrivierten Akademikern gepflegt und war auf einen hart umkämpften Markt ausgerichtet.61 Umso mehr darf man daher annehmen, dass jenes Frontispiz seinerzeit gängige Vorstellungen von der hallischen ‚Aufklärung‘ ins Bild fasst. Schauen wir zuletzt noch auf die sorgfältiger ausgeführte Halle-Ansicht, die der Landkartenverleger Johann Baptist Homann (1664–1724) an den unteren Rand seiner topographischen Karte der Stadt setzte, die Anfang der 1720er Jahre erschien – weniger als weiteren Beleg für programmatische Aufklärungsbildlichkeit zwischen 1720 und 1740 denn als Gegenprobe.

Abb. 6: Johann Christoph Homann: Darstellung des Grundrisses und Prospectes der Königl. Preussisch-Magdeburgischen und des Saal-Crayses Haupt Stadt Halle. Nürnberg [zwischen 1720 und 1723], Exemplar der Bibliothèque nationale de France, Ausschnitt.62

Im Vergleich mit den bisher besprochenen Bildern fallen sowohl Gemeinsamkeiten als auch Unterschiede in der Lichtinszenierung und ihrer Ausdeutbarkeit auf. Was Homann zeigt, ist ein Sonnenaufgang hinter der Stadt. Schon dieses Motiv, das die ‚klassische‘ westliche Stadtansicht von Matthäus Merian d. J. (1621–1687) nicht

61 Zur Gattung vgl. Riccarda Suitner: Die philosophischen Totengespräche der Frühaufklärung. Hamburg 2016 (Studien zum achtzehnten Jahrhundert Bd. 37). Das obige Frontispiz ist dort Abb. 11. 62 Es gibt mehrere Varianten dieser Karte; der in der Bibliothèque nationale de France aufbewahrte Druck hat in einer Kartusche oben rechts im Kartenbild eine Widmung an Christian Wolff, der hier noch als Professor der Fridericiana angesprochen wird. Daher die Datierung auf 1723 oder früher (das üblicherweise genannte Datum post quem ist 1721, als Homanns Sohn Johann Christoph als Student nach Halle kam und die Stadt wohl vermessen und gezeichnet hat, vgl. Ralf-Torsten Speler (Hg.): 300 Jahre Universität Halle. 1694–1994. Schätze aus den Sammlungen und Kabinetten. Halle 1994, S. 83.

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hat,63 kann als lobpreisende Anspielung auf die ‚Licht‘, das heißt Erkenntnis verbreitende Hallesche Universität verstanden werden, zumal auf der Karte rechts von der Stadtansicht eine Universitätsszene zu sehen ist (die Richtungsangaben rechts und links sind hier und im Folgenden immer vom Betrachter aus zu verstehen). Möglich ist ebenso die durch die Wolken unterstützte Konnotation ‚Aufklärung‘, zunächst im meteorologischen, je nach Lexikon des Betrachters aber auch im übertragenen Sinne. Gleichfalls eine legitime Betrachtungsweise wäre es jedoch, im dargestellten Sonnenaufgang nichts als einen Sonnenaufgang zu sehen. Diese einfache, die kognitive Bedeutungsmöglichkeit von ‚Aufklärung‘ nicht realisierende Lesart schließen die zuvor betrachteten Bilder aus, oder genauer: sie sollen sie offensichtlich ausschließen, d.h. sie sollen an ‚Aufklärung‘ als geistige Klärung denken lassen, indem sie Darstellungsweisen wählen, die zusätzlich darauf hinweisen, sei es indem Universitätssiegel an die Stelle der Strahlen versendenden Sonne gesetzt werden (so bei dem Frontispiz des Totengesprächs), sei es durch Beschriftungen, die den Betrachter dazu treiben, nach übertragenen Bedeutungen zu fragen (so bei der Titelvignette Gundlings, den Frontispizen Wolffs und der Medaille auf ihn). Am einfachsten lässt sich die Lesart ‚bloßer Sonnenaufgang‘ dadurch ausschalten, dass die Sonne als hoch am Himmel stehend gezeigt wird. Die von uns betrachteten Frontispize und die Medaille haben auch zu diesem Mittel gegriffen, und zwar selbst dann, wenn sie die Perspektive der Homann’schen Stadtansicht einfach bzw. vereinfacht reproduzierten.

4. Ein Bildprogramm aufklärerischen (Wissens-)Fortschritts von 1710 Zeitlich vor den bisher besprochenen Bildern liegt das nun abschließend zu diskutierende. Es stammt von 1710 und ist hinsichtlich seines Aufklärungskonzepts zugleich das elaborierteste (s. Abb. 7). Die klare Identifizierung als Aufklärungsprogramm ergibt sich nicht nur aus dem Hellwerden des Himmels links, wohin sich die Kutsche im Vordergrund bewegt. Vielmehr bedient sich das Werk, dessen viertem Band das Frontispiz vorangestellt ist, bereits des Begriffs ,Aufklärung‘, denn es offeriert eine Methode zur „Auffklärung unsers Verstandes“.64 Nach derzeitigem Kenntnisstand haben wir hier einen der allerersten Anwendungsfälle der von Stieler verzeichneten Bedeutungsübertragung aus der Meteorologie in den Bereich der Erkenntnis, und er steht bereits in einem programmatisch hochambitionierten Kontext. Die begriffsgeschichtlichen Lexika und Studien zum Aufklärungsbegriff haben diesen Beleg sämtlich übersehen. Jenen Kontext bildet die um 1700 in Mode gekommene Historia literaria. Sie sollte das Wissen aller Zeiten sammeln und ordnen, um einen Überblick zu schaffen, von welchen Ausgangspunkten die Gewinnung neuen Wissens zu starten hätte. Das Programm der Historia literaria war bereits von Francis Bacon 63 Der Merian’sche Stich findet sich z. B. in ebd., S. 83 abgebildet. 64 Jacob Friedrich Reimmann: Versuch einer Einleitung In die Historiam Literariam Insgemein und derer Teutschen insonderheit. Bd. 1–3 (in 6). Halle 1708–13, Bd. 1, S. 145.

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(1561–1626) formuliert worden, zur Blüte kam dieses Genre jedoch in der deutschen Frühaufklärung. Zu deren gelehrtem Profil passte es ebenso gut wie zu ihrer Verbesserungsemphase. Das sechsbändige Werk Jacob Friedrich Reimmanns (1668– 1743) war die erste Historia literaria in deutscher Sprache nach einer Reihe von lateinischen. Reimmann war damals Pfarrer in Ermsleben am Nordrand des Harzes und Anhänger von Thomasius’ Ausrichtung der Gelehrsamkeit auf Traditionskritik und Nützlichkeit.65 Die Gelehrten sollten die Geschichte der gelehrten Meinungen kennen, um sich von Lehren zu lösen, die sich nicht bewährt haben. Philosophisch ist das ein ganz anderer Ansatz als die Demonstration more geometrico, die Wolff vertrat. Die Historie als das Wissen vom Gewesenen und Gegebenen wird hier verstanden als Vehikel, ja Vorbedingung des Fortschritts. Erstaunlicherweise bedient sich Reimmann bei der Erläuterung dieses Konzepts des Cartesischen Erkenntnisbegriffs: er will „deutlicher und klärer begreiffen“.66 Wie bei Stieler finden wir die Anwendung des Worts ‚Aufklärung‘ auf den Verstand also im Kontext cartesianischer Anklänge. Das Erkenntniskonzept, in dessen Rahmen dies geschieht, ist bei Reimmann aber weit elaborierter als bei Stieler – und entfernt sich desto mehr von Descartes, als für diesen die Historie gerade keine sichere Erkenntnis zu bieten vermochte. Laut Reimmann kann die Historie, indem sie das Werden des aktuellen Zustands offenlegt, dem Gelehrten Einsicht in „die wahrhafftige Beschaffenheit einer Science“ verschaffen.67 Einen substantiell cartesianischen Kontext kann man den ersten Übertragungen des Worts ‚Aufklärung‘ vom meteorologischen in den kognitiven Bereich demnach schwerlich attestieren, trotz der genannten Anklänge. Vielmehr ist erneut zu betonen, dass die meteorologische Aufklärungsbildlichkeit bei methodisch sehr verschieden ausgerichteten Gelehrten Verwendung fand. Das Frontispiz imaginiert die Historia literaria als Fackel, die das gelehrte Wissen aller Fakultäten ins Helle und in das Land der ordentlich aufgeführten (Lehr-) Gebäude führt. In diese Richtung ziehen Philologie und Philosophie – zwei kräftig tänzelnde Pferde –, während auf der Rückseite des Wagens zwei Esel angespannt sind, die von der Dummheit (Stultitia) angetrieben werden: die mit dem wörtlichen Sinn sich begnügende Kritik (Critica literalis) und die autoritätsgläubige Schulphilosophie (Philosophia scholastica). Ihre Richtung ist ein wolkenverhangenes, steinig-kahles Land, durch die lateinische Überschrift als unfruchtbar trockener Karst ausgewiesen, in dem bloß Ruinen stehen. Da die Ruine im Hintergrund gut als mittelalterliche Burg erkennbar ist, darf man die Frage nach der Fahrtrichtung zugleich als Entscheidung über die historische Orientierung verstehen: Zurück in die Vergangenheit (des unfruchtbaren Autoritätswissens) oder vorwärts in eine wohlgeordnete,

65 Zu Reimmanns Verhältnis zu Thomasius vgl. Martin Mulsow: Die Paradoxien der Vernunft. Rekonstruktion einer verleugneten Phase in Reimmanns Denken. In: Ders. u. Helmut Zedelmaier (Hg.): Skepsis, Providenz, Polyhistorie. Jakob Friedrich Reimmann (1668–1743). Tübingen 1998 (Hallesche Beiträge zur europäischen Aufklärung Bd. 7), S. 15–59, hier S. 16–26. 66 Reimmann: Versuch einer Einleitung In die Historiam Literariam (= Anm. 64), Bd. 1, S. 146, Anm. g. 67 Ebd.

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Abb. 7: Jacob Friedrich Reimmann: Versuch einer Einleitung In die Historiam Literariam Insgemein und derer Teutschen insonderheit. Bd. 1–3 (in 6). Halle 1708–1713, Bd. 3,2 (1710), Frontispiz.

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reiche und schöne Zukunft mit richtigerer Erkenntnis, besseren Lebensumständen und gesteigerter Naturbeherrschung? Das Ruinenmotiv findet sich zehn Jahre später übrigens auch im Frontispiz zu Wolffs Deutscher Metaphysik, und zwar an derselben Stelle: im landschaftlichen Hintergrund der rechten Bildseite. Auf die von Thomasius angestrengte Universitätsreform verweist die Orientierung auf lebenspraktische Verbesserungen ebenso wie die Karikatur der Philosophia scholastica als Esel.68 Noch innovativer ist der Bedeutungsgehalt der Landschaft, in der sich der Wagen bewegt. Von rechts nach links betrachtet, entwirft sie einen Geschichtsprozess, der aus dunkler Vergangenheit – dunkel im wörtlichen wie übertragenen Sinne – in eine helle, bessere Zukunft führt.69 Gemeint ist primär ein kognitiver und wissenschaftlicher Fortschritt, doch lässt der Weg, auf dem die Kutsche mit dem gesammelten Wissen der vier Fakultäten vorankommen soll, noch weiter reichende Interpretationen zu. Denn das Frontispiz zeigt eine Weltszenerie, die als der erhoffte Anwendungserfolg des verbesserten Wissens zu deuten ist. „Auffgeklärten Gemüthern“ ist es, wie Reimmann schreibt, vor allem um eine gute Praxis zu tun.70 Zusammengenommen kann der Weg, auf dem die Fackel der Historia literaria vorangetragen wird, als ein historischer verstanden werden, der in eine bessere Zukunft führt: historischer Fortschritt qua Erkenntniszuwachs. Das dem vierten Band vorangestellte Frontispiz enthält jedenfalls einiges mehr als die textuelle Erläuterung des Konzepts der Historia literaria im zwei Jahre zuvor erschienenen ersten Band und auch mehr, als sich begriffsgeschichtlich als Bedeutung von ‚Aufklärung‘ um 1710 ermitteln lässt. Gundling, ein weiterer Thomasianer, bekräftigte wenige Jahre später solche Fortschrittserwartungen, indem er seine Gegenwart mit den vor 100 Jahren noch dichteren „trüben Irrthums-Wolcken“71 verglich, und er fasste sie gleichfalls in ein Bild meteorologischer Aufklärung. Zur Bildmotivik noch zwei Punkte: Das Reimmann’sche Frontispiz zeigt keine die Wolken vertreibende Sonne. Trotzdem rekurriert es auf den meteorologischen Aufklärungsbegriff, denn der meint ja, laut Stieler, im Kern nur das Aufklären des Himmels durch Schwinden der Wolken, mit oder ohne Sonne. Eben dies zeigt das Frontispiz. Der Verzicht auf die Sonne als sichtbare Lichtquelle lässt sich auch damit erklären, dass Reimmann eine andere Lichtquelle in den Vordergrund rückt: die Fa68 Gegen das „scholastische Unwesen“ gewandt, ist in Reimmanns Text dementsprechend einmal von dem „wieder aufgeklährten Lichte der Theologie“ die Rede, vgl. ebd., Bd. 3,2, S. 116. 69 Den modernen Betrachter mag die Richtung dieses Prozesses ein wenig irritieren, weil wir aufgrund unserer Leserichtung von links nach rechts und entsprechend zu lesenden Grafiken aller Art umgekehrt konditioniert sind. Dass die (vom Betrachter aus gesehen) linke Seite die bessere ist, auf die hin man sich zu orientieren hat, entspricht hingegen einer langen, bereits antiken, vor allem aber durch das Christentum kulturell eingewurzelten Bevorzugung der rechten Seite – die in Bildwerken wohlgemerkt links zu sehen ist, weil die Seitenzuweisung vom frontal angeschauten Richtergott oder Gekreuzigten gedacht ist, vgl. Manfred Lurker: Die Symbolbedeutung von Rechts und Links und ihr Niederschlag in der abendländischen-christlichen Kunst. In: Symbolon N.F. 3 (1980), S. 95–128. Die kunsthistorische Konvention, über rechts und links zu reden, folgt dieser inversen Seitenzuweisung bekanntlich noch heute. 70 Reimmann: Versuch einer Einleitung In die Historiam Literariam (= Anm. 64), Bd. 1, S. 149. 71 [Gundling:] „Vorrede“ (= Anm. 38), S. )(4v.

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ckel der Historia Literaria, gemäß der im Text gewählten Metapher: „Sie träget uns so zu reden in dem gesamten Kräise der wahren Weißheit die Fackel vor/ und illuminiret uns die Land-Charten derer Wissenschafften dergestalt/ daß wir dieselben um so viel geschwinder/ deutlicher und klärer begreiffen/ und uns um so viel leichter darinnen zurechte finden können.“72 Im Bild ist aus der ‚Landkarte‘ des Textes eine Landschaft geworden, deren räumliche Ausdehnung als historische Erstreckung zu dekodieren ist. Mit dem Medienwechsel ging eine deskriptive Detaillierung und zugleich eine eminente konzeptionelle Weiterentwicklung der ‚Aufklärung‘ einher, die von der Historia Literaria zu erwarten sei. Man wird diese Weiterentwicklung nicht vollständig auf das Konto des Medienwechsels setzen können, doch darf man vermuten, dass der bildliche Entwurf von negativen und positiven Szenerien sowie eines beides verbindenden Weges eher an praktische Verbesserungen und historischen Fortschritt denken ließ als die begriffsgestützte Katechese, die Reimmann für die schriftliche Präsentation seines Konzepts gewählt hatte. Weniger glücklich ist die bildliche Umsetzung der im Lateinischen geläufigen Metapher des Fackelvoraustragens – facem praeferre – für eine intellektuelle Pionierleistung.73 Denn diese Lichtquelle kann die Helligkeit in der gesamten linken Bildhälfte, bis hin zu den Gebäuden im Hintergrund und am Himmel, nicht erklären, und dies nicht nur, weil die Fackel mehr zu rauchen als zu leuchten scheint. Das Reimmann’sche Frontispiz drückt den Erhellungsanspruch der Historia literaria zwar ebenso aus wie die Erwartung einer besseren, nämlich ‚helleren‘ Zukunft. Dass die Historia literaria entscheidend zur Herbeiführung dieser Zukunft beitragen kann, macht die Bildkomposition aber keineswegs evident. Vielmehr kommen sich zwei Erhellungsvorgänge in die Quere: einerseits die meteorologische Aufklärung als Naturphänomen, andererseits eine Erhellung durch Lichtquellen wie die Fackel, die der Mensch wie ein Werkzeug einsetzen kann. Die Fackel der Historie im Dienst der Aufklärung lässt sich als Konzept gut in Worte fassen, ins Bild aber kaum, solange man bei ‚Aufklärung‘ noch das Aufreißen des Himmels vor Augen hat.

5. Resümee und Ausblick a. Die besprochenen Bildmedien bezeugen, dass es bereits in den ersten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts ein programmatisches Verständnis von Aufklärung als Kritik und Reform zur Herbeiführung einer besseren Zukunft gab, mit zuverlässigerer Erkenntnis ebenso wie verbesserten Lebensumständen. Der Forschungsansatz, Aufklärung als ein im zweiten Jahrhundertdrittel emergierendes Medienprodukt zu verstehen, kann daher nicht überzeugen.

72 Reimmann: Versuch einer Einleitung In die Historiam Literariam (= Anm. 64), Bd. 3,2, S. 146, Anm. g. 73 Zum Kontext des Fackelmotivs vgl. Daniel Fulda: „Die Geschichte trägt der Aufklärung die Fackel vor.“ Eine deutsch-französische Bild-Geschichte. Halle 2017 (Kleine Schriften des IZEA Bd. 7).

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b. Diese Kritik zielt nicht auf eine Herabstufung von Medien als Forschungsgegenstand, im Gegenteil: Medien und insbesondere bebilderte Medien – Bücher, Zeitschriften, aber auch eine Medaille – waren die Träger jener frühen Aufklärungsprogrammatik. Ihr Zweck als Medien, nämlich ein Publikum zu erreichen und zu überzeugen, dürfte bei den Frontispizen und der Titelvignette sogar als Antrieb zur bildlichen ‚Ausformulierung‘ von Aufklärungsansprüchen gewirkt haben. c. Der 1695 zuerst verzeichnete neue Aufklärungsbegriff mit ins Kognitive übertragener Bedeutung brauchte einige Zeit, um sich zu etablieren. Aufklärungsbilder scheinen unterdessen nähergelegen und eingängiger gewesen zu sein. Zwischen 1710 und 1740 spielten Bildmedien eine größere Rolle für die Artikulation und Propagierung von Aufklärungsansprüchen als Texte. d. Wohlgemerkt bezieht sich diese These allein auf das Konzept ‚Aufklärung‘ als umfassende verbesserungsemphatische Anstrengung mit dem Ziel des ‚Klarmachens‘, ‚Erhellens‘, ‚Aufdeckens‘ und den damit erhobenen Reformanspruch von historischer Dimension. Die dazugehörigen distinkteren Programme wie Selbstdenken, Vorurteilskritik, Erkenntnisverbesserung oder säkularer Vernunftgebrauch wurden durchaus schon um 1700 ausformuliert. Mit dem Begriff Aufklärung wurden sie jedoch erst im zweiten Viertel des 18. Jahrhunderts frequent belegt, während die Verbindung mit Aufklärungsbildern bereits ab 1710 greifbar und keine Seltenheit ist. In ihren Anfängen ist die Geschichte des Konzepts ‚Aufklärung‘ vor allem eine Bild-, nicht eine Begriffsgeschichte. e. Ikonographisch greifen die besprochenen Bilder auf die meteorologische Ursprungsbedeutung von ‚Aufklärung‘ zurück. Diese noch lange geläufige Ursprungsbedeutung stellte leicht dekodierbare Bildmotive von großem Mächtigkeitsanspruch bereit. f. Der von Siskin und Warner gewählte Begriff der „proliferating mediations“,74 an denen man im zweiten Drittel des 18. Jahrhunderts die Etablierung der Aufklärung ablesen könne, lässt sich mit gutem Recht schon auf die ab 1710 greifbaren Aufklärungsallegorien mit meteorologischer Motivik anwenden. Denn Wiederholungen und Variationen einer auf die meteorologische Ursprungsbedeutung von ‚Aufklärung‘ verweisenden Sonnen- und Wolkenbildlichkeit zeichnet diese Motivik aus. Insbesondere Gelehrte der neuen Universität in Halle oder in deren Umfeld betrieben eine auf solche Aufklärungsallegorien gestützte, auf Wiedererkennbarkeit setzende Bildpolitik. Deren öffentliche Wirksamkeit wird dort fassbar, wo sie von Dritten aufgegriffen wurde, um Imagepolitik für den Standort Halle zu betreiben. g. Typische Publikationsorte für programmatische Aufklärungsbilder waren einerseits die als ‚Aushängeschilder‘ gestalteten Frontispize großer, als epochemachend intendierter Werke (so 1710 von Reimmann und 1720 von Wolff), andererseits Serienpublikationen wie die in 45 Folgen erscheinenden Gundlingiana. Eher auf

74 Siskin, Warner: This Is Enlightenment (= Anm. 14), S. 11.

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die exklusive Wertigkeit der kleinen Exemplaranzahl und des kostbaren Materials setzte hingegen die zu Wolffs Rückkehr geprägte Münze. Aber auch in diesem Fall wurde die printkulturgestützte Öffentlichkeit angesprochen, indem die Münze in einer Zeitschrift vorgestellt wurde, also einem der periodischen Medien, in deren Theoretisierung durch Stieler die kognitive Bedeutung des Worts ,Aufklärung‘ zum ersten Mal greifbar ist. h. Eine derzeit offene Frage ist, ob es eine ähnliche Präeminenz des bildlichen Entwurfs vor der textuellen Explikation von Aufklärung auch in anderen Sprachräumen gegeben hat. Das Heraustreten einer übertragenen Bedeutung (verbesserter Verstandesgebrauch) aus einem älteren Wort mit anschaulicherem Bedeutungsgehalt finden wir im Prinzip auch beim frz. ,lumière(s)‘ sowie beim engl. Verb ,to enlighten‘. Die semantische Ausdifferenzierung fällt dort jedoch nicht mit dem üblicherweise auf die Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert datierten Beginn der Aufklärungsbewegung zusammen. Außerdem sind die meteorologischen Bezüge dort schwächer, so dass es nicht überraschend wäre, wenn sich die aufgezeigte Bildpolitik mit meteorologischer Motivik als deutsche Spezialität erwiese.

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Universität ,parlante‘. Johann Wilhelm Krause als Architekt im Spiegel der Zeit. Wort versus Bild1 Die Universität Tartu lässt sich als architektonisches Kunstwerk betrachten. Bei der Beschreibung solcher Kunstwerke ist es entscheidend, die historischen Kontexte, die Entwicklungsgeschichte und die Entstehungsnarrative zu berücksichtigen. In gleicher Weise wie die Universität sowohl den Peripatos von Platon als auch das Lykeion von Aristoteles widerspiegelt, stellt sie ein visuell fassbares Ensemble dar. Ein System von Metaphern und Zeichen der Epoche der Aufklärung eröffnet sich in ihr als eine Konstellation sichtbarer Bilder. Unter Einfluss der Scholastik kam es im 13. Jahrhundert zur Geburt der gotischen Architektur.2 Die Res Publica Litterarum – wie der an einer Universität herausgebildete Gelehrtenkreis seit Anfang der Renaissance genannt wurde – legte den Grundstein für das aufklärerische Verständnis von der Synchronizität zwischen Idee und Materie. Nach Francis Bacon wird die Universität als ein Tempel Salomons angesehen, aus dem die Gelehrten wie durch die Säulen des Herakles in hohe See stachen.3 Zum geistigen Raum brauchte die Universität aber auch einen physischen, um die Philosophie mit empirischen Wissenschaften zusammenzubringen und somit einen fruchtbaren Boden für eine gemeinsame Entwicklung der Naturwissenschaften und der Künste zu bereiten. Die Universität ist ihrem Wesen nach einer der vielfältigsten und kompliziertesten Mechanismen, mit dem sich die Baumeister im Laufe der jahrhundertelangen Geschichte der Architektur auseinandergesetzt haben. In der Epoche der Aufklärung nimmt die Universität eine wichtige Stelle im geistigen Prozess ein, der dazu bestimmt ist, über das innerste Wesen der Dinge und dessen Präsenz in der Welt der Fakten nachzudenken und die erworbenen Kenntnisse in der Sprache der Wissenschaft zu vermitteln, wobei der Botschaft der Aufklärung sowohl die Sender- als auch die Empfängerrolle zukommt und die unmittelbare Kommunikation in ein intellektuelles Wissen umgewandelt wird.4 Immer häufiger greift die Universität in die Angelegenheiten der realen Welt ein, beteiligt sich an der Gestaltung der sozialen Beziehungen und an der moralischen Erziehung des Menschen. Dank der Französischen Revolution gelangte das Wissen der Elite aus dem Salon auf die Straße. Durch die von der neuen Generation der Intellektuellen in die Wege geleitete Umgestaltung der Volksbildung wurde dem von der Renaissance herstammenden Tempel der Vernunft (Palazzo per la Sapien1 2 3 4

Aus dem Estnischen übersetzt von Anne Arold. Vgl. Erwin Panofsky: Gothic Architecture and Scholasticism. New York 1951, S. 14. Vgl. Francis Bacon: New Atlantis and the Great Instauration. Hg. v. Jerry Weinberger. Chichester, Malden u. Oxford 2017, S. 109. Vgl. John Guillory: Enlightening Meditation. In: Clifford Siskin u. William Warner (Hg.): This is Enlightenment. Chicago u. London 2009, S. 37–63, hier S. 54f.

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za) die Bedeutung eines Auditoriums verliehen, das für jeden offen stand, der genügend Mittel besaß, um für die Vorlesungen und Studienmaterialien zu bezahlen. Um erfolgreich zu funktionieren, brauchte die erneuerte Universität mehr Freiheiten sowie einen erneuerten Geist. Darüber hinaus wurden verschiedene Räume benötigt: Hörsäle, Bibliotheken, Sternwarten, Anatomische Theater, Hospitäler, Manegen, Fechtsäle, Schwimmbäder und noch eine für den aufklärerischen Geist im deutschen Kulturraum besonders wichtige Komponente – die Kirche. Nun stellte sich die Frage, wie all die vielfältigen Funktionen in einem einheitlichen Ensemble untergebracht werden sollten – brauchte man dazu einen riesigen Gebäudekomplex, wie bei den Ritterakademien der Frühen Neuzeit in Mailand, Erlangen, Breslau (Wrocław), oder sollte man verschiedene kleinere Anlagen errichten, die sich über die Stadt verteilen, nach den Grundsätzen der englischen College-Architektur, wie sie von Denis Diderot in seiner Encyclopédie beschrieben wurde?5 Und last but not least – wo sollten die finanziellen Mittel dazu hergenommen werden in der Zeit zwischen den Kriegen, als die Universitäten in Europa eher geschlossen als eröffnet wurden?6 Die Universität war, um funktionieren zu können, auf neue Ideen angewiesen, aber ebenso benötigte sie neue Wörter. Einer der Grundbegriffe des vorliegenden Aufsatzes – Universität ,parlante‘ – ist durch das Schaffen der Hauptvertreter der sogenannten französischen Revolutionsarchitektur Claude-Nicolas Ledoux, Étienne-Louis Boullée u. a. inspiriert worden.7 Aus der megalomanischen Idee, die Ordnung des Universums in der Architektur nachzubilden, erwuchs das Bedürfnis nach einem neuartig gestalteten Universitätsraum, unter dessen Kuppel Bildung und Forschung vereint werden könnten – sei es die im 18. Jahrhundert in Frankreich herausgebildete anwendungsorientierte physiokratische (polytechnische) Bildung oder aber die in Deutschland in einer modernen Universitätslandschaft gepflegte, durch die Ideen von Leibniz, Kant und Humboldt angeregte Bildung, deren Kernstück das universelle Wissen (mathesis universalis) darstellte.8

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Art. ‚Université‘. In: Encyclopédie, ou Dictionnaire raisonné des Sciences, des Arts et des Métiers, par une Société de Gens de Lettres. Bd. 17. Paris 1751, S. 406: „UNIVERSITÉ, (Belles-Lettres) terme collectif qu’on applique à un assemblage de plusieurs colleges établis dans une ville, où il y a des professeurs en différentes sciences, appointés pour les enseigner aux étudiants, & où l’on prend des degrés ou des certificats d’études dans les diverses facultés.“ Vgl. Walther Rüegg: Themen, Probleme, Erkenntnisse – Geschichte der Universität in Europa. Bd. 3: Vom 19. Jahrhundert zum Zweiten Weltkrieg (1800–1945). Hg. v. Walther Rüegg. München 2004, S. 18. Siehe auch zur Begriffsentstehung und -rezeption: Winfried Nerdinger, Klaus Jan Philipp u. HansPeter Schwartz: Revolutionsarchitektur – ein Aspekt der europäischen Architektur um 1800. München 1990, S. 13ff. Vgl. Jürgen Mittelstrass: The Idea of the University: History and Fate. In: Kadri Asmer u. Juhan Maiste (Hg.): Search of the University Landscape. Tartu 2018, S. 15–24, hier S. 16.

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Abb. 1: Portrait von Johann Wilhelm Krause (1757–1828). Aquarell. Foto: Rigaer Geschichts- und Schifffahrtsmuseum.

Wenn man über die Geschichte der Universität schreibt, rückt von den beiden Medien – Wort und Bild – fast immer das erstere in den Vordergrund. Häufig wird bei der Darstellung der gesellschaftlichen Veränderungen, die während der Französischen Revolution stattgefunden haben, der Schwerpunkt auf geistige und soziale Prozesse gelegt, mit Blick auf die Veränderungen innerhalb der Universität werden stärker die neuen Forschungserkenntnisse und die sich darin widerspiegelnden gesellschaftlichen Entwicklungen fokussiert. Diese Perspektive muss jedoch erweitert werden. Denn neben der nach der Reformation ausgebrochenen ‚Leserevolution‘ stand in der Zeit der Aufklärung eine ‚Bildrevolution‘ im Mittelpunkt der Medien, die nicht nur eigene Ziele verfolgte, sondern in gewisser Hinsicht auch ihre eigene Sprache mit ihrer eigenen Grammatik und Syntax benutzte, aus der sich eine der zentralen Streitfragen des späten 18. Jahrhunderts herausbildete. Wie ein roter Faden durchzieht der Paragone-Streit zwischen Dichtung und Malerei die gesamte Kultur. Der Architekt Johann Wilhelm Krause entwarf nicht nur die Hörsäle und Laboratorien der Universität Dorpat (Tartu), sondern schuf gleichzeitig auch einen Wissensraum, der sowohl architektonisch als auch geistesgeschichtlich eines der herausragendsten Symbole des Baltikums wurde. In diesem Sinne ist die Universitätslandschaft in Embach-Athen, wie die Stadt Dorpat zur Zeit der Aufklärung genannt wurde, auch maßgeblich für die kulturelle und geistesgeschichtliche Identität des heutigen Tartu.

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1. Von der Peripherie zum Zentrum Die Wiedereröffnung der Universität in Dorpat im Jahre 1802 auf Anordnung von Alexander I. war ein entscheidender Schritt für die baltische Kultur, der grundsätzliche Haltungen beeinflusste und dadurch sowohl eine geistige Identitätsbildung als auch eine Selbstentdeckung in der Architektur bewirkte, deren Einflüsse bis heute in einem der besterhaltenen Universitätsensembles aus der europäischen Aufklärung spürbar sind. Einen untrennbaren Teil der Stadt bilden die Universitätsgebäude, ein Ensemble, das den gesamten historischen Stadtkern mit dem Hauptgebäude inmitten der Altstadt, dem Domberg und den beiden Embachufern umfasst. Als westliches Tor des Russischen Reichs hatte Dorpat gute Voraussetzungen – talentierte Brüder und finanzielle Ressourcen –, von denen man anderswo nur träumen konnte. Dies bestätigt die von Jurij Lotman geäußerte, etwas paradox klingende These, dass die Zusammenhänge zwischen kulturellen und politischen Impulsen nicht immer linear zu sein brauchen und dass das kulturelle Grenzgebiet sich unter gewissen historischen Bedingungen zu einer Quelle der Innovation entfalten könne.9 Dorpat galt als Beispiel für einen erstaunlichen Aufstieg der Peripherie neben einer Metropole, dessen tiefere Gründe in der jahrhundertelangen, recht eigenartigen Kolonialgeschichte des Landes liegen, welche die Voraussetzungen für den Anbruch eines ,Aufklärungsoptimismus‘ schuf, um durch Bildung ein Zentrum der Veränderung des Menschen zu werden. Im Laufe von einigen Jahrzehnten stellten die hier angesiedelten Adligen und Intellektuellen Verbindungen zu ihrem deutschsprachigen Mutterland her. „In den Ostseeprovinzen waren Gemeinschaftsabonnements deutscher Zeitungen aus Hamburg, Berlin, Frankfurt, aber auch aus Riga, Reval und Dorpat ebenso üblich wie die Einrichtung von Lesegesellschaften und Leihbibliotheken etwa seit 1770.“10 Die Universität und die baltische Aufklärung stellen zwei Seiten einer Medaille dar. Parallele Entwicklungen lassen sich auch in anderen Kulturlandschaften beobachten, abseits von Metropolen, abseits von Epizentren des alten Europa im Westen sowie im Osten. In den USA begann die Gründung von Colleges nach dem englischen Vorbild bereits im 17. Jahrhundert. In Virginia zur Zeit Thomas Jeffersons bahnte sich Joseph Ramée als Vertreter der französischen Revolutionsarchitektur bei der Errichtung des Union College11 den Weg für moderne Universitätsensembles in den von der kolonialen Bevormundung befreiten Staaten. Eine der frühesten Universitäten im Russischen Reich war die von Matvej Kasakov entworfene Moskauer Universität, die leider 1812 durch den Brand von Moskau während der Besetzung durch Napoleons Truppen fast vollständig zerstört wurde. Dorpat galt als Vorbild auch für die 1804 gegründete Kasaner Universität, 9 Jurij Lotman: Semiosfäärist [Über die Semiosphäre]. Tallinn 1999, S. 16–25. 10 Gert von Pistohlkors: Deutsche Geschichte im Osten Europas. Baltische Länder. Berlin 1994, S. 304. 11 Vgl: Paul v. Turner: Joseph Ramée: International Architect of the Revolutionary Era. Cambridge 1996, S. 189–202.

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Abb. 2: Das Stadtzentrum von Dorpat mit Universitätsgebäuden. Planzeichnung von Johann Wilhelm Krause, 1819. Foto: Nationalarchiv Tartu.

deren Ensemble sich in seinen Grundzügen erst in den 1820er Jahren unter Leitung von Michail Magnitskij herausgebildet hat. Eines der hervorragendsten Universitätsgebäude im Russischen Reich wurde von Carl Ludwig Engel, einem Absolventen der Berliner Bauakademie, entworfen, allerdings erst dreißig Jahre später als die Universität Dorpat, etwa zur gleichen Zeit, als die neuen Gebäude für die Universitäten in Berlin, Göttingen und Oslo erbaut wurden. In Nordeuropa war Dorpat in vielerlei Hinsicht einzigartig. Auf dem Weg der geistigen Entwicklung leitete die Universität eine neue Ära ein, die eine europäische Provinzstadt als Embach-Athen zum Zentrum erhob, wo sie sich auf der zeitlichen Achse in einer Reihe mit der ,Schule von Athen‘ in Rom aus der Zeit der Päpste Julius II. und Leo X.12 sowie mit dem Dresden der Winckelmann-Zeit einordnete. In Dorpat wurde etwas verwirklicht, was Johann Gottfried Herder angesichts der geringen Größe der Stadt und der bescheidenen Vermögensverhältnisse ihrer Bevölkerung 12 Vgl. Ingrid D. Rowland: The Culture of the High Renaissance. Ancients and Moderns in Sixteenth-Century Rome. Cambridge 1998, S. 157.

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im Jahre 1769 für unmöglich gehalten hatte.13 Die Universität wurde in einer Stadt gegründet, in der es kein eigenes Gelehrtentum gab, keinen Hartknoch, keinen Hamann und auch keinen Merkel.14 Mit der Universitätsgründung wurde ein jahrzehntelanger Prozess vollendet, der bereits in der Regierungszeit von Katharina II. angefangen hatte und von dem die 1798 in Dorpat gegründete Adelsakademie ein Zeugnis ablegte. Die Professoren, die nach Dorpat berufen wurden, fühlten sich beflügelt, durch ihr Missionsgefühl und ihren aufklärerischen Idealismus den damaligen Wissenshorizont zu erweitern, indem sich ihre individuellen Bestrebungen mit politischer Rhetorik vereinigten. So schrieb im Jahre 1803 Benjamin Jäschke, Philosophieprofessor der Universität Dorpat und Schüler von Immanuel Kant: „Lange schon hatte man den Wunsch gehegt und das Bedürfniß gefühlt, für die höhere wissenschaftliche Bildung der Söhne des Vaterlandes, eine inländische Universität wieder hergestellt zu sehen, die einst in zwey verschiedenen Zeitperioden, wiewohl beydemal, der damaligen Kriegsunruhen wegen, nur kurze Zeit hier bereits geblühet hatte.“15 Dorpat werde zu einem neuen Heidelberg heranwachsen, versprach der Rektor Georg Friedrich Parrot dem Kaiser, als er ihn bei einem Spaziergang auf dem Domberg begleitete.16 „Dorpat habe für Russland nicht andere Bedeutung als Heidelberg oder jede andere deutsche Universität […]“, schrieb Alexander von Keyserling 1866 in einem Brief an Karl Ernst von Baer.17 In Dorpat wurden viele Träume verwirklicht. Aus der Alma Mater sollte ein Spiegel der Platonischen Akademie werden, von der der erste Professor der Klassischen Philologie und Ästhetik bereits vor seiner Ankunft in Dorpat geträumt hatte.18

13 Siehe Johann Gottfried Herder: Journal meiner Reise im Jahr 1769. Pädagogische Schriften. Bd. 9/2. Hg. von Rainer Wisbert u. Klaus Pradel. Frankfurt a. M. 1997, S. 11. 14 Vgl. Liina Lukas: IX. Internationales Symposium zur baltischen literarischen Kultur. Medien der Aufklärung. Aufklärung der Medien. In: Baltic Journal of Art History 14 (2017), S. 161. 15 Gottlob Benjamin Jäsche: Geschichte und Beschreibung der Feierlichkeiten bey Gelegenheit der am 21sten und 22sten April 1802 geschehenen Eröfnung der neu angelegten Kayserlichen Universität zu Dorpat in Lievland. Dorpat 1803, S. 3. 16 Julius Eckhardt: Die Universität Dorpat. In: ders.: Die Baltischen Provinzen Russlands, politische und culturgeschichtliche Aufsätze. Leipzig 1868, S. 361–397, hier S. 392. 17 Alexander von Keyserling an Karl Ernst von Baer, 6. Januar 1866. In: Graf Alexander Keyserling. Ein Lebensbild aus seinen Briefen und Tagebüchern zusammengestellt von seiner Tochter Freifrau Helene von Taube von der Issen. Berlin 1902, S. 490. 18 Karl Morgenstern: Entwurf zu Platons Leben, nebst Bemerkungen über dessen schriftstellerischen und philosophischen Charakter. Aus dem Englischen übersetzt mit Anmerkungen, und mit Zusätzen über Platon, Aristoteles und Bacon, versehen von Karl Morgenstern. Leipzig 1797, S. 34f.

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2. Die Universität als salomonischer Tempel In Dorpat spiegeln sich die großen Ideen der Zeit wider. Die ersten Professoren wurden maßgeblich von den Ideen Herders, Goethes und Kants geprägt. Die Universität eröffnete Perspektiven für eine neue Gelehrtengeneration und bot einen Wirkungskreis für die in früheren Zeiten hauptsächlich an Gutshöfen tätigen jungen Literaten, indem sie sie immer wieder auf Winckelmanns Worte „Die reinsten Quellen der Kunst sind geöffnet; glücklich ist, wer sie findet und schmecket“19 aufmerksam machte. Allerdings sollte es noch ein paar Jahrzehnte dauern, bis der von ihm prophezeite Weg einen breiteren Widerhall gefunden hatte und sein Antiquarismus als Lackmustest oder Barometer für Dichtung und Malerei zu dienen begann. „Je mehr wir sehen, desto mehr müssen wir hinzu denken können. Je mehr wir dazu denken, desto mehr müssen wir zu sehen glauben. […] Meine Voraussetzung, daß die Künstler dem Dichter nachgeahmt haben, gereicht ihnen nicht zur Verkleinerung“, schrieb Gotthold Ephraim Lessing.20 Nach Goethe kann der menschliche Verstand die tiefsten Quellen der Kunst nie fassen: Ein echtes Kunstwerk bleibt, wie ein Naturwerk, für unsern Verstand immer unendlich; es wird angeschaut, empfunden; es wirkt, es kann aber nicht eigentlich erkannt, viel weniger sein Wesen, sein Verdienst mit Worten ausgesprochen werden. […] Es ist ein grosser Vorteil für ein Kunstwerk, wenn es selbständig, wenn es geschlossen ist. Ein ruhiger Gegenstand zeigt sich bloss in seinem Dasein, er ist also durch und in sich selbst geschlossen. […] Ich getraue mir daher nochmals zu wiederholen: daß die Gruppe des Laokoons, neben aller übrigen anerkannten Verdiensten, zugleich ein Muster sei von Symmetrie und Mannigfaltigkeit, von Ruhe und Bewegung, von Gegensätzen und Stufengängen, die sich zusammen, teils sinnlich, teils geistig, dem Beschauer darbieten, bei dem hohen Pathos der Vorstellung eine angenehme Empfindung erregen und den Sturm der Leiden und Leidenschaft durch Anmut und Schönheit mildern.21

Das Schöne und das Erhabene gelten als untrennbar für die Ästhetik der Aufklärung, wobei das Schöne sich vor allem mit der systembildenden Wissenschaft verbinden lässt, das Erhabene dagegen mit schöpferischem Denken und Poesie. Alles in allem stellen sie jedoch zwei unterschiedliche Methoden zur Verkündigung der gleichen Wahrheit dar, indem sie in jeder Einzelerscheinung unumgänglich ihreZusammengehörigkeit zum Vorschein bringen.22 Die beiden suchen nach einem Medium, indem sie sich gegenseitig im Austausch zwischen der künstlerischen Intuition und der reinen Vernunft 19 Johann Joachim Winckelmann: Gedanken über die Nachahmung der Griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst (1755). Stuttgart 1885, S. 8. 20 Gotthold Ephraim Lessing: Laokoon oder Über die Grenzen der Malerei und Poesie (1767). Sämmtliche Schriften. Bd. 6. Hg. v. Karl Lachmann. Berlin 1839, S. 389. 21 Johann Wolfgang Goethe: Über Laokoon. In: ders.: Kunsttheoretische Schriften und Übersetzungen. Schriften zur bildenden Kunst I. Bd. 19. Hg. v. Siegfried Seidel. Berlin u. Weimar 1973, S. 129f. 22 Vgl. Roman Frigg u. Matthew Hunter: Introduction. In: dies. (Hg.): Beyond Mimesis and Convention. Representation in Art and Science. Dodrecht 2010 (Boston Studies in the Philosphy and History of Science Bd. 262), S. XV–XXX, hier XVI.

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erproben.23 „[D]ie philosophischen Prüfungen der Schönen [waren] nur auf dem Pulte der Gelehrten, und bei den seltenen Männern von ächten Geschmacke zu finden […]. Es fehlte diesen lieblichen Werken der Musen und Grazien ganz das zurückschreckende Ansehn jener tiefen Untersuchungen, und der größte Theil der Nation hatte sich noch nicht überzeugt, daß die Bildung des Geschmacks nur durch Studium vollendet wird“, schrieb Eberhard Friedrich Rambach, der erste Professor der Kameralwissenschaften an der Universität Dorpat.24 Per aspera ad astra, ruft der künftige Universitätsarchitekt, während er hinter den Astronomen die enge Treppe zum Turm der uralten Domkirche hinaufsteigt. Man träumte hier mit offenen Augen und begab sich in das Ungewisse. Die Universität sollte als Tempel Salomons heranwachsen, wie die größten deutschen Architekturtheoretiker Nikolai Goldmann und Leonhard Christoph Sturm bereits vor hundert Jahren vorausgesagt hatten.25 Zu der Zeit, als Krause an den Entwürfen der Universität arbeitete, hatten ihre Ideen die ursprüngliche Bedeutung gewissermaßen eingebüßt. In der ersten deutschen Architekturzeitschrift Allgemeines Magazin für die bürgerliche Baukunst wurde dies 1789 folgendermaßen in Worte gefasst: „Es wäre sehr unphilosophisch, zu glauben, daß Gott dem Menschen Unterricht in der Baukunst gegeben, oder dem David und Salomo Vorschrift ertheilt habe, wie sie ihm einen prächtigen Tempel erbauen sollten […].“26 Krause hatte über mehrere Jahre hinweg nach einer tragenden Idee für die Universität und nach bestgeeigneten Vorbildern recherchiert, um diese Idee zu verwirklichen. Beim Richtfest der auf den Ruinen der Domkirche errichteten Bibliothek ließ er einen seiner fünf Gesellen im Fackellicht ein von ihnen selbst verfasstes flammendes Gedicht vortragen. „was Salomo all’ dem Hieron vertraut, […] steht alles in der Bibel geschrieben. […] Akropolis mit ihren Propyläen – / Man könnte noch durch tausend Orte gehen; / nach Daphne, Selinunt und Agrigent, / die Antiquar und Liebhaber kennt, / wo wahre Baukunst ist zu sehn.“ Als große Beispiele werden im Gedicht die Hallen von Luxor und Palmyrens Tempel erwähnt, es wird auf das Colosseum und das Pantheon, auf den Dom der Peterskirche in Rom, das Straßburger Münster sowie auf Maylands und Sevillas Cathedralen hingewiesen. Und das Fazit lautet: „Vitruvius, der Kunst- und Ehrenmann, / steht allen von Rechtswegen oben an, / weil von den Andern, die lehrten und schrieben, / wenig oder wohl gar nichts übrig geblieben.“27 23 Vgl. Ernst Cassirer: The Philosophy of the Enlightenment. Transl. by Fritz C. A. Koelln and James P. Pettegrove: Princeton u. Oxford 2009, S. 266f. 24 Eberhard Friedrich Rambach: Bildung des Gefühls für das Schöne auf öffentlichen Schulen. Berlin 1794, S. 47. 25 Siehe auch Anu Ormisson-Lahe: Toomkirikust valgustusajastu templiks [Aus der Domkirche zum Tempel der Aufklärung]. In: Juhan Maiste (Hg.): Johann Wilhelm Krause, 1757–1828, Linnaehitajana Tartus. Kataloog 3 [Johann Wilhelm Krause, 1757–1828. Als Stadtarchitekt nach Tartu]. Tartu 2011, S. 99–162. 26 G. S. Klügel: Versuch über den Salomonischen Tempel. In: Allgemeines Magazin für die bürgerliche Baukunst (1789), S. 15–28, hier S. 15. 27 Johann Wilhelm Krause: Bau-Rede beym Richten des Daches der Kaiserlichen Bibliothek zu Dor-

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In seinem 1753 erschienenen Essai sur l’Architecture beschreibt der jesuitische Architekturtheoretiker Marc-Antoine Laugier als Archetypus der Architektur die Urhütte, die in Deutschland bereits 1768 durch eine in Leipzig herausgegebene Übersetzung bekannt geworden war. Die Urhütte, eine Parallele für Herders Urpflanze bzw. Urpferd, wie sie bei den Friesenskulpturen des Parthenon zu sehen waren, begeisterte Goethe und ergänzte die Lexik des Visuellen mit dem von Rousseau geprägten Begriff ,unschuldige Kindheit’, der in den Architekturtraktaten des späten 18. Jahrhunderts einen festen Platz einnahm.28 Krause schreibt: „Am sanften Hügel im Schattenhain, im Halle starken Eichen, kehrt er (Adam) mit seinem Liebchen ein, ein Schirmdach zu erreichen. Die Stämme bildeten Säulen baar, die Aeste Binder und Rähmen: das Laub ward Dach – die Hütte war vorerst mitzunehmen.“29 Von der Urhütte leitet sich der erste Entwurf des Badehauses der Universität ab, bei dem das von Friedrich Gilly entworfene ,Lusthaus über der Eisgrube zu Paretz‘ als Vorbild diente, das vom Titelblatt des zweiten Bandes der Sammlung von Aufsätzen und Nachrichten die Baukunst betreffend aus dem Jahr 1800 bekannt war.30

3. Johann Wilhelm Krause und der architekturtheoretische Gedanke seiner Zeit Bereits im Jahre 1803 bestellte Krause für das Architekturkabinett der Universität die von August Rode 1796 herausgegebene deutsche Übersetzung des Werks von Vitruvius. Der Baukunst Wesen besteht in Anordnung – ordinatio, Griechisch τάξις, – Einrichtung – dispositio, Griechisch διάζεσις, – Übereinstimmung – eurythmia, – Ebenmaass – symmetria, – Schicklichkeit – decor und Eintheilung – distributio Griechisch οίκονομία. […] Die zur Einrichtung erforderlichen Baurisse – species, Griechisch ίδέαι – sind folgende: Der Grundriss – Ichnographia, – der Aufriss – orthographia – und die Aussicht – scenographia.31

Die neue Herangehensweise an die Architektur setzte die Anwendung mehrerer längst vergessener Begriffe voraus, die sowohl Funktion (Nützlichkeit) als auch Sta-

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pat. Entworfen von den Gesellen des ehrsamen und wohllöblichen Zimmergewerkes. Joh. Heinrich Stoebe, aus Merseburg, Christ. Fried. Heubel, aus Brandenburg, Christoph Bramann, aus Hannover, Wilh. Geist, aus Cassel, Joh. Grebnitz, aus Magdeburg. Öffentlich gesprochen von Johann Grebnitz aus Magdeburg den October 1804. Gedruckt bey M. G. Grenzius, Universitätsbuchdruckerei. Das Digitalisat ist verfügbar unter: https://dspace.ut.ee/handle/10062/32611 [17.06.2021]. Siehe zum Beispiel: Johann Gottfried Grohmann: Recueil D’Idées Novelles pour La Decoration des Jardins et des parcs dans la gout Anglois, Gothique, Chinois etc. Offertes aux Amateurs des jardins Anglois et aux Proprietaires. Premier Cahier. Paris 1797, Taf. VI. Paralleltext auf Deutsch. Johann Wilhelm Krause: Bau-Rede beym Richten des Daches der Kaiserlichen Bibliothek zu Dorpat (= Anm. 27), S. 5. Siehe Friedrich Maurer (Hg.): Sammlung von Aufsätzen und Nachrichten die Baukunst betreffend. Bd. 2. Berlin 1800. August Rode: Des Marcus Vitruvius Pollio Baukunst. Aus der römischen Urschrift übersetzt. 2 Bde. Leipzig 1796. Auf dem Titelblatt Krauses Signatur vom 15. April 1806, hier Bd. 1, 2. Kapitel, S. 25.

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Abb. 3: Marcus Vitruvius Pollio: Baukunst. Aus der römischen Urschrift übersetzt von August Rode. Bd. 1. Leipzig 1796. Frontispiz. Mit Johann Wilhelm Krauses Unterschrift.

tik (Festigkeit) – Utilitas und Firmitas – umfassten, und vor allem die Schönheit (Venustas), in der die beiden zu einer Einheit verbunden wurden. Dies umfasst sowohl die Ordinatio (Bezüge und Proportionen der einzelnen Teile des Bauwerks) als auch die Distributio (Wahl und Ökonomie der Baumaterialien), den Decor (Verzierungen, die zeigen sollten, welcher Gottheit der Tempel gewidmet war), die Dispositio (Außenansicht des Bauwerks, die sich aus dem Zusammenspiel der Einzelteile ergab), die Orthographia (Aufriss der Fassade), die Scaenographia (perspektivische Wiedergabe von Fassade und Seitenflächen von einem höheren Mittelpunkt aus) und die Ichnographia (Grundriss und Lage in der Natur).32 Das Ganze sollte durch Eurythmia (Harmonie im heutigen Sinn) zu einer Einheit verbunden werden. Anstatt einer buchstäblichen Nachahmung der berühmten Vorbilder aus der Vergangenheit kommt in der Architektur nunmehr der theoretische Aspekt stärker zum 32 Vgl. Hanno-Walther Kruft: Geschichte der Architekturtheorie. Von der Antike bis zur Gegenwart. München 1985, S. 20–30.

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Tragen, indem neben praktischen Fertigkeiten und Fachlexika eine Beschäftigung mit tieferen Grundsätzen der Baukunst in den Mittelpunkt gestellt wird. „Jemand arbeitet als Handwerker, wenn er blos mechanisch erlernten Regeln folgt; hingegen als Künstler, wenn seine Arbeiten nach gewissen wissenschaftlichen Regeln, oder nach Grundsätzen, die seine Arbeit zu Kunstwerken erheben, verfertigt werden“, schrieb Friedrich Meinert in einem der bekanntesten Architekturkompendien des 18. Jahrhunderts.33 Durch die begriffliche Unterscheidung zwischen Ästhetischem Idealismus, Ästhetischem Idealrealismus und Ästhetischem Skeptizismus bzw. der Kunstkritik im heutigen Sinn gibt Karl Morgenstern dem von Alexander Baumgarten entlehnten ,Prinzip der sinnlichen Vollkommenheit‘ einen konkreten Inhalt.34 Theoretisches Wissen wurde Teil der Architekturausbildung, in der dem Gleichgewicht zwischen Fertigkeiten und dem aufklärerischen Ideal die zentrale Bedeutung zukam, wie ein Bauinspektor und Lehrer bei der Provinzial-, Kunst- und Bauhandwerksschule zu Breslau sich ausdrückte: „Ein vollkommener Baumeister, wie ihn Vitruvs Ideal darstellt, muß sich durch edlere Gesinnungen und Handlungen von dem gemeinen Lohnarbeiter unterscheiden.“35 In dem 1799 veröffentlichten Curriculum der Berliner Bauakademie stand: „Lange vergebens wünschte der Baumeister, welcher die Bedürfnisse der Architektur übersehen konnte, ein Institut, wo hinlänglicher Unterricht über alle Zweige der Baukunst in gehöriger Verbindung ertheilt würde, und wobey Theorie und Praxis, Hand in Hand, zur Bildung des angehenden Baumeisters beytrügen.“36 Ein Architekt sollte sich Kenntnisse in Arithmetik, Algebra, Elementargeometrie und Trigonometrie, Körperlehre, Optik, Perspektive, Hydrostatik und Bauphysik – insgesamt in mehr als 30 Studienfächern aneignen. Krause war der erste Baumeister im Baltikum, für den die Architektur nicht nur praktisches Können bedeutete (in diesem Bereich konnte ihm der Baukonduktor der Universität Johann Gabriel Kranhals behilflich sein), sondern vor allem enzyklopädisches Wissen, Kenntnisse über viele verschiedene ästhetische Auffassungen und Werke von Klassikern der Architektur. In einer Buchbestellung, die er im Jahre 1803 für das Architekturkabinett der Universität Dorpat aufgestellt hatte, findet sich eine breite Auswahl an derzeit populären Architekturtraktaten, z. B. Werke von Blondel dem Älteren (Jacques Blondel) und Blondel dem Jüngeren (Jacques-François Blondel), Francesco Milizia, Le Camus de Mézières, Friedrich Christian Schmidt, Lorenz Johann

33 Friedrich Meinert: Die Landwirtschaftliche Bauwissenschaft. Teil 1. Halle 1796, S. 5. 34 Karl Morgenstern: Grundriss einer Einleitung zur Ästhetik, mit Andeutungen zur Geschichte derselben. Dorpat 1815, S. 13–15. 35 C. G. Hirt: Anfangsgründe der schönen Baukunst, oder der Civil-Baukunst in ästhetischer Hinsicht, insonderheit desjenigen Theils derselben, welcher die Construction der Säulen nach ihren verschiedenen Ordnungen, als der ältesten und schönsten Werke der Baukunst lehrt. Königl. Bauinspektor, und Lehrer bey der Provinzial-, Kunst- und Bau-Handwerksschule zu Breslau. Breslau 1804, S. VIII u. S. 16. 36 Johann Albert Eytelwein: Nachricht von der Errichtung der Königlichen Bauakademie zu Berlin. In: Friedrich Maurer (Hg.): Sammlung von Aufsätzen und Nachrichten die Baukunst betreffend. Bd. 2. Berlin 1800, S. 29.

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Daniel Suckow, Johann Friedrich Penther u. a.37 Dem Universitätsarchitekten stand unter anderem eine von dem französischen Verleger Charles-Antoine Jombert 1764 in Paris herausgegebene Reihe aus Werken von Andrea Palladio, Vincenzo Scamozzi und Jacques Barozzi da Vignola zur Verfügung.38 Von den Werken von Christian Ludwig Stieglitz besaß er sowohl seine Geschichte der Baukunst der Alten39 als auch die fünfbändige Enzyklopädie der bürgerlichen Baukunst.40 Unter den von dem Architekten ausgefüllten Leihscheinen der Universitätsbibliothek aus den Jahren 1806–1826 (zu insgesamt 118 registrierten Leihvorgängen), die gelegentlich mit seinen eigenen Kommentaren versehen sind,41 finden sich Belege zur Benutzung von Johann Joachim Winckelmanns Anmerkungen über die Baukunst der Alten, Johann Wolfgang Goethes Propyläen (Nr. 70) und Carl Ludwig Fernows Römischen Studien (erschienen 1806). Die Archäologie der Baukunst der Griechen und Römer42 von Christian Ludwig Stieglitz, in der u. a. ein Palast mit sechs Säulen abgebildet ist, sowie Zeichnungen aus der schönen Baukunst43 von demselben Autor konnten für Krause Anregungen beim Entwerfen der Fassade des Hauptgebäudes der Universität geboten haben. Die Entwürfe der östlichen Fassade des von Claude Perrault entworfenen Louvre sowie die Pläne von Luigi Vanvitelli für den Palast von Caserta benutzte der Professor offensichtlich in seinen Architekturvorlesungen. In Les edifices antiques de Rome dessinés et mesurés très exactement (Paris 1682) von Antoine Babuty Desgodetz kann man die Abbildungen des Pantheon in Rom finden, die bei der Planung des Anatomischen Theaters der Universität als Vorbild dienen konnten. Nach Jean Simon Berthélemy wurden vom Architekten die Propyläen der Akropolis in Athen, nach dem Reisebericht von Jean-Pierre Houël Voyage pittoresque des isles de Sicile, de Malte et de Lipari (1782–1787) antike Ruinestätten, nach Voyage pittoresque et historique de la Syrie, de la Phénicie, de la Palaestine et de la basse Aegypte (1799) von Louis-François Cassas Monumente im Nahen Osten auf ein großes Whatman-Papier kopiert.

37 Universitätsbibliothek Tartu, Bestand 4, Findbuch 2, Akte 277, S. 10f. 38 Die Werke von Palladio, Scamozzi und Vignola erschienen 1764 in einer neuen Redaktion (Nouvelle Èdition) in: Bibliothéque portative d’architecture élémentaire à l´usage des artistes. Divisée en six parties, Paris 1764. 39 Christian Ludwig Stieglitz: Geschichte der Baukunst der Alten. Leipzig 1792. 40 Christian Ludwig Stieglitz: Encyclopädie der bürgerlichen Baukunst, in welcher alle Fächer dieser Kunst nach alphabetischer Ordnung abgehandelt sind. Ein Handbuch für Staatswirthe, Baumeister und Landwirthe. 5 Bde. Leipzig 1792–1798. 41 Leihzettel der Professoren 2: Jäsche – Lenz (1811–1836). Johann Wilhelm Krause 1806–1826. UB Tartu Bestand 9, Findbuch 4, Nr. 609. 42 Christian Ludwig Stieglitz: Archäologie der Baukunst der Griechen und Römer. 2 Bde. Weimar 1803. 43 Christian Ludwig Stieglitz: Zeichnungen aus der schönen Baukunst oder Darstellung idealischer und ausgeführter Gebäude mit ihren Grund- und Aufrissen auf 100 Kupfertafeln. Mit nöthigen Erklärungen und einer Abhandlung über die Schönheit dieser Kunst begleitet. Leipzig 1805.

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Abb. 4: Pyramide. Phantasieprojekt von Johann Wilhelm Krause nach Friedrich Gilly. 1814. Universitätsbibliothek Tartu.

Als Inspirationsquelle diente dem Architekten die sogenannte „Papierarchitektur“44 seiner Zeit, was bei Weitem nicht mit Kopieren oder Abschauen gleichzusetzen ist, sondern die Fähigkeit voraussetzte, unter den hunderten und aberhunderten von Blättern das Seine zu erkennen, was einem über die Schönrederei hinaus auf die ,Flügel von Pegasus‘ verhelfen könnte. Bei der Planung der Manege der Universität bediente sich Krause als Vorbild eines der hervorragendsten Projekte seiner Zeit – der von Camus de Mézières entworfenen Halle aux blés in Paris, deren Kuppel von David Gilly in der Sammlung nützlicher Aufsätze ausführlich analysiert worden war.45 Le Camus de Mézières’ Le genié de l’architecture (Paris 1780) und der in diesem Werk gebrauchte Begriff – ,architecture parlante‘ (sprechende Architektur), den der Italianer Francesco Milizia geprägt hatte und der durch die Zeitschrift Allgemeines Magazin für bürgerliche Baukunst (Jahrgänge 1789 und 1790) erstmals in deutschen Medien

44 Klaus Jan Philipp: Um 1800. Architekturtheorie und Architekturkritik in Deutschland zwischen 1790 und 1810. Stuttgart u. London 1997, S. 9. 45 David Gilly: Ueber die Wiedererbauung der Kuppel der sogenannten Halle-au-blés in Paris. In: Sammlung nützlicher Aufsätze die Baukunst betreffend. Für angehende Baumeister und Freunde der Architektur 6 (1806), H. 2, S. 77–90.

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Abb. 5: Entwurf Pyramide von Johann Gottfried Grohmann. In: Ideenmagazin für Liebhaber von Gärten, englischen Anlagen und für Besitzer der Landgärten 3 (1802).

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geläufig wurde, zeichnete den Weg zu einer von den französischen Revolutionsarchitekten ausgeübten imaginären Architektur. Nach Le Camus de Mèzières sollte der Baumeister zu einem ,Priester des Lichts‘ werden.46 Eines der Phantasieprojekte von Krause stellt die Pyramide als ein zeitloses Symbol der Baukunst dar.47 Diesen Status hatte sie durch die Phantasieprojekte von Étienne-Louis Boullée erlangt.48 In den Kreisen der Berliner Bauakademie wurde diese Art von Architektur von dem jungen deutschen ,Genie‘ Friedrich Gilly repräsentiert, der sich von der französischen Revolutionsarchitektur begeistert hatte. Der Berliner Architekt Jackisch benutzte die Pyramide bei seinem Entwurf für das Monument zum 300. Geburtstag von Martin Luther. Krause hatte es nach der Darstellung kopiert, die 1805 in Grohmanns Ideenmagazin veröffentlicht wurde.49 Von der dramatischen Melancholie der Revolutionsarchitektur wird auch die von Krause für den Friedhof Pernau (Pärnu) entworfene sogenannte Totenstadt samt deren zentralem Bau, der sogenannten Totenhalle (1823), getragen.50

4. Von der Idee bis zur Architektur. Die Universität im Park Die Universität stellte für die nach Dorpat berufenen Professoren eine Herausforderung dar, die unter damaligen Verhältnissen auch in größeren Ländern und an namhafteren Universitäten nicht endgültig bewältigt werden konnte. Vieles sollte erst erlernt oder entdeckt werden. Dabei kam es darauf an, die von Vitruvius geprägten Begriffe zu benutzen, die bereits von Leonhard Christoph Sturm bei der Beschreibung der Sakral- und Profanarchitektur – den Kirchen, Bürgerhäusern, Lagerstätten, Börsenhäusern etc. – benutzt worden war: Ichnographia (Grundriss), Ortographia (Fassade), Intersectio (Abriss) und Scaenographia (perspektivische Wiedergabe).51 Leider mangelte es an Informationen darüber, wie eine Universität errichtet werden soll. Sturms Worten zufolge hatte niemand konkrete Regeln dazu niedergelegt, was bei der Planung von Bauwerken für akademische Zwecke berücksichtigt werden sollte. Daß von dieser besondern und gar nützlichen Art Schulen unser Goldmann gar nichts gemeldet / ist ohne Zweifel daher / weil sie zu seiner Zeit kaum recht in Gebrauch gekommen / wiewohl die Palaestrae von dem Römischen Reich bey den alten Griechen nicht 46 Vgl. Le Camus de Mézières: Von der Übereinstimmung der Baukunst mit unseren Empfindungen. In: Allgemeines Magazin für bürgerliche Baukunst 1 (1789), S. S. 97–172 u. 2 (1790), S. 66–111. 47 Universitätsbibliothek Tartu, Bestand 9, Findbuch 1, Akte 29, S. 1 u. S. 2. 48 Vgl. Philippe Madec: Etienne-Louis Boullée. Basel, Boston u. Berlin 1989, S. 64ff. 49 Als direktes Vorbild diente Krause die von Johann Gottfried Grohmann publizierte Abbildung einer Pyramide. In: Ideenmagazin für Liebhaber von Gärten, englischen Anlagen, und für Besitzer von Landgütern, um Gärten und ländliche Gegenden sowohl mit geringern, als auch (mit) grossen Geldaufwand, nach den originellesten Englischen, Gotischen, Sinesischen Geschmackmanieren 3 (1802), St. 3, Nr. 40. 50 Bekannt nach dem Buch von Johann Heinrich Rosenplänter: Ueber Kirchhöfe und Beerdigung der Todten, nebst einem Anhange, den Pernauschen Kirchhof betreffend, von Johann Heinrich Rosenplänter, Pastor an der St. Elisabeth’s Kirche in Pernau [...]. Pernau 1823. 51 Leonhard Christoph Sturm: Kurze Vorstellung der ganzen Civil-Bau-Kunst, worinnen erstlich die vornehmsten Kunst-Wörter, so darinnen immerzu vorkommen. Augspurg 1745, Taf. I–IV.

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Juhan Maiste anders mögen gewesen seyn / ausser so viel als ihre Art die Adeliche Jugend zu erziehen unterschieden gewesen. Davon Vitruvius Lib. V. cap. XI. zu sehen ist. Es sind aber dazu viel und theils kostbahre Gebäude nöthig. […] Es sind aber Ritter-Schulen oder Academien, wo junge Printzen / Grafen / Freyherrn und Edelleute in ihrem hohen Stand gemässen Sitten / Sprachen / Wissenschaften und Leibes Exercitiis erzogen werden. […] Darum werden Standsmäßige Wohnungen vor sie / Säle / Küchen und andere zu ihrer Speisung erforderte Bequemlichkeiten / Auditoria zu ihrer Unterweisung / Stallungen vor SchulPferde und Reit-Häuser / wie auch Fecht- und Tantz- Boden darinnen seyn müssen. […] Es sollen aber darinnen von Wissenschafften billich gelehret werden / neben der Lehre von der Gottseligkeit, und von Glauben / auch die Kirchen-Geschichte/ das nützlichste von dem Jure, die Notitz / die Staats-Historia und Geographia, die Wohlredenheit und Kunst wohl zu schreiben / die Historia der Bibliothecen und Wissenschafften / aus der Mathesi aber Arithmetica, Geometria, Elementaris und Practica, Architectura Civilis und Militaris, Feuerwerckerey und Mechanica. […] Die Gebäude können am füglichsten also eingetheilt werden / wie ich es ungefehr in Wolffenbüttel vor diesem angetroffen / daß um ein Herren Hauß / welches in der Mitte frey stehet / die übrigen Gebäude um einen grossen Hoff entweder ganz umher oder nur an drey Seiten gebauet werden / also daß vorner her/ nach Art der Frantzösischen Hôtels, nur Ställe ein Geschoß hoch / und in der Mitte das Portal gebauet werde.52

In Sturms Beschreibung stellte die Universität einen Palast dar, ein geschlossenes Barockensemble, etwa wie ihre Vorgänger, die Akademien der italienischen Renaissance, durch die sie inspiriert wurde.53 1699 hatte auch Nikolai Goldmann von einem ähnlichen Riesenpalast mit doppeltem Innenhof gesprochen (ohne diesen jedoch näher zu beschreiben).54 In dieser „Hohen Schule“, wie er die Anstalt nannte, sollte un homme galant herangezogen werden im Geiste der höfischen Exerzitien, die er von Zuhause mitbekommen hatte.55 Seinem Text folgen Zeichnungen, auf denen drei bis vier Varianten für eine solche Akademie skizziert sind: Die erste Abbildung zeigt einen imposanten Palast mit einem Mansardendach und drei Risaliten, dessen Fassade zwischen den Fensterreihen des ersten und zweiten Stockwerks durch Pilaster mit korinthischen Kapitellen gegliedert ist. In der zweiten Abbildung werden die auf drei Flügel verteilten Wohn- und Studienräume wiedergegeben, die von einem rotundenförmigen mittleren Korpus (Stall zum Schuhlholtz) ausgehen. In der Mitte, über der turmartigen Rotun52 Leonhard Christoph Sturm: Nikolai Goldmanns Lib IV. Cap. III. Ritterakademien. In: ders.: Vollständige Anweisung allerhand öffentliche Zucht- und Liebes-Gebäude. Als hohe und niedrige Schulen, Ritter-Academien, Waysen-Häuser, Spitäle vor Alte und Krancke und endlich besonders also genannte Zucht-Häuser und Gefängnusse wohl anzugeben. Augsburg 1720, unpaginiert. 53 Vgl. Jörg Stabenow: Die Universität als Palast? Zur typologischen Identität der frühneuzeitlichen Universitätsarchitektur in Italien. In: Klaus Gereon Beuckers (Hg.): Architektur für Forschung und Lehre. Universität als Bauaufgabe. Beiträge zur Tagung des Kunsthistorischen Instituts der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel am 5. bis 7. Juni 2009. Kiel 2010, S. 57–90. 54 Vgl. Nikolai Goldmann: Vollständige Anweisung zu der Civil-Bau-Kunst, Math. Prof. Publ. bey der Hoch-Fürstl. Academie zu Wolffenbüttel. Braunschweig, 1699, 4. Buch, 2. Cap., S. 132. 55 Vgl. Gerd-Helge Vogel: Architecture for teaching, learning and research. Academic Architecture at German Universities in the European Context from the Middle Ages to the Enlightenment. In: Kadri Asmer u. Juhan Maiste (Hg.): In Search of the University landscape. The Age of the Enlightenment. Tartu 2018, S. 95–120, hier S. 110.

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Abb. 6: Leonhard Christian Sturm: Ritterakademie. In: Vollständige Anweisung allerhand öffentliche Zucht- und Liebes-Gebäude. Augsburg 1720, Taf. VI.

de, ragt – gemäß den Phantasien der Barockzeit – ein Glockenturm. Die dritte Abbildung führt den ,Grundriss des viertentheils eines vollständige Universitätts-Collegii‘ an: Wir sehen einen geräumigen Hofraum rings um eine Kirche, umgeben von einer Gartenanlage, vor der ein Teil ,Universitätsgarten‘ genannt wird. Die vierte Abbildung ,Grundriss eines vollständigen Universitäts-Collegii. Eine Imitation nach Goldmanns Austheilung‘ stellt den mittleren Teil einer vierflügeligen geschlossenen Schlossanlage mit dem Namen ,Magnum Auditorium Solerne‘ dar, der kreisförmig von einer ,Bibliotheca publica‘ umgeben ist. Die Akademie-Entwürfe von Sturm waren bestenfalls unrealistisch. In der 1732 erschienenen Enzyklopädie von Zedler steht: „Academia wurde derjenige Ort genennet, wo Plato di Philosophie lehrete, und war ein Haus in der Vorstadt zu Athen 100 Schritte von der Stadt gelegen wobey ein schöner grosse Garten lag.“56 Die Vorbilder der zukünftigen Universität wurden die von Zedler hervorgehobene Aca56 Johann Heinrich Zedler: Grosses vollständiges Universal-Lexikon Aller Wissenschaften und Künste, welche bishero durch menschlichen Verstand und Riss erfunden und verbessert wurden. Bd. 1. Halle u. Leipzig 1732, Sp. 238–243.

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demie de l’Architecture, Academie Royale de la Peinture, sowie das von Monsieur Colbert gegründete College der Vier Nationen (Collège des Quatre-Nations),57 das als allegorische Metapher in der Idee des Völkerdenkmals im ehemaligen Burggraben in Dorpat wiederbelebt wurde. Als Francesco Milizias Principi di Architettura Civile 1781 in Parma veröffentlicht und bereits nach einigen Jahren ins Deutsche übersetzt wurde, konnte man da Folgendes lesen: Man wähle einen großen genau viereckigen oder ablangen Platz dazu, und führe auf einer Hauptseite das Universitätsgebäude mit einer prächtigen und etwas ernsthaften Fassade auf. Im Bodengeschoß, welches etwas über die Gasse erhoben seyn muß, werden rings um einem geräumigen Hofe Hörsale angelegt, welche gewölbt sind. Im obern Stock, um welchen Gallerien umher laufen, kommen andre Säle und Zimmer für die Naturlehre, Chymie, Anatomie ec. um Versuche und Vorlesungen darin anzustellen. Man giebt ihnen gerne eine runde Form mit Sitzen und Stufen umher in Gestalt eines Amphitheaters, damit die Zuschauer alle bequem sehen können; die Schränke mit den Instrumenten werden an den Wänden angebracht. […] Ein Paar Thürme sind nicht zu vergessen, vovon der eine zur Uhr und der andre zur Sternwarte bestimmt ist.58

Eine Vorstellung von einem allumfassenden Universitätsgebäude bietet auch die zu ihrer Zeit sehr populäre Enzyklopädie von Christian Ludwig Stieglitz, der unter einer Universität ein Gebäude verstand, worin alle Arten von Wissenschaften gelehrt werden. […] so können in dem Erdgeschosse, rings um einen geräumigen Hof herum, die Hörsäle angelegt werden. In dem obern Stockwerke können andere Säle und Zimmer für die Naturgeschichte, Naturlehre, Chemie, Anatomie, und dergleichen, sich befinden, um hier Versuche und Vorlesungen anzustellen. Man giebt ihnen eine runde Form mit Sitzen und Stufen umher, in Gestalt eines Theaters, damit alle Zuhörer und Zuschauer bequem sehen können. In eben dem Stockwerke wird den Bibliotheken, und den Sammlungen von Naturalien, Antiquitäten, physikalischen und andern Instrumenten, der Platz angewiesen. […] Uebrigens muß auch ein Observatorium angelegt seyn, welches man in der Mitte der Hauptfassade des Gebäudes auf einem Thurme anbringen kann.

Darüber hinaus sollte das Haus noch verschiedene Säle zu Feyerlichkeiten, und zu Zusammenkünften des akademischen Senates [enthalten], und es ist auch nöthig, daß ein botanischer Garten sich dabei befindet. […] Die äußere Ansicht eines Schulgebäudes muß einfach und ohne alle Pracht und Verschwendung seyn. Eine symmetrische Anordnung aller Theile, ohne überflüssige Verzierungen, große Parthien und schickliche Stellung aller Theile, dieses wird den Character von Ehrfuhrt und Ernst hervorbringen, den ein solches Gebäude verlangt. Zierlichkeit soll mit Simplicität und Bescheidenheit verbunden seyn. 59

57 Ebd. 58 Francesco Milizia: Grundsätze der bürgerlichen Baukunst in drei Theilen. Teil 2. Aus dem Italienischen übersetzt von C. L. Stieglitz. Leipzig 1824, S. 194f. 59 Christian Ludwig Stieglitz: Encyklopädie der bürgerlichen Baukunst, in welcher alle Fächer dieser Kunst nach alphabetischer Ordnung abgehandelt sind. Ein Handbuch für Staatswirthe, Baumeister und Landwirthe. Teil 5. Leipzig 1798, S. 74–76.

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Die neue Zeit forderte eine neue Denkweise. Anstatt einer Ritterakademie, mit deren Gründung in Dorpat 1799 begonnen wurde, sollte im ersten Jahr nach deren Entwürfen – wie dies in den Protokollen des Kuratoriums nachgelesen werden kann –, das Hauptgebäude errichtet und der Botanische Garten angelegt werden; für das zweite Jahr wurden die Manege und die Ställe geplant und für das dritte das Anatomische Theater und die Sternwarte.60 Das Hauptgebäude der zu errichtenden Universität sollte dabei sowohl den praktischen (wesentlichen) als auch ästhetischen (ornamenden) Anforderungen entsprechen.61 Dies setzte bereits in den damaligen Verhältnissen anstatt eines zentralen Studiengebäudes mehrere voraus, die über den ganzen Stadtkern verteilt wären, wie dies in Oxford, Cambridge und teilweise auch in der Sorbonne vorliegt. Der damalige Generalgouverneur von Livland und Estland Ludwig von Nagel äußerte 1798 in einem Brief an Zar Paul I. den Gedanken, dass die Universität in Dorpat bei deren Holzhäusern und unregelmäßig angelegten Straßen die ordnungsschaffende Rolle übernehmen solle. Eines der Grundstücke, die der Universität für das Hauptgebäude zugeteilt wurden, lag in der Unterstadt an der Stelle der Ruine der Maria-Kirche, das andere auf dem Domberg, anstelle der ehemaligen Bischofskirche, wo die Universitätsbibliothek errichtet werden sollte.62 Schon zu dieser Zeit schlug der erste Verleger und Buchhändler der Universität Johann Ludwig Gauger dem Kuratorium vor, die Kirche an der Stelle der im Livländischen Krieg stark beschädigten und unter schwedischer Herrschaft abgerissenen westlichen Türme der Domkirche wieder aufzubauen.63 Die Universität hatte ihre Wurzeln u. a. in den deutschen Universitäten Halle und Heidelberg; einen direkten Einfluss erhielt sie von der ersten modernen Lehranstalt in Deutschland, die dem liberalen Geist folgte – der Universität Göttingen, die sich bereits in der Regierungszeit von Katharina II. als Reiseziel für viele Untertanen der russischen Krone großer Beliebtheit erfreute.64 An Göttingens Burggraben wurden Spazier- und Reitalleen angelegt; wie von selbst wuchsen überall in der Stadt akademische Gebäude empor. In den Jahren 1748–1750 wurde in Göttingen ein Krankenhaus gegründet, 1751 wurde das Kollegienhaus errichtet, 1770 die Universitätskirche, und 1808 kam es zur Eröffnung der Bibliothek in den Gewölben der mittelalterlichen Paulinerkirche.65 Ähnlich dem Bibliotheksgebäude 60 Kontrakte, Protokoll-Extrakte und Briefwechsel mit dem Rat der Stadt Dorpat den Kaufleuten und anderen über Einrichtung der Dorpater Universität, Erbauung der Universitätsgebäude, Anschaffung von Baumaterialien und anderes. 1800 – 1803. Estnisches Nationalarchiv EAA.402.4.3, 38. 61 Ebd. Estnisches Nationalarchiv EAA 402.4.3, 24. 62 Ludwig von Nagel an Zar Paul I. Russisches Staatliches Historisches Archiv (RGIA) in St. Petersburg, 1374, 2, 1436, l. 99ff. 63 Brief von Johann Ludwig Gauger an das Kuratorium der Dorpater Universität. Estnisches Nationalarchiv EAA 402.4.3, 48. 64 Vgl. Markus Wischnitzer: Die Universität Göttingen und die Entwicklung der Liberalen Ideen in Russland im ersten Viertel des 19. Jahrhunderts. Berlin 1907, S. 13. 65 Vgl. Christian Freigang: Architektur und Städtebau von der Mitte des 17. Jahrhunderts bis 1866. In: Ernst Böhme u. Rudolf Vierhaus (Hg.): Göttingen: Geschichte einer Universitätsstadt, Bd. 2: Vom Dreißigjährigen Krieg bis zum Anschluss an Preußen. Der Wiederaufstieg als Universitätsstadt (1648–1866). Göttingen 2002, S. 765–812.

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Abb. 7: Fassade des Hauptgebäudes der Universität Dorpat. Zeichnung von Johann Wilhelm Krause 1807. Nationalarchiv Tartu.

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in Dorpat, das zur gleichen Zeit erbaut wurde, konnte man auch hier Anklänge an die Neugotik feststellen. Im Vergleich zu den Schwesteruniversitäten in Deutschland hatte die Universität Dorpat eine architektonische Besonderheit. Bei der Aufnahme der neuen Professoren in Embach-Athen wurde nicht in erster Linie von Bildung und Forschung und den dazu benötigten Gebäuden geträumt, vielmehr von einem einheitlichen Ensemble, das der Stadt durch die Zusammenfügung der Einzelelemente ein eigenes Gesicht verleihen sollte. Die Universität wurde in einem Park gegründet, der sich in seinem philanthropischen Geist mit der von Johann Christian Senckenberg 1763 gegründeten medizinischen Stiftung in Frankfurt am Main vergleichen lässt. Das von Krause entworfene Anatomicum in Dorpat und das Anatomische Theater Senckenbergs (heute nicht mehr erhalten) weisen deutliche Gemeinsamkeiten auf. Wichtiger erscheint bei Krause jedoch noch die Idee eines Akademie-Parks, die von Goethe im Jahre 1811, ein halbes Jahrhundert nach Senckenbergs Tod, fixiert wurde: Eine „ansehnliche Wohnung mit Hof, Garten und allem Zubehör, auf der Eschenheimer Gasse, [die er] zu einer medizinischen Stiftung widmete, wo neben der Anlage eines bloss für Frankfurter Bürger bestimmten Hospitals, ein botanischer Garten, ein anatomisches Theater, ein chemisches Laboratorium, eine ansehnliche Bibliothek und eine Wohnung für den Direktor eingerichtet ward, auf eine Weis, deren keine Akademie sich schämen dürfte.“66

5. Im Lichte der Klassik Bei der Grundsteinlegung für das Hauptgebäude der Universität im Jahre 1805 lauteten Krauses Worte: „Es werde Licht in der Hütte! Es mildre sich der Flitterglanz der überfeinerten Kultur; das Niedre wie das Hohe stehe gleich auf ebner Linie des Rechts; das Starke unterstütze das Schwache, und die Bereitwilligkeit, das anerkannte Wahre und Gute die fördern, herrliche überall“.67 Mit seiner architektonischen Sprache gelang es dem Architekten, gemäß den Ansprüchen des damals vorherrschenden Klassizismus und dem von Winckelmann formulierten Grundsatz ,edle Einfalt und stille Grösse‘, dem Hauptgebäude eine dem Empire entsprechende Feierlichkeit zu verleihen. Der Charakter dieses Gebäudes muß seinem großen Zwecke entsprechen. Er muß mehr Würde, Einfachheit und Festigkeit, als Zierlichkeit und Leichtigkeit haben. Die dorische Ordnung ist demselben angemessen. Die Vorlage, nur allein verziert, springt blos um die 66 Johann Wolfgang von Goethe: Dichtung und Wahrheit, Erster Teil 2. Buch, zitiert nach Wolfgang Klausewitz: Goethe und die Senckenbergische Naturforschende Gesellschaft. In: Fritz F. Steininger u. Anne Kossatz-Pompé (Hg.): Senckenberg, Goethe und die Naturwissenschaften. Sonderausstellung „Quer durch Europa“ im Naturmuseum Senckenberg vom 17. Juli 1999 bis 2. Januar 2000. Stuttgart 2002, S. 5–20, hier S. 5. 67 Johann Wilhelm Krause: Einige Worte bey der Legung des Grundsteins zum Hauptgebäude der Kaiserl. Universität, gesprochen von Johann Wilhelm Krause, Professor, d. Z. Baudirector. Der fünfzehnte September in Dorpat. Dorpat 1805, S. 6.

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Juhan Maiste Mauerdicke vor, und die Postamente treten nur so weit vor, als es die Säulen mit ihrem hinter ihr stehenden Pilaster erforden. Ihre Axen sind nach Vitruv Aerostyl, und leiden keine größere Entfernung, ohne die Empfindung des Einbrechens des Gebälkes zu erzeugen. […] Die Verschiedenheit der Facaden, und deren Verzierung, ist nicht Flüchtigkeit, sondern Probe, wie die Theile so oder so geordnet, zum Charakter des Ganzen paßten. […] Eingänge sind fünf. […] Ueber der Mitttelthüre stehe eine kurze Inschrift in der Füllung und in dem übrigen Embleme der Facultetes en bas Relief.68

Den Hauptsaal der Universität nannte Krause Peristyl. Nach den Regeln der fünf Ordnungen der Architektur (Regola delle cinque ordini d’architettura) von Giacomo Barozzi da Vignola, die Krause bereits in der Jugend studiert hatte, wurde hier der attische Fuß als Modul verwendet. Auch bei den Proportionen und Kapitellen der Säulen stützte er sich auf Vignolas Alben (mit einem Modul 2:4, Säulenabstand auf dem Stylobat – 5 Module).69 Vorbilder boten auch andere von Krause bestellte Architekturkompendien, darunter die im 4. Teil der Enzyklopädie von Stieglitz dargestellten Details,70 Zeichnungen von H. C. Riedel dem Jüngeren etc.71 Krause schrieb: Schon im vorigen Jahre die Säulen zu dem peristyle bestelt, welche die Gallerie tragen sollten. Die Anordnung der Säulen ist nach Vignola: Der halbe Durchmesser oder Modul hat 2.‘4“. und die Säulenweite 5. Modul also Eustylos. Sie sind in Ionischer Ordnung von gespaltenem Tannen-Holz, inwendig hohl. Der Modul enthält 8 ¼. Zoll im 18. part, ebenfals nach Vignola. Man wählte den attischen Fuss und das Capital mit geschweiftem Abacus und 8. Voluten ohne festons. […] und die Harmonie mit den grossen Wandpfeilern von eben der Ordnung, deren Modul 13 ½ Zoll beträgt […].“72

Der Säulensaal der Universität Dorpat wurde um ein halbes Jahrhundert früher fertiggestellt als die durch den klassizistischen Stil inspirierten feierlichen Aulen der Universitäten in Helsinki, Göttingen und Oslo. Das Pathos, das von den sechs dorischen Säulen ausgeht, die heute als Symbole der Universität gelten, leitet eine architektonische Szenerie ein, in die das gesamte Ensemble ringsum mit eingebettet ist. Ich wage sogar zu behaupten, dass Krauses Talent sich gerade bei der Gestaltung des Stadtraums in seiner vollen Größe eröffnete. Er hatte sich bereits in jungen Jahren auf die Tätigkeit als Parkarchitekt vorbereitet, sich als Hauslehrer und Baukondukteur auf Gutshöfen in Livland weitergebildet, und er war imstande, die Baukunst mit Natur und Stadtlandschaft zu verbinden. In diesem 68 Brief von J. W. Krause an G. F. Parrot, den 13. März 1803. Estnisches Nationalarchiv EAA.402.5.14, l. 7v−8v. 69 Universitätsbibliothek Tartu, Bestand 9, Findbuch 1, Akte 29, S. 2. Jacopo Barozzi del Vignola: Règles des Cinq Ordres d’Architecture. Aus der Reihe: Bibliothéque portative d’architecture élémentaire à l’usage des artistes: divisée en six parties. Paris 1764. 70 Christian Ludwig Stieglitz: Encyklopädie der bürgerlichen Baukunst, in welcher alle Fächer dieser nach alphabetischer Ordnung abgehandelt sind. Teil 4. Leipzig 1797. 71 Die Abbildung findet sich in: Sammlung architektonischer äusserer und innerer Verzierungen für angehende Baumeister und Liebhaber der Baukunst 6 (1806), Taf. VI. 72 J. W. Krause: Pläne und Zeichnungen. Das Universitäts-Hauptgebäude (1803–1812). Pläne nebst Erklärungen. Architekturdetails. 16. Sept. 1804 – Apr. 1826. Universitätsbibliothek Tartu, Bestand 9, Findbuch 1, Akte 29, S. 2.

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Abb. 8: Ionisches Kapitell von der Seite, nach Giacomo Barozzi Vignola, Zeichnung von Johann Wilhelm Krause, 1816, Universitätsbibliothek Tartu.

Zusammenspiel wird die Baukunst durch Gartenkunst unterstützt – so Christian Ludwig Stieglitz, Autor einer fünfbändigen Architekturenzyklopädie –, und auf diese Weise entsteht eine Ganzheit, die einen Leitfaden zum Verständnis der Einzigartigkeit von Dorpat zur Zeit der Aufklärung bietet. Bei der Planung der Parkanlage auf dem Domberg benutzte Krause Werke der wichtigsten deutschen Parkkunsttheoretiker der Aufklärung, unter anderem von Johann Gottfried Grohmann, Philosophieprofessor in Leipzig,73 und von Christian Cay Laurenz Hirschfeld, Philosophieprofessor der Kieler Universität.74

73 Johann Gottfried Grohmann: Ideenmagazin für Liebhaber von Gärten, englischen Anlagen, und für Besitzer von Landgütern, um Gärten und ländliche Gegenden sowohl mit geringern, als auch (mit) grossen Geldaufwand, nach den originellesten Englischen, Gotischen, Sinesischen Geschmackmanieren. Baumgärtner. Leipzig 1796–1806. 74 Christian Cay Laurenz Hirschfeld: Theorie der Gartenkunst. 5 Bde. Leipzig 1779–1785.

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Die Kuppeln der Sternwarte und des anatomischen Theaters auf dem Domberg führen Assoziationen mit den von Hirschfeld abgebildeten Parkpavillons herbei. Krause sucht nach überzeugenden Vorbildern für seine Phantasien in vielen Architekturtraktaten und Enzyklopädien. Er blättert in Zedlers Lexikon, studiert zu Hause Werke von Krünitz und Stieglitz (wie dies den Leihscheinen der Universitätsbiblithek zu entnehmen ist). In Grohmanns Handwörterbuch über die bürgerliche Baukunst stößt er auf eine Beschreibung, die seinen Vorstellungen von der Sternwarte entspricht: „Observatorium, Sternwarte, […] Was die Lage anlangt, so muss sie ganz frei sein, damit man von allen Seiten den Horizont sehen könne. […] Wird das Observatorium in einer Stadt, also sehr hoch, angelegt, so thut man wohl, wenn man es auf ein altes, festes Gebäude setzt, weil dessen Mauern schon völlig ausgetrocknet sind, und sich ganz gesetzet haben.“75 Als Prototyp des anatomischen Theaters kann man die in François Blondels Architecture Françoise angeführte Abbildung „Elévation exterieure L’Amphitéâtre de l’académie Royale Chirurgie“ ansehen, von dem sein Schüler Jacques Gondouin bei der Planung der Chirurgenschule in Paris ausgegangen war, die freilich für 1400 Zuschauer bestimmt war.76 Auf der Suche nach einer ,wirklichen Architektur‘ stellte Krause aufgrund der Modulrechnungen der früheren Vorbilder Tabellen auf, in denen er den Maßstab des Parthenons mit den Sizilianischen Tempeln Segasta, Selinunte und Agrigento und diese mit den Grundsätzen in Vitruvius’ Zehn Büchern über Architektur verglichen hatte.77

6. Die Wiedergeburt der Gotik Neben dem Klassizismus galt in der Baukunst als Zeichen der Zeit auch die Gotik, deren Wiedergeburt als Gothic revival Anfang des 18. Jahrhunderts in England den Ton angab und sich von da aus auf dem europäischen Kontinent verbreitete. Die Gotik wurde zum Sinnbild für ein romantisches Lebensgefühl und die ,Berufung der Seele‘. Als ein Hohelied für das neue Zeitalter klingen die von Johann Wolfgang von Goethe geäußerten Worte über das Straßburger Münster und dessen Baumeister Erwin Steinbach: Als ich das erstemal nach dem Münster gieng, hatte ich den Kopf voll allgemeiner Erkenntnis guten Geschmacks. Auf Hörensagen ehrt ich die Harmonie der Massen, die Reinheit der Formen, war ein abgesagter Feind der verworrenen Willkürlichkeiten gotischer Verzierungen. […] Ein ganzer, großer Eindruck füllte meine Seele, den, weil er aus tausend harmonierenden Einzelnheiten bestand, ich wohl schmecken und genießen,

75 Johann Gottfried Grohmann: Handwörterbuch über die bürgerliche Baukunst und schöne Gartenkunst. Teil 2: N–Z. Leipzig 1804, S. 7f. 76 Jacques-Francois Blondel: Architecture Françoise. L’Architecture française, ou Recueil de plans, d’élévations, coupes et profils. Liv. 3, Nr. XV, Tafel IV. Paris 1756, S. 76. 77 Johann Wilhelm Krause: Tabelle der Säulenarchitektur unter dem Titel: Unterschiede zum Beweise, dass die alten Künstler sich nicht ängstlich an eine Regel banden bey der Säulenstellung. 1819. UB Tartu, Bestand 9, Findbuch 41, Akte 27, S. 2.

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keinesweges aber erkennen und erklären konnte. […] Da er Gott danken sollte, laut verkündigen zu können, das ist deutsche Baukunst, unsre Baukunst, da der Italiener sich keiner eignen rühmen darf, vielweniger der Franzose.78

Die größte Kathedrale des Baltikums auf dem Dorpater Domberg sollte zu einem Tempel der Aufklärung umgestaltet werden, wo Kirche und Bibliothek unter einem Dach Platz finden und die Sternwarte nach den ursprünglichen Plänen an Stelle der westlichen Türme emporragt. „Die Manen des Dorpatischen Bischops, seiner Domherren und Capitularen spukten in meinem Gehirn. Ich sehe den Erbauer, dem Maurer folgen, der die Stellen zu den allmächtigen Pfeilern und Säulen marquirt, indem ich aus der Analogie des Chors, die Ikonographie des Schiffes versuchte – ich hörte den Hymnus bey der Einweihung die hohen Gewölbe durchströmen.“79 In seinen Phantasien hatte Krause die ganze Domkirche wieder aufgebaut. So wurden an mehreren deutschen Universitäten bereits seit dem 16./17. Jahrhundert Bibliotheken in mittelalterlichen Gewölben eingerichtet (Leipzig, Marburg, Tübingen etc.).80 Leider sollte die ursprüngliche Idee in Dorpat aus Mangel an Ressourcen aufgegeben werden. Morgenstern schrieb an den damaligen Rektor Parrot: „Daß die colossale Idee, das Ganze für unsre Zwecke auszubauen, unsre Kräfte weit übersteigt: […] Lassen Sie die Idee, die Ruine mit zur Bibliothek zu benutzen – mögen Sie nun dieß übriges einrichten, wie Sie wollen, und wie es unser Kunstverständiger Krause für’s beste hält – um Himmels willen nicht fahren.“ Die Universitätsbibliothek sollte „wenigstens nicht weniger schöner als von den Bibliotheksälen in Wien, Dresden etc.“ werden. „Überhaupt ist hier die Wahl – entweder bekommt Dorpat einen gemeinen Bücheraal, wie es hunderte gibt, oder in dem Rondeel nach meiner Idee früher, später durch Inneres und Äußeres eine der interessantesten Bibliotheken des Nordens.“81 Im Vergleich zu den anderen Universitätsgebäuden ist das Projekt der Bibliothek zweifellos das anspruchsvollste. Einerseits lässt sich die Idee mit der von Gottfried Wilhelm Leibniz gegründeten ersten Wissenschaftlichen Bibliothek in Wolffenbüttel verknüpfen, andererseits mit der Bibliothek an sich als einem besonderen kulturellen Phänomen, das bis zu dieser Zeit eine lange Entwicklung durchgemacht hatte. Es gab damals noch keine Vorstellung davon, wie eine Bibliothek aussehen sollte. In seiner 1786 erschienenen Encyclopédie Méthodique beschreibt Diderot unter dem Stichwort ,Bibliothéque‘ Bibliotheken im alten Griechenland,

78 Johann Wolfgang Goethe: Von deutscher Baukunst. D. M. Ervini a Steinbach (Erstausgabe 1773). Zit. nach: Allgemeines Magazin für die bürgerliche Baukunst, S. 85ff. 79 Johann Wilhelm Krause: Berichte, Protokoll-Extrakte und Briefwechsel mit dem Kurator des Dorpater Lehrbezirks der Baukommission und anderen betreffend den Bau des Hauptgebäudes der Bibliothek, des Klinikums, des Anatomikums, des Observatoriums, der Treibhäuserer und des Wohngebäudes im botanischen Garten und des Ökonomikums der Universität. Vol 1. 29.12.1802– 17.09.1806. Estnisches Nationalarchiv EAA 402.5.14, l. 17r−17v. 80 Vgl. Elisabeth Hütter: Die Pauliner Universitätskirche zu Leipzig. Geschichte und Bedeutung. Weimar 1993, S. 121. 81 Briefwechsel zwischen Georg Friedrich Parrot und Karl Morgenstern 1802–1803. Zusammengestellt von Ingrid Loosme u. Mare Rand. Tartu 1992, S. 38f.

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Abb. 9: Querschnitt der Sternwarte. Zeichnung von Johann Wilhelm Krause, 1804. Nationalarchiv Tartu.

Rom und Ägypten.82 In Zedlers Enzyklopädie steht als Stichwort für die Bibliothek ,Bücher-Vorrath‘, daneben kommen auch ,Bibliopola‘ und ,Librarie‘ vor.83 In der Enzyklopädie von Johann Georg Krünitz wird die Bibliothek in den Artikeln ,Buchhändler‘, ,Buchführer‘ und ,Bibliopola‘, ,Fr. Librarie‘ erläutert.84 Die Bibliothek als Bauwerk wird in der Architekturenzyklopädie von Stieglitz näher bestimmt: „Bibliothek, Büchersaal ist ein Gebäude, oder einige große Zimmer in einem Gebäude, wo ein Vorrath von Büchern aufbewahrt und in Schränken aufgestellt ist. […] Eine schöne Anlage für eine Bibliothek ist diejenige, wenn man das Licht von oben herein fallen läßt und ringsherum an den Wänden die Bücher hinstellt.“85 An einer anderen Stelle beschreibt er Universitätsbibliotheken, die in einem eigens für sie errichteten Gebäude untergebracht werden sollten. „Eine bequeme Treppe führe alsdann zum Hauptgeschoß mit den Zimmern für die Bibliothekare und Aufseher, und mitte dem 82 Vgl. Encyclopédie Méthodique. Antiquités, Mythologie, Diplomatique des Chartres et Chronologie. Bd. 1. Paris 1786, S. 452. 83 Vgl. Johann Heinrich Zedler: Grosses vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschafften und Künste. Bd. 3. Halle u. Leipzig 1733, S. 1836. 84 Vgl. Johann Georg Krünitz: Oekonomische Encyclopädie oder allgemeines System des Staats-, Stadt-, Haus- u. Landwirthschaft. Teil 7. Berlin 1784. 85 Christian Ludwig Stieglitz: Encyklopädie der bürgerlichen Baukunst, in welcher alle Fächer dieser Kunst nach alphabetischer Ordnung abgehandelt sind. Ein Handbuch für Staatswirthe, Baumeister und Landwirthe. Teil 1. Leipzig 1792, S. 95f.

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Saale der Bibliothek selbst. Diesem kann man allerley Formen geben: z. Bew: eine große Rotunde mit Säulenordnungen, mit Bücherregalen in den Säulenweiten.“86 Für Dorpat dienten moderne Bibliotheken in Deutschland als Vorbilder, unter anderem gewiss in Dresden, wo Krause bereits in seiner Jugend den neben der Kunstakademie gelegenen hohen Bibliothekssaal besucht hatte, dessen Wände – ähnlich der Vatikanischen Bibliothek – mit Malereien geschmückt waren.87 Morgensterns Erinnerungen reichten bis in das Jahr 1798 zurück, als er eine Studie über die Sixtinische Madonna verfasste.88 Aus früheren Zeiten kannte Krause auch die von Johann Bernhard Fischer von Erlach entworfene Wiener Hofbibliothek sowie die im Gewölbe des einstigen Minoritenklosters (Wasserkirche) in Zürich eingerichtete Bibliothek, einen Tempel, der zu Ehren der „Heiligen und Märtyrer“ erbaut war.89 Vor den Augen des Architekten wurden Erinnerungen an seine Studienzeit in Leipzig wach, als er als Theologiestudent zum ersten Mal die von Johann Carl Friedrich Dauthe neu erbaute Nikolaikirche (1794) gesehen hatte, die einen festen Platz im Herzen der jüngeren Architektengeneration einnahm. Nachdem er die Kirche noch einmal besucht hatte, schrieb er: Ich kannte sie aus vorigen Zeiten als eine alte, im Gothischen Stil erbaute, düstere Kirche, an allen Seiten mit Kapellen behängt; und vermuthete höchstens einen weißen Anstrich und neue Vergoldung darin zu finden, die mit der übrigen alten Einrichtung einen sichtbaren Contrast machen würde. […] Genug, nach meinen wenigen Einsichten wüsste ich keinen Ausweg, wie der Baumeister diese Gothischen Pfeiler und Gewölbe mit der übrigen Griechischen Bauart in bessere Harmonie hätte bringen können.90

Einen nützlichen Hinweis gab die Ruine eines Schlosses des deutschen Ritterordens in Marienburg, die Friedrich Gilly 1795 besucht hatte. Ein Jahr später, als Gillys Zeichnungen in der Berliner Akademie der Künste ausgestellt waren, konnte auch Krause sie bewundern, als er durch die Hauptstadt Preußens in die Schweiz reiste. Nach einigen Jahren veröffentlichte Friedrich Frick Gillys 19 Ansichten der Marienburg.91 Leider wurde die Domkirche in Dorpat nie wieder aufgebaut. Als Krause in den 1820er Jahren zu den Domprojekten zurückkehrte, ließ er die größten Kathedralen Europas nochmals vor seinen Augen vorbeiziehen. Von den zwei Arten der Gotik – von einer alten und massiven einerseits und von einer leichteren und eleganteren andererseits, dem sogenannten modernen Stil, als dessen Vertreter Diderot die Westminsterkirche zu London und die Kathedrale von Lichfield 86 Grundrisse der bürgerlichen Baukunst von Francesco Milizia in drey Theilen. Aus dem Italienischen übersetzt von Christian Ludwig Stieglitz. Teil 2. Leipzig 1824, S. 196f. 87 Zur Dresdner Bibliothek siehe Friedrich August Ebert: Geschichte und Beschreibung der königlichen öffentlichen Bibliothek zu Dresden. Leipzig 1822. 88 Siehe Karl Morgenstern: Raffael’s Marie in der Gallerie von Dresden. In: Der neue teutsche Merkur 27 (1798), H. 3, S. 240–248. 89 Salomon Vögelin: Geschichte der Stadtbibliothek in Zürich. Zürich 1848, S. 81f. 90 Johann Wilhelm Krause: Ueber einige Werke der Baukunst zu Leipzig und besonders über die neu verbesserte Nikolai-Kirche daselbst. Aus einem Briefe des Herrn Amts-Vorsteher Verweser Schmidt in Gotha. In: Allgemeines Magazin für die bürgerliche Baukunst 1792, S. 1–13, hier S. 5. 91 Johann Friedrich Frick: Schloss Marienburg in Preussen. Berlin 1799.

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Abb. 10: Dorpater Domkirche in Ruinen. Zeichnung von Johann Wilhelm Krause aus dem Jahr 1803. Universitätsbibliothek Tartu.

ansieht,92 galt Krauses Vorliebe der Letzteren. Einen weiteren Hintergrund für die Ideen des Architekten bietet die im späten 18. Jahrhundert in Deutschland geführte Diskussion über Gotik, in der dem Begriff ,barbarisch‘ eine neue Bedeutung zukam. Alles, was nicht in den Rahmen des aus der Klassik herrührenden ,guten Geschmacks‘ (bon gout) hineinpasste, wurde Gotik genannt: „Wir nennen nur gar zu gerne alles Gotisch, was wir übel ausgedacht, oder geschmacklos, nennen sollten, und was die gotischen Baumeister selbst schlecht gefunden haben werden.“93 Der Stil eines Bauwerks sollte seiner Funktion angemessen sein, behauptete Friedrich Eberhard Rambach,94 der seit 1803 Professor an der Universität Dorpat war, und von diesem Standpunkt ging Krause bei seiner Entscheidung aus. Als Vorbild für die Umgestaltung der Domkirche dienten ihm die monumentalen Pläne von

92 Encyclopédie, ou Dictionnaire raisonné des Sciences, des Arts et des Métiers, par une Société de Gens de Lettres. Bd. 7. Paris 1757, S. 749. 93 Christian Trugott Weinlig: Ueber Gotische Bauart, Aus Hern. Weinligs vier und und dreissigen Briefe über Rom. In: Allgemeines Magazin für die bürgerliche Baukunst (1789), S. 80–84d, hier S. 80. 94 Vgl. Friedrich Eberhard Rambach: Romantische Gemälde in antiken, gotischen und modernen Geschmack. Halle 1793.

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St. Sulpice in Paris, die in Blondels Alben veröffentlicht wurden und in damaligen deutschen Architekturzeitschriften Aufmerksamkeit erweckten.95 Krauses Wahl fiel schließlich auf die Kathedralen in Naumburg und Meißen, die in Johann Gottfried Grohmanns Album abgebildet sind. Bei der Restaurierung der gotischen Fenster und der Fensterrose der westlichen Fassade sowie der Portale (Tab. III–VIII) wurden die größten Kathedralen Deutschlands, die Domkirchen in Merseburg und Naumburg, als Vorbilder angesehen. In den Abbildungen IX und X sind sowohl die Vorbilder für die mit länglichen Akanthusblättern verzierten Kapitelle an den etwas eigenartig geformten Pfeilern, die bis heute das Innere des Doms schmücken, als auch für das zu den Bücherregalen im ersten Stock der Bibliothek führende durchbrochene Treppengitter (Tab. XII) dargestellt.96 Bei der Verzierung der Rosetten, Friesen etc. wurden die Sammlungen von Riedel dem Jüngeren als Vorbild benutzt.97 Ursprünglich wurden für die Kirche zwei riesige Westtürme geplant, allerdings verzichtete der Architekt unter dem Druck seitens des Kurators Lieven auf den einen mit dem Kommentar, dass auch die Admiralität in St. Petersburg, die Erzengel-Michael-Kirche in Riga sowie die Münster in Hamburg und Straßburg so aussähen.98 Dabei konnte er sich eine ironische Bemerkung bezüglich der Ideen seines langjährigen Kollegen Parrot nicht verkneifen: „Parrot erhob sich nun ebenfalls als Architekt. Wenn es aber mit seinen Geologie und Vulkanen nicht besser steht, als mit der praktischen Baukunst, so – doch ein guter Mensch er kann wohl zuweilen auf allerlei Ideen von Allewissenschaft und Vollkommenheit verfallen. Er forderte nun einen 300 Fuss hohen Thurm, ohne die Fundamente zu kennen.“99 Wäre die Domkirche in Dorpat tatsächlich nach ursprünglichen Plänen wieder auf95 Vgl. Christian Trugott Weinlig: Ueber Gotische Bauart (= Anm. 93), S. 84 b: „Blondel sagt in dem 1sten Abschnitt seiner Architektur S. 1. [d. h. „Cours de Architecture“]: die gute Architektur sei nach den Einfällen der Barbaren lange Zeit unter den Ruinen der alten Gebäude verborgen geblieben, und habe jener ungeheuren, unerträglichen, Manier, die noch zu unserer Väter Zeit unter dem Namen der gothischen Baukunst gewöhnlich gewesen sei, Platz gelassen. Im 16ten Abschnittt des 5ten Theils im 5ten Bande bemerkt er: die gothischen Gebäude hätten im Ganzen genommen, doch lauter Verhältnisse nach den Regeln der Kunst, und man könne mitten unter den vielen kleinen schlechten Zierrathen, mit denen sie überhäuft wären, dennoch ihre Symmetrie nicht verkennen.“ 96 Johann Gottfried Grohmann: Bruchstücke der gotischen Baukunst gesammelt und dem Studium der Baukünstler und dem Vergnügen der Liebhaber gewidmet, gestochen von Frosch und Hüllmann, Baumgärten. Leipzig 1799, Bd. 1, Taf. 1. Das Titelblatt der in der Universitätsbibliothek Tartu befindlichen französischen Ausgabe des Buches „Recueil des dessins d´une exécution peu dispendieuse contentat des plans des petit maisons de champagne, petit pavillions de jardins, temples, hermitages, chaumiéres monuments, obélisques, ruines, portails, portes, grille, bancs de jardins, chaises, voliéres gondoles, ponts etc“. (Venise 1796–1806) ist von Krause signiert. 97 Als Vorbilder dienten die von Riedel publizierten Zeichnungen vom Rathaus Kalisch (poln. Kalisz). Heinrich Karl Riedel: Sammlung architektonischer äusserer und innerer Verzierungen für angehende Baumeister und Liebhaber der Baukunst. H. 2. Berlin 1804, Taf. IV. 98 Johannes Frey: Ein alter Plan zum Wiederaufbau des Dorpater Domes. In: Sitzungsberichte der Gelehrten Estnischen Gesellschaft. Dorpat 1911, S. 114; Estnisches Nationalarchiv EAA 402.5.143, 11. 99 Das erste Jahrzehnt der ehemaligen Universität Dorpat. Aus den Memoiren des Professors Johann Wilhelm Krause. In: Baltische Monatschrift 54 (1902), S. 81–103, hier S. 101.

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Abb. 11: Rekonstruktionsprojekt der Dorpater Domkirche von Johann Wilhelm Krause. Zeichnung von Altar und Orgelwand aus dem Jahr 1803 (wurde nicht umgesetzt). Nationalarchiv Tartu.

gebaut worden, ragte sie wie Friedrich Schinkels Dom über die Stadt.100 „Aufgeschaut! Hoch ist’s erbaut das Werk des Alten und Neuen. Ehrwürdiger Thum, dir bleibt dein Ruhm. Mag Gott die Seegen verleihen.“101 Das ganze Universum unter einem Dach! Bedauerlicherweise wurden die Projekte nicht verwirklicht, die entworfene Kirche war für Dorpat viel zu groß. Der Phantasie wurden die Flügel gebrochen. 1821 wurde beschlossen, den Absolventen der Berliner Bauakademie, den Baumeister des weißen Helsinki Carl Ludwig Engel, zum Dombau nach Dorpat zu rufen. Er hatte einige Zeit zuvor (1808–1813) als Stadtarchitekt in Reval (Tallinn) gewirkt und kannte die hiesigen Verhältnisse.

100 Friedrich Schinkel: Dom über einer Stadt, 1813 (Original verschwunden). Kopie 1830, Pinakothek München. 101 Johann Wilhelm Krause: Bau-Rede (= Anm. 27), S. 5.

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Ich erhielt im Sommer vom Professor Struve aus Dorpat, im Auftrag des Canclers der dortigen Universität Grf: Lieven, eine Anfrage, ob ich wohl geneigt seyn sollte, die Direktion des Ausbaues der alten dortigen Kirche (eine alte Ruine) zur Univeritäts Kirche, mit mehren Säulen zu den Sammlungen, und mit einen hohen Thurm alles in Gotischem Styel wie das alte Gebäude ist, zu übernehmen; da der alte Professor Krause, der die übrigen Universitäts Gebäude gebaut hat, so alt und kränklich sey, dass er nicht mehr vermöge diesen richtigen Bau selbst zu leiten.102

7. Ein Stern unter Sternen Bereits in der Zeit, als Krause als Hauslehrer bei Baron Delwig auf dem Gutshof Neuhof (Jaunā) in der Nähe von Riga tätig war, entdeckte er den ersten Teil der in Riga bei Hartknoch herausgegebenen Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit von Herder (1784), in der die Naturphilosophie als Grundlegung zu den geschichtsphilosophischen Ideen behandelt wird. „Unsre Erde ist ein Stern unter Sternen. […] Mit unsichtbaren, ewigen Banden ist sie an ihren Mittelpunkt, die Sonne, gebunden, von der sie Licht, Wärme, Leben und Gedeihen erhält.“103 Nach Krause hatte kein anderes Buch einen so starken Einfluss auf seine Seele ausgeübt. „Licht – Recht – Wohlfahrt sind das Ziel unsrer grossen Sorgen“, sagte Krause.104 In seiner Venia legendi im Jahre 1803 verkündete er: „Durch Anordnung und Verbindung eine Macht, die Höhe und Tiefe, Helle und Düsterheit der ästhetischen Empfindung zu erzeugen und zu beherrschen, deren sanften Übergänge sich endlich in moralische auflösen.“105 Die Schönheit der Natur und die Schönheit der Kunst bilden zwei untrennbare Pole in der Epoche der Aufklärung. Unter der Kuppel des geistigen Pantheon in Dorpat trafen sich die lebendigen Geister, die bereits vor ihrer Ankunft in Embach-Athen einen langen Weg zurückgelegt und von diesem Weg einen unbeugsamen Willen mitgenommen hatten, etwas Großes zu leisten. Die Welt, von der geträumt wurde, stellte eine Einheit dar, in der dem Wissen und der Phantasie gleicher Rang zugemessen wurde, und – was noch wichtiger war –, um den Worten von Christian Cay Laurenz Hirschfeld, eines der Lieblingsautoren von Krause, eine eigene Deutung zukommen zu lassen: Wer kennt nicht diese von den Dichtern aller Jahrhunderte besungenen, von den Philosophen gepriesenen, oft sich selbst gewünschten Freuden, diese von dem zum Genuß seines Daseyns noch nicht verstimmten Menschen so gern empfundenen Freuden des Landes? 102 Carl Ludwig Engel an Carl Herrlich 22.12.1822. In: Carl Ludwig Engel. Kirjeet = Brev = Briefe 1813–1840. Hg. v. Nils Erik Wickberg. Helsinki 1989, S. 406. 103 Johann Gottfried Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Leipzig 1841, S. 1. 104 Johann Wilhelm Krause: Bilder aus Altlivland. Aus den Aufzeichnungen eines livländischen Hofmeisters vom Ende des vorigen Jahrhunderts. In: Baltische Monatschrift 51 (1901), S. 31–48, 123–136, 201–214, 291–304, 422–448, hier S. 202. 105 Johann Wilhelm Krause: Ökonomie und Architektur. Eine Skizze über wechselseitigen Einfluss derselben auf Gemeinwohl als Antrittsrede, gehalten 13sten Junius 1803. Dorpat 1803, S. 15.

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Abb. 12: Brücke (spätere Engelsbrücke) auf dem Domberg. Zeichnung von Johann Wilhelm Krause, 1810. Nationalarchiv Tartu.

Freuden, die selbst Bacon für die reinsten aller menschlichen Ergötzungen hielt; die Addison so würdig fand, daß er den Geschmack an ihnen für eine tugendhafte Gewohnheit des Gemüths erklärte.106

Die Abhänge des Dombergs wurden in Ordnung gebracht; über den einstigen Burggraben wurden Brücken angelegt, wobei eine von diesen, die sogenannte Engelsbrücke, auf Morgensterns Vorschlag hin die Aufschrift Otio et musis sacrum erhielt; diese wurde später durch den Spruch Otium reficit vires ersetzt. Die Vorbilder für die andere, die Klinikumsbrücke (später Teuffelsbrücke genannt), stammen von der ersten Bahnbrücke Englands in Coalbrookdale (1779), die Krause durch die Sammlung nützlicher Aufsätze und Nachrichten die Baukunst betreffend kannte.107

106 Christian Cay Laurenz Hirschfeld: Theorie der Gartenkunst. Von Christian Cay Laurenz Hirschfeld Königl. Dänischen würklichen Justizrath und ordentlichem Professor der Philosophie und der schönen Wissenschaften auf der Universität Kiel (1779–1785). Zit. nach: Christian Cay Laurenz Hirschfeld: Theorie der Gartenkunst. Berlin 1991, S. 56. 107 Vgl. David Gilly (Hg.): Sammlung nützlicher Aufsätze und Nachrichten die Baukunst betreffend: für angehende Baumeister und Freunde der Architektur. Bd. 6, Titelblatt. Berlin 1796.

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Abb. 13: Brücke (spätere Teufelsbrücke) auf dem Domberg. Zeichnung von Johann Wilhelm Krause, 1804. Universitätsbibliothek Tartu.

In der Universitätsarchitektur Dorpats bzw. Tartus spiegelt sich die jahrhundertelange europäische Kultur- und Kunstgeschichte wider, die hier durch eine gewisse Geistlichkeit bereichert wird und deren Botschaft dadurch sowohl in der Kulturgeschichte des Baltikums als auch in ganz Europa eine besondere Bedeutung zugemessen wird. Geboren in einem Grenzgebiet, im ,Dreieck‘ zwischen Deutschland, Polen und Böhmen, gelangte Krause mit 30 Jahren in ein anderes Grenzgebiet – nach Livland – und mit 46 Jahren nach Dorpat, wo ihm die einzigartige Aufgabe zuteil wurde, eine neue Universität zu entwerfen, deren Gebäude durch den Klassizismus sowie durch die Gotik inspiriert wären und – was noch wichtiger war – die als ein einzigartiges Pantheon der Natur und der Architektur als eine der hervorragendsten Leistungen der Aufklärung jeden anspricht, der je den Weg nach Tartu findet.

II. Medienphilosophie und Sprachkritik im Zeichen der Aufklärung

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Sonnenfinsternis, angeschaut „in einem Gefäße voll Wassers“. Hamanns Medienphilosophie Das „grosse[] und erschreckliche[]“1 Ereignis einer Sonnenfinsternis zu beobachten war bis weit ins 18. Jahrhundert hinein nicht nur der Neugier und Unterhaltung wegen angeraten, sondern auch aus Gründen des Zukunftswissens und der Krisenprognostik.2 Wollte man nicht durch den direkten Blick in die Sonne seine Augen bis zur Erblindung schädigen, waren für die Beobachtung besondere Vorkehrungen oder Apparaturen unerlässlich. So empfiehlt ein aus Anlass der großen Sonnenfinsternis im Mai 1630 verfasstes Traktat des Dramatikers Johann Georg Schwalbach, für die Beobachtung einen großen Spiegel, ein perforiertes sauberes Papier oder ein Gefäß mit reinem Brunnenwasser zu verwenden.3 Derartige Empfehlungen waren weit verbreitet. Im Fall eines mit Wasser gefüllten Gefäßes werden die einfallenden Lichtstrahlen von der Wasseroberfläche nur teilweise reflektiert, weshalb sich die Leuchtkraft im gespiegelten Bild der Sonne erheblich reduziert, zumal wenn das Gefäß eine dunkle Innenseite aufweist. Das Wasser wirkt als optisches Medium. Bezogen auf die Rezeptionsbedingungen des menschlichen Auges ermöglicht das solcherart herabgedimmte Spiegelbild eine angenehme Beobachtung der Sonne und ihrer allmählichen Verfinsterung.

1. Der enthüllende und verhüllende Charakter des Medialen Diesen intensitätsreduzierenden Effekt führt 1753 der englische Literaturkritiker Joseph Warton an, um den Verlust zu veranschaulichen, der bei der gängigen Rezeption antiker Autoren aus Zusammenfassungen neuzeitlicher Kommentatoren entsteht. Eine solche Vermittlung („such mediums“) gleiche der Betrachtung einer Verfinsterung der Sonne in einem mit Wasser gefüllten Gefäß.4 Der Vergleich betont das 1 Adam Olearius: Kurtze Erinnerung und Bericht, von der grossen und erschrecklichen Sonnen-Finsterniß [...]. Leipzig 1630. Auf dem Frontispiz ist ein Vers aus Luk 21 abgedruckt: „Es werden Zeichen geschehen an der Sonnen/ und Mond/ und Sternen/ und auff Erden wird den Leuten bange seyn.“ 2 Zur Bedeutung etwa der Sonnenfinsternis im Juni 1630 für den prognostizierten Tod von Papst Urban VIII. vgl. Sabine Kalff: Politische Medizin in der Frühen Neuzeit. Die Figur des Arztes in Italien und England im frühen 17. Jahrhundert. Berlin u. Boston 2014. (Frühe Neuzeit Bd. 189), S. 153f. 3 Johann Georg Schwalbach: Kurtzes/ Philosophische und Astronomische Bedencken/ Von jetziger Zeit gefehrlichen Beschaffenheit/ Wesen und Standt/ Auch wie es ins künfftig vermuthlich ergehen werde. Aus Anleitung der grossen Sonnenfinsternuß/ Anno 1630 [...]. Speyer 1630, unpag. 4 „To contemplate these exaltet geniuses through such mediums, is like beholding the orb of the sun, during an eclipse, in a vessel of water.“ (The Adventurer 49, vom 4. April 1753, zitiert nach: The British Essayists. A New Edition. Bd. 24. Hg. v. James Ferguson. London 1819, S. 41−47, hier S. 46). Die Bemerkung bezieht sich auf René Le Bossus und Pierre Brumoys Zusammenfassungen und Kommentare zu Aristoteles und Sophokles; Hamann gibt die Quelle an (Johann Georg Hamann:

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Defizitäre der Vermittlung gegenüber dem Original. Auf ihn bezieht sich 1762 Johann Georg Hamann in seinem grundlegenden Essay Aesthetica in nuce. Eine Rhapsodie in Kabbalistischer Prose. Der Essay führt, in dem für Hamann charakteristischen Cento-Stil verfasst, das erkenntnistheoretische, theologische, sprachphilosophische und poetologische Programm seines Denkens zusammen. Eine zentrale These definiert Reden nicht als einen Transfer, sondern als Transformation von Intelligiblem in sinnlich Wahrnehmbares: „Reden ist übersetzen – aus einer Engelsprache in eine Menschensprache“.5 Dabei werden „Gedanken in Worte, – Sachen in Namen, – Bilder in Zeichen“6 übertragen. Für jenes den Bereich der Schrift betreffende Übersetzen von Bildern in Zeichen fügt Hamann eine knappe Erläuterung an, die verschiedene kulturhistorische bzw. semiotische Stufen von Schriftzeichen unterscheidet.7 Insbesondere für die letzte Stufe, den Gebrauch arbiträrer Zeichen in der rezenten Sprache, merkt Hamann an, dass „[d]iese Art der Übersetzung (verstehe Reden) [...] mehr, als irgend eine andere [...] überein[komme] [...] mit einer Sonnenfinsternis, die in einem Gefäße voll Wassers in Augenschein genommen wird“.8 Sprachhandeln wird erneut als Übersetzen konzipiert und durch den Vergleich mit der medialisierten Betrachtung einer Sonnenfinsternis veranschaulicht. Reden vollzieht sich dem-

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Aesthetica in nuce. Eine Rhapsodie in Kabbalistischer Prose. In: ders.: Kreuzzüge des Philologen. [Königsberg] 1762, S. 159−220, hier: S. 169 – Hamanns Schriften werden im Folgenden unter Angabe der Band-, Seiten- und Zeilenzahl zitiert nach: Johann Georg Hamann: Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Hg. v. Josef Nadler. Wien 1949−1957). ‚Engelsprache‘ meint eine rein intelligible Kommunikation ohne sinnlichen Zeichenträger; vgl. „in das schmeichelhafteste Licht oder Engelgewand der Vernunft [...] einzukleiden oder metazuschematisiren“ Hamann: Hierophantische Briefe; zit. nach: Hamann: Werke, Bd. 3 (= Anm. 4), S. 144, 14−16. Hamann: Aesthetica; zit. nach: Hamann: Werke, Bd. 2 (= Anm. 4), S. 199, 4−6. Hamann erläutert die verschiedenen Relationen, in denen Bild und Zeichen zueinander stehen können: Die Zeichen könnten „poetisch oder kyriologisch, historisch, oder symbolisch oder hieroglyphisch – – und philosophisch oder charakteristisch seyn“ (Hamann: Aesthetica; zit. nach: Hamann: Werke, Bd. 2 (= Anm. 4), S. 199, 6−7). Diese Aufzählung, die einer gängigen Kategorisierung in Johann Georg Wachters Naturae et scripturae concordia [...] von 1752 folgt, ist als eine dreistufige Anordnung von Begriffspaaren zu lesen, mit der die kultur- und geistesgeschichtliche Entwicklung nachvollzogen wird. Dem frühesten Entwicklungsstadium (poetisches Kulturstadium) entspricht ein kyriologischer (nicht übertragener) Zeichengebrauch, bei dem die Zeichen ähnliche Bilder der bezeichneten sichtbaren Dinge sind, diese also direkt abbilden; dem historischen Kulturstadium entspricht ein symbolischer oder hieroglyphischer Zeichengebrauch, bei dem die Zeichen unähnliche Bilder der (nicht sichtbaren) Dinge sind, wobei diese Zeichen aufgrund der abstrakten Ähnlichkeitsbeziehung weniger eindeutig sind; dem philosophischen Kulturstadium entspricht schließlich ein charakteristischer Zeichengebrauch, bei dem die Zeichen keine Bilder mehr sind, sondern in willkürlicher, auf Konvention beruhender Weise bezeichnen und damit die Mehrdeutigkeit des symbolischen Zeichengebrauchs überwinden (nach Jørgensens Kommentar in: Johann Georg Hamann: Sokratische Denkwürdigkeiten. Aesthetica in nuce. Hg. v. Sven-Aage Jørgensen. Stuttgart 1993, S. 88 sowie nach Ulrich Moustakas: Urkunde und Experiment. Neuzeitliche Naturwissenschaft im Horizont einer hermeneutischen Theologie der Schöpfung bei Johann Georg Hamann. Berlin u. Boston 2015, S. 126). Vgl. auch die zeichentheoretischen Erläuterungen zu dieser Stelle bei Eric Achermann: Worte und Werte. Geld und Sprache bei Gottfried Wilhelm Leibniz, Johann Georg Hamann und Adam Müller. Tübingen 1997, S. 247−249. Hamann: Aesthetica; zit. nach: Hamann: Werke, Bd. 2 (= Anm. 4), S. 199, 8−12.

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zufolge nicht als ein Transfer, sondern als Transformation von Kognition, wodurch diese – ‚verfinstert‘! – „in Augenschein“ genommen werden kann.9 Hamann ‚übersetzt‘ diese im zeitgenössischen Sprachdiskurs alles andere als gängige These in das Bild einer auf dem Wasser angeschauten Sonnenfinsternis. Unbekanntes (die Funktionsweise von Sprache) soll durch Vertrautes (Beobachtung einer Sonnenfinsternis) per Analogiebildung verständlich gemacht werden. Dem traditionellen Status der Sonne als Symbol des Intelligiblen (Idee, Wahrheit, Gott etc.) folgend, entspricht die Relation von Kognition (Engelsprache) und Rede (Menschensprache) der Relation von Sonne und abgedunkeltem Spiegelbild auf dem Wasser. In der erläuterten Passage enthält sich Hamann einer expliziten Wertung der Übersetzungs- bzw. Medialitätsrelation. Für das Beispiel der Beobachtung einer Sonnenfinsternis konstatiert er das Faktische von Medialität, ohne diese hinsichtlich ihres Potentials (wie Schwalbach) oder ihrer Defizienz (wie Warton) zu bewerten. Allerdings wird in einer weiteren, dem Sonnenfinsternis-Vergleich voranstehenden Veranschaulichung der Grundthese „[r]eden ist übersetzen“ diese Transformation als defizitär konnotiert: „Diese Art der Übersetzung (verstehe Reden) kommt mehr, als irgend eine andere, mit der verkehrten Seite von Tapeten überein;/ And shews the stuff, but not the workman’s skill [...].“10 Die Transformation präsentiere die „verkehrte[]“ Seite des Intendierten; wahrnehmbar wird – wie das eingeschobene Zitat über die Qualität einer Prosaübersetzung von Versen des Horaz aussagt – nur das Material („stuff“), nicht dessen ursprüngliche Verarbeitung („the workman’s skill“).11 Hamann betont in einer Anmerkung zum Sonnenfinsternis-Vergleich, er habe diese „Metapher“ nicht wie Warton „ad illustrationem (zur Verbrämung des Rockes)“, sondern „ad inuolucrum (zum Hemde auf bloßem Leibe) gebraucht“.12 Er greift dabei, wie häufig, auf den Topos von Sprache als einer Einkleidung der Gedanken zurück, wobei er darauf hinweist, dass dem Sonnenfinsternis-Beispiel bei Warton eine schmückende Funktion (Ornatus-Funktion), bei ihm hingegen eine grundsätzliche Darstellungsfunktion zukomme.13 Hamann übernimmt diese Unterscheidung aus Francis Bacons De dignitate et augmentis scientiarum (1605/1623), wo im zweiten Buch neben der dramatischen und der erzählenden Poesie die allegori9 10 11

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Es ist somit bildlogisch konsequent, dass in Hamanns Vergleich nicht die Sonne, sondern die Verfinsterung der Sonne in einem Gefäß mit Wasser betrachtet wird. Hamann: Aesthetica; zit. nach: Hamann: Werke, Bd. 2 (= Anm. 4), S. 199, 9f.; englisches Zitat im Original gesperrt. Zur Deutung dieser Stelle siehe Achermann: Worte (= Anm. 7), S. 247−249. Hamann erläutert den Tapetenvergleich durch ein Zitat aus dem 1684 erschienenen englischen Versessay On Translated Verse von Wentworth Dillon, Earl of Roscommon. Behandelt wird unter anderem die Frage der Prosaübersetzung von Versen des Horaz, bei der nur die Wortbedeutung (Material), nicht die aus der stilistischen Wortfolge resultierende Semantisierung (Geschick des Handwerkers) wiedergegeben wird. Hamann: Aesthetica; zit. nach: Hamann: Werke, Bd. 2 (= Anm. 4), S. 199, 42−47. Diese Differenz entspricht näherungsweise der funktionalen Differenz von expliziter Metapher (Sonnenfinsternis bei Warton) und absoluter Metapher (Sonnenfinsternis bei Hamann). Zur oft diskutierten Metaphorik der Einkleidung bei Hamann vgl. zum Beispiel Wolfgang-Dieter Baur: Johann Georg Hamann als Publizist. Zum Verhältnis von Verkündigung und Öffentlichkeit. Berlin u. New York 1991, S. 309−312.

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sche Poesie (poesis parabolica) behandelt wird.14 In dieser höchsten der poetischen Formen verbinde sich Göttliches und Menschliches; sie sei von doppeltem Nutzen, da sie der Verhüllung wie der Erhellung dienen kann („Facit enim ad involucrum; facit etiam ad illustrationem“15). Einmal sei das Sprechen in Bildern ein Mittel, um zu verbergen (occultandi), im anderen Fall, um zu belehren (docendi). Hamann ordnet seinen Gebrauch des Sonnenfinsternis-Bildes der verhüllenden Bildfunktion zu, die Bacon durch die nicht anders repräsentierbare Würde eines erhabenen Gegenstandes (Religion, Politik, Philosophie) rechtfertigt. Die Erhabenheit des Gegenstandes – bei Hamann reine Idee bzw. Kognition (Engelsprache) – erlaubt im Horizont der Sinnlichkeit nur eine verhüllte, indirekte Repräsentation, also – darauf zielt Hamanns Argumentation – eine mediale Repräsentation. Der mediale Effekt des Sprachmediums, so wie Hamann ihn konzipiert, wird stilistisch inszeniert, so dass man von einem Verfahren der Hyperbolisierung von Medialität sprechen kann. Hamann hat den Sonnenfinsternis-Vergleich genau gewählt, insofern Bildspender (Wahrnehmbarkeit der Sonne im Medium Wasser), Bildempfänger (die These, Reden sei Übersetzen) und die sprachliche Darstellungsfunktion des Bildes (parabolische Umhüllung des Gemeinten) in einer semantischen Korrelation stehen: Jeweils geht es um eine Transformation von Deutlichkeit (Sonne, Engelsprache, Gemeintes) in Anschaulichkeit (optimal abgedunkeltes Spiegelbild, menschensprachliche Übersetzung, parabolische Umhüllung).16 Der bislang diskutierten Passage aus Hamanns Aesthetica in nuce steht ein Abschnitt voran, der programmatisch mit dem Topos „Rede, daß ich Dich sehe!“ einsetzt.17 Dieser Topos lässt sich, hinsichtlich der Transformation von Idee in Anschauung durch Rede, mit der Fiat-lux-Formel am Beginn des alttestamentlichen Genesis-Berichtes in Verbindung bringen; in diesem wird die (erhabene) Entstehung der Welt aus wenigen Worten (Gottes) in wenigen Worten (des menschlichen Be14 Francis Bacon: Über die Würde und die Förderung der Wissenschaften. London 1605/1623. Aus dem Englischen übertragen von Jutta Schlösser. Hg. v. Hermann Klenner. Freiburg 2006, S. 134f. 15 Francis Bacon: De dignitate et augmentis scientiarum, Liber Secundus, cap. XIII, zitiert nach: The Works of Francis Bacon, Bd. 1. Hg. v. James Spedding, Robert Leslie Ellis u. Douglas Denon Heath. London 1858, S. 520 (Hervorhebungen hier und im folgenden Satz im Original). 16 Zum christlichen Verständnis bildhafter Rede als Übersetzung vgl. Andreas Kablitz: Rhetorik vs. Hermeneutik?, Anmerkungen zum Allegorie-Verständnis in Augustinus’ De doctrina christiana. In: Kodikas/Code. Ars Semeiotica 10 (1987), S. 119−135, hier S. 122ff. 17 Hamann: Aesthetica; zit. nach: Hamann: Werke, Bd. 2 (= Anm. 4), S. 198, 28. Der viel zitierte, zuerst bei Apuleius (André Rudolph: Figuren der Ähnlichkeit. Johann Georg Hamanns Analogiedenken im Kontext des 18. Jahrhunderts. Tübingen 2006, S. 151) nachweisbare Topos „Loquere, ut te videam“ findet sich bei Hamann und bei dessen Lehrer Martin Knutzen in ähnlichem Zusammenhang (Karlfried Gründer: Figur und Geschichte. Johann Georg Hamanns ,Biblische Betrachtungen‘ als Ansatz einer Geschichtsphilosophie. Freiburg u. München 1958, S. 58f.). Im Verständnis bei Hamann folge ich Knut Martin Stünkel: Ästhetische Geologie. Die Frage nach der Wahrheit bei Johann Georg Hamann. In: Neue Zeitschrift für Systematische Theologie und Religionsphilosophie 49 (2007), S. 156–182, hier S. 172−175; Achermann: Worte (= Anm. 7), S. 251f. und der in Oswald Bayer: „Geschmack an Zeichen“. Zweifel und Gewissheit im Briefgespräch zwischen Lavater und Hamann. In: Neue Zeitschrift für Systematische Theologie und Religionsphilosophie 53 (2011), S. 1–15, hier S. 6 wiedergegebenen brieflichen Erläuterung von Hans Graubner.

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richterstatters) – also erhaben – dargestellt: „Gott sprach: Es werde Licht, und es ward Licht“.18 Der Topos „Rede, daß ich Dich sehe!“ wie die Schöpfungsformel stellen den Wirkungseffekt von Rede als transformierende Materialisierung (Schöpfung, Sichtbarwerdung) vor: Sichtbarwerdung bzw. Licht werden zu Medien, in denen sich die Redeintention äußert bzw. verwirklicht. Da der Topos „Rede, daß ich Dich sehe!“ seinerseits appellativisch ist, impliziert er ein Kommunikationsgeschehen zwischen einem Auffordernden und dem zum Reden Aufgeforderten. Hamann zieht damit die Fiat-lux-Formel und den Rede-Topos in origineller Weise zu einer Wechselrede zusammen, insofern die Erschaffung der Welt zu einer Reaktion Gottes auf den „Wunsch“ nach einer solchen Medialisierung gemacht wird: Am Anfang war nicht das Wort (Gottes), sondern die Wahrnehmungsbedürftigkeit (der Kreatur): „Rede, daß ich Dich sehe! – – Dieser Wunsch wurde durch die Schöpfung erfüllt, die eine Rede an die Kreatur durch die Kreatur ist [...].“19 Hamann konzeptualisiert die Schöpfungsrede „Es werde Licht!“ als antwortende Medialisierung eines Gottes, der sich „durch“ die Schöpfung „an“ ein Gegenüber übersetzt. Während der Sonnenfinsternis-Vergleich Medialität als – bezogen auf den Sender – defizitär (Verfinsterung, Verhüllung) thematisiert, akzentuiert der Appell „Rede, daß ich Dich sehe!“ das Potential von medialer Transformation (Sichtbarkeit, Enthüllung).

2. Hamanns Konzeption einer universalen semiologischen Medialität Eine Verschmelzung theologischer und sprachphilosophischer Theoreme, wie sie die eben erläuterte Stelle aufweist, ist, namentlich in der Analogie von menschlicher Rede und Schöpfungsgeschehen, aufgrund etwa der Fiat-lux-Exegese dem 18. Jahrhundert geläufig. Hamann konnte diese Analogie in elaborierter Form bei seinem Königsberger Lehrer Martin Knutzen finden.20 Ist es das Anliegen Knutzens, die dem Menschen schlechterdings unvorstellbare Erschaffung der Welt verständlicher zu machen, scheint Hamann die Analogie eher umgekehrt belasten zu wollen und das Medium der (menschlichen) Sprache nach dem Modell der Schöpfungsrede zu ver18 Auf die große Bedeutung, die die Schöpfungsformel für die frühneuzeitliche Rhetorik und beginnende Ästhetik, insbesondere des Erhabenen, hatte, kann hier nicht eingegangen werden; vgl. dazu Dietmar Till: Das doppelte Erhabene. Eine Argumentationsfigur von der Antike bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts. Tübingen 2006, S. 193−316. 19 Hamann: Aesthetica; zit. nach: Hamann: Werke, Bd. 2 (= Anm. 4), S. 198, 28f. 20 Martin Knutzen: Betrachtung über die Schreibart der Heiligen Schrift, und ins besondere über die Mosaische Beschreibung der Erschaffung der Welt, durch ein göttliches Sprechen. In: ders.: Vertheidigte Wahrheit der christlichen Religion gegen den Einwurf, daß die christliche Offenbarung nicht allgemein sey [...]. Königsberg 1742, S. 274−296. Knutzen, dem Hamann in seinen Londoner Schriften hierin folgt, sieht vier unterschiedlich stark ausgeprägte Ähnlichkeiten zwischen göttlichem und menschlichem Sprechen: Es geschieht durch Zeichen (semiotisch), ist ein Werk des Willens (intentional), geschieht mühelos wie von selbst (spontan) und unterrichtet über die Eigenschaften des Sprechers (offenbarend) (Rudolph: Ähnlichkeit [= Anm. 17], S. 150f.).

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stehen: als einen poietischen Akt der Entäußerung, in dem Intelligibles sich sinnlich darstellt. Die Schöpfungsanalogie unterstreicht weniger den semiotisch-kognitiven als den medial-sensuellen Charakter von Sprache: „Alles, was der Mensch am Anfange hörte, mit Augen sah, beschaute und seine Hände betasteten, war ein lebendiges Wort; denn Gott war das Wort.“21 Medial interpretiert wird die empirisch erfahrene Welt – ein später von der Romantik aufgegriffener Ansatz – auf eine vorgängige Mitteilungsintention hin transzendiert. Mit seinem Interesse an Sinnlichkeit als Medialität schließt Hamann an die Mitte des 18. Jahrhunderts von den Brüdern Alexander Gottlieb und Siegmund Jacob Baumgarten philosophisch und theologisch auf den Weg gebrachte Aufwertung der sinnlichen Erkenntnis an. Eine solche Aufwertung hatte sich gegenüber der Konjunktur zweier untereinander konkurrierender Delegitimierungsparadigmen von Sinnlichkeit zu behaupten: zum einen gegenüber der pietistischen Abwertung alles Sinnlichen als Einfallstor der Sünde, zum anderen gegenüber der Abwertung seitens des Rationalismus, der sinnliche Erfahrung als Ursache von Irrtümern und damit Gegenspieler der Vernunft auffasste.22 Hamanns Medienphilosophie wertet diese beiden Paradigmen um und versucht damit, seine Zeitgenossen über Sinnlichkeit als Kommunikationskanal Gottes und über die aus dem Rationalitätsglauben resultierenden Irrtümer aufzuklären. Hamann gehört zu den eigenwilligsten und bis heute intellektuell aufregendsten Denkern und Autoren des 18. Jahrhunderts. Seine Stellung zur Aufklärung ist kompliziert, sie lässt sich näherungsweise als theologischen Sensualismus bestimmen. Den Protagonisten der Aufklärung wie Voltaire, Friedrich dem Großen, Mendelssohn oder Kant hält er – von der Position des Glaubens wie von der der Sinnlichkeit aus – eine unzulässige Selbstermächtigung der Vernunft vor.23 Eine Aufklärung, 21 Hamann: Des Ritters von Rosencreuz letzte Willensmeynung über den göttlichen und menschlichen Ursprung der Sprache (1772), zit. nach: Hamann: Werke, Bd. 3 (= Anm. 4), S. 32, 24−26. 22 Petra Bahr: Darstellung des Undarstellbaren. Religionstheoretische Studien zum Darstellungsbegriff bei A. G. Baumgarten und I. Kant. Tübingen 2004, S. 22. Die folgenden Anmerkungen zu Hamanns Sensualismus folgen: Oswald Bayer: Vernunft ist Sprache – Hamanns Metakritik Kants. Stuttgart-Bad Cannstatt 2002, S. 80−82 sowie Eric Achermann: Natur und Freiheit. Hamanns Metakritik in naturrechtlicher Hinsicht. In: Neue Zeitschrift für Systematische Theologie und Religionsphilosophie 46 (2004), H. 1, S. 72−100, hier S. 75 u. 97. 23 1761 scheint es Hamann nachgerade „unmöglich“, „unser Jahrhundert“ seiner „philosophischen Abgötterey“, das heißt des Rationalismus, zu „überführen“, der die „Meynungen“ für „die Wahrheit selbst“ und nicht bloß für „vehicula der Wahrheit“ ansehe (Brief Hamanns an Johann Gotthelf Lindner vom 5.5.1761; Briefe Hamanns werden unter Angabe der Band-, Seiten- und Zeilenzahl zitiert nach: Johann Georg Hamann: Briefwechsel, Bd. 1−3. Hg. v. Walther Ziesemer u. Arthur Henkel. Wiesbaden 1955−1957 sowie Hamann: Briefwechsel, Bd. 4−7. Hg. v. Arthur Henkel. Wiesbaden 1959, Frankfurt a. M. 1965−1979; hier: Hamann: Briefwechsel, Bd. 2. S. 84, 24−26; Hervorhebung im Original). In eben dieser Hinsicht schrieb er 1784, auf Kants Aufklärungsschrift reagierend, dem Königsberger Philosophen Christian Jakob Kraus vom „Geschwätz und Raisonniren der erimirten Unmündigen, die sich zu Vormünder [...] aufwerfen“ (Brief Hamanns an Christian Jacob Kraus vom 18.12.1784; Hamann: Briefwechsel, Bd. 5, S. 291, 5−7). Seine gleichermaßen philosophische wie politische Kritik an der „Kantschen Erklärung läuft also darauf hinaus, daß wahre Aufklärung in einem Ausgange des unmündigen Menschen aus einer allerhöchst selbst ver-

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die sich als unaufgeklärt gegenüber ihren Bedingungen (dass nämlich Vernunft sprachabhängig ist) erweist, vergleicht er – analog dem Sonnenfinsternis-Beispiel – mit einem reflektierten Licht, das die Wahrheit (Sonne) schwach und indirekt, also durch ein Medium transformiert, wiedergibt: Die „Aufklärung unsers Jahrhunderts ist also ein bloßes Nordlicht“ oder „Mondlicht ohne Aufklärung“.24 Hamanns Metakritik (1784) des Versuchs seines Jugendfreundes Immanuel Kant, das Vertrauen auf die Objektivität und Universalität der Vernunft zu begründen, gilt retrospektiv als „the most original, powerful, and influential critic“ der Kant’schen Transzendentalphilosophie.25 Im Gegenzug machte Hamann als erster die Perspektivität und Medialität aller Erkenntnis zum Hauptgegenstand seines Denkens. Von wenigen Erwähnungen als „Ahnvater einer Sprach- und Medienphilosophie“26 und „bahnbrechend[er]“ Denker über Sprache als „Medium per exzellenz“27 abgesehen, ist Hamann seitens der Medienwissenschaft kaum Aufmerksamkeit zuteil geworden. Versuche, seine „implizite Medientheorie“28 zu explizieren, wurden allenfalls ansatzweise unternommen. Auch die nach den Arbeiten insbesondere Rudolf Ungers,29 Josef Nadlers,30 Karlfried Gründers31 und Elfriede Büchsels32 seit den 1980er Jahren wieder verstärkt und facettenreich einsetzende Hamann-Forschung, die durch poststrukturalistische Text- und Lektürebegriffe33 sowie durch Oswald Bayers Deutung

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schuldeten Vormundschaft bestehe. Die Furcht des Herrn ist der Weisheit Anfang – und diese Weisheit macht uns feig zu lügen und faul zu dichten – desto muthiger gegen Vormünder, die höchstens den Leib tödten und den Beutel aussaugen können“ (Brief Hamanns an Christian Jacob Kraus vom 18.12.1784; Hamann: Briefwechsel, Bd. 5, S. 291, 22−27). Brief Hamanns an Christian Jacob Kraus vom 18.12.1784 (Hamann: Briefwechsel, Bd. 5 (= Anm. 23), S. 291, 3 u. 8). Frederick C. Beiser: The Fate of Reason. German Philosophy from Kant to Fichte. Cambridge/ Mass. 1987, S. 8f. Frank Hartmann: Mediologie: Ansätze einer Medientheorie der Kulturwissenschaften. Wien 2003, S. 23; ausführlicher zu Hamann in: Frank Hartmann: Medienphilosophie. Wien 2000, S. 78−81. Michael Wetzel: Spuren der Verkörperung – Verkörperungen der Spur. Jacques Derridas Dekonstruktion der ‚Architrace‘. In: Gisela Fehrmann, Erika Linz u. Cornelia Epping-Jäger (Hg.): Spuren Lektüren. Praktiken des Symbolischen.München 2005, S. 79−88, hier S. 79. Dieter Mersch: Implizite Medientheorien in der Philosophie. In: Jens Schröter (Hg.): Handbuch Medienwissenschaft. Stuttgart u. Weimar 2014, S. 45−51, Hamann wird auf S. 48 erwähnt. Rudolf Unger: Hamann und die Aufklärung. Studien zur Vorgeschichte des romantischen Geistes im 18. Jahrhundert. Halle 1925. Johann Georg Hamann: Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Hg. v. Josef Nadler. Wien 1949−1957. Gründer: Figur (= Anm. 17). Elfriede Büchsel: Biblisches Zeugnis und Sprachgestalt bei J. G. Hamann. Untersuchungen zur Struktur von Hamanns Schriften auf dem Hintergrund der Bibel. [Göttingen 1953] Gießen u. Basel 1988. Vgl. Paul de Man: Allegories of Reading. Figural Language in Rousseau, Nietzsche, Rilke, and Proust. New Haven u. London 1979, S. 175f.; Anne Bohnenkamp-Renken: Offenbarung im Zitat. Zur Intertextualität Hamannscher Schreibverfahren anhand von Wolken. Ein Nachspiel Sokratischer Denkwürdigkeiten. In: Bernhard Gajek (Hg.): Johann Georg Hamann, Autor und Autorschaft. Acta des Sechsten Internationalen Hamann-Kolloquiums im Herder-Institut zu Marburg/Lahn 1992. Frankfurt a. M. 1996, S. 123−142, hier S. 123; Eckhard Schumacher: Die Ironie der Unverständlichkeit: Johann Georg Hamann, Friedrich Schlegel, Jacques Derrida, Paul de

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Hamanns als „radikaler Aufklärer“34 neue Impulse erhielt, diskutierte dessen Schriften weniger in medialer Hinsicht.35 Allgemein lassen sich Medien als „Elemente und Verfasstheiten“ bestimmen, die „Bezüge zu etwas oder Vermittlung von etwas“36 ermöglichen. Dies ist nicht als Trägeroder Transferfunktion aufzufassen, vielmehr tritt im Medialen das jeweilige Medium selbst als ‚Spur‘ mit in Erscheinung.37 Medialität ist – wie an Hamanns Beispiel der Sonnenfinsternis erläutert – die zugleich ermöglichende wie limitierende Verfasstheit von etwas.38 Jene Beziehungsnahme oder Vermittlung, in der denkend oder handelnd Elemente in eine Relation gestellt werden, vollzieht sich also nicht neutral, sondern wird vom jeweiligen Medium geprägt. In der Relation ‚etwas als etwas‘ ist das zweite Element (die Darstellung, Übersetzung, Repräsentation etc. des ersten Elements) nicht passiver oder neutraler Natur, sondern an der Konstitution des ersten Elementes aktiv beteiligt.39 Die Relation kann als „etwas als etwas [...] im Modus von etwas anderem“ bzw. „durch“ ein Anderes reformuliert werden.40 Das Mediale ist, darauf weist bereits Hamanns Kant-Kritik dezidiert hin, als der ‚blinde Fleck‘ allen Philosophierens aufzufassen,41 da Erkenntnisprozesse sprachgebunden verlaufen. Diese mediale Gebundenheit aller menschlichen Erkenntnis nicht, wie aus rationalistischer Perspektive, als defizitär, sondern im Gegenteil als einen Vorteil aufzufassen, zeichnet Hamanns sensualistischen Ansatz im Diskurskontext des 18. Jahrhunderts aus. Ausgehend von einem religiösen Erkenntnisinteresse antizipiert Hamann in nicht systematischer Form zentrale Einsichten der modernen Medienphilosophie. Vier Merkmale sind für seine Philosophie des Medialen essentiell: Sie ist – erstens – auf das

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Man. Frankfurt a. M. 2000. Nach Oswald Bayer (Hamann als radikaler Aufklärer. In: Oswald Bayer (Hg.): Johann Georg Hamann. „Der hellste Kopf seiner Zeit“. Tübingen 1998, S. 11−27, hier S. 20) ist „Hamanns Metakritik der Neuzeit nicht nur postmodern, sondern zugleich prämodern“, etwa in Hinblick auf Verbindlichkeit und Glauben. Oswald Bayer: Zeitgenosse im Widerspruch. Johann Georg Hamann als radikaler Aufklärer. München 1988. Explizit auf den „medialen Sprachbegriff“ Hamanns geht Harald Schnur (Schleiermachers Hermeneutik und ihre Vorgeschichte im 18. Jahrhundert. Studien zur Bibelauslegung, zu Hamann, Herder und F. Schlegel. Stuttgart u. Weimar 1994, hier S. 78) ein. In zahlreichen Untersuchungen zu Hamanns Sprach- und Stilverständnis werden implizit Fragen der Medialität mitverhandelt. Christoph Hubig: Medialität/Medien. In: Hans Jörg Sandkühler (Hg.): Enzyklopädie Philosophie in drei Bänden, Bd. 2. Hamburg 2010, S. 1516−1522, hier S. 1516. Ludwig Jäger: Zeichen/Sprache. Skizze zum Problem der Sprachzeichenmedialität. In: Georg Stanitzek u. Wilhelm Voßkamp (Hg.): Schnittstelle: Medien und Kulturwissenschaften. Köln 2001, S. 17−31, hier S. 17 betont, „dass in alle kognitiven Operationen die Spuren von Zeichenverwendungen – und das heißt mediale Spuren – konstitutiv eingeschrieben sind“. Hubig: Medialität (= Anm. 36), S. 1516. Dieter Mersch: Philosophien des Medialen. ‚Zwischen‘ Materialität, Technik und Relation. In: Gerhard Schweppenhäuser (Hg.): Handbuch der Medienphilosophie. Darmstadt 2018, S. 19−32, hier S. 19. Dieter Mersch: Wozu Medienphilosophie? Eine programmatische Einleitung. In: Internationales Jahrbuch für Medienphilosophie 1 (2015), H. 1, S. 13−48, hier S. 27 (Hervorhebungen im Original). Jochen Hörisch: Der blinde Fleck der Philosophie: Medien. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 51 (2003), H. 5, S. 888−890 (= Rezension zu: Stefan Münker (Hg.): Medienphilosophie. Beiträge zur Klärung eines Begriffs. Frankfurt a. M. 2003).

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semiologische Medium Sprache,42 insbesondere im Modus der Schrift, ausgerichtet. Medialität ohne Zeichencharakter, wie etwa das Wasser im Sonnenfinsternis-Beispiel, spielt nur vergleichsweise eine Rolle. Sprache wird von Hamann funktional, als Medium der Kommunikation, definiert: „Da der Begrif von dem, was man unter Sprache versteht, so vielbedeutend ist; so wäre es am besten denselben nach der Absicht zu bestimmen, als das Mittel unsere Gedanken mitzutheilen und anderer Gedanken zu verstehen.“43 Dabei wird – zweitens – der Begriff der Sprache weit angesetzt; letztlich können sämtliche Phänomene der natürlichen und historischen Welt Sprach- bzw. Schriftstatus erhalten.44 Drittens steht, ausgehend vom Sprachmodell, die kommunikative Funktion des Medialen im Zentrum: im Sinne einer auf wechselseitiger Intentionalität beruhenden Kooperativität.45 Für den gläubigen Protestanten ist die Annahme der „communicatio göttlicher und menschlicher idiomatum“ in der Welt das „Grundgesetz und der Hauptschlüssel aller unserer Erkenntnis und der ganzen sichtbaren Haushaltung“.46 Voraussetzung dafür, Intentionalität (etwa Gottes, eines Autors) 42 Ludwig Jäger: Art. ‚Sprache‘. In: Natalie Binczek, Till Dembeck u. Jörgen Schäfer (Hg.): Handbuch Medien der Literatur. Berlin u. Boston 2013, S. 11−26, hier S. 11. Im Unterschied zu einem semiotischen Sprachverständnis, das Sprache als sekundär gegenüber dem Denken ansieht (Vehikel-Konzept), kann Hamann neben bzw. vor Herder und Wilhelm v. Humboldt als früher Vertreter eines semiologischen Sprachverständnisses gelten, das – im Gegensatz zur u. a. auf Aristoteles zurückgehenden semiotischen Tradition – die Abhängigkeit des Denkens vom Medium Sprache betont: Dieses dient „nicht mehr nur dem Begriffsaustausch, sondern – grundlegender – auch der Begriffsbildung selbst“ (Ludwig Jäger: Wieviel Sprache braucht der Geist? Mediale Konstitutionsbedingungen des Mentalen. In: Ludwig Jäger u. Erika Linz (Hg.): Medialität und Mentalität. Theoretische und empirische Studien zum Verhältnis von Sprache, Subjektivität und Kognition. München 2004, S.15−42, bes. S. 28−32, hier S. 31; Hervorhebungen im Original). – Während Hamann produktionsseitig von einer Vorgängigkeit der Kognition, insbesondere in Hinblick auf die Schöpfungsanalogie, ausgeht, betont er rezeptionsseitig und in Hinblick auf die menschliche Sprache und Erkenntnisfähigkeit nachdrücklich die Abhängigkeit der Kognition vom Medium, etwa in seiner Metakritik zu Kants Transzendentalphilosophie. 43 Hamann: Versuch über eine akademische Frage (1760), zit. nach: Hamann: Werke, Bd. 2 (= Anm. 4), S. 125, 12−16; Hervorhebung A. D.). 44 Hamann sieht gesprochene Sprache und Schrift als jeweils eigengesetzliche mediale Modi der Sprache an, weshalb er Reformvorschläge, die die Orthographie nach der Aussprache regulieren wollen, ablehnt (Sabine Marienberg: Zeichenhandeln. Sprachdenken bei Giambattista Vico und Johann Georg Hamann. Tübingen 2006, S. 102). 45 Michael Tomasello: Origins of Human Communication. London, Cambridge/Mass. 2008. 46 Hamann: Des Ritters von Rosencreuz letzte Willensmeynung über den göttlichen und menschlichen Ursprung der Sprache, zit. nach: Hamann: Werke, Bd. 3 (= Anm. 4), S. 27, 11−14. Der theologische, auf die zwei Naturen Christi abhebende Begriff der ‚Communicatio idiomatum‘ (Austausch der Eigenschaften) wird bei Luther zum „hermeneutischen Motor seiner gesamten Theologie“ (Johann Anselm Steiger: Die communicatio idiomatum als Achse und Motor der Theologie Luthers. Der ‚fröhliche Wechsel‘ als hermeneutischer Schlüssel zu Abendmahlslehre, Anthropologie, Seelsorge, Naturtheologie, Rhetorik und Humor. In: Neue Zeitschrift für Systematische Theologie und Religionsphilosophie 38 (1996), H. 1, S. 1−28, hier S. 1). In Hinblick auf den theologischen Begriff betont Friedemann Fritsch (Communicatio idiomatum. Zur Bedeutung einer christologischen Bestimmung für das Denken Johann Georg Hamanns. Berlin 1999, S. 310) die ‚Zusammenzwingung‘ von Göttlichem und dezidiert Nicht-Göttlichem bei Hamann. – Dieses immanente Spannungsmoment des Medialen wird für Hamanns Konzeption der rezeptionsseitigen Motivierung des hermeneutischen Prozesses wichtig.

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im manifest Gegebenen (der Erfahrungswelt, eines Textes u. a.) zu erkennen, ist – viertens – eine rezeptive Intentionalität der Bedürftigkeit (Erwartung, Glaube, Wunsch u. a.). Hamanns Medialitätsdenken besitzt insofern eine psychologische Komponente. Sie misst der Frage der (rezeptionsseitigen) Motivierung zentrale Bedeutung bei. Durch die (rezeptionsseitige) Vorannahme einer Intentionalität (der Erfahrungswelt, eines Textes) kann Manifestes als mediale Transformation einer Intentionalität (Kognition, Idee) erscheinen, die sich nicht neutral, sondern medial ‚übersetzt‘ präsentiert und in „Analogie seiner [das heißt des menschlichen Adressaten, A. D.] Natur“47 erfahren und verstanden wird. In der zu Lebzeiten nicht publizierten Metakritik über den Purismum der Vernunft weist Hamann 1784 Kants Ansinnen einer Kritik der reinen Vernunft zurück.48 Sprache ist „Mittel[ungs]punct“ von Vernunft und Erfahrung bzw. Überlieferung und damit zugleich „Mittelpunct“ des „Misverstandes der Vernunft“49 mit sich selbst. An ihr werde offenbar, dass Erkenntnis nicht in eine erfahrungsbezogene (ästhetische) und eine reine (logische) geschieden werden kann. Erkenntnis sei, da sprachlich vermittelt, vielmehr ein Stamm „mit 2 Wurzeln, einer obern in der Luft und einer unten in der Erde“:50 „Wörter haben also ein ästhetisches und logisches Vermögen. Als sichtliche und lautbare Gegenstände gehören sie mit ihren Elementen zur Sinnlichkeit und Anschauung, aber nach dem Geist ihrer Einsetzung und Bedeutung, zum Verstand und Begriffen. Folglich sind Wörter so wol reine und empirische Anschauungen, als auch reine und empirische Begriffe; empirisch, weil Empfindung des Gesichts oder Gehörs durch sie bewirkt; rein, in so fern ihre Bedeutung durch nichts, was zu jenen Empfindungen gehört, bestimmt wird.“51 Selbst wenn man „über die Erfahrung hinaus zu denken“ sich anschicke, sei die „genealogische Priorität der Sprache vor den

47 Hamann: Des Ritters von Rosencreuz letzte Willensmeynung über den göttlichen und menschlichen Ursprung der Sprache, zit. nach: Hamann: Werke, Bd. 3 (= Anm. 4), S. 27, 10: „Folglich ist alles göttlich [...]. Alles Göttliche ist aber auch menschlich“, zumindest aus der Perspektive des Menschen (Ebd.; S. 27, 7−9). Die Unterstellung von Intentionalität (Gottes) als entscheidende Voraussetzung für ein (perspektivisches) Verstehenkönnen des unverständlich Erscheinenden unterstreicht Hamann mit dem vorangestellten Bibelzitat aus 2. Kor 4,13: „Credidi, propter quod locutus sum.“ (Ich glaube, darum rede ich). 48 Im Verständnis von Hamanns Metakritik folge ich Bayer: Vernunft (= Anm. 22). – Friedrich Heinrich Jacobi gegenüber (Brief Hamanns vom 29.4.1787; Hamann: Briefwechsel, Bd. 7 (= Anm. 23), S. 172, 25−30) erläutert Hamann seine Kritik an Kants Idealismus: „Vernunft ist für mich ein Ideal, deßen Daseyn ich voraussetze, aber nicht beweisen kann durch das Gespenst oder die Erscheinung der Sprache und ihrer Wörter. Durch diesen Talismann [Zauberbild, A. D.] hat mein Landsmann das Schloß seiner Kritik aufgeführt, und durch diesen allein kann der Zauberbau aufgelöst werden.“ (Hervorhebungen im Original). 49 Hamanns Metakritik über den Purismum der Vernunft ist Teil eines Briefes an Johann Gottfried Herder vom 15.9.1784 (Hamann: Briefwechsel, Bd. 5 (= Anm. 23), S. 213, 25; Hervorhebungen im Original). 50 Brief Hamanns an Johann Gottfried Herder vom 15.9.1784, Hamann: Briefwechsel, Bd. 5 (= Anm. 23), S. 214, 12 f.; Hervorhebungen im Original. 51 Brief Hamanns an Johann Gottfried Herder vom 15.9.1784, Hamann: Briefwechsel, Bd. 5 (= Anm. 23), S. 215, 14−21; Hervorhebungen im Original.

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[...] Functionen logischer Sätze u Schlüße“ nicht aufzuheben.52 „Nicht nur das ganze Vermögen zu denken beruht auf der Sprache, [...]: sondern Sprache ist auch der Mittelpunct des Misverstandes der Vernunft mit ihr selbst [...].“53 Die Bedeutung eines Wortes entspringe einer „a priori willkührlichen“, „a posteriori aber nothwendigen und unentbehrlichen [Verknüpfung] eines Wortzeichens mit der Anschauung des Gegenstandes“, so dass durch die ständige Wiederholung dieser Verbindung „dem Verstande eben der Begriff vermittelst des Wortzeichens als vermittelst der Anschauung selbst mitgetheilt, eingeprägt und einverleibt [wird]“.54 Ein amediales (unvermitteltes), von Anschauung freies Denken ist unmöglich. Mit der Vermutung, „daß unsere ganze Philosophie mehr aus Sprache als Vernunft besteht“,55 bringt Hamann wenig später seine Rationalismus-Kritik auf den Punkt. Dass er Sprache von ihrer materialen Konstitution her denkt, lassen bereits Aufzeichnungen der Londoner Zeit (1757/58) erkennen: „So wie unsere Ohren ohne vom Schall der Luft gerührt zu werd[en] nicht hör[en] könn[en] alles verständl. Gehör von einer weder zu stark noch zu schwachen Zitterung der Luft abhängt, so ist es mit unsern Vorstellung[en]. Sie hang[en] von körperl. Bildern ab [...].“56 Die Analogie von Schall (als akustischem Medium) und körperlichen (sprachlichen) Bildern (als ‚Medium‘ des Bewusstseins) deutet an, warum Hamanns bildhaft-hyperbolischer, intertextuell aufgeladener Schreibstil als Darstellung von Medialität im Medium der Schrift verstanden werden kann. Hamann betont das Relationale der Medialität nicht nur hinsichtlich der Unmöglichkeit eines ‚reinen‘ Denkens, sondern auch in Hinblick auf die Materialität des Mediums. Die Sinnlichkeit von Sprache sei, wie es 1780 im Essay [Z]ur neusten Deutschen Literatur heißt, nicht Selbstzweck, sondern ein „materielle[s] Hülfsmittel“ für „unsere[] geistige[] Nothdurft und Willkühr“.57 Ohne wechselseitige Bezogenheit von Materialität und Kognition sei das Medium nicht dunkel (als transformierte Kognition), sondern blind. „Denn so wenig der Zweck des Redens in bloßen Articulationen und Modeficationen blinder Töne: noch weit weniger besteht der Zweck des Schreibens in einer Abzählung, Abwägung und Punctirung ihrer stummen Statthalter [...].“58 Der „Zweck[], der so wol Rede als Schrift vereinigt“, sei es vielmehr – so Ha52 Brief Hamanns an Johann Gottfried Herder vom 15.9.1784, Hamann: Briefwechsel, Bd. 5 (= Anm. 23), S. 213, 20−22; Hervorhebung im Original. Darauf weist die gegenwärtige Medienphilosophie nachdrücklich hin (vgl. Jäger: Zeichen [= Anm. 37], S. 20). 53 Brief Hamanns an Johann Gottfried Herder vom 15.9.1784, Hamann: Briefwechsel, Bd. 5 (= Anm. 23), S. 213, 22−26; Hervorhebung im Original. 54 Brief Hamanns an Johann Gottfried Herder vom 15.9.1784, Hamann: Briefwechsel, Bd. 5 (= Anm. 23), S. 215, 28−32; Hervorhebungen A. D.). 55 Brief Hamanns an Friedrich Heinrich Jacobi vom 1.12.1784, Hamann: Briefwechsel, Bd. 5 (= Anm. 23), S. 272, 5f. 56 Johann Georg Hamann: Biblische Betrachtung[en] eines Christen. In: ders.: Londoner Schriften. Hg. v. Oswald Bayer u. Bernd Weißenborn. München 1993, S. 65−311, hier S. 70, 28−31. Anregungen zur Interpretation der Stelle verdanke ich Rudolph: Ähnlichkeit (= Anm. 17), S. 151−153. 57 Hamann: Zwey Scherflein zur neusten Deutschen Litteratur (1780), zit. nach: Hamann: Werke, Bd. 3 (= Anm. 4), S. 237, 12−14. 58 Hamann: Zwey Scherflein zur neusten Deutschen Litteratur, zit. nach: Hamann: Werke, Bd. 3

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mann in Anspielung auf alttestamentliche Begriffe bzw. Symbole der ‚Einwohnung‘ und Präsenz Gottes – „Schechine, Stiftshütte und Wagenthron unserer Empfindungen, Gedanken und Begriffe durch hörbare und sichtliche Zeichen der Sprache“59 zu werden. Zunächst, das ist Hamanns Einwand gegen den Rationalismus, ist jeder menschliche Sprachgebrauch per se medial. Da Hamann die sinnliche Komponente des Mediums Sprache rezeptionsbezogen als vorteilhaft ansieht, weil für das Sinnenwesen Mensch attraktiv, für das geistige Wesen des Menschen anregend, muss es ihm in seinem Schreiben darum gehen, die mediale Komponente zusätzlich zu profilieren. Als Autor philosophischer Prosa kommt für ihn ein metrisch-klangliches Exponieren von Sinnlichkeit nicht in Frage; stattdessen wählt er ein Verfahren, das durch Sprachbilder, komplexe Analogien, asyndetische Montagen und Zitatkombinationen zu einer aktiven, kombinierenden, assoziativ Bedeutung generierenden Lektüre zwingt.60 Insofern Hamann derart medialitätsanalog die materialen Voraussetzungen seines Schreibens (und Denkens) gegenüber der Explizitheit der Aussage exponiert, kann seine Poetik als hypermedial bezeichnet werden.

(= Anm. 4), S. 237, 4−7. Vgl. F. de Saussure: „Die lautliche Figur für sich genommen bedeutet nichts […]. Der Begriff für sich genommen bedeutet nichts“ (Ferdinand de Saussure: Wissenschaft der Sprache. Neue Texte aus dem Nachlaß. Hg. v. Ludwig Jäger. Frankfurt a. M. 2003, S. 139f.). Die Arbitrarität der Sprachzeichen wird, bezogen auf rezente Sprachen, von Hamann nicht in Frage gestellt (vgl. Anm. 7). Sie steht aber am Rand, da ihn am Medium Sprache vor allem dessen rhetorische und stilistische Eigenschaften interessieren, insbesondere die von der lexikalischen Bedeutung abgesetzte konnotative Bedeutung von Wörtern im konkreten Sprachgebrauch (Semantisierung etwa durch rhetorische Figuren, Tropen, Intertextualität). Vorbild für das mediale Potential von Schriftsprache ist die Bilderrede (mehrfacher Schriftsinn) der Heiligen Schrift. Hamanns Stilideal kann als Inszenierung von Medialität aufgefasst werden, insofern es deren – aus Hamanns Sicht – Vorzug, einen (unabhängig bestimmter Bedeutungen) adressierten (das heißt im Bereich des Irdischen: sensuellen) und somit attraktiven Kommunikationsimpuls auszulösen, durch die Struktur des konkreten Mediengebrauchs zu verstärken versucht. 59 Hamann: Zwey Scherflein zur neusten Deutschen Litteratur, zit. nach: Hamann: Werke, Bd. 3 (= Anm. 4), S. 237, 10−12. Das sinnlich Wahrnehmbare, etwa Phoneme oder Grapheme, unterliegt einem Zweck und ist auf diesen hin als mediale Darstellung von „Empfindungen, Gedanken und Begriffen“ zu dekodieren (S. 237, 4−12); zum biblischen Bezug vgl. Oswald Bayer: Wider die Selbstvergessenheit transzendentaler Vernunftkritik. Eine Einführung in Hamanns Metakritik über den Purismum der Vernunft. In: Marion Heinz (Hg.): Herders ‚Metakritik‘. Analysen und Interpretationen. Stuttgart-Bad Cannstatt 2013, S. 65−80, hier S. 70. 60 Aristoteles‘ Rhetorik sieht in der Verwendung von Metaphern und anderen Tropen das einzige Äquivalent der Prosarede zu den rhythmisch-lautlichen Möglichkeiten der Poesie. Aristoteles fokussiert die argumentative Funktionalität und das kognitive Stimulierungspotential von Tropen (1403a37). – Die wirkungsästhetische Intention von Hamanns Prosastil lässt sich so charakterisieren: „Raffiniert, ausgeklügelt, mit von Ironie umspielten Paradoxen will Hamann den Leser zu einem Enträtseln provozieren, das sein Verständnis der verwendeten Wörter und Begriffe in Frage stellen soll. Die Dunkelheit des Ausdrucks ist nicht orakelnd, vielmehr dreht es sich um ein Mittel des ‚acutum dicendi genus‘, das ‚sich intellektuell verfremdender, also paradoxer Mittel in Gedanken und Sprache bedient‘, um den Leser zu eigener Gedankenarbeit anzuregen, um ihn zum ‚Gedanken-Komplizen‘ des Autors zu machen.“ (Sven-Aage Jørgensen: Zu Hamanns Stil. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift N.F. 16 (1966), H. 4, S. 374−387, hier S. 378; Jørgensen zitiert seinerseits Passagen aus Heinrich Lausberg: Elemente der literarischen Rhetorik. München 1963, § 166,6).

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3. Medialität als taktische Anpassung an den Adressaten Die christliche Fundamentalanalogie von Schöpfung und Sprachhandlung erstreckt sich bei Hamann auf alle drei Personen: Dreifach hat Gott sich zu den Menschen ‚heruntergelassen‘, das heißt zu deren Bedingungen medialisiert, um mit ihnen zu kommunizieren: „Wie hat sich Gott der Vater gedemüthigt, da er ein[en] Erdtenkloß nicht nur bildete, sondern auch durch seinen Othem beseelte. Wie hat sich Gott der Sohn gedemüthigt, er wurde ein Mensch, er wurde der geringste unter den Menschen [...]. Wie hat sich Gott der heil. Geist erniedrigt, da er ein Geschichtschreiber der kleinsten, der verächtlichst[en], der nichts bedeutendesten [sic!] Begebenheit[en] auf der Erde geword[en] um d[em] Menschen in seiner eigenen Sprache, in seiner eigenen Geschichte, in seinen eigen[en] Wegen die Rathschlüsse, die Geheimnisse und die Wege der Gottheit zu offenbaren?“61 Hamanns Verständnis der Kondeszendenz Gottes62 betrifft Natur (Schöpfung), Geschichte (Christus als Zeitenwende) und Heilige Schrift (Offenbarung); letztere sieht er als formales Muster an für die hermeneutische Erschließung einer inhomogen erscheinenden Ganzheit (eines Textes, der Welt) nach typologischen und analogischen Prinzipien.63 Die lokalen Ereignisse der biblischen Erzählungen zeigen, wie „die Rathschlüsse, die Geheimnisse und die Wege“ Gottes sich in der Partikularität des Menschen und „seiner eigenen Sprache, [...] seiner eigenen Geschichte, [...] seine[r] eigen[en] Wege[]“ erschließen lassen. Anspielend auf den Fiat-lux-Topos im Modus der Schriftlichkeit („Gott ein Schriftsteller! – –“) beginnt Hamanns erste Schrift Biblische Betrachtungen; sie begleitet tagebuchartig die Überwindung seiner persönlichen Krise während des London-Aufenthaltes:64 „Die Eingebung dieses Buchs ist eine eben so große Erniedrigung und Herunterlassung Gottes als die 61 Hamann: Betrachtung[en] (= Anm. 56), S. 151, 37−152, 8. 62 Die traditionelle Denkfigur der Kondeszendenz Gottes, die Hamann mit ,Herunterlassung‘ übersetzt, bildet die Basis seines theologischen Sensualismus (vgl. etwa Gründer: Figur [= Anm. 17], bes. S. 28−30 u. S. 80). 63 Christliche Typologie liest Geschichte final als Erfüllung von Verheißung; dadurch werden Ereignisse medial verstanden: „Das Zukünftige bestimmt das Gegenwärtige, und dieses das Vergangene, wie die Absicht Beschaffenheit und den Gebrauch der Mittel.“ (Hamann: Kleeblatt Hellenistischer Briefe [1762], zit. nach: Hamann: Werke, Bd. 2 [= Anm. 4], S. 175, 35−37). Hamann universalisiert und aktualisiert die christliche Typologie, nach der Ereignisse bzw. Personen des Neuen Testamentes alttestamentlich präfiguriert sind, indem er sie auf sein persönliches Leben bezieht (Gründer: Figur [= Anm. 17], S. 147). – Das geschichtstypologische Denken Hamanns kann als Variante der von ihm bevorzugten Denk- bzw. Argumentationsfigur der Analogie aufgefasst werden (Rudolph: Ähnlichkeit [= Anm. 17], S. 98f. u. S. 168). 64 Welche vermutlich handelspolitischen Ziele hinter Hamanns London-Aufenthalt im Auftrag des Rigaer Handelshauses Berens genau standen, ist ungeklärt; vgl. dazu Rainer Fischer: „Eine Stadt, gegen die mein Vorurtheil nicht so stark als ihres ist…“. Hamanns freundfeindschaftliche Beziehungen zu Riga. In: Manfred Beetz u. André Rudolph (Hg.): Johann Georg Hamann. Religion und Gesellschaft. Berlin u. Boston 2012 (Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung Bd. 45), S. 152−171 und Raivis Bičevskis, Aija Taimiņa: Johann Georg Hamanns kameralwissenschaftliche Studien und Johann Christoph Berens’ Vision von Riga. Ein utopisches Projekt aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. In: Forschungen zur baltischen Geschichte 8 (2013), S. 127−144.

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Schöpfung des Vaters und Menschwerdung des Sohnes.“65 Hamann analogisiert Rede (Schöpfung), Text (Heilige Schrift) und Menschwerdung Gottes (Christus) als adressierte Kommunikation des Intelligiblen (Gottes). Christus ist für Hamann Typus universaler Medialität: das Fleisch gewordene Wort (Joh 1,14), der „Mittler“66 zwischen Gott und den Menschen (1 Tim 2,5). Demzufolge kann für Hamanns theologischen Sensualismus die Identifizierung der göttlichen Autorintention (des „Plan[s] des Urhebers“67) im Sinnlichen keine Grenzen kennen. „Wenn man Gott zum Ursprung aller Wirkungen im Großen und Kleinen, oder im Himmel und auf Erden, voraussetzt; so ist jedes gezählte Haar auf unserm Haupte eben so göttlich, wie der Behemoth, jener Anfang der Wege Gottes. Der Geist der mosaischen Gesetze erstreckt sich daher bis auf die ekelsten Absonderungen des menschlichen Leichnams.“68 Die Ausrichtung der Rezeption auf die Annahme einer Autorintention versucht, das solcherart medial aufgefasste sinnliche Objekt transparent für seinen Stellenwert innerhalb des „Plan[s]“ zu machen. Im Theorem der Kondeszendenz ließ sich Mitte des 18. Jahrhunderts die beginnende historisch-kritische Bibelexegese mit dem Dogma von der göttlichen Inspiration der Heiligen Schrift vereinbaren.69 Das mediale Verständnis der Kondeszendenz wurde durch das rhetorische Konzept der Akkommodation unterstützt, das die Anpassung des Redners an seine Zuhörer, ihre Veranlagung und Lebensumstände beinhaltet.70 Die lange vor Hamann einsetzende Theologisierung des Akkommodationsbegriffs erlaubte es, die grammatische und stilistische Heterogenität der biblischen Bücher als Anpassung des Heiligen Geistes an die je individuelle Ausdrucksweise des Verfassers zu interpretieren.71 Hamann, der die Akkommodation Gottes bzw. eines Autors je nach Argumentationszusammenhang als Herunterlassung, Demütigung, 65 Johann Georg Hamann: Ueber die Auslegung der heil. Schrift. In: ders.: Londoner Schriften. Hg. v. Oswald Bayer u. Bernd Weißenborn. München 1993, S. 59−61, hier S. 59, 3 u. S. 59, 6−8. 66 Zitiert nach: Die Bibel nach Martin Luthers Übersetzung, revidiert 2017. Deutsche Bibelgesellschaft Stuttgart (https://www.bibleserver.com/text/LUT; 14.09.2020). 67 Brief Hamanns an Friedrich Heinrich Jacobi vom 1.12.1784, Hamann: Briefwechsel, Bd. 5 (= Anm. 23), S. 272, 18. 68 Hamann: Des Ritters von Rosencreuz letzte Willensmeynung über den göttlichen und menschlichen Ursprung der Sprache, zit. nach: Hamann: Werke, Bd. 3 (= Anm. 4), S. 27, 2−10. 69 Siegmund Jacob Baumgarten folgt in Unterricht von Auslegung der heiligen Schrift (1742) dem Kondeszendenz-Theorem, um die Kohärenz der Heiligen Schrift (analogia scriptura) trotz offensichtlicher stilistischer und sprachlicher Unterschiede behaupten zu können; dadurch kann er exegetisch die traditionelle ars sacra samt Inspiration und die textkritische ars profana versöhnen (Joachim Bark: Exegese und Interpretation, oder: Was können Theologie und Literaturwissenschaft (noch) voneinander lernen? In: Peter Wiesinger (Hg.): Akten des X. Internationalen Germanistenkongresses Wien 2000 „Zeitenwende – Die Germanistik auf dem Weg vom 20. ins 21. Jahrhundert“. Bd. 8. Kanon und Kanonisierung als Probleme der Literaturgeschichtsschreibung. Bern [u.  a.] 2003, S. 249−256). 70 Wilhelm Blümer: Akkommodation. In: Gert Ueding (Hg.): Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 1. Tübingen 1992, Sp. 309−313, hier Sp. 309f.; vgl. auch Hamanns Beschreibung des Verfahrens: „Wer in einer fremden Sprache schreibt, der muß seine Denkungsart, wie ein Liebhaber, zu bequemen wissen.“ (Hamann: Versuch über eine akademische Frage, zit. nach: Hamann: Werke, Bd. 2 [= Anm. 4], S. 126, 9f.). 71 Blümer: Akkommodation (= Anm. 70), Sp. 311.

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Übersetzung, Verwandlung, Verstellung, Mimesis, Maskierung, Einkleidung oder Knechtsgestalt bezeichnet, radikalisierte den theologischen Akkommodationsbegriff, indem er den gesamten Bereich der Sinnlichkeit als Ausdruck der Zugewandtheit Gottes interpretierte, der sich solcherart auf die conditio humana eingelassen hat:72 „Gott hat sich so viel als möglich bequemt und zu der Menschen Neigung[en] v Begriffe, ja selbst Vorurtheile v Schwachheit[en] herunter gelassen“. Der produktionsseitig als Entäußerung73 des Intelligiblen beschreibbaren Akkommodation entspricht rezeptionsseitig die Verborgenheit der Intention (Idee, „Plan“) in der medialen Erscheinung: „Jedes Phoenomenon des natürl. und bürgerl. Lebens, jede Erscheinung der sichtbaren Welt ist nichts als eine Wand, hinter der Er steht“, schreibt Hamann 1759, den Verhüllungs- bzw. Limitierungsaspekt von Medialität akzentuierend, und – dabei zum Offenbarungs- bzw. Ermöglichungsaspekt des Medialen übergehend – „ein Fenster, wodurch Er sieht, ein Gitter, wodurch Er guckt“.74 Etwas nicht als das zu rezipieren, was es positiv zu sein scheint, es vielmehr bezugnehmend, das heißt medial, zu verstehen, setzt für Hamann zweierlei voraus: die hermeneutische Erwartung von Intentionalität und Kommunikation (Sehnsucht, Glaube) und ein persönliches Involviertsein durch die mediale Erfahrung (aisthetische Betroffenheit). Beide Momente lassen sich im Begriff der Faszination zusammenführen.75 Das persönliche Involviertsein motiviert die Transformation (das heißt Verstehenssuche) der medialen Erfahrung nach der Richtschnur einer unterstellten Intentionalität. In einem Brief an den vertrauten Freund Gottlob Immanuel Lindner diskutiert Hamann 1759 die Möglichkeit medialen Verstehens. Er greift dabei auf die sich wechselseitig kommentierende Analogie zwischen der Erkenntnis Gottes in der sinnlichen Erfahrung der Welt und dem Verstehen von Sprache (im engeren Sinne) zurück. Die Briefpassage illustriert zugleich Hamanns analogische Methode, die Verstehen als spontane assoziative Paradigmenbildung konzipiert. Zunächst fragt er vor dem Horizont des Leib-Seele-Problems nach dem Modus der Verknüpfung von sinnlicher Erfahrung (Medialität) einerseits und Intelligiblem (Bedeutung) anderer72 Zur Verdeutlichung des von Hamann reflektierten Doppelaspektes der – von mir als Medialisierung diskutierten –Versinnlichung Gottes bezeichnet Fritsch: Communicatio (= Anm. 46), S. 15 in Absehung von der dogmengeschichtlichen Tradition das Moment der Selbstentfremdung als Akkommodation, das Moment der Selbstentsprechung als Kondeszendenz. 73 „Die Einheit des Urhebers spiegelt sich bis in dem Dialecte seiner Werke [...] Ein Beweiß der herrlichsten Majestät und leersten Entäußerung!“ (Hamann: Aesthetica; zit. nach: Hamann: Werke, Bd. 2 (= Anm. 4), S. 204, 7−10; Hervorhebung A. D.). Ludwig Jäger, der das „Modell sprachlicher Medialität“ nach dem – hier Hamann nahekommend – „Modell der Transkription“ entwirft, beschreibt die grundsätzliche Sprachgebundenheit des Mentalen als einen „semiologischen Systemzusammenhang“, der „die ontogenetische Herausbildung des menschlichen mentalen Systems [...] an zeichenvermittelte [...] Entäußerungshandlungen [...] bindet, die sich allein durch diese semiologische Um-Schreibung zu konstituieren vermag“ (Jäger: Zeichen (= Anm. 37), S. 27f.; erste Hervorhebung A. D.). Zum Begriff der Akkommodation bei Hamann siehe Fritsch: Communicatio (= Anm. 46), S. 12−20. 74 Brief Hamanns an Johann Gotthelf Lindner vom 22.6.1759, Hamann: Briefwechsel, Bd. 1 (= Anm. 23), S. 352, 25−28. 75 Ausführlich dazu: Andreas Degen: Ästhetische Faszination. Die Geschichte einer Denkfigur vor ihrem Begriff. Berlin u. Boston 2017, S. 264f.

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seits: „Das unsichtbare Wesen unserer Seele offenbart sich durch Worte – wie die Schöpfung eine Rede ist [...]. [...] Zwischen einer Idée unserer Seele und einem Schall, der durch den Mund hervorgebracht wird ist eben die Entfernung als zwischen Geist und Leib, Himmel und Erde. Was für ein unbegreiflich Land verknüpft gleichwol diese so von einander entfernte Dinge?“76 Hamann behauptet im zweiten der zitierten Sätze eine Analogie zwischen drei Begriffspaaren: Das Begriffspaar Kognition (Idee der Seele) und Artikulation (Schall aus dem Mund) verhalte sich zueinander wie Geist und Leib bzw. wie die symbolisch konnotierten Anschauungsbegriffe Himmel und Erde. Als semantisches Paradigma dieser drei Begriffspaare ließe sich beispielsweise die Oppositionsrelation ‚Nichtsinnliches vs. Sinnliches‘ aufstellen. Diese Analogisierung der drei Begriffspaare wird allerdings durch den voranstehenden Satz in eine andere Analogie eingespannt, die sich nach einem anderen Paradigma strukturieren lässt. Die Analogie des ersten Satzes lässt sich paraphrasieren als: Die Idee offenbart sich im Medium Wort so wie Gott im Medium Schöpfung (Paradigma ‚Nichtsinnliches zeigt sich im Sinnlichen‘). Zusammengezogen behaupten also die Analogien des ersten und zweiten Satzes einen Zusammenhang (Paradigma: ‚Nichtsinnliches im Sinnlichen‘) in der Differenz bzw. „Entfernung“ (Paradigma: ‚Nichtsinnliches vs. Sinnliches‘). Hamann entwirft mit diesen Ketten expliziter Analogien eine komplexe Struktur semantischer Relationen; diese untereinander paradigmenbildend nach den semantischen Feldern der Wörter und ihrem Erfahrungswert abzugleichen, macht den von ihm intendierten Prozess des Verstehens aus. Das im anschließenden Satz erfragte „unbegreiflich Land“, welches „diese so von einander entfernte Dinge [gleichwol verknüpft]“, kann als Feld isotopischer Strukturen beschrieben werden. Im Verstehensprozess per Analogisierung spannt sich dieses Feld durch Paradigmenzuweisung auf.77 Die durch die syntaktische Anordnung 76 Brief Hamanns an Gottlob Immanuel Lindner vom 9. (oder 3.) 8.1759, Hamann: Briefwechsel, Bd. 1 (= Anm. 23), S. 393, 28−35. Grundlegende Hinweise zum Analogie-Denken Hamanns verdanke ich Rudolph: Ähnlichkeit (= Anm. 17). 77 Hamanns Analogieverständnis ist nicht rhetorisch, sondern methodologisch. Es bezeichnet eine epistemologische Alternative zur methodischen Dichothomie von Induktion vs. Deduktion. In dieser Hinsicht ist die Verbindung Hamann – Goethe – Agamben erhellend. Giorgio Agamben hat Hamann als Kritiker Kants und Anreger Benjamins rezipiert (Giorgio Agamben: Infancy and History. The Destruction of Experience. London u. New York 1993, S. 44−50). Goethes Hochschätzung Hamanns ist gut dokumentiert, vgl. Goethes Bemerkung: „Hamann war seiner Zeit der hellste Kopf [...].“ (Goethes Unterhaltungen mit dem Kanzler Friedrich v. Müller. Hg. v. C. A. H. Burkhardt. Stuttgart 1870, S. 78 [Nachdruck Paderborn 2013]) sowie „Der hellste Kopf“ (= Anm. 33) und Thomas J. Tillmann: Hermeneutik und Bibelexegese beim jungen Goethe. Berlin u. New York 2006, S. 50−53 u. 204−207. – Agamben entwickelt 2008 in Signatura rerum die Darstellung seiner Methodik aus Goethes Begriff des ‚Urphänomens‘, den er als prototypischen Paradigma-Begriff auffasst: „Das Urphänomen als Paradigma ist in diesem Sinn der Ort, an dem die Analogie in perfektem Gleichgewicht lebt, jenseits der Opposition zwischen dem Allgemeinen und dem Besonderen.“ (Agamben: „Was ist ein Paradigma?“ In: ders.: Signatura rerum. Zur Methode. Frankfurt a. M. 2009, S. 36). Analogisches Denken hebe „die Dichothomie zwischen dem Generellen und dem Partikularen“ (S. 37) auf. Das Partikulare wird so, indem es zum Paradigma wird, erkenntnisleitend, da es Zuordnungen weiterer Elemente generiert. Rezeptionsbezogen ist – darauf geht Agamben nicht ein – Hamanns ‚medialer Stil‘ der analogischen Methode verpflichtet:

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im Satz begünstigte semantische Analogisierung und der daraus folgende Akt der Bedeutung generierenden Paradigmenbildung ist es, wodurch „so von einander entfernte Dinge“ verknüpft werden.78 Das „unbegreiflich Land“ semantischer Analogiebzw. Oppositionsrelationen, die etwa die Opposition ‚Himmel und Erde‘ zum Bild der Opposition ‚Geist und Leib‘ machen, konstituiert sich durch das Bemühen, die heterogenen Teile einer formalen Einheit (ein Satz, die Welt u. a.) in semantische Kohärenz zu bringen. Die Denkfigur der Akkommodation auf das Medium Sprache („Einkleidung willkürlicher Zeichen“) applizierend stellt nun Hamann Lindner die rhetorische Frage: „Ist es nicht eine Erniedrigung für unsere Gedanken, daß sie nicht anders sichtbar gleichsam werden können, als in der groben Einkleidung willkürlicher Zeichen und was für ein Beweiß Göttlicher Allmacht – und Demuth – daß er die Tiefen seiAgambens Hinweis, dass ein Paradigma „eine Serie von Phänomenen intelligibel zu machen“ erlaubt (S. 38), trifft den Kern von Hamanns sensualistischer Konzeption und begründet sein Vertrauen auf Lokalität bzw. Bildhaftigkeit: Die ‚Nachahmung‘ der Idee des Urhebers durch den nicht anders als sinnlich erkennenden (bzw. lesenden) Menschen vollzieht sich für Hamann durch Analogisierungsprozeduren, das heißt durch ein textuell nicht vorstrukturiertes Auffinden bzw. Zuweisen von (semantischen) Paradigmen, durch die Heterogenes als in gewisser Hinsicht gleich und ein formal Ganzes als kohärent erkannt werden kann. Allerdings setzt (der lustökonomisch, das heißt von der rezeptiven Motivierung her denkende) Hamann dabei im Unterschied zu Agamben eine impulsgebende affizierende Erfahrung voraus. Roland Borgards weist – für Goethe – im Zusammenhang der Genese des Begriffs des Urphänomens (als des prototypischen Paradigma-Begriffs) darauf hin: „Ein locus classicus für diese epistemologische Grundhaltung, den Agamben nicht zitiert, von dem her sich aber Agambens Goethe-Deutung klar konturieren lässt, ist das Glückliche Ereignis [...]“ (Roland Borgards: Methodenfragen. Giorgio Agamben erklärt sich selbst. (Review of: Giorgio Agamben, Signatura rerum. Zur Methode. Aus dem Italienischen v. Anton Schütz. Frankfurt a. M. 2009). In: Journal of Literary Theory online [08.02.2011] URL: http://www.jltonline.de/ index.php/reviews/article/view/291/885; Hervorhebungen im Original). Das ‚Glückliche Ereignis‘ (bei Goethe die mit dem Gespräch über die ‚Urpflanze‘ beginnende Freundschaft mit Schiller) ist in Hamanns Konzeption der initiale persönliche Involvierungs- und Faszinationsimpuls in der aisthetischen Erfahrung eines Mediums. Dieser motiviert den (auf den Urheber ausgerichteten) Verstehensprozess per Analogisierung (Paradigmenbildung). Borgards Charakterisierung des Denkstils Agambens lässt sich zwanglos auf den Stil von Hamanns Schriften übertragen: „Er referiert, interpretiert, präzisiert, radikalisiert, kritisiert, konstelliert das Denken seiner Gewährsleute und deutet damit seine eigene Position mehr an, als dass er sie explizit fixieren würde. Was so entsteht, erhebt keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit, sondern beharrt auf der Bindung der Theorie an eine lokale Praxis, der Methode an ihren konkreten Gegenstand.“ (Borgards: Methodenfragen). Auch Hamann geht (konträr zu systematischen Aufrissen à la Kant) von der Lokalität und Partikularität aller Erkenntnis aus (Michael Wetzel: ‚Geschmack an Zeichen‘. Johann Georg Hamann als der letzte Denker des Buches und der erste Denker der Schrift. In: Autor und Autorschaft (= Anm. 33), S. 13−24, hier S. 15); vgl. hierzu: „Ich weiß dem allgemeinen Geschwätze […] nichts bessers als die genaueste Localität, Individualität und Personalität entgegen zu setzen […]“. (Hamann: Entkleidung und Verklärung. Ein Fliegender Brief an Niemand, den Kundbaren (1786), erste Fassung; zit. nach: Hamann: Werke, Bd. 3 [= Anm. 4], S. 353, 23−26). 78 Eine Verknüpfung der Begriffe bzw. Tropen vollzieht sich durch ein kognitives Prozessieren und paradigmenbildendes Abgleichen der Denotation und Konnotation der Wörter bzw. Wortgruppen. – Die Analogie (einschließlich der Typologie) als rhetorische Figur wie als generelles textuelles Strukturelement ist charakteristisch für Hamanns argumentatives und stilistisches Verfahren (Rudolph: Ähnlichkeit [= Anm. 17], S. 173).

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ner Geheimniße, die Schätze seiner Weisheit in so kauderwelsche, verworrene und Knechtsgestalt an sich habende Zungen der Menschlichen Begriffe einzuhauchen vermocht und gewollt.“79 Der Topos der Sprache als Einkleidung der Gedanken scheint zunächst auf ein semiotisches statt ein semiologisches Konzept von Medialität zu weisen, so als würde Hamann das Verstehen als eine bloße Dekodierung der medial eingekleideten Gedanken (Transfer-Konzept von Medialität) konzipieren.80 Die folgende Deformationsmetaphorik („kauderwelsch[], verworren[] und Knechtsgestalt“) fokussiert jedoch das Moment der Transformation im Medialen, das sich nicht vollständig auflösen lässt. Am Satzende spricht Hamann mit dem erstaunten Hinweis, dass trotz der (deformierenden) Sprachlichkeit den Begriffen („Zungen der Menschlichen Begriffe“) Intelligibles („Tiefen seiner Geheimniße“, „Schätze seiner Weisheit“) implizit sei („einzuhauchen vermocht“, das heißt ‚Unsinnliches im Sinnlichen‘), aus, was er 25 Jahre später in allerdings umgekehrter Akzentuierung Kant vorhalten wird: dass Intelligibles nicht anders als medialisiert repräsentiert und kommuniziert werden kann. Hebt der Brief an Lindner bislang den Defizienzaspekt von Medialität hervor („Erniedrigung“, „grobe Einkleidung“ etc.), ändert sich dies im Fortgang der Argumentation: Die mediale Deformation des Intelligiblen (das heißt Gottes), die mit dessen Akkommodation an eine aisthetische Erfahrbarkeit einhergeht (Schöpfung, Menschwerdung, Bibel), wird nun von Hamann als taktisches Kalkül ausgewiesen: „Freylich schuf er uns nach Seinem Bilde – weil wir dies verloren, nahm er unser eigen Bild an [...], lernte weinen – lallen – reden – lesen – dichten wie ein wahrer Menschensohn; ahmte uns nach, um uns zu Seiner Nachahmung aufzumuntern.“81 Die Nachahmung des Adressaten durch den Sprecher zielt darauf, eine reaktive Nachahmung des Sprechers durch den Adressaten zu motivieren. Dieses taktische Kalkül seitens des Urhebers bezeichnet Hamann mit einem dem ersten Paulusbrief entnommenen Begriff als Metaschematismus (‚Übersetzung‘, ‚Transformation‘).82 Paulus verwendet diesen rhetorischen Begriff, um die scheinbare Anpassung seiner Argumentation an die Position der Korinther zu beschreiben; deren Ziel war es, die An79 Brief Hamanns an Gottlob Immanuel Lindner vom 9. (oder 3.) 8.1759, Hamann: Briefwechsel, Bd. 1 (= Anm. 23), S. 393, 35−394, 3. 80 Vgl. dazu Anm. 37. 81 Brief Hamanns an Gottlob Immanuel Lindner vom 9. (oder 3.) 8.1759, Hamann: Briefwechsel, Bd. 1 (= Anm. 23), S. 394, 6−9. 82 1 Kor 4,6: „ich habe das auf mich und Apollos bezogen, und zwar euretwegen, damit ihr an uns lernt“ (Hervorhebungen A. D.). Grundlegend zu dem als ‚Verwandlung‘, ‚Gestaltwandel‘, ‚Umformung‘ übersetzbaren Begriff wie zu dessen Bedeutung bei Hamann siehe Elisabeth Büchsel: Metaschematismus. In: Jochen Ritter u. Karlfried Gründer (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 5. Basel, Stuttgart 1980, Sp. 1299−1300. Hamann bedient sich der Figur, bei der durch stilistisch-literarische Umformung eine Aussage verändert wird, um „dem Gegner unerwartet zur eigenen Verteidigung durch gleichzeitiges Entwenden seiner Waffen in dessen Rüstung zu erscheinen und nun die Nachfolge der eigenen Haltung zu fordern“ (Paul Ernst: Hamann und Bengel. Ein Aufriß ihrer Werk- und Lebensbeziehungen als Abriß wesentlicher Hamann-Züge. Gumbinnen 1935, S. 85). In Abgrenzung zu anderen Transformationsbegriffen bezeichnet ‚Metaschematismus‘ „eine Veränderung des Äußern bei Erhaltung der Art“ (Achermann: Natur [= Anm. 22], hier S. 76).

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geredeten dadurch zu einer Übernahme seiner eigentlichen Position zu nötigen. Mit dem Begriff des Metaschematisierens charakterisiert Hamann die Wirkungsintention seines eigenen Darstellungsverfahrens.83 Dabei strapaziert er das Akkommodationskonzept, indem er der adressierten Versinnlichung der Idee einen immanenten Reaktionsimpuls zuspricht; Medialisierung (nach dem Akkommodationskonzept verstanden) erhält damit per se eine Kommunikationsfunktion. Der Mensch erfährt sich in seiner sensuellen und kognitiven Bedürfnisstruktur durch die als medial aufgefasste Sinneswahrnehmung aisthetisch affiziert und intellektuell herausgefordert. Letzteres betrifft die im Medium nurmehr indirekt aufscheinende, erst durch einen Verstehensprozess offenzulegende Idee der Mitteilung. In diesem Effekt einer rezeptionsästhetischen Aktivierung zu einer – die medial verhüllte Idee nachahmenden – Verstehensanstrengung liegt für Hamann das Potential von Medialität. Zwar gleicht die mediale Transformation einer „leersten Entäußerung“ des Intelligiblen (Gottes), andererseits erlangt das Intelligible, wie es in der Aesthetica in nuce heißt, durch diese „innigste[] Zutätigkeit“ (das heißt „Dienstfertigkeit und Gefälligkeit“84) eine „unendliche[] Kraft“ über den Adressaten, vor welcher sich dieser „nicht zu retten weiß“.85 Das Medium fungiert als aisthetisches Lockmittel.86 Der bedürftige („durstige[]“87) Mensch wird dadurch motiviert, das Medium in Richtung der diesem zugrunde liegenden Intention zu transzendieren. Vor dem Hintergrund eines rhetorischen Kommunikationsmodells diskutiert Hamann Medialität als taktische Akkommodation. Das rhetorische Modell beschreibt allerdings nur die produktionsästhetische Seite von Medialität. Um die Reaktion des Rezipienten bzw. Erkennenden auf das Medium und dessen problematische Bedeutung (verhüllte Idee) zu konzipieren, greift Hamann auf ein hermeneutisches Modell zurück.88 Verstehen wird von ihm nicht als Dekodierung, sondern als subjektive 83 Vgl. etwa: „Sie wißen daß diese unbekannte Figur eine meiner Lieblings Vortheile im Schreiben ist, insbesondere in demjenigen Stück, was ich Oeconomie des Plans nenne und in der Poesie die Fabel heist“ (Brief Hamanns an Herder vom 28.1.1776; Hamann: Briefwechsel, Bd. 3 (= Anm. 23), S. 215, 15−18; Hervorhebung im Original). 84 ‚Zuthätig‘ bedeutet, „sich durch Dienstfertigkeit und Gefälligkeit beliebt zu machen“ (Wörterbuch der deutschen Sprache, Bd. 5. Hg. von Joachim Heinrich Campe. Braunschweig 1811, S. 951). 85 Hamann: Aesthetica; zit. nach: Hamann: Werke, Bd. 2 (= Anm. 4), S. 204,10−14. 86 In den Sokratischen Denkwürdigkeiten beschreibt Hamann dieses Verfahren für Sokrates: Dieser „lockte“ die Athener, indem er ihnen in ihrer Neugier entsprach, „zu einer Wahrheit, die im Verborgenen liegt“, zit. nach: Hamann: Werke, Bd. 2 (= Anm. 4), S. 77, 5−7 (Hervorhebungen im Original). Baur: Publizist (= Anm. 13), S. 309 spricht von sprachlicher Einkleidung als „Schutzmantel und Lockmittel“. 87 Hamann veranschaulicht den Verstehens-Eros u.  a. durch die Metaphorik des Dürstens, etwa: „durstiger Ehrgeitz nach Wahrheit und Tugend“ (Hamann: Sokratische Denkwürdigkeiten; zit. nach: Hamann: Werke, Bd. 2 (= Anm. 4), S. 63, 34). Ausführlich geht Bayer: „Geschmack“ (= Anm. 17), S. 1–15 auf die theologischen und semiotischen Grundlagen der Durst-Metaphorik bei Hamann ein. 88 Klaus Dockhorn macht 1966 in Reaktion auf Hans-Georg Gadamers Wahrheit und Methode darauf aufmerksam, dass die rhetorische Tradition in Deutschland Ende des 18. Jahrhunderts nicht einfach abbrach, vielmehr verdeckt im Paradigma des Ästhetischen und im Paradigma der Herme-

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perspektivische Transformation einer aisthetischen Erfahrung in eine kommunikative Bedeutung konzipiert. Diese Hermeneutik des Medialen gewährt in manchen Beschreibungen Hamanns recht weitgehende rezeptionsästhetische Lizenzen; dennoch ist die Verstehenssuche grundsätzlich auf eine vorgängige Idee oder Intention eines Urhebers ausgerichtet.89

4. Aisthetische Erfahrung des Medialen als hermeneutischer Impuls Ähnlich der Metaphorik der Verdunkelung im Sonnenfinsternis-Vergleich veranschaulicht Hamann den entstellenden Effekt von Medialität auch als zerstörte Ordnung: So heißt es in Hinblick auf die Schöpfungsrede, dass wir „an der Natur nichts als Turbatverse und disiecti membra poetae zu unserm Gebrauch übrig“ haben.90 Diese Verworrenheit „nachzuahmen“ oder sogar „in Geschick zu bringen“, sei die spezifische Aufgabe der Poesie.91 Hamanns Schreibstil ist dieser Aufgabe verpflichtet. In dieser Hinsicht vergleicht er in dem an die Freunde Kant und Johann Christoph Berens gerichteten Essay Sokratische Denkwürdigkeiten (1759) seine Schreibweise vermittels eines Zitats mit „einer Menge kleiner Inseln, zu deren Gemeinschaft Brücken und Fähren der Methode fehlten“.92 Um den heterogenen Elementen eine kohärente Mitteilungsintention entnehmen zu können, bedürfe es Leser, „welche schwimmen könnten“.93 Die Idee der (solcherart hypermedial stilisierten) Schrift kann näherungsweise, wenn auch nicht anders als perspektivisch, erschlossen werden, indem der Lesende analogisch verknüpfend verfährt; insofern ist seine Lektüre poietisch. Hamanns Konzipierung des medialen Verstehens lässt sich seinen Anmerkungen entnehmen, die er – vom Referenztext nicht selten erheblich abweichend – der Übersetzung einer stiltheoretischen Abhandlung des französischen Naturwissenschaftlers Georges-Louis Leclerc, Comte de Buffon, beifügte. Überhaupt seien, heißt es in Ha-

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neutik weiterwirkte (Matthias Flatscher: Philosophische Hermeneutik: Relektüren der rhetorischen Tradition. In: Andreas Hetzel und Gerald Posselt (Hg.): Handbuch Rhetorik und Philosophie.. Berlin u. Boston 2017, S. 281−302, hier S. 291). Hans Graubner: Hamanns Buffon-Kommentar und seine sprachtheologische Deutung des Stils. In: „Der hellste Kopf“ (= Anm. 33), S. 277−303; vgl. oben die Begriffe ‚Erwartung‘ und ‚Involvierung‘. Hamann: Aesthetica; zit. nach: Hamann: Werke, Bd. 2 (= Anm. 4), S. 198, 34−199, 1. Turbatverse sind aus der metrischen Ordnung gebrachte Verszeilen, die aus Übungsgründen wieder zu ordnen sind. Mit „disiecti membra poetae“ spielt Hamann auf die Satiren des Horaz (I 4, 62) an: „des zerrissenen Dichters Glieder“, ein Topos zerstörter textueller Ordnung (nach dem Kommentar in: Hamann: Sokratische Denkwürdigkeiten [= Anm. 7], S. 86). Hamann: Aesthetica, zit. nach: Hamann: Werke, Bd. 2 (= Anm. 4), S. 198, 33−199, 1. Hamann: Sokratische Denkwürdigkeiten, zit. nach: Hamann: Werke, Bd. 2 (= Anm. 4), S. 61, 30f. (Hervorhebungen im Original). Hamann referiert Sokrates’ Urteil über Heraklits dunklen Stil, für den der „Zusammenfluß von Ideen und Empfindungen“ (Hamann: Werke, Bd. 2 [= Anm. 4], S. 61 u. 30f.) verantwortlich gemacht wird; dies entspricht Hamanns Stilideal.

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manns zehnter Anmerkung, „alle Phänomene des Styls mehr subjective als objective Verhältnisse“.94 Die Funktion der einzelnen Phänomene sei, analog zu den Farben, die nicht anders als medial (im Licht) sichtbar werden, erst von der „Öconomie des Plans“ her zu beurteilen, also in Hinblick auf das Ganze einer vorgängigen Konzeption. In einer zunächst radikal antihermeneutisch erscheinenden, die Sinnproduktion vermeintlich ganz in den subjektiven Rezeptionsakt legenden Formulierung heißt es: „Das Licht der Wahrheit liegt [...] im anschauenden Auge“. Zwar betont Hamann hier die Individualität und Authentizität der aktiven Rezeption („anschauende[s] Auge“), allerdings ist diese medial auf das von der – außerhalb liegenden – Wahrheit ausgehende Licht gerichtet. Die Bedeutungsgenerierung aus der medialen Erfahrung stellt Hamann als Vermittlung von Auge und Wahrheit, Leseverständnis und Autorintention vor. Das Subjekt ist aktiv in die perspektivische Nachahmung einer als objektiv vorgestellten Wahrheit involviert.95 In einer Kontrastierung von Tastsinn und Sehsinn erläutert Hamann im Fortgang zwei konträre Erkenntnis- bzw. Rezeptionsformen, die sich näherungsweise als empirisch-positivistisch vs. hermeneutisch-rezeptionsästhetisch umschreiben lassen. Während das „Gefühl eines Blindgebornen [...] bey einer differentia specifica der Oberfläche stehen [bleibt]“ (Tastsinn), vermag das anschauende Auge eine tatsächliche „Offenbarung der Gegenstände“. Diese „geschieht durch einen unmittelbaren Actum gesunder Empfänglichkeit, die nach ähnlichen Gesetzen den Plan der Mittheilung außer sich vollzieht.“96 In der Analogie von Sehen (der Farbe) und Verstehen (eines Textes) wird zwischen einem nur auf die Oberfläche und einem auf die Offenbarung des Verborgenen gerichteten Verfahren unterschieden. Dabei werden die Elemente (der Welt, des Stils) als medial, nämlich als eine „Mittheilung“, aufgefasst. 94 Anmerkungen Hamanns zur Übersetzung von Buffons Über den Styl, veröffentlicht in den Königsbergschen Zeitungen vom 18.1. bis 1.2.1776, zit. nach: Hamann: Werke, Bd. 4 (= Anm. 4), S. 423, 47f. Meine Ausführungen zu Hamanns Buffon-Kommentar verdanken Graubners Erläuterungen vielfache Anregung. 95 Graubner betont in seiner detaillierten Interpretation des Kommentars im historischen Kontext, dass das Verhältnis des Lesenden zum Text wie das Verhältnis des menschlichen Autors zur Schöpfung als eine „Nachahmung, nicht Schöpfung“ zu verstehen sei (Graubner: Hamanns Buffon-Kommentar [= Anm. 89], S. 281). – Allerdings handelt es sich dabei, wie erläutert, um eine Nachahmung zu den Bedingungen des Nachahmenden (das heißt perspektivisch, lokal); vgl. hierzu Hamanns Aussage, mit seinem Schreiben „Zeilen zu pflanzen, deren Wachsthum von Sonne, Boden und Wetter abhängt“ (Brief Hamanns an Moses Mendelssohn vom 11.2.1762; Hamann: Briefwechsel, Bd. 2 [= Anm. 23], S. 129, 11f.). 96 Die Passage lautet im Zusammenhang: „Überhaupt sind alle Phänomene des Styls mehr subjective als objective Verhältnisse, welche sich ohne die Öconomie des Plans eben so wenig als Farbe ohne Licht schätzen lassen; denn das künstlichste und nüchternste Gefühl eines Blindgebornen bleibt bey einer differentia specifica der Oberfläche stehen und diese Heterogeneität eines einzigen Urbegriffes verfälscht das ganze System seiner optischen Urtheile, ohne daß er den Grund seines Irrthums zu erkennen, geschweige zu verbessern im Stande ist. Das Licht der Wahrheit liegt also im anschauenden Auge, und die Offenbarung der Gegenstände geschieht durch einen unmittelbaren Actum gesunder Empfänglichkeit, die nach ähnlichen Gesetzen den Plan der Mittheilung außer sich vollzieht. Mündliche und schriftliche Mittheilung sind daher noch verschiedener als Fresco – von Miniatur-Malerey.“ (Anmerkungen Hamanns zur Übersetzung von Buffons Über den Styl, zit. nach: Hamann: Werke, Bd. 4 (= Anm. 4), S. 423, 47−56; Hervorhebungen im Original).

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Der fragende Erkennende ist ausgerichtet (Erwartung) auf den „Plan der Mittheilung“, geht also von der Vorannahme einer auktorialen Intention – hier „Wahrheit“ genannt – aus. Die ‚blinde‘ Erkenntnisform, die beim Empirisch-Manifesten der Oberfläche „stehen [bleibt]“, wird abgewertet, weil sie die Differenzen an der Oberfläche nicht in Hinblick auf die Mitteilungsintention zu transzendieren vermag: Die Elemente werden deshalb nur isoliert, nicht funktional in Hinblick auf eine Kommunikationsintention („Öconomie des Plans“) aufgefasst. Die zweite Erkenntnisform ist hingegen auf die Offenbarung der im Medium verborgenen Intention gerichtet: Ausgehend von einem „unmittelbaren Actum“ der Wahrnehmung wird der Gegenstand als medial verstanden, also in Relation zu einem „Plan“. Die Mit-Teilung „vollzieht“ sich insofern „im anschauenden Auge“. Der für Hamanns Medienphilosophie zentrale aisthetische Erfahrungswert des Medialen (Involvierung), der im optimalen Fall den weiteren hermeneutischen Prozess motiviert, wird hier mit dem bei Hamann häufigen Zeugungs-Topos als ein „unmittelbare[s] Actum gesunder Empfänglichkeit“ reflektiert. Das Verstehen des Mediums wird in Analogie zu einer Befruchtung erläutert. Dabei nimmt der Lesende (bzw. der die Schöpfung Nachahmende) den empfangenden Part, der Autor (bzw. Gott) den gebenden Part ein.97 Der Text bietet – sofern er als medial, das heißt im „Licht“ einer mitgeteilten „Wahrheit“, rezipiert wird – die Möglichkeit einer „unmittelbaren“ und fruchtbaren Verschmelzung von Autor und Leser. Das mediale „Actum“ ähnelt Hamanns Denkfigur der Communicatio idiomatum. Es offenbart, einem aus Spermium und Gebärmutter heranwachsenden Embryo vergleichbar, den auktorialen „Plan der Mittheilung“ im „anschauenden Auge“ des jeweiligen Rezipienten.98 Der Prozess des Verstehens konstituiert sich durch den sinnlichen Verschmelzungsakt (aisthetische Involvierung) der medialen Wahrnehmung. Nach „ähnlichen Gesetzen“ (der wechselseitigen Nachahmung) wie die Transformation der Idee (Nachahmung des Adressaten) vollzieht sich für Hamann die hermeneutische ‚Austragung‘ des sinnlich Empfangenen „außer sich“, das heißt als Nachahmung des „Plan[s] der Mitteilung“: „Das Licht der Wahrheit liegt also im anschauenden Auge, und die Offenbarung der Gegenstände geschieht durch einen unmittelbaren Actum gesunder Empfänglichkeit, die nach ähnlichen Gesetzen den Plan der Mittheilung außer sich vollzieht.“ Wenn Hamann Medialisierung hier mithin nicht als Verdunkelung oder Verwirrung der Idee veranschaulicht, sondern als einen Zeugungsakt, der zu einer „Offenbarung“ der Idee zu den Bedingungen des Empfangenden führt, unterstreicht er den Eigenwert des Medialen, das nicht nur Vehikel der Information ist. Das Medium motiviert nicht nur den Verstehensprozess, sondern strukturiert seine Semantik vom aisthetischen Datum des Verschmelzungserlebnisses her. So wie beim bloß haptisch Wahrnehmenden (der „Blindgeborene“) die „Oberfläche“ der Gegenstände das „ganze System seiner optischen Urtheile [verfälscht]“, wird im Fall des „anschauenden Auges“ das ganze System seiner Urteile durch die Ausrichtung 97 Graubner: Hamanns Buffon-Kommentar (= Anm. 89), S. 284. 98 Analog offenbart sich „in einem Gefäße voll Wassers“ das Sonnenlicht in einer dem Menschen adäquaten Weise.

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auf ein Licht der Intentionalität bestimmt. Verstehen als mimetische Annäherung an den „Plan der Mittheilung“ (Autorintention) vollzieht sich somit in motivationaler und in perzeptiv-semantischer Abhängigkeit von der primären aisthetischen Erfahrung des Mediums: Deshalb ist Hamann ein früher Vertreter eines semiologischen Medialitätsbegriffs. Die primäre aisthetische Erfahrung stiftet „mehr subjective als objective Verhältnisse“ zwischen den Elementen, die Nachahmung des „Plan[s] der Mittheilung“ vollzieht sich perspektivisch. Dass der mediale Aspekt der sinnlichen Erfahrung („unmittelbare[s] Actum“) entscheidender für Hamanns Sprach-Denken ist als der semiotische Aspekt des Bedeutungstransfers, kann der Analogie-Relation im Schlusssatz von Hamanns zehnter Anmerkung zu Buffon entnommen werden: „Mündliche und schriftliche Mittheilung sind daher noch verschiedener als Fresco – von Miniatur-Malerey.“ Obgleich es sich um dasselbe Sprachsystem handelt, wird die Verschiedenheit zwischen der akustischen und der visuellen Modalität des Mediums von Hamann als sehr erheblich angesehen.99 Hamanns Hermeneutik des Medialen geht nicht von einer (konventionellen) Zeichenfunktion, sondern vom aisthetischen Erleben der Materialität aus. Dies zu veranschaulichen findet er noch weitaus drastischere Vergleiche als in seinen BuffonAnmerkungen, so etwa in einem späten Brief an Jacobi, dem er eine Idealisierung der Gottesvorstellung vorhält.100 In einer Verkehrung der traditionellen Vertikaltopologie von Wahrheit (oben: Himmel, Gott, Licht etc.) und Täuschung (unten: Erde, Mensch, Dunkelheit etc.) schreibt Hamann: „Die Wahrheit muß aus der Erde herausgegraben werden, und nicht aus der Luft geschöpft, aus Kunstwörtern – sondern aus irrdischen und unterirrdischen Gegenständen erst ans Licht gebracht werden [...].“101 Die geistesgeschichtlich gravierende Verlegung der Wahrheit aus der Höhe in die Tiefe wird wenig später im romantischen Denken eine anhaltende Konjunktur erfahren. Wurde im Sonnenfinsternis-Vergleich die Wahrheit (Sonne) durch Medialisierung (Wasser) auf ein der menschlichen Erkenntnis adäquates Maß abgedunkelt, liegt sie hier gänzlich in der Dunkelheit der Materie verborgen, aus der sie nur unter körperlicher Anstrengung aufgedeckt werden kann. Materialität wird nicht als Träger, sondern als grenzenloses Behältnis von Bedeutung vorgestellt. Der Schlüssel, der dieses Behältnis öffnet und Materie als medial verständlich werden lässt, ist für Hamann die analogische Methode: „Die Wahrheit muß [...] ans Licht gebracht werden durch sinnl. Gleichniße und Parabeln der höchsten Ideen und transcendenten Ahndungen, die keine directi sondern blos reflexi radii seyn können [...].“102 Das 099 Graubner: Hamanns Buffon-Kommentar (= Anm. 89), S. 290 versteht durch theologische Kontextualisierung die Miniaturmalerei analog zur Schrift als Bild der unvergänglichen Rede Gottes zu den Menschen, die Fresco-Malerei analog zur mündlichen Rede als Bild der vergänglichen menschlichen Nachahmung der göttlichen Rede. 100 Fritsch: Communicatio (= Anm. 46), S. 131 u. S. 133. 101 Brief Hamanns an Friedrich Heinrich Jacobi vom 22./23.4.1787, Hamann: Briefwechsel, Bd. 7 (= Anm. 23), S. 159, 11−13. 102 Brief Hamanns an Friedrich Heinrich Jacobi vom 22./23.4.1787, Hamann: Briefwechsel, Bd. 7 (= Anm. 23), S. 159, 13−16.

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Intelligible ist nicht anders darstellbar (‚ans Licht zu bringen‘) als indirekt, durch sinnliche Gleichnisse und Parabeln: Nicht „Kunstwörter“, sondern die durch ihren alltäglichen Gebrauchswert bestimmten, mit Anschauung verbundenen Wörter können bildhaft, das heißt imposant und übertragbar, „höchste[] Ideen und transcendente[] Ahndungen“ zur Darstellung bringen. Sie übernehmen, im Medium Sprache, eine der Medialität vergleichbare, da von sinnlicher Erfahrung ausgehende und eine offene Transformationsoperation erfordernde Vermittlerfunktion. Hamann verstärkt dies abschließend durch einen Verweis auf die Sonnenstrahlen (radii) als Topos der Wahrheit: Die Idee kann – deshalb ist der Gebrauch sinnlicher Analogien notwendig – nicht unvermittelt („directi [...] radii“), sondern nur medial gebrochen („reflexi radii“103) erkannt werden. Bei anderer Gelegenheit erläutert Hamann Jacobi das Prinzip von Medialität als einer „innige[n] Beziehung auf einander“.104 Er greift dabei auf eine vierfache Analogisierung („wie“) zurück: „Gott, Natur und Vernunft haben eine so innige Beziehung auf einander, wie Licht, Auge und Alles, das jenes diesem offenbart, oder wie Mittelpunct, Radius und Peripherie jedes gegebenen Circuls, oder wie Autor, Buch und Leser.“105 Jede dieser Analogien besteht aus einer dreistelligen Relation („so innige Beziehung“), die sich näherungsweise mit dem Paradigma ‚Urheber/ Ausgangspunkt – Medium – transformierte Darstellung/ Erkenntnis‘ angeben lässt. In Analogie gesetzt werden die „innige Beziehung“ zwischen 1. Gott, Natur und Vernunft, 2. Licht, Sichtbares und Auge, 3. Mittelpunkt, Radius106 und Peripherie, 4. Autor, Buch und Leser. Die jeweils zweite Position (Natur, Sichtbares, Radius, Buch) bezeichnet eine Medialisierung der jeweils ersten Position (Gott, Licht, Mittelpunkt, Autor). Entscheidend ist, dass Hamann die „so innige Beziehung“ zwischen den drei Positionen nicht als Transfer-, sondern als Transformations-Relation versteht. Die Verhüllung (Rätselhaftigkeit) der Intention im Medialen ist die Folge der kommunikativen Relationierung von Intention, Medium und Rezeption und kann keiner dieser Positionen isoliert zugeordnet werden: „Wo liegt aber das Räzel des Buchs?“, fragt Hamann. Er bietet vier Antworten in Frageform an; diese sind allesamt – da sie die „innige Beziehung“ von Vermitteltem, Vermittlung und Empfänger aufheben – zu verneinen: „In seiner Sprache oder in seinem Inhalt? Im Plan des Urhebers oder im Geist des Auslegers?“107 Das „Räzel“, vor das die Kognition durch das Mediale ge103 Hamann folgt vermutlich Roger Bacons Unterscheidung von drei Modi des Lichteinfalls (direkt, gebrochen, reflektiert), denen entsprechende Erkenntnisformen zugeordnet werden, wobei der irdischen Existenz lediglich eine Erkenntnis indirekter (reflektierter) Wahrheit zugestanden wird (Roger Bacon: Perspectiva 3.3.3., zit. nach David C. Lindberg: Roger Bacon and the origins of perspectiva in the middle ages. A critical edition and translation of Bacon’s „Perspectiva“ with introduction and notes. Oxford 1996, S. 329). 104 Brief Hamanns an Friedrich Heinrich Jacobi vom 1.12.1784, Hamann: Briefwechsel, Bd. 5 (= Anm. 23), S. 272, 14. 105 Brief Hamanns an Friedrich Heinrich Jacobi vom 1.12.1784, Hamann: Briefwechsel, Bd. 5 (= Anm. 23), S. 272, 14−16. 106 Vgl. oben die Bedeutung von ‚radius‘ als Sonnenstrahl. 107 Brief Hamanns an Friedrich Heinrich Jacobi vom 1.12.1784, Hamann: Briefwechsel, Bd. 5 (= Anm. 23), S. 272, 16−18.

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stellt wird, liegt für Hamann in der medialen Relation.108 Hamann exemplifiziert in dieser Briefpassage wiederum stilistisch (komplexe Analogierelationen, rhetorische Fragen), was er als Charakteristikum von Medialität ansieht: die (sensuelle) Faszination und Motivierung des Adressaten, sich aus der Erfahrung eines sensuell anregenden „Räzel[s]“ um eine (perspektivische) Nachahmung der Idee des Autors zu bemühen.

108 Vgl. Anm. 36.

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Konstellationen spätaufklärerischer Sprachreflexion. Überlegungen zu Carl Gustav Jochmann mit einem Ausgriff auf Walter Benjamin Wenn es um die Medien der Aufklärung gehen soll, dann verlohnt es sicherlich, einen kaum verzichtbaren Grundbestandteil aller aufklärerischen Kommunikation, ob sie sich auf die Publizität im Allgemeinen, die Literarisierung und Bildung der Bauern im Speziellen oder um die bühnenreife Vermittlung religiöser Toleranz richten mag, zu betrachten: die Sprache. Dem Konnex zwischen Medien der Aufklärung, Aufklärung der Medien und der Reflexion über dieses ihr zugrundeliegende Mittel nachzuspüren, scheint allerdings ebenso angezeigt wie totaliter unmöglich. Zu groß scheint die Gefahr, sich ohne Weiteres in den Sprach(reinheits)debatten des achtzehnten und frühen neunzehnten Jahrhunderts zwischen Gottsched, dem zur Autorität aufgestiegenen Lexikographen Adelung, dem im Gegenteil bei Herder und Goethe als Pedanten verschrienen Christoph Friedrich Nicolai, und schließlich Herder selbst, Hamann, Jean Paul und anderen gründlich zu verirren und vor lauter Wort-Wurzelwerk das weit gespannte Geäst aufklärerischer Reflexion aus den Augen zu verlieren. Um dieser Gefahr eines von vornherein zum Scheitern verurteilten Totalitätsanspruchs zu entgehen, konzentriere ich meine folgenden textnahen Beobachtungen auf einen publizistisch regen baltischen Spätaufklärer, den aus der Hanse- und zeitweisen Universitätsstadt Pernau (Pärnu) gebürtigen Carl Gustav Jochmann (1789−1830).1 In Pärnu selbst erinnert heute eine Gedenktafel am Gebäude der testamentarisch von ihm gestifteten Schule an den großen Stilisten; über den baltischen 1 Knappe biographische Informationen über ihn bieten Jürgen Schiewe: Jochmann, Carl Gustav. In: Wilhelm Kühlmann [u. a.] (Hg.): Killy Literaturlexikon. Autoren und Werke des deutschsprachigen Kulturraumes. 2., vollständig überarbeitete Auflage. Bd. 6. Berlin u. New York 2009, Sp. 151a−152b; Carola Gottzmann u. Petra Hörner: Lexikon der deutschsprachigen Literatur des Baltikums und St. Petersburgs vom Mittelalter bis zur Gegenwart. 3 Bde., Berlin u. New York 2007, Bd. 2, Sp. 632b−635b. – Einen ausführlicheren, alle wichtigen Aspekte von Leben und Werk berührenden Überblick liefert Ulrich Kronauer: Einsamkeit und Sprache. Zu Leben und Werk Carl Gustav Jochmanns. In: Carl Gustav Jochmann: Über die Sprache. Mit einem Vorw. v. Hans-Peter Schütt u. einem Essay zu Jochmanns Leben und Werk v. Ulrich Kronauer. Hg. v. Peter König. Heidelberg 1998 (Gesammelte Schriften 1), S. XI−XXIV. Zum geistig-philosophischen Profil Jochmanns siehe nun: Peter König: Carl Gustav Jochmann – zur geistigen Gestalt eines Spätaufklärers im 19. Jahrhundert. In: Ulrich Kronauer u. Jaan Undusk (Hg.): Carl Gustav Jochmann – Ein Kosmopolit aus Pernau. Heidelberg 2020 (Jochmann-Studien 3), S. 17–43. Die umfangreichste biographische und bibliographische Rekonstruktion bildet, trotz mancher spekulativer Thesen, immer noch Werner Kraft: Carl Gustav Jochmann und sein Kreis. Zur deutschen Geistesgeschichte zwischen Aufklärung und Vormärz. München 1972. Für meine Fragestellung siehe hier insbesondere S. 332−400 („Jochmann und die Sprache“).

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Kreis hinaus mag er vor allem für seinen Traktat Die Rückschritte der Poesie noch bekannt sein, auf die im Zusammenhang mit Walter Benjamin später noch zurückzukommen sein wird. Doch wirkte der zeitweise Rigaer Advokat, Freund Konrad von Sengbuschs und Garlieb Merkels, dem ähnlich wie dem von ihm verehrten Hamann eine Englandreise wichtige geistige Veränderungen eröffnete, unermüdlich als Kritiker von Adelswillkür in der Restaurationszeit und als entschiedener Liberaler, auch auf seinen späteren publizistischen Reisen nach Paris und durch Deutschland. Seine im engeren Sinne kulturhistorisch und politisch relevanten Werke, wie die Naturgeschichte des Adels (postum, 1838)2 oder der große Essay über Robespierre (1821), müssen hier außer Betracht bleiben, wohl aber sind einige der Aphorismen, die sein Sächsisch-Schweizer Freund Heinrich Zschokke in der postumen Ausgabe der Reliquien gesammelt hat, für meine Fragestellung unmittelbar einschlägig. Einer mag schon einmal auf Jochmanns Position innerhalb spätaufklärerischer Sprachdiskussionen einstimmen: Erfahrungsfrüchte, Nr. 105: „Deutsche Sprachen“ Unsere Puristen, die sich ihres Reichtumes freuen und an jedem Worte mäkeln, kommen mir vor wie Geizhälse in der Freude über ihren Schatz, die an jedem Goldstück prüfen und wägen, aber nie eines zu brauchen den Mut haben. Sprachen wie Menschen werden seltener etwas im Verhältnisse zu ihren Anlagen als zu den Umständen, unter welchen sie sich entwickeln; und wie nicht sein Körper die Würde des Menschen bestimmt, sondern der Geist, der in ihm wohnt, so den der Sprache nicht ihr Laut, sondern der Gedanke, der in ihm lebt. Äsop war ein Weiser mit allen seinen Höckern, und Narziß verging in einfältiger Selbstliebe. – Über das Flickwerk der englischen Sprache machen wir uns lustig! Aber in dieses zusammengeflickte Gewand kleidete sich Achill, und in den deutschen Purpurmantel krochen seine Myrmidonen.3

Mit den sogenannten ‚Sprachreinigern‘, den Epigonen Joachim Heinrich Campes der 1820er Jahre, die im Vorfeld einer langsam aufkeimenden Nationalphilologie schon einmal linguistisch den Weg bereiten wollten, legt sich Jochmann immer wieder in seinem Werk an.4 Versucht man das mehrgliedrige, sich verschiedener rheto2 Siehe dazu jetzt: Martin Sattler: Carl Gustav Jochmanns Naturgeschichte des Adels. In: Ulrich Kronauer u. Jaan Undusk (Hg.): Carl Gustav Jochmann – Ein Kosmopolit aus Pernau. Heidelberg 2020 (Jochmann-Studien 3), S. 109–126. 3 Zitiert nach Carl Gustav Jochmann: Die unzeitige Wahrheit. Aphorismen, Glossen und der Essay ‚Über die Öffentlichkeit‘. Hg., erl. u. mit einer Lebenschronik vers. v. Eberhard Haufe. 3. Aufl., Leipzig u. Weimar 1990 (Gustav Kiepenheuer Bücherei 15), S. 42 (Nr. II, 19). 4 Vgl. Jochmann: Sprache (= Anm. 1), S. 27−111. – Zu Campes patriotisch grundiertem Sprachpurismus als Anschluss- und Abstoßungspunkt für Jochmann siehe Jürgen Schiewe: Sprache und Öffentlichkeit. Carl Gustav Jochmann und die politische Sprachkritik der Spätaufklärung. Berlin 1989 (Philologische Studien und Quellen 118), S. 86−109; ders.: Gemeinverständlichkeit und Öffentlichkeit. Campe und Jochmann. In: ders.: Die Macht der Sprache. Eine Geschichte der Sprachkritik von der Antike bis zur Gegenwart. München 1998, S. 125−149. – Generell über Campes ‚Sprachpolitik‘ orientieren Jürgen Schiewe: Sprachpurismus und Emanzipation. Joachim Heinrich Campes Verdeutschungsprogramm als Voraussetzung für Gesellschaftsveränderungen. Hildesheim [u. a.] 1988 (Germanistische Linguistik 96/97) und Sibylle Orgeldinger: Standardisierung und Purismus bei Joachim Heinrich Campe. Berlin u. Boston 2011 (Studia Linguistica Germanica 51). Jüngst sind Campes

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rischer Strategien bedienende Geflecht dieses Aphorismus zu analysieren, so scheint zunächst der Vergleich des Sprachpuristen mit dem Geizhals, der nur zählt, aber nicht ausgibt, unmittelbar evident. Der folgende, anthropomorphisierende Vergleich der Sprache mit einem sich entwickelnden Menschen bedarf schon eher einer Auslegung: Scheint doch Jochmann hier zum einen die Bildung des Menschen stärker von Umwelteinflüssen („Umständen“) als von seinen, hier v. a. körperlichen, Anlagen abhängig zu machen, was durchaus in wirkmächtigen Traditionen aufklärerischer Pädagogik steht.5 Zum anderen aber reichert er diese Konzeption dann mit der Dichotomie Körper–Geist an, die er auf die Sprache(n) überträgt: Dem Geist, der die menschliche Entwicklung beeinflusse, entspreche der „Gedanke“, der sich in der Sprache ausdrücke, und eben auf diesen komme es weitaus mehr an als auf die Lautgestalt des Ausdrucks selbst. Ohne hier allzu ausgreifende semiotische Überlegungen zum Primat von Gedanke oder sprachlichem Ausdruck anzuschließen, die der Kürze von Jochmanns Fügung wohl kaum gerecht würden, ließe sich konstatieren, dass er dem als ,lebendig‘ gekennzeichneten Gedanken in der Sprache größeren Stellenwert einräumt als ihrer äußeren Gestalt. Diesen Kerngedanken weiß er sogleich mit zwei Exempeln aus antiker Mythologie zu illustrieren: Der Fabeldichter Aesop, bekanntlich eine der zentralen Autoritäten für didaktische Kurzprosa des achtzehnten Jahrhunderts (etwa bei La Fontaine oder Lessing),6 kann als Weiser gelten, obwohl er der Überlieferung nach bucklig war; Narziss jedoch wurde gemäß dem Mythos, wie ihn ‚Sprachbereinigung‘ und Sprachkritik unter lexikographischer und sprach(wissenschafts)geschichtlicher Perspektive beleuchtet worden von Imke Lang-Groth: Auf der Suche nach glücklichen Ausdrücken – Campes Wörterbuch. In: Cord-Friedrich Berghahn u. Imke Lang-Groth (Hg.): Joachim Heinrich Campe. Dichtung, Sprache, Pädagogik und Politik zwischen Aufklärung, Revolution und Restauration. Heidelberg 2021 (Germanisch-romanische Monatsschrift, Beiheft 102), S. 259–273, und Dieter Cherubim: Joachim Heinrich Campe als Sprachkritiker – in seiner Zeit und darüber hinaus. In: ebd., S. 275–293 (hier S. 291 Jochmann im Ausblick erwähnt). 5 Die große Betonung von Umwelteinflüssen gegenüber möglichen eigenen Anlagen liegt bereits einer empiristischen Anthropologie Lockes zugrunde (Vgl. z. B. John Locke: Some Thoughts Concerning Education [1693]. Hg. v. John W. Yolton u. Sean S. Yolton. Oxford 1989 [The Clarendon Edition of the Works of John Locke], 83, 27–84, 1: „Imagine the Minds of Children as easily turned this or that way, as Water it self“ (§ 2); 93, 31f.: „You cannot imagine of what Force Custom is“ (§ 14); 103, 6f.: „That the difference to be found in the Manners and Abilities of Men, is owing more to their Education than to anything else“ (§ 32). Sie bestimmt ebenso die von Rousseau theoretisch und literarisch propagierte Bildungsauffassung; siehe dazu auch Gilbert Fauconnier: Le Vocabulaire pédagogique de J.-J. Rousseau. Genève u. Paris 1993 (Études Rousseauistes et index des œuvres de J.-J. Rousseau, sér. A, 4), hier: S. 90−106 („éducation“), vgl. mit S. 438−441 („talent“). – Beide Denker prägten die deutsche Pädagogik der Aufklärungszeit, u. a. die Philanthropisten, nachhaltig. Zu Locke siehe nur Reinhard Brandt: John Locke. In: Jean-Pierre Schobinger (Hg.): Grundriss der Geschichte der Philosophie, Bd. 3,2: Die Philosophie des 17. Jahrhunderts. England. Basel 1988, S. 607−713, hier bes. S. 707−711. – Zu Rousseau siehe die einschlägigen Studien in: Herbert Jaumann (Hg.): Rousseau in Deutschland. Neue Beiträge zu seiner Rezeption. Berlin u. New York 1994; ferner Jürgen Link: Hölderlin–Rousseau: inventive Rückkehr. Opladen u. Wiesbaden 1999 (Historische Diskursanalyse der Literatur). Zu speziell Jochmanns Hochschätzung Rousseaus siehe etwa Jochmann: Sprache (= Anm. 1), S. 119. 6 Vgl. nur Kristin Eichhorn: Die Kunst des moralischen Dichtens. Positionen der aufklärerischen Fabelpoetik im 18. Jahrhundert. Würzburg 2013.

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etwa Ovid in den Metamorphosen prominent literarisiert,7 seine körperliche Makellosigkeit zum Verhängnis, indem er durch die monomane („einfältige“) Fixierung auf die eigene Schönheit buchstäblich das Humane einbüßte. Deutlich wird: Dieses Beispielpaar soll nicht nur die vorangegangene These illustrieren, sondern sie fügt ihr, prägnant durch das Signalwort „Selbstliebe“, nämlich die bereits seit frühneuzeitlicher Moraldidaxe inkriminierte Philautia,8 eine ethische Komponente hinzu. Wollte man das Enthymem entfalten, so habe der hässliche Fabeldichter Aesop für die moralische Bildung seiner Mitmenschen gewirkt, während der schöne Autist Narziss aller moralischen Werte verlustig ginge. Schon im vorangegangenen Satz ist das, was – modern ausgedrückt – wie eine Abwägung zwischen Morphologie und Pragmatik aussah, ethisch aufgeladen worden. Denn Jochmann wägt den Einfluss von Körper und Geist ausdrücklich im Blick auf die „Würde“ des Menschen ab. Allerdings zeigt Jochmanns eigener Sprachgebrauch hier eine grammatische Inkonzinnität, die das Verständnis nicht eben erleichtert: Denn wie der Geist die Würde des Menschen bestimme, so „den der Sprache nicht ihr Laut, sondern der Gedanke, der in ihm lebt“. Wäre der zitierte Relativsatz auf eine angenommene Würde der Sprache zu beziehen, um die es ja auch den deutschen Sprachpuristen ging, wäre ein feminines Relativpronomen zu erwarten. Das Maskulinum („den“) aber lässt sich grammatisch sinnvoll nur auf den vorangestellten Geist beziehen, was zu einer zunächst paradox anmutenden Verschränkung führt: Der Geist, der den Menschen bestimmt, ist einerseits analog zum Gedanken aufzufassen, der die Sprache mehr bestimmt als ihre Lautgestalt; andererseits überträgt sich dieser nun auf den „Geist“ der Sprache, der vom Gedanken geprägt ist und somit analog zur Würde des Menschen gesetzt wird. Ist dem Aphoristiker hier schlicht ein sprachlicher Lapsus unterlaufen, oder liegt eine bewusste Formulierung vor, die den Geist der Sprache im gedanklichen Ausdruck des menschlichen Geistes im Medium der Sprache verortet? – Dazu fügte sich zumindest der prägnante Plural im Titel des Aphorismus: Nicht ‚die deutsche Sprache‘ als übergeordnetes, womöglich normativ wirkendes Konstrukt will Jochmann glossieren, sondern vielmehr herausstellen, dass die deutschen Sprachen eben von den deutschen Sprechern, ihren jeweiligen Geisteshaltungen und Intentionen abhängen, mit denen sie Gedanken äußern. Noch schwieriger könnte sich die mythologische Analogie ausnehmen, mit der Jochmann nach einer Gedankenpause am Schluss des Aphorismus nun noch die englische Sprache einbezieht. Nun mag zeitgenössischen Sprachpuristen das Englische nicht direkt als „Flickwerk“ gegolten haben, doch herrschte seit Campe die Meinung, dass es, ähnlich wie die romanischen Sprachen, gegenüber Fremd- und 7 Vgl. Ovid: Metamorphosen III, V. 344−510. 8 Weder die unterschiedlichen philosophischen Prägungen der ‚Selbstliebe‘ seit Aristoteles’ Nikomachischer Ethik und der Stoa, noch ihre frühneuzeitlichen Rezeptionswege können hier adäquat nachgezeichnet werden. Wie häufig, bietet das barocke akademische Disputationswesen eine konzise Summe der Tradition. Ich verweise hier auf die Disputation, die Nicolaus Dencker 1661 unter dem Vorsitz des Jacob Thomasius in Leipzig führte: Exercitatio Philosophica de Philautia, qvam […] Praeside […] Jacobo Thomasio subijcit Nicolaus Dencker Anno MDCLXXI, die 9. Martii. Gedruckt 1672 [ohne Ort u. Verlag], hier v. a. Caput 4: „Octo Discrimina Philautiae Rectae et Perversae“.

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Lehnwörtern aus dem Lateinischen oder Französischen weitaus offener und flexibler war als das Deutsche.9 Diese These von der ‚zusammengewürfelten‘ Qualität der englischen Sprache greift Jochmann durch seinen Vergleich mit Achill und den Myrmidonen auf. Ersterer hatte ja bei Homer seine königliche Rüstung dem Patroklos zur Verfügung gestellt, der in Begleitung der Myrmidonen gegen Hektor kämpfte und starb. Vom „zusammengeflickten Gewand“, das der Pelide danach getragen habe, steht bei Homer nichts zu lesen. Was soll das Mythologem argumentativ belegen, zumal da vom „deutschen“ Purpurmantel die Rede ist? Wenn Sprache primär Ausdruck eines menschlichen Geistes durch den Gedanken ist, dann kann das hierarchische Gefälle zwischen Achill und seinen Fußsoldaten womöglich bedeuten, dass die äußerlich zusammengesuchte englische Sprachgestalt doch eine gedankliche Kraft, womöglich gar einen Heroismus berge, die und der jedem deutschen Untertanengeist überlegen sei, so prachtvoll ‚sprachrein‘ dieser sich auch einkleiden mag. Mit Sicherheit schwingen in dieser vielleicht nicht ganz geglückten Analogie politische Implikationen mit, da Jochmann immer wieder die konstitutionelle Monarchie, die bürgerliche Öffentlichkeit und den Liberalismus Englands gegen die restaurativen Kräfte des deutschen Reiches in Stellung bringt, sowohl in anderen Aphorismen10 als auch in seinem erst postum veröffentlichten Essay Englands Freiheit.11 Und nicht zuletzt mag man dieses Lob des ‚Zusammengeflickten‘ auch selbstreferentiell poetologisch deuten: Gründet sich die Kurzprosa des Aphoristikers doch gerade auf dem Darstellungsmodus zufällig akkumulierter Kleinformen, des (scheinbar) kunstlos Zusammengebrachten, das – wenn es glückt – gleichwohl über sich hinaus auf ein Ganzes weist.12 Und doch oder vielleicht gerade in solchem Sprach9

Siehe etwa die einschlägige Stelle bei Johann Heinrich Campe: Wörterbuch zur Erklärung und Verdeutschung der unserer Sprache aufgedrungenen fremden Ausdrücke. Ein Ergänzungsband zu Adelung’s und Campe’s Wörterbüchern. Neue starkverbesserte und durchgängig vermehrte Ausgabe. Braunschweig 1813, hier die „Grundsätze, Regeln und Grenzen“, S. 13f. Vgl. dazu auch Orgeldinger: Standardisierung (= Anm. 4), S. 101−103. Generell zur Fremdwortfrage in aufklärerischer Sprachreflexion vgl. Alan Kirkness: Sprachreinheit und Sprachreinigung in der Spätaufklärung. Die Fremdwortfrage von Adelung bis Campe, vor allem in der Bildungs- und Wissenschaftssprache. In: Dieter Kimpel (Hg.): Mehrsprachigkeit in der deutschen Aufklärung. Hamburg 1985 (Studien zum achtzehnten Jahrhundert 5), S. 85−104. 10 Vgl. etwa in Erfahrungsfrüchte den Aphorismus 152, „Das unpassende Gleichnis“, in Jochmann: Wahrheit (= Anm. 3), S. 13 (Nr. I, 25). 11 Erschienen in Heinrich Zschokkes Prometheus, Dritter Theil (1833), S. 239−299; vgl. auch Uwe Pörksen: Plädoyer für politische Kultur. Über Carl Gustav Jochmann [zuerst 1981], in: ders.: Politische Rede oder Wie wir entscheiden. Göttingen 2016, S. 61−70, hier S. 65. – Dass Jochmann dabei gleichwohl kein idealisierender Anglophiler war, sondern lediglich (sprach-)politische Zustände gegeneinander abzuwägen verstand, zeigt Schiewe: Sprache und Öffentlichkeit (= Anm. 4), S. 254−260. 12 Siehe dazu (am Beispiel eines der berühmtesten Aphoristikers deutscher Sprache): Patricia A. Gwozdz: Vom „Kurz-Gesagten“ im „Lang-Gedachten“. Friedrich Nietzsches Aphorismus-Kataloge als zyklisch-serielles Erzähl-Netzwerk. In: Michael Gamper u. Ruth Mayer (Hg.): Kurz & knapp. Zur Mediengeschichte kleiner Formen vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Bielefeld 2017 (Edition Kulturwissenschaft 110), S. 161–184; hier prägnant S. 170: „So betont er [scil. Nietzsche] den zugleich begrenzenden als auch entgrenzenden Charakter der Aphorismus.“

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gewand kann sich geistiger Heroismus oder zumindest Kampfeslust im Falle Jochmanns deutlicher zeigen als in äußerlich geglätteter ‚sprachreiner‘ Prosa. Textvergleiche seiner Herausgeber im 20. Jahrhundert haben zudem gezeigt, dass Jochmann manchen seiner größeren Essays (etwa Ueber die Oeffentlichkeit) unmittelbar an oder aus einzelnen Aphorismen entwickelt hat.13 Das mag auch für diesen Aphorismus gelten. Zumindest findet sich, was Jochmann an seinem Schluss in Form eines scharfsinnigen mythologischen Vergleichs formuliert, mit gleichem Tenor, doch historisch argumentierend, auch in seinem Essay Wodurch bildet sich eine Sprache?, Teil seiner später noch intensiver beizuziehenden Schrift Ueber die Sprache von 1828. Leicht vorgreifend, sei der betreffende Passus hier schon einmal angeführt: Auch die Entwicklung der Sprache wird, so scheint es, gleich der des Menschen, durch Schicksale vielmehr als Anlagen bestimmt. Ein vielfacher Gebrauch derselben in allen Beziehungen des Lebens verleiht ihr, dem höher geschätzten, weil besser benutzten Eigenthume ihrer Besitzer, ein gesicherteres Daseyn, und eben so nothwendig in einem früher entwickelten Sprachgebrauche eine minder veränderliche Regel des Ausdrucks, wie sie den Zwecken des Schriftstellers entspricht, und seine Werke gegen die Gefahr des Veraltens, der sie in jeder nie ganz benutzten und somit auch nie ganz fertigen Sprache unaufhörlich ausgesetzt bleiben, schützt, und beides zeigt sich uns in der Geschichte Englands und seiner Literatur.14

Unter „Schicksal“ scheint hier weniger ein Verhängnis im Sinne eines prädestinierten Verlaufes gemeint zu sein als vielmehr das, was einer Sprache – im Munde ihrer Sprecher – wiederfährt. Somit stützt dieser Abschnitt einerseits die oben anhand des Aphorismus formulierte Vermutung, dass Umwelteinflüsse wichtiger als (quasi genetische) Anlagen seien, andererseits ermöglicht er auch eine nähere Bestimmung dessen, was solche äußeren Bedingungen im Falle ganzer Sprachen denn sein sollen: Sie liegen in der Benutzung einer Sprache durch die Sprechergemeinschaft und zwar im Idealfall, wie Jochmann formuliert, „in allen Beziehungen des Lebens“. Einer besseren Benutzung der Sprache wird eine höhere Schätzung durch ihre Sprecher zugeschrieben, und sie sichere damit zugleich das „Daseyn“ der Sprache, gebe ihr geradezu existenziellen Schutz vor Gefahren, von denen hier Überalterung und, in einer merkwürdigen Wendung, ‚Unfertig-Sein‘ genannt werden: Wo eine Sprache nie ganz benutzt (sondern, so darf man wohl ergänzen, durch Zensur und Exekutivmaßnahmen an der Bildung einer Öffentlichkeit gehindert) werde, da bleibe sie auch unfertig, gelange also nie zur Entfaltung (die ihr, so darf man vermuten, doch entelechisch innewohne). Im Lichte dieser Passage ließe sich die Analogie des oben zitierten Aphorismus umformulieren: Die Myrmidonen bleiben einfache Fußsoldaten, wie es ihr von den Ameisen abgeleiteter Name suggeriert, auch wenn sie sich in ein prächtiges (also sprachreines) Gewand hüllen; ein Achill gelangt zur Entfaltung seiner Stärke, gleichgültig, wie man seine äußere Einkleidung beurteilen mag. Folgerichtig ist es in Joch-

13 Vgl. Eberhard Haufe: Nachwort. In: Jochmann: Wahrheit (= Anm. 3), S. 241−251, hier S. 249. 14 Jochmann: Sprache (= Anm. 1), S. 120.

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manns Essay auch die Geschichte, Rechtspflege und Literatur Englands, anhand der er seine sprach-morphologischen Thesen im Folgenden belegt.15 Wie immer man die Untiefen dieses Zusammenhangs auch ausloten mag, dürfte doch zweierlei deutlich geworden sein: Erstens wird Sprachreflexion und Sprachkritik bei Jochmann stets mit anderen, ästhetischen oder politischen, Implikationen verknüpft; zweitens erteilt er jedem sprachbereinigenden Purismus seiner Zeitgenossen eine deutliche Absage. Angemerkt sei allerdings, dass er gleichwohl nicht ansteht, deren (pseudo-)etymologischen Ausflüge in die deutsche Sprachgeschichte strukturell nachzuahmen, wenn es seinem gedanklichen Argument dienlich erscheint. Dies sei hier an einem weiteren aphoristischen Beispiel illustriert: Erfahrungsfrüchte, Nr. 92: „Altdeutsche Sprache“ Folgendes Beispiel zeigt, wie sich in der altdeutschen Sprache aus einem Urtone alle verwandten Sprachbezeichnungen entfalteten: Atta – hieß Vater, in der Schweiz noch Aetti Edda – die Mutter Ida – die Tochter, noch jetzt unter dem Landvolk im südlichen Bayern üblich. Otto – der Sohn und junge Mann. Utte – eine alte Frau. Das Wort Adel hingegen hat zum Wurzelworte entweder Atta, Vater, oder Od, ein Gut: daher in Norwegen güterbesitzende Bauern Odelsbauern heißen. Aber wunderlich ist’s doch, daß in Bayern, der Pfalz und am Niederrhein bei den Landleuten Adel soviel als Mistgauche heißt.16

Nicht nur zeigt sich diese Zusammenstellung nicht auf der Höhe der zeitgenössischen Sprachgeschichte, hatte doch Jacob Grimm 1822 bereits die Ablautgesetze und Regeln des konsonantischen Lautwandels ganz anders erkannt,17 sondern auch der ironische, ja parodistische Gebrauch dieser ‚altdeutschen‘ Wortforschung sticht ins Auge: Gerade der „Adel“, der morphologisch an nächsten am „Urtone“ ‚Atta‘ zu liegen scheint, wird keineswegs direkt auf ihn und damit eine Semantik des väterlichen und somit naturgegebenen Schutzverhältnisses zurückgeführt, sondern zugleich auf die ökonomischen Verhältnisse des Besitztums (und damit etwas Veränderliches). Wenn der „wunderliche“ Zusatz überdies eine, übrigens für die Kurpfalz bis heute gültige, Lautübereinstimmung mit „Adel“ / „Odel“ als mundartlichem Ausdruck für ‚Jauche‘ anführt, darf jeder geneigte Leser seine eigenen semantischen 15 Vgl. ebd. S. 120−124; zur durchaus morphologisch gedachten ‚Entfaltung‘ der Sprache durch ihre Sprecher hier S. 122: „Die jüngste Sprache, die es in Europa und vielleicht überall auf Erden giebt, aber solchen Besitzern gehörig, reifte beiweitem schneller als jede ältere zu einer Vollendung […].“ 16 Zitiert nach Jochmann: Wahrheit (= Anm. 3), S. 37 (Nr. II, 2). 17 Den Beleg „atta“ bringt Grimm nur knapp im Zusammenhang mit gotischer Konsonantengemination und ohne die Ableitungsreihe, die Jochmann hier vorführt; vgl. Jacob Grimm: Deutsche Grammatik, Erster Theil, Zweite Ausgabe. Göttingen 1822, S. 66 („gemination inlautender linguales“). – Die Ablautgesetze, deren Ausarbeitung bis zum Jahr 1819 zurückreicht, legte er im zweiten Band nieder: Deutsche Grammatik, Zweiter Theil. Göttingen 1826, siehe hier S. 5−40. Speziell zur Lautgruppe [âd/ôd], um die es in Jochmanns Aphorismus geht: S. 43 (Nr. 480).

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Schlussfolgerungen ziehen. Kritik am Adelsstand und an den dogmatischen Seiten zeitgenössischer altdeutscher Etymologie gehen hier Hand in Hand. Differenzierter als in einzelnen Aphorismen setzt sich Jochmann dann in seinem Hauptwerk Ueber die Sprache mit eben dieser auseinander. Das dem Buch vorangestellte Motto „Rede, daß ich dich sehe!“ markiert nicht nur eine Reverenz an Johann Georg Hamann, dessen Aesthetica in nuce es entstammt und der als Gewährsmann auf den folgenden Seiten durchgehend präsent ist,18 sondern es weist programmatisch auf die – gesprochene! – Sprache als Grundlage für die Identifikation eines Gegenübers, ja für dessen Positionierung im Diskurs hin. Zugleich wirkt es aber auch paradox, indem ja mittels dieses Buches nun jemand ‚spricht‘, also sich im Medium der Literatur einer Sprache bedient, der eben nicht sichtbar ist: Wie alle zu Lebzeiten gedruckten Werke hatte der Heidelberger Winter-Verlag auch Ueber die Sprache anonym herausgebracht.19 „Bescheidenheit oder Klugheit?“, fragte Uwe Pörksen,20 „die alte Vorsicht des russischen Untertans“ diagnostizierte Eberhard Haufe,21 „einsam, ohne Namensnennung der Sache hingegeben“ sieht Werner Kraft den Verfasser.22 An allen diesen Vermutungen mag etwas Wahres sein, doch treffen sie allenfalls die halbe Wahrheit, wie sich dem Sprach-Buch selbst entnehmen lässt. Auch hier ist Jochmanns Aphoristik wieder (bzw. publizistisch zum ersten Mal) präsent, indem er am Schluss hundert Stücke dieser Kurzprosa als „Stylübungen“ anhängt.23 Außerdem enthält das Werk die schon erwähnten Rückschritte der Poesie, ferner Aufzeichnungen eines Gesprächs mit Jochmanns Gewährsmann und Vorbild, 18 Zu Jochmann Rückgriffen auf Hamann (die eine eigene, ausführlichere Untersuchung wert wären) siehe Schiewe: Sprache und Öffentlichkeit (= Anm. 4), S. 131−148. – Über diesen konkreten Bezug, den ich hier stark mache, hinaus war der bei Hamann formulierte, von Jochmann zitierte Imperativ in der aufklärerischen Diskussion um Öffentlichkeit, Diskursführung und ‚Redlichkeit‘ weit verbreitet. Siehe die Referenzen bei Markus Fauser: „Rede, daß ich dich sehe.“ Carl Gustav Jochmann und die Rhetorik im Vormärz. Hildesheim 1985 (Germanistische Texte und Studien 26), hier: S. 110−114. 19 Weder eine dezidierte Referenz auf Hamann noch den paradoxen Gehalt dieses Mottos sieht Dirk Oschmann: Mündlichkeit und Mündigkeit. Carl Gustav Jochmanns Reformulierung aufklärerischer Sprachtheorie. In: Wolfgang Bunzel, Norbert Otto Eke u. Florian Vaßen (Hg.): Der nahe Spiegel. Vormärz und Aufklärung. Bielefeld 2008 (Vormärz-Studien 14), S. 117−135, hier 133f. („Hamann […], bei dem sich auch das Motto ‚Rede, daß ich dich sehe!‘ an prominenter Stelle findet“) und S. 117 („der Autor wird allein kenntlich, indem er redet, nicht indem er sich nennt“). 20 Uwe Pörksen: Unbestimmtheit, Unverständlichkeit und Härte. Carl Gustav Jochmanns Kritik an der Sprache des 19. Jahrhunderts. In: ders.: Wissenschaftssprache und Sprachkritik. Untersuchungen zu Geschichte und Gegenwart. Tübingen 1994 (Forum für Fachsprachen-Forschung 22), S. 225−241 (teilweise aufbauend auf seinem „Plädoyer“ [Anm. 10]), hier S. 225. – Siehe zu Jochmanns Intention der anonymen Verfasserschaft (und der zeitgenössischen Identifikation einer Schrift): Ulrich Kronauer: Carl Gustav Jochmann – Anonymität und Rezeption. In: Ulrich Kronauer u. Jaan Undusk (Hg.): Carl Gustav Jochmann – Ein Kosmopolit aus Pernau. Heidelberg 2020 (Jochmann-Studien 3), S. 129–136. 21 Haufe: Nachwort (= Anm. 13), S. 243. 22 Werner Kraft: Jochmanns „Stylübungen“. In: Merkur 37, H. 6 (1983), S. 697−686. Wieder in: ders.: Herz und Geist. Gesammelte Aufsätze zur deutschen Literatur. Wien u. Köln 1989 (Literatur und Leben N. F. 35), S. 135−143, hier S. 136. 23 Luzide äußert sich über sie Werner Kraft, ebd.

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Graf von Schlabrendorf, eine über hundert Seiten starke Auseinandersetzung mit den Sprachreinigern, die bereits von Sprachhistorikern ausgewertet wurde,24 und den für meinen Zusammenhang wichtigsten und oben bereits erwähnten Essay Wodurch bildet sich eine Sprache?.25 In diesem Kapitel nimmt Jochmann die engste Verknüpfung von Sprachstand und kulturellen bzw. gesellschaftlichen Verhältnissen vor. An der „Mischung von äußerem Glanze und Fäulniß“, die Jochmann Deutschland attestiert, mithin an ihrer massiven Funktionalisierung im Dienste der Mächtigen muss Sprache verkümmern: Unter dem Wechsel auch der wortreichsten Befehlshaberei und einer noch so redseligen Folgsamkeit, unter Verordnungen und Berichten, dem Commandorufe und seinem Widerhalle gedeiht keine Sprache. Wo alle Verwaltung Regierung, und nichts als Regierung ist, bildet sich zwischen Herren und Knechten eine Kluft, über die das lebendige Wort bald nicht mehr hinüberreicht. Es wird geschrieben, gedruckt, lithographiert, aber nicht gesprochen, „nicht räsonniert“. Krieg und Frieden, Rath und That sind nur noch Kanzleigeschäfte. Die Gesetzgebung wird zu einer Zeitschrift, und der Gesetzgeber zu einem bloßen Herausgeber. Das ganze öffentliche Leben ist endlich ein einziges großes Buch, und ein Buch, in dem die wenigsten die es angeht, lesen dürfen und zu lesen verstehen.26

Die Prägung der Sprache durch ihren Gebrauch, durch den „Geist“, in dem sie benutzt wird, ist bereits an den oben zitierten Aphorismen und Stellen deutlich geworden. Hier nimmt Jochmann zudem eine auch für die Medienpraxis der Aufklärung wichtige mediale Unterscheidung vor, indem er die Buch-Sprache gegen die gesprochene, ‚räsonnierende‘, mithin die Vernunft öffentlich gebrauchende Sprache setzt. Die Stillstellung des Wortes in Schrift, die seit Platons Phaidros in unterschiedlichsten Aushandlungen die abendländische Kulturgeschichte durchzieht, wird hier prägnant gesellschaftspolitisch zugespitzt: „Befehlshaberei“ und „Commandorufe“ dürfen dabei als Beispiele für schlechte gesprochene Sprache dienen, insofern sie eine Gesellschaft hierarchisch gliedern und zerklüften. Aus dieser Perspektive stellt das ‚Große Buch der Gesellschaft‘ (womöglich eine metaphorische Sprossform des frühneuzeitlichen liber mundi bzw. ‚Buches der Natur‘) lediglich eine Festschreibung dieser sozialen Konstellation dar, die freien und vernünftigen öffentlichen Austausch unterbinden soll. Wenn Jochmann ausgerechnet die Metaphorik von Büchern, Zeitschriften und Herausgebern bemüht, dann mag dies auch im Blick auf manche volksaufklärerischen Unternehmen des achtzehnten und frühen neunzehnten Jahrhunderts zu denken geben, in denen gerade diese Medien und Funktionen mit großer Emphase zur Anwendung kamen, ohne dass sie sich immer auf eine sie rezipierende Öffentlichkeit beziehen konnten. Im baltischen Kontext sei hier nur an das lettische Zeitschriftenprojekt Latweeschu Awises (1822ff.) erinnert, dessen avisiertes lettischsprachiges bäuerliches Publikum von den deutschen Herausgebern und Beiträgern erst einmal

24 Vgl. etwa Schiewe: Sprache und Öffentlichkeit (= Anm. 4), S. 86−109. 25 Vgl. Jochmann: Sprache (= Anm. 1), S. 113–149. 26 Ebd., S. 121f.

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imaginiert und dann in ihren Texten konstruiert werden musste.27 In welchem Umfang deren Adressaten die ihrer Bildung gewidmeten Texte lesen durften oder zu lesen verstanden, muss sicherlich fraglich bleiben. Aber schreibt Jochmann hier wirklich nur metaphorisch oder allenfalls subtil auf zeitgenössische Zusammenhänge anspielend? Oder lassen sich hinter diesem Nebeneinander verschiedener medialer Zustände der Sprache, hinter dieser eigentümlichen Hierarchisierung des gesprochenen Wortes vor dem geschriebenen vielleicht gar Ansätze einer Jochmann eigenen spätaufklärerischen ‚Mediologie‘ avant la lettre herauspräparieren? Das Unterfangen scheint nicht abwegig, lässt sich doch der Titel von Jochmanns Essay mit seiner reflexiven Formulierung prägnant ausdeuten: „Wodurch bildet sich eine Sprache?“ Weder wird eine Sprache gebildet im Sinne von Bauprinzipien (sei es aus Umgebungsbedingungen oder aus planender Erwägung), noch bildet eine Sprache im Sinne einer pädagogischen Wirkung ihre Sprecher, sondern sie bildet, reflexiv, sich selbst! Gefragt wird nur nach den Mitteln, durch die sie dieses vermag. Darin ist zum einen die oben bereits profilierte Idee einer Entelechie und Morphologie von Sprache enthalten, die sich an und durch etwas entwickeln, entfalten kann; zum anderen muss damit aber ihr medialer Charakter als Vermittlerin von etwas zwischen jemandem oder etwas ebenfalls reflexiv gedacht werden: Sprache wirkt auf sich selbst und braucht dazu Mittel, die ihrerseits als Medien der Sprache („Wodurch …“) fungieren. Erscheint diese Umkehrung des medialen Verhältnisses von Sprache und Sprecher zu kühn? Läuft sie Gefahr, sich allzu sehr einer populären McLuhan-Nachfolge anzunähern, die zwischen Medium und Nachricht nicht mehr unterscheidet? – Soweit will ich gar nicht gehen. Jochmann differenziert schon zwischen ‚medium‘ und ‚message‘, doch lenkt er die Aufmerksamkeit darauf, dass der Gebrauch einer Sprache diese unweigerlich beeinflusst. Und dieses reflexive Moment dient ihm nicht nur, wie in der oben zitierten Passage, als Ausgangspunkt einer politischen Kritik an den deutschen Landen der Restaurationszeit. Vielmehr vermag er es auch für die Sprachen-Geschichte fruchtbar zu machen, wenn es ein wenig früher im Essay über die Bildung der Sprache heißt: „Daß nicht größere Kenntnisse ihrer Besitzer, daß vielmehr ihre mannichfachere Anwendung und ihr freieres und lautes Leben den Werth einer Sprache bestimmen, ist ein Satz, den die Erfahrung aller Zeiten bewiesen hat.“28 Hier wird nichts Geringeres als allgemeine und transhistorische empirische Wahrheit für die These eingefordert, dass gerade ein freier und „lauter“, mithin mündlicher, Sprachgebrauch den „Werth“ eine Sprache bestimmen, wobei ‚Wert‘ im Kontext der entelechischen und morphologischen Grundannahmen Jochmanns wohl am besten als ‚Entwicklungsstand‘ zu deuten wäre. Solche Forderung will be27 Vgl. hierzu Aiga Šemeta: Warum sollen Bauern Zeitungen lesen? Zum bäuerlichen ‚impliziten‘ Leser und zur (simulierten) Öffentlichkeit der Bauern in Kurland und Livland in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. In: Raivis Bičevskis, Jost Eickmeyer u. a. (Hg.): Baltisch-deutsche Kulturbeziehungen vom 16. bis zum 19. Jahrhundert. Medien – Institutionen – Akteure. Bd. 2: Zwischen Aufklärung und nationalem Erwachen. Heidelberg 2018 (Akademie-Konferenzen 29), S. 295–323. 28 Jochmann: Sprache (= Anm. 1), S. 116.

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gründet sein, und so schickt sich Jochmann abermals zu einem Exkurs in die antike Kultur an: Die reichste und wohlklingendste Sprache, die wir kennen, die Sprache der Ilias, gehörte, noch als ein solches Lied in ihr gesungen wurde, einigen in wilder Freiheit, aber in Freiheit lebenden Stämmen, in einem kleinen Winkel des Mittelmeeres, und jene andre in der an den Ufern des Nils, die Priester eines vergleichungsweise gebildeten Volkes ihre Lehren und Befehle austheilten, und die eine gefesselte Menge ihnen kaum nachzustammeln wagte, brachte nichts hervor, was auch nur so glücklich wie die namenlosen Mumien ihrer ehemaligen Besitzer, als unleserliche Handschrift, eine Gedankenleiche, zu uns gekommen wäre.29

Diese Gegenüberstellung des akustisch hochwertigen Griechisch Homers mit der ägyptischen Sprache, die nicht einmal den Status einer „Gedankenleiche“ oder einer unlesbaren Handschrift erreicht habe, hat es in sich: Zum einen zeigt sich Jochmann hier als Erbe und Fortführer einer im Kern anti-klassizistischen oder zumindest Winckelmann ‚umgehenden‘ Antikenrezeption, die seit Christian Gottlob Heynes Göttinger Mythenforschungen das ‚Wilde‘ und ‚Primitive‘ am archaischen, auch und gerade homerischen Griechentum hervorkehrte.30 Dass etwa bei Heyne ein solches Wildes auch mit einer Tendenz zur Dunkelheit und Unverständlichkeit mythischen Sprechens verknüpft war, kann Jochmann deshalb ignorieren, weil für ihn der Freiheitsgrad dieser archaischen Griechen-Stämme ihre zivilisatorische Primitivität überwiegt: Nicht umsonst wird das Wort ‚Freiheit‘ in schneller repetitio gleich zweimal angeführt. Zum zweiten konterkariert er auf der anderen Seite seines Vergleichs, wo sich die „vergleichungsweise gebildeten“ Ägypter finden, das vorherrschende Ägypten-Bild des 18. Jahrhunderts, das von Aufklärungstheologen wie Johann Salomo Semler (1725−1791), aber auch von diversen Bünden und Geheimgesellschaften als Land urtümlichen (okkulten) Wissens betrachtet, teils in Ritualen imitiert wurde.31 Es zeigt sich: Bildung eines Volkes und ‚Bildung‘ seiner Sprache müssen sich nicht proportional zueinander verhalten, sehr wohl aber Freiheit und Öffentlichkeit zum Entwicklungsstand einer so gebrauchten Sprache. Zwar verfügen auch bei Jochmann ägyptische Priester über Lehren, doch diese sind an die mediale Form und pragmatische Nutzung der Sprache gebunden. Und auf diesem Felde wird nun der äußerste Kontrast ausgespielt: Während die wilden Griechen (episch) singen, wagen die Ägypter die Lehren ihrer Herrscher kaum „nachzustammeln“. Dass auch hier politi29 Ebd., S. 116f. 30 Aus der in jüngerer Zeit stetig wachsenden Forschung zu diesem anderen Antikenbild des späten achtzehnten Jahrhunderts nenne ich nur Jörg Robert: Göttinger Primitivismus. Christian Gottlob Heynes wilde Antike. In: Annika Hildebrandt, Charlotte Kurbjuhn u. Steffen Martus (Hg.): Topographien der Antike in der literarischen Aufklärung. Bern u. a. 2016 (Publikationen zur Zeitschrift für Germanistik 30), S. 165–180. 31 Siehe dazu: Jan Assmann u. Florian Ebeling (Hg.): Ägyptische Mysterien. Reisen in die Unterwelt in Aufklärung und Romantik. Eine kommentierte Anthologie.München 2011, hier v.  a. S. 7−27 („Einweihung als Aufklärung“); ferner Florian Ebeling: Ägyptische Freimaurerei zwischen Aufklärung und Romantik. In: Ders. u. Christian E. Loeben (Hg.): O Isis und Osiris. Ägyptens Mysterien und die Freimaurerei. Rahden/Westf. 2017, S. 29−124.

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sche Konnotationen im Spiel sind, liegt auf der Hand: Wird doch im Vergleich zur archaischen griechischen Freiheit das ägyptische Volk als gefesselt und geknechtet vorgeführt. Unter solchen Umweltbedingungen kann die Sprache eben nur nichts hervorbringen, was Jochmann am Schluss der zitierten Passage mit einer weiteren in medialer Hinsicht hoch interessanten Analogie unterstreicht: Wäre die ägyptische Sprache immerhin, analog zu den Mumien ihrer Herrscher, als „Gedankenleiche“ auf uns gekommen, käme dies immerhin einer „unleserlichen Handschrift“ gleich. (Wir haben also im Bild der Argumentation den Übergang vom mündlichen zum schriftlichen Sprachgebrauch vollzogen.) Doch nicht einmal diese Medialität bzw. Materialität will Jochmann dem Ägyptischen zubilligen und sichert seine These durch Expertenwissen ab. Denn gerade an dieser Stelle setzt er eine der in Ueber die Sprache nicht eben häufigen Fußnoten, in der er die neuesten Erkenntnisse des prominenten Ägyptologen Jean-François Champollion (1790–1832) heranzieht: Nach des jüngeren Champoillon Untersuchungen, enthalten auch die in den unterirdischen Räumen der Trümmer von Theben und Memphis gefundenen Handschriften, nicht, wie man vermuthet hatte, eine ägyptische Buchstabenschrift, sondern nur eine fließendere Hieroglyphenzeichnung, eine Art hieroglyphischer Geschwindschrift. Die Sprache jenes Landes ist, scheint es, unwiderruflich verhallt.32

Die altehrwürdigen Ägypter haben ihre Schrift-Sprache, so versichert Jochmann seinen Lesern, nicht über eine Art ‚Bilder-Stenographie‘ hinausgebracht. Indem ihre Sprache somit „verhallt“ ist, zählt sie nicht nur zu den verlorenen Sprachen, sondern ihre Sprecher samt ihrer sozialen und politischen Praktiken entpuppen sich als die besseren ‚Medien‘ für die Entfaltung ihrer Sprache: Das Ägyptische muss sich auch im Blick auf seinen Entwicklungsstand bereits den zeitgenössischen Griechen geschlagen geben, die eben keine Bücher geschrieben, aber dafür – im doppelten Sinne – frei gesungen haben. Von diesem historischen Ansatzpunkt aus treibt Jochmann im Rest seines Essays die Kritik an der ‚Büchersprache‘ weiter, wobei an die Stelle des Vergleichs zwischen Ägypten und Griechenland nun leitmotivartig derjenige zwischen Deutschland und England tritt: In anderen Gegenden [i. e. Deutschland] war es die Büchersprache, der man, weil alle geistige Thätigkeit sich nur noch in Büchern kund geben durfte, ein selbstständiges, ein gesetzgebendes Ansehen einräumte, aber die Bücher gaben wieder nur Büchern das Gesetz; in England blieb dieselbe ein vergleichungsweise untergeordnetes Werkzeug des Gedankenaustausches, aber die Sprache selbst, einem allgemeineren Bedürfnisse des Lebens dienstbar, und nicht in Einem Schreibzimmer immer nur für ein andres geschrieben, und nicht immer nur gelesen um wieder geschrieben zu werden, gelangte, wenn auch nicht zu einer ähnlichen Selbstständigkeit in dem engen Kreise der Schule, doch zu einer desto mächtigeren Wirksamkeit in dem größeren der Welt. Eine kleine Anzahl Gebildeter brauchte nicht erst sprechen zu lernen wie man schrieb, denn es wurde geschrieben wie man sprach […].33 32 Jochmann: Sprache (= Anm. 1), S. 117, Anmerkung. Zum herangezogenen Werk Champoillons siehe den Kommentar ebd., S. 257. 33 Ebd., S. 123.

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Bücher, die immer nur Büchern das Gesetz geben – das können wir uns als Literaturwissenschaftler auch ins Stammbuch schreiben –, schließen für Jochmann jene „Wirksamkeit in dem Kreise der Welt“ aus, die eine Sprache dann erreichen kann, wenn sie sich an den Bedürfnissen des Lebens orientiert, und das meint auch: des alltäglichen Lebens im Kleinen und des gesellschaftlichen Lebens im Großen. Es leuchtet ein, dass ihm dabei vor allem die bürgerliche Debattenkultur und Öffentlichkeit Englands vorschwebt, die er in Deutschland wie auch in den ultraroyalistischen Kreisen Frankreichs vermisst. Und doch: Muss es nicht hochgradig paradox anmuten, wenn Jochmann in Buchform gegen Büchersprache anschreibt? Was, andererseits, wäre ihm angesichts der deutschen Zustände nach 1819 übriggeblieben? Die „gesetzgebende“ Funktion, die Jochmann herkömmlichen autoritativen Buchpublikationen zuschreibt, hat er freilich für seine Schriften immer bestritten und eine Position politischen wie kulturellen Skeptizismus vertreten.34 In diesem Kontext könnte der hartnäckigen Anonymisierung seiner Veröffentlichungen noch ein weiterer Zweck zukommen: Ueber die Sprache wäre mit seinem gerade nicht gelehrsamen, wohl aber räsonierenden, konzisen und nervosen Stil ein Diskussionsangebot, das ohne die Autorität eines Autornamens auskommen kann, da es – ganz im Sinne des Hamann-Mottos – proleptisch auf das abzielt, dessen Fehlen es beklagt: eine Sprache der Öffentlichkeit, die notwendigerweise öffentliche Sprache sein muss. Reduziert man sie thesenhaft auf ihre Positionen, so ist Jochmanns Sprachkritik in seiner Zeit nicht unbedingt originell35 und ebenso wenig auf der Höhe des sprachwissenschaftlichen Standes. Nimmt man aber ihren gewissermaßen performativen Aspekt hinzu, verkoppelt man also seine Thesen zur Allgemeinverständlichkeit und zum Konnex zwischen sprachlich verfasster Öffentlichkeit und politischer Kultur mit Form und Stil seiner Darstellung, so werden scharfe Konturen eines sehr eigensinnigen Arbeitens an der Sprache in der Sprache kenntlich. Eben diese Eigensinnigkeit mag Jochmanns ‚Wiederentdeckung‘ im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts befördert haben. Beinahe wäre Jochmann aus seiner nach 1830 schnell einsetzenden Vergessenheit von Werner Kraft (1896−1991) gehoben worden, doch bekanntlich wurde die für 1933 geplante Publikation einiger „Stylübungen“ in Wilhelm Kütemeyers Zeitschrift Der Sumpf durch einen nationalsozialistisch motivierten Anschlag auf die Druckerei vereitelt.36 Diesem Scheitern und einem Gespräch mit Kraft in Paris, wo gut einhundert Jahre zuvor Jochmann mit Schlabrendorf konversiert hatte, ver34 Vgl. dazu etwa Uwe Pörksen: Genauigkeit, Durchsichtigkeit und Form oder Was ist eine vollkommene Sprache? In: ders.: Wissenschaftssprache (= Anm. 20), S. 297–321, hier S. 298. 35 Dirk Oschmann hat Jochmanns Verdikt über die deutsche Sprache plausibel in eine historische Reihe mit Adam Müller vor ihm und Theodor Mundt nach ihm gestellt; vgl. Mündlichkeit (= Anm. 19), S. 120f. (Müller) u. S. 125−127 (Mundt). 36 Diese Zusammenhänge hat jüngst Horst Gundlach umfänglich aufgearbeitet: Die Fahnen des Sumpf. Das erste gedruckte Auftreten Jochmanns im Zwanzigsten Jahrhundert. In: ders. (Hg.): Carl Gustav Jochmann. Spuren eines Spätaufklärers im 19. und 20. Jahrhundert. Heidelberg 2016 (Jochmann-Studien 1), S.  57−62; ders.: Jochmann und seine Wiederentdecker – Werner Kraft, Wilhelm Kütemeyer, Walter Benjamin. In: ebd., S. 63−99; ders.: Wilhelm Kütemeyers Notizen zu Jochmann. In: ebd., S. 101−107.

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dankte Walter Benjamin (1892−1940) die literarische Erst-Bekanntschaft mit dem Pernauer. 1939 publiziert er dann in Horkheimers Zeitschrift für Sozialforschung eine gekürzte Fassung der Rückschritte der Poesie mit einer ausführlichen Einleitung, in der er Jochmanns Zwischenstellung („zwischen allen Stühlen“) zwischen Spätaufklärung und Jakobinertum (man denke an Georg Forster oder den radikaleren Eulogius Schneider!) einerseits und den von ihm scharf abgelehnten Romantikern andererseits aufzeigte,37 dabei freilich den ‚Zwischenhändler‘ Werner Kraft sehr zu dessen Missfallen nicht erwähnte.38 Sieht man einmal von der Frage der Priorität in Sachen Jochmann ab und dafür auf die Perspektive, in die Benjamin den Spätaufklärer rückt, so lassen sich zwei Grundlinien erkennen: Erstens kann der wie immer sensible Denker Benjamin die Kulturentstehungslehre, die Jochmann in den Rückschritten präsentiert, plausibel auf Giambattista Vicos Scienza Nuova (1725/1730) zurückführen,39 zweitens (und vielleicht wichtiger) kann er in Jochmann den Exilanten, den Unangepassten, den Revolutionär in wenig revolutionären, vielmehr despotischen Zeiten erkennen. Parallelen zu, ja Identifikationsmöglichkeiten mit Benjamins eigener Lebenssituation in den späten dreißiger Jahren liegen auf der Hand. Und so verwundert es nicht, dass Jochmann zwar in Benjamins Werken kaum als prominenter Gewährsmann vorkommt, im gedruckten Werk wie im Nachlass aber immer wieder als eine Art ‚ständiger Begleiter‘ begegnet. Blickt man vor diesem Hintergrund auf Benjamins eigene, zu Lebzeiten nicht publizierte, Sprachreflexion im Essay Über die Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen, so mag sich ein Widerhall Jochmanns einstellen. Hier sei exemplarisch eine Stelle angeführt: [D]ie deutsche Sprache […] ist keineswegs der Ausdruck für alles, was wir durch sie – vermeintlich – ausdrücken können, sondern sie ist der unmittelbare Ausdruck dessen, was sich in ihr mitteilt. Dieses „Sich“ ist ein geistiges Wesen. Damit ist es zunächst selbstverständlich, daß das geistige Wesen, das sich in der Sprache mitteilt, nicht die Sprache selbst, sondern etwas von ihr zu Unterscheidendes ist. Die Ansicht, daß das geistige Wesen eines Dinges eben in seiner Sprache besteht – diese Ansicht als Hypothese verstanden, ist der große Abgrund, dem alle Sprachtheorie zu verfallen droht, und […] über ihm sich schwebend zu erhalten ist ihre Aufgabe.40

Benjamin geht demnach auch von einem reflexiven Wirken der Sprache aus, das weit über eine reine Mitteilungsfunktion hinausreicht. Während es aber bei Jochmann ein Bildungsvorgang ist, den die Sprache reflexiv in den Medien ihrer Sprecher vollzieht, hypostasiert Benjamin das Reflexivum selbst zum „Wesen“ der Sprache, zu

37 Walter Benjamin: Die Rückschritte der Poesie von Carl Gustav Jochmann. Einleitung. In: ders.: Gesammelte Schriften. Bd. II. Hg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt a. M. 1977, Tbd. 2, S. 572−585. 38 Zu Krafts und Benjamins Dissens über den ‚Jochmann-Fund‘ vgl. Gundlach: Wiederentdecker (= Anm. 36), S. 82−84; Barouch: Between German (= Anm. 37), S. 100 mit Anm. 125. 39 Benjamin: Einleitung (= Anm. 38), S. 584f. 40 Walter Benjamin: Über die Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen. In: ders.: Schriften (= Anm. 38), Tbd. 1, S. 140−157, hier S. 141.

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dem also, was ihr als wesentlich zukommt. Dies hat für die Frage nach der Medialität der Sprache Konsequenzen in zweierlei Hinsicht. Einerseits folgt für Benjamin daraus: „[J]ede Sprache teilt sich in sich selbst mit. Sie ist im reinsten Sinne das ‚Medium‘ der Mitteilung“, andererseits: „Was an einem geistigen Wesen mitteilbar ist, ist das sprachliche Wesen.“41 Ohne die reichhaltig erforschten und kommentierten Sprach- bzw. Medienreflexionen Benjamins hier ausführlich entfalten zu wollen oder zu können,42 scheint diese von Benjamin selbst „paradox“ genannte43 Verkoppelung von geistigem und sprachlichem Wesen nicht weit von Jochmanns Sprachreflexion entfernt zu sein, während das biblische Bild der sich über dem Abgrund schwebend haltenden Sprachtheorie an eben jener diskursiven Offenheit partizipiert, die Jochmann im Kampf gegen jede normative ‚Buch-Sprache‘ gefordert und performativ praktiziert hatte. Und auch diese starke Präferenz der Mündlichkeit, die Jochmanns Sprachreflexion prägt, findet eine Entsprechung bei Benjamin, nämlich einerseits in seiner intensiven und auf stimm- und sprachliche Qualitäten besonders achtenden Arbeit für den Rundfunk,44 andererseits in manchen literaturkritischen Essays. Anhand von Kafka, Baudelaire und Leskov wendet Benjamin sich gerade Mitte der Dreißigerjahre verstärkt der Mündlichkeit literarischer Sprache zu, und zwar anhand des Erzählers. Ein letztes Beispiel aus dem Leskov-Essay sei hier angeführt: Es hebt den Roman gegen alle übrigen Formen der Prosadichtung – Märchen, Sage, ja selbst Novelle – ab, daß er aus mündlicher Tradition weder kommt noch in sie eingeht. Vor allem aber gegen das Erzählen. Der Erzähler nimmt, was er erzählt, aus der Erfahrung; aus der eigenen oder berichteten. Und er macht es wiederum zur Erfahrung derer, die seiner Geschichte zuhören. Der Romancier hat sich abgeschieden.45

Benjamin macht hier, auf dem Felde der Literatur, den Primat einer medialen Mündlichkeit gegenüber einer allgegenwärtigen Schriftlichkeit geltend. Der Romancier, als „das Individuum in seiner Einsamkeit, das sich über seine wichtigsten Angelegenheiten nicht mehr auszusprechen vermag“, wird dem (epischen) Erzähler, exemplarisch Leskov, gegenübergestellt, der in seinem Gebrauch des gesprochenen Wortes „dem Hörer Rat weiß“.46 Gedanklich ist er damit nicht sehr weit von Jochmanns oben zitierter Diagnose der deutschen Sprache entfernt, die sich, in einer Art ‚Teufelskreis der Schriftlichkeit‘ befangen, weit von ihrem freien, mündlichen Gebrauch und da41 Jeweils ebd., S. 142. 42 Zur Medienreflexion, die auch und gerade von der Sprache ausgeht, verweise ich nur auf Alexander Honold: Text auf der Tonspur. Walter Benjamins Überlegungen zu einer akustischen Physiognomik der Literatur. In: Christian Schulte (Hg.): Walter Benjamins Medientheorie. Konstanz 2005, S. 49−69. 43 Benjamin: Über die Sprache (= Anm. 41), S. 141f. 44 Siehe dazu Benjamin: Werke und Nachlaß. Hg. v. Christoph Gödde, Bd. 9.1 u. Bd. 9.2: Rundfunkarbeiten. Hg. v. Thomas Küpper u. Anja Nowak. Berlin 2017, hier v. a. Bd. 9.2, S. 856–863 (Nachwort). 45 Walter Benjamin: Der Erzähler. Betrachtungen zum Werk Nikolai Lesskovs. In: ders.: Schriften (= Anm. 38), Tbd. 2, S. 438−465, hier S. 443. 46 Beide Zitate im Satz jeweils ebd., S. 443 u. S. 442.

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mit von ihren Wirkmöglichkeiten im „größeren Kreis der Welt“ entfernt hat. Allen historischen Differenzen zwischen den 1820er und den 1930er Jahren zum Trotz scheinen sich doch beide Denker in einer vergleichbaren, womöglich im weiteren Sinne ‚spätaufklärerischen‘, Position gegenüber erstarkenden restaurativen, ja reaktionären politischen und kulturellen Kräften wiederzufinden, die sie zu ganz ähnlichen Reflexionen über Wesen, Qualitäten und den jeweiligen historischen Zustand der Sprache in ihren medialen Formen führen. Selbst wenn man skeptisch bleibt und allenfalls von Konvergenzen zwischen Jochmann und Benjamin sprechen möchte, belegt diese vielleicht unverhoffte gedankliche Korrespondenz doch überzeugend, dass eine stilsichere, auf Öffentlichkeit pochende Sprachreflexion, wie sie der Spätaufklärer Jochmann unter seinen historischen Bedingungen anstellte, auch im 20. – und sicherlich noch im 21. Jahrhundert am Platze sein dürfte.

III. Medien der literarischen Kommunikation: Brief und Zeitschrift

Liina Lukas

Medien der literarischen Kommunikation im Baltikum um 18001 Wie auch im übrigen Europa entstand im Baltikum (in den Ostseeprovinzen Estland, Livland und Kurland) im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts eine literarische Öffentlichkeit. Es bildete sich ein Publikum, das Literatur konsumierte, rezipierte und produzierte. Es wurden Vermittlungsinstanzen gegründet, wie zum Beispiel Verlage, Gesellschaften, Vereine und Verbindungen sowie höhere Bildungsanstalten, welche die literarische Kommunikation zwischen den Autoren und dem Publikum förderten bzw. diese erst ermöglichten. Es entwickelte sich ein relativ selbstständiges literarisches Feld mit eigenen spezifischen Medien (literarische Zeitschriften, Kalender, Almanache und Taschenbücher, Anthologien, Literaturgeschichten, Literaturkritiken), die als Podium der Autoren fungierten, Diskussionsplattformen boten und sich nicht zuletzt mit spezifischen regionalen Themen in der Literatur befassten. Es gab keine estnisch- oder lettischsprachige literarische Kommunikation bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts. Die literarische Öffentlichkeit in Est-, Liv- und Kurland war deutschsprachig. Obwohl auch Texte in französischer, lateinischer, estnischer und lettischer Sprache verfasst wurden, waren diese nicht für Leser gedacht, die diese Sprachen als Mutter- oder Umgangssprachen verwendeten, sondern sie waren Teil des deutschsprachigen Schriftraumes. Im Folgenden wird der Entstehungsgeschichte der baltischen literarischen Öffentlichkeit seit dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts bis zum zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts und insbesondere der Rolle der Dichtung in diesem Prozess nachgegangen.

1. Die Entstehung einer literarischen Öffentlichkeit Im Baltikum pflegte man schon über Jahrhunderte Traditionen der Gelegenheitsund geistlichen Dichtung, wie die Aneignung der etablierten deutschen literarischen Tradition und ihre reproduktive Verwendung beweisen. Diejenigen, die eine ambitioniertere dichterische Laufbahn einschlagen wollten, mussten sich jedoch in Deutschland durchsetzen. Jakob Michael Reinhold Lenz (1751−1792), in dem später der Begründer der baltischen Literatur gesehen wurde,2 wuchs wohl erst im geis1 Dieser Artikel wurde von der Europäischen Union durch den Europäischen Fonds für regionale Entwicklung (Exzellenzzentrum CEES) gefördert und ist mit dem Forschungsprojekt „The Factor of Lyrical Poetry in the Formation of Small Literatures“ des Estnischen Bildungs- und Forschungsministeriums verbunden. 2 Arthur Behrsing: Grundriß einer Geschichte der baltischen Literatur. Hg. unter Mitarb. von André Favre, Otto Greiffenhagen u. Arthur Knüpffer. Leipzig 1928, S. 53.

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tigen Klima Königsbergs und Straßburgs zum Dichter heran und war mehr mit dem deutschen als mit dem (erst in seinen Anfängen steckenden) baltischen literarischen Feld verbunden. In den 1760er Jahren, in den Bildungsjahren von Lenz, gab es in Livland noch keine ausgeprägte literarische Öffentlichkeit. Es gab keine höheren Bildungsanstalten, die einen anspruchsvolleren ästhetischen Geschmack gefördert und den Zulauf von Intellektuellen sowie den Austausch von Gedanken ermöglicht hätten. Diese Bildungsanstalten entstanden erst mit der Academia Petrina im Jahre 1775 und der Universität Dorpat im Jahre 1802. Dass man aber schon etwa in den 1760er Jahren auf einen ,vaterländischen‘ Dichter wartete, zeigt die Entdeckung solch eines ,jungen Genies‘ im Norden Livlands, auf das große Hoffnungen gesetzt wurden. So prophezeite Theodor Oldekop (1724−1806), der Pastor der estnischen Gemeinde der Johanniskirche, die damals die einzige lutherische Kirche in Dorpat (Tartu) war, in den Rigischen Anzeigen des Jahres 1766 dem erst fünfzehnjährigen Sohn Jakob Lenz des Oberpastors der Johanniskirche eine glänzende Dichterlaufbahn: „Ein solches seltenes Genie verdient alle Aufmunterung. Ich hoffe, die Leser werden mit mir wünschen, dass die dichterischen Gaben dieses hoffnungsvollen Jünglings sich immer mehr zur Ehre unsers Vaterlandes entwickeln und erhöhen mögen“.3 Zum Beweis druckte Oldekop dort Lenz’ Gedicht Der Versöhnungstod Jesu Christi ab. Die Rigischen Anzeigen wurden 1761 vom Rigaer Ratsherrn Gottfried Berens (1722−1804) gegründet. Das Erscheinen dieser Zeitschrift ist ein sicheres Zeichen für die Entstehung einer literarischen Öffentlichkeit im Baltikum. Die Rigischen Anzeigen sind das erste baltische Intelligenzblatt, das lokale Nachrichten verbreitete und an eine regionale Öffentlichkeit appellierte, ja eine solche zugleich erst schuf.4 Neben den lokalen Nachrichten wollte das Blatt, ganz im aufklärerischen Sinne, gelehrtes Wissen vermitteln, wofür die Zeitung jede zweite Woche eine Beilage unter dem Titel Gelehrte Beyträge (1761−1767) herausgab, in der auch das Erstlingsgedicht von Lenz abgedruckt wurde. Die Gelehrten Beyträge wurden vom Konrektor des Kaiserlichen Lyzeums zu Riga Johann Gottfried Arndt (1713−1767) herausgegeben, der als Hofmeister aus Halle nach Livland gekommen war. Weitere Mitarbeiter waren namhafte Männer aus allen Ostseeprovinzen: der Pastor Johann Jakob Harder, der Jurist Friedrich Konrad Gadebusch aus Dorpat, der Rektor der Rigaer Domschule Johann Gotthelf Lindner sowie der Rektor des Rigaer Lyzeums Johann Loder. Die Beilage war ein von den inländischen Literaten gegründetes Forum für die Diskussionen verschiedener Themen, angefangen von Geschichte und Religion über Philosophie bis hin zu den Naturwissenschaften. Wie das Beispiel von Lenz’ Gedicht zeigt, war 3 Theodor Oldekop: An den Leser. In: Gelehrte Beiträge zu den Rigischen Anzeigen auf das Jahr 1766. 7. St., S. 49. 4 Siehe Aiga Šemeta: Deutschsprachige Periodika in Livland und Kurland vor 1800. In: Heinrich Bosse, Otto-Heinrich Elias u. Thomas Taterka (Hg.): Baltische Literaturen in der Goethezeit. Würzburg 2011, S. 353–379; dies.: Saksakeelne perioodika Liivi- ja Kuramaal enne 1800. aastat [Deutschsprachige Periodika in Livland und Kurland vor 1800]. In: Katre Kaju (Hg.): Uutmoodi ja paremini! Ühiskondlikest muutustest 18. sajandil ja 19. sajandi algul [Anders und besser! Zum gesellschaftlichen Wandel im 18. und frühen 19. Jahrhundert]. Tartu 2018, S. 159–189.

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sie unter anderem auch ein Veröffentlichungsort der einheimischen (Gelegenheits-) Dichtung, deren Autoren oftmals Lehrer der höheren Schulen der Stadt, der Domschule oder des Lyzeums waren (z. B. Johann Jakob Harder, Gottlieb Schlegel u. a.).5 Ein frühes Beispiel für die Auseinandersetzung der baltischen Literaten mit der lettischen Volksüberlieferung ist die von Harder verfasste Untersuchung des Gottesdienstes, der Wissenschaften, Handwerke, Regierungsarten und Sitten der alten Letten, aus ihrer Sprache (1764), die unter anderem die Aufmerksamkeit auch auf die lettische Volkspoesie lenkt, die laut dem Autor ohne die verdiente Beachtung geblieben ist. Bald wurden auch in anderen Städten der Region – in Mitau (Jelgava), Dorpat und Reval (Tallinn) – Zeitungen gegründet, die neben den lokalen Nachrichten auch eine literarische Beilage enthielten. In Bezug auf letztere ist die Mitauische Zeitung von Interesse, die im selben Jahr, 1766, als das erwähnte Gedicht von Lenz erschien, unter dem Titel Mitauische Nachrichten von Staats-, Gelehrten- und Einheimischen Sachen unter der Redaktion von Johann Georg Hamann gegründet wurde. Die Zeitung machte durch die Rubrik Literarische Anzeigen auf das lokale Schrifttum, darunter das lettische, aufmerksam. Während die Zeitungen einen einheitlichen regionalen Informationsraum schufen, indem sie über lokalpolitische Ereignisse berichteten, haben die zur gleichen Zeit gegründeten Zeitschriften eine diachrone Dimension in die literarische Identitätsbildung gebracht, indem sie sich mit den Geschichts- und Kulturtraditionen der jeweiligen Regionen auseinandersetzten. Außerdem beförderten die Zeitschriften den lokalen Literaturbetrieb, indem sie gezielt Werke inländischer Autoren veröffentlichten. Im Unterschied zu den ersten Zeitschriften – den Moralischen Wochenschriften wie Die vernünftige Einsamkeit (1739) und Der ruhige Bemerker menschlicher Handlungen (1746), die wenig lokale Themen behandelten – machten die im letzten Viertel des Jahrhunderts gegründeten allgemeinwissenschaftlichen Zeitschriften verstärkt auf das lokale Schrifttum aufmerksam. Die erste Zeitschrift dieser Art war Vermischte Aufsätze und Urtheile über gelehrte Werke, ans Licht gestellet von unterschiedenen Verfassern in und um Liefland (1774−1783), herausgegeben vom Rektor der Rigaer Domschule Gottlieb Schlegel, initiiert von und gedruckt bei Johann Friedrich Hartknoch in Riga. Neben ihren allgemeinen aufklärerischen Zielen, wie Verbreitung von Literatur und Wissenschaft, erachteten die Herausgeber es für wichtig, „das Augenmerk auf die Landesgeschichte“ zu richten.6 Zum Autorenkreis gehörten außer dem Herausgeber Friedrich Conrad Gadebusch noch August Wilhelm Hupel, Johann Ludwig Börger u. a. Neben den deutschsprachigen Artikeln druckte man auch französischsprachige wie z. B. Essai sur la litterature française von Pierce von Campenhausen. Die französischsprachige Rubrik ist auch im Weiteren charakteris5 Siehe auch Martin Klöker: Gelegenheitsdichtung in Livland um 1800. Plädoyer für eine neue Literaturgeschichte der baltischen Länder. In: Heinrich Bosse, Otto-Heinrich Elias u. Thomas Taterka (Hg.): Baltische Literaturen in der Goethezeit. Würzburg 2011, S. 65–81. 6 Gottlieb Schlegel: Vorrede. In: Vermischte Aufsätze und Urtheile über gelehrte Werke, ans Licht gestellet YRn unterschiedenen Verfassern in und um LieÀand   ,  6t, unSaginiert

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tisch für die baltischen Periodika. Der Anteil der Belletristik ist in den Vermischten Aufsätzen klein: Neben Gelegenheitsgedichten (meistens Panegyrik auf die russische Kaiserin) erschien hier als erstes baltisches Drama die Uranie oder die Verwandtschaft der Liebe und Freundschaft von Jakob Heinrich von Lilienfeld.7

Abb. 1: Vermischte Aufsätze und Urtheile über gelehrte Werke, ans Licht gestellet von unterschiedenen Verfassern in und um Liefland, Titelblatt. Universitätsbibliothek Tartu.

Die langfristigste und erfolgreichste allgemeinwissenschaftliche baltische Zeitschrift waren die wieder bei Hartknoch gedruckten und von August Wilhelm Hupel, dem Pastor in Oberpahlen (Põltsamaa), herausgegebenen Nordischen Miscellaneen (1781– 1791) mit ihren insgesamt 28 Ausgaben und ihre Fortsetzung Neue Nordische Miscellaneen mit 18 Ausgaben (1792–1798). Im Zentrum des Interesses der Zeitschrift standen die Zeit- und Geistesgeschichte, die Verfassung, Gesetze, Sitten, der Handel Russlands sowie Est-, Liv- und Kurlands. Die schöngeistige Literatur gehörte nicht zum Programm der Zeitschrift, mit einer nicht uninteressanten Ausnahme: In der 7 Siehe Vermischte Aufsätze 1 (1778), 3. St., S. 211–316.

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dritten Ausgabe des Jahres 1781 erschienen „vermischte Gedichte und Lieder einer Liefländerin vom Stande“, die von Kairit Kaur als Regina von Graf identifiziert wurde.8 Hupel hat ihre 20 Gedichte als Exotika veröffentlicht, „da Gedichte aus der Feder eines liefländischen Fräuleins gewiß nicht zu den alltäglichen Erscheinungen gehören, und die gegenwärtigen wo ich nicht irre, die ersten sind welche als eine kleine Sammlung im Druck erscheinen.“9 Diese blieben nicht die einzigen, wir finden von Frauen verfasste Gedichte auch in anderen Periodika der Zeit. Frauen wurden schon im letzten Viertel des Jahrhunderts in die baltische literarische Öffentlichkeit miteinbezogen, sowohl als Autorinnen als auch als Leserinnen. Der Literaturteil war auch in der von dem Professor der griechischen Sprache und Literatur der Academia Petrina Karl August Kütner herausgegebenen Mitauischen Monatsschrift (1784−1785) klein, die bei Johann Friedrich Steffenhagen in Mitau gedruckt wurde. Neben den allgemeinen populärwissenschaftlichen Aufsätzen hat die Zeitschrift auch Beiträge über die kurländische Geschichte, die Natur, die soziale Ordnung, die Landwirtschaft, die Lebensweise von Bauern (mit Beispielen lettischer Volkslieder), Reiseberichte, aber auch Beiträge über die Leibeigenschaft, die eine brennende Frage der baltischen Gesellschaft war, veröffentlicht. Von den Dichtungen ist die von Gottfried Friedrich Stender verfasste lettische Übersetzung eines Gedichtes des Philosophieprofessors der Akademie, des Dichters Gottlob David Hartmann, hervorzuheben. Also gehörten neben dem Französischen auch Lettisch und Estnisch zu den in den baltischen Periodika verwendeten Sprachen und somit die lettisch- und estnischsprachige Literatur, sei es als Übersetzung aus dem Deutschen oder als Volksüberlieferung (vor allem als Volkslied), zum hiesigen Literaturfeld.10 Diese Gedichte waren weder für Leser estnischer bzw. lettischer Herkunft gedacht, noch erreichten sie diese. Die estnisch- und lettischsprachigen sowie die französischsprachigen Texte sprachen die deutschsprachige literarische Öffentlichkeit an. Als der aus Pommern nach Kurland eingewanderte Arzt Peter Ernst Wilde in Mitau seine Zeitschrift Der Landarzt gründete und diese im Jahre 1766 von August Wilhelm Hupel in estnischer Sprache (unter dem Titel Lühhike õppetus) und im Jahre 1768 von Jacob Lange in lettischer Sprache (unter dem Titel Latweeschu Ahrste) herausgegeben wurde, war das ein einschneidendes Ereignis: Es entstand die erste Zeitschrift für estnische respektive lettische Leser. Bis zu einer eigenständigen estnischund lettischsprachigen Presse war es jedoch noch ein langer Weg.11 08 Kairit Kaur: Liivimaa luuletajanna preili von Graf ja tema luuletuste Hupeli „Põhja mistsellides“ ilmumise tagamaad. [Die livländische Dichterin Fräulein von Graf und die Hintergründe der Veröffentlichung ihrer Gedichte in August Wilhelm Hupels „Nordische Miscellaneen“ 1781]. In: Õpetatud Eesti Seltsi Aastaraamat [Jahrbuch der Gelehrten Estnischen Gesellschaft] 2012, S. 165– 180. 09 August Wilhelm Hupel: Anmerkung des Herausgebers. In: Nordische Miscellaneen (1781), 3. St., S. 174. 10 Vgl. Liina Lukas: Estonian Folklore as a Source of Baltic-German Poetry. In: Journal of Baltic Studies 42 (2011), H. 4, S. 491–510; siehe auch dies. (Hg.): Balti kirjakultuuri ajalugu III: Kirjandus [Geschichte der baltischen literarischen Kultur III: Literatur]. Tartu [im Erscheinen]. 11 Weitere Versuche, eine estnisch- oder lettischsprachige Zeitung zu gründen, wurden erst am Anfang des 19. Jahrhundert vorgenommen: Die im Jahre 1806 gegründete estnischsprachige Wochenzei-

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Neben den allgemeinwissenschaftlichen Zeitschriften wurden auch sehr viele literarische Zeitschriften gegründet, die sich auf das lokale Schrifttum und Literaturleben konzentrierten. Eben diese waren ein Veröffentlichungsort für das dichterische Werk der einheimischen Autoren. Ihre Erscheinungszeit war kurz, denn es mangelte an Abonnenten, aber immerhin ist das ein Zeichen eines regionalen Konsolidierungsbedarfs und der Herausbildung eines regionalen Literaturfeldes. Die ersten literarischen Zeitschriften des Baltikums wurden in Mitau gegründet. Die Hauptstadt des Herzogtums Kurland wurde in den späten 1770er Jahren die literarische Metropole des Baltikums. Dies ist vor allem das Verdienst des musenfreundlichen herzoglichen Hofes in Mitau, vor allem aber der im Jahre 1775 gegründeten höheren Bildungseinrichtung Academia Petrina und ihrer dichtenden Professoren. So veröffentlichte der Philosophieprofessor Gottlob David Hartmann (1752–1775) unter dem Namen Barde Telynhard unter Einfluss von Klopstock, Denis und Macpherson ,ossianische‘ Bardendichtung, wie sie damals in Mode war.12 Im Gegensatz dazu bezog sich Karl August Kütner (1749–1800), der die Professur für Altphilologie inne hatte, thematisch stärker auf sein Heimatland und bewies damit, dass es in der Geschichte Kurlands nicht an auffallenden und denkwürdigen Ereignissen und Personen mangelte, die auf interessante Weise besungen werden konnten. Sein Hauptwerk, Kuronia,13 besteht aus in Hexametern verfassten epischen Bildern über eine ferne Vergangenheit Kurlands. Die ersten Lieder seines Poems (Die Wallfahrt nach Romowe; Die Zaubertrommel zu Pilten; Kaupo, der edle Live von Thoreida) können als livisches Nationalepos gezählt werden, obschon sie in deutscher Sprache verfasst wurden. Die livische Sprache selbst war zu diesem Zeitpunkt bereits vom Aussterben bedroht. In den Blick genommen wird hier die Zeit vor der Ankunft deutscher Kreuzritter: Im Zentrum steht der in Wohlstand und Frieden lebende Stamm Romuva; die zentralen Figuren sind die Ältesten der Liven Asso und Kaupo. So kannte die baltische Dichtung bereits vor Garlieb Helwig Merkels (1769–1850) sog. ‚Halbroman‘ Wannem Imanta14 eine Herder’sche Interpretation der Geschichte Livlands. Die weiteren Episoden des Werkes handeln sowohl von den kurländischen Ordensmeistern als auch von den ,Kurischen Königen‘ – den freien Letten. Kütner nennt als Vorbilder für seine idyllische Vergangenheitssehnsucht Johann Jakob Bodmer, James Macpherson sowie James Thomson. Vor diesem Hintergrund ist es kein Zufall, dass die ersten literarischen Zeitschriften im Baltikum bei Johann Friedrich Steffenhagen in Mitau gedruckt wurden: Zunächst ist dies die Zeitschrift Für Leser und Leserinnen (1780–1781), herausgegeben tung wurde nach 43 Nummern konfisziert; länger hat die von Otto Wilhelm Masing gegründete Marahwa Näddala-Leht (1821–1823, 1825) gelebt. Am langlebigsten von den baltischen Zeitungen war die lettische Latweeschu Avihses (1822–1915). 12 Hartmann’s, Professors zu Mietau hinterlassene Schriften, gesammelt und mit einer Nachricht von seinem Leben. Hg. v. C. J. Wagenseil. Gotha 1779. 13 Karl August Kütner: Kuronia, oder Dichtungen und Gemälde aus den ältesten kurländischen Zeiten. Bd. 1. Mitau 1791; in umgearbeiteter Form und durch einen 2. Teil ergänzt unter dem Titel: Kurona. Dichtungen und Gemälde aus der nordischen Vorzeit. Leipzig 1793. 14 Garlieb Merkel: Wannem Imanta. Eine lettische Sage. Leipzig 1802.

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Abb. 2: Für Leser und Leserinnen, Bd. 1 (1780), Zeitschrift, Titelblatt. Universitätsbibliothek Tartu.

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von Heinrich Ferdinand Möller, einem deutschen Schauspieler, der sich zu dieser Zeit in Riga aufhielt. Auch wenn die Zeitschrift in Mitau erschien, kamen die meisten Autoren und Leser aus Livland, hauptsächlich aus Riga, und aus Estland. Lokale Themen wurden hier jedoch selten behandelt. Die Zeitschrift enthält übersetzte Erzählungen aus dem Englischen oder Französischen, Reiseberichte, philosophische oder populärwissenschaftliche Aufsätze und Anekdoten. Der namhafteste Mitarbeiter ist J. M. R. Lenz, der, vor Kurzem ins Vaterland zurückgekehrt, hier nun über Erziehungsfragen diskutierte oder satirische Dialoge publizierte. Auch eine ,livländische Dame‘ trat mit ihrem ,Heldengedicht in Prosa in dreyen Gesänge‘, Der verbrannte Federbusch, auf. So haben wir wieder einen Beweis der Beteiligung von Frauen am baltischen literarischen Feld. Die Nachfolgerin dieser Zeitschrift war das Liefländische Magazin der Lektüre (1782– 1783), das mehr auf die schöngeistige Literatur ausgerichtet war und Dichtung aller Gattungen – Gedichte, Dramen, Erzählungen und Romane – enthielt. Schon die erste Ausgabe überrascht mit einem soliden Angebot, wozu das von seinen livländischen Erlebnissen inspirierte Gedicht Ein Landlied auf Grafenheide von Johann Gottfried Herder und das Drama Die Sizilianische Vesper von Jakob Michael Reinhold Lenz gehören. Neben den Literaturrubriken druckte das Magazin auch populärwissenschaftliche Aufsätze, Briefe, Fragmente und Anekdoten ab. Die letztgenannte Rubrik heißt Französischer Artikel, enthält französische Lyrik und ist ein weiterer Beweis für die Frankophonie des baltischen literarischen Feldes am Ende des 18. Jahrhunderts, in der Zeit vor dem deutschbaltischen nationalen Erwachen. Bald darauf gründete August von Kotzebue die erste literarische Zeitschrift in Reval, Für Geist und Herz. Eine Monatsschrift für die nordischen Gegenden (1786–1787), mit der er auch Estländer zur literarischen Produktion ermutigen wollte. Im Vorwort begründet er „diese Lust zu lesen und diese Unlust selbst zu schreiben“ der Estländer mit ihrem Lebensstil: Sie halten sich im Sommer auf dem Lande auf und werden von Wirtschaftssorgen und ländlichen Freuden gefesselt, im Winter vereinen sie sich in der Stadt aber wieder bei „glänzende[n] Abwechselungen von Bällen, Schauspielen, Konzerten und Gastmählern“, um „auf den künftigen Sommer die Freuden des Landlebens wieder schmackhaft zu machen“. Dabei mangelt es nicht an Talenten in Estland, die Kotzebue auffordert, „Bemerkungen über das Vaterland, historische Bruchstücke aus der Vaterländischen Geschichte, Biographien großer Männer, deren Ehstland so manche erzeugt [hat]“ einzureichen. Gedichte und kleine Erzählungen können auch nicht ganz verbannt werden, denn man möchte auch von den Damen gelesen werden.15 Die Mehrheit der Beiträge stammt aus der Feder des Herausgebers selbst (z. B. Die schöne Unbekannte. Eine dramatische Erzählung). Unter den Mitarbeitern sind Martin Heinrich Arvelius (1760–1799), Friedrich Gustav Arvelius (1753–1806) und Johann Wilhelm Ludwig von Luce (1756–1842). Dass die Zeitschrift auch als Medium der Aufklärung auftritt, zeigt M. H. Arvelius’ direkt an Guillaume Raynal anknüpfende Abhandlung über die Sklaverey, besonders in Rücksicht 15 August von Kotzebue: Zwey Worte an die Leser. In: Für Geist und Herz. Eine Monatsschrift für die nordischen Gegenden 1 (1786), St. 1–3, unpaginiert.

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Abb. 3: Für Geist und Herz, Bd. 1 (1786), Monatsschrift,Titelblatt. Universitätsbibliothek Tartu.

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der Negersklaven und die aus der Feder seines Bruders F. G. Arvelius stammenden Gedanken über unsere neuesten Aufklährer und Toleranz-Prediger. Auch Dorpat hielt mit diesem literarischen Enthusiasmus Schritt. Hier gründete der Hofmeister Friedrich Gotthilf Findeisen (1742–1796) im Jahre 1787 die Zeitschrift Lesebuch für Ehst- und Livland, von der sechs Hefte erschienen. Im Jahre 1796 gründete Friedrich David Lenz (1745–1809), der Bruder von Jakob Michael Reinhold Lenz, seine Livländische Lese-Bibliothek. Eine Quartalschrift zur Verbreitung gemeinnütziger, vorzüglich einheimischer Kenntnisse in unserm Vaterlande, von der nur vier Hefte erschienen. Beide wurden bei Grenzius, die erste in Oberpahlen, die zweite schon in Dorpat gedruckt. Sie beinhalteten Aufsätze über die livländische Geschichte und Gegenwart sowie, was uns interessiert, „einige Blümchen von unserm einheimischen Parnass“.16 Das Lesebuch enthält Erzählungen, Anekdoten (z. B. Volksanekdoten über livländische Bauern) und Gelegenheitsgedichte, die meistens anonym erschienen. Unter eigenem Namen traten Wilhelm Christian Friebe (1762–1811) und Fabian Wilhelm Schilling (1761–1831) auf. In der Lese-Bibliothek werden Gelegenheits- und panegyrische Gedichte, Prologe für das Gesellschaftliche Theater zu St. Petersburg sowie Familienanekdoten und -erzählungen geboten, am interessantesten sind aber wohl „einige Gedichte einer Livländischen jungen Dame […], die bloß durch sich selbst und ihr eigenes Genie sich zur angenehmen Dichterin empor gearbeitet hat“.17 Erneut wurde der Auftritt einer Dichterin als ein außergewöhnliches, aber begrüßenswertes Ereignis angesehen. Dass Frauen ein erwünschter und untrennbarer Teil der literarischen Öffentlichkeit waren, zeigen auch die Versuche, Frauenzeitschriften zu gründen. Nach dem Vorbild der Zeitschrift Iris von Johann Georg Jacobi, eine speziell an Frauen gerichtete literarische Zeitschrift in Deutschland, die von 1774 bis 1778 erschien, wurde von M. H. Arvelius in Reval Die liefländische Iris gegründet, von der jedoch nur eine Ausgabe erschien. Diese enthält Erzählungen, Briefe und Gedichte, vor allem aus der Feder des Herausgebers selbst. Auch die spätere Frauenzeitschrift Iris. Ein Wochenblatt für Damen, die von dem bekannten baltischen Komponisten und Dichter August Heinrich von Weyrauch (1788–1865) in Riga herausgegeben wurde, hatte kein langes Leben. Sie erschien lediglich ein Jahr lang und enthielt neben den aus ausländischen Zeitungen und Zeitschriften übernommenen Materialien, die wegen der napoleonischen Kriege und der Zensur schwer zugänglich waren, einheimische literarische Arbeiten.18

16 Livländische Lese-Bibliothek. Eine Quartalschrift zur Verbreitung gemeinnütziger, vorzüglich einheimischer Kenntnisse in unserm Vaterlande. (1796), H. 4, Inhaltsverzeichniß des 4ten Quartalstücks. 17 Ebd., H. 1, S. 95. 18 Malle Salupere: Unistatud sõprussidemed [Geträumte Freundschaftsbande]. In: Tõed ja tõdemused. Sakste ja matside jalajäljed nelja sajandi arhiivitolmus [Wahrheiten und Erkenntnisse. Spuren der Herren (der Deutschen) und der Bauern im Archivstaub von vier Jahrhunderten]. Tartu 1998, S. 266–281.

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2. Taschenbücher und Almanache: Ehstländische poetische Blumenlese Neben literarischen Zeitschriften wurden auch Musenalmanache,19 Taschen- und Lesebücher wichtige Medien der literarischen Kommunikation. Eine der ersten Veröffentlichungen dieser Art war die Ehstländische poetische Blumenlese für das Jahr 1779, die im estländischen Wesenberg (Rakvere) gedruckt wurde. Diese Ausgabe enthielt hauptsächlich Gelegenheitsgedichte, viele davon waren noch anonym oder wurden nur mit Initialen anstelle des Verfassernamens abgedruckt.

Abb. 4 und 5: Ehstländische poetische Blumenlese für das Jahr 1779, Titelblatt; eines der drei estnischen Gedichte, die in diesem Band erschienen sind. Universitätsbibliothek Tartu.

Mit eigenem Namen und mit der größten Anzahl von Gedichten vertreten waren Sophie Albrecht (1757–1840) und – unter dem Namen Sembard – Friedrich Gustav Arvelius. Alle Gedichte der Blumenlese wurden von Georg Pe19 Vorbildlich war der Göttinger Musenalmanach (1770–1804), der sich zum bedeutendsten Medium der lyrischen Dichtkunst im deutschen Sprachraum entwickelte. Siehe auch Bianca Weyers: Almanach/Jahrbuch. In: Natalie Binczek, Till Dembeck u. Jörgen Schäfer (Hg.): Handbuch Medien der Literatur. Berlin u. Boston 2013, S. 311–316, hier S. 312; York-Gothart Mix (Hg.): Almanachund Taschenbuchkultur des 18. und 19. Jahrhunderts. Wiesbaden 1996.

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ter Weimar bereits im nächsten Jahr vertont,20 was auf die gesellige Funktion dieser Lyrik hinweist. Hier erschienen auch drei Gedichte – Lieder – auf Estnisch. Wir sehen, dass, wie in den Zeitschriften dieser Zeit, auch in den Almanachen und Taschenbüchern estnische und lettische Dichtung miteinbezogen wurde. Sie ist ein Teil der (deutsch-)baltischen Literatur. Die Almanache strebten Periodizität an und unterschieden sich auch inhaltlich nicht von den (kurzlebigen) literarischen Zeitschriften. Zum Beispiel waren das Lesebuch für Ehst- und Livland und die Livländische Lese-Bibliothek, die sich selbst als Zeitschrift bezeichnete, in Inhalt und Format ähnlich.

3. Zwischenfazit Es gibt einen guten Grund, im Kontext des ausgehenden 18. Jahrhunderts von einer baltischen literarischen Öffentlichkeit zu sprechen. Diese umfasst neben Livland und Estland auch das Herzogtum Kurland, das erst im Jahre 1795 dem russischen Kaiserreich angegliedert wird. Ihre institutionellen Zentren sind die Academia Petrina in Mitau und der Verlag Hartknoch in Riga. In Reval versucht August von Kotzebue mit seinen Zeitschriften (und seinem Liebhabertheater) das Literaturleben zu erwecken. In Dorpat ist die literarische Tätigkeit vor allem mit dem Drucker Grenzius verbunden. Doch können sich die Knotenpunkte dieses literarischen Feldes auch auf dem Land, in den Gutshöfen und Pastoraten befinden. Zum Beispiel sind Oberpahlen mit seiner Druckerei und seinen periodischen Schriften sowie der Gutshof Kiekel (estn. Kiikla), wo Bücher herausgegeben und Theaterstücke aufgeführt wurden, wichtige Punkte in dieser Literaturlandschaft. Diese literarische Öffentlichkeit war hauptsächlich deutschsprachig, aber auch die französische (als die gesamteuropäische Bildungssprache der Zeit), die lettische und die estnische Sprache wurden verwendet. In dieser Öffentlichkeit wurde dem estnisch- und lettischsprachigen Schrifttum der Grundstein gelegt: Die ersten Gedichte und Erzählungen wurden aus dem Deutschen übersetzt und in den deutschen Periodika veröffentlicht. Vor 1800 waren es jedoch selten Volkslieder und Sagen aus der Volksüberlieferung.21 Obwohl das Buch Volkslieder von Johann Gottfried Herder, für das im Baltikum von August Wilhelm Hupel und anderen Pastoren auch estnische und lettische Lieder gesammelt wurden, schon in den Jahren 1778/1779 erschien, haben die Sammelaktionen und die Publikation noch keinen ,Enthusiasmus der Volkslieder‘ in den Ostseeprovinzen ausgelöst. Die Autoren der dichterischen Texte sind schüchterner als in den anderen Gattungen und verwenden oft Pseudonyme oder publizieren ihre Texte anonym. Die 20 Georg Peter Weimar: Lieder mit Clavierbegleitung, für Liebhaber eines leichten und fliessenden Gesanges. Reval u. Leipzig 1780. 21 Z. B. haben Gotthard Friedrich Stender in seiner Lettischen Grammatik (1761) und Jakob Harder in seiner Untersuchung des Gottesdienstes, der Wissenschaften, Handwerke, Regierungsarten und Sitten der alten Letten aus ihrer Sprache (1764) einige lettische und August Wilhelm Hupel in seinen Topographischen Nachrichten (1780, 1781) einige estnische Volkslieder gedruckt.

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Autoren, die namentlich vorgestellt wurden, sind J. M. R. Lenz, A. von Kotzebue, J. H. von Lilienfeld, K. A. Kütner, G. D. Hartmann, W. C. Friebe und F. W. Schilling. Auch Frauen wurden hauptsächlich anonym als Leserinnen und Autorinnen (darunter Regina von Graf ) in die literarische Öffentlichkeit miteinbezogen. Unter eigenem Namen veröffentlichen nur Sophie Albrecht und Elisa von der Recke. Die Dichtung, die in den Periodika veröffentlicht wurde, besteht aus Kurzgeschichten, Anekdoten, Prologen, Dramen und vor allem Lyrik. Es handelt sich hauptsächlich um Gelegenheitsdichtung: panegyrische Gedichte auf die Monarchen Russlands, humoristische und satirische Gedichte (Friebe), Kriegslieder (Schilling) und die ersten die lokale Geschichte thematisierenden epischen Gedichte (Kütner).

4. Das baltische Literaturfeld nach 1800 Neuen Schwung gab dem baltischen Pressewesen paradoxerweise der im Jahre 1798 von Zar Paul I. verabschiedete Ukas, welcher aus Angst vor der Verbreitung revolutionärer Ideen seinen Untertanen das Studium im Ausland sowie den Import von Büchern aus dem Ausland verbot. Da die Teilhabe am kulturellen Leben in Deutschland erschwert wurde, suchte man nun nach Möglichkeiten, ein lokales literarisches Feld aufzubauen. Dieses Verbot war von kurzer Dauer und wurde schon im Jahre 1801 von Alexander I. wieder rückgängig gemacht. Bald kam aber eine weitere und entscheidende Anregung – die Universitätsgründung in Dorpat. Diese ließ Dorpat allmählich zu einem wesentlichen kulturellen Zentrum des Baltikums werden. Während die lokalen Zeitschriften wie z. B. Der Zuschauer von Garlieb Merkel (erschienen in Riga bei C. J. G. Hartmann, 1807−1856) in ihren literarischen Beilagen selten lokale Belletristik vorstellten,22 gab es im neuen Jahrhundert mehrere Versuche, literarische Zeitschriften zu gründen, von denen jedoch oft nur Probeausgaben erschienen (z. B. Nordisches Belustigungsblatt des Dorpater Schullehrers Georg Friedrich Schortmann, Tropfen zum Ocean der Zeitschriften des Kurländers Friedrich Bernhard Albers [beide 1802] und Thuiskon: eine Zeitschrift zur Unterhaltung für teutsche Leser [1811] von Johann Georg Czarnewski). Mehrere Versuche unternahm der Rigaer Schauspieler Johann Christoph Engelmann (genannt Kaffka, 1754–1815). Seine Zeitschriften Nordisches Archiv (1803–1809) und Nordische Miscellen (1807–1811) hatten eine längere Erscheinungsdauer und sind als Vermittler der Literatur- und Theaterszene von Bedeutung. Es gelang Kaffka, namhafte Mitarbeiter zu gewinnen. Wir finden hier Besprechungen von Theateraufführungen in Riga, St. Petersburg, Reval und Mitau, Berichte über die Universität in Dorpat sowie über das Vereinsleben der Universitätsstadt. Auch die Rede des Rektors Georg 22 Nur einmal wird in der Literaturbeilage das Gedicht eines baltischen Autors (G. T.) abgedruckt mit der folgenden Anmerkung des Herausgebers: „Die Aufnahme von Gedichten kann nicht in den Plan dieser Zeitung gehören, aber das hier mitgetheilte Lied ist eine interessante literarische Neuigkeit. Es führt bei dem Publikum einen vaterländischen Dichter von entschiedenen Talenten und reifem Geschmack ein, der bisher ‚die süssen Worte seiner Muse‘ selbst seinen nähern Bekannten verschwieg“ (Zeitung für Literatur und Kunst 25 [1811], H. 1, S. 1).

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Friedrich Parrot bei der Eröffnung der Universität wurde hier abgedruckt. Es gibt Reiseberichte, Anekdoten, Geschichten, Gedichte (von Johann Christoph Brotze, Johann Friedrich von der Recke, Friedrich Eckardt, Ulrich von Schlippenbach, August Heinrich von Weyrauch, Pierce von Campenhausen, Heinrich Ernst Fischer) und, um den dichtenden Nachwuchs zu ermutigen, einen „Wohlgemeinte[n] Rath an junge Schriftsteller“.23 Eine neue Erscheinung waren die an das deutschsprachige Lesepublikum in Russland gerichteten Blätter wie z. B. Fama für Deutsch-Russland von Anton Truhart (Riga, 1806–1807), Russischer Merkur (1805) von Benjamin Heidecke oder Russischer Volksfreund (1806) des Dorpater Theologieprofessors Johann Wilhelm Friedrich Hezel. Im Unterschied zur früheren Betonung der deutschen oder nordischen Identität hoben diese Blätter die Zugehörigkeit der Ostseeprovinzen zum Russischen Reich hervor, indem sie das Kulturleben der Ostseeprovinzen als Teil des deutschsprachigen Kulturlebens in Russland ansahen, in dem neben den Ostseeprovinzen auch St. Petersburg eine wichtige Rolle zukommt. Die Zeitschriften, die in ihren Titeln Russland erwähnen, zeichnen sich durch ihre patriotische Gesinnung aus: Jede Ausgabe beginnt mit einem panegyrischen Gedicht auf den russischen Zaren oder ein Mitglied der Zarenfamilie und veröffentlicht Erfolgsgeschichten der Staatsführung. Hervorzuheben sind hierbei diejenigen Blätter, die russische Literatur vorstellen, wie z. B. das von Johann Gustav von Bellingshausen in Reval herausgegebene Journal der älteren und neueren Russischen Literatur (1802) oder der von Benjamin Heidecke in Riga herausgegebene Janus oder Russische Papiere (1808). Die bemerkenswertesten Literaturblätter des ersten Jahrzehnts wurden in Mitau im Jahre 1805 gegründet und bei Johann Friedrich Steffenhagen gedruckt: Das sind die von Johann Friedrich von Recke herausgegebenen Wöchentlichen Unterhaltungen für Liebhaber deutscher Lektüre in Russland (1805–1807) und die in den Jahren 1805–1811 von Friedrich Enoch Schröder, Friedrich Bernhard Albers und Friedrich Christoph Brosse herausgebenene Ruthenia oder Deutsche Monatsschrift in Russland (ursprünglich St. Petersburgische Monatsschrift zur Unterhaltung und Belehrung). Den Herausgebern beider Blätter ist es gelungen, namhafte Mitarbeiter wie Gotthard Friedrich Stender, Ulrich von Schlippenbach, Benjamin Heidecke, Elisa von der Recke, Kasimir Ulrich Boehlendorff, Garlieb Merkel, Georg Friedrich Pöschmann, Karl Gotthard Elverfeld und August von Kotzebue zu gewinnen. Das Themenspektrum der Wöchentlichen Unterhaltungen ist breit. Die größte Aufmerksamkeit wurde dem im Baltikum überaus relevanten Thema der Leibeigenschaft gewidmet. Des Weiteren diskutierte man über Volksbildung, Sprachprobleme und philosophische Fragen. Außerdem wurden internationale Neuigkeiten aus diversen Wissensgebieten vermittelt (darunter: Wissenschaft, Ratschläge, Empfehlungen, Reiseberichte, Literatur- und Theaterkritiken). Auch die lettische Literatur gehörte zum Interessensgebiet der Zeitschrift (z. B. stellte Karl Gotthard Elverfeld den lettischen Dichter Indriķis vor). Obwohl die Zeitschrift auf Kurland und den lettischen Teil Livlands ausgerichtet war, vermittelte sie darüber hinaus auch Diskussionen, die für die ge23 Nordisches Archiv (1803). Jg 1, H. 3, S. 174−182.

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Abb. 6 und 7: Wöchentliche Unterhaltungen für Liebhaber deutscher Lektüre in Rußland, Bd. 3 (1806), Titelblatt; Gedicht des lettischen Dichters Indriķis, veröffentlicht und eingeführt von Karl Gotthard Elverfeld, S. 140. Universitätsbibliothek Tartu.

samte Region relevant waren. Die wiedergegründete Universität Dorpat war der Arbeitsplatz und Dorpat die Heimatstadt vieler Mitarbeiter. In der Universitätsstadt, wo sich die Literaten aufhielten, befanden sich auch potentielle Leser des Wochenblattes. Im Vergleich zu den Wöchentlichen Unterhaltungen war Ruthenia stärker literarisch ausgerichtet. Hier wurden Stücke und Gedichte sowie Überblickstexte über das Theaterwesen in St. Petersburg, Reval, Riga und Mitau veröffentlicht. Die Universität brachte nicht nur eine wissenschaftliche, sondern auch eine literarisch- journalistische Initiative nach Dorpat. Hier legte der Professor für Klassische Philologie, Johann Karl Simon Morgenstern (1770–1852), den Grundstein für die literarisch-wissenschaftliche Zeitschrift Dörptische Beyträge für Freunde der Philosophie, Litteratur und Kunst (1813–1821), um mit Hilfe der Dorpater Autoren Philosophie und Kunst unter seinen Landsleuten zu popularisieren. Die Zeitschrift war an das inländische Publikum gerichtet, „für den Landsmann einige Landesproducte, ge-

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zogen auf eignem Feld oder im Garten eines und des andern Freundes Nachbars.“24 Neben den Reden, Übersetzungen, Reiseberichten, Briefen, kunst- und literaturgeschichtlichen sowie philosophischen Beiträgen des Herausgebers selbst haben hier auch Aufsätze anderer Dorpater Professoren (Gottlieb Benjamin Jäsche, Friedrich Eberhard Rambach, Gustav Ewers, Hermann Leopold von Boehlendorff u. a.) Platz gefunden. Der Dichtung wurde wenig Platz eingeräumt, nur einige Gelegenheitsgedichte von Karl Grass, Friedrich Rombach und Karl Morgenstern selbst wurden abgedruckt. Zeitgleich mit Morgenstern gab sein Kollege Carl Eduard Raupach (1793−1882) in Dorpat eine literarische Zeitschrift heraus: Inländisches Museum (1820–1821, sechs Ausgaben) und dessen Fortsetzung Neues Museum der teutschen Provinzen Russlands (1824–1825, drei Ausgaben). Das Vorhaben wurde getragen vom „Wunsche, etwas zu einem lebhafteren litterärischen Verkehr und Umgang unter den Gebildeten unseres Vaterlandes beizutragen.“25 Plan und Zweck waren ambitioniert – Organ einer geistigen Welt aller baltischen Provinzen zu sein, Austausch zwischen Künsten und Wissenschaften anzuregen sowie freiere und mannigfaltigere Bildung zu fördern. Die beiden Museen enthalten Texte unterschiedlichster Art: die Vorlesung Über das Wesen des Bildungsromans von Karl Morgenstern, eine Abhandlung über Dantes Göttliche Komödie, philosophische Schriften von Garlieb Merkel und Karl Gottlob Sonntag, Besprechungen und Überblickstexte über die neueste Literatur, darunter Anzeigen der estnischen und lettischen Drucke. Die Eröffnungsnummer enthält Gedichte einheimischer Poeten – Poesie nahm auch weiterhin einen wichtigen Platz in der Zeitschrift ein. Im Jahr 1836 wurden in Dorpat zwei für die Dichtung wichtige Wochenblätter gegründet: Der Refraktor und Das Inland. Während vom ersten Blatt 51 Ausgaben in zwei Jahren erschienen, ist das zweite Blatt mit seinen 28 Jahrgängen (52 Ausgaben im Jahr) eines der langlebigsten baltischen Literaturblätter. In Reval war das zentrale Publikationsorgan der lokalen Poeten die Zeitschrift Esthona. Ein literärisches Unterhaltungsblatt für gebildete Stände (1828–1829), die von Franz Schleicher herausgegeben wurde. Im Gegensatz zum ambitionierten Programm der Dorpater Museen beginnt die Esthona mit einem Bescheidenheitsgestus: Leise und schüchtern tritt die Esthona auf; denn sie ist keinesweges so anmaßend zu wähnen, als werde sie etwas Außerordentliches und Geniales leisten. Ihr Plan zielt nicht dahin, mit Prunkblumen glänzen, oder andere seltene Kinder einer Gartenflora ziehen zu wollen. Nein! Sie gedenkt nur Blumen des Feldes und der Wiese zu lesen /---/.26

Esthona sah ihre Aufgabe darin, Land- und Völkerkunde sowie die Belletristik der Ostseeprovinzen zu pflegen und zu fördern. Tatsächlich waren in Esthona sehr viele 24 Karl Morgenstern: Zuschrift an den Hochwürdigen Herrn Gottfried Benedict Func. In: Dörptische Beyträge für Freunde der Philosophie, Litteratur und Kunst (1813), erste Hälfte, S. V. 25 Carl Eduard Raupach: Ankündigung des Inländischen Museums. In: Inländisches Museum 1 (1820), S. III. 26 Franz Schleicher: Vorwort. In: Esthona. Ein literärisches Unterhaltungsblatt für gebildete Stände 1 (1828), S. III.

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literarische Gattungen vertreten: Hier finden wir baltische Erzählungen von Alexander von Ungern-Sternberg (1806–1868), des bald bekanntesten deutschen Romandichters baltischer Herkunft, Geschichten von Nicolas Borchardt, Lyrik von August Thieme, Heinrich Neus, Alexander Rydenius, Franz Schleicher, von den Debütanten Karl Friedrich Wilhelm Fleischer (1773–1831), Gustav Jakob von Ungern-Sternberg (1771–1844), Constantin Veichtner (1808–1877), Georg Schreiber (1806–1839), Karl Sederholm (1789–1867), Otto Ignatius, Karl Georg von Törne (1794–1851), Hermann Adolph Wessels (1803–1832), Friedrich Albert Gebhard (1781–1861), Christoph Friedrich Walther (1806–1886), Robert von Mengden und Johann Bernhard Petrosilius (1774–1846). Es gibt hier außerdem Übersetzungen aus der russischen Literatur von Georg Rosen, aus der persischen Literatur von Ferdinand Johann Wiedemann (dem späteren bekannten Sprachforscher 1805–1887), Beiträge zur Geschichte Estlands, Berichte über das Revaler Theaterleben und estnischsprachige Dichtung von Peter von Manteuffel (1768–1842). Die Tradition, dass man in den hauptsächlich deutschsprachigen Ausgaben estnisch- oder lettischsprachige Texte abdruckt, ist immer noch präsent. Ein neues Phänomen ist jedoch, dass man zur Pflege dieser Literaturen spezielle Zeitschriften gründete: So gab 1813 Johann Heinrich Rosenplänter (1782−1864) in Pernau (Pärnu) eine erste Zeitschrift zur Erforschung der estnischen Sprache unter dem Titel Beiträge zur genauern Kenntniss der ehstnischen Sprache heraus, die in 20 Jahren 20 Bände hervorbrachte. In der deutschsprachigen Zeitschrift wurden neben den Beiträgen zur estnischen Sprache, Mythologie und Poesie auch estnischsprachige Gedichte und Volkslieder veröffentlicht. Im lettischen Sprachgebiet verfolgte die Lettisch-Litterärische Gesellschaft mit ihrem Magazin (1828−1913) ganz ähnliche Ziele. Das Magazin hatte eine Rubrik für die lettischsprachigen Übersetzungen deutschsprachiger Gedichte von Klopstock, Gellerti, Claudius, Schiller u. a.

5. Almanache und Taschenbücher nach 1800 Die ersten Versuche, die Dichter des Baltikums als eine sichtbare Einheit zu präsentieren, wurden in den Kalenderalmanachen und Taschenbüchern unternommen. Wie auch in Deutschland, wo das ganze Erbe der klassisch-romantischen Dichtung zuerst in Musenalmanachen, Taschenbüchern und Kalendern die Öffentlichkeit erreichte,27 boten sie auch für baltische Dichter oft den ersten (und zugleich oftmals auch den einzigen) Veröffentlichungsort. Der Autorenkreis eines Almanachs war häufig durch Freundschafsbeziehungen, den gemeinsamen Bildungsweg oder auch durch gemeinsame Vorbilder bestimmt. Während die Dichter der vor 1800 erschienenen Almanache und Taschenbücher oft anonym blieben und regionale Merkmale in der Dichtung selten zum Vorschein kamen, prägte sich das regionale Bewusstsein in baltischen Taschenbüchern nach 1800 verstärkt aus. In den Taschenbüchern konzentrierte man sich zunehmend auf lokale Themen und 27 Vgl. Weyers: Almanach/Jahrbuch (= Anm. 19), S. 314.

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stellte dem Publikum vermehrt einheimische Autoren vor. Das Ziel des baltischen Taschenbuches war es, seinen Lesern Bemerkenswertes aus der Vergangenheit und der Gegenwart des Heimatlandes zu vermitteln, über schöne Orte, historische Persönlichkeiten, Sitten und Bräuche zu informieren und die Dichtung heimischer Autoren vorzustellen. Oft waren sie illustriert mit Kupferstichen oder Federzeichnungen von Gutshöfen, Schlossruinen oder Landschaften, um das Heimatgefühl zu fördern. Taschenbücher gab es für jeden Geschmack. Meistens bestanden sie aus Texten unterschiedlicher Gattungen, aber es gibt auch reine Lyrikalmanache wie der von Alexander Heinrich Neus herausgegebene Inländische Dichtergarten (1828, 1830) oder das von Arnold Tiedeböhl und Wilhelm Schwarz verfasste Schneeglöckchen (1838), die nur Gedichte der einheimischen Poeten veröffentlichten. Es gibt Taschenbücher für Frauen wie Neujahrsangebinde für Damen (Dorpat, 1817–1820) und für die Unterstützung der Frauen wie das in Riga von Carl Ludwig Grave herausgegebene Caritas. Ein Taschenbuch zum Besten der Unterstützungs-Casse des Frauen-Vereins zu Riga (1825, 1831). Wie bei den Literaturzeitschriften ist auch das Identitätsangebot der Taschenbücher breit: ,deutsch‘, ,nordisch‘ und ,russisch‘ sind alle parallel im Umlauf und spiegeln sich auch leicht im Inhalt wider. Das Wort ,baltisch‘ als Identitätsbestimmung taucht erst in der Mitte des 19. Jahrhunderts auf. Es gibt durchaus einen Grund, baltische Dichtung aufgrund der Almanache und Taschenbücher zu beschreiben und sogar zu periodisieren, wie es schon Jegór von Sivers in seiner Anthologie Deutsche Dichter in Russland (1855) vollzog, indem er von den Dichtern der Curona, des Schneeglöckchens und des Baltischen Albums sprach.28 Neben den literarischen Zeitschriften fungierte dieses Medium als Ort des gemeinsamen Auftritts der Dichter und der Manifestation einer regionalen Identität.

5.1 Autoren der Kuronia (1806–1808) Der erste selbstbewusste Auftritt der baltischen Dichter – „der erste Versuch einer kurländischen Blumenlese, die nur von im Vaterlande lebenden Dichtern zusammen getragen wurde“, wie es in der Nachschrift heißt29 – geschieht im Taschenbuch Kuronia, eine Sammlung vaterländischer Gedichte, herausgegeben von Ulrich von Schlippenbach, vom berühmtesten baltischen Dichter seiner Zeit. Es sind drei Bände, die bei Steffenhagen in Mitau (1806, 1807 und 1808) erschienen, gefolgt von Wega, ein poetisches Taschenbuch für den Norden 1809, das dieselben Autoren einführte: hauptsächlich kurländische Poeten, neben dem Herausgeber selbst den Arzt Karl Bernhard Trinius (1778–1844), den Professor des Mitauer Gymnasiums Heinrich Christoph von Liebau (1760–1829), den Sekretär des Kurators der Dorpater Universität (Friedrich Maximilian Klingers) Karl Musaeus (1772–1831), den Pastor und Schuldirektor aus Walk (Valga) Wilhelm Gottlob Preuss (1769–1842), den Kandauer Pas-

28 Jegór von Sivers: Deutsche Dichter in Russland. Studien zur Literaturgeschichte. Berlin 1855. 29 Ulrich von Schlippenbach: Kuronia, eine Sammlung vaterländischer Gedichte. Mitau 1806, S. 114.

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tor Bernhard Becker (1751–1821), den Schauspieler und Hofmeister Rudolph vom Berge (1775–1821), die Gutsherren Johann Ulrich von Grotthuss (1753–1815) und Jeannot von Medem (1763–1838), den Absolventen der Academia Petrina Kasimir Ulrich Boehlendorff, den Lehrer und Schulinspektor aus Wiburg (Viipuri) August Thieme (1780–1860), den Liedkomponisten August von Weyrauch (1788–1865) aus Dorpat u. a. In Wega erschienen auch die von Ulrich von Schlippenbach aus dem Lettischen übersetzten Gedichte vom blinden Indriķis. Alle vier Bände wurden auch in Deutschland wohlwollend bemerkt, z. B. wurden sie in der Jenaer Allgemeinen Literaturzeitung positiv besprochen. Viele Autoren von Kuronia veröffentlichten auch in der Zeitschrift Ruthenia oder Deutsche Monatsschrift in Russland (gedruckt bei Steffenhagen in den Jahren 1805– 1811), die ein wichtiges Medium der einheimischen dichterischen Bemühungen wurde: Hier treten August von Kotzebue und Garlieb Merkel mit ihren Schriften, Ulrich von Schlippenbach, Karl Bernhard Trinius, Heinrich Christoph von Liebau mit ihren Gedichten und August Thieme mit seinen Versdramen über die Geschichte Russlands auf. Auch neue Namen kamen hinzu wie Friedrich Christoph Brosse (1773–1827), Raphael Ignatius Bock, Friedrich Rambach (1767–1826) und, als einzige Frau, eine kurländische Dame, die sich hinter dem Namen Malwina versteckt.

5.2 Autoren des Nordischen Almanachs (1806–1808) Die gleichen Dichternamen finden wir auch im von Friedrich Bernhard Albers in Riga herausgegebenen Nordischen Almanach, der eine nordische Identität unterstrich und die Ostseeprovinzen mit der nordischen Kultur verbinden wollte. Neben den „interessanten Scenen aus der Geschichte des Nordens“30 und des einheimischen Kurlands werden im Kapitel Nordische Blumenlese baltische Dichter (F. C. Brosse, H. C. v. Liebau, F. B. Albers) und im Kapitel Liefländische Anekdoten livländische Sagen vorgestellt. Es gibt auch Erzählungen (Schlippenbach, Albers), Übersetzungen und Adaptionen aus dem Französischen und dem Lateinischen.

5.3 Autoren der Livona (1812–1818) Im zweiten Jahrzehnt präsentieren sich die baltischen Autoren gemeinsam in (und unter der regionalen Bezeichnung) Livona. So heißt Ein historisch-poetisches Taschenbuch für die Deutsch-russischen Ostsee-Provinzen, das in 2 Bänden (1812, 1815) in Riga und in Dorpat erschien. Der dritte Band Livonas Blumenkranz (1818) beinhaltet ausschließlich Gedichte. Herausgegeben wird das Taschenbuch von Gotthard Tielemann (1773–1846), der, gebürtig aus dem Dorpater Kreis, als Bibliothekar der Stadtbibliothek in Riga und als Lehrer der Rigaer Domschule tätig war. Der Herausgeber sah den Hauptzweck darin, 30 Friedrich Bernhard Albers: Vorwort. Nordischer Almanach für das Jahr 1806. Riga: Müller, S. I− III, hier S. I.

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das Merkwürdigste aus der Vergangenheit und Gegenwart unseres Vaterlandes dem Publikum vor[zu] legen, das Interessanteste aus der schönen Literatur unsers Norden[s] auf[zu] nehmen, und von unsern reizendsten Gegenden, Ruinen, Alterthümern, Münzen und denkwürdigen Männern getreue Abbildungen [zu] liefern.31

Hier erschienen Texte unterschiedlicher Gattungen: von Reisebeschreibungen, Sagen, historischen Darstellungen, Sittengemälden und Lyrik bis hin zur lettischen Volksdichtung. In der Livona publizierten auch Autoren, die zuvor im Taschenbuch Kuronia publiziert hatten, so etwa Schlippenbach und Weyrauch. Der Paradedichter der Livona wurde der Livländer Karl Grass, der zu jener Zeit bereits im Ausland lebte und bis dahin auf dem baltischen Literaturfeld nur mit einigen wenigen Gedichten bekannt war, die in der Zeitung Der Zuschauer von Merkel erschienen waren. Nun wurde sein Werk in der Livona bekannt gemacht und als Grass im Jahr 1814 starb, erschien hier auch sein Nekrolog mit einem Überblick über sein Leben und Werk. Die Debütanten der Livona verband schon die Kaiserliche Universität zu Dorpat, an der sie studiert oder unterrichtet hatten. So veröffentlichten die Professoren Christian Julius Ludwig Stelzer (1758–1831) und Karl Morgenstern ihre Gedichte in der Livona und auch der hier wieder auftretende August von Weyrauch arbeitete in den Jahren 1820/1821 als Deutschlektor an der Universität. Der Altphilologe Morgenstern folgte in seiner Dichtung dem Vorbild von Carl August Kütner, indem er antike Strophen verwendete. Unter den Debütanten der Livona war Karl Friedrich von der Borg (1794–1848), dessen größtes Verdienst in der Übersetzung der russischen Dichtung ins Deutsche bestand.32 Das russische und slavische (serbische) Volkslied war das Steckenpferd des Estländers Peter Otto von Goetze (Zoege von Manteuffel) (1793–1880).33 Beide hatten ihr Juristendiplom in Dorpat erworben. Auch andere adlige Landespolitiker beteiligten sich an der Livona, z. B. Reinhold Johann Ludwig Samson-Himmelstiern (1778–1858), der Gutsherr aus Urbs (Urvaste) und livländische Land- und Staatsrat, der seine Gedichte im Jahre 1825 auch im Buchformat in Riga herausgab. Seine politischen Ansichten waren stark von Garlieb Merkel beeinflusst: Merkels Letten sollen ihn dermaßen erschüttert haben, dass aus dem Großgutbesitzer ein Vorkämpfer für die Befreiung der Bauern und für die Agrarreform wurde. In seiner Lyrik pflegte er antike Formen und Motive und versuchte sich auch als Übersetzer (von Sappho, Anakreon und Shakespeare). Von den dichtenden Pastoren sind Karl Ludwig Grave (1784–1840), Friedrich Christoph Brosse, Heinrich Ernst Fischer (1777–1821) und Georg Collins (1763– 1814) in der Livona vertreten. Außerdem findet man hier Gedichte von Martin

31 Gotthard Tielemann: Livona. Ein historisch-poetisches Taschenbuch für die Deutsch-russischen Ostsee-Provinzen. Riga u. Dorpat 1812, S. III. 32 Siehe seine Anthologie: Poetische Erzeugnisse der Russen. Ein Versuch. 2 Bde. Dorpat u. Riga 1823. 33 Siehe: Serbische Volkslieder, ins Deutsche übertragen. St. Petersburg 1827; Stimmen des russischen Volks in Liedern. Stuttgart 1828.

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Abb. 8: Livonas Blumenkranz (1818), Titelblatt. Universitätsbibliothek Tartu.

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Ernst Reimers (1775–1826), Adolph Wilhelm Riemschneider (1786–1833), Franz Remy (François Pierre Rémy, 1778–1858) u. a.

5.4 Dichter der Dorpater Sängerbünde (1812–1818) Seit dem zweiten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts gilt Dorpat als Zentrum der baltischen Dichter. Der gemeinsame Besuch der Universität, die Mitgliedschaft in Burschenschaften und Vereinen ermutigten angehende Poeten, ihre Dichtungen gemeinsam zu publizieren. Die ersten dichterischen Versuche wurden zumeist jedoch vorab im Freundschaftskreis diskutiert. Dieses Verfahren ist gut im handschriftlichen Nachlass von zwei Dorpater Sängerbünden dokumentiert,34 die insgesamt 336 Gedichte aufweisen.35 Die Sängerbünde wurden gegründet, um das „ästhetische Gefühl“ ihrer Mitglieder zu veredeln und auszubilden.36 Man kam zusammen, um sich gegenseitig Gedichte vorzulesen, diese zu diskutieren und zu bewerten. Die besten wurden ausgewählt und eingetragen. Unter den 336 so überlieferten Gedichten gibt es hauptsächlich Oden, Balladen und Lieder. Mit ihrem geselligen und freundschaftlichen Bezug setzt diese Lyrik die Tradition der Gelegenheitsdichtung fort, ohne den Anspruch der Gelehrsamkeit zu erheben. Als Vorbilder lassen sich etwa der Göttinger Hainbund sowie Bürger, Klopstock, Schiller, Goethe und Matthisson ausmachen. Die Dorpater Sängerbünde waren Bildungsstätten für zukünftige baltische Dichter: Karl Friedrich von der Borg, Alexander Heinrich Neus (1795–1876), Karl Bursy (1791–1870), der Dramatiker Ernst Peter Reinthal (1793–1875) u. a. machten hier ihre ersten dichterischen Versuche. Unter den Mitgliedern waren auch Poeten estnischer und lettischer Herkunft, die außer auf Deutsch auch auf Lettisch oder Estnisch oder zweisprachig dichteten bzw. estnische oder lettische Motive verwendeten. Zum Beispiel hat Robert Heinrich Gottfried Ploschkus (1792–1858), der spätere Pastor zu Merjama (Märjamaa), der in den Jahren 1812–1815 in Dorpat Theologie studierte, ein Gedicht mit dem Titel Selbstgefühl eines Esten eingetragen, das mit der Ankündigung beginnt: „Ich bin ein Este!“.37 Estnischer Herkunft war auch der aus Dorpat stammende Ludwig Karl Friedrich Kolbe (1793–1849), der spätere Pastor zu St. Bartholomäi (Palamuse), der sein melancholisch klingendes Estnisches Hirtenlied im Gedichtbuch eingetragen hat. Die Adaption eines lettischen Volksliedes ist das Gedicht Das Lied der Meise von Hermann Trey (1794–1849), dem späteren lettischen Dichter und Herausgeber der lettischen Zeitschrift Tas Latviešu Ļaužu Draugs.

34 Der erste Sängerbund vereinigte Theologiestudenten in den Jahren 1812 bis 1816, der zweite setzte sich aus unterschiedlichen Studienfächern zusammen, zählte 32 Mitglieder und wirkte von 1814 bis 1818. 35 Friedrich Bienemann (Hg.): Dorpater Sängerbünde 1812–1816. Lieder aus der Jugendzeit der alma mater Dorpatensis. Reval 1896. 36 Ebd. S. XXV. 37 Ebd. S. 24f.

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5.5 Autoren der Neujahrsangebinde für Damen (1817–1820) Die Autoren der Dorpater Sängerbünde findet man auch im Taschenbuch Neujahrsangebinde für Damen wieder, von dem zwischen 1816 und 1820 fünf Bände erschienen. Der Inhalt desselben bildet neben dem Kalendarium leichte Belletristik: Erzählungen der Volksbücher, Aphorismen, Scharaden, Epigramme und Lyrik (unerwartet nur) männlicher Autoren: K. F. von der Borg, P. O. Goetze, H. Neus und Karl Petersen – von Letzterem werden hier die Umdichtungen der estnischen und finnischen Volkslieder veröffentlicht.

5.6 Autoren des Inländischen Museums (1820–1825) Von ihrer Gattung her sind die schon erwähnten, von Karl Eduard Raupach in Dorpat im Jahre 1820 gegründeten Museen (Inländisches Museum, Neues Museum der teutschen Provinzen Russlands) zwischen Zeitschrift und Taschenbuch zu verorten, die viele schon bekannte und auch neue einheimische Dichter drucken: Gedichte von A. von Weyrauch, R. J. L. Samson von Himmelstiern, K. F. von der Borg, Martin Asmuss (1784–1844), H. Neus, K. Petersen, K. von Böhlendorff, Franz Schleicher (1801–1868), Gustaf Sverdsjö (1773–1813) und von Debütanten wie etwa dem vielversprechenden Revaler Alexander Rydenius (1800–1823). Auch eine Erzählung von Karoline Stahl (Verlust und Ersatz), Übersetzungen russischer Lyrik (Lomonosov, Deržavin, Žukovskij) und Berichte über estnische und lettische Literatur werden hier abgedruckt.

5.7 Autoren der Caritas (1825, 1831) Viele schon bekannte Namen finden wir auch im lokalen Taschenbuch Caritas. Ein Taschenbuch zum Besten der Unterstützungs-Casse des Frauen-Vereins zu Riga (1825, 1831). Neben Tielemann, Grass, Grave, Samson von Himmelstiern und Asmuss sind hier auch neue Namen zu finden wie z. B. Harald von Brakel (1796–1851) aus Dorpat, der mit seiner Hymne an den Kaiser Nikolai I. Pawlowitsch (1829) berühmt wurde, die vom Kapellmeister des Rigaer Stadttheaters Richard Wagner vertont und in Riga im Jahre 1837 vorgetragen wurde.

5.8 Autoren der Esthona (1828–1829) und des Inländischen Dichtergartens (1828–1830) Im dritten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts vereinigen sich auch Revaler Poeten, vor allem um die Zeitschrift Esthona. Ein literärisches Unterhaltungsblatt für gebildete Stände (siehe oben) und um den von Alexander Heinrich Neus herausgegebenen Lyrikalmanach Inländischer Dichtergarten (gedruckt in Reval, der erste Band bei Dullo, der zweite Band bei Lindfors), wo wir den Esthona-Kreis (M. Asmuss, K. F. von der Borg, K. Bursy, C.

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Veichtner, H. Neus, G. Schreiber, F. Schleicher, A. von Ungern-Sternberg und G. J. von Ungern-Sternberg) wiederfinden. Als Debütanten sind Adolph Dehn (1797–1825), Jenny Buller (1795–1850) und Friedrich Hinze (1805–1857) zu nennen.

5.9 Autoren des Schneeglöckchens Im Jahre 1838 gründeten die Dorpater Studenten den Almanach Schneeglöckchen, herausgegeben von Arnold von Tideböhl (1818–1883) und Wilhelm Schwarz (1816–1912). Von den Livona-Poeten findet man hier die Lyrik von K. F. von der Borg und Georg von Grindel (1810–1845) wieder: Letztgenannter war der Verfasser der beliebten Dorpater Burschenlieder (seine Sammlung Lieder mit Begleitung des Pianoforte erschien im Jahre 1836 auch im Druck). Andere waren Debütanten, unter ihnen die Vertreter der nächsten baltischen Dichtergeneration wie z. B. Andreas von Wittorf (1813–1886), Roman von Budberg-Bönninghausen (1816–1858) und Karl von Stein (1806–1856) – diese drei avancierten in der Jahrhundertmitte zu den bekanntesten baltischen Dichtern, die den Grundstein für die deutschbaltische Natur- und Vaterlandslyrik legten.

6. Fazit Es sind literarische Zeitschriften, Taschenbücher und Almanache, die um 1800 das baltische literarische Feld konstituieren. Dies ging einher mit der Entstehung einer literarischen Öffentlichkeit, die ein regionales Identitätsgefühl stärkte oder allererst schuf. Bei der Herausbildung des baltischen literarischen Feldes spielt neben der entstehenden Journalistik auch die Gründung der höheren Schulen (vor allem der Academia Petrina und der Universität Dorpat) eine entscheidende Rolle, da sich um diese Institutionen Dichter versammelten, die literarische Zeitschriften, Taschenbücher und Almanache herausgaben. Vom letzten Viertel des 18. Jahrhunderts bis zum zweiten Viertel des 19. Jahrhunderts treten in diesen Druckmedien ungefähr hundert Dichter mit ihren literarischen Texten auf. Die Mehrheit von ihnen sind Literaten, Männer bürgerlicher Herkunft mit Universitätsausbildung, viele von ihnen sind aus Deutschland immigriert. Es gibt aber auch bemerkenswert viele Autoren adliger Herkunft – ungefähr ein Drittel. Die fünf identifizierten Dichterinnen umfassen nicht alle Autorinnen, die in den Periodika der Ostseeprovinzen zur Feder griffen – mehrere entschieden sich dazu, anonym zu bleiben. Die beliebtesten Dichter der baltischen literarischen Journalistik, Almanache und Taschenbücher sind Ulrich von Schlippenbach, Karl Grass, August von Weyrauch, Karl Friedrich von der Borg, Martin Asmuss und Heinrich Neus. In mindestens drei Ausgaben wurden die Texte von Kasimir Ulrich Boehlendorf, Karl Petersen, Reinhold Johann Ludwig von Samson-Himmelstiern, Karl Ludwig Grave, Friedrich Christoph Brosse, August Thieme, Gotthard Tielemann, Georg Friedrich Pöschmann, Heinrich Christoph von Liebau, Karl Musaeus und Friedrich Bernhard Albers veröffentlicht.

Medien der literarischen Kommunikation im Baltikum um 1800

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Als ein formales Kriterium, um zu entscheiden, ob ein Dichter, der vorwiegend in Almanachen, Kalendern und Taschenbüchern veröffentlichte, als Dichter Anerkennung fand, könnte die Herausgabe eines eigenen Gedichtbandes gelten. Von den Autoren, die in dieser Periode in baltischen Almanachen, Taschenbüchern und Literaturzeitschriften vertreten sind, trifft das auf Ulrich von Schlippenbach,38 Rudolph vom Berge39 und Reinhold Johann Ludwig Samson von Himmelstiern40 zu. Von den estnischen und lettischen Autoren wurden nur die lettischsprachigen Gedichte des blinden Indriķis als selbstständiges Buch veröffentlicht.41 Von den Almanach-Debütanten der 1830er Jahren geben Andreas von Wittorf,42 Roman von Budberg-Bönninghausen43 und Karl von Stein44 eigene Bände heraus. Die inhaltliche Auswertung der baltischen Almanachdichtung steht noch aus, aber einiges sticht schon beim oberflächlichen Blick ins Auge: In der allgemeinen, unpersönlichen klassisch-spätromanischen Lyrikflut lässt sich allmählich eine Verstärkung des regionalen Identitätsbewusstseins beobachten. In der Dichtung wird das Lokalkolorit bemerkbar. Es entsteht deutschbaltische Vaterlandslyrik (z. B. J. von Sivers An der Ostsee), die ihre Blütezeit erst am Ende des 19. Jahrhunderts erreicht. Mit der Verstärkung des Heimatgefühls geht auch eine bewusste Auseinandersetzung mit der estnischen und lettischen Volksüberlieferung einher, die in der Dichtung in den 1840er Jahren ihren Höhepunkt findet.45 Um 1800 ist „dieser literärische Patriotismus“, den der Superintendent Karl Gottlob Sonntag im Jahre 1814 ersehnte,46 erst im Entstehen. Der literarische Patriotismus der Ostseeprovinzen, der sowohl Landes- als auch Standesgrenzen überwand, wird erst mit dem Aufkommen des Dachbegriffes ,baltisch‘ für alle drei Ostseeprovinzen ersichtlich – so betitelt beispielsweise Nikolai von Rehbinder (1823–1876), der eine gewisse Zeit in allen drei Provinzen gelebt hat, den von ihm herausgegebenen Almanach Baltisches Album im Jahre 1848. Eigentlich ist es erst seitdem berechtigt, von einer baltischen Dichtung zu sprechen.

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Ulrich von Schlippenbach: Gedichte. Mitau 1812. Rudolph vom Berge: Poesien. Mitau 1810. Reinhold Samson von Himmelstiern: Gedichte. Riga 1925. Ta neredsiga Indrika Dseesmas [Geschichte des blinden Indrik]. Hg. v. Karl Gotthard Elverfeld. Mitau 1806. Andreas von Wittorf: Gesammelte Gedichte. Leipzig 1844. Roman von Budberg-Bönninghausen: Erste Lieder. Reval 1838. Karl von Stein: Gedichte. Dresden 1839. Vgl. Liina Lukas: Estonian Folklore (= Anm. 10). Karl Gottlob Sonntag: Zwei Vorschläge zum Behufe der inländischen Schriftstellerei. In: Inländische Blätter 14 (1814), S. 53f, hier S. 53.

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Briefe im 18. Jahrhundert. Die Ergänzung der Öffentlichkeit Der allergrößte Teil der Briefe, die es je gab, ist aus der Welt verschwunden, als hätte es sie nie gegeben. Ein sehr geringer Teil von ihnen ist überhaupt erhalten. Schon in der Antike wurden Briefe gesammelt, namentlich aber im Humanismus und in den darauf folgenden Jahrhunderten, bisweilen personenbezogen, öfters aber wohl für Autographensammlungen größeren oder kleineren Umfangs. Ein noch kleinerer Teil der gesammelten Briefe ist überhaupt zugänglich, Familien- und andere Spezialarchive können sehr verschlossen sein. Von den zugänglichen Briefen ist wiederum nur ein kleiner Teil veröffentlicht. Und schließlich – bei den veröffentlichten Briefen stellt sich immer wieder die Frage, ob sie echt seien. Der Briefwechsel zwischen Peter Abaelard und Heloise († 1164) ist wiederholt angezweifelt worden, ebenso die Liebesgeschichte in den Lettres de Babet (publ. 1667) oder gar die Briefe der Ninon de Lenclos († 1705); die Briefe der Marquise von Sévigné († 1696) wurden nachweislich bearbeitet. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts gibt es Autoren, die gerade diese Unsicherheit als Reiz einsetzen.1 Überhaupt ist die Öffentlichkeit erfüllt von kursierenden Briefsammlungen, nicht nur berühmter Frauen, sondern ebenso berühmter Diplomaten oder Professoren. Einzelne Gelehrte publizierten ihre Briefsammlungen schon bei Lebzeiten;2 andere wurden kurz nach deren Tod veröffentlicht oder vielleicht auch gar nicht. Das ist der Fall bei der vielbenutzten Briefsammlung des Dorpater Bürgermeisters Gadebusch (1719–1788), die in Riga bzw. in Marburg aufgesucht werden muss.3 Die Briefe pendeln gewissermaßen zwischen dem privaten Pol, ja oft geradezu dem Versteck, einerseits und der Öffentlichkeit andererseits. Das gilt erst recht für die Briefe, die ein Autor selbst geschrieben hat. Sie müssen in der Regel aus den unterschiedlichsten Archiven und Bibliotheken zusammengesucht werden, wie die gerade erscheinende Edition der Briefe Garlieb Mer1 So der Freimaurer Johann August (von) Starck, der vorübergehend (1776–1781) Professor an der Academia Petrina war: Saint Nicaise, oder eine Sammlung merkwürdiger maurerischer Briefe, für Freymäurer und die es nicht sind (1785); Wahrhafte Begebenheiten einiger Brüder Freymaurer, die sich durch ein falsches Licht blenden ließen, und endlich zur wahren Erkenntniß gelangten. Von ihnen selbst in Briefen an ihre Freunde geschrieben (1786). 2 Vgl. etwa Günter Mühlpfordt: Kulturbriefe, Briefschriften, Briefbund. J. A. Penzel – 50 Jahre Kommunikation eines „gelehrten Sanscülotten“. In: Alexandru Duţu, Edgar Hösch u. Norbert Oellers (Hg.): Brief und Briefwechsel in Mittel- und Osteuropa im 18. und 19. Jahrhundert. Redaktion: Wolfgang Keßler. Essen 1989, S. 53–136, besonders S. 74–79. 3 Lettisches Historisches Staatsarchiv in Riga (Sign.: 4038 – 2 – 1681); Kopien im Herder-Institut Marburg (Sign.: 1171 A1); zitiert als ‚Briefsammlung Gadebusch‘. Zudem sind die Briefe als Regesten erschlossen: Briefe an den livländischen Historiographen Friedrich Konrad Gadebusch (1719– 1788). Regesten. Bearb. v. Friedrich von Keußler. Hg. v. Christina Kupffer u. Peter Wörster. Marburg 1998.

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kels zeigt, die aus 47 Fundstellen in 32 Städten in zehn Ländern zusammengetragen wurde.4 Das 18. Jahrhundert gilt als das Jahrhundert des Briefes. Dazu gehört als technische Vorbedingung auch der Ausbau der Postnetze, wie sie im Heiligen Römischen Reich schon 1490 mit der Einrichtung der Reichspost begründet wurde,5 in Russland unter der Regierung Peters des Großen. Der Postverkehr über Riga wurde allerdings von den Behörden streng beobachtet, es hieß, dass Briefe von der Geheimpolizei geöffnet würden; die Kontrolle etwa durch Fuhrleute zu umgehen, war bei Strafe verboten.6 Posttage strukturieren im 18. Jahrhundert mit ihrem Rhythmus das Zeitungswesen ebenso wie den Personen- und Briefverkehr. Das heißt, Schriftlichkeit, in welcher Form auch immer, nimmt zu. Die anwachsende Flut der Gesetze und Verordnungen, der Zeitungen und Briefe im 18.  Jahrhundert, die oft beobachtet worden ist, lässt sich vielleicht auf die Formel bringen: Die frühneuzeitliche Gesellschaft, bestimmt durch die Kommunikation unter Anwesenden, ändert sich mehr und mehr hin zur Kommunikation zwischen Abwesenden.7 Dass mehr und mehr Briefe geschrieben wurden, ist an der Menge der Anleitungen zum Briefeschreiben zu erkennen. Gab es in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts etwa 70 deutsche Lehrbücher des Briefeschreibens (,Briefsteller‘), so verdoppelt sich diese Zahl in der zweiten Hälfte auf gut 150.8 Aber wozu wurden sie überhaupt gebraucht? Die Briefsteller, so möchte ich annehmen, dienen nicht nur als Schablone, sondern der Fortbildung im schriftlichen Ausdruck, wie etwa Spanutii Teutsch-Orthographisches Schreib- Conversations- Zeitungs- und Sprüch-Wörter-Lexicon nebst ausführlicher Anweisung wie man accurat und zierlich teutsch schreiben, höflich reden, und was man sonst bey einem Briefe observiren solle (1720). Schreiben und Reden stehen nebeneinander und unter dem Gebot der Höflichkeit. Beides hat mit den Umgangsformen zu tun, die in der ständischen Gesellschaft besonders dazu verpflichten, soziale Unterschiede zu markieren. Die Lateinschulen lehren, in der Rhetorik das Decorum zu beachten, das heißt die Angemessenheit an die Situation und das Verhältnis zwischen Sprecher und Angesprochenem, Schreiber und Angeschriebenem. In diesem Sinne setzt Professor Gottsched 1754 für den Schulunterricht fest: „Man muß hiernächst die Briefe eintheilen: in Briefe an höhere, an seinesgleichen, und an geringere. An jene muß man ehrerbiethig, an die andern höflich, an die letzten aber leutselig

4 Garlieb Merkel: Briefwechsel. Bd. I. Hg. v. Dirk Sangmeister, Thomas Taterka u. Jörg Drews (†). Bremen 2019. Bd. II (Kommentar und Register) ist für 2021 angekündigt. 5 Grundlegend ist Wolfgang Behringer: Im Zeichen des Merkur. Reichspost und Kommunikationsrevolution in der Frühen Neuzeit. Göttingen 2003. 6 Johann Georg Hamann an den Vater, Riga den 17. März 1753. In: Johann Georg Hamann: Briefwechsel. Hg. v. Walther Ziesemer u. Arthur Henkel. Bd. I. Wiesbaden 1955, S. 30f. 7 Das ist die These von Rudolf Schlögl: Anwesende und Abwesende. Grundriß für eine Gesellschaftsgeschichte der frühen Neuzeit. Konstanz 2014. 8 Reinhard M. Nickisch: Die Stilprinzipien in den deutschen Briefstellern des 17. und 18. Jahrhunderts. Mit einer Bibliographie zur Briefschreiblehre (1474–1800). Göttingen 1969. Bibliographie S. 248–307.

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schreiben: so wie wohlerzogene Leute mit ihnen reden würden.“9 Das Briefeschreiben ist eine schulische Übung, ganz analog zu dem, was der deutsche Aufsatz bis vor Kurzem gewesen ist – allerdings entschieden adressatenbezogen. Bezeichnenderweise ließ der Lehrer des jungen Friedrich Nicolai seinen Schüler täglich einen Brief schreiben, „wovon er mir die Materie, und sowohl die Person des Schreibenden, als dessen an den geschrieben werden sollte, bestimmte. Bey der täglichen Durchsicht zeigte er mir, wo ich wider den Charakter des Schreibenden oder des Briefempfängers gefehlt hatte.“10 Diese Schulung für die lateinisch Ausgebildeten (literati) suchen sich die anderen, die nur in deutschen Schulen gelernt hatten, auf eigene Faust zu erwerben. Das Briefeschreiben hat seinen festen Ort in autodidaktischen Lehr- und Lernverhältnissen. Georg Steinhausen bemerkt in seiner fundamentalen Geschichte des deutschen Briefes, es sei im 18. Jahrhundert fast zur Gewohnheit geworden, empfangene Briefe auf ihre Qualität hin zu beurteilen.11 Wo kein Lehrer vorhanden ist, kritisieren sich die Partner eines Briefwechsels gegenseitig, ja sie können leicht dahin gebracht werden, sich gegenseitig zu übertrumpfen, und genau das sind die Lerneffekte. So berichtet Ulrich Bräker, bekannt als ‚Der arme Mann im Toggenburg , er sei nur einen Winter lang zur Schule gegangen, habe aber im Konfirmandenunterricht mit einem gleichaltrigen Knaben einen Briefwechsel angefangen. Darin hätten sie sich Verse, Rätsel oder Bibelsprüche geschickt, dazu über Lieblingstiere, Lieblingsspeisen, Kleider und Farben geschrieben: „Und da bemühte sich je einer den andern an Anmuth zu übertreffen.“12 Ein anderer Autodidakt, der es vom unstudierten Schreiber zum nobilitierten Kanzler der Universität Rinteln brachte, berichtet in seiner Lebensgeschichte, er habe mit seinen Schulkameraden, als sie zur Universität wechselten, „lateinische und litterarische auch französische Briefe gewechselt“ und später auf allen Lebensstationen ständig Briefpartner gesucht, die mit ihm korrespondieren wollten.13 Die Briefe, auch in Fremdsprachen, sind ein wesentliches Mittel der Fortbildung in sprachlicher wie in sachlicher Hinsicht. 9

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Johann Christoph Gottsched: Vorübungen der Beredsamkeit, zum Gebrauche der Gymnasien und größern Schulen. Leipzig 1754, S. 201. Eine vierte Auflage erschien noch 1775. Vgl. auch Heinrich Bosse: „Wie schreibt man Madam?“ Lenz, Die Soldaten I/1. In: Martin Stingelin (Hg.): „Mir ekelt vor diesem tintenklecksenden Säkulum“. Schreibszenen im Zeitalter der Manuskripte. München 2004, S. 70–85. Friedrich Nicolai: Ueber meine gelehrte Bildung, über meine Kenntniß der kritischen Philosophie (1799). In: ders.: Gesammelte Werke. Hg. v. Bernhard Fabian u. Marie-Luise Spiekermann. Bd. I, 2. Hildesheim, Zürich u. New York 1997. S. 19f. – ‚Charakter‘ ist hier eher nicht psychologisch zu verstehen, sondern als sozialer Status. Vgl. Georg Steinhausen: Geschichte des deutschen Briefes. Zur Kulturgeschichte des deutschen Volkes. Bd. II. Berlin 1891, S. 318–320. Andreas Bürgi: Der wohlpräparierte Autodidakt. Ulrich Bräkers Bildungsnetzwerke. In: Holger Böning [u.  a.] (Hg.): Selbstlesen – Selbstdenken – Selbstschreiben. Prozesse der Selbstbildung von „Autodidakten“ unter dem Einfluß von Aufklärung und Volksaufklärung vom 17. bis zum 19. Jahrhundert. Bremen 2015, S. 233–244, hier S. 239. Friedrich Wilhelm Strieder: Grundlage zu einer Hessischen Gelehrten- und Schriftsteller Geschichte. Bd. XV. Kassel 1806, S. 178–197, hier S. 180f.

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Und sie sind es nicht zuletzt in erzieherischer Hinsicht, wie in den Briefen, die Johann Georg Hamann an den jüngsten Sohn des Generals von Witte im Herbst 1758 von Riga aus schrieb, nachdem er seine Hofmeisterstelle in Grünhof (Zaļenieki) aufgegeben hatte.14 Hamann fordert den jungen Baron zu einem Briefwechsel auf, wofür er auch das Thema vorschlägt: den Beruf eines kurländischen Edelmanns. Sachlich belehrt er seinen Lehrling, indem er ausführlich aus dem Traktat La Noblesse commerçante (1756) referiert, erzieherisch, indem er überhaupt vom ‚Beruf eines Adligen spricht, orthographisch, indem er dessen Briefe korrigiert und noch einmal abgeschrieben zurückverlangt, ja selbst ästhetisch, indem er erwartet, der Inhalt müsse reinlich auf einem halben Bogen disponiert werden. Ausdrucksfehler werden nicht einfach angestrichen, sondern, mit Begründung, durch eine bessere Lösung ersetzt. Und schließlich bekämpft Hamann die Vorstellung, ein Brief müsse gelehrt oder witzig sein, um den Empfänger zu unterhalten: „Warum sollte ich mich schämen, natürlich, einfältig, schlecht und recht zu schreiben, wenn dies das einzige Mittel und der geradeste Weg ist sich eine gute Schreibart zu erwerben?“15 Damit ist die Losung aufgegriffen, die seit Gellerts Practischer Abhandlung von dem guten Geschmacke in Briefen (1754) im Umlauf war und die Briefkultur des 18. Jahrhunderts verändert.16 Wie man von den Freimaurern gesagt hat, sie würden die Standesunterschiede zwar nicht aufheben, aber doch suspendieren, so wirkt auch die hochkomplexe Anforderung, natürlich zu schreiben. Sie schafft einen schriftlichen Freiraum, um die Nachrichten, Glück- und sonstigen Wünsche, Anliegen und Ratschläge vom Decorum zu befreien, mithin einen Spielraum für die Kleinigkeiten des Alltags oder der Schreibsituation. Mit einem Wort, das Ansinnen, zu schreiben, wie man spricht, schafft einen privaten Duktus.17 Im Extremfall kann dann ein Brief tatsächlich zu dem werden, was Hamann sich im Austausch mit Herder wünscht, „ein Selbstgespräch zwischen Ich und Du“.18 Paradoxerweise hängt der private Duktus damit zusammen, dass es den ‚Brief‘ als spezielle Textsorte gibt, die in aller Öffentlichkeit kursiert. Gemeint ist nicht der Sendbrief als Bestandteil einer Polemik, sondern das 14 Hierzu Hans Graubner: Zwischen Adel und Patriziat. Beobachtungen des jungen Hamann in Livland und Kurland (1742–1759). In: Heinrich Bosse, Otto-Heinrich Elias u. Thomas Taterka (Hg.): Baltische Literaturen in der Goethezeit. Würzburg 2011, S. 83–100, besonders S. 93f. 15 Hamann an Baron von Witte [1758]. In: Hamann: Briefwechsel (= Anm. 6). Bd. I, S. 268. 16 Vgl. Robert Vellusig: Schriftliche Gespräche. Briefkultur im 18. Jahrhundert. Wien, Köln u. Weimar 2000. 17 Im vorigen Jahrhundert beging Jürgen Habermas den nachhaltigen Irrtum, die privati (= Leute ohne politische Befugnis) für Privatleute mit einem bürgerlichen Privatleben zu halten. Vgl. Jürgen Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft. Neuwied 1962. – Wie viele Aufklärungsforscher suchte Habermas zu vergessen, dass die Aufklärung in der ständischen Gesellschaft stattfand und substituierte stattdessen eine bürgerliche. 18 Hamann an Herder, den 3. April 1774. In: Hamann: Briefwechsel (= Anm. 6). Bd. III. Frankfurt a. M. 1957, S. 78. Hamanns Briefwechsel war Gegenstand einer eigenen Tagung. Vgl. Manfred Beetz u. Johannes von Lüpke (Hg.): Hamanns Briefwechsel. Acta des Zehnten Internationalen Hamann-Kolloquiums an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg 2010. Göttingen 2016.

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Äquivalent zum Essay. Jene persönliche Mitteilung, die Briefe überbringen, kann sich ja aus der persönlichen oder postalischen Beziehung lösen und dann behält sie, gedruckt, nur noch die Geste der persönlichen Mitteilung bei. Die ‚Briefschriften‘ (Günter Mühlpfordt) sind locker komponiert, ohne sich von der dispositio gelehrter Reden und den Floskeln der Höflichkeit einschüchtern zu lassen. Ein leuchtendes Beispiel geben die Briefe, die neueste Literatur betreffend (1759−1765) von Lessing, Mendelssohn und Nicolai. Letzterer erinnert sich: „Wir haben so oft gesagt, man sollte schreiben, was wir sagen. Wir wollen also in Briefen niederschreiben, was wir in unsern täglichen Unterredungen sagen, wollen uns keinen bestimmten Zweck vorstellen, wollen anfangen, wenn es uns gefällt, aufhören, wenn es uns gefällt, reden, wovon es uns gefällt; gerade so wie wir es machen, wenn wir zusammen plaudern.“19 Dieser private Duktus fließt von den Briefschriften in die Privatkorrespondenz und umgekehrt. Privatkorrespondenz gibt es zwischen Bekannten, Liebenden und Verwandten, wenn sie entfernt von einander wohnen, ja, selbst wenn sie in derselben Stadt wohnen, dann meist in Form des Billets.20 Oder wenn sie sich in der Ferne aufhalten, sei es um zu reisen, sei es als Bestandteil der Ausbildung. Der junge Handwerker muss wandern, um Neues kennenzulernen; auch wenn kaum Privatbriefe bekannt sind, so gab es doch bei Streiks und Ausständen eine überregionale Kommunikation zwischen den Gesellenverbänden.21 Auch der junge Kaufmannsdiener muss die Heimat verlassen; nach der vieljährigen Lehrzeit gehören Reise und ein längerer Aufenthalt in einem auswärtigen Handelsort durchgehend zu seiner Ausbildung.22 Und schließlich die Studenten, die Geld von ihren Eltern erbitten oder darüber Rechenschaft ablegen, die die Fortschritte ihrer Studien beteuern oder verheimlichen.23 Auch wenn solche Ausbildungskorrespondenz nur in Spuren erhalten ist, muss sie doch ein beträchtliches Ausmaß betragen haben. Gegenüber dieser städtisch-bürgerlichen Sphäre ist aber auch an die Privatkorrespondenz des Adels zu erinnern, die, meist von Frauen vorgenommen, über persönliche Nachrichten den Zusammenhalt des Fami19 Friedrich Nicolai: Schreiben an den Hrn. Professor Lichtenberg in Göttingen. In: Göttingisches Magazin der Wissenschaften und Literatur 3 (1783), S. 387–401, hier S. 389. Nicolai hatte auch schon die Briefe über den itzigen Zustand der schönen Wissenschaften in Deutschland (1755) publiziert, Mendelssohn seine Briefe über die Empfindungen (1755). 20 Günter Oesterle: Schreibszenen des Billets. In: Christine Lubkoll u. Claudia Öhlschläger (Hg.): Schreibszenen. Kulturpraxis – Poetologie – Theatralität. Freiburg i. Br. 2015, S. 115–135. 21 Vgl. etwa die Laufbriefe der Gesellen während des Ausstands der Augsburger Schuhknechte von 1726 in: Michael Stürmer (Hg.): Herbst des Alten Handwerks. Quellen zur Sozialgeschichte des 18. Jahrhunderts. München 1979, S. 188–190. 22 In seiner Selbstbiographie berichtet etwa Caspar (von) Voght (1752−1839) über die vielen fremdsprachigen Briefe, die er in seiner Lehrzeit schreiben mußte, und aus seinen Wanderjahren, die allerdings mehr der grand tour eines Adligen glichen, dass sein Vater seine Berichte aus Paris sogar in den Hamburger Zeitungen veröffentlichen ließ. Baron Kaspar von Voght: Lebensgeschichte. Hamburg 1917. 23 Über deren Anzahl unterrichtet Arvo Tering: Lexikon der Studenten aus Estland, Livland und Kurland an europäischen Universitäten 1561–1800. Köln u. a. 2018. Ihre Briefe sind in biographischen Untersuchungen zu finden oder noch in Familienarchiven verborgen.

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lienverbandes zu stärken suchte und eher archiviert wurde. Umgekehrt sind von der ländlichen Bevölkerung, die zwar meist lesekundig, sehr viel weniger aber schreibunkundig war, durchaus Schriftstücke (Schreibkalender, Anschreibebücher, Dokumente) erhalten, Privatbriefe jedoch so gut wie gar nicht. Die – kulturhistorisch stärker beachtete – Privatkorrespondenz steht im Gegensatz zur Geschäftskorrespondenz, sei es politischer, kaufmännischer oder ‚literarischer‘ Art, auch wenn sich beide durchaus vermengen können. Politische oder diplomatische Schreiben sind, als Dokumente, selbstverständlicher Bestandteil aller politischen Geschichtsschreibung. Zu den kaufmännischen Briefen gibt es eine reiche Literatur im 18. Jahrhundert. „Unter allen Ständen des menschlichen Lebens findet sich vielleicht keiner, worinnen man mehr Briefe zu schreiben hat, als wenn man sich der Handlung widmet“, beginnt eine Anweisung zum Briefschreiben, die vom jungen Kaufmann verlangt, sauber, schnell, sprachrichtig und deutlich schreiben zu können.24 Umstritten ist in der zweiten Jahrhunderthälfte zumal die spezielle, fremdwortgeladene Fachsprache des Kaufmanns. Durch Handreichungen wie Versuch in Handlungsbriefen und größeren Aufsätzen, nach den Gellertischen Regeln; nebst einer Abhandlung vom guten Geschmack in Handlungsbriefen (1764) versucht man die Korrespondenz zu modernisieren. Auch hier sind Firmenarchive, soweit erhalten, die Fundstellen für ein bisher wohl nur wirtschaftsgeschichtlich genutztes Material. Der größte Teil der geistes- und sozialgeschichtlich wahrgenommenen Briefe bezieht sich auf den gelehrten Stand,25 also auf diejenigen, die an den Universitäten eine lateinische Ausbildung durchlaufen haben. Dazu zählen in erster Linie die Universitätslehrer selbst.26 Aber da in der ständischen Gesellschaft auch die Auszubildenden ihrem Stand angehören, werden die Studenten, ja alle, die das Lateinische beherrschen, zu den Gelehrten (literati) gerechnet. Sie sind es auch, die als Autoren die Öffentlichkeit mit gestalten – welche als eine Sphäre sowohl die lateinischen Bildungsanstalten als auch den Büchermarkt umfasst. Die gemeinsame öffentliche Angelegenheit der Lateinkundigen heißt ganz wörtlich ,gelehrte Republik‘ (res publica literaria).27 Der briefliche Austausch zwischen den Akademikern treibt Ströme nichtpublizierter, aber oft auf Publikation bezogener Informationen an und konstituiert damit die Rückseite der gelehrten Republik.

24 Gottfried Christian Bohn: Wohlerfahrener Kaufmann [...] nebst einer ausführlichen Anweisung zum italienischen Buchhalten, dem kaufmännischen Briefwechsel, und mehrern nöthigen Handelssachen. Verbesserte Auflage Hamburg 1762 [Neuauflage eines Ratgebers von 1727, die bis 1789 in 5. Auflage erschien], S. 743. 25 Generell: „Die Epistologie hat die Autorenprominenz editorisch aufmerksamer bedacht als literarisch unausgewiesene Schreiber.“ Deutsche Briefe 1750–1950. Hg. v. Gert Mattenklott, Hannelore Schlaffer u. Heinz Schlaffer. Frankfurt a. M. 1988, Vorwort der Herausgeber, S. 17. 26 Vgl. Detlef Döring: Gelehrtenkorrespondenz. In: Ulrich Rasche (Hg.): Quellen zur frühneuzeitlichen Universitätsgeschichte. Typen, Bestände, Forschungsperspektiven. Wiesbaden 2011, S. 315–340. 27 Vgl. Heinrich Bosse: Die gelehrte Republik. In: Hans-Wolf Jäger (Hg.): ‚Öffentlichkeit‘ im 18. Jahrhundert. Göttingen 1997, S. 51–76. In der neueren Wissensgeschichte versteht man die gelehrte Republik als scientific community; damit bleibt die Öffentlichkeit der Frühen Neuzeit regelrecht unverstanden.

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Solche Informationsströme können ihrerseits institutionalisiert werden. Die pietistische Ausbildung von Theologen an der Universität Halle band die Studenten an ihre Ausbildungseinrichtung zurück. Bei Stellenantritt wurde erwartet, dass sie über die Verhältnisse zumal im östlichen Europa Rückmeldung an August Hermann Francke und seinen Sohn gaben, gelegentlich ein einziges Mal, öfters aber in kontinuierlichen Briefbeziehungen. Für Erziehung durch Hofmeister in den Adels-, aber auch in den Pastorenfamilien in den russischen Ostseeprovinzen bildeten die Briefe nach Halle eine vielbegangene Brücke.28 Einen ähnlichen Fluchtpunkt für briefliche Mitteilungen bot auch die ständeübergreifende Bewegung der Herrnhuter. In den russischen Ostseeprovinzen waren die Herrnhuter von 1729 bis zu ihrem Verbot 1743 missionarisch aktiv und auch in der Folgezeit, wenngleich unauffällig, präsent. Sie führten mit ihren Andachten einerseits Bauern, Adlige und Pastoren, andererseits Deutsche, Letten und Esten zusammen und organisierten vor allem die sträflich vernachlässigte Schulbildung der Leibeigenen. Unter ihrer Führung entwickelte sich eine Schreibkultur, die Briefzeugnisse in lettischer und estnischer Sprache hervorgebracht hat.29 Ohne festes Zentrum, eher als Netzwerk, schuf auch die Korrespondenz innerhalb der Freimaurerbewegung einen festen Zusammenhang. In Riga gab es ab 1750 sechs, in Kurland ab 1754 wenigstens zwei, in Reval (Tallinn) ab 1774 immerhin vier Logen. Ihrem Selbstverständnis nach kannten die Freimaurer keine Standesunterschiede, doch konzentrierten sie sich faktisch auf Adel, Akademiker und Kaufleute. Handwerker jedenfalls waren als dienende Brüder nicht vollberechtigt, mit Ausnahme der Revaler Loge „Hoffnung der Unschuld“.30 Die Auseinandersetzungen innerhalb der Freimaurer, an denen auch der Mitauer Professor Starck beteiligt war, brachten eine Flut von Stellungnahmen abseits, aber auch innerhalb der Öffentlichkeit hervor. In Nordosteuropa waren alle wichtigen Buchhandlungen, die ökonomischen Stützen der Öffentlichkeit, mit der Bewegung der Freimaurer verbunden.31 Die Öffentlichkeit der russischen Ostseeprovinzen ist allerdings eher in den Plural zu setzen als 28 Vgl. Indrek Jürjo u. Heinrich Bosse: „Hofmeister gesucht. Neun Briefe von Christian David Lenz an Gotthilf August Francke“. In: Lenz Jahrbuch 8/9 (1998/99), S. 9–49. Vgl. auch Eduard Winter: Halle als Ausgangspunkt der deutschen Russlandkunde im 18. Jahrhundert. Berlin 1953, S. 255– 289. 29 Vgl. Otto A. Webermann: Pietismus und Brüdergemeinde. In: Reinhard Wittram (Hg.): Baltische Kirchengeschichte. Göttingen 1956, S. 149–166, hier S. 165. Den bislang frühesten Brief, das Schreiben eines Küsters aus dem Jahr 1703, hat Aivar Põldvee im Historischen Staatsarchiv Lettlands aufgefunden. Vgl. Aivar Põldvee: The letters of Käsu Hans and the history of Estonian as a written language. In: Tuomas Lehtonen, Kati Kallio u. Ilkka Leskelä (Hg.): Networks, Poetics and Multilingual Society in the Early Modern Baltic Sea Region. Amsterdam 2020. 30 Henning von Wistinghausen: Freimaurer und Aufklärung im Russischen Reich. Die Revaler Logen 1773–1820. 3 Bde. Köln, Weimar u. Wien 2016, Bd. 1, S. 415. 31 Vgl. Heinz Ischreyt: Buchhandel und Buchhändler im nordostdeutschen Kommunikationssystem (1762–1797). In: Giles Barber u. Bernhard Fabian (Hg.): Buch und Buchhandel in Europa im achtzehnten Jahrhundert. The Book and the Book-Trade in Eighteenth-Century Europe. Hamburg 1981, S. 249–269, hier S. 262. – Ischreyt nennt namentlich Kanter in Königsberg, Hartknoch in Riga, Hinz in Mitau, Weitbrecht in St. Petersburg und Gröll in Warschau.

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in den Singular.32 Der deutschsprachige Bücher- und Zeitschriftenmarkt entwickelt sich erst allmählich nach dem Ende des Nordischen Krieges und bleibt, entsprechend dem kulturellen Kolonialstatus von Estland, Livland und Kurland, engstens bezogen auf den Bücher- und Zeitschriftenmarkt in Deutschland. Was wie ein Annex der deutschen res publica literaria wirkt, mit Ausläufern nach St. Petersburg, stabilisiert jedoch das große nordosteuropäische Kommunikationssystem des 18. Jahrhunderts. Dabei stoßen die deutschen Öffentlichkeiten einerseits zusammen mit der russischen Kultur und Sprache, die von der Regierung ausgeht, und andererseits mit den Bereichen des Estnischen und Lettischen, die als Kulturraum in der Volksaufklärung überhaupt erst entdeckt werden. Ein großer Teil des gelehrten Briefwechsels bezieht sich auf die eigentliche Öffentlichkeitsarbeit, auf das Publizieren, Rezensieren, Kaufen oder Schenken von Büchern, Manuskripten, Zeitschriften. Der Verleger Johann Friedrich Hartknoch (1740–1789) mit seinen Büchersendungen und Kontakten ist ein wichtiger Vermittler, nicht zuletzt durch seine halbjährlichen Reisen zur Messe nach Leipzig, wo er Briefe und andere Aufträge weitergeben konnte.33 Zwei Autoren des 18. Jahrhunderts, der Vergangenheitsforscher Friedrich Konrad Gadebusch (1719–1788) und der Gegenwartsforscher Wilhelm August Hupel (1737–1819), spiegeln auch in ihren Briefen die Dimensionen der Öffentlichkeit. Anzeigen, Referate und Rezensionen von Dokumenten und Büchern, Personalnachrichten von Akademikern, Veränderungen der Bildungsinstitutionen – das sind die Themen, die ebenso in den ‚Gelehrten Zeitungen‘ der Aufklärung verfolgt wurden.34 Als Büchersammler interessiert sich Gadebusch immer wieder für Bücherauktionen und gibt Besorgungen in Auftrag, daneben natürlich für alle Arten von ‚gelehrten Neuigkeiten‘ bis hin zum Klatsch. Als Historiograph der livländischen Vergangenheit und Gegenwart holt er Nachrichten über Personen und Dokumente ein. In der Zahl der 250 Korrespondenzpartner überwiegen diejenigen aus den Ostseeprovinzen und aus dem Russischen Reich; der wichtigste Ort war Riga (431 Briefe), gefolgt von St. Petersburg (200 Briefe).35 Die entsprechenden Veröffentlichungen verlegte Johann Friedrich 32 Vgl. Heinrich Bosse: ‚Lose Öffentlichkeiten‘ im 18. Jahrhundert. Verknüpfungen und Verdichtungen. In: Martin Klöker (Hg.): Literarischer Wandel in der Geschichte der baltischen Literaturen. Münster [im Erscheinen]. 33 Eine moderne Biographie des älteren Hartknoch fehlt bitter. Vorarbeiten dazu sammelt jedoch seit Längerem schon Claudia Taszus (Jena), die auch eine biographische Skizze publiziert hat. Vgl. dies.: Erste Notate zu Hartknoch. In: Axel Schnell: Wolff. Der Kampf um Atlantis. Riga 2004, S. 193−212; vor allem vgl. Claudia Taszus: Die Fürstlich privilegierte Hofbuchdruckerei Rudolstadt (1772−1824). Ihre Beziehung zum Verlag Johann Friedrich Hartknoch d.  J. und ihre Stellung im literarischen Deutschland. 2. Bde. Eutin 2011, Bd. 1, S. 219–243. 34 Vgl. Thomas Habel: Gelehrte Journale und Zeitungen der Aufklärung. Zur Entstehung, Entwicklung und Erschließung deutschsprachiger Rezensionszeitschriften des 18. Jahrhunderts. Bremen 2007. 35 Vgl. Christina Kupffer: Geschichte als Gedächtnis. Der livländische Historiker und Jurist Friedrich Konrad Gadebusch (1719–1788). Köln, Weimar u. Wien 2004, S. 369–373. Die ‚Briefsammlung Gadebusch‘). Eine Auszählung des ersten Bandes der fünfbändigen Sammlung ergibt von 250 Briefen an Gadebusch (1756–1770): 140 Briefe aus den baltischen Provinzen, 95 aus St. Petersburg und Moskau, 12 aus Deutschland, je 1 Brief aus Schweden und Schottland.

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Hartknoch in Riga: Abhandlung von livländischen Geschichtsschreibern (1772), das Autorenverzeichnis der Livländischen Bibliothek (1777), die Livländischen Jahrbücher in neun Bänden (1780–1783).36 Auch August Wilhelm Hupel ließ seine Publikationen von Hartknoch verlegen.37 Seine Autorschaft beruht gleichfalls auf einer ausgedehnten Korrespondenz, die allerdings nur teilweise dokumentiert ist. Für die Zustandsberichte der Topographischen Nachrichten von Lief- und Ehstland (1774–1783) ebenso wie für die Zeitschriftenbeiträge der Nordischen bzw. Neuen Nordischen Miscellaneen (1781–1791; 1792–1798) war Hupel auf verlässliche Nachrichten aus den Ostseeprovinzen angewiesen. Hupel bot dem Verleger Friedrich Nicolai an, für dessen Allgemeine deutsche Bibliothek unentgeltlich philosophische und moralische Bücher zu rezensieren, speziell auch solche, die in St. Petersburg oder Riga erschienen waren. Um das teure Porto zu sparen, gingen die Buchexemplare wie die Rezensionen über Hartknoch an den Verleger Nicolai; 84 Briefe Hupels befinden sich in dessen Nachlass, 18 davon sind bisher publiziert.38 Hupel war nicht der einzige Rezensent aus den baltischen Gebieten, auch Johann Jacob Ferber (1743–1790), Professor für Physik und Naturgeschichte in Mitau (Jelgava), arbeitete für und korrespondierte mit Nicolai.39 Wenn man die Allgemeine Deutsche Bibliothek (1765–1796) als „Integrationsmedium der Gelehrtenrepublik“ bezeichnet hat,40 so haben auch die Briefe aus und nach Kurland, Livland und Estland daran Anteil. Einen wesentlichen Bestandteil dieser Briefe machen persönliche Empfehlungen aus. Namentlich Reisende baten sich immer wieder Empfehlungsbriefe aus, damit sie an ihren Zielorten persönliche Kontakte knüpfen konnten. Vor allem aber war der Stellenmarkt für Akademiker durchdrungen von Empfehlungsbriefen. Man durfte sich nicht direkt bewerben, allenfalls über Mittelsmänner, sondern musste warten, bis eine Berufung erging. In diesem System, letztlich eines der Patronage, vertraten Empfehlungsbriefe die Rolle der heutigen Zeugnisse. Die Gründung der Academia Petrina in Mitau (1775) gab Anlass zu intensiver brieflicher Stellenvermittlung, ebenso und geradezu spektakulär die Besetzung des Rektorats an der Rigaer Domschule um 1780.41 Rektor Gottlieb Schlegel trat im Juni 1779 zurück, behielt sich 36 Zur Zusammenarbeit mit Hartknoch, der das Honorar für die Jahrbücher im Hinblick auf den zu erwartenden Absatz am liebsten gespart hätte, vgl. Kupffer: Gadebusch (= Anm. 35), S. 80f. 37 Hupels Briefe an Hartknoch befinden sich in der Sammlung der Latvijas Akadēmiskā Bibliotēka (Akademischen Bibliothek Lettlands; Signatur: Ms. 828), der Nachlass ist allerdings zerstreut. Vgl. die Quellenübersicht im grundlegenden Werk von Indrek Jürjo: Aufklärung im Baltikum. Leben und Werk des livländischen Gelehrten August Wilhelm Hupel (1737–1819). Köln, Weimar u. Wien 2006, besonders S. 19f. 38 Ebd., S. 247–253. Vgl. auch Annelies Graßhoff: Der Berliner Aufklärer Friedrich Nicolai und sein livländischer Rezensent der ‚Allgemeinen deutschen Bibliothek‘ August Wilhelm Hupel. A. W. Hupels Briefe an F. Nicolai 1773–1792. In: Zeitschrift für Slawistik 32 (1987), S. 489–509. 39 Vgl. Johann Jacob Ferber: Briefe an Friedrich Nicolai aus Mitau und St. Petersburg. Hg. v. Heinz Ischreyt. Herford u. Berlin 1974. 40 Ute Schneider: Friedrich Nicolais Allgemeine Deutsche Bibliothek als Integrationsmedium der Gelehrtenrepublik. Wiesbaden 1995. 41 Das Hin und Her hat Arend Buchholtz seinerzeit vor allem auf Grund der ‚Briefsammlung Ga-

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aber das Inspektorat vor und damit einen nicht unwesentlichen Teil der Besoldung. Das machte die Suche nach einem Nachfolger nicht einfacher. Der Rat hatte die Stelle zu besetzen, in seinem Auftrag korrespondierte der Ratsherr Johann Christoph Berens mit Herder, der einen Vorschlag machte, während auch Schlegel von sich aus einen Anwärter präsentierte. Als beider Kandidaten abgesagt hatten, kam Johann Heinrich Voss ins Gespräch, über den Herder aber zunächst erst bei Matthias Claudius und dem Altphilologen Heyne Erkundigungen einzog. Inzwischen präsentierte der Generalsuperintendent David Lenz seinen Sohn, den geistig zerrütteten Dichter Jacob Lenz, und zwang den Unglücklichen, Herder um einen Empfehlungsbrief zu bitten. Herder lehnte ab, obwohl Hartknoch seinerseits für den jungen Lenz plädiert hatte, nicht zuletzt weil der Verleger ihn als Autor ins Auge fasste: „In der That ists grausam, daß wir nach allen Gegenden um geschickte Leute schreiben und werben, indessen Landeskinder, die etwas gelernt haben, zu Hause unversorgt bleiben. [...] Ich weiß nicht, ob es nicht gut wäre, wenn Du in Deinem Briefe unvermerkt den Vorurtheilen, die man von Lenzens Jugend und Unerfahrenheit und von seiner ehemaligen Krankheit oder seinen Schriftchen hernehmen könnte, begegnetest.“42 Zwei weitere Vorschläge Herders führen ebenfalls zu nichts, bis schließlich der wiederum von Herder benannte Magister Snell aus Gießen im Frühjahr 1780 annimmt und nach zwei Jahren Vakanz das Rektorat antritt. Wenn Personalia einen wichtigen Teil des Briefverkehrs in der gelehrten Republik ausmachen, so ist es erklärlich, dass auch Familienereignisse wie Geburt, Hochzeit und Tod in die Korrespondenz einfließen und Empfindungsäußerungen hervorrufen können. Privatkorrespondenz und Geschäftskorrespondenz, der private Duktus und der ‚literarische‘ überlagern sich, ja schwellen den Briefwechsel geradezu auf bei dem Todesfall des jungen David Gottlob Hartmann (1752–1775), der mit 22 Jahren und nach einigen Veröffentlichungen Professor in Mitau geworden war, aber schon ein Jahr später am 5.  November 1775 starb. Sein Tod setzte den Herzogshof, die Academia Petrina und Privatpersonen in Bewegung.43 Dem Vater Israel Hartmann, Lehrer des Waisenhauses in Ludwigsburg, kondolierte Herzog Peter Biron, indem er zugleich 200 Dukaten übersandte; als Antwort auf den Dank des Vaters spendete die Herzogin ihrerseits 100 Dukaten für Hartmanns Schwestern. Ferner bezeugten ihr Beileid der leitende Minister (von) Raison, der Mathematikprofessor Beitler, die Stiefmutter Elisas und Elisa von der Recke selbst. Rascher als diese Briefe war eine debusch‘ nachzeichnen können. Vgl. Arend Buchholtz: Johann Heinrich Voss und Jakob Michael Reinhold Lenz auf der Wahl zum Rector der Rigaschen Domschule. In: Sitzungsberichte der Gesellschaft für Geschichte und Altertumskunde der Ostseeprovinzen Rußlands aus dem Jahre 1888. Riga 1889, S. 25–40. 42 Hartknoch an Herder, den 23. Okober 1779. Aus Herders Nachlaß. Ungedruckte Briefe von Herder und dessen Gattin [...]. Hg. v. Heinrich Düntzer u. Ferdinand Gottfried von Herder. Bd. I: Goethe, Schiller, Klopstock, Lenz, Jean Paul, Claudius. Frankfurt a. M. 1857, S. 222f. 43 Im Folgenden beziehe ich mich, ohne Seitenverweise im Einzelnen, auf die Edition: Elisa von der Recke: Briefe an Israel Hartmann. Hg. v. Irmtraud-Jo u. Georg Himmelheber. München 2000. Zu den Briefen der Herzogin vgl. Kurzemes hercogienes Dorotejas vēstules / Briefe der Herzogin Dorothea von Kurland. Hg. v. Valda Kvaskova (Vēstures Avoti II / Historische Quellen II). Riga 1999.

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Nachricht an die Frankfurter Gelehrten Anzeigen, die am 8. Dezember Hartmanns Tod anzeigten, zusammen mit einem Handbillet des Herzogs, das 50 Dukaten zum Begräbnis versprach. Aus diesen spontanen Anfängen entwickelte sich ein nachhaltiger Briefwechsel, zunächst Elisas mit Hartmanns Vater, dann aber auch mit weiteren Personen. Auf Seiten des Absenders wurde Elisas Bruder Johann Friedrich von Medem, auf Seiten des Empfängers der junge Bruder Immanuel Israel (* 1772) in die Korrespondenz mit einbezogen. Die Briefe werden innerhalb der Familie vorgelesen, strahlen aber auch auf Hartmanns Freunde aus, soweit sie Elisa aus Briefen an Hartmann bekannt waren. Sie schließt den Brief vom 16. Februar 1776 mit den Worten „Ich bin ganz die Freundin der Eltern, der Geschwister und der Freunde meines Freundes“. Sind dies zunächst zwei Autoren aus der schwäbischen Umgebung, so erweitert sich der Kreis der zu Grüßenden auf zahlreiche weitere Mitglieder der gelehrten Republik. Auf Bitten Hartmanns hatte Johann Kaspar Lavater auch Elisa von der Recke durch Brief und Briefwechsel beglückt. An ihn lässt Elisa durch Israel Hartmann, gleichsam als Relais, Briefe gehen, die Hartmanns Vater manchmal auch lesen darf, manchmal nicht, dazu wiederholt zahlreiche Silhouetten für Lavaters Physiognomische Fragmente (1775ff.). Doch auch die Hartmanns schicken ihre Silhouetten an Elisa, so dass die Briefe immer wieder regelrechte Sendungen transportieren, Scherenschnitte, Geld, andere Briefe zur Weiterbeförderung. Dabei nehmen im Lauf der Zeit die geäußerten Empfindungen ab und praktische Themen zu. So versucht Elisa, einem Verwandten der Hartmanns eine Anstellung in Kurland zu vermitteln, freilich ergebnislos, oder sie erkundigt sich nach ,gelehrten Nachrichten‘, zu denen auch gehört, was man über Goethe und den Herzog von Weimar sagt. Sie ist besorgt um die Veröffentlichung von Hartmanns Nachlass, und als er schließlich publiziert wird, kritisiert sie energisch die schwache Edition. So schlagen die Briefe einen Bogen zurück in die große Öffentlichkeit der gedruckten und verkauften Äußerungen. Und so arbeiten auch die um einen Briefwechsel, wie hier, versammelten Standesangehörigen für eine Öffentlichkeit, die des Briefeschreibens bedarf, um zu funktionieren. Die Öffentlichkeit ist, janusköpfig, Markt und Kommunikation zugleich, denn die Medien des Wissens oder der Unterhaltung sollen Gewinn erwirtschaften. Das Bedürfnis nach Kommunikation übersteigt aber alles, was der Buch- und Zeitschriftenmarkt vermitteln kann. Es bildet eigentlich die Matrix der Öffentlichkeit. In dem historischen Moment, wo die Aufklärung aus allen Kräften die Öffentlichkeit erweitert, bezieht sie auch die Unstudierten in die Zirkulation des Wissens ein. Jenseits der kapitalgetriebenen Medien des Wissens existiert das postalisch oder persönlich vermittelte Medium des Briefes weiter und expandiert gleichfalls. Zu den Führungsschichten der deutschen Adligen und Akademiker, zu den deutschen städtischen Kaufleuten und Handwerkern werden nunmehr auch die Leute vom Lande als Briefschreiber hinzutreten. Sicherlich mehr, als es die Archive vorweisen können, ergreifen Letten und Esten die Feder, um zu schreiben.

Aiga Šemeta

Rigaer Moralische Wochenschriften kurz vor der Etablierung einer lokalen Öffentlichkeit in Livland Dass die Moralischen Wochenschriften1 nicht nur die Botschafterinnen der Tugend waren, sondern auch der Aufklärung, vorgetragen durch eine aufsteigende bildungsbürgerliche Schicht, wissen wir spätestens, seit Wolfgang Martens 1968 seine umfassende Studie2 dazu veröffentlicht und die Gattung aus ihrer scheinbaren Unbedeutsamkeit in ein Medium der Aufklärung erhoben hat. Ebenso wissen wir, dass die Gattung ihren eigentlichen Ursprung in den ‚Spectators‘ des frühen 18.  Jahrhunderts in England hat.3 Bald darauf folgten die ersten deutschen Wochenschriften, die wiederum Nachahmer in vielen europäischen Städten fanden, die durch ihre Handels- oder universitäre Infrastruktur miteinander verbunden waren und die Migration der neuen Kommunikationsmittel ermöglichten. Auf diesem Wege gelangten sie auch in die größte Stadt Livlands, nach Riga, die für die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts zwei unterschiedliche Titel vorzuweisen hat:4 Die Vernünftige Einsamkeit und Der ruhige Bemercker menschlicher Handlungen. Auf diese beiden Rigaer moralischen Ausgaben möchte ich im Folgenden mein Augenmerk lenken und dabei versuchen, deren mediale Bedeutung für die Anfänge einer durch Periodika begründeten Öffentlichkeit im Baltikum zu erschließen. Die Moralischen Wochenschriften markieren den Beginn einer periodischen Presse im Baltikum, die letzte eingehendere Veröffentlichung zu Rigaer moralischen Schriften stammt aber aus den 1920er

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In diesem Aufsatz wird der Gattungsbegriff ‚Moralische Wochenschriften‘ verwendet, selbst wenn die entsprechenden Periodika nicht wöchentlich erschienen. Vgl. Wolfgang Martens: Die Botschaft der Tugend. Die Aufklärung im Spiegel der deutschen Moralischen Wochenschriften. Stuttgart 1968. Für eine aktuelle und übersichtliche Beschreibung der Gattung, ihre Einordnung im Kontext der englischen Vorbilder sowie die Verbreitung in Europa vgl. Klaus-Dieter Ertler: Moralische Wochenschriften. In: Europäische Geschichte Online (EGO). Hg. v. Institut für Europäische Geschichte (IEG). Mainz 2012-01-30. URL: http://www.ieg-ego.eu/ertlerk-2012-de [20.07.2021]. An der Universität Graz unterhält Ertler auch eine Datenbank zu den Moralischen Wochenschriften in Europa: Moralische Wochenschriften – Die Spectators im internationalen Kontext. Datenbank (www. gewi-uni.graz/cocoon/mws). Insgesamt soll es drei Moralische Wochenschriften im Baltikum gegeben haben. Die dritte, hier nicht behandelte mit dem Titel Die vernünftigen curländischen Beurtheilerinnen menschlicher Handlungen wurde laut Karl Goedekes Grundriß zur Geschichte der deutschen Dichtung aus den Quellen (Bd.  XV, hg. v. Herbert Jacob. Berlin 1964, S.  23) 1743 in Mitau (Jelgava) herausgegeben, ist aber verschollen. – Vgl. Endel Annus (Hg.): Eestis ilmunud saksa-, vene- ja muukeelne perioodika 1675−1940 = Deutsch-, russisch- und anderssprachige periodische Schriften in Estland 1675−1940. Tallinn 1993 (Estnische retrospektive Nationalbibliographie, Teil V), S. 259, und Indrek Jürjo: Aufklärung im Baltikum. Leben und Werk des livländischen Gelehrten August Wilhelm Hupel (1737−1819). Köln, Weimar u. Wien 2006 (Quellen und Studien zur baltischen Geschichte 19), S. 23.

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Jahren.5 Daher soll mit diesem Aufsatz eine dem aktuellen Forschungsdiskurs angepasste literatur- und kulturhistorische Einordnung der beiden Ausgaben in die baltische Mediengeschichte erfolgen, wobei diese in der Zahl (und nur angeblich auch im Geiste) kleine Gattung die ‚Hauptrolle‘ spielen darf.

1. Riga in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts: Soziales, kulturelles und geselliges Leben Die hier behandelten moralischen Blätter erscheinen beide ca. 20 bzw. 30 Jahre nach dem Ende des Großen Nordischen Krieges und fallen, um mit Julius Eckardt zu sprechen, in den „literarisch ärmsten und unfruchtbarsten [Abschnitt]“6 der livländischen Geschichte. Allgemein erlebt in dieser Zeit die Gattung ihren quantitativen Höhepunkt, jedoch nicht unbedingt ihren qualitativen. Man kann zu Recht behaupten, dass die moralischen Schriften die ersten Periodika in Riga sind, die sich einer gelehrten bürgerlichen Initiative verdanken. Die allerersten Periodika, das heißt die politische Zeitung Rigische Novellen7 (1680−1710) und deren Pendants in Estland,8 wurden, obgleich ursprünglich als lokale Stadtzeitungen intendiert, durch die schwedische Regierung vor dem Hintergrund des Nordischen Krieges schließlich mit dem Zweck herausgegeben, den Informationsfluss in der Stadt zu steuern. Dadurch wirk-

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Abgesehen von einer Erwähnung in Jürjos Monographie: Aufklärung im Baltikum (= Anm. 4) bzw. im einführenden Kapitel zur Medienlandschaft „Übersicht über das baltische Zeitschriftenwesen im 18. Jahrhundert“ (S. 182−199), insbesondere S. 182f., wo ebenso auf den Aufsatz von Hilda Reinharde hingewiesen wird: Astoņpadsmitā gadusimteņa Rīgas moraliskie laikraksti [Rigaer Moralische Zeitschriften im 18. Jahrhundert]. In: Izglītības Ministrijas Menešraksts [Wochenschrift des Bildungsministeriums] 3 (1924), S. 262−270, 4, S. 400−409. – Auch die Verfasserin hat schon gelegentlich einen Blick auf die Moralischen Wochenschriften geworfen, etwa in einem Überblick über die Entstehung der Öffentlichkeit im estnischen Handbuch zu baltischen Schriftkulturen: Moraaliajakirjad [Moralische Wochenschriften]. In: Liina Lukas (Hg.): Balti krijakultuuri ajalugu I [Geschichte der baltischen literarischen Kultur]. Tartu 2021, S. 156f. Aber auch zum Einfluss der Gattung ‚Moralische Wochenschriften‘ in späteren Entwicklungen der baltischen Öffentlichkeit: Aiga Šemeta: Voices and Echoes of the Economic “Spectators” in the Baltic Periodicals in the Second Half of the Eighteenth Century. In: Klaus-Dieter Ertler, Samuel Baurdry u. Yvonne Völkl (Hg.): Discourses on Economy in the Spectators. Hamburg 2018. S. 91–115 sowie dies.: The Spectatorial Press from Riga. In: Misia Sophia Doms (Hg.): Spectator-Type Periodicals in International Perspective. Enlightened Moral Journalism in Europe and North America (Studies in the History of European Periodicals I). Berlin 2020. S. 355–368. Julius Eckardt: Livland im achtzehnten Jahrhundert. Umrisse zu einer livländischen Geschichte. Bis zum Jahre 1766. Bd. 1. Leipzig 1876, S. 344. Hauptsächlich wird auf dieses Werk von Eckardt verwiesen, um das gesellige und soziale Leben in der Stadt in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts darzustellen. Rigische Novellen, Riga, 1680−1710. Genauer vgl. Annus: Deutsch-, russisch- und anderssprachige periodische Schriften in Estland (wie Anm. 4), S. 228. Annus: Deutsch-, russisch- und anderssprachige periodische Schriften in Estland (wie  Anm.  4) führt folgende estländische Ausgaben auf (die Seitenzahl bezieht sich auf die Angabe bei Annus): Ordinari Freytags (Donnerstags) Post-Zeitung. Reval 1675−1678, S. 179; Revalsche Post-Zeitung. Reval 1689−1710, S. 196; Narvische Post-Zeitungen. Narva 1701f., S. 161.

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ten sie sich in Bezug auf die städtische und lokale Öffentlichkeit nicht fördernd und ausbauend, sondern restriktiv aus; die ausländischen Zeitungen, die vorher in der Stadt gelesen worden waren, wurden in der Folge verboten.9 Die ‚Geburtsstunde‘ einer sich im Medium der Periodika etablierenden lokalen Öffentlichkeit lässt sich in Riga auf die Jahre 1739, als Die Vernünftige Einsamkeit erscheint, bis 1748−49, als Der ruhige Bemercker menschlicher Handlungen herausgegeben wird, datieren. In dieser Zeitspanne gibt es in Riga eine einzige Buchdruckerei, nämlich die des Stadtbuchdruckers Samuel Lorenz Frölich (1688–1762) – bei ihm werden auch die beiden moralischen Schriften gedruckt, und in dessen Buchhandlung werden sie verkauft.10 Die alte Domschule, die „den Mittelpunkt alles höheren geistigen Lebens der Stadt bildete“,11 und das Lyceum sind erneuert, ebenso die im 16. Jahrhundert gegründete Stadtbibliothek.12 Ab 1730 erlebt die Stadt eine zunehmende „Prosperität“,13 zugleich „befinden [sich] die für den niederen Bürgerstand bestimmten „Schreibschulen“ (drei an der Zahl) […] in einer wahrhaft kläglichen Verfassung“.14 Während der Ruhige Bemercker bereits in ‚helleren‘ Zeiten erscheint, in dem Sinne, dass 1744 in Riga der erste Versuch zu einer öffentlichen Straßenbeleuchtung gemacht wird, kann man sowohl über die 1730er wie 1740er Jahre behaupten, dass die Straßen eng und dunkel waren; es fehlte an Plätzen der städtischen Öffentlichkeit wie Parks oder Gärten,15 die Einwohnerzahl erreichte kaum 20.000,16 die wandernden Theatertruppen mussten vor dem Stadtwall in dürftigen Verhält-

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Vgl. Oskar Grosberg: Die Presse Lettlands. Mit einem geschichtlichen Rückblick. Riga 1927, S. 9; Arno Rafael Cederberg: Die Erstlinge der estländischen Zeitungsliteratur. In: Eesti Vabariigi Tartu Ülikooli. Toimetised. Acta et Commentationes. Universitatis Dorpatensis. B. Humaniora [Die Universität der Estnischen Republik Tartu. Schriften. Acta et Commentationes. Universitatis Dorpatensis. B. Humaniora]. Bd. 3. Tartu 1922, S. 3−16, hier S. 3, Arend Buchholtz: Geschichte der Buchdruckerkunst in Riga. 1588−1888. Festschrift der Buchdrucker Rigas zur Erinnerung an die vor 300 Jahren erfolgte Einführung der Buchdruckerkunst in Riga. Riga 1890, S. 165f. Vgl. den Eintrag bei Annus: Deutsch-, russisch- und anderssprachige periodische Schriften in Estland (= Anm. 4), S. 259 bzw. S. 235, aber auch die Mitteilungen in den Moralischen Wochenschriften selbst, etwa: „RIGA / zu finden im Frölichschen Buchladen“ (Vernünftige Einsamkeit, 1. St., S. [8]) bzw. „RIGA, in dem Fröhlichschen Buchladen“ (Der Ruhige Bemercker, 1. St., S. 7). Die Bezeichnung ,Buchhandlung‘ ist in diesem Zusammenhang mit Vorsicht zu genießen, denn eine ,wirkliche‘ Buchhandlung gab es in den Provinzen – und zunächst in Kurland – erst seit 1763, als Johann Friedrich Hartknoch (1740−1789) in Mitau seine Buchhandlung eröffnete. Vgl. Eckardt: Livland im 18. Jahrhundert (= Anm. 6), S. 448f. Ebd., S. 494. Vgl. ebd., S. 162. Ebd., S. 182. Ebd., S. 491. Vgl. hierzu auch die folgende Darstellung von Garlieb Merkel: „Die einzigen Luftorte für Spaziergänger waren zwei große Gärten, die Peter der Große am Ufer des Stromes pflanzen ließ, mit Kiesgängen, hohen geschorenen Lindenalleen, zwischen denen verschlossene Quartiergänge mit Obstbäumen standen und längs denen sich hier und dort breite, lange Gräben voll stehenden, stinkenden Schlammes hinzogen.“ Garlieb Merkel: Darstellungen und Charakteristiken aus meinem Leben. Bd. 1. Leipzig 1839, S. 51, zitiert nach: Eckardt: Livland im 18. Jahrhundert (= Anm. 6), S. 463. Eckardt: Livland im 18. Jahrhundert (= Anm. 6), S. 462.

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nissen hausen.17 Es scheint, dass die lokale Öffentlichkeit in der Tat nur in beiden Gilden, im Rathaus und in den Salons der wohlhabenden Bürger, existieren konnte. Laut Eckardt könne man sich das Rigaer soziale und gesellige ‚Gemeinwesen‘ wie folgt vorstellen: Der äußere Zuschnitt, den das damalige gesellige Leben trug, war ein höchst bescheidener. Alle Arten öffentlicher Vergnügungen waren unbekannt; von der Theilnahme an den Produktionen der wandernden Schauspieltruppen, die sich gelegentlich an die Düne verirrten, erschienen Leute, die auf ihre Stellung hielten, ausgeschlossen, Konzerte und öffentliche Bälle kamen höchstens bei so außerordentlichen Gelegenheiten vor, wie der Besuch der Kaiserin Katharina eine war. Für die Frauen gab es keine andere Geselligkeit als die häusliche, bei Familienfesten Tanz und reichbesetzte Tafel, im Uebrigen Kaffeeklatsch oder eine Parthie ‚Brusbart, Mariage oder Polnischen Pachter‘, – Männer suchten Vormittags ein Kaffeehaus, Abends das Weinhaus auf.18

Der einzige Schauplatz der Öffentlichkeit, der nicht auf ständischer Zugehörigkeit, persönlicher Einladung oder gesellschaftlichem Status basierte, scheint die Kirche gewesen zu sein.19 Die Moralischen Wochenschriften vermögen, die einzelnen Schichten der Rigaer Bürger auf eine neue Art zusammenzuführen: Denn ein lokales Periodikum lädt – ähnlich wie die Kirche – einen jeden zur Teilnahme an einer Öffentlichkeit ein, die idealerweise standesneutral sowie unabhängig von den persönlichen Beziehungen oder dem gesellschaftlichen Status ist, der sonst in Riga eine erhebliche Rolle spielte. Außerhalb der Salons, der Gilden und auch der Kirche entsteht nun eine lokale Öffentlichkeit der Lesenden und Schreibenden.

2. Zu den Verfassern Beide Herausgeber der Rigaer Moralischen Wochenschriften haben diese der Tradition entsprechend anonym veröffentlicht. Während die Identität des Herausgebers von Der ruhige Bemercker menschlicher Handlungen bekannt ist, ist der Verfasser von Die vernünftige Einsamkeit unbekannt geblieben. Allerdings lässt sich annehmen, dass dieser ein livländischer Hofmeister gewesen ist; denn er stellt sich als ein solcher vor und schreibt viel über die Erziehung der Jugend. Außerdem ist er ein Mann bürgerlicher20 17 Vgl. ebd., S. 462f. 18 Vgl. ebd., S. 503. 19 Für einen zeitgenössischen Überblick vgl. Melchior von Wiedow: Beschreibung der Stadt Riga, nach ihrem jetzigen Zustande. In: Gerhard Friedrich Müller (Hg.): Sammlung Russischer Geschichte des Herrn Collegienraths Müllers in Moscow: in einer mehr natürlichen Ordnung vorgetragen als in der ersten Herausgabe geschehen konnte. Offenbach a. Main 1777. T.  1, S. 139−171. 20 Der Verfasser der Wochenschrift Die vernünftige Einsamkeit war stadtrechtlich gesehen offensichtlich kein Bürger, aber sicher ein Literat. Auch wenn grundsätzlich Heinrich Bosses Auffassung zu folgen ist, dass die Öffentlichkeit von den Gelehrten und nicht in erster Linie von Bürgern gestaltet wurde (vgl. insbesondere bezüglich der baltischen Verhältnisse ders.: Die Einkünfte kurländischer Literaten am Ende des 18. Jahrhunderts. In: Zeitschrift für Ostforschung 35 (1986), H. 4, S. 516−594, insbesondere S. 519−534), scheint mir der Begriff des ‚Bürgerlichen‘ doch angebracht, um die Rigaer Öffentlichkeit nicht nur von Seiten der Akteure, sondern auch der Zielkonsumenten

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Herkunft, der offensichtlich studiert hat, am Anfang seiner beruflichen Laufbahn steht und, insofern wir annehmen, dass sich die Erzählerfigur biographisch mit dem Autor überschneidet, ein Ausländer bzw. Einwanderer. Im Falle von Der ruhige Bemercker menschlicher Handlungen ist der Verfasser identifiziert: Es handelt sich um den jungen Adligen Erich Johann von Meck (1727−1771),21 der zu jener Zeit in einem bürgerlichen Amt als Notar bei der livländischen Ritterschaft stand. Auch er ist jung – erst 22 Jahre alt –, frisch nach dem Studium in Riga eingetroffen, als er 1749 seine Moralische Wochenschrift herausgibt. Somit verkörpern beide Verfasser nicht nur einen typischen Autor ‚moralischer Blätter‘ der Zeit – männlich, jung, studiert, in ein bürgerliches Amt oder einen bürgerlichen Beruf einsteigend –, sondern auch einen typischen Akteur der entstehenden Öffentlichkeit im damaligen Baltikum – studiert, eingewandert oder aus dem Studium im Ausland zurückgekehrt, bürgerlich, wenn nicht vom Stand, dann im Geist. Aufgrund der noch ungenügend etablierten Kommunikationsverhältnisse hinsichtlich der Verbreitung gedruckter Schriften verkörperten solche von der Aufklärung im Ausland ‚angesteckte‘ Propheten bereits als einzelne Persönlichkeiten die ‚Medien der Aufklärung‘ – auf den Gutshöfen als Hofmeister, in den Kirchspielen als Pfarrer und Ärzte, in den Städten als Juristen und Lehrer.22 Nicht wenige von ihnen werden auch publizistisch oder schriftstellerisch aktiv – wie in diesem Fall der anonyme Hofmeister und der junge Adlige von Meck. Obgleich die Verfasser der beiden Moralizu erfassen. Obgleich durch Gelehrte vorgebracht, wurde die kritische Publikumsmasse der Medien der Aufklärung wie Moralische Wochenschriften und sonstige Alltagsperiodika vor allem von Bürgern in den Städten – etwa von Kaufleuten – gestellt. Die Leser der Zeitungen und Zeitschriften, darunter auch Moralischen Wochenschriften, mussten keine literati sein, wichtig war der Zugang zur Öffentlichkeit, der überwiegend in der Stadt für die Stadt und deren Bewohner entstand, in diesem Sinne also ‚bürgerlich‘ war. Der Bürger, selbst wenn er die Moralischen Wochenschriften nicht gelesen hat, war im Idealfall dennoch deren ‚impliziter Leser‘ (im Sinne von Iser). Hier und nachfolgend wird deshalb der Begriff ‚bürgerlich‘ im breiteren Sinne laut Wehler verstanden und verwendet: „Diese Aufsteigerschicht, die außerhalb der altständischen Sozialordnung emporkam, wurde von Verwaltungsbeamten und Theologen, Professoren und Hauslehrern, Gelehrten und Hofmeistern, Syndici und Magistratsjuristen, Richtern und Landschaftskonsulenten, Anwälten und Notaren, Ärzten und Apothekern, Ingenieuren und Domänenpächtern, Schriftstellern und Journalisten, Offizieren und Leitern staatlicher Betriebe, nicht zuletzt aber auch von jenen Unternehmern gebildet, die Verlage und Manufakturen, Protofabriken und Banken betrieben. Von diesen Abertausenden von neuen Bürgerlichen, die ihre Existenz den verschiedenen Evolutionsprozessen der neuzeitlichen Gesellschaft und ihrer Institutionen verdankten, lebte zwar der größere Teil in Städten gleich welchen Typs, nicht wenige aber auch auf dem Lande: wie etwa der Geistliche in der Dorfgemeinde, der Ingenieur im Bergrevier, der Amtmann auf dem Gut, der Hofmeister im Schloß, der Manufakturier neben seinem Betrieb. Weder stammten sie allein von Stadtbürgern ab, noch wurden sie von diesen sogleich durch Konnubium und gesellschaftlichen Verkehr absorbiert.“ Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Bd. 1: Vom Feudalismus des Alten Reiches bis zur Defensiven Modernisierung der Reformära 1700−1815. München 1985, S. 204. 21 Zu den biographischen Angaben über Meck vgl. Johann Friedrich von Recke u. Karl Eduard Napiersky (Hg.): Allgemeines Schriftsteller- und Gelehrten-Lexikon der Provinzen Livland, Esthland und Kurland. Bd. 3: L−R. Mitau 1831. S. 175f. 22 Die Anzahl der eingewanderten Gelehrten alias ‚Medien der Aufklärung‘ nahm aber erst in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts wesentlich zu. Vgl. Eckardt: Livland im 18. Jahrhundert (= Anm. 6), S. 414. Zu eingewanderten Literaten im Baltikum vgl. insbesondere Wilhelm Lenz: Der baltische Literatenstand. Marburg/Lahn 1953 sowie Bosse: Die Einkünfte kurländischer Literaten (= Anm. 20).

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schen Wochenschriften rechtlich gesehen keine eigentlichen Bürger Rigas waren, wurden sie dennoch zu deren Sprachrohr. Welche Beziehung hat der Verfasser Moralischer Wochenschriften mit seinem Selbstverständnis als moralischer Sittenlehrer zur Religion, der die eigentliche Gewalt über Sitten und Moral zugesprochen wurde? Auch die Rigaer moralischen Blätter behandeln diesen für das Medium zentralen Punkt. Dabei fällt die Häufigkeit ins Auge, mit der die ,Alten‘ bzw. die antiken, ,heidnischen‘ Denker erwähnt werden. Angesichts des allgemeinen Vorwurfs der Zeit an die Moralischen Wochenschriften,23 dass sie die Position der Kirche zu übernehmen versuchen, stützte man sich anstelle der moralischen Autorität der Bibel alternativ auf die säkulare Moral der Antike, der Humanisten und der Renaissance. In diesem Sinne handelt auch Der ruhige Bemercker menschlicher Handlungen. Der anonyme Hofmeister der Vernünftigen Einsamkeit scheut sich aber nicht, auch religiöse Aspekte mit aufzunehmen. Öfter sind die einleitenden Epigramme oder Gedichte von renommierten Theologen des ausgehenden 17. und des beginnenden 18. Jahrhunderts24 verfasst, und von sich selbst behauptet er, dass er seine Schrift „nach der Vorschrift des göttlichen Worts / und gebesserten Vernunfft / aufgesetzt“25 habe. Angesichts dessen wäre es nicht auszuschließen, dass der ‚Hofmeister‘ ein Theologe ist. Andererseits grenzt er sich ausdrücklich von der livländischen Geistlichkeit ab, von der ihn deren gesellschaftlicher und finanzieller Status und ihre nur mäßige theologische Bildung unterscheidet: Es ist allerdings wahr, daß ich bey mir beschlossen, nichts vor Geistliche in diesen Blättern zu schreiben, und zwar aus folgenden Ursachen: 1. Hält mich das lieblose Urtheil vieler Geistlichen zurücke; Denn da sie selbst nichts schreiben können, so pflegen sie den andern, auf eine mehr als Jesuitische Art zu verfolgen und zu lästern. Ja, einige, von diesen Herren, sind so aufgeblasen, daß die Leute meines Standes vor ihre Diener halten, da sie doch öffters nöthig hätten, bey solchen Dienern in die Schule zu gehen, und die ersten Anfangs=Gründe der Gottes=Gelahrheit zu erlernen.26

Es folgen noch zwei weitere Gründe, durch die sich der anonyme Verfasser von der livländischen Geistlichkeit intellektuell und moralisch abgrenzt. Der Ruhige Bemercker menschlicher Handlungen, dessen Verfasser von Meck ein juristisches Studium durchlaufen hat, stützt sich dagegen fast ausschließlich auf das Erbe der ,Alten‘27 und geht auf seine Einstellung zu religiösen Inhalten nicht besonders stark ein. Von ‚Amtswegen‘ und aufgrund der allgemein herrschenden Ansicht, 23 Vgl. dazu Martens: Die Botschaft der Tugend (= Anm. 2), insbesondere den III. Teil: „Im Zeichen der Vernunft, Religion und Tugend: Die Weltanschauung der Moralischen Wochenschriften“, S. 168−284. 24 Erwähnung finden etwa Fabricius (I. St., 1739), der Theologe Hallbauer, Thomasius (II. St., 1739), Paul Gerhardt (III. St., 1739), Mazarinis Grundlehren (II St., 1739), Locks Buch von der Erziehung der Töchter (III. St., 1739), Brocke und sein Irdisches Vergnügen in Gott (III St., 1739), aber auch „die güldne Tafel des Cebes“ (IV. St., 1739), Gottsched (VI. St.), Horatius (VIII. St., 1740). 25 Vernünftige Einsamkeit (1739), I. St., August, unpag. 26 Vernünftige Einsamkeit (1740), VIII. St., S. [1]. 27 Die einleitenden Epigramme sind immer auf Lateinisch, etwa von Horaz (Der Ruhige Bemercker [1748], 1. St., S. 1).

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dass sich die Moralischen Wochenschriften auf ein Terrain begeben, das der Kanzel und der Geistlichkeit vorbehalten sei, muss jedoch auch seine Einstellung zur Religion zur Sprache kommen. Der Ruhige Bemercker behandelt das Thema unter anderem indirekt durch einen kritischen Leserbrief, dessen Verfasser sich dafür ausspricht, die Sittenlehre den geistlichen Rednern28 zu überlassen. Zugleich besteht er auf einer moralischen Lebensführung auch außerhalb der Kirche und des Gottesdienstes und weist somit implizit auf die Rolle der Moralischen Wochenschriften als einer Institution hin, die alltagsnahe, für die Kanzel möglicherweise zu banale, in moralischer Hinsicht indes dennoch relevante Inhalte behandelt. Dies geschieht in der Absicht, dem Publikum zum einen auf ironische Art und Weise vorzuwerfen, dass es außerhalb des kirchlichen Zusammenhangs nicht einsichtsfähig sei, und zum anderen die Inhalte der moralischen Schriften von den kirchlichen klar abzutrennen: Saget ja nicht: die Herrn Geistliche reden nur von den Haupt=Lastern und preisen nur die Haupt=Tugenden an. Sie berühren aber nicht die besondre Fehler und Zufälle, die sich im Bürgerlichen Leben eräussern, und deren Verbesserung unumgänglich nöthig ist. Ich antworte Euch: es würde sich freylich nicht schicken, wenn sich ein geistlicher Redner auf einer öffentlichen Kantzel gantz besonders in solche Dinge einlassen wolte, deren blosse Vorstellung ein Gelächter erwecken würde. Z.E. ein Prediger wolte die Fehler der Aufführung eines jungen Menschen, den der Hochmuth oder ein andrer Affect plagte, so eigentlich beschreiben, als sie an sich sind; so müsten Kleider, Strümpfe, Schue, und Schnallen, Paruqve, Hut, Stock und Degen, ja so gar die Schnupf=Tobacks=Dose auf der Cantzel beschrieben werden, und was noch mehr ist: es müste der geistliche Redner die Gebehrden, Minen, Complimenten und andre wunderliche Sachen dieses jungen Menschen nach der Länge erzehlen. Wer würde aber dieses alles mit ernsthaften Gesichte anhören können!29

An einer anderen Stelle grenzt er sich noch deutlicher von der Kirche ab und schreibt: „Ich rede hier insbesondere von der Welt=Weißheit. Die Gottes=Gelehrtheit ist mein Gegenstand gar nicht; zu dem lässet sich hierin auch nichts neues erfinden, ohne etwas strafwürdiges zu begehen.“30 Andererseits sucht er die Waage zwischen der ,Gottesweisheit‘ und der ,Weltweisheit‘ ins Gleichgewicht zu bringen: „Alle Menschen sind nicht von der Religion überzeugt. […] Solche können doch durch die Welt=Weißheit ihren Zweck in etwas erreichen. Ist es der Republic nicht gleich viel, ob ihre Bürger durch die Religion oder Welt=Weißheit ruhig werden?“31 Der Ruhige Bemercker setzt also viel auf die ,Weltweisheit‘ durch Gelehrsamkeit, er ist kosmopolitisch, nennt sich einen ‚Weltbürger‘ und ist aufklärerisch gestimmt, am liebsten sieht er sich in einer ‚Republic‘ – sei es in einer ‚Republic der Welt‘ oder in einer ‚Republic der Öffentlichkeit‘ – noch bevor Kant die Antwort auf die Frage ,Was ist Aufklärung‘ gegeben und diese unzertrennlich mit Öffentlichkeit verbunden hat, sieht der Verfasser dieser Moralischen Wochenschrift gerade in der Öffentlichkeit den Prüfstein seiner in einsamer Gelehrsamkeit gewonnenen Gedanken und Ansichten: „So su28 29 30 31

Der Ruhige Bemercker (1748), 10. St., S. 76.

Der Ruhige Bemercker (1748), 10. St., S. 77. Ebd., 12. St. , S. 98. Ebd., 12. St., S. 104.

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che ich in Gesellschaften mich selbst erkennen zu lernen. Meine Aufmercksamkeit auf mich selbst und die tägliche Gesellschaft machet, daß ich in den vier Monathen, da ich mich in der Stadt aufhalte, meine Stärke und Schwäche ziemlich einsehen lerne.“32

3. Zu Form und Inhalt Das Format beider Moralischen Wochenschriften ist als gattungstypisch zu bezeichnen. Im leserfreundlichen und für die häusliche Lektüre praktischen Oktav gedruckt, erhalten die einzelnen Ausgaben jeweils acht Seiten. Sie sind vermutlich schon von vornherein für eine bestimmte Ausgabedauer bzw. für ein bis zwei Jahre konzipiert worden. Während die Vernünftige Einsamkeit einmal im Monat erscheint, wird der Ruhige Bemercker einmal pro Woche herausgegeben. Den Preis kennen wir nicht, aber die Auflagenhöhe kann nicht allzu hoch gewesen sein, denn das Publikum dürfte sich nur auf die Stadt Riga oder die nähere livländische Umgebung beschränkt haben. Keinesfalls haben die Moralischen Wochenschriften beabsichtigt, Aktuelles zu besprechen, und sie beanspruchten auch nicht, eine Novität zu sein. Beide Verfasser gehen ausdrücklich davon aus, dass es eher zu viele als zu wenige ‚moralische Sittenlehrer‘ gäbe. Da moralische Fragen jedoch an sich stets aktuell sind, konnten die Ausgaben gar nicht Gefahr laufen, an Aktualität zu verlieren, und wurden häufig noch Jahre nach ihrem Erscheinen gelesen:33 Das periodische Erscheinen und die spätere Verfügbarkeit in Form eines Bandes gehörten beide zum Programm der Moralischen Wochenschriften. Auf inhaltlicher Ebene wurden viele verschiedene Themen behandelt, die gerade aufgrund des universalen Anspruchs der Moralischen Wochenschriften nicht unbedingt auf eine lokale Identität oder Öffentlichkeit schließen lassen – im Ruhigen Bemercker ist etwa mehrfach die Rede von der ‚Republic der Welt‘, der ‚Republic der Gelehrten‘ oder einfach der ‚Republic‘, die stellvertretend für eine universelle ‚Öffentlichkeit‘ stehen. Dennoch erhält der Leser nur wenige Informationen über die baltischen Verhältnisse. Angesprochen werden unter anderem gesamtgesellschaftlich relevante Themen: Erziehung und Bildung, Gelehrsamkeit, Weltweisheit und Religion, Ehe und Heirat, Liebe und Leidenschaft, unterschiedliche ‚Laster‘, das wahre Glück, das Richtige und das Falsche etc. Gattungstreu werden hier unterschiedliche literarische Formen spielerisch ausprobiert – häufig findet man moralisch ironische 32 Ebd., 37. St., S. 300. 33 Hilda Reinharde nennt in ihrer Abhandlung drei prominente Erwähnungen des Ruhigen Bemerckers menschlicher Handlungen aus späterer Zeit – leider ohne genaue bibliographische Angaben, für deren Ermittlung für diesen Aufsatz die Zeit fehlte: Johann Gottfried Arnd schreibe 1752 vom guten Geschmack der Moralischen Wochenschrift und wünsche sich noch einen Jahrgang (in seinen Gedanken über den Anfang der schönen Wissenschaften in Lieffland. Riga 1752), Friedrich Conrad Gadebusch bedauere 1777 in der Livländischen Bibliothek, dass Meck den Ruhigen Bemercker noch vor seiner Ankunft in Liefland verfasst habe und deswegen die Wochenschrift nicht in seine Hände gelangt sei, 1824 werde in der Zeitschrift Rigasche Stadtblätter nach der Wochenschrift wie einer Rarität gesucht. Vgl. Reinharde: Astoņpadsmitā gadusimteņa Rīgas moraliskie laikraksti (= Anm. 5), S. 409.

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oder moralisch didaktische Abhandlungen, aber auch Briefe, Träume, Epigramme, Gedichte und kurze Geschichten, die einander abwechseln und die immer wiederkehrenden Inhalte auf stets andere Weise zu behandeln erlauben. Besonders ergiebig sind in dieser Hinsicht die Leserbriefe, von denen der Ruhige Bemercker sogar behauptet: „[E]in gantzer Haufen aufgeweckter, aber dabey wohl geschriebener Briefe [pflegen] täglich bey mir einzulaufen.“34 Im Ruhigen Bemercker erscheinen in der Tat auffällig viele – meistens fingierte – Leserbriefe, die über unterschiedliche Figuren Sittenfragen aus verschiedenen Perspektiven diskutieren. Was die Inhalte der Rigaer Moralischen Wochenschriften angeht, fällt eine thematische Lücke auf: Während in den deutschen Periodika, die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts im Baltikum erscheinen, sehr viel über den Stand der ‚Undeutschen‘35 zu lesen sein wird, finden sich in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts noch kaum Erwähnungen. Diese vertreten den im nachfolgend zitierten Gelegenheitsgedicht genannten ‚Nährstand‘  – die lettischen resp. estnischen leibeigenen Bauern. Das stimmt durchaus mit der Haltung im restlichen Europa überein  – 1739 bis 1748, als die beiden Moralischen Wochenschriften herausgegeben werden, wird weder das lettische Volk noch dessen Bedürfnis nach Aufklärung in der Öffentlichkeit thematisiert:36 Die Physiokraten haben den Schatzmeister im Bauern noch nicht erblickt, die Kameralisten ihre Leitfäden zum Wohlstand durch effizientere Landwirtschaft noch nicht erstellt, die Volksaufklärung hat noch nicht begonnen. Deswegen bleibt der Bauer, der hier nicht einmal als ‚undeutsch‘ identifiziert wird, auch wenn er in den städtischen Registern schon als ‚undeutsch‘ geführt wird, völlig identitätslos; er ist nur ein Statist. Andererseits spricht diese mediale ‚Identitätslosigkeit‘ auch dafür, dass in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, als die Aufhebung der Leibeigenschaft noch nicht verhandelt wurde,37 auch die klar definierte Hierarchisierung 34 Der Ruhige Bemercker [1748], 32. St., S. 264. 35 Zur Begriffserklärung für den baltischen Zusammenhang sei auf Hupels zeitgenössische Erläuterung verwiesen: „Ohne auf die verschiedenen Stände zu sehen, theilt man des Landes Einwohner in zwo Hauptklassen, in Deutsche und in Undeutsche. Unter den letzten versteht man alle Erbleute, oder mit einem Wort die Bauern. Wer nicht Bauer ist, heißt ein Deutscher, wenn er auch kein deutsches Wort sprechen kann, z.B. Russen, Engländer, u.d.d. Zu dieser Klasse gehören der Adel, die Gelehrten, Bürger, Amtleute, freygebohrne Bedienten, auch sogar Freygelassene, sobald sie ihre Kleidung mit der deutschen verwechseln.“ August Wilhelm Hupel: Topographische Nachrichten von Lief- und Ehstland. Bd. 1. Riga 1774, S. 140f. 36 Wie Rudolf Schenda schreibt, sei das Volk ab 1770 entdeckt worden, vgl. ders.: Volk ohne Buch. Studien zur Sozialgeschichte der populären Lesestoffe. Frankfurt a. Main 1970; eine umfassende Studie und ein Standardwerk zur Entdeckung und Bildung des gemeinen Mannes im deutschsprachigen Raum haben Reinhart Siegert und Holger Böning mit ihrem bibliographischen Handbuch zur Volksaufklärung vorgelegt, vgl. dies. (Hg.): Volksaufklärung. Bibliographisches Handbuch zur Popularisierung aufklärerischen Denkens im deutschen Sprachraum von den Anfängen bis 1850. 3 Bde. Stuttgart-Bad Cannstatt 1990−2016. 37 So etwa bei Julius Eckardt, der Garlieb Merkel in dieser Hinsicht Recht gibt: „Für die erste Hälfte und die Mitte des 18. Jahrhunderts gilt uneingeschränkt und bedingungslos, was Merkel, – ein sonst nicht allzu zuverlässiger Gewährsmann, – von seiner Zeit sagt: ‚In einem Punkte stimmten alle Glieder des Landadels, die Edelgesinnten und die Niedrigdenkenden, Gebildete und Ungebildete, Männer und Frauen überein, nämlich in der Ueberzeugung, daß die Völker, aus deren Elend ihr

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der Sprachen in Bildungs- und Bauernsprachen noch nicht vollzogen war. Diese Zäsur wird erst durch die Aufklärung deutlich,38 als man die sogenannten ,Undeutschen‘ für Zwecke auch außerhalb der Kirche in einer Schriftsprache zu bilden versuchte. Bezüglich der Sprache und des Sprechens empfiehlt der Sittenlehrer aus der Vernünftigen Einsamkeit den Töchtern des Lesers bzw. der Leserin, „nicht viel mit deinem Volcke und Mägden zu plaudern, davon hast du einen doppelten Nutzen, denn einmahl bleiben deine Geheimnüsse verschwiegen, indem Kinder gerne ausschwatzen was Eltern reden und verrichten.“39 Die deutsche adlige Tochter war in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts also in der Lage, mit dem ‚gemeinen Volk‘ problemlos zu sprechen, und die guten Mütter mussten rege aufpassen, um die Kinder vor „Schand=Liedern“ und „Schelt Worten und andre[n] Unarten“40 zu beschützen. Andererseits warnt der Sittenlehrer in seinem bürgerlichen Gestus, bei dem eine sittliche und intellektuelle Abgrenzung nach oben genauso wie nach unten charakteristisch war, vor der Liebe der Kinder zum Stand, den man später nicht nur in den Rigaer Registern, sondern in der breiteren Öffentlichkeit ‚undeutsch‘ nennen wird: Endlich so verhindre die allzu große Liebe, welche das Kind zu seiner Wärrterin träget. Die Erfahrung lehret, daß öffters die unverständige Jugend, solche Gattung von Leuten höher achtet, als ihre Eltern [...]. Ich sage nicht, daß es unrecht sey solche Leute, die uns erzogen, zu lieben; denn dergleichen Satz stritte wieder alle Pflichten der Danckbarkeit. Nur dieses ist mein Sinn, man müße in seiner Zuneigung ein vernünfftiges Maaß halten.41

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Wohlsein floß, daß die Letten und Esten völlig rechtlos seien‘.“ Eckardt: Livland im 18. Jahrhundert (= Anm. 6), S. 414. – Auch die schwedische Zeit hat in dieser Hinsicht keine weitergehenden Folgen abgesehen von der Güterreduktion hinterlassen. 1739 – das Jahr, in dem die Moralische Wochenschrift Die Vernünftige Einsamkeit erstmals erscheint – ist nicht nur in der baltischen Mediengeschichte ein wichtiges Jahr, sondern auch in der baltischen Geschichte der Leibeigenschaft, denn im selben Jahr erscheint das Gehorsamste Memorial bzw. die Denkschrift des Landrats von Rosen. In jenem Memorial, hier nach Eckardt wiedergegeben, sind auf „eine Frage des Justizkollegiums nach Rechten der livländischen Bauern“ folgende Behauptungen enthalten: „daß die Habe des Bauern als accessorium dem principali folgen‘, das heißt als unbeschränktes Eigenthum des Herrn angesehen werden müsse, ,daß die der Ritterschaft kompetirende Gewalt über ihrer Erbbauern Gut und Habe niemalen eingeschränkt gewesen‘, ‚daß die Ritterschaft das Recht habe, ihrer Erbbauern Gerechtigkeit [...] und Vermögen eigenes Gutdünken zu erhöhen, zu mindern und zu ändern, und daß auch für die Hauszucht keine eigentlichen Schranken gesetzet und definiret werden könnten‘.“ Es wird also sehr wohl über die Leibeigenschaft diskutiert – nicht aber in der bürgerlichen Öffentlichkeit und auch nicht über deren Aufhebung, sondern in der engen Öffentlichkeit der Ritterschaften und über deren Verschärfung. Eckardt: Livland im 18. Jahrhundert (= Anm. 6), S. 202. Das Original der Urkunde ist nicht erhalten geblieben, ein Nachdruck als Anlage 20: „Vom Sekretär des Livländischen Hofgerichts beglaubigte Abschrift der ‚Rosenschen Deklaration‘“. In: Juris Vīgrabs: Die Rosensche Deklaration vom Jahre 1739. Ein Beitrag zur Geschichte in Livland und Estland. Tartu 1937, S. 44*−47*. Selbst wenn sich etwa Johann Wischmann in seinem Der Unteutsche Opitz bereits 1679 theoretisch mit der Dichtung in lettischer Sprache befasst, spricht er keineswegs den geistigen und materiellen Wohlstand der Bauern an, wie es die Volksaufklärung später stets in der Einleitung zu vergleichbaren Werken unternehmen wird. Für eine edierte Ausgabe von Wischmanns Werk siehe: Johann Wischmann: Der Unteutsche Opitz. Ediert und kommentiert v. Stephan Kessler. Wiesbaden 2008. Vernünftige Einsamkeit (1739), III. St., S. [5]. Beide in: Vernünftige Einsamkeit (1740), VI. St., S. [4]. Ebd., S. [7].

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Auch der Ruhige Bemercker plädiert für eine Abgrenzung nach unten: Man muß also sorgfältig dahin sehen, daß zarte Kinder keinen gar zu öfteren Umbgang mit dem Pöbel haben. Die Reden dieser Menschen sind ein Gift, der sich unvermerckt in die Herzen der unschuldigen Kinder schleichet […]. Zwar muß man den Kindern gar keinen Hochmuth gegen Leute niedrigers Standes, als sie selbst sind, beybringen; allein man muß sie auch sorgfältig hüten, daß sie nicht in eine ihnen verderbliche Vertraulichkeit mit Menschen, die keine Tugend kennen, gerathen.42

Andererseits taucht in der Vernünftigen Einsamkeit ein Leserbrief auf, der offensichtlich mit einem lettischen Namen unterzeichnet wird: Gallinus Usraugs.43 Über die Bedeutung des Namens Gallinus kann man volksetymologisch nur spekulieren; der Name ,Usraugs‘ bzw. ‚uzraugs‘ ist jedenfalls ein lettisches Wort und heißt auf Deutsch ‚Aufseher‘. In der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts bedurfte es also keiner großen Ankündigung, dass ein Lette (wie der Name verrät) einen Brief an eine Zeitschrift geschrieben hat, da man ihn – obgleich er eine Ausnahme ist – noch nicht als einen Letten bzw. als Vertreter einer aufzuklärenden Bevölkerungsschicht ansieht; die scharfe Zäsur zwischen den Aufklärern und den Aufzuklärenden, die im Baltikum zwingend ethnisch determiniert war, scheint hier noch nicht gezogen zu sein. Die Anfrage des Aufsehers mit dem lettischen Namen betrifft übrigens ausgerechnet die Forderung, dass man gewählter reden solle.44 Dies deutet offensichtlich auch darauf hin, dass er sich durch den sozialen Aufstieg germanisiert hat, nur der Name scheint geblieben zu sein.

4. Zum Publikum So universell die behandelten Themen und der moralische Anspruch an die Sitten, vor allem die bürgerlich aufgeklärten, auch sein mögen, so wird das Publikum durch die Rigaer Sittenlehrer doch gelegentlich auch genauer identifiziert, und eben dadurch wird ihm erstmals eine lokale Identität zugesprochen. Der Verfasser der Vernünftigen Einsamkeit nimmt sich unter anderem vor, „das Naturel unsrer Einwohner“45 zu beschreiben, und bedient sich der praktischen und geläufigen Form des Gelegenheitsgedichts, um das lokale Gemeinwesen darzustellen und dabei gleichzeitig medial zu erschaffen: Zum Abschluss des Jahres lässt er ein Gedicht im Namen der wohl von ihm vertretenen Öffentlichkeit und offensichtlich gerade für diese Öffentlichkeit abdrucken: Herr! dencke an dieses edle Land,/ Vergiß die alte Schuld, und die vergangenen Sünden,/ Laß uns die Gnaden=Tür von neuen offen finden,/ Und segne Reich‘ und Arm, Lehr, 42 Der Ruhige Bemercker (1748), 19. St., S. 158f. 43 Vernünftige Einsamkeit (1740), VIII. St., S. [4]. 44 Die Gewähltheit der Sprache kommt ab und zu als Thema in den Moralischen Wochenschriften vor, dies könnte man durchaus mit der Tatsache erklären, dass man ein baltisches Idiom des Deutschen gesprochen hat. Vgl. Eckardt: Livland im 18. Jahrhundert (= Anm. 6), S. 504. 45 Vernünftige Einsamkeit (1739), III. St., S. [6]. Der Verfasser tut dies im Folgenden dann leider doch nicht so oft, auch ein Leser des Ruhigen Bemerckers muss sich beschweren, „daß Sie noch keine Fehler angeführet, welche sonderlich in unsern Gegenden im Schwange gehen.“ In: Der Ruhige Bemercker (1748), 40. St., S. 321.

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Wehr und Nährer=Standt./ Es wird die Kayserin in stetem Glücke blühen,/ Und unser Wohlfahrts=Stamm erwünschte Sprossen ziehen.46

Im nächsten Stück, das am Anfang des Jahres erscheint, findet das lokale Publikum ein weiteres Gelegenheitsgedicht – ein Neujahrsgedicht, das einer Öffentlichkeit durchaus helfen könnte, eine lokale Identität, die vor allem von Bürgern und Kaufleuten besetzt wird, aufzubauen: Doch laß die tolle Zunfft verworffne Lieder Dichten,/ Dergleichen Aberwitz herrscht nicht in meiner Brust./ Ich schreibe zwar ein Blat, bey den bereifften Fichten,/ Doch weder Geitz noch Blick, macht mir zum Dichten Lust./ Ein andrer mühe sich, um Schätze, Dienst, und Liebe,/ Nur Lieflands Wohlergehen facht heute meine Triebe. Land! das wie Canaan, in Milch und Honig schwimmet,/ Wo Gottes Segens Fuß die fetten Spuren zeigt./ Wo reiner Lehre licht in goldnen Ampeln glimmet,/ Erlaube: daß mein Wunsch, vor Dich, zum Sternen steigt./ Ich fallte vor dein Wohl, vor Hoch und niedre Ständte,/ Vor deiner Bürger Heyl, in Andacht meine Hände. […] Laß Riga immerfort der Wohlfarth Tempel bleiben,/ So steht die Kauffmannschafft in höchst erwünschtem Flor./ So sehn wir auf der Flut beladne Masten treiben,/ So hebt der Uberfluß vergnügt das Haupt empor./ So lebt die Bürgerschaft in süssem Wohlergehen,/ Nun Amen! höhre Herr dieß Andachts=volle Flehen.47

In beiden Gedichten werden ausdrücklich die Standorte genannt, um deren moralische Aufklärung und moralisches Wohlergehen sich die im Entstehen begriffene Öffentlichkeit bemüht: um Livland und Riga. Dass in Riga die „Kauffmannschafft in höchst erwünschtem Flor“ und die „Bürgerschaft in süssem Wohlergehen“ lebt, war nicht nur ein lyrischer Neujahrswunsch, sondern auch stadtrechtlich verfestigter Anspruch der Rigenser. Riga identifizierte sich nicht nur durch die Selbstbestimmung, sondern auch – und vor allem – durch die Ablehnung gegen alles Fremde: „Volles Bürgerrecht [in Riga] erhielten ausschließlich Deutsche, die einer der […] Korporationen zutraten, während Fremde und Nichtgildische von der Theilnahme an den politischen Befugnissen ausgeschlossen blieben.“48 Das Rigaer Bürgertum, das streng in weitere Stände unterteilt war, war ein Kreis der Auserlesenen, die Eckardt mit Aristokraten vergleicht.49 Auf dem Lande wurde das in Frage kommende und im Vergleich zu Riga zahlenmäßig kleinere Publikum von eingewanderten oder zurückgewanderten Literaten sowie vom Adel gestellt. Das Publikum wird vorwiegend auf die Rigaer Bürger und den bürgerlich gesinnten Adel begrenzt – durch das Medium der Moralischen Wochenschriften werden die Bürgerlichen in Riga und in Livland allererst entdeckt und damit sowohl aufeinander als auch auf sich selbst aufmerksam gemacht. Dabei muss in diesem speziellen Rigenser Zusammenhang jedoch im Auge behalten werden, dass der Status eines

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Vernünftige Einsamkeit (1739), V. St., S. [8]. Ebd. (1740), VI. St., S. [2f.]. Eckardt: Livland im 18. Jahrhundert (= Anm. 6), S. 32. Vgl. ebd., S. 490.

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Rigaer Bürgers50 ein sehr geschützter und privilegierter war – wie bereits erwähnt, kann man sehr wohl von einer städtischen Aristokratie sprechen. Deshalb war das tatsächliche Publikum der Moralischen Wochenschriften zwar ein bürgerlich gesinntes, aber sowohl von der Selbstauffassung als auch dem tatsächlichen rechtlichen Status nach ein aristokratisches Publikum. Zu diesem konnten ein Adliger, der liest und schreibt, eine bürgerliche Frau, die Leserbriefe schreibt, sowie feine Gesellschaften in bürgerlichen Salons in der Stadt und auf dem Gutshof gehören. Dabei muss berücksichtigt werden, dass ein hoher gesellschaftlicher Status in dieser Zeit nicht zwingend ein höheres Bildungsniveau voraussetzt. Diesen Umstand scheint auch der Ruhige Bemercker berücksichtigt zu haben, wenn er einen Leserbrief publiziert, der das Rigaer Leserpublikum in einer eher stagnierenden geistigen Lage darstellt. Nachdem der Verfasser in dem Leserbrief mit den Worten angegriffen wird: „[S]o wollet ihr darum die Gebuhrten Eures Gehirns den Liefländern bekannt machen, weil ihr in dem täglichen Umgange mit Euren Lands=Leuten abscheuliche Mißgeburten, wenn ich so schreiben darf, in ihren gantzen Wesen gewahr werdet,“51 wird eigentlich mit dem trägen livländischen Leser abgerechnet: Stellet Euch einen Krancken vor, der aus Liebe zur Welt durchaus nicht wissen will, daß Er kranck sey. Er nennet seine Kranckheit, die groß, ja fast unheilbar ist, eine kleine Mattigkeit, die nicht viel zu bedeuten hat; und die Artzneyen, die ihm der sorgfältige Arzt verordnet, Laabsale, die ihn nur erquicken sollen. […] Was wird nun wohl der gute Arzt mit seinen besten Gesundheits=Regeln bey solchen Menschen ausrichten? nichts.52

Aus der Bewertung der eigenen Leser durch die moralischen Verfasser lassen sich einige Thesen über das Publikum, den ‚impliziten Leser‘ (Iser), ableiten. Dass das Publikum deutsch und aus höheren Gesellschaftsschichten war, bedarf keiner eingehenden Erklärung. Die Vernünftige Einsamkeit richtet sich eher an den ländlichen Adel, der bürgerlich gesinnt war. Der Ruhige Bemercker konzentriert sich vor allem auf die höchste Gesellschaftsschicht in der Stadt, und zwar in Riga, denn abgesehen von Riga gab es keine andere Stadt in diesen Gegenden, nicht mal die einstige und spätere Universitätsstadt Dorpat, die zu dieser Zeit als Stadt bezeichnet werden konnte.53 50 Man spricht von drei Ständen der Rigaer Bürger. Der erste Stand – die Ratsherren – wurde für das ganze Leben gewählt und konnte sich durch das Privilegium der Königin Ulrike Eleonore nobilitieren lassen und nobilis livonus werden, die Aufnahme in die Matrikel wurde aber von der Ritterschaft verweigert. Vgl. hierzu ebd., S. 191 u. S. 265. 51 Der Ruhige Bemercker (1748), 10. St., S. 73. Im selben Stück findet man einen weiteren Brief von einer Frau, die zudem Ausländerin ist, wodurch ihr implizit das Attribut des Objektiven und Unparteiischen verliehen wird: „Ich bin zwar eine Ausländerin, wie bekandt und habe viele Anomalien bemercket, welche einige Personen dieses Landes aus Mangel genugsamer Einsicht in ihre Sachen, und aus dem Vorurtheil angebohrner Geschicklichkeit begangen, worunter auch mancher redlicher Mann zu leyden gekommen: Aber ferne sey es von mir zu glauben, daß die Liefländer in ihren gantzen Wesen lauter abscheuliche Mißgeburthen zur Welt bringen.“ Ebd., S. 85. Die Leserbriefe dienen hier dazu, unterschiedliche Meinungen und Perspektiven vorzubringen. Selbst wenn das Publikum noch nicht entstanden ist, wird im Ruhigen Bemercker eine differenzierte und rege (Wunsch-) Öffentlichkeit angeboten und vorgespielt. 52 Ebd. (1748), 10. St., S. 74. 53 Vgl. Eckardt: Livland im 18. Jahrhundert (= Anm. 6), S. 253f. u. S. 266.

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5. Zur medialen Kompetenz des livländischen Publikums Diese in den Blättern der Moralischen Wochenschriften vorgetragene Öffentlichkeit erhält gelegentlich ‚Entwicklungsschubse‘ durch Leserbriefe. Der Ruhige Bemercker ist angefüllt mit Leserbriefen, doch nur die wenigsten dürften authentisch sein. Ihre Funktion besteht darin, eine rege Öffentlichkeit zu suggerieren – vielleicht sogar einer, an der ein unparteiischer Leser in der Tat produktiv teilzunehmen wagen würde. Über diesen mittelbaren Weg kommt im Ruhigen Bemercker ein wichtiges Thema zur Sprache, und zwar die mediale Kompetenz der livländischen Leser. Von „einem gewissen Freund“ habe der Verfasser Zeitungen bekommen, die er seinen Lesern vorlegen möchte. Die mediale Kompetenz wird dabei nicht ausdrücklich behandelt, aber dennoch implizit vorausgesetzt. Diese ‚Sonderausgabe‘ mit dem Titel „Staats= und Bürgerliche und Gelehrte Zeitungen aus dem Reiche Der Klugheit und Thorheit“54 parodiert den gegenwärtigen Pressebetrieb. Sie wird nämlich als ein moralisches Intelligenzblatt bzw. eine moralische Zeitung veröffentlicht, die alle typischen Rubriken dieser Gattung enthält: einen politischen, einen bürgerlichen, einen gelehrten Teil, Anzeigen und Stellengesuche sowie literarische Anzeigen. Alle diese Rubriken sind offensichtlich fingiert, die Standorte heißen etwa Wahrheitsburg, Liebesstadt, Tugendheim etc. Aus der Schmausenburg wird beispielsweise berichtet, dass der „König einen neuen Handel mit den benachbarten Reichen wegen Thee, Zucker, Coffee und dergleichen gestiftet“ habe, alles also Substanzen, deren moralische Auswirkungen auf das menschliche Maßgefühl in den Moralischen Wochenschriften des Öfteren behandelt werden. Die Rubrik ,Gelehrte Sachen‘ berichtet wiederum davon, dass in der Wahrheitsburg neulich gedruckt worden sei: Das Recht der Wahrheit an den menschlichen Herzen. Hier wird die Befugniß, welche die Wahrheit hat, über die Herzen der Menschen zu herrschen, aus den allerältesten Urkunden aufs nachdrücklichste und unwiedersprechlichste bewiesen. […] Man hoffet, daß dieses nützliche und ungemein wohl geschriebene Buch mit allgemeinen Beyfall werde aufgenommen werden.

Und vom Tugendheim heißt es: „Lasterfeind hat verlegt: Anweisung allen aufsteigenden Thorheiten vernünftig zu wiederstehen. 15. B. 8. der Titel dieses kleinen, aber saubern Werckes giebt schon zu erkennen, wie grossen Nutzen man daraus schöpfen könne.“55 Aus einer Fülle solcher Anspielungen ist die ‚Sonderausgabe‘ gestaltet. Der ironische Ton knüpft sowohl an die Rhetorik eines Intelligenzblattes als auch an die Themen einer Moralischen Wochenschrift an. Die Voraussetzung dafür, dass die Ironie von den Lesern verstanden wird, ist allerdings, dass die Leser mit diesen Gattungen vertraut sind. Die gewagte Ironie kann deshalb auch als ein Zeichen gelesen werden, dass viel Ausländisches verfügbar sein muss, obgleich in Riga zu dieser Zeit keine eigenen Periodika herausgegeben werden. So grübelt der Ruhige Bemercker über die Sucht nach Zeitungen: „Es ist recht zu 54 Der Ruhige Bemercker (1748), 23. St. 55 Zitate in diesem Absatz aus: Ebd., S. 190.

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verwundern, mit wie vieler Sehnsucht einige Menschen auf die Ankunft der öffentlichen Zeitungen warten“, ebenso nach gelehrten Sachen: „Unter die andere Gattung zehle ich diejenigen, welche nicht ruhen können, ohne allezeit etwas neues aus der Republic der Gelehrten zu erfahren.“56 Dies erlaubt die Vermutung, dass die Vernünftige Einsamkeit und der Ruhige Bemercker in Riga kein Neuland betreten, sondern eine mit gedruckten, aber bislang nur aus dem Ausland importierten Medien ausgestattete Öffentlichkeit vorfinden. Unter der Annahme, dass die Rigaer Bürger regelmäßig an Periodika gelangten – dies konnte über persönliche Korrespondenzen oder Bestellungen auf dem Postweg geschehen, nicht aber über einen etablierten Buchhandel –, konnten die mehr oder weniger gelehrten Einwohner Rigas mit den größten Metropolen in Deutschland im stetigen Kontakt bleiben. Ebenso anzunehmen ist, dass die Entstehung einer lokalen Öffentlichkeit dadurch gehemmt wurde, dass die Rigenser im Spiegel, der ihnen durch die Periodika vorgehalten wurde, Hamburg oder Berlin, aber eben nicht Riga oder Livland sahen. Damit konnten auch alle sozialen und kulturellen Fragen ausgeblendet werden, die die eigene Region direkt betroffen hätten. Diese sollten erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in den lokal herausgegebenen Zeitungen und Zeitschriften angeführt werden. Der Verfasser des Ruhigen Bemerckers wird durch einen Leserbrief sogar davor gewarnt, ein solches Spiegelbild zu erschaffen: „und es stehet dahin, ob sie [die Leser] nicht Mine und Farbe verändern werden, wenn sie sich in Euren Blättern, als in einem Spiegel, gar zu deutlich und häßlich abgebildet erblicken und, anstatt Euch mit Lob=Sprüchen zu erheben, durch die Hechel ziehen werden“.57 Obwohl die livländische Metropole „zu den kleineren Städten des Landes […] schon seit Jahren [seit den 40er Jahren] so gut wie gar keine Beziehungen [hatte], [lebte sie] mit der Ritterschaft auf offenem Kriegsfuß“.58 Gleichwohl sprechen die Verfasser beider Moralischer Wochenschriften, wie oben bereits festgestellt, gleichermaßen eine bürgerliche wie eine adlige Leserschaft an und setzen von vornherein voraus, dass ihre Rigaer und livländischen Leser mit dem Medium der Moralischen Wochenschriften bestens bekannt sind: Ihr verwundert euch vielleicht abermahl eine neue Schrifft unter einem neuen Moralischen Titel zu sehen. Vielleicht urtheilet ihr auch schon von meinem Unternehmen und haltet diese Bläter vor eine Wiederholung desjenigen, was der Patriot, die Matrone, der Einsiedler und unzehliche andere Sitten=Lehrer euch bereits vorgeschrieben haben.59

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Ebd. (1748), 27. St., S. 220. Ebd. (1748), 10. St., S. 75. Eckardt: Livland im 18. Jahrhundert (= Anm. 6), S. 265. Der Ruhige Bemercker (1748), I. St., S. 1. Eine ähnliche Äußerung über den Überfluss von moralischen Schriften kommt nicht nur in der ersten Ausgabe vor, sondern wiederholt sich an anderen Stellen in der Wochenschrift, etwa in einem Leserbrief: „[…] so verweiset sie auf die fürtreflichen Stücke der moralischen Schriften, die die berühmsten Männer verfertiget haben: und die nunmehro in allen Bücher=Laden öffentlich zum Verkauf stehen, und zwar für dem billigsten Preis.“ Ebd. (1748), 10. St., S. 79f.

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Auch der Ruhige Bemercker zählt die populärsten Moralischen Wochenschriften im deutschsprachigen Raum der damaligen Zeit auf und warnt vor einem erneuten Scheitern in Bezug auf die moralische Erziehungskapazität der Rigenser und Livländer: Der Patriot, die Matrone, der Einsiedler haben sich nur selbst berühmt gemacht, aber keine berühmte sittsame Leute durch ihre Papiere gezeuget. Und was haben denn die Gedanken der [Vernünftigen] Einsamkeit, die vor kurzer Zeit in unsern Riga gedruckt herum geflogen sind und die noch in vieler Händen, aber in keines Menschen Kopfe seyn werden, zuwege gebracht? man hat sie vielleicht mit Vergnügen, aber ohne Frucht gelesen. Und wer kan also Bürge seyn, daß nicht Eure Bemerckungen ein gleiches Schicksal treffen werde?60

Dieses durch die beiden Sittenlehrer vermittelte positive, sogar optimistische Bild der medialen Kompetenz des Publikums ist aber mit Vorsicht zu genießen. So wird in der Vernünftigen Einsamkeit unter anderem bedauert, dass etwa „der scharfsichtige Engelländer Lock ein ganzes Buch von Erziehung der Töchter verfertiget [hat], alleine den wenigsten unsrer Liefländer kommen diese Schriften zu Händen“61 oder dass „meine Blätter nicht auf der Universität, sondern in Liefland geschrieben, wo man nicht so wohlfeil zur Gelehrsamkeit gelangen kann, als an andern Orten.“62 Das literarische Angebot konnte – erwartungsgemäß – in dem einzigen Buchladen der Stadt, in dem von Fröhlich, mit den Metropolen nicht mithalten. Man war auf privaten Literaturimport und die wenigen lokalen Möglichkeiten, an Lektüre zu gelangen, angewiesen. Diese Möglichkeiten waren die Post – die nicht immer funktionierte und die auch unter Diebstählen litt –63, die Stadtbibliothek – die gut bestückt schien und „alle von der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften besorgten Editionen in je einem Exemplar kostenfrei zugestellt“64 bekommen sollte, von der es aber nur eben eine gab –, die bereits erwähnte städtische Buchhandlung von Frölich – die aber keine wirkliche Buchhandlung, sondern ein Nebengeschäft der Buchdruckerei war-, die Reisenden – die Druckwerke mitbringen konnten –, schließlich der einmal im Jahr abgehaltene Jahrmarkt, auf dem sich auch Buchhändler von auswärts betei60 Ebd. (1748), 10. St., S. 75, im selben Leserbrief werden auch die Rigischen Novellen erwähnt, aber eher in ungünstigem Licht, was die Wirkung auf die Moral der Leser anbetrifft: „Ein Blat, davon man nicht einmahl seinen Urheber kennet und das fast mit nichts als artigen Grillen angefüllet ist und, wenns hoch kommet, denen Nouvellen gleichet, darin wir wöchentlich das neueste, was in unsrer Rigischen Welt vorgehet, benachrichtiget werden.“ Ebd. S. 77. Von den moralischen Wochenschriften, die in Riga gelesen werden, wird auch Frey-Mäurer erwähnt, in ebd. [1748], 38. St., S. 309; laut Martens werden moralische Wochenschriften unter diesem Titel in Hamburg (1737) (vgl. Martens: Die Botschaft der Tugend (wie Anm. 2, S. 162) und Leipzig (1738) (vgl. ebd., S. 16) herausgegeben. Dass sich das livländische Publikum ausländischer Periodika nicht nur zur Lektüre, sondern auch als Diskussionsort bediente, wird mehrfach bei Eckardt in Livland im 18. Jahrhundert (= Anm. 6) berichtet, z. B. S. 160f. über livländische Themen in der preußischen Fama oder in der Hamburgischen Zeitung. 61 Vernünftige Einsamkeit (1739), III. St., S. [3]. 62 Ebd. (1740), VI. St., S. [2]. 63 Vgl. Eckardt: Livland im 18. Jahrhundert (= Anm. 6), S. 158. 64 Ebd., S. 185.

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ligten. Über einen Versuch eines Literaturliebhabers, in Riga Literatur abzusetzen, weiß Eckardt Folgendes zu berichten: „Ein unternehmender Kopf, der um dieselbe Zeit [um die Mitte des 18. Jahrhunderts] eine Leihbibliothek der Schriften berühmter Franzosen, Engländer und Italiener in Riga angelegt hatte, machte so schlechte Geschäfte, daß er schließlich in die Düna sprang.“65 Auf dem flachen Lande kam man zu neuer Literatur oder Zeitungen freilich noch schwieriger als im großen, international verknüpften Hafenstadt Riga; man informierte sich durch private Korrespondenzen, und eine Brise von der Welt brachten dann und wann eingewanderte Pastoren und Hofmeister. Somit können die beiden ‚moralischen‘ Ausgaben, zwischen denen angesichts der nicht so weit auseinanderliegenden Erscheinungsjahre sogar eine vage Kontinuität erkannt werden könnte, als spektakuläre Erscheinungen in der sonst wüsten Landschaft der einheimischen Literatur gesehen werden. Zudem geben diese einen Vorgeschmack auf die kur-, liv- und estländische Öffentlichkeit, die sich ab der Mitte des 18.  Jahrhunderts etablieren wird: Der Pressetrieb wird auch dann die Angelegenheit einzelner engagierter Individuen bleiben und an diese hängen.

6. Nachspiel Dass die Moralischen Wochenschriften ‚zeitlos‘ waren, demonstriert die bereits erwähnte Tatsache, dass sie noch viele Jahre später von Rigensern gelesen wurden. Die Forschung hat gezeigt, dass sie viele andere periodische Gattungen beeinflusst haben und in unterschiedlichen Rubriken wie etwa dem Feuilleton nachwirken. Auf die möglichen Nachwirkungen möchte ich keinen allzu weiten Blick werden, aber doch zumindest in eine Richtung schauen, die die Begegnung der deutsch geprägten Aufklärungsmedien mit der lettischen und auch der estnischen Medien- und Kulturgeschichte zu erfassen erlaubt. Der Blick fällt deswegen ausgerechnet auf die ersten periodischen Schriften der Volksaufklärung in lettischer und estnischer Sprache, die in den 1760er Jahren erscheinen. Das ist Latweeshu Ahrste (1768−1769) für die lettischen Bauern und Lühike öppetus (1766) – für die estnischen. Aufgrund meiner leider nicht vorhandenen Kenntnisse der estnischen Sprache kann ich auf die estnische Ausgabe nicht gründlich eingehen. Jedoch sind für meine These die Einzelheiten nicht ausschlaggebend. Über die Moralischen Wochenschriften weiß man, dass sie öfters schon im Voraus geschrieben waren, die Leser zum Besseren erziehen wollten, die Stimme des Autors als moralischer Sittenlehrer figurierte, die mit den Lesern über ihre Blätter ein direktes Gespräch führte. Die Vorlage für die lettische und die estnische Ausgabe war das Manuskript eines publizierenden Arztes, Peter Ernst Wilde (1732−1785), das ins Estnische von August Wilhelm Hupel (1737−1819) und ins Lettische von Jakob Lange (1711−1777) übersetzt wurde.66 Der in medizinischer, 65 Julius Eckardt: Jungrussisch und Altlivländisch. Politische und culturgeschichtliche Aufsätze. Leipzig 1871, S. 286. 66 Zu Peter Ernst Wilde und seine Übersetzer in die Volkssprachen siehe Irene und Heinz Ischreyt:

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aber auch in moralischer Hinsicht zu bildende Leser wird von einem Freund – einem Arzt – als Sittenlehrer angesprochen. Selbst die Haltung erinnert stellenweise sehr an die Haltung eines jeden Sittenlehrers, der seine noch nicht einsichtsvollen ‚Zöglinge‘ zum Besseren erzieht. Nichts anderes geschieht in der medizinischen Schrift Latweeschu Ahrste. Sie ist mit praktischen, medizinischen Empfehlungen und Anweisungen angefüllt und wird von einer vertrauten, aber didaktischen und vernünftigeren Stimme als derjenigen der zu belehrenden Bauern begleitet. Letztendlich ist sie ein ‚Kind‘ der Volksaufklärung, deren Erfolg ja unter anderem darin besteht, dass sie den bäuerlichen Lesern andere Kommunikationsformen näherbringt (Siegert). Gattungsmäßig sind im ersten in lettischer Sprache erschienenen Periodikum starke ‚Züge‘ einer Moralischen Wochenschrift zu erkennen. Damit ist die Moralische Wochenschrift als Medium der baltischen Aufklärung gleich bei der Initiation zweier Öffentlichkeiten dabei gewesen – erstens im Salon eines deutschen Bürgerlichen, sei es in der Stadt oder auf einem Gutshof – und zweitens – mit Julius Eckardt gesprochen – ,auf dem platten Land‘ für lettische und estnische Bauern als Medium der Volksaufklärung.

Der Arzt als Lehrer. Populärmedizinische Publizistik in Liv-, Est- und Kurland als Beitrag zur volkstümlichen Aufklärung im 18. Jahrhundert. Lüneburg 1990.

IV. Mediale Pragmatik der Aufklärer: Autor und Publikum

Martin Klöker

Die mediale Pragmatik der Aufklärer in der Region: Hupel – Schubart – Möser Die Aufklärung kann als ein historischer Prozess betrachtet werden. Sie wurde über eine gewisse Zeitspanne entwickelt, entfaltet und verbreitet und konnte dann zur treibenden Kraft gesellschaftlicher Umwälzungen oder Revolutionen werden. Dies geschah nicht nur in den verschiedenen Ländern und Nationen ganz unterschiedlich im Hinblick beispielsweise auf die Form und die Intensität sowie zeitliche Abläufe, sondern war bis in die Regionen und einzelnen Orte hinein geprägt von mehr oder weniger individuellen Bedingungen.1 So vollzog sich der Prozess insgesamt zwar in einer großen Dynamik, die mit internationalen Ereignissen wie etwa der Französischen Revolution2 oder der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung und mit Publikationen – man denke nur an die von Jean-Jacques Rousseau oder Immanuel Kant – verbunden war. Zugleich war jedoch immer die Frage, wann diese und was von diesen Ereignissen und Publikationen, also letztlich den Ideen, in der einzelnen Region oder Stadt ankam. Hier – in der jeweiligen Region oder Stadt oder auch im Dorf – wurde die Information vermittelt. Diese Vermittlung oder Informationsübertragung wird vollzogen über diverse Mittel oder Medien der Kommunikation.3 Dabei hat die kommunikative Vermittlung im Gegensatz zur bloßen ‚Datenübertragung‘ immer den Empfänger im Blick zu behalten. Der bloße ‚Input‘ reicht nicht aus; die Daten müssen – modern gesprochen – eben auch verarbeitet werden können. Damit aber ist die Bedeutung der Bildung im Kontext der Aufklärung leicht ersichtlich. Bildung aber meint sowohl die Lesefähigkeit als auch das Sammeln von Wissen, um neue Informationen besser ‚einordnen‘ oder klassifizieren und bewerten zu können.4 Die Informationsvermittlung und das Ansammeln von Wissen allein waren keineswegs ein Monopol der respublica litteraria. Auch im Handel und im Handwerk, 1 Zur „kulturräumlichen Differenzierung der Literatur“ der Aufklärung vgl. die Hinweise unter dem Abschnitt „2.3 Kulturelle Zentren“. In: Iwan-Michelangelo D’Aprile u. Winfried Siebers: Das 18. Jahrhundert. Zeitalter der Aufklärung. Berlin 2008, S. 29−33. 2 Vgl. dazu beispielsweise: Holger Böning (Hg.): Französische Revolution und deutsche Öffentlichkeit. Wandlungen in Presse und Alltagskultur am Ende des achtzehnten Jahrhunderts. München [u. a.] 1992 (Deutsche Presseforschung 28). 3 Vgl. auch die instruktiven Beiträge in: Rudolf Stöber, Michael Nagel, Astrid Blome u. Arnulf Kutsch (Hg.): Aufklärung der Öffentlichkeit – Medien der Aufklärung. Festschrift für Holger Böning zum 65. Geb. Stuttgart 2015. 4 Vgl. Holger Böning, Iwan-Michelangelo D’Aprile, Hanno Schmitt u. Reinhart Siegert (Hg.): Selbstlesen – Selbstdenken – Selbstschreiben. Prozesse der Selbstbildung von ‚Autodidakten‘ unter dem Einfluss von Aufklärung und Volksaufklärung vom 17. bis zum 19. Jahrhundert. Mit 600 Kurzbiographien von Autodidakten im deutschen Sprachraum bis 1850 und Verzeichnissen von Bauernbibliotheken. Bremen 2015 (Philanthropismus und populäre Aufklärung 10).

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genauso im Adel und im Militär funktionierten Erwerb und Weitergabe der jeweils im Zentrum stehenden Informationen. War in diesen Bereichen jedoch die mündliche und an der Praxis orientierte Tradierung noch weitgehend üblich, so zeichnete sich die respublica litteraria gerade dadurch aus, dass sie immer stärker auf die schriftliche Kommunikation setzte und den an sich ungegenständlichen Ideen in der Herausbildung einer Informationsgesellschaft mit der Entwicklung neuer schriftlicher Formen und Gattungen einen festen Sitz gab. Die im expandierenden Schrifttum der Zeit sich konstituierende Öffentlichkeit ermöglichte prinzipiell jedem, der mit der Lesefähigkeit gewissermaßen den Schlüssel dazu erworben hatte, sich selbst zu informieren – im Gegensatz zu den traditionellen Ausbildungswegen beispielsweise im Handwerk, wo man noch zum Teil ganz bewusst das wichtigste Wissen nicht in gedruckten Schriften öffentlich preisgab, sondern nur im kleinen Kreis den Mitgliedern zugänglich machte. Die Aufklärung als philosophische Idee aber war natürlich kein Handwerk, hatte keine unmittelbare, zielgerichtete Nutzanwendung. Sie umfasste mit dem emanzipatorischen Appell, sich des menschlichen Verstandes zu bedienen, das menschliche Sein im Kern und war deshalb grundsätzlich an alle Menschen gerichtet, wenn auch das Prinzip der Gleichheit aller Menschen über Standesgrenzen hinweg zunächst noch utopisch erscheinen musste und deshalb die oberen Stände als erste Adressaten fungierten. Freilich wurden diese bald in die Pflicht genommen, den unteren Ständen, die häufig ja in direkter Abhängigkeit standen, die Ideen der Aufklärung in patriarchal-pädagogischer Haltung weiterzugeben.5 Die Vermittlung der Aufklärung musste sich daher verschiedener medialer Formen bedienen. Damit die weitgehend noch nicht lesefähigen unteren Stände erreicht werden konnten, war die Alphabetisierung das erste Ziel, denn nur durch sie war es möglich, über die mündliche Vermittlung hinaus zu gelangen und damit eine neue, intensivere und extensivere Stufe der Aufnahme von aufklärerischem Gedankengut zu erreichen. Die Volksaufklärung vermittelte also einerseits Wissen an die unteren Stände (zum Beispiel Methoden des Ackerbaus für die Bauern), andererseits aber auch die Fähigkeit, sich weiteres, also neues Wissen selbst anzueignen.6 Für die Ak5 Dabei wurde durchaus diskutiert, ob denn die unteren Stände überhaupt in der Lage seien, das gedachte Maß an Verstand mitzubringen, um eigenverantwortlich und ‚vernünftig‘ denken und handeln zu können. Vgl. auch die Artikel ‚Bauer‘, ‚Volk/Gemeiner Mann/Pöbel‘ und ‚Volksaufklärung‘ in: Werner Schneiders (Hg.): Lexikon der Aufklärung. Deutschland und Europa. München 1995, S. 55f. und S. 432−437. 6 In Bremen hat sich Holger Böning intensiv der Erforschung der ‚Volksaufklärung‘ gewidmet und zahlreiche grundlegende Publikationen vorlegen können. Vgl. ders. u. Reinhart Siegert (Hg.): Volksaufklärung. Biobibliographisches Handbuch zur Popularisierung aufklärerischen Denkens im deutschen Sprachraum von den Anfängen bis 1850. Stuttgart-Bad Cannstatt 1990ff.: Bd. 1: Die Genese der Volksaufklärung und ihre Entwicklung bis 1780 (1990); Bd. 2/1−2: Der Höhepunkt der Volksaufklärung 1781−1800 und die Zäsur durch die Französische Revolution (2001); Bd. 3/1−4: Aufklärung im 19. Jahrhundert – „Überwindung“ oder Diffusion? (2016); Bd. 4: Biographisches Lexikon (in Vorber.); ders., Reinhart Siegert u. Hanno Schmitt (Hg.): Volksaufklärung. Eine praktische Reformbewegung des 18. und 19. Jahrhunderts. Bremen 2007 (Presse und Geschichte. Neue Beiträge 27); ders. in Zusammenarbeit mit Iwan-Michelangelo D’Aprile und Hanno Schmitt (Hg.): Volksaufklärung ohne Ende? Vom Fortwirken der Aufklärung im 19. Jahrhundert. Bremen 2018

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zeptanz und die Durchsetzung der Aufklärung insgesamt ist dieses grundlegende Bildungskonzept entscheidend. Erst in der – gelungenen – Vermittlung der aufklärerischen Ideen an die niederen Stände entfaltet die neue Verstandeskultur die Kraft zur so revolutionären Umgestaltung der Gesellschaft. Aufklärung kann letztlich nicht von oben verordnet werden – das erleben wir heute auch in der globalen Perspektive. Sie muss ‚verstanden‘ werden. Deshalb kommt der Vermittlung in verschiedenen medialen Formen eine so große Bedeutung zu.

1. Drei Aufklärer in ihrer Region In den Regionen traten nun also ganz unterschiedliche Personen als Vermittler der Aufklärung in Erscheinung, die in aller Regel auch auf Widerstände und Gegner stießen. Sie mussten sich auf die örtlichen Gegebenheiten einstellen und die Wege der Vermittlung pragmatisch wählen. Dabei spielten die individuellen Neigungen, Fähigkeiten und Möglichkeiten selbstverständlich eine bedeutende Rolle. Der Typus dieses Aufklärers in der Region kommt in allen Regionen und nahezu jeder Stadt vor. Drei von ihnen sollen im Folgenden exemplarisch näher betrachtet und Gemeinsamkeiten sowie Unterschiede herausgearbeitet werden: August Wilhelm Hupel (1737−1819) in Livland, Christian Friedrich Daniel Schubart (1739−1791) im deutschen Südwesten sowie Justus Möser (1720−1794) im westfälisch-hannoverschen Osnabrück. Es handelt sich um drei Literaten, die im Hinblick auf ihren Lebensweg und ihren Charakter zweifellos sehr unterschiedlich waren. August Wilhelm Hupel war zwei Jahre älter als Schubart und 17 Jahre jünger als Möser; er stammte aus Buttelstedt in der Nähe Weimars und hatte zunächst das Gymnasium in Weimar, dann ab 1754 die Universität Jena besucht.7 Von dort ging er 1757 als Hofmeister nach Livland und erhielt bereits drei Jahre darauf die Stelle des Pastors zu Ecks (Äcksi) in der Nähe von Dorpat (Tartu). 1764 wechselte er in das Pastorenamt nach Oberpahlen (Põltsamaa), das er erst 41 Jahre später verließ, um als hoch angesehener, „im In- und Auslande berühmte[r] Mann“8 und ausgestattet mit dem Titel eines Konsistorialrats seinen Lebensabend in der nahe gelegenen Kleinstadt Weißenstein (Paide) zu verbringen. Hier starb er 1819 im Alter von fast 82 Jahren. Christian Friedrich Daniel Schubart war hingegen ganz im deutschen Südwesten in Württemberg verankert. Geboren im schwäbischen Obersontheim, wuchs er seit 1740 in der Reichsstadt Aalen auf, wo er zunächst die Schule besuchte und dann mit 14 Jahren auf das Lyzeum nach Nördlingen geschickt wurde. Drei Jahre später wechselte er auf das Nürnberger Gymnasium und nahm dann 1758 in Erlangen das Stu(Presse und Geschichte. Neue Beiträge 109 / Philanthropismus und populäre Aufklärung – Studien und Dokumente 14). 7 Vgl. Indrek Jürjo: Aufklärung im Baltikum. Leben und Werk des livländischen Gelehrten August Wilhelm Hupel (1737−1819). Köln, Weimar u. Wien 2006 (Quellen und Studien zur baltischen Geschichte 19). 8 Ebd., S. 88.

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Abb. 1: Porträt von Hupel, Kupferstich von Eberhard Siegfried Henne, 1791. Universitätsbibliothek Tartu.

Abb. 2: Porträt von Schubart, Kupferstich von Ernest Morace nach August Friedrich Oelenhainz, 1791. Haus der Geschichte Baden-Württemberg.

dium der Theologie auf. Er führte neben dem Studium ein umtriebiges Leben auf der Gasse und im Wirtshaus, auch verbreiteten sich erste volkstümliche Lieder aus seiner Feder. Aus finanziellen Gründen brach er 1760 das Studium ab und kehrte nach Aalen zurück, wo er sich drei Jahre lang als Hauslehrer und mit Gelegenheitsarbeiten als Prediger und Dichter über Wasser hielt. Dann nahm er eine Stelle als Schulmeister und Organist in Geislingen an, das damals zu Ulm gehörte. In diesen Jahren entstanden weitere Dichtungen, und er wurde durch kaiserliches Patent zum Dichter gekrönt. 1769 gelang es ihm, die als beengt empfundenen Verhältnisse in Geislingen zu verlassen. In der Residenzstadt Ludwigsburg war er nun Organist und Musikdirektor. Trotz großer Anerkennung seiner vielseitigen Tätigkeiten fiel Schubart mit seiner aufbrausenden Art und einem ausschweifenden, zuweilen auch unsittlichen Lebenswandel allmählich immer stärker in Ungnade. Schließlich landete er im Gefängnis. Bald darauf wurde er im Jahr 1773 durch herzoglichen Erlass aus Württemberg ausgewiesen. Etwa ein Jahr lang wanderte er umher durch Heilbronn, Mannheim, Hei-

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delberg und München, immer in der Hoffnung auf eine angemessene Anstellung. In Augsburg schließlich ließ er sich 1774 zur Gründung einer Zeitschrift nieder und siedelte 1775 nach Ulm über. Hier lebte er als erfolgreicher Journalist und Schriftsteller, bis er 1777 auf württembergischem Boden verhaftet und zehn Jahre ohne Anklage und Verurteilung vom Herzog auf dem Hohenasperg gefangen gehalten wurde. Schubart siedelte nach der Freilassung 1787 nach Stuttgart über, wo der Herzog ihm durch die Anstellung als Hofdichter und Direktor des Schauspiels und der deutschen Oper ein Auskommen verschafft hatte. In diesen Ämtern und darüber hinaus wieder eine vielseitige Tätigkeit entfaltend, starb er bereits vier Jahre darauf im Alter von nur 52 Jahren.9

Abb. 3: Porträt von Möser, Kupferstich von Christian Gottlieb Geyser, 1778. Universitätsbibliothek Tartu.

Justus Mösers Leben war in völligem Kontrast dazu durch eine „bruchlose Kontinuität einer sicheren bürgerlichen Existenz“ geprägt.10 1720 in Osnabrück geboren, wuchs er als Sohn eines angesehenen Juristen im fürstbischöflichen Dienst auf und besuchte zunächst das Ratsgymnasium, bevor er 1740 zum Studium der Rechte und 9

Zur Biographie vgl. Kurt Honolka: Schubart. Dichter und Musiker, Journalist und Rebell. Sein Leben, sein Werk. Stuttgart 1985. Für Schubarts Werke und Wirken konnte auf meine weit vorbereitete, bis etwa 1990 geführte Personalbibliographie im Manuskript zugegriffen werden. 10 Herman Bausinger: Justus Möser. In: Benno von Wiese (Hg.): Deutsche Dichter des 18. Jahrhunderts. Berlin 1977, S. 176−190, hier S. 177.

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der Schönen Wissenschaften an die Universität Jena ging. Zwei Jahre darauf wechselte er nach Göttingen, nachdem ihm bereits am 26. August 1741 das Amt des Ritterschaftssekretärs in Osnabrück angeboten worden war. Ohne einen Abschluss an der Universität trat Möser dieses Amt dann 1744 an und ließ sich in Osnabrück als Anwalt nieder. War er schon zuvor mit einigen Gelegenheitsdichtungen hervorgetreten, so erschienen nun auch juristische Schriften, und er engagierte sich im Zeitschriften- und Zeitungswesen. Aufgrund seines erfolgreichen Auftretens als Jurist wurde er 1747 zum Advocatus Patriae, einem der drei fürstbischöflichen Rechtsvertreter, ernannt. Nach dem Tod des ritterschaftlichen Syndicus wurde 1756 auch dieses Amt Möser übertragen, der im Siebenjährigen Krieg (1756−63) dann als Deputierter der Landstände über Kriegsforderungen an das Hochstift Osnabrück verhandeln musste. Im Jahr 1762 zum Rat und Justitiarius beim Kriminalgericht ernannt, führte Möser ab 1763 die Regierungsgeschäfte für den zunächst noch minderjährigen und später dauerhaft abwesenden Fürstbischof Friedrich Herzog von York (1763−1827). Eine Reise im Auftrag der Stände zu Verhandlungen über die Kriegslasten führte ihn von November 1763 bis April 1764 nach London. Nach der Rückkehr wurde er Konsulent der Regierung, zunächst noch ohne, ab 1776 dann mit Stimmrecht. Sein Einfluss auf das Fürstbistum wuchs mit den folgenden Ernennungen zum Regierungsreferendar (1768) und zum Geheimen Referendar und Geheimen Justizrat (1783) immer weiter. In seiner vermittelnden Funktion zwischen Ritterschaft und bischöflicher Regierung bestimmte er die Geschicke des Fürstbistums maßgeblich. Nachdem er noch 1792 sein fünfzigjähriges Jubiläum im Dienst der Ritterschaft feiern konnte, starb Möser am 8. Januar 1794 in seiner Vaterstadt im Alter von 73 Jahren als ein von seinen Zeitgenossen höchst geachteter Staatsmann und Schriftsteller.11

2. Die mediale Praxis Es handelt sich hier also um drei ganz unterschiedliche Biographien und damit auch um stark voneinander abweichende persönliche und institutionelle Voraussetzungen für aufklärerische Betätigungen. Im Folgenden soll nun betrachtet werden, ob und wie sich dies in der praktischen Tätigkeit, also in der Auswahl und der Art der Verwendung der medialen Formen niedergeschlagen hat. Dazu werden die zu findenden literarischen Formen und weitere mediale Aktivitäten dieser drei Aufklärer skizziert. 11 Für Möser liegt eine Personalbibliographie vor. Vgl. Winfried Woesler unter Mitarbeit von Brigitte Erker, Jochen Grywatsch, Folkert Klaaßen u. Martin Siemsen (Hg.): Möser-Bibliographie 1730−1990. Tübingen 1997 (im Folgenden: MB) sowie Martin Siemsen: Zur ‚Möser-Bibliographie‘ 1730−1990. Nachträge und Fortschreibung: Selbständige Publikationen 1741−2000. In: Woesler, Winfried (Hg.): Möser-Forum. Bd. 3: 1995–2001. Osnabrück 2002 (Osnabrücker Geschichtsquellen und Forschungen 43), S. 377−386; ders.: Zur Möser-Bibliographie 1730−1990. Fortschreibung: Publikationen 1991−2010. In: Ders. u. Thomas Vogtherr (Hg.): Justus Möser im Kontext. Beiträge aus zwei Jahrzehnten. Osnabrück 2015 (Osnabrücker Geschichtsquellen und Forschungen 55 / Möser-Studien 2), S. 291−362.

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3. Zeitschriften und Zeitungen Am Anfang steht das zentrale Medium der Aufklärung, die Zeitschrift. Sie bietet textlich fast unendliche Möglichkeiten, kann im Prinzip alle literarischen Gattungen und Formen aufnehmen und passt sich daher leicht den individuellen Bedürfnissen und Fähigkeiten von Autor und Publikum an. Alle drei, Schubart, Hupel und Möser, haben dieses Medium mit großem Erfolg genutzt. Schubart gründete 1774 in Augsburg seine Deutsche Chronik, eine „freie Publizistik nach britischem Vorbild“ mit kritischen Berichten über aktuelle Themen der Zeit,12 die er unter verschiedenen Titeln zunächst bis zur Gefangennahme 1777 und dann wieder nach der Haft von 1787 bis zu seinem Tod 1791 pflegte.13 Außerdem führte er in Ulm von 1775 bis 1777 das Ulmische Intelligenzblatt, das unter seiner Leitung durch den eigenwilligen unterhaltsamen Stil zu einem Erfolg wurde. Überhaupt war es vor allem Schubarts wortgewaltige Sprache in Verbindung mit Politik und Unterhaltung, die sein Unternehmen so beliebt machte. Hupel schuf mit seinen Nordischen Miscellaneen, die ab 1781 in Riga erschienen, dann ab 1792 unter dem Titel Neue Nordische Miscellaneen mit Verlagsort Riga und Leipzig bis 1798 weitergeführt wurden, das „Zentralorgan der livländischen Aufklärung“:14 eine allgemeinwissenschaftliche Territorialzeitschrift, in der hauptsächlich regionale kulturelle und politische Belange zu Wort kamen, die sich aber auch klar in die deutsche Aufklärungsgesellschaft eingliederte. Im Gegensatz zu Schubarts Chronik waren die Miscellaneen inhaltlich seriös und oft schwerfällig, es gab kein politisches Räsonnieren, obwohl gesellschaftliche Themen wie etwa die Leibeigenschaft durchaus diskutiert wurden.15 Trotzdem fand die Zeitschrift ihr Ende durch die verheerende Zensurpolitik unter Zar Paul I. Justus Möser hatte bereits 1746 in Hannover und Lüneburg Ein Wochenblatt herausgebracht, dessen 50 Stücke im folgenden Jahr dann unter dem Titel Versuch einiger Gemählde von den Sitten unserer Zeit erneut erschienen.16 Im selben Jahr 1747 bemühte er sich zusammen mit anderen, eine wöchentliche Zeitschrift unter dem Titel Die (Deutsche) Zuschauerin in Übersetzung des englischen Spectator herauszubringen. Zunächst ohne Verlagsangabe in „Göttingen, Hannover und Lüneburg“ erschienen, wurde abermals im folgenden Jahr 1748 eine Buchausgabe in „Hanno-

12 Bruno Jahn (Bearb.): Die deutschsprachige Presse. Ein biographisch-bibliographisches Handbuch. 2 Bde. München 2005, hier Bd. 1, S. 969. 13 Deutsche Chronik. Augsburg 1774−1775, 1776−1777 unter dem Titel Teutsche Chronik, 1787 Schubarts Vaterländische Chronik, 1788−1789 Vaterlandschronik, 1790−1791 Chronik. 14 Jürjo: Aufklärung (= Anm. 7), S. 245. Die Fortsetzung 1792−1798 war etwas seriöser und wissenschaftlicher als zuvor. 15 Erscheinungsweise in Stücken und Bänden, durchschnittlich ein Band pro Jahr, aber auch bis zu drei pro Jahr beispielsweise zur Leipziger Messe. Hupel verfasste viele Artikel selbst; es gab aber auch mindestens 30 Mitarbeiter. 16 Ein Wochenblatt. Hannover, Lüneburg 1746 (MB S. 10, Nr. 8); Versuch einiger Gemählde von den Sitten unserer Zeit: Vormahls zu Hannover als ein Wochenblatt ausgetheilet. Hannover 1747. 208 Bl. (MB S. 10, Nr. 8a).

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ver, bey Johann Wilhelm Schmidt“ publiziert.17 Ist bei diesen beiden Moralischen Wochenschriften Mösers Anteil an der Herausgabe nicht genau bekannt, so ist für die dann 1766 begründeten Osnabrückischen Intelligenz-Blätter nebst den nützlichen Beylagen seine Herausgeberschaft besser belegt. Als „Intelligenz-Comptoir“ und Zensor war er maßgeblich an der Gründung beteiligt und blieb bis 1782 der wichtigste Kopf des Unternehmens, das unter dem Titel Wöchentliche Osnabrückische Anzeigen das Amtsblatt der Regierung des Hochstifts Osnabrück darstellte, während in den Beilagen Beiträge von Privatpersonen erschienen, darunter über 50 Prozent von Möser.18 Von Herder als „das Vollkommenste Deutsche Nationalblatt“ bezeichnet,19 brachte die Zeitschrift größere und kleinere Aufsätze mit Lösungen zu konkreten gesellschaftlichen Problemen aller Art. Dazu gehörten natürlich die Sorgen der Bauern hinsichtlich Ackerbau und Viehzucht, aber genauso die Förderung des städtischen Handels und der Gewerbe sowie die Organisation des Ständestaates. Möser schrieb zwar lehrreich, aber nicht trocken belehrend, sondern meistens eingängig in kleine Geschichten gekleidet.20

4. Journalistische Beiträge Bedeutete die Herausgabe einer eigenen Zeitschrift vor allem, sich den zahlreichen Rahmenbedingungen, angefangen von den wirtschaftlichen Umständen bis hin zur Zensur und damit letztlich der juristischen Verantwortung, immer wieder stellen zu müssen, so war es deutlich leichter, eigene Beiträge für andere Zeitschriften zu liefern. Freilich galt es auch hier, sich den jeweiligen Erfordernissen der Herausgeber zu stellen. Und trotz des zwischengeschalteten Herausgebers war der Autor mitverantwortlich gegenüber der Zensur, weshalb die Autorschaft auch recht häufig verschleiert oder anonymisiert wurde. Aber die eigenen Beiträge konnten eben gezielt in einem speziellen textlichen Umfeld an das jeweilig abzuschätzende Publikum gerichtet werden. Von Schubart ist bekannt, dass er bereits 1767/68 an den beiden Jahrgängen der Zeitschrift Der neue Rechtschaffene in Lindau mitarbeitete. Weitere Beiträge lieferte er zum Schwäbischen Musenalmanach, zum Schwäbischen Magazin von gelehrten 17 Die [deutsche] Zuschauerin. Göttingen, Hannover und Lüneburg 1747 (MB S. 10−11, Nr. 9); Die Deutsche Zuschauerin. Hannover 1748. 208 Bl. (MB S. 11−12, Nr. 9a). Von den insgesamt 50 Stücken sind 27 und drei Teilstücke von Möser. 18 Die Osnabrückischen Intelligenz-Blätter von den Jahren [...]: nebst den nützlichen Beylagen. o. O. 1766−1782 (MB S. 25−26, Nr. 21). 19 Johann Gottfried Herder: Kleine Nachrichten vermischte Sachen. An das Lief- und Estländische Publikum. 1772. In: Ders.: Sämmtliche Werke. Hg. von Bernhard Suphan. Bd. 5. Berlin 1891, S. 346–349, hier S. 347. 20 Vgl. dazu Holger Böning: Justus Möser – Anwalt der praktischen Vernunft. Der Aufklärer, Publizist und Intelligenzblattherausgeber. Zugleich ein Lesebuch zum Intelligenzwesen, zu Aufklärung, Volksaufklärung und Volkstäuschung mit Texten von Justus Möser sowie von Thomas Abbt, Johann Wolfgang Goethe, Johann Gottfried Herder, Georg Christoph Lichtenberg und Jean Paul. Bremen 2017 (Presse und Geschichte. Neue Beiträge 110).

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Sachen, zu Schillers Thalia (ersch. 1785−1791) und zur Berlinischen Monatsschrift (ersch. 1783−1796). Die Bandbreite der Beiträge ist weit, wie üblich bei Schubart, von Gedichten und kritischen Kommentaren bis hin zu Polemik. Hupel lieferte ebenfalls Beiträge zu anderen Zeitschriften. Bereits in den 1770er Jahren beteiligte er sich an Schlegels Zeitschrift Vermischte Aufsätze und Urtheile, außerdem ab 1773 an Friedrich Nicolais Allgemeiner deutscher Bibliothek. Darüber hinaus sind Beiträge von Hupel zu finden in der Allgemeinen Literatur-Zeitung, dem Historischen Portefeuille, den Acta historico-ecclesiastica und der Russischen Bibliothek (St. Peterburg, Riga), übrigens sämtlich anonym. Es handelt sich hier vor allem um Rezensionen und kleinere Abhandlungen. Auch Möser lieferte zahlreiche Beiträge zu anderen Zeitschriften, wobei es sich zum Teil um Nachdrucke und Übernahmen handelte: Zu nennen sind wieder die Berlinische Monatsschrift (1782−1794), ferner die Braunschweigischen Anzeigen (1765−1783), die Mindischen Beyträge zum Nutzen und Vergnügen (1767−1781), das Hannoverische Magazin (1767−1777), die Lippischen Intelligenzblätter (1772), die Hamburgischen [...] Nachrichten (1773−1781), die Stats-Anzeigen (1782−1785) und das Westphälische Magazin zur Geographie, Historie und Statistik (1784). In den Wöchentlichen Osnabrückischen Anzeigen und den Beilagen zum Osnabrücker Intelligenzblatt erschienen nach 1782 ebenfalls noch Beiträge von Möser. Eine Besonderheit ist darin zu entdecken, dass er bereits früh mit der systematischen Zusammenstellung seiner diversen Aufsätze begann und diese in Buchform unter dem Titel Patriotische Phantasien (1774/1775/1778/1786) herausbrachte.21 Ebenso lieferte er Beiträge zu anderen Sammelwerken, etwa seine 1768 publizierte Vorrede zur Osnabrückischen Geschichte zu dem von Herder herausgegebenen Büchlein Von deutscher Art und Kunst (Hamburg 1773), das zur Programmschrift des Sturm und Drang avancierte,22 oder auch Rezensionen und poetische Stücke in der Allgemeinen Deutschen Bibliothek (Berlin, Stettin 1768) und in Gottscheds Neuer Büchersaal der schönen Wissenschaften und freyen Künste (Leipzig 1749),23 im Leipziger Almanach der deutschen Musen 1773−1776 und in Eyn feyner kleyner Almanach [...] (Berlin, Stettin 1778) sowie weiteren.24 Mösers in aller Regel ganz auf das Gemeinwohl zielende Beiträge erschienen in äußerst weiter Streuung, gerade weil viele Zeitschriften sie nachdruckten.25

21 Insgesamt 287 Stücke von Möser sind in den vier Bänden der Patriotischen Phantasien wiederabgedruckt. 22 Von Deutscher Art und Kunst. Einige fliegende Blätter. [Hg. v. Johann Gottfried Herder]. Hamburg 1773. Mösers Beitrag steht unter dem Titel „Deutsche Geschichte“ auf S. 165−182. 23 MB S. 84, Nr. 45 und S. 246, Nr. 685. 24 Vgl. die Abschnitte in der MB, S. 202−204: „2.2. Gedichte in Almanachen“; MB S. 205−207: „2.3. Rezensionen“. 25 Vgl. MB S. 246−262: „3. Unselbständig erschienene Wiederabdrucke zu Lebzeiten (einschließlich Übersetzungen)“ (= Nr. 685−770).

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5. Abhandlungen und Bücher Größere Abhandlungen, also mehr oder weniger eigenständige Sachliteratur und Biographien, wurden in Buchform publiziert. So war Schubart mit einem Band, dem vierten, 1776 an der insgesamt sechsbändigen Neuesten Geschichte der Welt beteiligt26 und legte im selben Jahr eine Biographie des Aufklärers und Direktors der Universität Ingolstadt Johann Adam Freiherr von Ickstadt vor.27 Er bewegte sich damit im Spannungsfeld zwischen Journalistik und Historiographie. Hupel publizierte schon 1771 ein Dienstfreundliches Promemoria von 30 Seiten, in dem er für religiöse Toleranz im Lavater-Streit um Moses Mendelssohn warb.28 Popularphilosophisch wandte er sich in den 1771 und 1772 veröffentlichten Druckschriften Vom Zweck der Ehen29 und Origines oder von der Verschneidung30 sexualethischen Fragen zu. Sein Interesse an theoretischen Abhandlungen belegt auch das 1774 anonym erschienene Buch Anmerkungen und Zweifel über die gewöhnlichen Lehrsätze vom Wesen der menschlichen und der thierischen Seele, das auch eigene psychologische Beobachtungen enthält.31 Hupels Hauptwerk sind jedoch die Topographischen Nachrichten von Lief- und Ehstland, eine handbuchartige Darstellung des Landes auf insgesamt 2.772 Seiten, zunächst in zwei dicken Bänden 1774 und 1777 erschienen, dann 1782 um einen dritten Band erweitert und schließlich 1789 ergänzt um Die gegenwärtige Verfassung der Rigischen und der Revalschen Statthalterschaft.32 Hier zeigt sich die typisch aufklärerische Sorge um die Erforschung und Wohlfahrt der Region. Hupel hatte zuvor bereits in der anonymen Schrift An das Lief- und Ehstländische Publikum33 einen kritischen Überblick über die Region geliefert und Reformvorschläge gemacht – und arbeitete auf diesem Gebiet weiter, indem er 1791 und 1793 einen Versuch die Staatsverfassung des Russischen Reichs darzustellen im Druck veröffentlichte.34 Für die Region lieferte er außerdem 1796 ein Oekonomisches Handbuch für Lief26 Neueste Geschichte der Welt, oder das Denkwürdigste aus allen vier Welttheilen in Staats- und Kriegs-Sachen, Oekonomischen und künstlichen Erfindungen, außerordentlichen Natur- und andern besondern Begebenheiten, auch vorgefallenen genealogischen Veränderungen auf das Jahr 1775. Augsburg 1776. VIII, 168 S. 27 Leben des Freyherrn von Ikstadt Churfürstl. Bairischen Geheimden Raths von Magister Schubart. Ulm 1776. XVI, 140 S. 28 Dienstfreundliches Promemoria an die, welche den Herrn Moses Mendelssohn durchaus zum Christen machen wollen, oder sich doch wenigstens herzlich wundern, dass er es noch nicht geworden ist. Riga 1771. 29 Vom Zweck der Ehen, ein Versuch, die Heurath der Castraten und die Trennung unglücklicher Ehen zu vertheidigen. Riga 1771. 166 S. 30 Origines oder von der Verschneidung, über Matth. 19. v. 10–12. Ein Versuch, zur Ehrenrettung einiger gering geachteten Verschnittenen. Riga 1772. 182 S. 31 Anmerkungen und Zweifel über die gewöhnlichen Lehrsätze vom Wesen der menschlichen und der thierischen Seele. Riga 1774. 376 S. 32 Topographische Nachrichten von Lief- und Ehstland. Bd. 1: Riga 1774. 590 S.; Bd. 2: Riga 1777. 628 S.; Bd. 3: Riga 1782. 764 S.; [Bd. 4:] Die gegenwärtige Verfassung der Rigischen und der Revalschen Statthalterschaft. Riga 1789. 790 S. [insges. 2772 S.]. 33 An das Lief- und Ehstländische Publikum. Riga 1772. 191 S. 34 Versuch die Staatsverfassung des Russischen Reichs darzustellen. 2 Bde. Riga 1791−1793. 684 u. 584 S.

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und Ehstländische Gutsherren.35 Ein weiteres Buch, Blicke auf Frankreichs jetzige Greuel inwiefern sie das europäische Staatsinteresse betreffen, wandte sich 1791 entschieden gegen die Französische Revolution.36 Justus Möser legte gegenüber Schubart und Hupel viel mehr kleinere Abhandlungen im selbständigen Druck vor. Dies ist zunächst vor allem auf sein politisches Amt in der Region zurückzuführen, aus dem heraus er einerseits konkrete juristische Hintergründe mit aktuellem Bezug öffentlich bekannt machte und erläuterte, wie etwa Das von Sr. Königl. Majestät in Großbritannien [...] bestätigte Herkommen in Ansehung der Absteuer und des Verzichts adlicher Töchter im Stifte Osnabrück37 und die Darstellung der Gründe welche Seine Königliche Hoheit den Herrn Herzog von York [...] bewogen haben das Simultaneum zu Fürstenau und Schledehausen einzuführen.38 Andererseits begleitete er einige zentrale Ereignisse – meistens anonym – mit selbstständigen publizistischen Beiträgen. So erschienen in den Jahren 1764/65 und 1767 allein sechs Drucke im Kontext der Vormundschaftsregierung, die vor allem der Erläuterung von Entscheidungen und Verordnungen geschuldet sind.39 Drei andere Drucke aus den Jahren 1753/54 betreffen eine Rechtssache des Freiherrn Philipp Maximilian von Hammerstein gegen den Statthalter und Dompropst von Kerssenbrock.40 Auch zu den Verhandlungen über die dem Hochstift Osnabrück auferlegten Kontri-

35 Oekonomisches Handbuch für Lief- und Ehstländische Guthsherren, wie auch für deren Disponenten; [...]. Erster Theil. Riga 1796. XVI, 316 S. 36 Blicke auf Frankreichs jetzige Greuel inwiefern sie das europäische Staatsinteresse betreffen. [Riga] 1791. 47 S. 37 Das von Sr. Königl. Majestät in Großbritannien [...] bestätigte Herkommen in Ansehung der Absteuer und des Verzichts adlicher Töchter im Stifte Osnabrück [...]. Osnabrück 1778. 44 Bl. (MB S. 50−51, Nr. 29). 38 Darstellung der Gründe welche Seine Königliche Hoheit den Herrn Herzog von York [...] bewogen haben das Simultaneum zu Fürstenau und Schledehausen einzuführen [...]. Osnabrück 1793. 60 Bl. (MB S. 67−68, Nr. 37). 39 Memorial An Eine Hochlöblich-allgemeine Reichs-Versammlung zu Regenspurg [...]. o. O. 1764. 8 S. (MB S. 22−23, Nr. 19a); Pro Memoria der Chur-Braunschweigischen Comitial-Gesandtschaft [...]. o. O. 1764. 32 S. (MB S. 23, Nr. 19b); Kurze und vorläufige Abfertigung der [...] von dem Osnabrückischen Dom-Capittel übergebenen, [...] Vorlegung dessen [...]. o. O. 1764. 41 Bl. (MB S. 23, Nr. 19c); Vergleichung und Betrachtung der Bischöflichen Minderjährigkeit [...]. o. O. 1764. 16 S. (MB S. 23, Nr. 19d); Kurtze Anzeige der Gründe, worauf die von Sr. Königl. Majestät von Grosbritannien [...] in Ansehung der Osnabrückischen Bischofs-Wahl [...] genommene Maasregeln gebauet sind. o. O. 1765. 28 Bl. (MB S. 24, Nr. 19e); Rechtliche Behauptung derer Gründe, worauf die von Sr. Königl. Majest. von Großbritannien [...] in Ansehung der Osnabrückischen BischofsWahl, [...] genommenen Maasregeln gebauet sind, [...]. o. Ο. 1767. 60 Bl. (MB S. 27, Nr. 22). 40 Memoriale an Eine Hochlöbliche allgemeine Reichs-Versammlung in völlig entschiedener RechtsSache [...]. o. O. 1753. 32 S. (MB S. 17, Nr. 14a; Verzeichnis der im deutschen Sprachraum erschienenen Drucke des 18. Jahrhunderts, URL: http://www.vd18.de (im Folgenden: VD18): 11753307 [02.09.2021]); Abermahliges Memoriale an Eine Hochlöbliche allgemeine Reichs-Versammlung in völlig entschiedener Rechts-Sache [...]. o. O. 1754. 24 S. (MB S. 18, Nr. 14b; VD18:11753315 [Wie auch das Vorhergehende im VD18 nicht mit Möser in Verbindung gebracht!]); Nöthig befundenes Neben-Memoriale an eine Hochlöbliche allgemeine Reichs-Versammlung in völlig entschiedener Rechts-Sache [...]. o. O. 1754 (MB S. 18, Nr. 14c: kein Exemplar nachgewiesen, auch nicht im VD18 [21.06.2018]).

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butionslasten im Siebenjährigen Krieg ließ Möser einen Lettre d’un Membre des Etats (1759) und einen Seconde Lettre d’un Membre des Etats (1761) drucken, flankiert von einer Unterthänigste[n] Vorstellung und Bitte Mein Joseph Patridgen (1760), welche die „Verhandlungen ‚atmosphärisch‘ [...] beeinflussen“ sollte.41 Weitere gesondert publizierte Abhandlungen Mösers widmeten sich in erster Linie der Frage nach der Religion in Staat und Gesellschaft. Möser nahm auf diese Weise an den öffentlichen Diskursen weit über die Region hinaus aktiv teil und positionierte sich – obgleich zuweilen anonym – gegenüber Rousseaus Émile, ou De L’éducation (1762)42 und Voltaires Lettres philosophiques [...] sur les Anglais (1734)43 sowie Mendelssohns Phädon oder über die Unsterblichkeit der Seele (1767).44 Um die politischen Implikationen kirchlicher Verfasstheit geht es in zwei Druckschriften zur „Vereinigung der Evangelischen und Catholischen Kirche“ und zum Zölibat.45 Jenseits der amtlichen Tätigkeit liegen Mösers Schriften zu Literatur und Theater. Sein Plädoyer für die Beibehaltung des Harlekin als typisch deutsche Figur in Harlekin, oder Vertheidigung des Groteske-Komischen (1761) hat unter den Zeitgenossen große Beachtung erfahren und wurde unter anderem von Lessing positiv besprochen.46 Und seine Schrift Ueber die deutsche Sprache und Litteratur (1781) positioniert die deutsche Dichtung souverän gegen das frankophile Konzept Friedrichs II.47 Als literarisches Hauptwerk Mösers gelten die in vier Bänden erschienenen Patriotischen Phantasien (1775−1786), deutsche Prosa, die in gleichem Maße aufklärerisch und unterhaltsam, kurzweilig und informativ ist. Sie stellen allerdings im eigentlichen Sinne kein eigenes Werk mit gesonderter Beschäftigung dar, sondern entsprangen aus den Zeitschriftenbeiträgen. Die gesammelte Neuedition verlieh den Texten jedoch in der literarischen Öffentlichkeit deutlich längere Präsenz und verschaffte 41 Lettre d’un Membre des Etats [...]. o. O. 1759. 12 S. (MB S. 19, Nr. 17); Seconde Lettre d’un Membre des Etats [...]. o. O. 1761. 8 S. (MB S. 20, Nr. 17B); Unterthänigste Vorstellung und Bitte Mein Joseph Patridgen [...]. [Marburg] 1760. 8 S. (MB S. 20, Nr. 17A). Das Zitat: MB, S. 19. 42 Schreiben an den Herrn Vicar in Savoyen, abzugeben bei Herrn Johann Jacob Rousseau. [Hamburg, Leipzig 1763/65?] (MB S. 24, Nr. 20 [Erstdruck verschollen]; engl. Übersetzung: London 1765; nicht im VD18 [21.06.2018]). 43 Lettre à Mr. de Voltaire, contenant un Essai sur la Caractère du Dr. Martin Luther et sa reformation. Hamburg 1750. 12 Bl. (MB S. 15–16, Nr. 13, deutsche Übersetzungen: Göttingen 1752 und Lübeck 1765). 44 Schreiben an Herrn Aaron Mendez da Costa, Oberrabbiner zu Utrecht, über den leichten Uebergang von der Pharisäischen Secte zur christlichen Religion. [1767/73?]. 24 S. (MB S. 33, Nr. 24 [Erstdruck verschollen]; nicht im VD18 [21.06.2018]). 45 Schreiben an den P. J. K. in W... den ersten Schritt zur künftigen Vereinigung der Evangelischen und Catholischen Kirche betreffend. Hamm 1780. 16 S. (MB S. 61, Nr. 32); Der Celibat der Geistlichkeit von seiner politischen Seite betrachtet. Osnabrück, Leipzig 1783. 24 S. (MB S. 63, Nr. 35). 46 Harlekin, oder Vertheidigung des Groteske-Komischen. o. O. 1761. 80 S. (MB S. 20−21, Nr. 18; englische Übersetzung 1766). 47 Ueber die deutsche Sprache und Litteratur: Schreiben an einen Freund, nebst einer Nachschrift die National-Erziehung der alten Deutschen betreffend. Osnabrück 1781. 28 Bl. (MB S. 61−62, Nr. 33); Ueber die deutsche Sprache und Litteratur: An einen Freund. Hamburg 1781. 48 S. (MB S. 61−62, Nr. 34).

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ihnen eine weitaus größere Beachtung.48 Das einzige groß angelegte schriftstellerische Unternehmen Mösers, die Osnabrückische Geschichte, ist wiederum eng mit seiner amtlichen Tätigkeit verbunden, wenn auch die Verbindung einer regionalhistoriographischen Beschäftigung mit einem Staatsamt keineswegs notwendig ist – wie das Beispiel Hupel belegt. Dass Möser jedoch eine neue, nicht mehr allein an Herrscherdynastien, sondern vielmehr an der Entwicklung von Gemeinwesen und Wirtschaft orientierte Geschichtsschreibung entwickeln konnte, die dann maßgeblichen Einfluss gewann, ist auch den spezifischen Verhältnissen in Osnabrück geschuldet.49

6. Edition und Übersetzung anderer Autoren Zu diesen selbst verantworteten Abhandlungen, die im Wesentlichen aus eigener Feder stammten, trat als ein wichtiges ergänzendes Medium die Edition von Werken anderer Verfasser. Hupel hat das, soweit ich sehe, ausschließlich innerhalb seiner Nordischen Miscellaneen unternommen. Freilich sind dort eben auch nicht selten ganze Bücher enthalten, man denke nur an Fischers Ergänzungen zu Gadebuschs Livländischer Bibliothek oder die Materialien zur [...] Adelsgeschichte.50 Justus Möser hat diese vermittelnde Tätigkeit des Editors ebenfalls ausschließlich innerhalb der Osnabrückischen Intelligenz-Blätter nebst den nützlichen Beylagen ausgeübt, während größere buchförmige Werke anderer Verfasser hier nicht aufgenommen worden sind. Schubart hat sich demgegenüber breiter als Herausgeber oder Mitherausgeber engagiert. Hier sind zunächst dichterische Werke wie die Schwäbischen Beyträge zu Gellerts Epicedien (1770), eine nicht autorisierte Ausgabe Klopstocks Poetische und prosaische Werke (1771) und Fabeln und Erzählungen von Johann Friedrich Schlotterbek (1790) sowie das Trauerspiel Der Aufruhr zu Pisa von Ludwig Philipp Hahn (1776) zu erwähnen.51 Schubart popularisiert und protegiert, was ihm gefällt, und will da48 Patriotische Phantasien. 4 Bde. Berlin 1775 [1774], 1776 [1775], 1778, 1786 u. weitere spätere Auflagen. (MB S. 34−44, Nr. 25−26; S. 46−50, Nr. 28; S. 63−67, Nr. 36). 49 Osnabrückische Geschichte: Allgemeine Einleitung. Osnabrück 1768. 316 S. (MB S. 27−33, Nr. 23); Osnabrückische Geschichte. 2 Bde. Neue verm. und verb. Aufl. Berlin, Stettin 1780. zus. 782 S. (MB S. 51−61, Nr. 30−31). Auch dieses Werk ist freilich zunächst in Mösers Zeitschrift erschienen. 50 Hrn. J.B. Fischer’s Beyträge und Berichtigungen zu Hrn. F.  K. Gadebusch livländischer Bibliothek. Nebst andern kürzern Aufsätzen etc. Der nordischen Miscellaneen viertes Stück von August Wilhelm Hupel. Riga 1782; Materialien zu einer liefländischen Adelsgeschichte, nach der bey der letzten dasigen Matrikul-Commission angenommenen Ordnung. Nebst andern kürzern Aufsätzen etc. Der nordischen Miscellaneen 15tes, 16tes und 17tes Stück von August Wilhelm Hupel. Riga 1788; Materialien zu einer ehstländischen Adelsgeschichte, nach der in der dasigen Adels-Matrikul beliebten alphabetischen Ordnung. Nebst andern kürzern Aufsätzen etc. Der nordischen Miscellaneen 18tes und 19tes Stück von August Wilhelm Hupel. Riga 1789; Materialien zu einer öselschen Adelsgeschichte, nach der im Jahr 1766 dort beliebten alphabetischen Ordnung. Nebst andern kürzern Aufsätzen etc. Der nordischen Miscellaneen 20tes und 21tes Stück von August Wilhelm Hupel. Riga 1790. 51 Schwäbische Beyträge zu Gellerts Epicedien. Stuttgart 1770. XIV, 40 S.; Friedrich Gottlieb Klopstocks kleine poetische und prosaische Werke. Frankfurt u. Leipzig 1771. XLVI, 196 S., 4 Bl., 238 S.;

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mit den literarischen Geschmack des Publikums formen. Wie weit Schubarts Interessen und Engagement reichten, zeigen seine Herausgabe des Traktats Der wahre Priester (1775),52 der Abhandlung vom Straßenbau (1776)53oder der Biographie des Franz von der Trenk, Pandurenobrist (1788–1790).54 Schubarts Beteiligung an der deutschen Edition einer französischen Biographie von Papst Klemens dem XIV. (1774/75),55 der den Jesuitenorden verboten und deshalb Schubarts ganze Sympathie hatte, leitet bereits hinüber zu dem Medium der Übersetzung, das häufig eben mit der Herausgeberschaft in Verbindung steht und auf ähnlichen Motivationen beruht. Schubart hat bereits 1767/68 Satiren von Johann Friederich Herel aus dem Lateinischen übersetzt,56 später folgte neben vielen kleineren Gedichten auch die Übersetzung der Oper Die glücklichen Reisenden (1789) von Pasquale Anfossi aus dem Italienischen.57 In Mösers Werk sind selbst vorgenommene Übersetzungen aus anderen Sprachen nicht zu finden. Ganz Staatsmann und juristischer Gelehrter bediente er selbst sich zuweilen in seinen Publikationen der lateinischen oder der französischen Sprache, während seine eigenen Schriften in andere Sprachen übersetzt wurden. Die niederdeutsche Sprache beherrschte er als gebürtiger Osnabrücker selbstverständlich ebenso und interessierte sich auch für sie.58 In seinem gedruckten Werk spielt sie jedoch kaum eine Rolle. Bei Hupel haben Übersetzungen eine ganz andere Bedeutung. Denn er übersetzte medizinische Literatur ins Estnische: zum einen die erste estnische Zeitschrift Lühhike öppetus von Peter Ernst Wilde, 1766/67 in 41 Stücken erschienen (als eine „Kurze

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Fabeln und Erzählungen nach Phädrus, und in eigener Manier. Von Johann Friedrich Schlotterbek mit einer Vorrede von Schubart. Erstes Bändchen. Stuttgart 1790. XXXII, 190 S.; [Ludwig Philipp Hahn:] Der Aufruhr zu Pisa, ein Trauerspiel in fünf Aufzügen. Ulm 1776. 192 S. Der wahre Priester. Pardon all but thyself. [Ulm] 1775. XVI, 188 S. – Schubart ist Herausgeber; Verfasser ist Philipp Ludwig Ammermüller oder Gottlob David Hartmann. Abhandlung vom Straßenbau. Von Lukas Voch, Architekt und Ingenieur; auch der kaiserl. Akademie freyer Künste und Wissenschaften Ehrenmitglied. Augsburg 1776. VIII, 138 S. – Laut Goedeke stammt die Vorrede von Schubart. Franz von der Trenk. Pandurenobrist. Dargestellt von einem Unpartheiischen. Mit einer Familiengeschichte und Vorrede [von Schubart]. 3 Bde. Stuttgart 1788−90. XL, 216 S.; XXIV, 184 S.; XXIV, 256 S. Übersetzung von Louis Antoine Marquis de Caraccioli: La Vie du pape Clément XIV. durch Christoph Heinrich Korn. Von Schubart ist die Einleitung zu Teil III: Leben Klemens des XIV. Römischen Pabsts. Worinnen noch mehrere besondere Nachrichten von dessen Person, Regierung und Absterben, Nebst der Fortsetzung der Geschichte des Conclave, und der Beschreibung der Wahl und Krönung des neuen Oberhaupts der Kirche Pabst Pius VI. nebst dessen Bildniß enthalten sind. Mit wichtigen und vielen ganz und gar unbekannten Anekdoten. Dritter und letzter Theil. Berlin u. Leipzig 1775. XXXVI, 128 S. Johann Friederich Herels Drey Satiren aus dem Lateinischen übersetzt. Altenburg 1767. 136 S.; Auszug aus Herrn Herels kritischen Sendschreiben an Herrn Meusel in Halle die Aufnahme seiner Satiren in Moropolis betreffend. Aus dem Lateinischen übersetzt. Altenburg 1768. 16 S. Die glücklichen Reisenden. Eine Operette aus dem Italienischen. Stuttgart 1789. So lieferte er zu Friedrich Nicolais Almanach plattdeutsche westfälische Volkslieder. Vgl. Brief von Möser an Nicolai. Osnabrück, 09.07.1777. In: Justus Möser: Vermischte Schriften. Hg. v. Friedrich Nicolai. Zweyter Theil. Berlin u. Stettin 1798, S. 162−164.

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Unterweisung zur Behandlung von Krankheiten und Verletzungen bei Mensch und Vieh“), sowie zum anderen 1771 Wildes Arsti raamat, ein „Medizinbuch zur Anleitung derjenigen, die die Krankheiten erraten und heilen wollen“.59 Hier geht es also um die Vermittlung von grundlegendem medizinischem Wissen an die estnische, vor allem bäuerliche Bevölkerung. Wer diese erreichen wollte, musste – anders als in deutschen Landen – eben zum Mittel der Übersetzung greifen.

7. Lehrbücher Hupel veröffentlichte 1780 auch eine Ehstnische Sprachlehre für beide Hauptdialekte nebst Wörterbuch, um Einwanderern und den einheimischen Deutschen das Erlernen des Estnischen zu erleichtern. Das Lehrbuch bringt keine wesentlichen neuen Erkenntnisse oder Ansätze, sondern stellt sich ganz in den Dienst der Vermittlung.60 Andererseits trug Hupel mit seinem Idiotikon der deutschen Sprache in Lief- und Ehstland (1795 in den Neuen Nordischen Miscellaneen und separat publiziert)61 dazu bei, das Bewusstsein für die Eigenart der deutschen Sprache in der Region zu schärfen. Von Möser gibt es weder für die Schule noch etwa für die juristische Ausbildung oder den Ackerbau ein Lehrbuch. Allerdings bilden seine zahlreichen Aufsätze zu diesen und vielen weiteren Themen mit der pädagogischen Grundhaltung ein großes Potential für die lehrhafte Vermittlung von praxisrelevanten Informationen. Aus dieser Perspektive können seine Zeitschriftenbeiträge und mehr noch die Patriotischen Phantasien als ein umfassendes Lehrbuch für das Volk angesehen werden. Eine sprachlich-ständische Trennung wie bei Hupel gab es für Schubart in Schwaben nicht. Seine beiden Lehrbücher, die Vorlesungen über die schöne Wissenschaften und die Vorlesungen über Mahlerey, die beide 1777 erschienen, widmen sich insofern ganz im Sinne der Volksaufklärung der Vermittlung von ursprünglich akademischem Wissen an alle Bevölkerungsschichten.62 Denn es handelt sich bei diesen Büchlein 59 Lühhike öppetus mis sees monned head rohhud täeda antakse, ni hästi innimeste kui ka weiste haigusse ning wiggaduste wasto [Kurze Unterweisung zur Behandlung von Krankheiten und Verletzungen bei Mensch und Vieh]. Põltsamaa (Oberpahlen) 1766−1767; Arsti ramat nende juhhatamisseks kes tahtwad többed ärraarwada ning parrandada [Medizinbuch zur Anleitung derjenigen, die die Krankheiten erraten und heilen wollen]. Põltsamaa (Oberpahlen) 1771. 162 S. Der Arzt Wilde hatte in beiden Fällen auf Deutsch den Text verfasst, der dann von Hupel ins Estnische übersetzt wurde. Vgl. auch Jürjo: Aufklärung (= Anm. 7), S. 39−42, 315f. u. ö. 60 Ehstnische Sprachlehre für beide Hauptdialekte den revalschen und den dörptschen; nebst einem vollständigen Wörterbuch. Riga u. Leipzig 1780. 553 S.; zweite, erg. Aufl. Mitau 1818. 61 Idiotikon der deutschen Sprache in Lief- und Ehstland. Riga 1795. 272 S. 62 Vorlesungen über die schöne [!] Wissenschaften für Unstudierte von Herrn Professor Schubart. Herausgegeben von einem seiner ehmaligen Zuhörer. Augsburg 1777 = Kurzgefaßtes Lehrbuch der schönen Wissenschaften für Unstudierte von Herrn Professor Schubart. Herausgegeben von einem seiner ehmaligen Zuhörer. Münster 1777. X, 112 S.; Vorlesungen über Mahlerey, Kupferstecherkunst, Bildhauerkunst, Steinschneidekunst und Tanzkunst von Herrn Professor Schubart. Herausgegeben von einem seiner ehmaligen Zuhörer. Augsburg 1777. Ch. Fr. Dan. Schubart’s Kurzgefaßtes Lehrbuch der schönen Wissenschaften. Zwote ganz umgearbeitete und verm. Aufl. Münster, Osnabrück u. Hamm 1781. VIII, 216 S.

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um Mitschriften von Vorlesungen, die er öffentlich im Wirtshaus gehalten hat. Sie erschienen ohne seine Beteiligung, so dass in medialer Hinsicht Schubarts mündliche Vorlesung, also die öffentliche Belehrung eines Publikums, zu benennen ist. Generalisierend muss daher die mündliche Rede dem gedruckten Wort an die Seite gestellt werden. Dieser Aspekt darf nicht vergessen werden, wenn die Tätigkeit der Aufklärer in der Region ganzheitlich betrachtet werden soll – und nur unter dieser Prämisse sind die Zusammenhänge zu verstehen, denn schriftliche und mündliche Vermittlung gehören zusammen. Zahlreiche gedruckte Schriften gehen ursprünglich oder zumindest gleichzeitig auf mündliche Ereignisse zurück. Über Schubart ist etwa bekannt, dass er schon in den Diktaten, die er seine Schüler schreiben ließ, aufklärerische Bildung auf eingängige Weise vermittelte.63 Ähnlich dürfte es bei seinen frühen Predigten gewesen sein, die er zuweilen in gereimter Form gehalten hat. Und auch Hupels Predigten, die leider nicht erhalten sind, weil er seinen Nachlass verbrennen ließ, dürften neben der theologischen Dimension immer auch zugleich eine aufklärerische Funktion besessen haben. Von Möser gibt es in dieser Hinsicht wenig zu vermerken. Sein öffentliches rednerisches Auftreten war selbstverständlich immer mit der Würde seiner Ämter verbunden, so dass von ihm keine Vorlesung im Wirtshaus und genauso wenig eine Predigt zu erwarten war. Allerdings verdienen seine Gelegenheitsschriften hier Erwähnung, angefangen mit dem Carmen heroicum, das er 1740 beim Abgang vom Ratsgymnasium natürlich bei einem entsprechenden Aktus vorgetragen hat.

8. Mündliche Vermittlung auf Bühne und Kanzel – Predigt, Dichtung und Musik Bei Schubart stand die mündliche Vermittlung auch im Zentrum, wenn es um seine Tätigkeit als Theaterdirektor ging. Ein komplettes Schauspiel hat er nicht vorgelegt, doch ein Vorspiel und mehrere Prologe sowie Epiloge verfasst, zunächst 1775/76, dann vor allem in den 1780er Jahren.64 Dabei handelte es sich einerseits um Gele63 Vgl. Georg Fehleisen: Schuldiktate Schubarts während seiner Wirksamkeit an der Geislinger Schule 1763−69. Tübingen 1929. 64 Thalias Opfer. Ein Vorspiel von Herrn M. Schubart. Ulm 1776; Prolog für Demoiselle Reichard, als Emilia Gallotti. Verfertigt von M. Schubart. Den 1. Julii 1776. [Ulm] 1776; Prolog und musikalischer Epilog am Geburtsfeste des Herzogs zu Wirtemberg. o. O. 1782; Die Stunde der Geburt. Ein Prolog auf das Geburtsfest des Herzogs von Wirtemberg. Von Zumsteeg in Musik gesetzt. Zum 11. Februar 1788. o. O. 1788; Der Greis. Ein Prolog mit Gesang. Am Höchsten Namensfeste Unsers Durchlauchtigsten Herzogs Karl, dargestellt von der herzogl. Bühne. Mit Musik von Zumsteeg. o. O. 1789; Der Tempel der Dankbarkeit. Ein Opfer. Am höchsten Geburtsfeste des durchlauchtigsten Herzogs Karl gebracht von der herzogl. Schaubühne. Mit Musik von Zumsteeg. Zum 11. Februar 1790. o. O. 1790; Prolog am Namensfeste Unsers Durchleuchtigsten Herzogs Carl von Wirtemberg. Von Schubart. Auf der Herzoglichen Schaubühne deklamiert Den Vierten November 1790. Stuttgart 1790; Prolog von Schubart, deklamiert von Madame Kaufmann. Zum Namensfeste der Herzogin, nachträglich am 5. statt am 4. Oktober 1790 gefeiert. o. O. 1790; Nekrine. Ein Prolog auf das Namensfest Der Durchlauchtigsten Herzogin Franziska von Wirtemberg. Den

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genheitsdichtung auf den Herzog oder die Herzogin, andererseits um Kommentierung und Erläuterung des jeweiligen Stückes. Die Übergänge zur fiktionalen Dichtung sind hier fließend. Und genau in diesem Bereich entfaltete Schubart seine ganze sprachliche Virtuosität. Dichtung als Medium transportiert bei ihm immer auf möglichst eingängige und angemessene Weise in Wort und Klang die aufgeklärte Geisteshaltung. Schon früh veröffentlichte er Sammlungen von Gedichten und kleinen Prosastücken. Seine volkstümlichen Lieder belegen die Intention und Fähigkeit, auf einfache und originelle Weise und in eben solcher Sprache sich ins Ohr zu schmeicheln, während er zugleich als Orgelvirtuose, Komponist65 und Musiktheoretiker66 von Zeitgenossen hoch geschätzt wurde. Insofern gehört jedenfalls auch das Medium Musik hierher. Bei Hupel fehlen dichterische und musikalische Medien gänzlich. Seine Bühne war die Kanzel, auf der er seine Gemeinde erreichte, natürlich in estnischer Sprache, manchmal auch zusätzlich auf Deutsch.67 Daneben ist die seit 1771 bestehende Lesegesellschaft in Oberpahlen zu erwähnen.68 Zwar war dies keine gesellige Runde mit Domizil, sondern die Bücher wurden in zentraler Organisation durch Hupel unter den Mitgliedern herumgesandt. Der briefliche Austausch unter den Lesern musste das Gespräch über die gelesenen Bücher insofern häufig ersetzen. Hupel erreichte auch auf diese Weise ein Publikum, das damit aber, wie beim geselligen Gespräch, nicht mehr nur Publikum, sondern aktiver Teilnehmer am Prozess der Aufklärung war. Dichtung spielt bei Möser nur am Rande eine Rolle. Zwar brachte er mit seinem Arminius: Ein Trauerspiel (1749) einen regionalgeschichtlichen Stoff mit nationalpolitischen Implikationen auf die Bühne,69 doch handelt es sich bei den weiteren Dichtungen durchgängig um Gelegenheitsschriften. Persönliche Anlässe nutzte Möser dabei konsequent, um aufklärerisches Gedankengut in der Öffentlichkeit zu verbreiten. 1746 hatte er in Briefform seinen „angenehmen Aufenthalt“ im Badeort

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Vierten Oktober 1791. Verfertigt von Schubart, und auf dem großen Herzoglichen Theater deklamirt von Madame Gauß, Musik von Hofmusikus Schwegler. Stuttgart 1791; Poetischer Prolog von Schubart, gesprochen von Friedrich Haller. Zum 11. Febr. 1791. o. O. 1791; Epilog, gesprochen von der neunjährigen Nanette Berner. [Ulm 1775]; Epilog zu Jean Calas, 1787; und weitere. Etwas für Clavier und Gesang von Schubart. Winterthur [1783]; Klaggesang an mein Klavier auf die Nachricht von Minettens Tod, von M. Christian Friedrich Daniel Schubart. Herausgegeben und den Liebhabern des Gesanges gewidmet von Christoph Friedrich Wilhelm Nopitsch. Musikdirektor in Nördlingen. Augsburg 1783; Sang und Spiel von C. F. D. Schubart für C. L. v. Buttlar. o. O. 1783; Treize Variations pour le Clavecin ou Piano-forte par Monsieur Schubart. Speier [1788]; Opus 7 (Concerto für Cello in 3 Sätzen); Rondo. Auf Freudenfeste [o. O. 1763]; Musicalische Rhapsodien. Erstes [bis] Drittes Heft. Stuttgart 1786. Hier ist vor allem hinzuweisen auf seine erst posthum veröffentlichte und vielbeachtete Schrift: Ideen zu einer Ästhetik der Tonkunst. Hg. v. Ludwig Schubart. Wien 1806. Vgl. Jürjo: Aufklärung (= Anm. 7), S. 50. Vgl. ders.: Lesegesellschaften in den baltischen Provinzen im Zeitalter der Aufklärung. Mit besonderer Berücksichtigung der Lesegesellschaft von Hupel in Oberpahlen. Teil 1−2. In: Zeitschrift für Ostforschung 39 (1990), S. 540−571; 40 (1991), S. 28−56. Die Gründung in Oberpahlen ist im Verhältnis zu Deutschland relativ früh. Arminius: Ein Trauerspiel. Hannover u. Göttingen 1749. 52 Bl. (MB S. 13−14, Nr. 11).

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Pyrmont geschildert.70 Eine Memorialschrift auf den adeligen Freund Johann Friedrich von dem Bussche nutzte er 1756 zur „methodische[n] Reflexion auf die Bedeutung der subjektiven Empfindungen von ‚Neigungen und Leidenschaften‘ für das Individuum“.71 Ähnlich befasste er sich in einer lateinischen Gratulationsrede auf den Freund und Professor Ernst August Bertling 1749 mit dem altgermanischen Religionswesen.72 Die weiteren Dichtungen, die ebenfalls der frühen Zeit bis Mitte der 1750er Jahre angehören, teilen sich auf in empfindsame Lieder aus dem familiären Bereich sowie erhabene Oden und Panegyrik auf hochstehende Persönlichkeiten oder Ereignisse aus dem weiten Kreis der amtlichen Tätigkeit.73

9. Fazit In Schubart, Hupel und Möser sind drei Typen des Aufklärers in der Region zu sehen, die trotz ihrer gegensätzlichen Mentalität und völlig unterschiedlichen Biographien Ansehen und Einfluss bei den Zeitgenossen hatten. Schubart war enthusiastisch und leidenschaftlich, aufbrausend und voller Begeisterung und Mitteilungsdrang. Freiheit galt ihm alles und war in gewisser Weise ja auch die Bedingung seines wenig zurückhaltenden öffentlichen Auftretens – gerade seine politischen Äußerungen waren es dann ja auch, die ihm viel Ärger einbrachten. Er nahm Partei für die 70 Schreiben des Verfassers an seine Schwester über den angenehmen Aufenthalt zu Pyrmont. o. O. 1746. 16 S. (MB S. 9−10, Nr. 7). 71 Der Werth wohlgewogener Neigungen und Leidenschaften: Dem Andenken Herrn Johan Friedrichs von dem Bussche gewidmet. Hannover 1756. 42 Bl. (MB S. 19, Nr. 16), hier zit. nach „Patriotische Phantasien“. Justus Möser 1720−1794. Aufklärer in der Ständegesellschaft. Ausstellung anläßlich des 200. Todesjahres Justus Mösers. Ausstellungskonzeption und -katalog: Henning Buck. Bramsche 1994 (Schriftenreihe Kulturregion Osnabrück 6 / Schriften der Universitätsbibliothek Osnabrück. Sonderbd. 1), S. 50. 72 De Veterum Germanorum et Gallorum Theologiae Mystica et Populari [...]. Osnabrück 1749. 18 S. (MB S. 13, Nr. 10A). Bertling wurde 1749 an der Universität Helmstedt zum Doktor der Theologie promoviert und vom außerordentlichen zum ordentlichen Professor ernannt. 73 Die weise und tapfre Regierung Seiner Königlichen Majestät in Preussen und Churfürstlichen Durchlaucht zu Brandenburg Friedrichs. o. O. [1741]. 8 S. (MB S. 7−8, Nr. 1); Ode à l’occasion que Monsieur Henri Meuschen d’Osnabruck o. O. [1741] (MB S. 8, Nr. 2 [hier noch nicht nachgewiesen, aber vgl. Abdruck in Siemsen u. Vogtherr: Justus Möser im Kontext (= Anm. 11), S. XI− XIV]); Die Gerechten und siegreichen Waffen Seiner Königlichen Majestät in Grosbrittannien und Churfürstlichen Durchlaucht zu Hannover Georgs des Andern. Göttingen 1743. 24 S. (MB S. 8, Nr. 3); Ihrem hochansehnlichen Präsidenten Dem Magnifico Hochedelgebohrnen und Hochgelahrten Herrn Herrn Johann Matthias Gesner. Göttingen 1743. 8 S. (MB S. 8−9, Nr. 4); Jubelode womit ihren gnädigsten Obervorsteher Den Hochgebohrnen Grafen und Herrn Herrn Heinrich den Eilften Aeltere Reuß [...] besinget die Deutsche Gesellschaft in Göttingen. Göttingen 1743. 8 S. (MB S. 9, Nr. 5); Seinem Lieben Bruder Itel Ludewig Möser. Osnabrück 1745. 4 S. (MB S. 9, Nr. 6); Ode. Am Tage des zu Oßnabrück den 25. Octob. 1748 wegen des vor hundert Jahren daselbst geschlossenen Friedens. Osnabrück 1748 (MB S. 13, Nr. 10 – ohne Nachweis); Die Vollkommne Frau bey der Vermählung Herrn Gottfried Schwarzen [...] mit Jungfer Gerhardinen Brouning. Osnabrück 1750. 4 S. (MB S. 15, Nr. 12); Empfindungen bey dem frühzeitigen und schmerzhaften Absterben einer Herzlich Geliebten Schwester Anna Maria Elisabeth Mösers [...]. Osnabrück 1754. 4 S. (MB S. 18−19, Nr. 15).

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Unterprivilegierten und unterminierte in seinem Lebenswandel und mit teils revolutionären Ansichten die ständischen Grenzen. Hupel war dagegen ernst, analytisch und arbeitsam und kann als „liberal-konservativ“74 oder reformkonservativ bezeichnet werden. Seine Kraft eher demütig in den Dienst der Aufgabe stellend, steht bei ihm das geistliche Amt des fürsorglichen Predigers und um das Wohl seiner Gemeinde wie aller Menschen besorgten Seelsorgers beständig im Hintergrund. Dabei wandte er sich gerade auch den lebenspraktischen Problemen in seiner unmittelbaren Umwelt zu, nicht zuletzt mit geschichtlich fundierten Bemühungen um das Verständnis der livländischen Verhältnisse. Mösers gesellschaftlich-publizistisches Engagement war dem von Hupel zunächst sehr ähnlich und richtete sich vor allem auf den praktischen Nutzen gerade in der eigenen Region. Möser besaß jedoch gegenüber Hupel und Schubart aufgrund seiner herausgehobenen Position als Teil der Obrigkeit ein ganz anderes persönliches Gewicht in der Gesellschaft. Während Schubart also etwa der fürstlichen Regierung in Württemberg kritisch gegenüberstand, führte Möser selbst de facto die Regierung im Hochstift Osnabrück. Aus dieser Konstellation ergibt sich die große Anzahl von Mösers juristischen, mehr oder weniger amtlichen Publikationen, in denen nicht zuletzt sein eigenes oder Regierungshandeln erläutert und vermittelt wird. Allen dreien gelang es, in ihrem Umkreis eine breite Wirkung zu erzielen und darüber hinaus auch überregional an der deutschen Aufklärungsbewegung teilzuhaben. Für alle drei gilt, dass sie durch einen umfangreichen Briefwechsel mit zahlreichen Aufklärern ihrer Zeit in Verbindung standen. Sie sind auf ihre Art lokale Größen, deren Wirken die unmittelbare Umgebung massiv geprägt hat, indem sie die Anerkennung der Aufklärung und eine Verbesserung der Zustände vor Ort beherzt angingen. Die Teilhabe an der überregionalen Entwicklung und briefliche Kommunikation mit den zentralen Personen sicherten dabei die gesamtdeutsche Anbindung des regionalen Wirkens und das Einfließen aktueller Entwicklungen in die Region. Dieses Wirken in der Region nur als ‚Volksaufklärung‘ zu klassifizieren, greift jedoch zu kurz. Bei Schubart, Hupel und Möser ist keine Trennung zu sehen: Sowohl in den höheren Ständen und den gelehrten Kreisen, zu denen sie selbst gehörten, als auch in den Unterschichten bzw. für diese entfalteten sie ihre Tätigkeit. Dazu wurden viele verschiedene mediale Formen benutzt, die grundsätzlich strukturelle Ähnlichkeiten aufweisen, aber im Hinblick auf die jeweilige Auswahl durchaus sehr unterschiedlich sein können. Viele der hier aufgezeigten Unterschiede sind mit dem gegensätzlichen Charakter der drei Aufklärer zu erklären. Dazu gehört auch der dichterisch-ästhetische nationalliterarische Schwerpunkt bei Schubart, dem Hupels regionalgeschichtliches Interesse und Mösers breites volkspädagogisches Engagement gegenüberstehen. Die Aufklärer experimentierten mit ihren Zeitschriftengründungen, die dann häufig zum schnellen Ende einer Zeitschrift führten – wie etwa beim frühen Möser zu sehen. Aber auf diese Weise entstanden eben auch jene Zeitschriften, die dann aufgrund ih-

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rer jeweiligen Eigenart und der jeweiligen Umstände zu langfristigen Erfolgsprojekten wurden: Schubarts Deutsche Chronik, Hupels Nordische Miscellaneen und Mösers Osnabrückische Intelligenzblätter. Gleichwohl ist bei allen, sowohl in den Zeitschriften als auch separat, eine große Bandbreite an Vermittlungsformen festzustellen, die je nach konkreter Anforderung ausgewählt und zum Teil im Prozess der Aufklärung selbst erst mit entwickelt und ausgestaltet wurden – wie etwa die estnische Zeitschrift. So wuchs die mediale Vielfalt an der Aufgabe, indem die für den Prozess der Aufklärung jeweils passenden Formen der Vermittlung gefunden und benutzt wurden, um das Gedankengut in der Region breit auszustreuen und tief zu verankern.

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„Sage mir […] welches ist denn eigentlich Dein Fach?“ Untangling Garlieb Merkel’s Persona through his Various Forms of Expression1 Introduction Garlieb Merkel’s work can be categorised in various ways. In Baltic historiography he is mostly mentioned as a writer who supported the abolishment of serfdom and re-evaluated the history of the Baltic region. In German literature he is known as one of the opponents of Goethe and romanticists. He is also known as one of the journalists active in the emerging political presses of Germany and the Baltic provinces in the first decades of the 19th century. Moreover, Merkel was an important mediator between different regions and languages. He was convinced that informing the European public of the situation in the Baltic provinces was highly relevant and devoted his energy to this work. Upon his return to his home province of Livland, he felt that the knowledge and skills he had gained in Germany were applicable to the Baltic provinces and, more generally, in Russia. In addition, he published translations of works by many authors on various themes for German-speaking readers. He published theoretical texts on the philosophy of history and political theory, as well as fictional texts in various forms. These multifarious activities prompt one to ask how Merkel viewed his own professional identity and how he connected his different roles. What kinds of opportunities or limitations led to his choice of mediums and genres? How was Merkel affected by the need to establish himself in the eyes of different audiences, namely: German and Baltic readers? How was Merkel affected by previous traditions and what was novel about his method of self-representation? Answering these questions can help us to better understand the purposes of Merkel’s texts and comprehend more broadly the role of the writer in the European late Enlightenment. A considerable amount of Merkel’s writing reflects his conception of himself in one way or another. In addition to travelogues and memoires, which by their very nature presume that the author clearly positions himself and differentiates himself from his surroundings, various other texts contain self-descriptions. Although those works have already aroused the interest of previous researchers whose focus lay on other topics, analysis of Merkel’s self-description has been rather laconic.2 The aim 1 This work was supported by the Estonian Research Council (grants PRG318 and PRG942). 2 For other longer approaches cf. Jürgen Heeg: Garlieb Merkel als Kritiker der livländischen Ständegesellschaft. Zur politischen Publizistik der napoleonischen Zeit in den Ostseeprovinzen Russlands. Frankfurt a. M. 1996, pp. 64–95, pp. 111–132; Heinrich Bosse: Vom Schreiben leben: Garlieb Merkel als Zeitschriftsteller. In: Otto-Heinrich Elias (Ed.): Zwischen Aufklärung und Baltischem Biedermeier. Elf Beiträge zum 14. Baltischen Seminar 2002. Lüneburg 2007, pp. 211–255.

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of this article is to undertake a more precise analysis of Merkel’s self-representation. The methodological approach focuses on the notion of persona as employed in research on the self-representation of philosophers of the 16th–18th centuries.3 In this case the persona has been considered in its historical context as “the purpose-built ‘self ’ whose cognitive capacities and moral bearing are cultivated for the sake of a knowledge deemed philosophical.”4 The persona is social as it needs particular institutional settings and “historical, in the sense that the means of carrying out this intellectual and moral work [...] are historically transmitted and put to work under particular circumstances.”5 This approach also considers the factor of geographical location and shifts in the understanding of what it means to be philosophical.6 However, due to Merkel’s diverse professional ambitions, the article looks at his persona from a broader perspective: instead of asking what belongs to philosophical persona and what does not, it seeks to sketch Merkel’s persona in connection with his various professional identities. One of the hypotheses of this article is that Merkel largely relied on self-reflection, brought about by a feeling of living during a process of change forcing him to constantly review his position and goals. Merkel used his self-representation to reach certain goals – political intentions as well as personal ambitions. This article traces changes in his self-image in accordance with changes in his goals in order to understand what features Merkel valued in the process of self-cultivation and why. The article consists of three sections. The first section analyses Merkel’s self-positioning in the treatise Die Letten vorzüglich in Liefland, am Ende des philosophischen Jahrhunderts and during his first years in Germany. This period is characterised by Merkel’s use of various themes, genres, and even professional positions before he turned his attention to journalism and became a newspaper and journal editor. Journalistic texts became Merkel’s most common medium until the end of his career. The second section of the article is thus dedicated to Merkel as a journalist and his relationship to his readers. The inconsistency of this relationship is outlined: on one hand, subscribers of periodicals offered the journalist an independence of patrons and institutions; on the other hand, it made the author dependent on the readers’ support. The third section of the article focuses on Merkel’s retrospective look at his persona, in which he sought to set his work in a wider intellectual context.

3 Cf. Conal Condren, Stephen Gaukroger and Ian Hunter (Ed.): The Philosopher in Early Modern Europe: The Nature of a Contested Identity. Cambridge and New York 2006 (Ideas in Context Bd. 77); Intellectual History Review 18 (2008), H. 3: The Persona of the Philosopher in the Eighteenth Century. Ed. by Conal Condren and Ian Hunter. 4 Conal Condren, Stephen Gaukroger and Ian Hunter: Introduction. In: Idem: The Philosopher (= n. 3), pp. 1–16, here p. 7. 5 Ibid. 6 Conal Condren and Ian Hunter: Introduction. In: Idem: The Persona (= n. 3), pp. 315–317, here p. 316.

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1. Experimenting with genres, themes, and writer positions As the subtitle of Die Letten vorzüglich in Liefland, am Ende des philosophischen Jahrhunderts declares, Latvians are living at the end of the philosophical century. The opening sentence of Die Letten, “Die Vernunft hat gesiegt und das Jahrhundert der Gerechtigkeit beginnt”,7 proclaims a time of change: one era, the philosophical century, has come to a close and another is about to begin. The 18th century has concluded with the triumph of reason, heralding a time when society is about to be rapidly transformed by the progress of ideas. Merkel describes how happiness and knowledge will be disseminated along with a general understanding of human rights and dignity. However, change will not bring the promised gains immediately – the century of justice will also experience storms and instability. His perception of the given moment is influenced by the proximity of the numerical landmark: the text is written in the second half of the 1790s, in the twilight of the 18th century. By that time, as Reinhart Koselleck has argued, the concept of the century had gained a historical, not just chronological, meaning, which enabled the structuring of time.8 But the turning point was not only due to a numerical change there was also a feeling that the process of Enlightenment had reached a certain stage of achieving greater power. Merkel did not, however, actually draw a strict line between the Age of Reason and the Age of Justice, or the Age of Thought or Theory and the Age of Practice or Implementation. The process of justice had already begun earlier and henceforth reason and justice would proceed in tandem. Merkel’s argumentation shows how, in his home province of Livland, the process of justice was less advanced in comparison to Western Europe, but this was about to change. He advised the Livland nobility to welcome the future and grant freedom to its serfs voluntarily.9 This advice shows how Merkel shared the feeling that the process of history had a force of its own. Reinhart Koselleck believed the understanding that history has its own force was one of the characteristics of modernity.10 Similarly, Ernst Cassirer demonstrated, using the example of d’Alembert, the intellectual urge to understand and analyse this force: Die Epoche, in der d’Alembert steht, fühlt sich von einer mächtigen Bewegung ergriffen und vorwärts getrieben; aber sie kann und will sich nicht damit begnügen, sich dieser Bewegung einfach zu überlassen, sondern sie will sie in ihrem Ziel begreifen. Dieses Wissen um das eigene Tun, diese geistige Selbstbesinnung und diese geistige Vorschau, erscheint ihr als der eigentliche Sinn des Denkens überhaupt und als die wesentliche Aufgabe, die ihm gestellt ist.”11

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Garlieb Merkel: Die Letten, vorzüglich in Liefland, am Ende des philosophischen Jahrhunderts. Ein Beytrag zur Völker- und Menschenkunde. Leipzig 1796, p. 1. 8 Cf. Reinhart Koselleck: Das achtzehnte Jahrhundert als Beginn der Neuzeit. In: Idem and Reinhart Herzog (Ed.): Epochenschwelle und Epochenbewusstsein. München 1987, pp. 269–282, here pp. 278f. 9 Cf. Merkel: Die Letten (= n. 7), pp. 242f. 10 Cf. Koselleck: Das achtzehnte Jahrhundert (= n. 8), p. 278. 11 Ernst Cassirer: Die Philosophie der Aufklärung. Hamburg 1998, p. 3.

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While characterising the given moment as a turning point, Merkel situates himself as an author in midst of this moment of change. The book was written with a belief in the power of the published word. Merkel claimed: “Leider aber kann nur Publicität seiner [des livländischen Adels] Vergehungen diesen heilsamen Entschluss von ihm erzwingen. Nur wenn sein Verhältniss und sein Verhalten allgemein bekannt sind; wann sich die Stimme Europens mit Abscheu gegen beide erhebt, wird er sich entschliessen, der Menschlichkeit und seinem eigenen Wohl dies Opfer zu bringen.”12 The goal of this statement is to establish the meaning of Die Letten and Merkel’s own role in the process of change. Merkel wanted to be one of the key thinkers who would bind Enlightenment thought and the practical world together, starting with this treatise in which he connects the ideas of shared humanity and anti-colonialism to the situation of Latvian serfs in Livland and analyses the future prospects of the given situation according to the knowledge gained through his study of the Enlightenment. Merkel condemned serfdom in the Baltic provinces, warned the nobility about the possibility of revolution, and attacked the traditional way of interpreting the history of the Baltic provinces.13 Merkel needed to fortify his position against the probable outrage his strong criticism and novel ideas would arouse. He prefaced his position with a claim that he was merely an observer aspiring to reveal the truth. He claimed to only be describing the situation, holding a mirror up to the local nobility to help them realise their monstrous deeds. He expressed a lack of fear about the Last Judgement to emphasise his sincerity: “Ich habe nur authentische Fakta angeführt, und könnte, wie Rousseau in den Geständnissen sagt, mit meinem Buche in der Hand vor dem Weltenrichter erscheinen und sprechen: ‘Richte! Irren konnte ich: aber vorsätzlich gieng ich nicht fehl.[’].”14 Here Merkel was referring to the beginning of Les Confessions, in which Rousseau ended his imagined monologue with the assertion: “Que chacun d’eux découvre à son tour son cœur aux pieds de ton trône avec la

12 Merkel: Die Letten (= n. 7), pp. 7f. 13 On Merkel’s criticism of serfdom cf. Jürgen Heeg: Die politische Publizistik Garlieb Merkels und seine Kritik an der livländischen Leibeigenschaft. In: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 40/1 (1992), pp. 27–44; idem: Garlieb Merkel als Kritiker (= n. 2); idem: Garlieb Merkel und die baltischen Völker. Heidelberg 2001; Roger Bartlett: Russische und baltische Publizistik gegen die Leibeigenschaft: Aleksandr Radiscev, Reise von St. Petersburg nach Moskau, und Garlieb Merkel, Die Letten und Rückkehr ins Vaterland. In: Jörg Drews (Ed.): “Ich werde gewiss Energie zeigen.” Garlieb Merkel als Kämpfer, Kritiker und Projektemacher in Berlin und Riga. Bielefeld 2000, pp. 27–40. On Merkel’s idea of revolution cf. Roger P. Bartlett: Nation, Revolution und Religion in der Gesellschaftskonzeption von Garlieb Merkel. In: Norbert Angermann, Michael Garleff and Wilhelm Lenz (Ed.): Ostseeprovinzen, Baltische Staaten und das Nationale. Festschrift für Gert von Pistohlkors zum 70. Geb. Münster 2005, pp. 147–163. On Merkel’s theory of history cf. Jaan Undusk: “Wechsel und Wiederkehr” als Prinzipien des Weltgeschehens: Zu Merkels Geschichtsideologie. In: Drews: “Ich werde gewiß große Energie zeigen.” (= n. 13), pp. 133–147; idem: Naturrecht und Naturgeschichte im politischen Denken. G. H. Merkel und C. G. Jochmann als Vertreter der aufklärerischen Naturrhetorik. In: Ulrich Kronauer (Ed.): Aufklärer im Baltikum. Europäischer Kontext und regionale Besonderheiten. Heidelberg 2011, pp. 57–84. 14 Merkel: Die Letten (= n. 7), p. 12.

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même sincérité, & puis qu’un seul te dise, s’il l’ose; je fus meilleur que cet homme-là”15 Rousseau, just like Merkel, challenged his readers to take a second look at themselves and their arguments before condemning others. His use of Les Confessions reflected Merkel’s emphasis that treatise was largely based on his personal impressions of the situation in Livland. Merkel’s use of firsthand observations resembled efforts by earlier critics of Baltic serfdom, who had been local pastors or private tutors. However, Merkel went a step further than personal and local criticism. Just like Rousseau who, in his autobiography, not only addressed the question of himself, but also discussed the nature of mankind in general, Merkel related incidents he had witnessed in one province on the coast of the Baltic Sea to the fate of humanity and the world in general. Moreover, as Hans-Jürgen Lüsebrink has shown, Merkel’s emphasis on eyewitness accounts was also inspired by Raynal’s Historie des deux Indes.16 Raynal’s influence can clearly be seen by Merkel’s use of personal accounts scattered throughout the book, especially when he discusses the Latvian personality traits. The footnote which follows the Rousseau reference makes it clear that Merkel’s focus is limited to the problems of Latvians in Livland, although the situation was similar among neighbouring enserfed peoples.17 Merkel sought to apply his personal experiences to universal problems, tying his observations on Latvians to the core questions of the Enlightenment. As will be subsequently shown, Merkel retained this pattern of using personal experience to draw general conclusions. Emphasising his personal experience required him to form a clear understanding of his own position. Thus, Merkel was careful to outline his identity in relation to different social statuses and regional or national identities. Merkel claimed that, being neither a nobleman nor a Latvian, his views were objective and therefore his distance and lack of self-interest provided him with a broader perspective. His next book, a translation of Rousseau’s and Hume’s treatises on the social contract, along with Merkel’s essay on serfdom, contains a dedication to the Livland nobility in which he argues the advantage of this intermediate position: “Die meisten Menschen handeln nur deshalb tadelhaft, weil sie ihren Handlungen zu nahe stehen, um richtig beurtheilen zu können.”18 Thus, Merkel positioned himself close enough to be an eyewitness but sufficiently distant to avoid bias. At the same time, he declared that he was criticising the situation as a patriot and a friend of mankind. Just like his self-representation as an objective observer, the role of a patriot and a friend of mankind were supposed to serve as a shield against criti15 Jean-Jacques Rousseau: Les Confessions de J. J. Rousseau, Suivies Des Rêveries Du Promeneur Solitaire. Genève 1782, p. 3. 16 Cf. Hans-Jürgen Lüsebrink: Guillaume-Thomas Raynal und Garlieb Merkel – Reflexionen und Ansätze zu einer transkulturellen Verflechtungsgeschichte. In: York-Gothart Mix and Hinrich Ahrend (Ed.): Raynal – Herder – Merkel: Transformationen der Antikolonialismusdebatte in der europäischen Aufklärung. Heidelberg 2017, pp. 143–158, here p. 152. 17 Cf. Merkel: Die Letten (= n. 7), p. 12. 18 Garlieb Merkel: Hume’s und Rousseau’s Abhandlungen über den Urvertrag nebst einem Versuch über Leibeigenschaft den Liefländischen Erbherren gewidmet. Leipzig 1797, pp. Vf.

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cism. Here Merkel’s intention was to show that his arguments were connected to wider entities: these were not just personal accounts, but were written in the interests of his fatherland and mankind. Indeed, this self-description demonstrated how the combination of these two interests was the force which had awakened Merkel’s sense of moral obligation to look beyond his self-interests and sacrifice his personal well-being for the sake of advancement.19 It is important to note that the self-representations of patriot and friend of humanity were not contradictory. On the contrary, the symbiosis between them spurred Merkel to write. Merkel, as a patriot, was worried about the future of his home province, so he claimed to be warning Livland and providing the local nobility and Russian monarchy with recommendations as to how to avoid the ‘storms’. Patriotic self-representation had also been used in an earlier critique of Baltic serfdom20 and it remained a valid position in the discussion after Merkel’s Die Letten.21 However, Merkel’s position as a patriot differed from previous writers. Heinrich Bosse argues that earlier authors had acted as advisers, whereas Merkel behaved more like a prosecutor.22 The difference between Merkel and previous writers derives partly from Merkel’s emphasis on questions connected to mankind and human rights. The second role, the friend of mankind, was present in the context of the unjust oppression of Latvians and Estonians. “Welchem Menschenfreunde klopft nicht das Herz höher vor Unwillen, wenn er hier sieht, dass ganze Nationen in einen Stand gezwängt und durch Gesetzte – durch Gesetze!”23 Merkel wrote. In this argument, he was following the anti-imperialist strand of Enlightenment thought, which emphasized the shared humanity of all human beings and proclaimed that humans are social creatures with cultural agency.24 Merkel’s understanding of the role of friend of humanity has been connected to Raynal, who was also presented as “Ami de l’humanité” and “Défensur de l’humanité” defending the rights of the oppressed.25 His 19 Cf., for example, Merkel: Die Letten (= n. 7), pp. 10–14. However, the publication of Die Letten could also be interpreted as a calculated risk. Heinrich Bosse argues that Merkel’s future in Livland was probably quite bleak: Lacking an academic education, he would have probably ended up as a second-class private tutor. Cf. Bosse: Vom Schreiben leben (= n. 2), p. 219. 20 Cf., for example, Johann Georg Eisen: Eines Liefländischen Patrioten Beschreibung der Leibeigenschaft, wie solche in Liefland über die Bauern eingeführet ist. In: Sammlung Russischer Geschichte. St. Petersburg 1764, pp. 491–527. 21 Cf., for example, Hermann Friedrich Tiebe: Lief- und Esthlands Ehrenrettung gegen Herrn Merkel und Petri. Halle 1804; Georg Friedrich von Fircks: Die Letten in Kurland, oder, Vertheidigung meines Vaterlandes gegen die Angriffe von G. Merkel in dessen Letten. Leipzig 1804; idem: Nachtrag zu Lief- und Esthlands Ehrenrettung oder die Todten Lieflands stehen gegen Herrn Merkel auf. Halle 1805. 22 Cf. Bosse: Vom Schreiben leben (= n. 2), pp. 216–218. 23 Garlieb Merkel: Die Letten (= n. 7), pp. 41f. 24 For the discussion on Merkel and compassion for Latvians, cf. Ulrich Kronauer: Über die bürgerliche Verbesserung der Letten. Garlieb Merkel im Kontext der deutschen Aufklärung. In: Liina Lukas, Michael Schwidtal and Jaan Undusk (Ed.): Politische Dimension der deutschbaltischen literarischen Kultur. Berlin 2018, pp. 69–73. For a discussion of anti-imperialist Enlightenment thought cf. Sankar Muthu: Enlightenment against Empire. Princeton 2003. 25 Quoted from Lüsebrink: Guillaume-Thomas Raynal und Garlieb Merkel (= n. 16), p. 158.

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choice of words is also reminiscent of Fénelon, Mirabeau, and Iselin, who envisaged plans of attaining everlasting peace.26 The years 1796–1802, between the publication of Die Letten and settling in Berlin, were the most kaleidoscopic period in Merkel’s life. He briefly studied medicine at the universities in Leipzig and Jena. He also wrote novels and short stories,27 compiled historical texts,28 travelled around Northern Germany writing travelogues,29 and published translations accompanied by his own comments and essays.30 According to Jürgen Joachimsthaler, Merkel’s productive output across the genres was only possible because he had taken many manuscripts with him when he left Livland, indicating that it was pre-planned.31 In addition to publishing texts that he might have started earlier, Merkel worked actively on new projects and came up with fresh ideas. The fruitful environment in Weimar and Merkel’s interaction with Johann Gottfried Herder, Carl August Böttiger, and Christoph Martin Wieland, were especially instrumental in his intellectual growth, generating ideas which he occasionally returned to in his later texts. For instance, he penned his first attempt at a history of humanity during those years.32 Merkel also turned his attention to literary criticism and theatre reviews in his Briefe an ein Frauenzimmer über die wichtigsten Produkte der schönen Literatur and reviews in Haude- und Spenersche Zeitung.33 26 These authors addressed as friends of mankind the question of morality and luxury and were focused on the reforms at the national level which would facilitate the achievement of international peace or avoid wars between civilised nations, whereas Merkel was more focused on ensuring peace at the provincial level. In contrast, Herder and Rousseau were critical of the term ‘friend of mankind’. Cf. Eva Piirimäe: Sociability, Nationalism, and Cosmopolitanism in Herder’s Early Philosophy of History. In: History of Political Thought 36/3 (2015), pp. 521−559, here p. 529. Further research is required into Merkel’s reception of their ideas as well as his understanding of the ‘friend of mankind’ concept. 27 Cf. Garlieb Merkel: Die Rückkehr ins Vaterland. Ein Halbroman. Kopenhagen 1798; idem: Wannem Ymanta. Eine lettische Sage. Leipzig 1802; idem: Randzeichnungen. Ein Buch dem der Verfasser viel Leser wünscht. 6. Aufl. Berlin 1802; idem: Bruder Anton. Leipzig 1803. 28 Cf., for example idem: Christine Alexandra, Königin der Schweden, ein psychologisches Gemälde. In: Aglaja. Ein Jahrbuch für Frauenzimmer 2 (1802), pp. 40–83. 29 Cf. idem: Briefe ueber einige der merkwuerdigsten Staedte im noerdlichen Deutschland. Vol. 1: Briefe ueber Hamburg und Luebeck. Leipzig 1801. 30 Cf. idem: Sammlung von Völker-Gemählden nebst einem Versuche über die Geschichte der Menschheit. Lübeck 1800. 31 Cf. Jürgen Joachimsthaler: Gegenkoloniale Fiktion. Garlieb Merkel (er)findet eine “Vorzeit Lieflands”. In: Mix: Raynal-Herder-Merkel (= n. 16), pp. 159–82, here p. 161. 32 Cf. Garlieb Merkel: Ueber die Geschichte der Menschheit. In: Idem: Sammlung von Völker-Gemählden (cf. n. 30), pp. VII−XLVI; idem: Was heißt Humanität? In: Eunomia. Eine Zeitschrift des neunzehnten Jahrhunderts 1 (1801), pp. 193–208. 33 Cf. Jörg Drews: Ein miserabler Kritiker, mit Charakterdefekten? Plädoyer für eine Neueinschätzung Garlieb Merkels. In: Claus Altmayer et. al. (Ed.): Johann Gottfried Herder und die deutschsprachige Literatur seiner Zeit in der baltischen Region: Beiträge der 1. Rigaer Fachtagung zur Deutschsprachigen Literatur im Baltikum, 14. bis 17. September 1994. Riga 1997, pp. 298–320; idem: “Parteilos, aber kühn! / Kühn, aber besonnen!” – ? Garlieb Merkel als Literaturkritiker in Berlin und Riga, 1800 bis 1811. In: Idem (Ed.): “Ich werde gewiss grosse Energie zeigen”. Garlieb Merkel (1769−1850) als Kämpfer, Kritiker und Projektemacher in Berlin und Riga. Bielefeld 2000, pp. 71–92; Hans Graubner: Merkel als Literaturkritiker im Banne Herders. In: Jörg Drews

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This period involved a brief stint in Copenhagen working as a secretary in the office of Count Schimmelmann, the Danish minister of finance. However, Merkel’s Danish career remained short-lived: he quit the position after a few months, returning to Weimar in December 1797. During another interlude before Merkel settled in Berlin, from the summer of 1801 until the summer of 1802, Merkel lectured at the university in Frankfurt (Oder)34 where he, during the winter semester, taught aesthetics35 and in the following semester planned to teach courses on Christoph Martin Wieland’s Oberon, the history of humanity, and aesthetics.36 He did not abandon his other projects and went on to publish Frauenzimmer and finish Wannem Ymanta.37 His career at the university was brief, however, because he was dissatisfied with Frankfurt, although not with university work in general. In April 1802 Merkel wrote to his friend Carl August Böttiger about a plan to “demand” a professorship.38 A few months later, in July 1802, he wrote again to say that he was finishing his last tasks in Frankfurt and would be moving to Berlin in hopes of attaining a position at a different university.39 Despite his efforts, he never worked at another German university. Those years are reflected in his later texts in various ways. His multifarious activities allowed him to choose which things to emphasise and which to overlook, according to the aim of his constructed persona at the given moment. His studies in medicine can be interpreted as part of his plan to continue the approach he had adopted in Die Letten. During the second half of the 18th century, medical science was viewed as one lens through which one could analyse philosophical questions.40 However, Merkel did not credit these studies as having any major influence on him. His months in Copenhagen were not mentioned in his autobiographical book published in 1816, when he was focusing on re-establishing his role as a journalist in Germa-

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(Ed.): In Polen, Palermo und St. Petersburg: Vorträge der Colloquien zu Johann Gottfried Seume in Grimma, Riga und Tartu 2003 und 2005. Bielefeld 2008, pp. 239–306; Uwe Hentschel: Ein Livländer in Weimar und Berlin. Garlieb Helwig Merkel (1769−1850) als Begründer des deutschen Feuilletons. In: Jahresgaben der Goethe-Gesellschaft Bonn (2010), pp. 87–118. His academic studies were rather sporadic, consisting of brief studies of medicine at Leipzig and Jena. In October 1801, Merkel was registered in the University of Frankfurt (Oder) with the title Dr. phil. Further information on the conferment of the degree has not been found. Cf. Thersites. Die Erinnerungen des deutsch-baltischen Journalisten Garlieb Merkel, 1796−1817. Berlin 1921, p. 129; Jürgen Heeg: Die letzte Bastion politischer Publizistik im Kampf gegen Napoleon: Die Zeitschriften des Journalisten Garlieb Merkel aus Livland. In: Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung 45/2 (1996), pp. 159–191, here p. 161; Heinrich Bosse: Vom Schreiben leben (= n. 2), p. 229. Cf. Garlieb Merkel an Carl August Böttiger, 15. November 1801. In: Idem. Briefwechsel. Ed. by Dirk Sangmeister with Thomas Taterka and Jörg Drews. Bremen 2019, Nr. 133, pp. 147−149, here pp. 147f. Cf. Garlieb Merkel an Carl August Böttiger, 3. April 1802. In: Ibid., Nr. 142, pp. 154f. Cf. idem: Wannem Ymanta. Eine lettische Sage. Leipzig 1802. “Morgen, nein, übermorgen reis’ ich nach Berlin, um vom Minister mündlich eine Professur zu fordern. ‘Fordern?’ Ja, denn bitten kann ich nicht.” Garlieb Merkel an Carl August Böttiger, 3. April 1802. In: Idem: Briefwechsel (= n. 35), Nr. 142, pp. 154f., here p. 155. Cf. Garlieb Merkel an Carl August Böttiger, 23. Juli 1802; In: Ibid., Nr. 150, pp. 163f., here p. 163. Cf. John H. Zammito: Médecin‐philosoph: Persona for Radical Enlightenment. In: Intellectual History Review 18/3 (2008), pp. 427–440.

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ny. On the contrary, he stated that he had made the decision to become a journalist shortly after arriving in Germany in 1796.41 The profession of secretary stood in a stark contrast to journalism, where a writer’s freedom and independence was highly valued.42 Since the divide between these professions was so vast, Merkel did not rate this episode highly in his journalistic persona. Merkel published another version of those years in 1840. This time he presented himself as a young man from a foreign place who had faced the chance of quick advancement in his career, but his hopedfor career had reached a decisive moment in which Merkel had decided to dedicate himself to writing.43

2. The journalist and his readership Merkel spent the next years in Berlin, during which his initial plan to seek an academic position was soon replaced by working as a journalist. For most of his career, Merkel was active as an editor and journalist. He was an innovative writer who figured among those authors who broadened the field of journalism in the beginning of the 19th century. In 1803 he established a newspaper entitled Ernst und Scherz. The paper merged, in 1804, with August von Kotzebue’s Freimüthige oder Berlinische Zeitung für gebildete unbefangene Leser under the new title of Der Freimüthige oder Ernst und Scherz. Merkel was largely solely responsible for editing the paper, which initially concentrated on literature, art, and theatre. As the Napoleonic Wars developed in the background, Merkel began to expand the focus to include politics from the summer of 1805. He also attempted to establish another newspaper, Zuschauer, which would focus solely on politics, but this plan did not materialise in Berlin. Merkel was one of the first independent professional journalists in Germany to openly criticise Napoleon.44 He has been called the founder of the German feuilleton45 and Der Freimüthige oder Ernst und Scherz has been regarded as an important model for later cultural journals such as Morgenblatt für gebildete Stände.46 The success of Napoleon’s troops necessitated Merkel’s departure from Berlin. He returned to Livland, where he continued his fight against Napoleon first in Supplementblätter zum Freimüthigen, and in Zuschauer, a newspaper Merkel established in Livland in 1807. He published the first political paper in the Baltic provinces and the Russian Empire in general, the popularity of which rivalled Rigasche Zeitung, which

41 Cf. Garlieb Merkel: Skizzen aus meinem Erinnerungsbuche. Vol. 4. Riga and Leipzig 1816, pp. 36f. 42 Cf. Iwan-Michelangelo D’Aprile: Die Erfindung der Zeitgeschichte: Geschichtsschreibung und Journalismus zwischen Aufklärung und Vormärz. Berlin 2013, p. 17, pp. 81–92. 43 Cf. Garlieb Merkel: Darstellungen und Charakteristiken aus meinem Leben. Vol. 2. Leipzig 1840, p. 207, pp. 294–298. 44 Cf. Heeg: Die letzte Bastion (= n. 34). 45 Cf. Hentschel: Ein Livländer in Weimar und Berlin (= n. 33); Drews: “Parteilos, aber kühn! / Kühn, aber besonnen!” (= n. 33), pp. 73ff. 46 Cf. Bosse: Vom Schreiben leben (= n. 2), p. 242.

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was less political.47 He carried on editing the Zuschauer until 1831 which, following the end of Napoleonic Wars, remained a provincial paper. Briefly, during 1813, Merkel published a weekly political paper called Glossen. Merkel was back in Germany during 1816–17, at which time he edited Ernst oder Scherz oder der alte Freimüthige in Berlin, but then returned to Livland following that publication’s lack of success. After the death of the former editor Karl Gottlob Sonntag in 1827, Merkel also worked as the editor of Ostsee-Provinzen-Blatt, which he renamed Provinzialblatt für Kur-, Liv- und Esthland in 1828 and edited until 1838. Merkel’s importance with regard to the emergence of the political press in the Baltic region/provinces tends to be noted by various authors, even when it is accompanied by strong criticism of his other works.48 Merkel was also important within the emerging field of Baltic cultural journalism. His papers often had supplements dealing with literature, art, history, and science.49 Literarischer Begleiter des Provinzialblattes was a competitor to the newly established Das Inland in the second half of the 1830s.50 In addition to these supplements, Merkel established a separate journal entitled Livländischer Merkur (published only in 1818), influenced by similarly named journals in France and Germany.51 He was also a member of the editorial team of Die Quatember: Zeitschrift für naturwissenschatliche, geschichtliche, philologische, literärische und gemischte Gegenstände (1829–30). In 1816, the year he returned to Germany, Merkel published the fourth and final volume of Skizzen aus meinem Erinnerungsbuche, which also appeared under the title 47 Oskar Grosberg wrote that Rigasche Zeitung (established in 1778 and for the first two years published under the title Rigische politische Zeitung) was compared to Rigischen Anzeigen “ein Blatt von höherer Artung”. However, “[t]rotz der Bescheidenheit der Ansprüche, die man damals an eine Zeitung zu stellen pflegte, schien das Blatt doch nicht genügt zu haben, denn bald erwuchs der ‘Rigaschen Zeitung’ eine Konkurrenz in der Gestalt des ‘Zuschauer’.” (Oskar Grosberg: Die Presse Lettlands. Mit einem geschichtlichen Rückblick. Riga 1927, pp.16f.). 48 Cf., for example, Grosberg: Die Presse Lettlands (= n. 47), p. 17; Friedrich Koch: Die Anfänge des baltischen deutschen Zeitungswesens. In: Baltische Monatshefte (1938), pp. 67–81, here p. 77; Roland Seeberg-Elverfeldt: Dreihundert Jahre deutschbaltische Presse. In: Zeitschrift für Ostforschung 26/4 (1977), pp. 651–670, here p. 660; Heeg: Die politische Publizistik Garlieb Merkels (= n. 13), p.10. 49 Supplements of Zuschauer: Literarische Beilage (1810), Zeitung für Literatur und Kunst (1811– 1812), Das Nebenblatt zum Zuschauer (1817); Supplements of Provinzialblatt: Literärischer Begleiter des Provinzialblattes (1828–1838), Supplement zum Provinzialblatt (1838). 50 Cf. Koch: Die Anfänge (= n. 48), pp. 79f.; Andres Kärssin: Maarahvakäsitlus baltisaksa nädalakirjas ‘Das Inland’ (1836−1863) [Treatment of peasants in the Baltic German weekly ‘Das Inland’ (1836−1863)]. Tartu 1998, pp. 13–15, pp. 98f.; Malle Salupere: F. G. von Bunge ja Tartu kultuuriajakirjad [F. G. von Bunge and cultural magazines in Tartu]. In: Tiit Rosenberg and Marju Luts (Ed.): Tundmatu Friedrich Georg von Bunge. Materjale Õpetatud Eesti Seltsi konverentsilt “200 aastat prof. Friedrich Georg von Bunge (1802–1897) sünnist” Tartu Ülikooli Ajaloo Muuseumis 27. aprillil 2002 [The unknown Friedrich Georg von Bunge. Materials from the Learned Estonian Society’s conference 200 years Prof. Friedrich Georg von Bunge’s (1802–1897) birthday, held in the Tartu University Museum April 27th 2000]. Tartu 2006, pp.76–100, here pp. 87f. 51 Mercure de France (established in 1672 under the title Mercure galant, from 1724 Mercure de France) was one of the most influential and prominent journals in France. Der Teutsche Merkur (from 1790 Der neue Teutsche Merkur) was established in 1773 by Christoph Martin Wieland, Merkel’s friend from his Weimar period.

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of G. Merkel’s Uebersicht seiner Leistungen als Zeitschriftsteller Deutschlands. One part of these sketches takes the reader back to the last years of the 18th century, when Merkel was in Weimar and had decided to devote himself to writing. This passage shows Merkel representing himself in a way that reaffirmed his connection to German readers. Merkel described how he had written an overview of his basic principles, which was then read and supplemented by a friend.52 A similar passage also appeared in 1840 in Darstellungen und Charakteristiken aus meinem Leben, where the friend was named as Johann Gottfried Herder.53 A significant number of the basic principles emphasised the writer’s relationship to his readers. Merkel claimed that it was important to know your audience and to keep their preferences in mind. This task was twofold: not only to understand the human heart in general but also your most immediate readerships.54 Merkel, having only arrived in Germany a few years earlier, was still an outsider and in order to succeed in this business he needed to understand his main audience – German readers. Thus he decided to travel around Germany and visit the most important cities as a way of acquainting himself with his target audience.55 During his second sojourn Merkel continued to make an effort to surround himself with eclectic people. His touring involved travelling by postal coach, bringing him into the orbit of individuals he would not otherwise have met.56 In a later essay draft outlining his career as a journalist in Livland from 1806 until the end of 1830s, Merkel stated that a political newspaper had to be of interest to “alle Classen von Lesern”.57 Merkel’s desire to understand the wider public and not confine himself to the “republic of letters” corresponds to Herder’s concept of Publikum. Herder argued that the print media should address the nation and be used by the literary elite to “restore authenticity and moral integrity to a particular national culture”, as Anthony J. La Vopa has written.58 Herder’s young friend Merkel sought to follow in his footsteps while finding his way to the Publikum. It is difficult to align Herder’s idea of Publikum der Sprache which was to form around language and unite different generations, social orders, and professions59 with Merkel’s situation. Addressing “alle Classen von Lesern” or forming a language-based public of various classes in the Baltic provinces of the Russian empire was problematic given the range of spoken languages there.60 Merkel, moreover, did not limit 52 53 54 55 56 57 58 59 60

Cf. Merkel: Skizzen aus meinem Erinnerungsbuch (= n. 41), p. 349. Cf. idem: Darstellungen (= n. 43), pp. 295–298. Cf. idem: Skizzen aus meinem Erinnerungsbuch (= n. 41), p. 348. Cf. ibid., pp. 350f. Cf. idem: Ueber Deutschland, wie ich es nach einer zehnjährigen Entfernung wieder fand. Vol. 1. Riga 1818, pp. 219–221. Idem: Die Geschichte meiner liefländischen Zeitschriften. In: Baltische Monatsschrift 45 (1898), pp. 185–210, pp. 281–303, here p. 195 and p. 298. Anthony J. La Vopa: Herder’s Publikum. Language, Print, and Sociability in Eighteenth-Century Germany. In: Eighteenth-Century Studies 29/1 (1995), pp. 5–24, here p. 6. Cf. ibid., pp. 12–18. For a discussion of Merkel’s opinion of the emergence of a Latvian public see Thomas Taterka: Aufgeklärte Volksaufklärung: Aufklärung und Volksaufklärung im Baltikum oder Garlieb Merkel und die Entstehung des deutsch-lettischen Lesebuchs Das Goldmacherdorf / Zeems, kur seltu taifa nach.

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himself to one public but rather navigated between different publics throughout his career and sought to target different readerships. Die Letten was clearly addressed to the German-speaking readers of the Baltic provinces and to a general European audience as he wanted to expose them to Latvian voices while simultaneously holding a mirror up to the Livland nobility.61 When in Berlin he worked to strengthen German nationalism not only in Prussia, but also in other German states, all the while positioning himself as a foreigner who had worked extra hard to understand the German public. Following his return to Livland in 1806 Merkel made sure to keep abreast of the wider European context and published occasionally in German journals. He also ordered newspapers from Berlin, Hamburg, and other important German cities as well as a variety of papers from Paris, London, and the Netherlands.62 From the time of his return to the Baltic provinces of the Russian Empire, Merkel focused on the emerging Russian market and was proud to be part of the historical moment of the birth of a free press in Russia.63 Merkel’s emphasis on his relationship with the public shows that he well understood its importance. According to him, writing as a profession offered him more freedom than other possible occupations.64 The freedom depended on the reading public which enabled the rise of a new type of author who could be independent from patrons or institutions, like universities.65 Nevertheless, journalists at the end of the 18th century and the beginning of the 19th century were not completely free. Journalists were instead dependent on the market which influenced the quality and quantity of their work. Benjamin Redekop has argued in a study focused on 18th century Germany that: “the ‘free writer’ was more of an ideal than a reality. [...] [N]early all writers of the Aufklärung depended upon institutional support or some kind of paid position to sustain themselves.”66 He therefore suggests that the term “public writer” describes the situation better.67 At the beginning of the 19th century, Merkel was one of the first au-

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In: Ulrich Kronauer (Ed.): Aufklärer im Baltikum. Europäischer Kontext und regionale Besonderheiten.. Heidelberg 2011, pp. 17–56. La Vopa argued that the focus of Immanuel Kant on scholarly reading public of Weltbürger and Herder’s focus on national public was the most important difference between them; see La Vopa: Herder’s Publikum (= n. 58), pp. 5–24. In Die Letten Merkel sought to address both publics in one text. Cf. Merkel: Die Geschichte meiner liefländischen Zeitschriften (= n. 57), p. 196. Cf. ibid. Cf. idem: Skizzen aus meinem Erinnerungsbuch (= n. 41), pp. 346f.; Cf. also idem: Darstellungen (= 43), p. 295; Heinrich Bosse has also marked that Merkel presented himself as a ‘free philosophe’, cf. Bosse: Vom Schreiben leben (= 2), p. 213. The question of Merkel’s identity as a philosophe is discussed in the third part of the article. For a wider discussion cf. D’Aprile: Die Erfindung der Zeitgeschichte (= n. 42), pp. 15–34. Journalists nevertheless still often had patrons. Cf., for example, D’Aprile’s analysis of the relationship between Friedrich Buchholz and Prussian statesman Karl August von Hardenberg, ibid., pp. 92−101. Benjamin W. Redekop: Enlightenment and Community: Lessing, Abbt, Herder and the Quest for a German Public. Montreal et. al. 2000 (McGill-Queen’s Studies in the History of Ideas Bd. 28), p. 41. Ibid., pp. 37–47.

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thors to solely earn his living from writing.68 However, that did not mean lasting and secure financial freedom. A journalist faced financial difficulties when he did not work quickly.69 The success of his political newspaper which had guaranteed his livelihood was also the reason for leaving Berlin in 1806.70 It had not been an easy task for him to arouse the interest of Livland readers. In Geschichte meiner liefländischen Zeitschriften, Merkel complained that in Livland there was no feather fast enough to put a periodical of literature and arts in print without substantial support, since the market was simply too small.71 In addition to journalism he also had an estate, Depkinshof, which was was “ein kleines, doch sehr einträgliches Gut.”72 Die freien Letten und Esthen granted him a life-long annual pension of 300 silver roubles from Tsar Alexander I.73 As noted above, the unpopularity of his periodical was the reason why Merkel returned to Riga in 1817 after his second sojourn in Germany. Being a free writer was, indeed, an ideal and not in fact a continuous state for Merkel. Redekop also argues that “public writers” were authors whose “writings were strongly oriented towards the emerging entity of the public, playing a central role in its conceptualization and figuration.”74 In a similar vein, Merkel felt not only the need to be familiar with the public, but also to educate it. In Merkel’s opinion, popularity alone was worth nothing. Although a good writer knows his readers’ preferences, fulfilling their expectations should never be a writer’s primary goal. The story of young Merkel writing down his principles continues with a scene depicting how his friend added to his ideas that a writer must never work just to please the public. Merkel agreed: the ideal author needed to find a proper balance between being popular and being educational.75 The relationship between the author and the public changed continuously during Merkel’s life. In 1818, after Merkel had returned to Livland following his attempt to re-establish his influence in Germany, he discussed the merit of journalism in his travel memoir Ueber Deutschland wie ich es nach zehnjärgien Entfernung wieder fand and in his newly established journal Livländische Merkur. Merkel compared his first impressions of Germany in 1796 and his impressions in 1816, after spending ten 68 Cf. Heeg: Die letzte Bastion (= n. 34), pp. 159f. 69 Cf. Merkel’s comment on his friend Julius von Voss: “Bei allen diesen Vorzügen war er bisher gleichsam dazu verdammt, nur inkorrekte, vielleicht schnell vergehende Werke hinzubrudeln, weil ihm im eigentlichsten Sinne das Brod fehlt, wenn seine Feder nicht schnell über das Papier hinfliegt.” Garlieb Merkel: Ueber Deutschland (= n. 56), p. 172. 70 He mentioned a steady income and his collection of books as his greatest losses incurred by needing to leave Berlin. Cf. idem: Flüchtige Erinnerungen aus dem Jahre 1806. Riga 1825. 71 Cf. idem: Die Geschichte meiner liefländischen Zeitschriften (= n. 57), pp. 207f. 72 Idem: Beweis daß es halb so viel koste, seine Ländereien von Tagelöhnern bestellen zu lassen, als von leibeigenen Bauern. Riga 1814, p. 5. 73 For a discussion of Merkel’s income in various periods cf. Bosse: Vom Schreiben leben (= n. 2), pp. 211–255. 74 Redekop: Enlightenment and Community (= n. 66), p. 43. 75 Cf. Merkel: Skizzen aus meinem Erinnerungsbuche (= n. 41), pp. 349f. The same theme is present in his other writings. Cf., for example, idem: Die Geschichte meiner liefländischen Zeitschriften (= n. 57), pp. 185–210 and pp. 281–303; Müller-Jabusch: Thersites (= n. 34), p. 137.

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years in Livland. He claimed to have been confronted with two completely different situations. At the beginning of his first sojourn, Merkel had attempted to get an overview of contemporary German literature and was advised to read the newest works of nine or ten authors, get to know three or four pocket books (Taschenbücher), and follow four or five monthly journals. When Merkel sought to map the most important works twenty years later, he entered “die Höhle der Cumäischen Sybille”.76 Merkel claimed that nobody had time for books and monthly journals were moribund. Daily newspapers were, in contrast, blooming and contained sophisticated and lively discussions on theatre and literature.77 Initially, Merkel largely agreed with older publishers and writers that daily publications were degenerate, but he soon noticed the value in their frequency: “die sogenannte Ausartung, eigentlich nur die Gestaltung sey, welche die Literatur nothwendig annehmen müsse, um recht kräftig in das Leben ihrer Nation überzugehn, den höchste Grad der Nützlichkeit zu erlangen.”78 Merkel explained that when discussion was moderated by book fairs it was artificially slow: an idea needed to be presented in a book, which then had to be published in accordance with the fair calendar79 and wait until the next fair for a proper response. Monthly journals offered a solution, but it was not enough. Daily newspapers were a medium which enabled rapid progress, not only in speed but also in quality and ability to raise public awareness about science and justice.80 Merkel understood that the frequency of publication might render a somewhat superficial tone to some topics, but this would not do any harm since “Sonne der Oeffentlichkeit” would hasten the process of in-depth scrutiny.81 This conviction was followed by a reformulation of the concept of literature (Literatur): he had previously believed the literature of a nation to be composed of written text and ideas, but now he understood literature as “nicht die Gedanken, sondern den schriftstellerischen Verkehr damit”.82 76 Merkel: Ueber Deutschland (= n. 56), p. 200. Sibyl of Cumae was a prophetess who offered to sell Tarquinius Superbus, the last of the seven kings of Rome, nine books. When the king refused to pay the asked-for price, Sibyl started burning the books and kept repeating the offer until Tarquinius bought the three remaining books for the original price of all nine books. The books were carefully kept and consulted during unusual events or natural disasters. In Virgil’s Aeneid Sibyl of Cumae was Aeneas’ guide to the underworld. When Aeneas reached the cave, Sibyl spoke to him in riddles which echoed in the cave and confused Aeneas. Merkel’s choice of this symbolism might indicate wisdom which is at first sight confusing or might seem arbitrary, but which later proves to be necessary. 77 Cf. ibid., pp. 198–201. 78 Ibid., pp. 201f. 79 Merkel had experienced this difficulty in the summer of 1796 when Die Letten was published: He wanted to publish the book at the beginning of August 1796 to influence the Adelskonvent of Livland, but the publisher wanted to wait until the 1797 Easter bookfair (Ostermesse) in Leipzig. The book was published at the end of August 1796 and dated with the year 1797. Cf. Karl Christoph von Stritzky: Garlieb Merkel und Die Letten am Ende des philosophischen Jahrhunderts. In: N. F. der Mitteilungen aus der livländischen Geschichte 1/2 (1939), pp. 51f. 80 Cf. Merkel, Ueber Deutschland (= n. 56), pp. 203f. 81 Ibid. 82 Idem: Erklärungen für Schriftsteller, und solche, die es seyn wollen. In: Livländischer Merkur 4 (1818), pp. 234–247, here p. 241.

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3. Retrospective self-presentation Although Merkel worked constantly as an editor of newspapers and journals from 1803 to 1838, he also continued to publish texts in other media. For example, he published collections of his work, including a two-volume collection of his earlier works83 and the first instalment of his memoirs.84 The side project he was most engaged with was studying history. Merkel published another longer treatise on Baltic history in 1820 to celebrate the abolishment of serfdom. This work was, when compared to his earlier texts, more empirical and less provocative.85 Further, Merkel’s historical interest was not limited to Baltic history as he also participated in debates on universal history and discussed theories of history which in turn were often linked to current topics in Europe.86 During the 1820s Merkel intended to write Universalgeschichte, but, apart from a few published articles87 and an enquiry with the eminent publisher Johan Friedrich Cotta, the plan never came to fruition.88 As the owner of the Depkinshof estate he also focused on agricultural theory.89 Meanwhile, journalistic work offered him an opportunity to write in genres ranging from fiery political polemics to reviews and analyses on various topics. The habit of writing longer treatises in addition to shorter journalistic texts was a widespread practice among early 19th century authors. Iwan D’Aprile interpreted this as an emergence of a new author type – Zeitschriftsteller. According to D’Aprile, the Zeitschriftsteller is an author who worked in the “intermediate area of historiography, political journalism, and literature”.90 The intellectual roots of the author type lay in the Enlightenment, whereas its emergence is connected to the rise of national markets.91 It was one of the identifications that Merkel occasionally used to describe him83 Cf. idem: Sämtliche Schriften. 2 vols. Ed. by Karl Johann Gottfried Hartmann. Leipzig and Riga 1808. 84 Cf. idem: Skizzen aus meinem Erinnerungsbuche (= n. 41). 85 Cf. idem: Die freien Letten und Esthen. Eine Erinnerungs-Schrift zu dem am 6. Januar 1820 in Riga gefeierten Freiheitfeste. Riga 1820. 86 Cf. idem: Ist das stete Fortschreiten der Menschheit ein Wahn? Sendschreiben an Herrn Professor Dr. Heeren. Riga 1810; idem: Ueber Deutschland, wie ich es nach einer zehnjährigen Entfernung wieder fand. 2 vols. Riga 1818. 87 Cf. idem: Ueber die früheste Welt-Cultur. In: Neues Museum der teutschen Provinzen Russlands 1 (1824), pp. 51–66; idem: Versuch, die Frage zu beantworten: Welches war die erste Menschenrace, die sich zur Welt-Kultur erhob. In: Zeitung für die elegante Welt 68–72 (1826), pp. 68–72, pp. 545–548, pp. 556–557, pp. 564–566, pp. 571f., S.  577–580; idem: Roh oder verwildert? Ein Beitrag zur Völkerkunde, von Merkel. In: Zeitung für die elegante Welt 117–120 (1827), pp. 929–932, pp. 940–942, pp. 948–950, pp. 956–959; published again in: Quatamber. Zeitschrift für naturwissenschaftliche, geschichtliche, philologische, literärische und gemischte Gegenstände 2 (1830), pp. 29–43; idem: Ketzereien über die Universalgeschichte und die Art, wie sie zu schreiben ist. In: Die Quatember 1/1 (1829), pp. 31–45. 88 Cf. Garlieb Merkel an Johann Friedrich Cotta. 4./16.07.1825. In: Idem. Briefwechsel (= n. 35), Nr. 464, pp. 369f. 89 Cf., for example, Merkel: Beweis daß es halb so viel koste (= n. 72). 90 D’Aprile: Die Erfindung der Zeitgeschichte (= n. 42), p. 15. 91 Cf. ibid., pp. 15–33.

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self. Heinrich Bosse has interpreted the way Merkel positioned himself in the “Übergangszone zwischen Schriftstellerei und Journalismus” to be “sehr doppelsinnig”.92 In sum, the concept of Zeitschriftsteller carries at its core a multitude of genres, which suited Merkel’s professional ambitions well. The intermediacy of Zeitschrifstellerei reveals the higher ambitions of these authors: the goal of their work was not just to transmit the current news, but to reflect it critically and place it in the wider historical context. Merkel wished to give his journals and newspapers a wider and deeper meaning. One example of this aspiration is the selection of the motto “Sapere aude”.93 First used by Horace, this phrase became connected with the Enlightenment at the end of the 18th century through Immanuel Kant’s essay Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? which was written for the Berlinische Monatsschrift. Merkel later stated that by choosing this motto for Zuschauer he was seeking to declare a higher intellectual ambition.94 “Sapere aude!” was used as a motto for his other non-journalistic texts.95 Secondly, Merkel realised that some of his journalistic texts had a significance which outlived the current issue. He therefore published collections of his articles.96 This indicates that journalism for Merkel was not a separate field of writing; the borders between genres were rather indistinct. Looking back on his life, Merkel himself saw the mediation and movement between different genres as his leading characteristic trait. In the foreword of his memoires Darstellungen und Charakteristiken, Merkel shares a story about how his friend Schwarz, Riga’s Bürgermeister, had once made a list of occupations and themes that related to Merkel, leaving Schwarz confused. “Sage mir”, rief er plötzlich, “welches ist denn eigentlich Dein Fach? Du fingst als Dichter an, dann wurdest du in den ‘Letten’ Publicist, dann in der ‘Vorzeit Lieflands’ Historiker, denn [sic!] in der ‘Rückkehr in’s Vaterland’, und dem ‘Wannem Ymanta’ wieder Dichter, dann in Deinen ‘Briefen’ Kritiker, dann wieder im ‘Freimüthigen’ Publicist, Politiker. – Jetzt übst Du Statistik, schreibst über Landwirtschaft und Industrie.” (Ich hatte zwei Jahr vorher mein Provinzial-Blatt angefangen.) “Was bist denn Du?”97

Merkel claimed that this was not an accidental outcome of various events and opportunities. He did not interpret his multifariousness to be a consequence of bad luck, which had forced him to fluctuate between genres, styles, and themes. Nor was it a 92 Bosse: Vom Schreiben leben (= n. 2), p. 212. 93 For example, “Sapere aude!“ was a motto of Freimütige, Zuschauer and Literärischer Begleiter des Provinzialblattes, but also of some longer texts. Cf. Merkel: Ist das stete Fortschreiten der Menschheit ein Wahn? (= n. 86); idem: Beweis daß es halb so viel koste (cf. n. 72); idem: Skizzen aus meinem Erinnerungsbuche (= n. 41). 94 “Ich gab ihm das Motto: Sapere aude! Um auf die höhere geistige Ansicht hinzudeuten, mit der Denkende gerade jetzt mehr als jemals dem Gang der Begebenheiten folgen müssten.“ Merkel: Die Geschichte meiner liefländischen Zeitschriften (= n. 57), p. 194. 95 Cf., for example, Merkel: Ist das stete Fortschreiten der Menschheit ein Wahn? (= n. 86); idem: Skizzen aus meinem Erinnerungsbuche (= n. 41); idem: Beweis daß es halb so viel koste (= n. 72). 96 Cf., for example, idem: Aufsätze während des Krieges geschrieben. Riga 1813. 97 Idem: Darstellungen und Charakteristiken aus meinem Leben (= n. 43), vol. 1, p. VII.

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sign of incompetence, failure, or unpopularity. On the contrary, Merkel compared his writing to goldsmithery. He explained that a man who writes in only one genre is like a spoonmaker who uses a material to make only one thing: spoons. This way, the true potential of the material is not realised. A goldsmith, in contrast, uses the material in different ways: [Ein Goldschmied] ist vielseitiger Meister in seiner Kunst. Sieh, das hab’ ich mich bemüht, auch in der meinigen zu werden, in der Schriftstellerei, der Kunst, was man für wahr, gerecht und nützlich erkennt, in jedem Ton und jeder Form zu sagen, die für den Augenblick überzeugende, wirksamste, gewinnendste scheint [...].98

The core of a Zeitschriftsteller’s professional identity was achieved by following this ideal. Merkel, however, presented himself as an author standing at the crossroads of different occupations and stated that this ideal was inspired by French men of letters.99 Merkel’s interpretation of the man of letters corresponds well to his role models from the French Enlightenment who placed value on the ability to master various fields and registers. Stéphane Van Damme has argued that the French Enlightenment was a literary experiment, blurring any simple distinction between literature, science and philosophy. In this way, Enlightenment philosophy tested the scholarly literary norms of institutions of knowledge, while at the same time finding certain genres such as the dictionary, encyclopaedia, dialogue and essay to be more suited to intellectual flexibility, the desire for a new summation of knowledge and a culture of judgement.100

According to the Encyclopédie, the ideal of flexibility and variability concerned not only genres of writing, but more broadly the way of thinking in general. Denis Diderot offered his view of a freethinking philosophe in his article on ‘eclecticism’. He wrote: L’éclectique est un philosophe qui foulant aux pieds le préjugé, la tradition, l’ancienneté, le consentement universel, l’autorité, en un mot tout ce qui subjugue la foule des esprits, ose penser de lui-même, remonter aux principes généraux les plus clairs, les examiner, les discuter, n’admettre rien que sur le témoignage de son expérience et de sa raison.101

Merkel attempted to follow this advice. He linked questions and problems, such as serfdom, Napoleon’s threat, and nation-building in Germany or Russia, with wider arguments which were supposed to put these questions in the context of general principles in various texts. The other aspect which Merkel stressed in his writings was practicality: he did not just want to write or think theoretically, he wanted to compose works that would be useful and induce changes in the desired direction. In both his earlier writings and 198 Ibid. 199 Cf. ibid., S. VIII. 100 Stéphen Van Damme: Philosophe/Philosopher. In: Daniel Brewer (Ed.): The Cambridge Companion to the French Enlightenment. Cambridge 2014, pp. 153–166, here p. 158. 101 Denis Diderot: Art. ‘Eclecticisme’. In: Idem and Jean Le Rond d’Alembert: Encyclopédie, ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers. Vol. 5. Paris 1755, pp. 270–293, here p. 270.

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later memoires, Merkel underlined the need to write ‘usefully’.102 This idea also corresponds to the ideals of the philosophes, who sought to be political actors and change the world.103 When he was looking back at his life, Merkel did not want to define himself as a representative of one profession. Instead he presented his calling as quite general: writing brilliantly in order to influence people. Presenting himself as standing at the intersection of various genres gave Merkel an opportunity to turn his readers’ attention back to the beginning of his career when he used a wider range of media. It also helped to narrate his biography coherently and allowed him to systemise his different works under one over-arching endeavour. In addition, by linking his work to the French authors, he attempted to emphasise that he was not a mere journalist focused on current problems. He sought to place himself in the broader intellectual context and indicate that his work aimed higher and had a more lasting meaning than merely providing a running commentary on current affairs.

4. Conclusion Public self-representation is an important topic throughout Merkel’s work and it has been attributed to his character faults.104 The importance of self-representation can be analysed by focusing not only on his personality but also taking a wider perspective. By linking Merkel’s persona with the historical context one gains a broader range of possible explanations for his choice of writer positions. Merkel thought of himself as an actor involved in processes of change. First, he perceived historical changes such as the beginning of the ’Jahrhundert der Gerechtigkeit’ or the volatility of the European political landscape due to the Napoleonic Wars. According to Reinhart Koselleck, one criterion of modernity is “Erfahrung des Übergangs”105 which encapsulates Merkel’s understanding of his contemporaneity and caused him to constantly reassess his role in relation to the changes. Second, partly due to his historicizing of the present, Merkel thought it important to document the processes and events he experienced, relating his personal impressions to wider questions. Third, during Merkel’s career he claimed that the limits and functions of professions were contested and changing. In this kind of situation the creation of a persona is particularly important.106 It is characteristic of Merkel to broaden the meaning and usage of different genres and he was an innovative and experimental writer. Fourth, self-re102 Cf., for example, the discussion of the usefulness on a general level in Merkel: Skizzen aus meinem Erinnerungsbuche (= n. 41), pp. 347–350. 103 Cf. Catherine Wilson: The Enlightenment Philosopher as Social Critic. In: Intellectual History Review 18 (2008), H. 3, S. 413–425. 104 See, for example, Heeg: Garlieb Merkel als Kritiker, S. 79. 105 Koselleck: Das achtzehnte Jahrhundert als Beginn der Neuzeit, S.  280); ders.: Vergangene Zukunft: Zur Semantik Geschichtlicher Zeiten. 3. Aufl. Frankfurt a. Main 1995, S. 359–375. 106 Condren, Gaukroger, and Hunter: Introduction. In: Idem: The Philosopher (= n. 3), pp. 1–16, here p. 11.

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flection was especially important for Merkel because he moved between two regions, Germany and the Baltic provinces. Every relocation caused him to (re)consider his role and (re)present himself to the public. Consequently, Merkel’s self-representation is influenced by an awareness of various changes. The most enduring characteristics of Merkel’s public persona are his emphasis on the political importance of his writings and his conscious usage of different genres and media. Since he did not cherish a strictly defined professional identity, it is logical that he continues to be variously categorised to this day.

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Schiller und „das Urtheil der Welt“1 Schiller wurde erst bekannt und dann berühmt. Dies geschah, als sich sein Status als homme de lettres und Gelehrter änderte bzw. schon geändert hatte. Paul Bénichou hat in seinem Buch Le sacre de l’écrivain die Etappen dieses Aufstiegs seit dem 17. Jahrhundert in Frankreich anschaulich nachgezeichnet.2 Reinhart Koselleck und Jürgen Habermas haben auf unterschiedliche, aber konvergierende Weise die Strukturveränderungen der Gesellschaften des Ancien Régime aufgezeigt, die zu einer Neubestimmung der Rolle und noch mehr des Status des homme de lettres geführt haben.3 Im erweiterten öffentlichen Raum der damaligen Gesellschaften waren diese in den eigenen Augen und in denen des Publikums nicht mehr nur Dichter, Dramaturgen und Romanautoren. Sie waren keine grammairiens (,Grammatiker‘) mehr, wie Voltaire sie in seinem Artikel „Gens de lettres“ in der Encyclopédie noch genannt hatte.4 Sie hatten ihren Kompetenzbereich erweitert und inszenierten sich als Kritiker des geltenden Rechts. So proklamierte Raynal selbstbewusst: „Jeder geniale Schriftsteller ist geborener Magistrat seines Vaterlandes“.5 Sie beriefen sich auf diese neue Kompetenz, um in politische Angelegenheiten einzugreifen. Diese neue Form der kritischen Auseinandersetzung wurde durch die Revolutionierung des Buchmarktes begünstigt, welche vor allem die wirtschaftlichen Bedingungen des Kulturbetriebs modifizierte. Das Publikum, das nicht mehr nur aus Hofleuten und Staatsbeamten bestand, stellte fortan ein wirtschaftlich begründetes Machtpotential dar. Es verfügte über Mittel, Autoren selbst gegen die Macht der Herrschenden, zu unterstützen. Die soziale Anerkennung rührte nicht mehr nur aus der Gunst oder den Zuwendungen der Fürsten her, sondern wurde entscheidend auch von der lesenden Öffentlichkeit bestimmt – das Publikum konnte und wollte mitreden. Dabei bildete der Widerstand gegen die herrschende Obrigkeit nicht sel1 Bei dem folgenden Aufsatz handelt es sich um eine überarbeitete Fassung meines in französischer Sprache erschienenen Aufsatzes: Jean Mondot: Schiller entre notoriété et publicité ou la fascination de l’espace public. In: Raymond Heitz u. Roland Krebs (Hg.): Schiller publiciste / Schiller als Publizist. Bern [u. a.] 2007, S. 3−22. 2 Paul Bénichou: Le sacre de l’écrivain 1750−1830. Essai sur l’avènement d’un pouvoir spirituel laïque dans la France moderne. Paris 1973. 3 Vgl. in diesem Zusammenhang die hochinteressante Studie von Antoine Lilti: Figures publiques. L’invention de la célébrité 1750−1850. Paris 2014 sowie ders.: Après l’espace public: sociabilité, communication, publicité. In: Lise Andriès u. Marc André Bernier (Hg.): L’avenir des Lumières / The Future of Enlightenment. Paris 2019, S. 29−45. Zur Thematik der Kommunikation vgl. Pierre-Yves Beaurepaire (Hg.): La communication en Europe de l’âge classique au siècle des Lumières. Paris u. Berlin 2014. 4 Voltaire: Artikel „Gens de lettres“. In: Denis Diderot u. Jean Le Rond d’Alembert: Encyclopédie, ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers. Bd. 7. Paris 1757, S. 599f., hier S. 599. 5 Guillaume Thomas François Raynal: Histoire philosophique et politique des établissements et du commerce des Européens dans les deux Indes. Bd. 7 (Buch 19). Londres 1792, S. 142.

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ten die Grundlage für die Anerkennung des Literaten durch die Leser. So wurde ein neues Band zwischen Autor und Publikum geknüpft, das auch Schillers literarische Laufbahn prägte.

1. Von der Bekanntheit zur Zelebrität Schiller wurde schon in sehr jungen Jahren bekannt. Er war erst 17 Jahre alt, als sein Gedicht Der Abend in Balthasar Haugs Zeitschrift Schwäbisches Magazin erschien. Diese erste Veröffentlichung wurde von einer emphatischen Voraussage Haugs begleitet: „Ein Mund, der Großes singen wird“.6 Der zweite Moment dieser Gewinnung oder Entstehung seines literarischen Ruhmes ist mit der Aufführung der Räuber verbunden, mit der er quasi an einem einzigen Abend berühmt wurde. Die Formulierung ‚A star is born‘ mag in diesem Zusammenhang unpassend erscheinen, trifft Schillers plötzliches Bekanntwerden aber durchaus. Damals träumten übrigens alle seine jugendlichen Zeitgenossen davon, durch das Theater Ruhm zu erlangen. Man denke nur an die Theatererlebnisse, die Carl Philipp Moritz im Anton Reiser schildert. Moritz blieb, wie man weiß, erfolglos – nicht so Schiller: Er wollte zu einem literarischen star werden. In seinem Wortschatz kommen Ruhm oder gar Nachruhm vielfach vor. Er wollte bekannt und berühmt werden, „laut genannt“ wie er später sagen sollte.7 Und zu diesem Ruhm konnte er nur gelangen, wenn sein Ruf über die Grenzen seines lokalen Erfolgs hinauswuchs. Seinem Freund Petersen legte er den klaren Plan seines Lebensprojektes in einem Brief aus dem Jahr 1780 folgendermaßen dar: Daß Du siehst wie viel mir an der Herausgabe meines Trauerspiels gelegen ist, […] will ich dich izt schriftlich nochmals an das erinnern, was Du […] schon […] gehört haben wirst. Der erste und wichtigste Grund warum ich die Herausgabe wünsche, ist jener allgewaltige Mammon, dem die Herberge unter meinem Dache gar nicht ansteht – das Geld. […] Der zweite Grund ist wie leicht zu begreiffen, das Urtheil der Welt, dasjenige was ich und wenige Freunde mit vielleicht übertrieben günstigen Augen ansehen, dem unbestochenen Richter dem Publicum preißzugeben. Dazu kommt noch die Erwartung, die Hoffnung und Begierde, welches alles mir meinen Auffenthalt im Loche der Prüfung, verkürzen und versüßen, und mir die Grillen zerstreuen soll. Ich möchte natürlicherweise auch wissen, was ich für ein Schicksal als Dramatiker, als Autor zu erwarten habe […].8

Die beiden angeführten Gründe zur Veröffentlichung seines Stückes sind sehr aufschlussreich. Schiller weiß von Anfang an, dass der literarische Ruhm auch eine finanzielle Komponente hat. Es existiert ein Buchmarkt, an dem sich die Verleger bereichern. Der Buchhändler Schwan in Mannheim, der ihm seinen Fiesco abkaufen 6 Zit. nach Peter-André Alt: Schiller. Leben – Werk – Zeit. Eine Biographie. Bd. 1. München 2000, S. 220. 7 Schiller an seine Schwester Christophine Schiller. 28.09.1785. In: Friedrich Schiller: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Hg. v. Gerhard Kluge, Otto Dann u. Norbert Oellers. Frankfurt a. M. 1992– 2002, Bd. 11: Briefe I. 1772−1795. Hg. v. Georg Kurscheidt. Frankfurt a. M. 1992, S. 163. 8 Schiller an Wilhelm Petersen. Ende Nov./Anfang Dez. 1780. In: Ebd., S. 21f.

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wird, ist dafür ein gutes Beispiel. Der literarische Ruf hat einen Preis und davon will Schiller auch profitieren.9 Der zweite Grund hat mit Schillers Einschätzung seines literarischen Wertes zu tun. Er traut zwar dem eigenen Talent, gibt sich aber nicht mit der eigenen Beurteilung oder mit der seiner Freunde zufrieden. Auf das „Urtheil der Welt“ kommt es ihm an. Er will den Weg der Schrifttellerlaufbahn nur einschlagen, wenn er der Unterstützung des Publikums sicher ist, und zwar der moralischen, die aber auch Garantie der materiellen, sprich finanziellen ist – ein zugleich vernünftiger und vorausschauender Plan. Schiller leidet nicht an mangelndem Selbstwertgefühl. Er befürchtet nicht, ausgepfiffen zu werden. Übrigens ist für ihn der Karriereweg des Theaterautors nur eine von vielen Möglichkeiten. Er strebt einen Grad der öffentlichen Anerkennung an, der sonst nur Professoren zuteil wurde. Auf dieser Ebene liegen seine Ambitionen. Er spielt so sehr mit diesen Optionen, dass er sich fragt, ob nicht die Theaterlaufbahn seiner Universitätskarriere schaden könnte. Das Briefende zeigt aber, dass es sich nicht um einen definitiven Lebensplan handelt: „Höre Kerl! wenns reussirt, Ich will mir ein paar Bouteillen Burgunder drauf schmecken laßen“.10 Sein Vorgehen stellt mehr als ein gewagtes Hasardspiel dar. Denn er ist sich der Tatsache bewusst, dass er in der Öffentlichkeit wahrgenommen wird und bereits über eine gewisse Bekanntheit verfügt: „Wenn Teutschland einst einen dramatischen Dichter in mir findet“,11 schreibt er zwar noch im Konjunktiv, zweifelt aber nicht daran, dass dies schon der Fall ist. Die viel berufene Öffentlichkeit wird sein Talent, ja sein Genie zugleich offenbaren und legitimieren. Man wird dies bei Gelegenheit seines Streits mit dem Herzog Carl Eugen von Württemberg beobachten können. Dieser zweite Moment seines Zugangs zur Zelebrität beginnt mit dem Versuch einer zur Güte vorgeschlagenen Trennung. Schiller will Württemberg verlassen, weil es ihm hier nicht möglich ist, sein Talent zu entfalten. Mit für sein Alter erstaunlicher Sicherheit (er ist 24 Jahre alt) macht er sich zum Anwalt des eigenen Rufes und Ruhmes bei Heribert von Dalberg, dem Leiter des Mannheimer Nationaltheaters. Er bittet ihn um seine Vermittlung beim Herzog und erklärt ihm metaphernfreudig, wie notwendig seine Entfernung von Württemberg ist: „Noch bin ich wenig oder nichts. In diesem Norden des Geschmacks werd ich ewig niemals gedeyhen, wenn mich sonst glücklichere Sterne und ein griechisches Klima zum wahren Dichter erwärmen würden“.12 Er suggeriert Dalberg einige Wendungen, die den Herzog überzeugen oder gar beeinflussen könnten, und empfiehlt ihm, die Dauer seines Aufenthalts in Mannheim zu begrenzen, damit sein Abgang aus Württemberg nicht „einer völligen Entschwäbung“ gleichkomme. Da Dalberg aber nicht schreibt, so verfasst Schiller selbst einen Brief an seinen Herrscher: 9 Vgl. Alt: Schiller (= Anm. 6), S. 283. 10 Schiller an Wilhelm Petersen. Ende Nov./Anfang Dez. 1780. In: Schiller: Werke und Briefe. Bd. 11 (= Anm. 7), S. 22. 11 Schiller an Heribert von Dalberg. 17.01.1782. In: Ebd., S. 36. 12 Schiller an Heribert von Dalberg. 04.06.1782. In: Ebd., S. 41.

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Der allgemeine Beifall, womit einige meiner Versuche vom ganzen Deutschland aufgenommen wurden, […] hat mich einigermassen veranlasst stolz sein zu können, dass ich von allen bisherigen Zöglingen der grossen Karlsacademie der erste und einzige gewesen, der die Aufmerksamkeit der großen Welt angezogen und ihr wenigstens einige Achtung abgedrungen hat. – eine Ehre welche ganz auf den Urheber meiner Bildung zurückfällt.13

Diese Aktion zeugt von einem Charakter, der seiner selbst ziemlich sicher ist, dem aber auch nicht ein gewisser Eigendünkel fehlt. Besonders das Ende des Absatzes ist geschickt: Der bekannte Autor legt seinen jungen Ruhm dem Herzog zu Füßen. Dieser blieb der etwas künstlich geschwollenen Schmeichelei gegenüber aber unempfindlich. Er ging sogar so weit, dem jungen Eleven jede literarische Tätigkeit zu verbieten, worauf Schiller in einem zweiten Brief das Argument des geteilten Ruhms wiederholte, aber erneut erfolglos blieb. Einige Monate später richtet er in der Ankündigung der Rheinischen Thalia an das Publikum eine eloquente Klage über die Ungerechtigkeit, der er zum Opfer gefallen sei. Der Ton der verletzten Würde und misshandelten Unschuld, den er anstimmt, erinnert in mancher Hinsicht an eine bekannte öffentliche Figur seiner Zeit – Jean Jacques Rousseau: In einer Epoche, wo noch der Ausspruch der Menge unser schwankendes Selbstgefühl lenken muß, wo das warme Blut eines Jünglings durch den freundlichen Sonnenblick des Beifalls munterer fließt, tausend einschmeichelnde Ahndungen künftiger Größe seine schwindelnde Seele umgeben und der göttliche Nachruhm in schöner Dämmerung vor ihm liegt – mitten im Genuß des ersten verführerischen Lobes, das ungehofft und unverdient aus entlegenen Provinzen mir entgegenkam, untersagte man mir in meinem Geburtsort bei Strafe der Festung – zu schreiben. Mein Entschluß ist bekannt.14

Wie könnte das Publikum den jungen Autor nicht unterstützen, der durch seine Gunst ermutigt, dem ungerechten und unerklärlichen Dekret einer willkürlichen und unpersönlichen Macht („untersagte man mir“) widerstanden hat? Er ist von nun an der Schützling des Publikums, welches fortan verpflichtet ist, ihm die Entwicklung seines Talents und seines Genies zu garantieren. Es muss ihm helfen, ihn ermutigen und – unmittelbarer Zweck dieser pathetischen und leidenschaftlichen captatio benevolentiae – seine Zeitschrift abonnieren. Es ist bemerkenswert, mit welcher Eloquenz er den entscheidenden Charakter dieser Gunst betont („freundlichen Sonnenblick des Beifalls“, „Ahndungen künftiger Größe“), beschwört er doch den „göttlichen Nachruhm“ herauf, der „in schöner Dämmerung“ vor ihm liege. Das gibt ihm die Kraft, dem Herzog zu trotzen, ihm den Gehorsam zu verweigern. Dabei ist er sich seines Rufes schon so sicher, dass er nicht daran zweifelt, dass sein Verweigerungsentschluss von der ganzen Welt wahrgenommen würde („Mein Entschluß ist bekannt“). Schiller eignet sich bewusst die Rolle des von der sonnigen Gunst des

13 Schiller an Herzog Karl Eugen, 01.09.1782. In: Ebd., S. 45. 14 Friedrich Schiller: Ankündigung der Rheinischen Thalia. In: Ders.: Sämtliche Werke. Bd. 5: Erzählungen, theoretische Schriften. Hg. v. Gerard Fricke u. Herbert G. Göpfert. 6. Aufl. München 1980, S. 854−860, hier S. 856.

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Publikums getragenen und unterstützten Autors an. Er ist dafür bereit, die symbolischen Zwänge dieser Gunst zu akzeptieren. Schiller besitzt nun ein Image, dem er treu bleiben muss. Er verhält sich fortan wie eine öffentliche Figur, die darauf bedacht ist, einen guten Eindruck abzugeben, der ihm die Gunst des Publikums einträgt. Dies geht ganz besonders aus einem Brief hervor, den er seiner Schwester schreibt, um deutlich zu machen, dass er nicht wieder nach Stuttgart zurückkehren wird: Ein großer Teil von Deutschland weiß von meinen Verhältnissen gegen Euren Herzog und von der Art meiner Entfernung. Man hat sich für mich auf Unkosten des Herzogs interessiert. Wie entsetzlich würde die Achtung des Publikums (und dieses entscheidet doch mein ganzes künftiges Glück), wie sehr würde meine Ehre durch den Verdacht sinken, dass ich diese Zurückkunft gesucht!15

Die Verbreitung seines Rufes („Ein großer Teil von Deutschland“) erspart ihm, sich über seinen Streit mit „Eurem“ Herzog ausführlicher auseinanderzusetzen. Er betrachtet sich nun als einem anderen Fürsten unterstehend und zwar dem von Sachsen-Weimar. Er weigert sich aber aus Gründen der Stimmigkeit mit dem öffentlichen Bild, das seine Flucht abgegeben hat, nach Württemberg zurückzukehren – Image verpflichtet gewissermaßen. Auffallend ist zugleich das scharfe Bewusstsein dieses Images und das verinnerlichte Band, das es zwischen ihm und seinem zukünftigen Schicksal zieht. Mit Bourdieu könnte man von einem symbolischen Kapital reden, das Schiller nicht verschwenden will. Es geht ihm aber nicht allein darum, seinen ‚Fanklub‘ – wie man unzeitgemäß sagen könnte16 – nicht zu enttäuschen. Schiller hat den Eindruck, durch diesen öffentlichen Streit mit dem Herzog mehr als einen Gelegenheitsruf gewonnen zu haben, und zwar eine Art von moralischer Legitimität. Sein Fall ist in gewisser Hinsicht vorbildlich geworden. Die Unbotmäßigkeit dem Herzog gegenüber begründet ebenso wie der literarische Ruf seine öffentliche Legende. Deshalb kann er nicht vor seinen zukünftigen Zuschauern und Lesern, vor dem lesenden Publikum Deutschlands nachgeben. In einer Art von heldenhafter Beharrlichkeit fügt er also hinzu: Daß meine Umstände mich meinen ehemaligen Schritt zu bereuen gezwungen, daß ich die Versorgung, die mir in der großen Welt fehlgeschlagen, aufs neue in meinem Vaterland suche! Die offene, edle Kühnheit, die ich bei meiner gewaltsamen Entfernung gezeigt habe, würde den Namen einer kindischen Übereilung, einer dummen Brutalität bekommen, wenn ich sie nicht behaupte.17

Hier kommentiert und zelebriert Schiller seine Taten, indem er sie vollzieht und zugleich geradezu heldenhaft darstellt („die offene, edle Kühnheit“). Er ist ein guter Anwalt seiner Causa. In sein vaterländisches Württemberg wird er nicht wieder zurückkehren, weniger um den Schergen des Herzogs zu entgehen als den negativen 15 Zit. nach Rüdiger Safranski: Schiller oder die Erfindung des deutschen Idealismus. München 2004, S. 144f. 16 Zur Entstehung des Fans im 18. Jahrhundert vgl. Lilti, Figures publiques (= Anm. 3), S. 65f. 17 Zit. nach Safranski: Schiller (= Anm. 15), S. 145.

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Urteilen seiner Bewunderer. Er lebt von nun an unter ihren Blicken und von ihrer Unterstützung. Jenseits des persönlichen Ereignisses muss hier die beispielhafte Umkehrung der Rollen und der Situationen vermerkt werden. Sie veranschaulicht die radikale Veränderung der Stellung des Schrifttellers und homme de lettres zu diesem Zeitpunkt. Der Bruch mit dem Herzog, der sehr stark an einen symbolischen Vatermord erinnert, führt zu einer symptomatischen Umkehrung der Treuepflichten, die an sich eine Revolution bedeutet. Schiller ist fortan kein Untertan eines Fürsten, der in einem akzeptierten Status geistiger und vor allem politischer Unmündigkeit schreibt. Er dient vielmehr dem Publikum, seinem „Souverain“. Schon zu Beginn der Auseinandersetzung schrieb er „als Weltbürger der keinem Fürsten dient.“18 Und wie immer nicht ohne Emphase präzisierte er die Bedingungen und die Wirkungen dieser Umwälzung: Nunmehr sind alle meine Verbindungen aufgelöst. Das Publikum ist mir jetzt alles, mein Souverain, mein Vertrauter. Ihm allein gehör ich jetzt an. Vor diesem und keinem anderen Tribunal werde ich mich stellen. Dieses nur fürchte ich und verehr ich. Etwas großes wandelt mich an bei der Vorstellung, keine andere Fessel zu tragen als den Ausspruch der Welt – an keinem andern Thron mehr zu appellieren als an die menschliche Seele.19

Schiller hat also seine Revolution vollzogen. Er hat die väterliche Autorität des Fürsten – die schlimmste, schreibt Kant einige Jahre später –20 umgestürzt und ist nun ein freier Mensch, der allein seinem Publikum Rechenschaft abzulegen hat. Dies hindert ihn allerdings nicht daran, diese Ausgabe der Rheinischen Thalia dem Herzog von Sachsen-Weimar zu widmen, was jedoch vornehmlich als Provokation gegen den Herzog von Württemberg verstanden werden muss. Jedes Wort ist gegen den Undank des Herzogs gegenüber seinen Untertanen gerichtet. Wichtig ist vor allem, dass Schiller sein schriftstellerisches Dasein wirtschaftlich, sozial, politisch und ästhetisch der Unterstützung des Publikums anvertraut hat. Die Welt ist sein Publikum. Schiller ist zum Helden der neuen Medienepoche geworden, die in Deutschland und Europa angebrochen ist.

2. Zeichen von Schillers Zelebrität Diese Anhänglichkeit des Publikums an Schiller ist kein Produkt seiner Einbildungskraft. Er konnte in bekannten Zeitschriften Zeugnisse davon finden. So erschien zum Beispiel 1782 im Deutschen Museum Dohms und Boies eine Ode an Schiller, die aus der Feder eines gewissen Franz Wilhelm Jung stammte, und in der es hieß:

18 Schiller: Ankündigung der Rheinischen Thalia (= Anm. 14), S. 856. 19 Ebd. 20 Vgl. Immanuel Kant: Über den Gemeinspruch. Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis. Hamburg 1992, S. 22.

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Jetzt klaget nimmer der Genius, Shakespearn fand er in Schillern wieder. Schiller Dich liebet der Genius; dichte Daß er nicht zürne mit dir!21

Schiller schätzt diese Präsenz in der Presse. In seiner aufgezwungenen Einsamkeit in Bauerbach bittet er den Bibliothekar Reinwald, ihm Zeitungen zu schicken. Denn „[w]enn ich meinen Namen in der Zeitung lese, so erfahre ich doch, daß ich noch lebe.“22 Ein fast rührendes Geständnis, das sowohl von seiner Situation in Bauerbach zeugt als auch von seiner beständigen Sorge, vom Publikum vergessen zu werden. Etwas später wird er um Auszüge von Zeitungen bitten, in denen er zitiert wurde, um eine Art pressbook zu erstellen. Sein Durst nach sozialer Anerkennung wird auch in einem Schreiben an seine Wohltäterin Henriette von Wolzogen deutlich, der er mit nicht zu verhehlender Zufriedenheit über einen schmeichelhaften Besuch berichtet: „Vor einigen Tagen hat mich ein reisender Maurer besucht, ein Mann von der ausgebreitetsten Kenntnis und einem großen verborgenen Einfluß, der mir gesagt, daß ich schon auf verschiedenen Freimäurerlisten stünde.“23 Man weiß, dass Schiller wahrscheinlich nie Freimaurer gewesen ist.24 Wichtig ist aber sein Interesse an dem Bild, das er von sich gibt, und an seinem Ruf, zumal zu einem Zeitpunkt besonderer Schwierigkeiten, an dem er seine Beschützerin von der Qualität ihres Schützlings überzeugen wollte. Es wäre übrigens falsch, Schiller als einen Mann darzustellen, der stets des eigenen Erfolgs sicher gewesen wäre. Zwar hat er wenig an seinem Talent und Genie gezweifelt, jedoch erlebte er auch Momente der Entmutigung, in denen ihm seine eigene Zelebrität unerreichbar vorkam. So schreibt er in einem Brief an den eben erwähnten Reinwald in einem elegischen Ton, der an die Gestalt seines Don Karlos denken lässt: „Theurer Freund! Ich bin nicht was ich gewiss hätte werden können. Ich hätte vielleicht groß werden können, aber das Schicksal stritte zu früh wider mich. Lieben und schätzen Sie mich wegen dem, was ich unter besseren Sternen geworden wäre, und ehren Sie die Absicht in mir, die die Vorsicht in mir verfehlt hat.“25 Einige Tage später wird der Ton noch düsterer ausfallen. Trotz der selbstironischen Komponente lassen sich die Bestrebungen des jungen Mannes erahnen: „Es war eine Zeit, wo mich die Hoffnung eines unsterblichen Ruhms so gut als eine Galanterie ein Frauenzimmer gekitzelt hat.“26 Diese vorübergehende Entmutigung entspricht übrigens der Entstehungszeit des Don Karlos, einer Periode des fast schon verliebten Mimetismus mit seiner Hauptfi21 Fr[anz] Wilh[elm] Jung: An Schiller. In: Deutsches Museum 2 (1782) S. 271f., hier S. 272. Der Autor des Gedichts wurde zum Freund Hölderlins und schon 1784 von Bode als Illuminat rekrutiert. Vgl. Hans-Jürgen Schings: Die Brüder des Marquis Posa. Schiller und der Geheimbund der Illuminaten. Tübingen 1996, S. 50. 22 Schiller an Wilhelm Reinwald. 14.02.1783. In: Schiller: Werke und Briefe. Bd. 11 (= Anm. 7), S. 63. 23 Schiller an Henriette von Wolzogen. 11./12.09.1783. In: Ebd., S. 97. 24 Erwähnt wird dieser Besuch bei Schings: Brüder (= Anm. 21), S. 77f. 25 Schiller an Wilhelm Reinwald. 14.04.1783. In: Schiller: Werke und Briefe. Bd. 11 (= Anm. 7), S. 73. 26 Schiller an Henriette von Wolzogen. 30.05.1783. In: Ebd., S. 84.

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gur, wie er es Reinwald erklärt.27 Dem Sohn Philipps II. hat er die eigene Ruhmesbegierde angedichtet. Man denke an seinen bekannten Ausruf: „Drei und zwanzig Jahre und nichts für die Unsterblichkeit getan“.28 Eine gleiche ungeduldige Ambition wohnt in den Seelen des Autors und seines Geschöpfs. Und ohne biographische Entsprechungen zwischen dem Autor und seinem Werk unbedingt suchen zu wollen, so besteht doch kein Zweifel, dass sich die Spannung zwischen Philipp und Don Karlos von der Spannung nährt, die sich zwischen Schiller und Carl Eugen entwickelt hatte. Diese wohlverständlichen Momente der Depression waren jedoch von kurzer Dauer. Seine wirkliche Bekanntheit half ihm, sie zu überwinden. Ihr verdankt er die Einladung von vier Unbekannten aus Dresden und Leipzig, sie zu besuchen, um mit ihrer Hilfe sein Werk fortzusetzen. Der berühmte Brief vom 10. und 22. Februar 1785, den er ihnen schreibt, bevor er, wie er sagt, „seine romantische Reise zur Wahrheit, zum Ruhm, zur Glückseligkeit“ antritt, zeugt von einem nicht angeschlagenen Vertrauen in sein Schicksal. Zwar gibt er zu verstehen, dass Ruhm und Bewunderung, die gewohnten Gefährten der „Schriftstellerei“, wenig bedeuten im Vergleich zu einem Liebes- oder Freundschaftsmoment. Kurz zuvor aber hatte er ihnen bereits mit einer Mischung von Ironie und Hochmut sein Herz aufgeschlossen, wo die Ruhmesträume einen vorherrschenden Platz behielten: Wenn sie mit einem Menschen vorlieb nehmen wollen, der große Dinge im Herzen herumgetragen und kleine gethan hat, der bis jetzt aus seinen Thorheiten schließen kann, daß die Natur ein eigenes Projekt mit ihm vorhatte […] der keinen nagenderen Kummer hat, als daß er das so wenig ist, was er so gern seyn möchte, […] ich bin dieser Mensch.29

Einige Wochen später ist die Ironie verschwunden, aber der Glaube an sein Schicksal ist erhalten geblieben. Er schreibt an Körner belehrend und selbstsicher: Sehen Sie, bester Freund – unsre Seele ist für etwas höheres da, als bloß den uniformen Takt der Maschine zu halten. Tausend Menschen gehen wie Taschenuhren, die die Materie aufzieht oder wenn sie wollen, ihre Empfindungen und Ideen tröpfeln hidrostatisch wie das Blut durch seine Venen und Arterien, der Körper usurpiert sich eine traurige Diktatur über die Seele, aber sie kann ihre Rechte reclamieren und das sind dann die Momente des Genius und der Begeisterung.30

Eine charakteristische Anthropologie des Arztphilosophen Schiller: Das Genie stellt eine Art Auflehnung der Seele gegen das Körperliche dar. Diesmal lässt sich Schiller-Posa heraushören. Er ist bereit, in die Arena herunterzusteigen, dieses literarische Feld, wo er nun einen seiner Ambition entsprechenden Platz behaupten will. Dort wird auch er seine „Rechte reclamieren“.31 27 Schiller an Wilhelm Reinwald. 14.04.1783. In: Ebd., S. 69. 28 Friedrich Schiller: Don Karlos. In: Ders.: Werke und Briefe in zwölf Bänden (= Anm. 7), Bd. 3: Dramen II. Hg. v. Gerhard Kluge. Frankfurt a. M. 1989, S. 815 (2. Akt, 2. Auftritt, V. 1150). 29 Schiller an Christian Gottfried Körner. 10.02.1785. In: Schiller: Werke und Briefe. Bd. 11 (= Anm. 7), S. 132. 30 Schiller an Christian Gottfried Körner. 07.05.1785. In: Ebd., S. 149. 31 Zu Schillers kämpferischem Wesen im literarischen Feld vgl. York-Gothart Mix: Schreiben, lesen und gelesen werden. Zur Kulturökonomie des literarischen Feldes. In: Wolfgang Adam u. Mar-

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Auf diese Rechte hatte er trotz der Ereignisse nicht verzichtet. Und die schon erworbene Bekanntheit bekräftigte seinen Willen weiterzumachen. In einem Brief an seine Schwester zieht er die Bilanz der vergangenen Jahre, um sich zu rechtfertigen, aber auch, um noch einmal die für einen Neubeginn notwendige Energie zu schöpfen: „Ich trat mit eigenmächtiger Zuversicht aus dem damaligen Kreis meiner Bestimmung heraus, der so eng und so dumpfig war wie ein Sarg. […] Ich pochte auf eine innere Kraft.“32 Nicht ohne Stolz erinnert er an die in so kurzer Zeit erworbene Bekanntheit: „Laut genannt zu werden, haben manche mit Aufopferung ihres Lebens und ihres Gewissens gesucht. Mich hat es nichts als drei Jünglingsjahre gekostet, die mir vielleicht in den nächstfolgenden wuchern werden.“33 „Laut genannt zu werden“, nach Ruhm, Zelebrität, ja Unsterblichkeit strebte während dieser Zeit der ambitionierte junge Schwabe. Letztendlich kam es ihm nicht auf die Wahl einer bestimmten Laufbahn an. In einem Brief an Körner dachte er noch über folgende Frage nach: „welche Tätigkeit […] die vorzüglichere ist, politische oder idealische, bürgerliche oder gelehrte?“34 Aber bei dieser Ungewissheit blieb er nicht lange. Einige Monate später, bei seinem ersten Besuch im Sommer 1787 in Weimar, verteidigte Schiller angesichts eines desillusionierten Wieland, der an der Wirksamkeit der Politik zweifelte und sich auf Turgots Wort berief, nach welchem die Politik kein Geschäft für ehrliche Menschen sei, die Tätigkeit des Schrifttellers: „Ich nahm mich mit Wärme der schriftstellerischen [Tätigkeit] an und zwang ihm doch endlich ab, daß er diese als etwas positives betrachtete.“35 Das war seine echte Berufung trotz des anderswo ausgesprochenen Unwillens über „die Verwünschungen meines Dichterberufes“,36 trotz seiner Ungeduld gegenüber dem deutschen Publikum: „Überdem zwingt ja das deutsche Publikum, seine Schriftsteller nicht nach dem Zug des Genius sondern nach Speculazionen des Handels zu wählen.“37 Die letzte Bemerkung bestätigt, dass er der oft lästigen Zwänge der kulturellen Ökonomie überdrüssig war. Wie aber im berühmten Paradoxon des Diderot’schen Komödianten verlor er die Realien dieser Welt und insbesondere die des literarischen Feldes nicht aus den Augen. Wie schon erwähnt, hat Schiller sich immer auch für die wirtschaftliche und materielle Seite der schriftstellerischen Tätigkeit interessiert. Er hat

32 33 34 35 36 37

kus Fause (Hg.): Geselligkeit und Bibliothek. Lesekultur im 18. Jahrhundert. Göttingen 2005, S. 283−309, hier S. 296−299. Man könnte auch einige Sätze aus dem Vorwort zu einer seiner ersten Zeitschriften anführen, um ein Bild der Autorengestalt Schillers zu geben: „Ein Schriftsteller, der weniger auf die Nutzbarkeit und innere Fürtrefflichkeit seines Werkes als auf die Lobeserhebungen der gewöhnlichen Zeitungsklitterer achtet, ist in seinen Augen ein verächtliches Geschöpf, der Apoll samt allen Musen aus ihrem Reiche stoßen soll.“ (Friedrich Schiller: Wirtembergisches Repertorium der Litteratur, Vorbericht. In: Ders.: Sämtliche Werke. Bd. 5 [= Anm. 14], S. 853). Schiller an Christophine Schiller. 28.09.1785. In: Schiller: Werke und Briefe. Bd. 11 (= Anm. 7), S. 162. Ebd., S. 163. Schiller an Christian Gottfried Körner. 15./16.04.1786. In: Schiller: Werke und Briefe. Bd. 11 (= Anm. 7), S. 173. Schiller an Christian Gottfried Körner. 28.07.1787. In: Ebd., S. 216. Schiller an Ferdinand Huber. 07.12.1784. In: Ebd., S. 127. Ebd., S. 128.

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immer wissen wollen und berechnet, was ihm seine Schriften eintragen sollten. Und er schrieb lange Briefe an den Verleger Göschen aus Leipzig, um Verbesserungen an der äußeren Aufmachung anzuregen, welche die Verbreitung fördern und somit der Nachfrage entgegenkommen sollten. Er sann über kaufmännische Strategien nach, die zu einem besseren Vertrieb führen könnten, und wollte beispielsweise die Buchfassung des Don Karlos gleichzeitig mit der Prosafassung des Stücks vom Schauspieler Schröder in Hamburg erscheinen und aufführen lassen. Schiller benutzte häufig den Wortschatz des Kaufmannes. Am Ende eines Briefes an Göschen bittet er um Entschuldigung dafür, dass er nur über Geschäfte gesprochen habe. Zur Entschädigung verspricht er einen anderen Brief, in dem der Freund und nicht der Geschäftsmann zu Wort kommen werde. Allerdings war dies nicht der letzte Brief, in dem diese Materie behandelt wurde.38

3. Schillers neues schriftstellerisches Experiment Schiller hat sich nicht allein um das Schicksal des Endproduktes gekümmert, indem er sich bemühte, das Buch durch eine schöne Aufmachung mit Kupferstichen der besten Zeichner und Maler seiner Zeit attraktiv zu machen. Er versuchte auch, das Publikum selbst an der Ausarbeitung des Werkes mitwirken zu lassen. Dieses einmalige Unternehmen, das er nicht wiederholt hat, wagte er im Zusammenhang mit dem Don Karlos. Es verdient, analysiert zu werden, denn es schreibt sich sehr wohl in den Rahmen seiner Beziehungen zum Publikum ein. In der Rheinischen Thalia veröffentlicht er zunächst Fragmente des Don Karlos, der zu diesem Zeitpunkt noch unvollendet ist. Er rechtfertigt diese frühe Veröffentlichung mit dem Willen, die Meinung des Publikums eben in diesem Moment seiner Ausarbeitung zu erfahren. Er wünscht, das Publikum an der Verbesserung seines Werkes mitwirken zu lassen. Jeder Leser und jede Leserin müsse sich zur klassischen Vollkommenheit des Stückes äußern. Zwar richtet sich sein Ruf vornehmlich an erfahrene Schriftsteller, darüber hinaus ist aber das ganze Publikum aufgefordert, sich auszusprechen. Er ist bereit, noch einmal dem „Urtheil der Welt“ oder, wie ein sich immer mehr verbreitendes Syntagma es ausdrückt, der Stimme der öffentlichen Meinung zuzuhören. Dieser Ruf ist natürlich mit Hintergedanken verbunden. Der erste und unmittelbare: Es geht darum, die vorzeitige Publikation seines Stückes zu rechtfertigen, die in Wirklichkeit durch die Notwendigkeit begründet ist, die Zeitschrift mit Inhalt zu füllen, damit sie erscheinen kann. Aus der Not macht er also ein Gebot. Der zweite Hintergedanke ist eher mit seinem Verhältnis zum Publikum verbunden. Aus kommerziellen Gründen will er nicht schreiben, was dem Publikum missfallen und sein Stück scheitern lassen könnte. Bevor er es mit Zuschauern tut, probt er den Stoff zunächst mit seinen Lesern. Er benutzt dazu ein anderes Medium als die Bühne, nämlich die Presse. So zeichnet sich hinter dem angedeuteten Ideal eines möglichen Nachruhmes die Suche nach einem sicheren Erfolg ab. Zu diesem 38 Vgl. Schiller an Georg Joachim Göschen. 05.12.1786. In: Ebd., S. 185f.

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Zweck muss Schiller einen Schreibstil benutzen, der das Publikum direkt anspricht. Er strebt einen wechselseitigen Austausch mit den Lesern an, der zu diesem Zeitpunkt noch neu ist. Offensichtlich will Schiller den Vertrag mit dem Publikum fortführen, den er in seinen Anfangsjahren mit ihm geschlossen hat. Auf dieses Bewusstsein eines wahren „Bandes der Freundschaft“39 sind die Artikel zurückzuführen, die er in Wielands Zeitschrift Teutscher Merkur nach der Veröffentlichung und Aufführung des Don Karlos veröffentlicht hat: die Briefe über Don Karlos. Schiller wollte das Stück nicht nur mit der Zustimmung des Publikums veröffentlichen, sondern auch die Lektüre des Publikums anleiten bzw. korrigieren. Daher dieser Kommentar des Werkes, der darauf abzielt, möglichen Missverständnissen zuvorzukommen, irrtümliche Interpretationen zu berichtigen und auf diese Weise die Begeisterung der Leser und Zuschauer anzufachen. Schiller legt seinem Publikum gegenüber Rechenschaft ab. Seine Absicht, mit ihm übereinzustimmen, geht also sehr weit. Das Publikum ist vom Anfang bis zum Ende des kommunikativen Prozesses, der das Werk einrahmt, präsent. Er begnügt sich nicht damit, die Gunst des Publikums mit Artikeln zu erwerben, in denen er seinen Willen bekundet, sich dem Geschmack und den Ideen dieses seines Publikums anzupassen. Er begleitet auch die Rezeption seines Werkes und versucht sie durch die Veröffentlichung eines Metatextes zu beeinflussen. Es ist bemerkenswert, wie er dabei mit den Medien und Gattungen beliebig spielt und vom Theater zum Journalismus übergeht, um seine Präsenz zu verbreitern und seine Beziehungen zum Publikum zu intensivieren.

4. Von der Zelebrität zur Publizität Schiller als bekannter homme de lettres macht nicht nur einen selbstbezogenen Gebrauch von seiner Bekanntheit oder Zelebrität, sei es um seine Autoreneitelkeit zufriedenzustellen oder seine literarische Berufung zu bestätigen, sei es, um nebenbei sein Brot zu verdienen. Seine breite Leserschaft gibt ihm auch ein politisches Machtpotential. Das symbolische Kapital, das er sich durch seine literarischen Erfolge wie auch durch seinen eklatanten Bruch mit Carl Eugen erworben hat, kann in den öffentlichen Raum neu investiert werden. Es kann dazu dienen, den Regierenden laut zu sagen, worunter das Publikum leidet und was für seine Glückseligkeit gut sein könnte. Schiller glaubt an die Wirksamkeit der Rede, an die Performativität des öffentlichen Diskurses. Er glaubt wie die Aufklärer seiner Zeit an die Macht des Diskurses auf das Publikum und an die Macht des Publikums, der öffentlichen Meinung oder des „Urtheils der Welt“ auf die Regierenden. Er glaubt also an seine Macht als Schriftsteller und homme de lettres. Zwei Texte, die kurz nacheinander geschrieben wurden, lassen nachvollziehen, welche Rolle Schiller dem Schriftteller zuschreibt und welche Bedeutung er in diesem Zusammenhang der Forderung nach Rede- und Pressefreiheit beimisst. In 39 Schiller: Ankündigung (= Anm. 14), S. 860.

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der Rede, die er am 26. Juni 1784 vor der Kurpfälzischen Deutschen Gesellschaft hält, versucht er zu beweisen, dass das unvollständige, lückenhafte, ja unvollkommene Wesen der Politik den Eingriff des Theaters und des Dramaturgen rechtfertigt.40 Angesichts der Unzulänglichkeit der politischen Gesetze, ihrer „schwankenden Eigenschaft“41 und ihres sowohl provisorischen als auch ambivalenten Charakters soll die Bühne das Gewissen der Gesellschaft, des Publikums sein. Sie ist so unbestechlich und unerbittlich wie Rhadamantes, der Richter des Höllengerichtes. Das Wort ‚Gericht‘ ist dabei im damaligen öffentlichen Diskurs, der die Auffassung der politisch-sozialen Verhältnisse prägt, von grundlegender Bedeutung. Der Terminus begleitet den Aufstieg der Kritik und der öffentlichen Auseinandersetzung und bleibt immer ein zentraler Bezugspunkt. Vor ein imaginäres Gericht werden Laster und Mängel, Irrtümer und Verbrechen geladen, aber auch – weniger abstrakt und wesentlich politischer – Behörden und Machthaber jeglicher Art und Herkunft. Der Schriftsteller, der homme de lettres, steigt zum Hauptrichter auf oder ist zumindest Gerichtsschreiber. Schiller führt die Metapher weiter: Die Bühne trägt die Insignien der Justiz, das Schwert und die Waage, die sie zum schrecklichen Tribunal aller Laster machen. Die Bühne besitzt aber nicht das Monopol der Moralität. Was er über das Theater sagt, gilt auch für die Presse. Sie soll zur gleichen Zeit die Urteile dieses Tribunals niederschreiben. Im Grunde bildet sie die öffentliche Meinung – oder: „das Urtheil der Welt“. Deutlicher spricht er dies an einer Stelle seiner Ankündigung der Rheinischen Thalia aus, die schon erwähnt wurde: „Ihm [dem Publikum] allein gehör ich jetzt an. Vor diesem und keinem anderen Tribunal werde ich mich stellen.“42 Er erweitert zugleich die Gerichtsbarkeit der Bühne und des Theaterautors wie auch die des Schriftstellers im Allgemeinen. Jede Unordnung betrifft ihn, muss durch ihn publik gemacht werden. Die Publizität im Sinne des 18. Jahrhunderts ist dieses neue Instrument, das Schriftsteller befähigt, in ihren oder durch ihre Schriften die politischen Fehler der Großen dem Urteil des Publikums anzeigen zu können. Der Dramaturg oder der Schriftsteller muss aber auch den Verstand des Bürgers erleuchten, die Vorurteile, die communis opinio, bekämpfen, der die Mehrheit der Menschen sklavisch gehorchen und die ihrer Glückseligkeit im Weg stehen. Schiller führt in dieser Rede ein wahres Aufklärungsprogramm vor und benutzt einen Wortschatz, der eindeutig der Aufklärungsphilosophie entnommen ist. Dank der Bühne verschwindet „der Nebel der Barbarei, […] des finstern Aberglaubens, die Nacht weicht dem siegenden Licht.“43 Schiller preist sodann Nathan den Weisen, der in seinen Augen die Toleranzmaßnahmen Josephs II. vorbereitet hat und damit einen direkten Übergang von der Bühne des Theaters zur politischen Bühne darstellt. Die Theaterbühne könne sogar das Instrument zur Ausbreitung eines nationalen Geistes 40 Vgl. Schiller: Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken? In: Ders.: Sämtliche Werke ( = Anm. 14), Bd. 5, S. 818−831, hier S. 819. 41 Ebd., S. 822. 42 Schiller: Ankündigung (= Anm. 14), S. 856. 43 Schiller: Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken? (= Anm. 40), S. 828.

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sein und dadurch, dem griechischen Modell gemäß, die Kohäsion einer Nation garantieren. Optimistischer gesinnt als Lessing, ist er sogar der Meinung, dass sie eine Nation begründen kann. Worauf es ankomme, ist das öffentliche Schreiben, das dank der durch die Zelebrität gewonnenen Selbstständigkeit unabhängig von der Wahl des Mediums – Theater oder Presse – praktiziert werden könne. Schiller selbst greift wie gesehen auf beide zurück. Vielleicht steigern aber die Mündlichkeit des Bühnentextes, die Topographie des Saales und seine soziale Strukturierung die politische Performativität des Diskurses. Die Schrift verwandelt sich hier in Wortergreifung. Der Saal wird zur Agora und das Theater zu einer Art von Parlament. Der öffentliche Raum nimmt eine konkret fassbare Dimension an, die fast zwangsweise den Diskurs politisiert. Ob mündlich oder schriftlich, die literarische Tätigkeit verlangt nun neue Rechte. Schiller verfolgt diese neue Situation des Schriftstellers bis zum Ende und fordert feierlich die rechtliche Voraussetzung für die öffentliche Wortergreifung: die Freiheit der Gedanken und der Rede. Die zehnte Szene des dritten Aufzugs im Don Karlos ist bereits so oft kommentiert worden, dass es hier genügt, zwei grundsätzliche Punkte hervorzuheben: Erstens ist es eine alte Fehlinterpretation, dass es hier um Religionsfreiheit oder Toleranz ginge. Die Gedankenfreiheit, von der hier die Rede ist, betrifft vielmehr die eben erwähnte Freiheit des Denkens und der Kommunikation. Der beste Kommentar zu dieser Freiheit befindet sich in dem Artikel Was heißt: sich im Denken orientieren? von Immanuel Kant, erschienen 1786 in der Berlinischen Monatsschrift.44 Freiheit zu denken, schreibt Kant, kann nur bedeuten, Freiheit zu kommunizieren. Die Abwesenheit der Kommunikation bedeute die Abwesenheit der kollektiven Regulierung des Denkens und führe folglich zum Denkverbot. In einem Aufsatz, den Fichte 1793 demselben Thema widmete, schrieb dieser: „Eine der reichhaltigsten Quellen unserer Belehrung und Bildung ist die Mittheilung von Geiste zu Geiste. Das Recht aus dieser Quelle zu schöpfen, können wir nicht aufgeben, ohne unsere Geistigkeit, unsere Freiheit und Persönlichkeit aufzugeben.“45 Dass die Freiheit der Presse oder des Journalisten in dieser Szene thematisiert wird, ist auch durch die klare Mehrdeutigkeit eines von Posa gebrauchten Wortes belegt: „Das Rauschen eines Blattes erschreckt den Herrn der Christenheit.“46 Das Wort ‚Blatt‘ verweist sowohl auf das Pflanzenreich als auch auf das Zeitungswesen. Unterschwellig, aber unbestreitbar ist hier die Freiheit der Presse gemeint. Der zweite grundsätzliche Punkt in Posas Tirade ist manchmal übersehen worden. Bevor Posa um die Gedankenfreiheit bittet, erinnert er an die Bedeutung und Reichweite der Befugnisse des Königs: „Ein Federzug von dieser Hand, und neu erschaffen 44 Vgl. Immanuel Kant: Was heißt: sich im Denken orientieren? In: Berlinische Monatsschrift (1786), Oktober, S. 304−330. 45 Johann Gottlieb Fichte: Zurückforderung der Denkfreiheit von den Fürsten Europens, die sie bisher unterdrückten. Eine Rede. In: Ders: Sämmtliche Werke. Bd. 6: Zur Politik und Moral. Hg. v. Imanuel Hermann Fichte. Berlin 1845, S. 1–35, hier S. 16f. 46 Schiller: Don Karlos (= Anm. 28), S. 894 (3. Akt, 10. Auftritt, V. 3224).

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wird die Erde. Geben Sie Gedankenfreiheit“.47 Die Forderung Posas bzw. Schillers ist also keine Forderung der Schriftsteller oder hommes de lettres nach Privilegien für eine besondere Kaste oder Zunft. Posa, „der Abgeordnete der ganzen Menschheit“,48 fordert vielmehr eine radikale Veränderung des Regiments der Kommunikation, die einer Veränderung des politischen Regiments gleichkommt – also einer Revolution. Die Freiheit wird die Totalität der sozialen Beziehungen verändern. Sie wird allen Menschen ihren verlorenen Adel und also ihren Stolz wiedergeben. Sie wird sich auf alle Klassen der Gesellschaft ausbreiten. Und Schiller lässt in der ersten Fassung des Don Karlos all die Kategorien der Bürger (von Bauern über Handwerker bis zu den Denkern) Revue passieren, die von dieser wiedergegebenen Freiheit profitieren werden. So sieht der zurückgelegte Weg aus. Der exilierte, aber berühmt gewordene Schriftsteller ist zum Gesprächspartner der Könige geworden. Die Rebellion des jungen Eleven gegen Carl Eugen ist noch im Dialog Posas mit Philip II. herauszuhören. Aber der Diskurs hat an Ehrgeiz gewonnen. Es geht nicht mehr nur um das Recht des Schriftstellers, sondern um das aller Bürger. Das Recht, zu schreiben und zu veröffentlichen, ist pars pro toto das Instrument und das Paradigma jeder politischen Freiheit. Schiller stellt dabei eine neue Spielart des Schriftstellers dar, der sich einerseits über die neue Freiheit und andererseits über die neue Abhängigkeit vom Publikum definiert. Die mediengebundene Zelebrität ist nichts anderes als ein säkularisierter Ruhm oder eine moderne Form der Unsterblichkeit. Sie ist die Quelle der Machtbeeinflussung und auch des materiellen Reichtums. Der Schriftsteller, der immer auf Ruhm bzw. Zelebrität aus ist, formt sein Bild in einer immer wieder erneuerten Dialektik zwischen der Erwartungshaltung des Publikums und dem gleichzeitig wirkenden Bildungsanspruch. Diese Suche erschöpft sich nicht in einem Narzissmus, der von den verschiedenen Publikumsarten der unterschiedlichen Medien unterhalten und genährt wird. Auch ist diese neu gewonnene Zelebrität von der in anderen Ländern schon im Aufstieg begriffenen spezifischen Medienkritik im Falle Schillers noch nicht in Frage gestellt. In diesem und durch dieses Spiel mit dem Publikum entwickelt sich die Überzeugung vom Nutzen des öffentlichen Diskurses, von seiner Kraft und seiner Wirksamkeit. Man kann zur öffentlichen Glückseligkeit mit anderen Mitteln als denen der Willkür oder der Autorität gelangen – durch die geteilte Vernunft oder die kollektive Erschließung der Wahrheit. Das ist eine Überzeugung, die Schiller zumindest bis zur Französischen Revolution verteidigen wird. Und selbst nach der Desillusionierung, die die revolutionären Ereignisse bewirken werden, wird er seinen permanenten Dialog mit dem Publikum fortsetzen, sei es mit neuen Zeitschriften, Theaterstücken oder anderen literarischen Gattungen. Das „Urtheil der Welt“ wird der Horizont des Schriftstellers bleiben.

47 Ebd. (V. 3214). 48 Ebd., S. 780 (1. Akt, 2. Auftritt, V. 157).

V. Kanzel und Bühne als Bildungsmedien der Aufklärung

Björn Hambsch

Theologen als Medien der Aufklärung. Vom Hallischen Pietismus bis zum Ende der Volksaufklärung 1. Voraussetzungen: Zur Mediengeschichte von Theologie und Aufklärung im 18. Jahrhundert Das besondere Gesicht der Aufklärung im Deutschland des 18. Jahrhunderts ist ohne die Theologen nicht denkbar. Der folgende Beitrag versteht sich deshalb zwar auch als Verneigung vor Werner Schütz’ Topos von der „Kanzel als Katheder der Aufklärung“,1 der mittlerweile bis in die neuere Forschung sprichwörtlich geworden ist, versucht aber auch, vor allem in einer mediengeschichtlichen Perspektive darüber hinauszugehen. Zu Recht hat Schütz seinerzeit auf die Affinität von Theologie und aufklärerischem Denken hingewiesen, die spezifisch für das 18. Jahrhundert in Deutschland ist. Wichtig ist dabei bis heute auch die dort eingenommene mediengeschichtliche Grundperspektive, denn Schütz kennzeichnet die Predigt als regionenund ständeübergreifendes mündliches Leitmedium der Epoche, das nichtsdestotrotz bis heute von Literatur- und Philosophiehistorikern weitgehend ignoriert wird. Man kann – und muss – allerdings noch weiter gehen: Hier geht es nicht einfach nur um die Verbreitung von aufklärerischem Gedankengut; die Theologen als Pfarrerstand sind diejenigen, die (im Gegensatz zu den Philosophen) die Aufklärung in die soziale Wirklichkeit hineintragen und an der Verbesserung realer Lebensverhältnisse in Schulwesen, Armenversorgung, Gesundheitswesen, Ökonomie, Medienlandschaft und Sozialwesen arbeiten. Deshalb lohnt eine konsequente mediengeschichtliche Betrachtung vor dem Hintergrund der neueren Theologiegeschichts- und Aufklärungsforschung, die vor allem auch die Erkenntnisse der neueren Forschung zur Volksaufklärung einbezieht.2 1 Werner Schütz: Die Kanzel als Katheder der Aufklärung. In: Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung. Hg. v. Günter Schulz. Bd. 1. Bremen u. Wolfenbüttel 1974, S. 137–171; explizite Wiederaufnahme und Diskussion des Topos z. B. bei Holger Böning: Einführung in den 1. Teil. In: Ders.: Volksaufklärung: Biobibliographisches Handbuch zur Popularisierung aufklärerischen Denkens im deutschen Sprachraum von den Anfängen bis 1850. Bd. 1: Die Genese der Volksaufklärung und ihre Entwicklung bis 1780. Stuttgart-Bad Cannstatt 1990, S. XIX–XLIX, hier S. XLII; Thomas K. Kuhn: Volksaufklärung und Dorfgeschichten im späten 18. Jahrhundert. Johannes Toblers „Idee von einem christlichen Dorf“ (1766). In: Albrecht Beutel u. Volker Leppin (Hg.): Religion und Aufklärung. Studien zur neuzeitlichen „Umformung des Christlichen“. Leipzig 2004, S. 93–106, hier S. 99 und ders.: Praktische Religion. Der vernünftige Dorfpfarrer als Volksaufklärer. In: Holger Böning, Hanno Schmitt u. Reinhart Siegert (Hg.): Volksaufklärung. Eine praktische Reformbewegung des 18. und 19. Jahrhunderts. Bremen 2007, S. 89–108, hier S. 94. 2 Zum Stand der Forschung vgl. Böning: Einführung (= Anm. 1), S. XX und Friedrich Wilhelm Graf: Theologische Zeitschriften. In: Ernst Fischer, Wilhelm Haefs u. York-Gothart Mix (Hg.): Von Almanach bis Zeitung. Ein Handbuch der Medien in Deutschland 1700–1800. München 1999,

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Es soll hier deshalb nicht um eine Literatur- oder Geistesgeschichte der Predigt gehen, obwohl es gerade für den Literaturbegriff der Aufklärung spezifisch ist, dass mit großer Selbstverständlichkeit die Predigt und die bekannten Prediger als Teil des deutschen Literaturkanons betrachtet werden.3 Auch die in der Forschung in der Regel im Vordergrund stehende Aufnahme aufklärerischen Gedankenguts in der rationalistischen Theologie des 18. Jahrhunderts soll hier lediglich vorausgesetzt werden.4 Es geht um die Theologen als spezifische soziale Gruppe, das heißt, als Berufsstand und Bildungsschicht, und um ihre besondere Rolle in der Medienlandschaft der Aufklärung. Analog zum sozialgeschichtlichen Blick auf die Theologen soll hier kein rein ideengeschichtlicher, sondern auch dezidiert sozial- und strukturgeschichtlicher Aufklärungsbegriff zugrunde gelegt werden.5 Als Grundmerkmale sind dabei die Herstellung kritischer Öffentlichkeit und Vergesellschaftung von Bildung festzuhalten, vor allem Letztere spielt eine entscheidende Rolle in der Volksaufklärung. Gerade sie stellt eine wichtige soziale Erweiterung ‚der‘ Aufklärung im 18. Jahrhundert ‚nach unten‘ dar, die ein wesentliches Strukturmoment ihres Anliegens überhaupt erst sichtbar macht: Denn „Eine Aufklärung, die nur den Aufgeklärten zum Ansprechpartner hat, verdient schlechterdings den Namen Aufklärung nicht.“6 Von hier aus ist dann auch die Frage zu stellen, ob das Verhältnis von Theologie und Aufklärung im Deutschland des 18. Jahrhunderts tatsächlich wie häufig wahrgenommen ein Konfliktverhältnis darstellt (hier sei nur an die Kontroverse zwischen Joachim Lange und Christian Wolff erinnert,7 die 1723 zu dessen Vertreibung aus Halle führt, und an Kants Konfrontation mit den preußischen Behörden von 1788 im Gefolge des Wöllner’schen Religionsedikts8), oder ob nicht eine weitgehende – nicht nur mediale, sondern auch inhaltliche – Komplementarität zwischen beiden

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8

S. 356–373, hier S. 356f.; kritisch zum Forschungsstand Kuhn: Volksaufklärung und Dorfgeschichten (= Anm. 1), S.  93–96 und ders.: Der Dorfpfarrer als Volksaufklärer (= Anm. 1), S.  89; zur Volksaufklärung als kirchengeschichtliche Forschungsaufgabe vgl. schon Böning: Einführung (= Anm. 1), S. XLVII und Albrecht Beutel: Kirchengeschichte im Zeitalter der Aufklärung. Ein Kompendium. Göttingen 2009, § 23, S. 150. Vgl. Björn Hambsch: ‚... ganz andre Beredsamkeit‘. Transformationen antiker und moderner Rhetorik bei Johann Gottfried Herder. Tübingen 2007, S. 79 u. S. 101f. Vgl. hierzu die Gesamtdarstellung bei Beutel: Kirchengeschichte (= Anm. 2) und die Beiträge in: Albrecht Beutel, Volker Leppin, Udo Sträter u. Markus Wriedt (Hg.): Aufgeklärtes Christentum. Beiträge zur Kirchen- und Theologiegeschichte des 18. Jahrhunderts. Leipzig 2010. Vgl. die Kritik bei Kuhn: Volksaufklärung und Dorfgeschichten (= Anm. 1), S. 99 an einem reduktionistischen Aufklärungsbegriff. Böning: Einführung (= Anm. 1), S. XX; vgl. auch ebd. S. XXII. Vgl. kritisch zu Franckes Auseinandersetzung mit Thomasius und Wolff Martin Brecht: Franckes ‚Glauchasche Anstalten‘. In: Ders. (Hg.): Der Pietismus vom siebzehnten bis zum frühen achtzehnten Jahrhundert. Göttingen 1993 (Geschichte des Pietismus Bd. 1), S. 503–507; vgl. dazu auch Steffen Martus: Aufklärung. Das deutsche 18. Jahrhundert – ein Epochenbild. Berlin 2015, S. 275–283. Vgl. dazu Beutel: Kirchengeschichte (= Anm. 2), S. 201.

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Bereichen besteht.9 Insofern kann eine mediengeschichtliche Perspektive zu einer Neubestimmung des Verhältnisses von Theologie und Aufklärung im 18. Jahrhundert beitragen. Das produktive Spannungsverhältnis zwischen Theologie und Aufklärung erhält nicht nur eine mitunter überraschende Perspektivierung, wenn man es mediengeschichtlich betrachtet; diese mediengeschichtliche Perspektive wiederum erhält überraschende neue Seiten, wenn man die Medienlandschaft der Aufklärung von ihrer sozialgeschichtlichen Rückseite her in den Blick nimmt. Zur klassischen Frage ,Was ist Aufklärung?‘ tritt dann eine entscheidende Grundfrage hinzu: Wer sind die Träger der Aufklärung?10 Nur wenn man sich den Theologen als Berufsgruppe bzw. konkreter sozialer Schicht zuwendet, bekommt man wirklich die beeindruckende Breite und Vielfalt an Aufklärungsmedien im 18. Jahrhundert in den Blick. Dabei ist es wichtig, diese Medienlandschaft nicht ausschließlich von ihrer Materialität her zu sehen, sondern auch von der Medienpraxis her, der sie sich verdanken. Denn Medien in ihrer Materialität sind immer das Produkt von medialem Handeln. Dies ist besonders bei der theologischen Volksaufklärung wichtig. Dies führt wiederum direkt zum geschichtlichen Medienspektrum, das hier im Fokus stehen soll. Gerade eine Betrachtung aus theologie- und aufklärungsgeschichtlicher Perspektive kann helfen, den häufig material-technisch verwendeten Medienbegriff für das 18. Jahrhundert zu erweitern.11 Aufschlussreich ist hier die mediengeschichtliche (und -theoretische) Kontroverse zwischen Werner Faulstich und Jürgen Wilke. Faulstich berücksichtigt in seiner Klassifizierung von Primär- bis Quartärmedien auch die klassischen „Menschmedien“, zu denen in besonderer Weise die Pfarrer in ihrer Eigenschaft als Prediger zu zählen sind, setzt aber unnötigerweise voraus, dass ein Medium nur dann Mediencharakter hat, wenn es von „gesellschaftlicher Dominanz“ ist.12 Dieser historische Medienbegriff wird zwar zu Recht von Wilke kritisiert, doch dieser begrenzt seinerseits den Gegenstand seiner Mediengeschichte von vornherein auf Printmedien im Sinne der klassischen Publizistikwissenschaft.13 An den entgegengesetzten historischen Medienbegriffen bei Wilke und Faulstich wird das methodologische Grundsatzproblem sichtbar, dass ein präziser Medienbegriff im 9

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Vgl. Hans Erich Bödecker u. Ulrich Herrmann: Über den Prozess der Aufklärung in Deutschland im 18. Jahrhundert. Personen, Institutionen und Medien. In: Dies. (Hg.): Über den Prozess der Aufklärung in Deutschland im 18. Jahrhundert. Personen, Institutionen und Medien. Göttingen 1987, S. 9–13, hier S. 10. Vgl. den Hinweis ebd., S. 11. Vgl. die Übersicht bei Ernst Fischer, Wilhelm Haefs u. York-Gothart Mix: Einleitung: Aufklärung, Öffentlichkeit und Medienkultur in Deutschland im 18. Jahrhundert. In: Dies. (Hg.): Von Almanach bis Zeitung. Ein Handbuch der Medien in Deutschland 1700–1800. München 1999, S. 9–23. Werner Faulstich: Mediengeschichte von 1700 bis ins 3. Jahrtausend. Göttingen 2006, S. 7f.; im Gefolge dieser Definition gelangt er zu der etwas absurd wirkenden Folgerung, dass z. B. „Fest, Tanz, Prediger, Sänger, Lehrer und Erzählerin“ im 18. Jahrhundert keinen Mediencharakter mehr besitzen (ebd., S. 28). Vgl. Jürgen Wilke: Grundzüge der Medien- und Kommunikationsgeschichte. Von den Anfängen bis ins 20. Jahrhundert. Weimar u. Wien 2000, S. 1f.; ebd. S. 78–154 zu Zeitungen, Zeitschriften usw. im 18. Jahrhundert.

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konkreten geschichtlichen Kontext in der Regel zu eng ist und ein weiter Medienbegriff in der Regel zu unpräzise, beide Ansätze sind nicht miteinander vereinbar. Auch wird hier sichtbar, dass die Abgrenzung von Medialität und (scheinbar medienloser reiner) Kommunikation oftmals schwierig ist.14 Ich folge daher dem betont praxisorientierten Zugang Reinhart Siegerts, der im Zusammenhang mit der Volksaufklärung für einen denkbar weiten Medienbegriff plädiert.15 Er stellt zu Recht fest: „Was im vor-elektronischen Zeitalter zunächst auf eine simple Auflistung einzelner Printmedien hinauszulaufen scheint, erweist sich als kompliziertes Geflecht von konkurrierenden oralen, literalen und nonverbalen Medien, die in einen von unseren heutigen Verhältnissen stark abweichenden soziokulturellen Kontext eingebettet sind.“16

2. Mediale Strukturen von der Reformation bis zur Spätaufklärung: Kontinuität und Wandel Gerade mediengeschichtlich betrachtet stellt die Reformation eine wichtige Präfiguration der späteren Aufklärung dar.17 Dies lässt sich an drei zentralen Aspekten festmachen: a. Die Transzendierung in der Regel mündlich tradierter Sinn- und Machtstrukturen durch die Instanzen Bibel und Vernunft: Religiöse Grundentscheidungen werden an ein autoritatives Schriftmedium gebunden, die neuen theologischen Richtungsentscheidungen der Reformation werden in allgemein publizierten Bekenntnisschriften festgehalten. b. Die Durchsetzung der Reformation in Europa ist undenkbar ohne die frühneuzeitliche Medienrevolution, die besonders durch Flugschriften, Kontroversschriften, öffentliche Sendschreiben usw. für eine rasche Verbreitung des damit verbundenen Gedankenguts sorgt. c. Luther entdeckt im Rahmen seiner Bibelübersetzung das ‚Volk‘ als Subjekt religiöser Sprache und sorgt damit im Bereich der Religion für einen sozialgeschichtlich folgenschweren Übergang zu den Volkssprachen nicht nur im deutschsprachigen Raum.18 Erst die Frühaufklärung wird in einer ähnlichen Bewegung im Bereich der Wissenschaftssprache vom tradierten Lateinischen zu den jeweiligen Volkssprachen über-

14 Vgl. ebd., S. 4–6. 15 Vgl. Reinhart Siegert: Medien der Volksaufklärung. In: Ernst Fischer, Wilhelm Haefs u. York-Gothart Mix (Hg.): Von Almanach bis Zeitung. Ein Handbuch der Medien in Deutschland 1700–1800. München 1999, S. 374–387, hier S. 385f. 16 Ebd., 386; Vgl. dazu Notker Hammerstein u. Ulrich Herrmann (Hg.): Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte. Bd.  2: 18. Jahrhundert. Vom späten 17. Jahrhundert bis zur Neuordnung Deutschlands um 1800. München 2005, S. 20–25. 17 Vgl. Beutel: Kirchengeschichte (= Anm. 2), S. 70f. 18 Für das Baltikum vgl. Heinrich Schaudinn: Deutsche Bildungsarbeit am lettischen Volkstum des 18. Jahrhundert. München 1937, S. 89.

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gehen. Prediger sind damit seitdem immer auch Experten für die jeweiligen Volkssprachen, in denen sie zu predigen haben. Für die verschiedensten Sprachen sind Theologen oftmals Pioniere in Sachen Übersetzung (v.  a. bei Bibelübersetzungen und Liederbüchern), Grammatik und Lexikographie, was sich auch in institutionalisierter Form noch im 18. Jahrhundert in verschiedenen fremdsprachigen Predigerseminaren im deutschen Sprachraum niederschlägt. So gab es in Leipzig die ‚Wendische Predigergesellschaft‘, in der Prediger für die sorbische Sprache der Lausitz ausgebildet wurden. In Königsberg gab es ein entsprechendes litauisches und polnisches Seminar, zahlreiche Pfarrer haben bekanntlich im baltischen Raum Litauisch, Estnisch und Lettisch gelernt, gepredigt und – oftmals als erste – auch publiziert.19 Viele soziale und mediale Strukturen, die sich in Theologie und Pfarrerschaft im Gefolge der Reformation schon im 16. Jahrhundert herausgebildet haben und dann seit dem späten 17. Jahrhundert auf charakteristische Weise mit ‚aufgeklärt‘ werden, bleiben bis ins 19. Jahrhundert relativ konstant. Da diese Aspekte strukturell im gesamten 18. Jahrhundert wirksam sind und nicht bloß phasenweise, soll hier zunächst ein kurzer Überblick gegeben werden: Eine Hauptaufgabe der Pfarrerschaft ist seit der Reformation natürlich die Schaffung von Predigtöffentlichkeit, die dann im 18. Jahrhundert mit einem spezifisch aufklärerischen Akzent versehen wird: Ein verbreiteter Topos in Homiletik (als Medientheorie der Predigt) und Publizistik der Aufklärung ist die strukturelle Bedeutung der Predigt als ‚Volksrede‘ für die gesamte Gesellschaft, die an Bedeutung dem antiken Forum gleichgestellt wird. Die ‚gemischte Versammlung‘ der Predigtöffentlichkeit ist tatsächlich lange die einzige Öffentlichkeitsform, in der alle Schichten der tradierten Ständegesellschaft und alle Bildungsniveaus aufeinandertreffen und gleichzeitig adressiert werden können. Die Predigt ist als wichtigste Form mündlicher Öffentlichkeit Leitmedium und bleibt es bis ins 19. Jahrhundert hinein. Der Predigerstand hat damit eine herausragende gesamtgesellschaftliche Verantwortung.20 Bis ins 19. Jahrhundert hinein selbstverständlich ist ebenfalls die obrigkeitliche Medienfunktion des – in der Regel obligatorischen – Gottesdienstbesuchs über den Brauch der Kanzelpublikation: Im Zusammenhang mit der Predigt werden in den Kanzelabkündigungen regelmäßig behördliche Verlautbarungen und Anordnungen von der Kanzel verlesen.21 Eine selbstverständliche Rolle spielen Theologen natürlich in der gesamten Medienproduktion der Aufklärung, nicht nur durch vielfältige gelehrte oder literarische Autorschaft, sondern auch in typischen Aufklärungsmedien wie der Zeitschrift. 19 Vgl. zahlreiche Einzelbeispiele ebd., S. 35, S. 92, S. 93 u. öfter. 20 Zur diesbezüglichen Topik vgl. Hambsch: Rhetorik bei Herder (= Anm. 3), S. 79 und S. 173f. 21 Vgl. Schaudinn: Deutsche Bildungsarbeit (= Anm. 18), S. 21 und S. 96; Götz Warnke: Pfarrer als weltliche ‚Volkslehrer‘. Motive und praktische Projekte. In: Holger Böning, Hanno Schmitt u. Reinhart Siegert (Hg.): Volksaufklärung. Eine praktische Reformbewegung des 18. und 19. Jahrhunderts. Bremen 2007, S. 73–88, hier S. 84f. und Beutel: Kirchengeschichte (= Anm. 2), S. 235; bei Johannes Wallmann: Kirchengeschichte Deutschlands seit der Reformation. 7. Aufl. Tübingen 2012, S. 167 erscheint dies als Spezifikum Friderizianischer Kirchenpolitik, doch der strukturelle Zusammenhang reicht bis ins 16. Jahrhundert zurück.

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Der Leipziger Theologe und Philologe Johann August Ernesti war zum Beispiel seit 1771 erfolgreicher Herausgeber eines theologischen Rezensionsorgans, das eine große Reichweite besaß und Pflichtlektüre für Landprediger war.22 Gleichzeitig nehmen Pfarrer seit dem 16. Jahrhundert eine obrigkeitliche Funktion als Führer der Kirchenbuchunterlagen wahr. In diesen Zusammenhang gehören auch die Beurkundung von Kasualien und die Führung von Gemeindechroniken etc.23 Pfarrer und Theologen sind auch wichtige Instanzen der Medienkontrolle. So wurde z. B. bei Hausvisitationen geprüft, welche Bücher (z. B. Bibel, Katechismus, Gesangbuch, Gebetbuch oder Hauspostille) in bäuerlichen Haushalten vorhanden waren und ob sie tatsächlich gelesen wurden.24 Generell waren Visitationen und Katechisationen wichtige Kontaktstellen, in denen schriftlich fixiertes Wissen vor- oder nachbereitend mündlich verhandelt wurde. Wichtig ist außerdem die institutionelle und sozialgeschichtliche Verflechtung des Pfarrerstandes mit dem Schulwesen des Alten Reiches: dies betrifft nicht nur die indirekte Medienkontrolle, die Theologen in der Schulaufsicht ausüben.25 Die Schule ist bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts sozialgeschichtliche Rückseite des Pfarrerstandes, viele Lehrer sind Kandidaten der Theologie, die (durch die notorische Überfrequentierung des Theologiestudiums oftmals vergeblich) auf die Beförderung ins Pfarramt warten.26 Eine wichtige Rolle spielen Berufstheologen auch in der Zensur der Aufklärungszeit.27 Dabei sind zwei Aspekte von Bedeutung: Zum einen ist diese Form der Medienkontrolle eine theologische Kernkompetenz aus der Zeit des Konfessionalismus. Insbesondere die orthodoxen theologischen Fakultäten auch und gerade im protestantischen Raum wachen über die Einhaltung des jeweiligen Landesbekenntnisses nicht nur bei den Untertanen, sondern auch bei der eigenen – in der Regel fürstlichen – Obrigkeit und bei der Approbation von Druckerzeugnissen. Politische Rücksichten spielen dabei eher selten eine Rolle (das wird sich erst in der napoleonischen Zeit und der Ära Metternich grundsätzlich ändern). Zum anderen werden von vielen Zeitgenossen Aufklärung und Zensur nicht als absolute Gegensätze gesehen, Zensur ist eine von vielen möglichen obrigkeitlichen ‚medienpädagogischen‘ Lenkungsmaßnahmen, die von vielen Gelehrten durchaus befürwortet und konsequent nur von prominenten Verlegern wie z. B. Friedrich Nicolai abgelehnt werden.28 Theologen an 22 23 24 25 26 27

Vgl. Graf: Theologische Zeitschriften (= Anm. 2), S. 358f. Vgl. Warnke: Pfarrer als weltliche ‚Volkslehrer‘ (= Anm. 21), S. 86. Vgl. Siegert: Medien der Volksaufklärung (= Anm. 15), S. 376. Vgl. Warnke: Pfarrer als weltliche ‚Volkslehrer‘ (= Anm. 21), S. 84. Vgl. so explizit Beutel: Kirchengeschichte (= Anm. 2), S. 234f. Vgl. Jürgen Wilke: Pressezensur im Alten Reich. In: Wilhelm Haefs u. York Gothart Mix (Hg.): Zensur im Jahrhundert der Aufklärung. Geschichte – Theorie – Praxis. Göttingen 2007, S. 27–44 und Wilhelm Haefs: Zensur im Alten Reich des 18. Jahrhunderts – Konzepte, Perspektiven und Desiderata der Forschung. In: Ebd., S. 389–424. 28 Vgl. die Einschätzung von Bodo Plachta: Zensur. Stuttgart 2006, S. 65: „Ziel der Zensur war eben nicht nur ausschließlich, Maßnahmen zur ‚Abwehr schädlicher Bücher‘ [...] zu ergreifen, sondern viel eher Strategien zur Lenkung von Buchmarkt und Leserschaft zu entwickeln. [...] Zensur war im 18. Jahrhundert – je nach politischer Perspektive und regionalem Territorium – ein Instrument obrigkeitlich geförderter Aufklärung oder Gegenaufklärung.“

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der Universität oder in kirchlichen Leitungspositionen besitzen damit ex officio einen allgemeinen medienpolitischen ‚Erziehungsauftrag‘. Nicht zuletzt spielen Theologen auch eine wichtige Rolle im zeitgenössischen Problem der gezielten Medienbeschaffung, da öffentliche Bibliotheken (häufig Stadtoder Universitätsbibliotheken, seltener auch Schulbibliotheken) in der Regel weder einen Etat besaßen noch eine geregelte Anschaffungspolitik verfolgen konnten und fürstliche oder klösterliche Bibliotheken in der Regel nicht öffentlich zugänglich waren. Eine conditio sine qua non für jeden angehenden gelehrten Leser war deshalb der Kontakt zu Gelehrten mit einer entsprechenden Privatbibliothek, und diese Gelehrten waren oftmals Theologen. Erst in der Spät- und Volksaufklärung entwickeln sich dann langsam die Schulen zu Orten, die Angehörigen insbesondere ländlicher Unterschichten einen Zugang zu Printmedien ermöglichen.29

3.

Drei mediengeschichtliche Stationen im Verhältnis von Theologie und Aufklärung

3. 1. Frühaufklärerische Medienpraxis des Hallischen Pietismus (um 1700) Die Pietisten werden häufig vor allem vor dem Hintergrund des Konflikts zwischen Joachim Lange und Christian Wolff, der 1723 zu dessen Vertreibung aus Halle führte, als Gegner der Frühaufklärung eingeschätzt. Doch gerade in der neueren Forschung ist zu Recht darauf hingewiesen worden, dass man den Pietismus „zwanglos als eine religiöse Spielart der Frühaufklärung“ wahrnehmen kann, sobald man ihn in „struktur- und problemgeschichtlicher Perspektive“ betrachtet. Dies wird noch deutlicher in einer mediengeschichtlichen Perspektive, denn gerade der Hallische Pietismus ist von einem „kommunikationsstrategischen Modernisierungsschub“ gekennzeichnet, wie er typisch für die Frühaufklärung ist.30 Als religiöse Erneuerungsbewegung hat der Pietismus per se einen aufklärerischen Impetus, der die etablierten vor allem kirchlichen Strukturen aus dem Zeitalter der Orthodoxie in Frage stellt.31 Auch die zahlreichen pietistischen Sozietäten folgen einem aufklärerischen Strukturmodell.32 Wenn man Aufklärung als Herstellung kritischer Öffentlichkeit und Vergesellschaftung von Bildung versteht, lässt sich das Medienhandeln der Pietisten ganz klar als aufklärerisch kennzeichnen: August Hermann Franckes Waisenhaus in Halle, die sogenannten Glauchaschen Anstalten, sind ein Musterbeispiel für offensives aufklärerisches Medienhandeln. Die dortigen Schulen verfügten über ein damals hochmodernes und vielfach nachgeahmtes Fachklas29 30 31 32

Vgl. Beispiele bei Schaudinn: Deutsche Bildungsarbeit (= Anm. 18), S. 105. Beutel: Kirchengeschichte (= Anm. 2), S. 93. Vgl. Kuhn: Der Dorfpfarrer als Volksaufklärer (= Anm. 1), S. 91. Vgl. Beutel: Kirchengeschichte (= Anm. 2), S. 94.

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sensystem, Studenten der Universität wurden planmäßig als Lehrer und Inspektoren eingesetzt und die pädagogische Praxis regelmäßig in Lehrerkonferenzen geregelt.33 Es gab eine allgemein zugängliche Bibliothek in einem eigens errichteten Zweckbau mit geregelten Öffnungszeiten und der Möglichkeit, Bücher zu entleihen, was damals selbst für Universitätsbibliotheken ungewöhnlich war.34 Das Waisenhaus besaß als Erwerbsbetrieb einen eigenen Verlag mit Papiermühle und Druckerei, in der dazugehörigen Cansteinschen Bibelanstalt wurde erstmals in Deutschland konsequent vom stehenden Satz gedruckt, was eine erheblich preiswertere Produktion und damit weitere Verbreitung von Bibeln und anderen Druckerzeugnissen ermöglichte. Seit 1708 wurde dort außerdem die Hallesche Zeitung produziert.35 Das Fazit in der neueren Forschung lautet: „Ohne Übertreibung wird man die Anstalten Franckes als frühmodernen Medienkonzern beschreiben können.“36 Dazu kommt eine kontinuierliche Öffentlichkeitsarbeit mit Rechenschaftsberichten, Werbeschriften, Traktaten usw., die Programm und Arbeit der Hallischen Pietisten im ganzen Reich bekannt machen.37 Auch das gesamte Berichtswesen des Waisenhaus-Betriebes ist bei der Wahl der Kommunikationsmittel auf der Höhe der Zeit oder ihr sogar voraus.38 Besonders interessant sind das Naturalienkabinett und die naturwissenschaftliche Instrumentensammlung, die nachweislich von Anfang an für den Schulunterricht eingesetzt wurden,39 weil sie im zeitgenössischen Horizont hochmoderne nonverbale Anschauungsmedien darstellten, die im Verbund mit Informationen aus der Bibliothek für den Unterricht in naturwissenschaftlichen ‚Realien‘ genutzt werden konnten.40 Durch das Sammeln, Ordnen und Beschriften sowie die geordnete Präsentation in einem eigenen Raum und eigens dazu gefertigten Schaukästen findet eine Medialisierung von ‚natürlichem‘ Anschauungsmaterial statt. Bereits hier wird das Medienspektrum bewusst nach ‚unten‘ erweitert – dies wird erst wieder in der Spätaufklärung im Rahmen der Volksaufklärung der Fall sein. 33 Vgl. Jürgen Storz: Franckens Stiftungen zu Halle an der Saale. In: Paul Raabe (Hg.): Die Franckeschen Stiftungen zu Halle an der Saale. Wolfenbüttel o. J. [1990], S. 16–34 hier S. 23. 34 Vgl. ders.: Hauptbibliothek, Archiv und Naturalienkabinett der Franckeschen Stiftungen. In: Ebd., S. 35–67, hier S. 37, vgl. Brigitte Klosterberg, Klaus E. Göltz: Die Bibliothek der Franckeschen Stiftungen. Halle/Saale 2007, S. 80. 35 Vgl. Brecht: Franckes ‚Glauchasche Anstalten‘ (= Anm. 7), S. 484–486 und Thomas Müller-Bahlke: Naturwissenschaft und Technik. Der Hallesche Pietismus am Vorabend der Industrialisierung. In: Hartmut Lehmann (Hg.): Glaubenswelt und Lebenswelten. Göttingen 2004 (Geschichte des Pietismus Bd. 4), S. 357–385, hier S. 370. 36 Thomas J. Müller-Bahlke u. Klaus E. Göltz: Die Wunderkammer der Franckeschen Stiftungen. 2. Aufl. Halle/Saale 2012, S. 151. 37 Vgl. dazu Brecht: Franckes ‚Glauchasche Anstalten‘ (= Anm. 7), S. 475 und Beutel: Kirchengeschichte (= Anm. 2), S. 93f. 38 Vgl. Müller-Bahlke: Naturwissenschaft und Technik (= Anm. 35), S. 373. 39 Vgl. ders.: Wunderkammer der Franckeschen Stiftungen (= Anm. 36), S. 164. 40 Vgl. Storz: Franckens Stiftungen (= Anm. 33), S. 20 und ders.: Hauptbibliothek, Archiv und Naturalienkabinett (= Anm. 34), S. 59–65; konzise Zusammenfassung bei Jan Harasimowicz: Architektur und Kunst. In: Hartmut Lehmann (Hg.): Glaubenswelt und Lebenswelten. Göttingen 2004 (Geschichte des Pietismus Bd. 4), S. 456–485, hier S. 465, vgl. auch Müller-Bahlke: Naturwissenschaft und Technik (= Anm. 35), S. 365f.

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Die Franckeschen Stiftungen in Halle sind durchaus als aufgeklärt-theologische Medienanstalten zu bezeichnen, das heißt, auch theologisch und zum Teil aufklärungskritisch intendiertes Medienhandeln ist hier als Medienpraxis aufklärerisch interpretierbar. Die Pietisten bauen planmäßig in städtischen Zentren Institutionen aufklärerischen Medienhandelns auf, die überregionale Bedeutung als Strukturmodell und über zahlreiche nachahmende Gründungen für das gesamte Alte Reich besitzen.41 Als zwei Beispiele unter Vielen seien hier nur das Wirken der Herrnhuter im Baltikum und das Collegium Fridericianum in Königsberg in Ostpreußen genannt.42 Letzteres gehört in den Kontext der Wiederaufbauarbeit nach dem Nordischen Krieg und der Pest um 1710, die in Ostpreußen unter Friedrich Wilhelm I. als ‚Retablissement‘ planmäßig betrieben wurde. Über ein gut funktionierendes Briefnetzwerk wurden von Halle aus Theologen als Hofmeister, Lehrer und Pfarrer dorthin und vor allem in das Baltikum entsandt und waren dort auch Multiplikatoren pietistischaufklärerischen Gedankenguts und Medienhandelns.43 Sie werden später auch in der Volksaufklärung eine entscheidende praktische Rolle spielen. Doch die praxis pietatis verbindet sich nicht nur medienpolitisch mit tatkräftigen sozialreformerischen Impulsen. Das Bildungssystem des Halleschen Waisenhauses und ähnliche Institutionen produzieren soziale Mobilität, Kinder aus der Unterschicht finden den Zugang zu ‚gelehrten‘ Berufen.44 Doch gerade dieser sozialreformerische Ansatz wurde von der lokalen Obrigkeit mit einer deutlichen Reserve aufgenommen. Das Ausmaß der sozialgeschichtlichen Provokation, die das Waisenhaus-Unternehmen Franckes in den Augen der etablierten weltlichen und kirchlichen Obrigkeit darstellte, ist auch an der sozialen Semantik des Haupthauses ablesbar, das dem decorum eines Adels-Palais entspricht, als Unterbringung für Waisenkinder jedoch als völlig unangemessen empfunden wurde. Die „Schulstadt“ des Halleschen Waisenhauses ist eine gebaute „Hoffnung besserer Zeiten“ und ist in ihrer „Monumentalität [...] sichtbare Bestätigung der am Giebel des Waisenhauses geschriebenen Devise des August Hermann Francke [...] ‚Die auf den Herren harren, kriegen neue Kraft, dass sie auffahren mit Flügeln wie Adler‘ (Jes 40,31).“45

41 Vgl. Beutel: Kirchengeschichte (= Anm. 2), S. 94. 42 Vgl. die Gesamtdarstellung bei Heiner Klemme: Die Schule Immanuel Kants. Mit dem Text von Christian Schiffert über das Königsberger Collegium Fridericianum. Hamburg 1994; für Hinweise zur medienpolitischen Tätigkeit der Herrnhuter danke ich Liina Lukas, vgl. hierzu auch Ulrike Plath: Esten und Deutsche in den baltischen Provinzen Russlands. Fremdheitskonstruktionen, Lebenswelten, Kolonialphantasien 1750-1850. Wiesbaden 2011, S. 196f. 43 Vgl. die Darstellung bei Schaudinn: Deutsche Bildungsarbeit (= Anm. 18), S. 13 und S. 25 sowie Gero von Wilpert: Deutschbaltische Literaturgeschichte. München 2005, S. 104–106. 44 Vgl. Storz: Franckens Stiftungen (= Anm. 33), S. 21f.; ein Beispiel wären in Königsberg die beiden ‚Bildungsaufsteiger‘ Kant und Herder, die aus städtischen Unterschichten kamen und ohne die pietistischen Institutionen nicht hätten studieren können. 45 Harasimowicz: Architektur und Kunst (= Anm. 40), S. 463f.

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3.2. Wolffianische Theologie (um 1730) Die rationalistische Theologie des 18. Jahrhunderts tritt zunächst unter dem zeitgenössischen Namen ‚Neologie‘ auf46 und verbindet von Anfang an protestantische Frömmigkeit mit aufklärerischem Gedankengut. Aufklärung und Theologie treten in der Theologengeneration, die nach 1700 bei Wolff und Francke in Halle studiert hatte, nicht als Paradigmenkonkurrenz, sondern mit der größten Selbstverständlichkeit als inhaltliche und mediale Komplemente auf: die Pfarrer dieser Generation halten Predigten in „demonstrativischer Lehrart“, wie sie durch Wolff rasch zum Standard geworden war. Wichtige Prediger dieser Phase sind der Gottsched-Vertraute Johann Gustav Reinbeck, Joachim Oporin und Georg Friedrich Meier, der neben Gottsched auch ein wichtiger Popularisator Wolffschen Gedankenguts war.47 Johann Christoph Gottsched selbst ist dabei nicht nur als Pionier Wolffianischer Philosophie an der Universität Leipzig von Bedeutung, sondern vor allem durch die Gründung der dortigen Deutschen Gesellschaft. Während die in Leipzig bereits seit dem 17. Jahrhundert bestehenden Predigergesellschaften zwar homiletische Praxis einübten, aber exklusiv absolvierten Mitgliedern der theologischen Fakultät vorbehalten waren, die damit auch ihre Anwartschaft auf freiwerdende Pfarrstellen verbessern konnten,48 waren Gottscheds Gesellschaften offen auch für Studenten. Diese eigentlich weltlichen Rednergesellschaften erlangten so durch die vielen Theologiestudenten, die dort praktische Übungen zur deutschsprachigen Beredsamkeit anstellten, auch Bedeutung als eine inhaltlich-theologische Predigerschule, die eine ganze Generation deutscher Aufklärungsprediger durchlief.49 Zu ihr gehörten prominente Namen wie Jerusalem, Sack, Mosheim und Cramer. Gottscheds Rednergesellschaften sind mediengeschichtlich und für die Geschichte der deutschen Aufklärung gleichermaßen bedeutsam: Als spezifischer Typus aufklärerischer Sozietäten besitzen sie selbst Mediencharakter, weil sie informelle kritischaufgeklärte Öffentlichkeit herstellen und über ihre Mitglieder-Netzwerke multiplizieren.50 Sie gehören in den Rahmen einer regelrechten Gründungswelle aufgeklärter Gesellschaften unterschiedlichen Typs und wurden im gesamten deutschen Sprachraum als Strukturvorbilder nachgeahmt.51 Für die dort ausgebildeten Prediger als ‚Menschmedien‘ bedeuten diese Gesellschaften nicht nur eine ästhetisch-theologi-

46 Zum hohen Stellenwert der Predigt in der Neologie vgl. Albrecht Beutel: Art. Predigt VIII: Evangelische Predigt vom 16. bis 18. Jh. In: Theologische Realenzyklopädie. Bd. 27. Berlin u. a. 1997, S. 306f., zur Epochencharakteristik vgl. ders.: Kirchengeschichte (= Anm. 2), S. 112–145. 47 Beutel: Predigt (= Anm. 46), S.  305f; zum theologischen Wolffianismus vgl. ders.: Kirchengeschichte (= Anm. 2), S. 104–111. 48 Vgl. Björn Hambsch: Art. Predigergesellschaften. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Bd. 7. Tübingen 2005, Sp. 39–45. 49 Vgl. bereits Karl Aner: Die Theologie der Lessingzeit. Halle 1929 (ND Hildesheim 1964), S. 23–25. 50 Vgl. Richard van Dülmen: Kultur und Alltag in der Frühen Neuzeit. Bd. 3: Religion, Magie, Aufklärung 16.–18. Jahrhundert. München 1994, S. 226–235, besonders S. 226 u. S. 228. 51 Vgl. Björn Hambsch: Art. Rednergesellschaften. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Bd. 7. Tübingen 2005, Sp. 1070–1074.

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sche Gruppenbildung, die durch ihre dauerhafte Vernetzung auch eine große Breitenwirkung entfalten konnte, sondern auch eine rhetorisch-mediale Professionalisierung des Predigerstandes und der Predigt als Öffentlichkeitsform. Erst gegen Ende des 18. und endgültig zu Beginn des 19. Jahrhunderts sinkt ihre vor allem medienpraktische Bedeutung, als es an deutschen Universitäten üblich wird, nach dem Vorbild der Rednergesellschaften Predigerseminare an den theologischen Fakultäten einzurichten, in denen angehende Prediger auch praktisch ausgebildet werden.

3.3. Spätaufklärung und Volksaufklärung (ca. 1760 bis 1810) Ab etwa 1760 geht aus der klassischen, an das Stadtbürgertum gerichteten ökonomischen ‚Hausväter-Literatur‘ ein weites Spektrum an Aufklärungsmedien hervor,52 das sich vor allem an ländliche Unterschichten richtet. Im Rahmen dieser später so genannten Volksaufklärung spielen auch Theologen beider Konfessionen eine zunehmend wichtige Rolle.53 Diese über mehrere Jahrzehnte anhaltende Bewegung bringt in verschiedenen Phasen und Anläufen54 eine starke Erweiterung und Veränderung des Medienspektrums mit sich: Bei den klassischen religiösen Printmedien treten zu Bibel, Gesangbuch, Erbauungsschriften und dem Kalender, die schon seit der frühen Neuzeit in den Unterschichten rezipiert werden, aufgeklärte ‚Volksbücher‘ und als Medium der Selbstverständigung die spätaufklärerischen ‚Predigerjournale‘.55 Diese neuen Zeitschriften sind überregionale Plattformen der aktuellen Diskussion zur praktischen Amtsführung, in denen Medientheorie der Volksaufklärung betrieben und in Erfahrungsberichten das eigene Handeln kritisch reflektiert wird. Gerade der Kalender ist ein prominentes Volksmedium, das oftmals gegen den Willen der Leserschaft volksaufklärerischen Zielsetzungen angepasst wird. Dieser durchaus berechtigte Widerstand verdeutlicht aber auch den ambivalenten Charakter insbesondere der baltischen Volksaufklärung, die in ihrem Selbstverständnis „dem Abbau ständischer Vorurteile“ diente, doch von ihren estnischen oder lettischen Adressaten oft genug

52 Vgl. den Überblick bei Reinhart Siegert: Volksbildung im 18. Jahrhundert. In: Notker Hammerstein u. Ulrich Herrmann (Hg.): Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte. Bd. 2: 18. Jahrhundert. Vom späten 17. Jahrhundert bis zur Neuordnung Deutschlands um 1800. München 2005, S. 443–484. 53 Vgl. grundlegend zu Zeitrahmen und Definition Siegert: Medien der Volksaufklärung (= Anm. 15), S. 374; zu den weltlichen und geistlichen Trägern ebd., S. 374f.; zur besonderen Bedeutung der Theologen Kuhn: Der Dorfpfarrer als Volksaufklärer (= Anm. 1), S. 93 und S. 96 und Beutel: Kirchengeschichte (= Anm. 2), § 23, S. 146–150. 54 Vgl. grundlegend zu Phasenverlauf, Diskussion und Medienspektrum Böning: Einführung (= Anm. 1), XX–XLVII sowie Siegert: Medien der Volksaufklärung (= Anm. 15), S. 382–387 und Kuhn: Volksaufklärung und Dorfgeschichten (= Anm. 1), S. 98f. 55 Vgl. Böning: Einführung (= Anm. 1): Der Erfahrungs- und Gedankenaustausch der Volksaufklärer, S. XLIV und insgesamt Aiga Šemeta: Die andere Aufklärung. Volksaufklärung im Baltikum im Spiegel livländischer und kurländischer Periodika der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts. In: Thomas Taterka, Dzintra Lele-Rozentāle u. Silvija Pavidīs (Hg.): Am Rande im Zentrum. Beiträge des VII. Nordischen Germanistentreffens Riga 7.–11. Juni 2006. Berlin 2009, S. 32–42.

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als herablassend und bevormundend empfunden wurde.56 Das mündliche Leitmedium schlechthin ist nach wie vor die Predigt. Zusammen mit der Kanzelpublikation und den traditionellen Katechisationen und Visitationen sind dies wichtige mündliche Vermittlungsformen nicht nur für religiöse Normen, sondern in der Volksaufklärung auch für aufklärerisches Gedankengut. Wichtig ist der damit verbundene Medientransfer: schriftliche (Vorlage-)Medien werden in diesem Rahmen und mehr noch bei informellen (Predigtnach-)Gesprächen oder beim geselligen Vorlesen in eine mündliche Form gebracht und in nichtschriftlicher Form weiterverbreitet.57 Dies war besonders wichtig in ländlichen Regionen, wo weder die grundsätzliche Lesefähigkeit noch die Fähigkeit und Bereitschaft zu regelmäßiger Lektüre immer vorausgesetzt werden konnten.58 Dies stellt auch aktive Medienpädagogik dar und ist im Zusammenhang mit den (Prediger-)Lesegesellschaften zu sehen, die gerade gegen Ende des 18. Jahrhunderts in großer Zahl gegründet wurden.59 Besonders wichtig waren daneben auch nonverbale Medien: nicht nur Illustrationen in Druckwerken, sondern das eigene Vorbild (z. B. bei der Einführung neuer Techniken in Gartenbau oder Landwirtschaft), Anschauungsobjekte (z.  B. neuartige landwirtschaftliche Geräte) und öffentliche Demonstrationen waren Distributionswege für neues Denken und aktuelles Wissen.60 Gerade in diesem Zusammenhang ist es wichtig, den relativ engen Medienbegriff vieler Medienhistoriker produktiv auszuweiten.61 Auch die theologische Medienpraxis bzw. die medienpraktischen Rollen vor allem der Prediger verändern sich analog: Einerseits wird der Predigt ein immer stärkerer Volksbildungsauftrag zugeschrieben, der auch explizit in der Predigt selbst thematisiert wird. So stellt schon 1771 Johann Gottfried Herder in seiner Bückeburger Antrittspredigt, also in einem programmatisch bedeutsamen Kontext, fest: „Der Lehrer [= Prediger, B. H.] tritt ein Amt an, das nach unserer bürgerlichen Verfassung noch das Einzige ist, was auf die innere Gestalt des Menschen, auf die Pflanzung christlicher, bürgerlicher und Nationaltugenden einen Einfluß haben kann, oder es hat nichts mehr Einfluß. […] Dies ist überdies ja heute zu Tage die einzige öffentliche Bildung für Erwachsene, [...]: und so wirds auch, nicht blos eine Menschliche Schule, sondern auch eine Schule des besseren Geschmacks. Man gewöhnt sich mit an eine reinere, edlere, zusammenhängendere Denkart, man bekommt eben dadurch vielleicht Liebe zum Lesen guter Bücher, man gewöhnt sich an eine beßre Denkart und Ausdruck“.62 56 Plath: Esten und Deutsche (=Anm. 42), S. 128 u. 195; Vgl. Böning: Einführung (= Anm. 1), S.  XX–XIII, zum Medienspektrum der Volksaufklärung Siegert: Medien der Volksaufklärung (= Anm. 15), S. 379–387; zur Situation im Baltikum schon Schaudinn: Deutsche Bildungsarbeit (= Anm. 18), S. 97–101 und Wilpert: Deutschbaltische Literaturgeschichte (= Anm. 43), S. 110f. 57 Vgl. so bei Kuhn: Volksaufklärung und Dorfgeschichten (= Anm. 1), S. 99 und Siegert: Medien der Volksaufklärung (= Anm. 15), S. 375–378. 58 Vgl. Helmuth Kiesel, Paul Münch: Gesellschaft und Literatur im 18. Jahrhundert. Voraussetzungen und Entstehung des literarischen Marktes in Deutschland. München 1977, S. 162. 59 Vgl. dazu ebd. S.  154–174; zu den Predigerlesegesellschaften Hambsch: Predigergesellschaften (= Anm. 48), Sp. 40. 60 Vgl. Siegert: Medien der Volksaufklärung (= Anm. 15), S. 383–385. 61 Wichtig dazu der Hinweis ebd., S. 385f. 62 Johann Gottfried Herder: Sämmtliche Werke. Hg. v. Bernhard Suphan, Carl Redlich, Reinhold Steig

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Andererseits erweitert sich das inhaltliche Spektrum der Predigt gerade in der Spätaufklärung (Predigten zu medizinischen, landwirtschaftlichen und politischen Themen) in einer Weise, die in der älteren Forschung regelmäßig als utilitaristische Verflachung gekennzeichnet wurde,63 aber gerade in einer mediengeschichtlichen Perspektive als konsequentes aufgeklärtes Medienhandeln zu bewerten ist: Verglichen mit der Medienlandschaft des späten 20. Jahrhunderts ist die Predigt zum Ende des 18. Jahrhunderts tatsächlich eine Art Mischung aus Tagesschau, Telekolleg und Volkshochschule für die Unterschicht und wird auch vielerorts bewusst so eingesetzt.64 In medienhistorischer Perspektive ist die Predigt als ephemere Deklamationsöffentlichkeit Komplement des Theaters, das im städtischen Raum zunehmend zur ‚Bühne der Aufklärung‘ wird und dort nach 1800 der Kanzel als ‚Katheder der Aufklärung‘ den Rang abläuft.65 Auch in der Mediendistribution und -produktion der Volksaufklärung spielen Pfarrer eine wichtige Rolle. Die Buchbeschaffung auf dem Lande (z. B. über reisende Kolporteure) und die hohen Preise für größere Druckwerke waren bis ins 19. Jahrhundert ein Problem, das z. B. durch Geldsammlungen, Verteilaktionen usw. von Pfarrern angegangen wurde.66 Manche Pfarrer betrieben eigene Druckerpressen, um im Selbstverlag Volksschriften herstellen und verbreiten zu können.67 Insgesamt lässt sich von einer Ausbreitungs-Bewegung aufklärerischer Bildungselemente vom städtischen Raum (Universitäts-, Residenz- und Handelsstädte als Zentren für Buchbesitz und Buchdruck) in den ländlichen Raum (Ackerbürgerstädte und Dörfer als Mangelgebiete für Lesestoff) sprechen: Während die Pietisten medien- und sozialpolitisch eine durch Institutionen gestützte Verbesserung vor allem bei städtischen Unterschichten (verarmte Bürger, Handwerker, Waisen etc.) voranbrachten, taten die Volksaufklärer dies dezentral und weitgehend in Eigeninitiative68 für die ländlichen Unterschichten (Bauern). Die flächendeckende örtliche Präsenz aufgeklärter Pfarrer stellt damit ein mediales Reichweitephänomen eigenen Rechts dar: Es wurden nicht nur wenige Schriften weniger prominenter Autoren von den großen städtischen Zentren aus rezipiert, sondern zahlreiche – heute in der Literatur- und Geistesgeschichte namenlose – Autoren und Propagatoren sorgten für eine allgemeine Verbreitung aufklärerischer Programmatik und aktuellen Wissens vor Ort. Gegenüber den in der Forschung traditionell vielbeachteten ‚geistigen Zentren‘ ist deshalb auch diese ‚Dezentralisierung des Geistes‘ zu

63 64 65 66 67 68

u. a. Berlin 1877–1913 (ND Hildesheim 1967–68). Bd. 31, S. 147 und S. 165; zur Thematik der Predigt als Volksbildungsmedium vgl. Hambsch: Rhetorik bei Herder (= Anm. 3), S. 95f. und S. 173–175. Z. B. bei Wallmann: Kirchengeschichte Deutschlands (= Anm. 21), S. 164f. Vgl. Beutel: Predigt (= Anm. 46), S. 307f.; uneingeschränkt positiv Siegert: Medien der Volksaufklärung (= Anm. 15), S. 381. Vgl. das programmatische Steffens-Zitat bei Wallmann: Kirchengeschichte Deutschlands (= Anm. 21), S. 175, als Situationsbeschreibung galt dies nur für die städtischen Zentren, auf dem Lande und in kleineren Städten dürfte die mediale Bedeutung der Predigt sehr viel länger erhalten geblieben sein. Vgl. Siegert: Medien der Volksaufklärung (= Anm. 15), S. 377 und Kiesel, Münch: Gesellschaft und Literatur im 18. Jahrhundert (= Anm. 58), S. 160f. Vgl. Beispiele aus dem baltischen Raum bei Schaudinn: Deutsche Bildungsarbeit (= Anm. 18), S. 100. Vgl. Siegert: Medien der Volksaufklärung (= Anm. 15), S. 381.

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beachten, die höchstwahrscheinlich von weit größerer sozialgeschichtlicher Bedeutung war. Von grundlegender Bedeutung ist die sozialgeschichtliche Motivation der theologischen Volksaufklärung: Das mediale Engagement der (Land-)Geistlichen besonders in dieser Phase der Aufklärung ist nur zu verstehen über ihre soziale Gesamtverantwortung,69 die neben ihrer obrigkeitlichen Funktion auf einem Berufsethos beruht, in dem sich die soziale praxis pietatis mit ökonomischen Interessen und aufklärerischer Wissenschafts- und Problemlösungsfreude mischt. Gerade gegen Ende des 18. Jahrhunderts gehen ein hohes (manchmal überhöhtes) Berufsbild und ein gerade angesichts rationalistischer und utilitaristischer Perspektiven steigender gesellschaftlicher Legitimationsdruck Hand in Hand.70 Theologen bringen als Pfarrer aber auch besondere Voraussetzungen mit, um im Spektrum der Volksaufklärung besonders erfolgreich agieren zu können:71 Ihr Bildungsstand und ihr theologischer Bildungsauftrag prädestiniert sie für eine besondere Rolle im Medienbetrieb der Aufklärung. Dazu kommt eine (im Westen des Reiches nicht immer ausreichende) materielle Absicherung,72 die ein starkes auch wissenschaftliches ökonomisches (Eigen-)Interesse bedingt und dem Pfarrerstand eine gewissere innere und äußere Mobilität verschafft. Sie besitzen außerdem eine besondere soziale Mittlerstellung zwischen den Ober- und Unterschichten des Alten Reiches: Aus der Perspektive der städtischen und ländlichen Unterschichten und als integraler Teil der fürstlichen oder städtischen Kirchen- und Schulverwaltung sind sie selbst Obrigkeit. Gerade einfache Landpfarrer stammen jedoch oftmals selbst aus der Unterschicht und sind damit selbst Beispiele für soziale Mobilität,73 aber aus Sicht der adeligen und bürgerlichen Oberschicht nur eine ‚Obrigkeit 2. Klasse‘, die in ihren konkreten aufklärerischen Bemühungen regelmäßig auf ihre Kirchenoberen oder den örtlichen Patronatsherrn verwiesen ist.74 Doch dies macht sie wiederum zu idealen Medien, Medienvermittlern und Sozialingenieuren ‚nach unten‘. Die Arbeit der theologischen Volksaufklärer ist kein Selbstzweck, sondern gehört in den Kontext klar benennbarer sozialer Funktionen, die von anderen obrigkeitlichen Amtsträgern entweder gar nicht oder nur sehr lückenhaft wahrgenommen werden. Dazu gehören natürlich zum ersten die frühneuzeitlichen Formen des Sozialmanagements wie Armenfürsorge und andere Formen der Diakonie, die aus der christ69 Vgl. schon Schaudinn: Deutsche Bildungsarbeit (= Anm. 18), S. 35 zu den sozialpolitischen Aufgaben und Ansichten der Pfarrer im Baltikum. 70 Vgl. Graf: Theologische Zeitschriften (= Anm. 2), S. 361 und Kuhn: Der Dorfpfarrer als Volksaufklärer (= Anm. 1), S. 90f. 71 Zu den allgemeinen Voraussetzungen vgl. Warnke: Pfarrer als weltliche ‚Volkslehrer‘(= Anm. 21), S. 76–81. 72 Zur (z. T. prekären) ökonomischen Situation der Pfarrer im 18. und frühen 19. Jahrhundert vgl. Beutel: Kirchengeschichte (= Anm. 2), S. 234f. 73 Vgl. Siegert: Medien der Volksaufklärung (= Anm. 15), S. 375. 74 Vgl. Bruno Preisendörfer: Als Deutschland noch nicht Deutschland war. Reise in die Goethezeit. 3. Aufl. Berlin 2017, S. 190.

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lichen Tradition der Sozialfürsorge stammen und von den kirchlichen Amtsträgern mit versehen und organisiert wurden. Auch die Volksaufklärung ist aus theologischer Perspektive eindeutig als sozialdiakonisches Handeln gedacht und lässt sich auch so interpretieren.75 Zum zweiten zählen dazu angesichts der ärztlichen Unterversorgung auf dem Lande76 verschiedene Formen der Gesundheitsfürsorge. Ein sehr wichtiges Beispiel ist die Propagierung und Durchführung der Pockenschutzimpfung, zum Teil gegen den erbitterten Widerstand der Landbevölkerung. Viele Pfarrer besaßen nicht nur die hierzu nötigen medizinischen Kenntnisse und ergriffen die Initiative,77 auch im allgemeinen Bewusstsein war der Pfarrer als Arzt „eine Lieblingsvorstellung der Volksaufklärer“.78 Dabei waren die Pfarrer nicht nur selbst Vorbilder, indem sie ihre eigene Familie impfen ließen, sie führten auch selbst Impfungen durch (ein Vorreiter war z. B. Johann Georg Eisen,79 Gustav Bergmann soll in Livland mehrere Tausend Personen geimpft haben80) und waren auch Gesundheitserzieher, die das diesbezügliche medizinische Wissen multiplizierten. Noch in Rochows Kinderfreund steht mit beiläufiger Selbstverständlichkeit: „Blatterfaden und Nadeln verwahrt der Prediger und weiset einen jeden Vater oder Mutter gern, wie er es machen soll.“81 Zum dritten leisten die Pfarrer finanzielle, organisatorische und auch technische ‚Entwicklungshilfe‘ für die Landbevölkerung. So schreibt z. B. Christian David Lenz 1749 an Gotthilf August Francke: „habe ich [...] meinen ganz ausgesogenen und verarmten Bauren bey dem neuen Pastorat mit Saat und Brod von Grund aus aufhelfen müssen“.82 Hier mischt sich die pfarramtliche Fürsorgepflicht mit einem wohlverstandenen ökonomischen Eigeninteresse, denn besonders im Baltikum geschieht die Versorgung der Pfarrer durch eigene Güter,83 deren Ertrag natürlich von der Funktionsfähigkeit der dortigen Landwirtschaft abhängt. Ein weiteres geradezu sprichwörtliches Beispiel aus dem äußersten Westen des Alten Reichs ist Johann Friedrich Oberlin, der ‚Vater des Steintals‘. Er ist in der bitterarmen Gegend, in der seine Pfarrei liegt, nicht nur Prediger und Seelsorger, sondern sorgt für zahlreiche Verbesserungen in der Landwirtschaft, beim Hausbau, organisiert Spenden und vieles mehr.84 Dass der Landprediger nicht nur praktisch mit Landwirtschaft befasst ist, sondern auch theoretische Kompetenz auf diesem Gebiet besitzen und verbreiten sollte, ist gegen Ende des Jahrhunderts eine Selbstverständlichkeit. Johann Gottfried Her75 Vgl. so explizit Kuhn: Der Dorfpfarrer als Volksaufklärer (= Anm. 1), S. 90, zur Armenfürsorge vgl. Warnke: Pfarrer als weltliche ‚Volkslehrer‘ (= Anm. 21), S. 83. 76 Vgl. ebd. 77 Vgl. ebd. 78 Siegert: Medien der Volksaufklärung (= Anm. 15), S. 381. 79 Vgl. Schaudinn: Deutsche Bildungsarbeit (= Anm. 18), S. 35. 80 Vgl. Siegert: Medien der Volksaufklärung (= Anm. 15), S. 381. 81 Zit. nach Preisendörfer: Reise in die Goethezeit (= Anm. 74), S. 413. 82 Zit. nach Herbert Kraft: J. M. R. Lenz. Biographie. Göttingen 2015, S. 21. 83 Vgl. hierzu ebd., S. 9f. und Wilpert: Deutschbaltische Literaturgeschichte (= Anm. 43), S. 106. 84 Vgl. Kraft: Lenz (= Anm. 82), S. 265f. ausführlich zur Tätigkeit Oberlins im Steintal seit 1767; vgl. auch Siegert: Medien der Volksaufklärung (= Anm. 15), S. 385.

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der, der 1797 ein dezentrales Predigerseminar für Landprediger plant, sieht z. B. in diesem Zusammenhang auch Veranstaltungen zur (Land-)Wirtschaftsführung vor, nämlich „ein Oeconomicum für den künftigen Landprediger“, und merkt beiläufig an: „Der Einfluß, den in solchen Dingen ein Geistlicher auf seine Gemeine haben kann, ist sehr beträchtlich.“85 (Vor dem Hintergrund dieser und anderer Initiativen wie z. B. der Einrichtung eines Landschullehrerseminars, der Gesangbuchreform etc. ist der prominente Aufklärungskritiker Herder übrigens eindeutig als Volksaufklärer zu bezeichnen.) Gerade die Landprediger werden als prädestinierte Volksaufklärer und „Buch der Weisheit fürs Landvolk“ gesehen und auch bewusst als Lehrerausbilder für Landschulen eingesetzt.86 Doch betätigen sich Pfarrer nicht nur in der Verbesserung der Landwirtschaft, sie nutzen auch ihr vielfach vorhandenes technisches Wissen für verschiedenste Innovationen.87 Zum Beispiel ist die von Johann Gottfried Stender erfundene Waschmaschine, von der ein moderner Nachbau in der lettischen Nationalbibliothek in Riga ausgestellt ist, keineswegs ein Kuriosum, sondern ein instruktives Beispiel für die technische Entwicklungsarbeit, die auch von Theologen in der Zeit der Spätaufklärung geleistet wird. Auch in diesem Bereich gehen technischer Sachverstand und aufklärerische Programmatik Hand in Hand, denn es gilt oftmals, den tradierten volkstümlichen Aberglauben durch wissenschaftliche praktische Alternativen zu widerlegen.88 Wichtig ist der strukturelle Hintergrund für diese Formen der sozioökonomischen Entwicklungsarbeit: es gab insbesondere für die Landbevölkerung keine Absicherung – und in der Regel auch keinerlei Hilfen durch weltliche Obrigkeiten – gegen Krisen wie Kriege, Epidemien und die regelmäßig wiederkehrenden Hungersnöte durch Missernten, z. B. um 1770.89 Es ist kein Zufall, dass noch im 19. Jahrhundert den großen politischen Revolutionen soziale Unruhen im Gefolge von Hungerkrisen vorausgehen, vor der französischen Revolution 1789 war dies nicht anders. Diese Verbindung von ökonomischer und sozialer Krise bringt dann aber gegen Ende des 18. Jahrhunderts auch die sozialreformerischen Bemühungen der Volksaufklärung erst in Misskredit und schließlich zum Erliegen.90 Jede sozialreformerische Tätigkeit und Programmatik enthielt ja – oftmals explizit – eine gesellschaftspolitische 85 Herder: Sämmtliche Werke (= Anm. 62). Bd. 31, S. 784, vgl. Hambsch: Rhetorik bei Herder (= Anm. 3), S. 115. 86 Vgl. Siegert: Medien der Volksaufklärung (= Anm. 15), S. 381; Zitat: Kuhn: Der Dorfpfarrer als Volksaufklärer (= Anm. 1), S. 101, vgl. ebd. S. 105. 87 Vgl. Warnke: Pfarrer als weltliche ‚Volkslehrer‘ (= Anm. 21), S. 81, grundlegend hierzu Götz Warnke: Die Theologen und die Technik. Geistliche als Techniker, Innovatoren und Multiplikatoren im deutschsprachigen Raum 1648–1848. Hamburg 1997. Zu Rollenbild und Tätigkeitsfeldern der aufgeklärten Pfarrer des baltischen Raumes vgl. auch Cord Aschenbrenner: Das evangelische Pfarrhaus. 300 Jahre Glaube, Geist und Macht. Eine Familiengeschichte. München 2015, 40–42. 88 Vgl. Warnke: Pfarrer als weltliche ‚Volkslehrer‘ (= Anm. 21), S. 81f. 89 Vgl. die Hinweise bei Siegert: Medien der Volksaufklärung (= Anm. 15), S. 376 und Kuhn: Der Dorfpfarrer als Volksaufklärer (= Anm. 1), S. 94. 90 Vgl. dazu ebd. S. 95–108; zur Kritik des sozialpolitischen Pfarrers der Aufklärung im 19. Jh. Aschenbrenner: Pfarrhaus (= Anm. 87), S. 41.

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Spitze,91 die nicht erst im Gefolge der französischen Revolution von den zuständigen Obrigkeiten als gefährlich eingestuft wurde. Schon die Reformation hatte aus dieser Sicht unliebsame Folgen: Bauern, die auf einmal anfangen zu lesen, stellen die bestehende Sozialordnung in Frage, was schließlich zu den Bauernkriegen führt. Der soziale und bildungspraktische Volksbegriff und das Projekt einer allgemeinen Volksbildung bringen die gleiche soziale Frage in der späten Aufklärung wieder aufs Tapet: Bildung ist der natürliche Feind der alten Ständegesellschaft und die alte Gelehrtenschicht macht vor, wie die Vergesellschaftung von Aufklärung soziale Mobilität bewirkt. Schon August Hermann Francke war 1691 in Erfurt wegen „Aufwiegelung des gemeinen Mannes wider die Obrigkeit“92 aus dem Amt entlassen und aus der Stadt vertrieben worden, bevor er in Halle sein Reformwerk beginnen konnte. In den 1760er Jahren wurden die verschiedenen Formen der Leibeigenschaft in Norddeutschland und im Baltikum kritisch diskutiert, die Bauernbefreiung geriet auf die politische Tagesordnung.93 Eine von Katharina II. veranlasste Preisfrage der Ökonomischen Gesellschaft in St. Petersburg von 1766, ob es nützlich sei, wenn Bauern das von ihnen bewirtschaftete Land selbst besitzen, hatte ein gewaltiges publizistisches Echo. Bei vielen Pfarrern bildete sich rasch eine regelrechte „Theologie der Befreiung“ heraus, die bis ins 19. Jahrhundert hinein stark angefeindet wurde.94 Viele progressiv eingestellte Theologen entwarfen ein neues – sozialpolitisch aufgeladenes – Bild des Pfarrers als ‚Volkslehrer‘, das wiederum restriktive Maßnahmen der Obrigkeit nach sich zog.95 Auch die Predigt öffnet sich stärker und expliziter dem Bereich des Politischen.96 Um 1810 kommt es dann zum Zusammenbruch der volksaufklärerischen Bemühungen, die bis zum Ende des 20. Jahrhunderts sowohl in der Theologiegeschichte als auch in der Aufklärungsforschung weitgehend vergessen wurden, obwohl sie ein unmittelbares Vorbild für heutige soziale Praxis darstellen.97 In der Zusammenschau ergibt sich ein erstaunlich dynamisches und vielgestaltiges Gesamtbild, wenn man den Zusammenhang von Theologie und Aufklärung im 91 Vgl. Preisendörfer: Reise in die Goethezeit (= Anm. 74), S. 189f. Dialog von Friedrich Wilhelm Otte, in dem der Schulmeister als Reaktionär, der Prediger als Aufklärer erscheint: „Soll denn der Bauer, und der große Volkshaufen überhaupt, beständig in der Dummheit erhalten werden, damit er immer geduldig still halte, wenn wir ihm Zaum und Gebiß anlegen wollen, um ihn nach Herzens Lust zu reiten?“ 92 Storz: Franckens Stiftungen (= Anm. 33), S. 17. 93 Vgl. zur Diskussion der Bauernbefreiung bereits Schaudinn: Deutsche Bildungsarbeit (= Anm. 18), S. 111–118 und Böning: Einführung (= Anm. 1), S. XX; zur Bauernbefreiung auf dem Gut des Barons Schoultz von Ascheraden und ihrer Erörterung auf dem Landtag von 1765 vgl. Kraft: Lenz (= Anm. 82), S. 17. 94 Böning: Einführung (= Anm. 1), S. XLVI. 95 Vgl. Kuhn: Der Dorfpfarrer als Volksaufklärer (= Anm. 1), S. 100f. So wurde z. B. dem Zerbster Konsistorial- und Kirchenrat Christian Friedrich Sintenis die Verwendung des Begriffs ‚Volkslehrer‘ untersagt. 96 Vgl. Stefan Michel: Das Aufkommen der politischen Predigt um 1800. Das Konzept Johann Hermann Zacharias Hahns (1768–1826) ‚Politik, Moral und Religion in Verbindung‘. In: Albrecht Beutel, Volker Leppin, Udo Sträter u. Markus Wriedt (Hg.): Aufgeklärtes Christentum. Beiträge zur Kirchen- und Theologiegeschichte des 18. Jahrhundert. Leipzig 2010, S. 329–346, hier S. 330. 97 Vgl. Warnke: Pfarrer als weltliche ‚Volkslehrer‘ (= Anm. 21), S. 87f.

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Deutschland des 18. Jahrhunderts aus mediengeschichtlicher Perspektive betrachtet: Theologen – und tatsächlich nur die Theologen – beherrschen als einzige ex officio bezahlte Medienprofis und natürlich auch in vielfacher Weise privat agierend alle Spielarten aufklärerischer Medienpraxis. Sie sind in verschiedensten Funktionen und Rollen im gesamten Medienspektrum der Aufklärung vertreten: Sie unterhalten gelehrte und private Brief- und Gesprächsnetzwerke, konstituieren aufklärerische Geselligkeit z. B. in Predigersozietäten oder Lesegesellschaften, publizieren als Autoren, Herausgeber und mitunter sogar als Verleger und Drucker und stellen offizielle und inoffizielle mündliche Öffentlichkeit her, wobei die mündliche Predigtöffentlichkeit bis ins 19. Jahrhundert hinein als Leitmedium gelten darf. Gerade die gesprochene bzw. gehaltene Predigt (im Unterschied zur gedruckten Predigt, mit der man sich beim literarisch-theologischen Publikum einen Namen machen konnte) macht deutlich, wie wichtig neben den klassischen dauerhaften Schriftmedien die ephemere Medialität ist, von der Predigt und den Gesprächsformen von der Predigtnachbesprechung über Katechisation und Visitation bis zum zwanglosen Gespräch im Alltag. Theologen sind als Homiletiker und Zeitschriftenmacher Medientheoretiker nicht nur in eigener Sache, produzieren, multiplizieren und kontrollieren Medien, betreiben Medienpädagogik und sind im Bereich der mündlichen Öffentlichkeit selbst Medium. Sie sind von Berufs wegen mit allen Schichten und Bildungsniveaus im ständigen Gespräch und so nicht nur wertvolle – weil weithin gesellschaftlich respektierte – Multiplikatoren aufklärerischen Gedankenguts, sondern leisten genuin aufklärerische Verbesserungsarbeit an und in den konkreten ökonomischen, sozialen und rechtlichen Verhältnissen im gesamten Alten Reich, nicht nur in den städtischen und höfischen Zentren, sondern flächendeckend auch auf dem Lande. Wichtig neben dem horizontalen Medientransfer, mit dem sich Theologen als spezifischer Ausschnitt des gelehrten Bürgertums mit den Oberschichten und dem langsam sich herausbildenden Bildungsbürgertum verständigen, ist vor allem ihr ausgiebig praktizierter vertikaler Medientransfer in doppelter Hinsicht: einerseits transportieren sie aufklärerisches Gedankengut (Programmatik) und gelehrtes Bildungswissen (z. B. zu Recht, Medizin oder Landwirtschaft) offensiv in die städtischen und ländlichen Unterschichten, andererseits passen sie die Medialität dieser Vermittlung bewusst immer weiter nach ‚unten‘ an, indem Sprache und Form (und auch Preis und Distributionswege) der Schriftmedien an das vor allem bäuerliche Publikum immer weiter angepasst werden, aber auch die klassischen Schriftmedien mehr und mehr vermündlicht werden (in Predigten, beim geselligen Vorlesen oder im Gespräch) und bei Demonstrationen oder dem ökonomischen Verkehr schließlich auch nonverbale Medien zum Einsatz kommen. Aus diesem Gesamtbild lassen sich verschiedene Schlussfolgerungen für das Zusammenspiel von Aufklärungsforschung, Theologie- und Mediengeschichte ziehen: a. Aufklärerisches Medienhandeln ist auch dort möglich, wo die gedankliche Ausgangsbasis der Akteure nicht ohne Einschränkungen aufklärerisch zu nennen ist. Ein Musterbeispiel ist hier die Medienpraxis des Hallischen Pietismus. Insofern transzendiert die geschichtliche Medienpraxis der Aufklärung einen rein ideengeschichtlichen Aufklärungsbegriff, der vor diesem Hintergrund eindeutig zu kurz greift.

Theologen als Medien der Aufklärung

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b. Theologisches Medienhandeln ist auch dort möglich, wo vordergründig der Seelsorge- und Verkündigungsauftrag der Pfarrerschaft gar nicht mehr wahrgenommen wird, bzw. der inhaltliche Fokus nicht (mehr) theologisch ist, z. B. in den utilitaristischen Themenpredigten der Spätaufklärung und im sozialtechnologisch-ökonomischen Engagement vor allem der Landprediger. Hier transzendiert die theologische Medienpraxis vor allem der Volksaufklärung einen dogmengeschichtlich orientierten Theologiebegriff, der die kirchengeschichtliche Relevanz und vor allem die theologische Motivation nur scheinbar ‚untheologischen‘ Medienhandelns nicht wahrnimmt. c. Mediengeschichte ist im konkreten Epochenkontext nicht vom sozialgeschichtlichen Hintergrund des jeweiligen Medienhandelns zu trennen. Es ist daher insbesondere im Zusammenhang mit der Volksaufklärung nicht zielführend, den Medienbegriff auf klassische Printmedien wie Buch, Zeitung, Zeitschrift usw. zu begrenzen, da der theologische Kontext zeigt, wie wichtig der gesamte Bereich mündlicher (Mensch-)Medien und der Einsatz bildlicher und anderer nonverbaler Medien ist. Dabei lässt sich im geschichtlichen Kontext die Spannung zwischen einem möglichst präzisen oder möglichst umfassenden Medienbegriff produktiv auflösen, indem nicht nur der metamediale Diskurs der Medienakteure berücksichtigt wird (in diesem Falle die Homiletik vor allem der Neologie und später die Erfahrungsberichte der Volksaufklärer und aufklärerischen Theologen in den einschlägigen Zeitschriften), sondern auch die spezifische sozialgeschichtliche Problematik medialer Vermittlung aufklärerischer Inhalte, die dann zur kontinuierlichen Erweiterung des Medienspektrums führt. d. Insbesondere im Kontext der Volksaufklärung ist der immer noch vorherrschende Blick auf den ‚Höhenkamm‘ der Theologie- und Geistesgeschichte bzw. auf die ‚großen‘ Namen irreführend. Hier kommt es nicht so sehr auf wegweisende Einzelpersönlichkeiten an (die es theologiegeschichtlich im Spätrationalismus ohnehin nicht gibt),98 sondern tatsächlich auf die Aktivitäten einer großen und vielgestaltigen sozialen Gruppe, die sich seit der großangelegten Bibliographie von Böning, Schmitt und Siegert tatsächlich prosopographisch aufarbeiten ließe, z. B. in Hinblick auf Formen der aufgeklärten Selbstorganisation von Predigern in entsprechenden Gesellschaften (Mitgliederstrukturen, dortige Kommunikationsformen, überregionale Organisation etc.). In diesem Zusammenhang wäre auch die – gewiss schwierige, weil immer indirekte – Rekonstruktion von ephemerer Medialität in größerem Maßstab wünschenswert. Hierzu wären Zeugnisse wie die in der Forschung erwähnten Arbeitsberichte der Predigerjournale interessant, aber auch Tagebücher, Rechenschaftsberichte, Lebenserinnerungen usw. Die Rolle der Ökonomen, Ärzte und Juristen in der Aufklärung überhaupt und insbesondere in der Volksaufklärung ist selbstverständlich nicht zu unterschätzen, doch die Theologen stellen nicht nur die Mehrheit der Akteure in der Volksaufklärung,99 98 Vgl. den Hinweis bei Wallmann: Kirchengeschichte Deutschlands (= Anm. 21), S. 164f. sowie Beutel: Kirchengeschichte (= Anm. 2), S. 151–169. 99 Vgl. z. B. Warnke: Pfarrer als weltliche ‚Volkslehrer‘ (= Anm. 21), S. 75f.

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die staunenswerte Breite und Differenziertheit ihres Engagements übertrifft alle anderen Gruppen bei weitem. Sie nehmen eine nicht nur mediale Schlüsselrolle in Theorie und vor allem Praxis der späten Aufklärung wahr.

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Deutschbaltische Aufklärungstheologie aus der Sicht der zeitgenössischen Druckmedien 1. Theologisch-kirchliche Gesinnungen im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts Die Aufklärungstheologie in den Ostseeprovinzen wurde in der neueren Historiografie bislang kaum in Betracht gezogen. Es gibt zwar einzelne Untersuchungen zu namhaften Theologen, wie etwa Gotthard Friedrich Stender1 auf der lettischen oder August Wilhelm Hupel2 auf der estnischen Seite, die vor allem dank ihres volksaufklärerischen Engagements Aufmerksamkeit gefunden haben; es fehlen aber eingehende Forschungen über das aufklärungstheologische Ideengut in der baltischen Region auf einer breiteren Basis.3 Einige erste Anhaltspunkte zu den Gesinnungen in der Kirche sind zeitgenössischen Berichten zu entnehmen. 1771 schrieb Philipp Christian Moier, ein in Halle und Helmstedt studierter Theologe in Reval (Tallinn), dass im estländischen Konsistorium Männer wie Ernesti, Semler, Jerusalem, Schubert, Teller und Jacobi – also die bekannten deutschen Aufklärungstheologen – als Ketzer abgestempelt würden.4 Seit den 1780er Jahren hatte sich die Situation aber radikal geändert: Unter den estländi-

1 Vgl. Ulrich Schoenborn: „… gute, frohe und thätige Menschen bilden“: Zur Theologie des Volksaufklärers Gotthard Friedrich Stender. In: Māra Grudule (Hg.): Gothards Frīdrihs Stenders (1714– 1796) un abgaismība Baltijā Eiropas kontekstā = Gotthard Friedrich Stender (1714–1796) und die Aufklärung im Baltikum im europäischen Kontext = Gotthard Friedrich Stender (1714–1796) and the Enlightenment in the Baltics in European Contexts. Rīga 2018, S. 363–377. 2 Vgl. Indrek Jürjo: Der aufgeklärte Pastor und die livländische Kirche. August Wilhelm Hupels philosophische und theologische Anschauungen. In: Otto-Heinrich Elias u. a. (Hg.): Aufklärung in den baltischen Provinzen Rußlands. Ideologie und soziale Wirklichkeit. Köln, Weimar u. Wien 1996, S. 209–228. 3 In der sowjetischen Zeit konnte man aus politisch-ideologischen Gründen keine theologie- und kirchengeschichtliche Forschung betreiben. Aus der neueren Zeit sind jedoch für die estnischen Leser über das Thema zwei einführende Studien zu nennen: Aira Võsa: Valgustusteoloogia piirjooni Läänemereprovintside luterlike literaatide kirjutistes 18. sajandi viimasel veerandil [Grundzüge der Aufklärungstheologie in den Schriften lutherischer Literaten der baltischen Provinzen im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts]. In: Eesti Ajalooarhiivi toimetised = Acta et commentationes Archivi Historici Estoniae 21 (28) (2014), S. 114−137; dies.: Valgustusteoloogilised õpetlastekstid baltisaksa kirjakultuuri osana [Aufklärungstheologische Schriften als Teil der deutschbaltischen Schriftkultur]. In: Piret Lotman (Hg.): Konfessioon ja kirjakultuur. Confession and the Literary Culture. Tallinn 2016, S. 145−167. 4 Vgl. Hellmuth Weiss: Ein Bericht Philipp Christian Moiers über die kirchlichen und sozialen Verhältnisse in Estland um 1770. In: Rudolf von Thadden, Gert von Pistohlkors u. Hellmuth Weiss (Hg.): Das Vergangene und die Geschichte. Festschrift für Reinhard Wittram zum 70. Geburtstag. Göttingen 1973, S. 164–173, hier S. 169.

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schen lutherischen Pastoren hatten die Anhänger von Semler und Teller zunehmend die Oberhand gewonnen.5 In den 1780er und 1790er Jahren wurden auch in Livland immer mehr Stimmen laut, die sich für Neuerungen in der Kirche und für den sogenannten theologischen Rationalismus einsetzten. Als ein besonderes Merkmal wird von den Zeitgenossen eine große religiöse Toleranz in Est- und Livland hervorgehoben. Besonders wurde das von dem deutschen Literaten und Publizisten Johann Christoph Petri betont, der zeitweilig in Estland als Lehrer tätig war. Ihm zufolge kann nirgends „ein größerer Geist der Duldsamkeit nicht nur unter den verschiedenen Religionspartheien gegen einander, sondern auch unter einerlei Konfessionsverwandten, als in Lief- und Ehstland, herrschen. Mit Recht kann man sagen, daß hier ein jeder ohne die mindeste Störung seines Glaubens leben kann.“6 An einer anderen Stelle fügt er hinzu: Mit seinen Religionsmeinungen, sie mögen so bizarr seyn als sie wollen, kann in Ehst- und Liefland niemand ins Gedränge kommen, auch Gefahr laufen, verfolgt oder verabscheuet zu werden, wenn man sie andern nicht aufzudringen oder auf eine unschickliche Art sonst geltend zu machen sucht. Viele Ausländer, selbst Hofmeister, Theologen, leben außer aller kirchlicher Verbindung, aber niemand weist sie zum Seelenrath oder Glaubensinquisitor dieser Loostreiber auf, und niemand bekümmert sich um diese ihre Unabhängigkeit. Nur an wenigen Orten hört man so freimüthige Urtheile über Gegenstände und Formen der Religion, und nirgends erregen kühne Grundsätze weniger Sensation als hier.7

Außer dieser fast postmodern anklingenden Freimütigkeit hat Petri als eine positive Erscheinung der Aufklärung die Synoden in Reval hervorgehoben. Zu diesen, einmal im Jahr stattfindenden mehrtägigen Sitzungen versammelten sich alle Geistlichen aus dem Estländischen Gouvernement, um unter dem Vorsitz des Oberpastors aktuelle theologisch-philosophische Themen zu besprechen. So wurden z. B. im Jahre 1796 u. a. folgende Fragen diskutiert: „Ist das Kantische Moralprinzip für den größten Theil der Christen brauchbarer, als das Prinzip der Glückseligkeit?“ – „Laufen beide am Ende etwa auf eins hinaus, oder sind sie wirklich heterogen?“ – „Im letzteren Falle, ist das Prinzip der Glückseligkeit etwa wohl gar verwerflich?“ – „Wie popularisiert man das Kantische Moralprinzip am besten?“8 Weiteres Ziel solcher Tagungen war es, dass auch die Landgeistlichen sich mit den aktuellen theologischen Debatten vertraut machen konnten. Auch Kurland hatte sich als eine Hochburg des Liberalismus etabliert. Das zeigt sich unter anderem etwa darin, dass die Schriften des radikalen Aufklärungstheologen Carl Friedrich Bahrdt in den 1770er und 1790er Jahren in Mitau (Jelgava) gedruckt wurden, weil dies in Deutschland aus ideologischen Gründen nicht möglich war.9 5 Vgl. Gustav Carlblom: Entwurf zur Kirchen- und Religionsgeschichte Esthlands. In: Archiv für die Geschichte Liv-, Ehst- und Curlands 6 (1851), S. 1–57, hier S. 21. 6 Johann Christioph Petri: Ehstland und die Ehsten, oder historisch-geographisch-statistisches Gemälde von Ehstland. Ein Seitenstück zu Merkel über die Letten. Bd. 3. Gotha 1802, S. 196. 7 Ebd., S. 201f. 8 Ebd., S. 216. 9 Vgl. Günther Mühlpfordt: Bahrdts baltische Schriften. Zum literarischen Exil eines radikalen Auf-

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Neben diesen etwas idealisierten Bildern über die große Toleranz von Seiten der Aufklärer meldeten sich auch Stimmen aus dem kirchlich-konservativen Kreis zu Wort. Christian David Lenz, der Vater des bekannten Dichters Jakob Michael Reinhold Lenz, war seit 1779 Generalsuperintendent der Livländischen Kirche. Im Sinne eines Lutherisch-Orthodoxen machte er mehrmals gegen den aufkommenden Aufklärungsgeist in seinem Kirchenbezirk Front und warf einigen Predigern vor, dass sie das Erlösungswerk Christi in Frage stellen würden.10 In Lenz’ Aussagen aus den 1780er und 1790er Jahren spiegeln sich Spannungen in der Kirche zwischen der alten und der neuen theologischen Linie wider. Lenz zufolge hatten eher die Aufklärer die Orthodoxen als umgekehrt angegriffen, etwa indem die Aufklärer ihre Opponenten mit Spottnamen versahen. Der Generalsuperintendent äußerte seine Missachtung dem Rationalismus gegenüber und hielt es für seine Pflicht, gegen die Thesen einiger Prediger zu polemisieren, welche die schrift- und offenbarungsmäßige Erlösungstheologie auf eine bloße, aus der Vernunft hergeleitete Moral reduzierten. Lenz verbot schließlich, jegliche aufklärerische Hypothesen öffentlich zu verbreiten.11 Doch trotz der Anstrengungen der orthodoxen Seite setzte sich die sogenannte rationalistische Richtung letztlich durch. Fixiert wurde dieser Umbruch mit dem Jahr 1803, als Karl Gottlob Sonntag zum neuen livländischen Generalsuperintendenten gewählt wurde.12 Um von dieser sogenannten rationalistischen Theologie, die sich seit dem letzten Viertel des 18. Jahrhunderts in den Ostseeprovinzen etablierte, eine genauere Vorstellung zu bekommen, wird im Folgenden versucht, anhand der Aussagen einiger bedeutender, als rationalistisch angesehener Theologen aufzuzeigen, welchen theologischen Konzeptionen oder Modellen sie verpflichtet waren. Die hier in Betracht zu ziehenden Autoren sind aus allen drei Provinzen gewählt und verdeutlichen exemplarisch gängige Motive, Tendenzen und Argumentationsmuster der baltischen Aufklärungstheologie. Es handelt sich somit um eine ideengeschichtliche Darstellung, die nach dem Inhalt der Druckmedien fragt und die sozial- und mediengeschichtliche Perspektive (im Sinne von Björn Hambsch’ programmatischem Beitrag im vorliegenden Band) weiteren Forschungen vorbehält.

2. Die Neologie und das Schriftverständnis Zuerst werde ich auf einige neologische Aspekte hinweisen, die sich unter den baltischen Literaten verbreiteten. Der Begriff ‚Neologie‘ ist zwar in der neueren Zeit kriklärers im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts. In: Jahrbuch für Geschichte der sozialistischen Länder Europas 20 (1976), S. 77−95. 10 Vgl. Christian David Lenz: Die Stärke des Schrift-Beweises für die in unsern Tagen angefochtene Lehre von der Genugtuhung Jesu Christi. Riga 1780, [S. 3]. 11 Vgl. ders.: Antwortschreiben an einen der Theologie Befliessenen, seine Gesinnungen bey dem itztigen neuen für Aufklärung gehaltenen in der Theologie und Religions-Lehre eingerissenen Meinungen betreffend mit einer apologetischen Vorrede und dem Briefe, der zu diesem Antwortschreiben Gelegenheit gegeben. Riga 1793, S. 24f. 12 Vgl. Jürjo: Der aufgeklärte Pastor und die livländische Kirche (= Anm. 2), S. 225.

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tisiert worden,13 wird hier jedoch verwendet, um einige Unterschiede zu der zeitlich vorangegangenen Übergangstheologie sowie zum nachfolgenden Rationalismus stärker zu betonen. Ein Theologe, der offensichtlich aus dieser Richtung prägende Impulse bekommen hat, war der livländische Prediger und Volksaufklärer Johann Georg Eisen (1717−1779). Dieser war in Polsingen in Mittelfranken geboren und hatte in Jena Theologie studiert. Er kritisierte die überkommene kirchliche Dogmatik stark. In seiner 1777 in Riga erschienenen Schrift Das Christenthum nach der gesunden Vernunft und der Bibel bestritt Eisen u. a. die Erbsündenlehre. Im Gegensatz zum alten Schulsystem wisse die Schrift nichts von Erbsünde als Erbsündenschuld.14 Mit dieser augustinischen Lehre werde den Menschen eine freie Wahl zur oder gegen die Sittlichkeit genommen. So wie sich manche andere Radikale des 18. Jahrhunderts in der Frage der Willensfreiheit auf den frühchristlichen Mönch Pelagius beriefen, fand dieser auch durch Eisen ausdrücklich Anerkennung als die einzige Autorität.15 Eisen wollte mit seinem theologischen System dagegen keinem zeitgenössischen Theologen völlig zustimmen. Als ein Vorbild diente ihm gewissermaßen Carl Friedrich Bahrdt, jedoch war er auch mit seinen Ansichten nicht durchgehend einverstanden.16 Eine Übereinstimmung mit Bahrdt zeigt sich allerdings in der ablehnenden Haltung zu den Bekenntnisschriften. Für die Gemeinde, für den gemeinen Mann, hieß Eisen es gut, an den Symbola festzuhalten, „weil sonst alle nur ersinnliche Irrlehren vorgetragen werden könnten.“ Jedoch hegte er die Hoffnung, dass bald „die neuangehenden Lehrer nicht mehr mit einem Ordinationseide misshandelt“ werden.17 Es steht fest, dass Eisen auch Bahrdt nicht unbekannt war, der seinen Namen in seinen Kirchen- und Ketzer-Almanach (1781) aufnahm. Ich werde auf Eisen in anderen Zusammenhängen zurückkommen, möchte aber an dieser Stelle auf einen anderen der Neologie und dem Rationalismus verpflichteten kurländischen Theologen hinweisen: Ernst Friedrich Ockel (1742–1816), auch ein gebürtiger Deutscher, der im Halleschen Waisenhaus aufgewachsen war und seit 1761 an der Universität Jena studiert hatte. In Kurland arbeitete er in verschiedenen Orten als Hauslehrer und Prediger, bis er im Jahre 1786 zum Generalsuperintendenten gewählt wurde. 1792 wurde er an der Universität Greifswald zum Dr. theol. promoviert. Aufmerksamkeit verdient hier seine von Wilhelm Abraham Tellers Schrift Die Religion der Vollkommnern (1792) veranlasste Konzeption eines reinen und vollkommenen Christentums. Das sogenannte reine Christentum sei befreit von dem 13 Vgl. Albrecht Beutel: Kirchengeschichte im Zeitalter der Aufklärung. Ein Kompendium. Göttingen 2009, S. 112f. 14 Vgl. Johann Georg Eisen: Das Christentum nach der gesunden Vernunft und der Bibel. Riga: bey Johann Friedrich Hartknoch, 1777. In: Ders.: Ausgewählte Schriften. Deutsche Volksaufklärung und Leibeigenschaft im Russischen Reich. Hg. v. Roger Bartlett u. Erich Donnert. Marburg 1998, S. 403–478, hier S. 410. 15 Vgl. ebd., S. 467. 16 Vgl. ebd., S. 17. 17 Ebd., S.  408. – Vgl. Carl Friedrich Bahrdt. Versuch eines biblischen Systems der Dogmatik. Gotha-Leipzig 1769, S. 17f.

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dogmatischen Gewand verschiedener Zeitepochen, wie etwa der Trinitäts- und Sakramentenlehre oder der Lehre von den ewigen Höllenstrafen.18 Das Wichtigste, d. h. für die Errettung einzignötige, sei die moralische Gesinnung eines Gläubigen.19 Der angemessene Ort zum Unterricht des sogenannten reinen Christentums sei aber nicht die Kanzel, sondern die Schule.20 Diese pädagogische Stellungnahme hat sich der berühmte Teller seinerseits von Ockel angeeignet und gutgeheißen. Er schrieb: „Selbst die hierher gehörige Frage: in wie fern diese Aufklärung auf die Kanzel gehöre, ist nur neuerlich in einer unter diesem Titel in Berlin herausgekommenen Schrift eines ausländischen angesehenen Theologen sehr richtig beantwortet worden.“21 Gemeint war Ockels Traktat Ob und wie fern die Kanzel der schickliche Ort der Aufklärung sey? aus dem Jahre 1789. Neben Tellers Vorstellung von einer vollkommenen Religion und von den Stufen, die dahin führen, hat Ockel auch von der kantischen Moralphilosophie Gebrauch gemacht. Er versuchte Kants Moralprinzip aus dessen Werk Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (1793)22 exklusiv mit dem Christentum zu verbinden und zu zeigen, welche Wirkungen eine solche Vereinigung haben könnte. Diese Symbiose sollte zu einem vernünftigen oder philosophischen Kern der ursprünglichen Lehre Jesu hinführen.23 Im Großen und Ganzen kreisen die Schriften der baltischen Aufklärer um dieselben Themen, die in dem neologischen Lehrstreit in den 1760er bis 1780er Jahren in Deutschland aufkamen, wie z. B. die Frage nach dem Verbindlichkeitsstatus der Bekenntnisschriften, der Ewigkeit der Höllenstrafen und der Satisfaktionslehre.24 Die Bibel wurde auch im Baltikum nicht mehr im Sinne einer Verbalinspiration mit der Offenbarung gleichgesetzt, sondern es wurde eingesehen, dass die Bibel die Offenbarung bloß beinhalte, und dass die Wahrheit der Vernunft und der Offenbarung nicht unbedingt in allem miteinander übereinkommen müssen. Der radikalste Kanonkritiker der hiesigen Autoren war Eisen, der vorschlug, historische Bücher zusammen mit den bereits für apokryphisch erklärten wegzulassen und zu einem besonderen Buche zusammenzufügen. Eine wahre Schwärmerei aber sei es, „daß man das sog. Hohelied zu den Büchern des Heils gezählt, welches nicht einmal der apokryphischen wert ist, weil fleischliche Bilder das Fleisch nie einschränken werden, man wende und drehe es, wie man wolle“.25 18 Vgl. Ernst Friedrich Ockel: Ueber die Religion der Vollkommnern. Anmerkungen und Zusätze der Schrift des Herrn Ober-Consistorial-Raths Doctor Teller. Berlin 1794, S. 37. – Vgl. Wilhelm Abraham Teller: Die Religion der Vollkommnern als Beylage zu desselben Wörterbuch und Beytrag zur reinen Philosophie des Christenthums. Berlin 1792. 19 Vgl. ebd., S. 97, S. 100 u. S. 123. 20 Vgl. Ernst Friedrich Ockel: Ob und wie fern die Kanzel der schickliche Ort der Aufklärung sey? Berlin 1789, S. 45. 21 Teller: Die Religion der Vollkommnern (= Anm. 18), S. 84. 22 Vgl. Immanuel Kant: Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft. Frankfurt 1793. 23 Vgl. Ockel: Ueber die Religion der Vollkommnern (= Anm. 18), S. 5–7. 24 Vgl. Beutel: Kirchengeschichte im Zeitalter der Aufklärung (= Anm. 13), S. 258–262. 25 Eisen: Das Christenthum nach der gesunden Vernunft und der Bibel (= Anm. 14), S. 444.

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3. Die Physikotheologie Bekanntlich haben die Aufklärer manche antike Lehrtraditionen übernommen und ihrer Zeit angepasst, u. a. die Physikotheologie. Diese in der Frühaufklärung wieder aufgeblühte theologisch-literarische Strömung versuchte durch die Betrachtung von geordnet, zweckmäßig oder schön erscheinenden Gegenständen, Strukturen oder Prozessen in der Natur auf das Dasein und die weltbezogenen Eigenschaften Gottes zu verweisen.26 Auch im baltischen Raum bediente man sich des physikotheologischen Arguments, öfters geschah dies nach dem Vorbild von Johann Arndts Naturphilosophie (z. B. bei Ockel und Stender). Die Werke von Arndt, besonders seine Bücher der göttlichen Wahrheit, waren im Baltikum bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts die meistverbreitete Lektüre. Auf eine bezeichnende Weise behandelte das Thema Physikotheologie Ernst August Wilhelm Hörschelmann (1743–1795), Professor der Philosophie und der Geschichte am Revaler Gymnasium. Er stammte aus Erfurt, hatte seit 1761 in Jena studiert und wurde dort schon 1764 zum Dr. phil. promoviert.27 In einer seiner Programmschriften für das Gymnasium hat Hörschelmann sich über den naturtheologischen Gottesbeweis geäußert. Einen direkten Anlass dazu hatte Kants Kritik der reinen Vernunft (1781) gegeben.28 Hörschelmann stimmte Kants Kritik zu, dass der physikotheologische Gottesbeweis nicht in der Art apodiktisch sei, wie es die Beweise der reinen Mathematik sind: „Denn freilich kann der Gegenstand desselben nicht sinnlich vor das Auge gestellt werden. Gott ist kein sinnlicher Gegenstand.“29 Gleichwohl schien es ihm aber unmöglich zu sein, entweder gar keinen oder einen unverständigen und unweisen Urheber der Einrichtung der Welt anzunehmen. Das Gefühl dieser Unmöglichkeit brachte Hörschelmann zu einer Überzeugung, welche der apodiktischen Gewissheit gleich gilt. Er räumte ein, dass durch den physikotheologischen Beweis Gott nur als Baumeister, nicht aber als Schöpfer der Welt vorgestellt wird. Die eigentliche Schöpfung, die Hervorbringung aus dem Nichts habe er nie für einen Lehrsatz der Vernunft gehalten, sondern immer geglaubt, dass sie aus der Offenbarung entlehnt sei. Zur natürlichen Gotteskenntnis und Gottesverehrung reiche es auch aus, sich Gott als Weltbaumeister zu denken, so bald nur der eben nicht schwer zu beweisende Satz hinzukomme, dass Gott auch der Weltregierer sei. Hörschelmann zufolge werden die Menschen durch die Welt und die Natur zu den wirklichen Eigenschaften Gottes, auf Weisheit, Macht, Güte, Gegenwart usw. hingeführt. So schien es ihm, dass die Physik die Menschen weit mehr

26 Vgl. Beutel: Kirchengeschichte im Zeitalter der Aufklärung (= Anm. 13), S. 89. 27 Vgl. Johann Friedrich von Recke u. Karl Eduard Napiersky: Allgemeines Schriftsteller- und Gelehrten-Lexikon der Provinzen Livland, Esthland und Kurland. Bd. 2. Mitau 1829, S. 321–323; Tiiu Reimo: Raamatukultuur Tallinnas 18. sajandi teisel poolel [Buchkultur im Tallinn der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts]. Tallinn 2001, S. 167f. 28 Vgl. Immanuel Kant: Critik der reinen Vernunft. Riga 1781. 29 Ernst August Wilhelm Hörschelmann: Geständnisse und Wünsche, die Kantische Philosophie betreffend. Ein Programma. Reval 1789, [S. 4].

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zu diesen Begriffen erhebe als die Moral.30 Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Hörschelmann das Vermögen der Physikotheologie anerkannte, auf Gott als eine höchste Intelligenz bzw. als eine deistische Schöpfergestalt zu verweisen und seine Eigenschaften zu veranschaulichen.

4. Der Deismus und der Spiritualismus Der Deismus, im Sinne der Freigeisterei oder des Naturalismus, wurde von den baltischen Aufklärungstheologen scharf abgelehnt. Jedoch waren die aus dem englischen Deismus herkommenden Begrifflichkeiten und Ideen weit verbreitet. So wurde z. B. von einer „natürlichen“ oder „vernünftigen“ Religion geschrieben, die zu der christlichen Religion keinen Gegensatz bilde (Ockel).31 Alle Menschen hätten die gemeinschaftliche Bestimmung, dass sie durch Tugend und Rechtschaffenheit selig würden, und es sei jedem ins Herz geschrieben, dass ein Gott sei und dass er diesen als Quelle seines Heils zu verehren habe (Eisen).32 Die baltischen Theologen beriefen sich meistens auf die von den deutschen Neologen (u. a. Spalding) vermittelte empirische Vorstellung der englischen Deisten. Diese vertraten die Ansicht, dass die natürliche Religion als eine eigenständige Frömmigkeitsform neben dem Christentum als der vollkommenen Religion fungieren würde. Es sei hier noch auf einen weiteren Aspekt hingewiesen, nämlich auf den Spiritualismus, welcher der Aufklärungstheologie keinesfalls fremd war. Im Baltikum zeichnete sich in dieser Hinsicht besonders Gotthard Friedrich Stender (1714–1796) aus. Der in Kurland geborene Theologe hatte in Jena und Halle studiert. Nach dem Abschluss seines Studiums blieb er in Halle und unterrichtete im Waisenhaus. Als Freigeist verrufen, musste er Halle jedoch bald verlassen.33 Nach den turbulenten Jahren in der Heimat und im Ausland kehrte er wieder zurück nach Kurland und war dort bis an sein Lebensende in verschiedenen Gemeinden tätig, zeitweise auch als Probst und Konsistorialassessor. Neben seinen großen Verdiensten im Bereich der lettischen Kultur- und Sprachkunde interessierte er sich für die Alchemie und gehörte der Mitauer Freimauerloge an.34

30 Vgl. ebd., [S. 4–6]. 31 Ernst Friedrich Ockel: Anleitung zur Weisheit, Tugend und Glückseligkeit für die Jugend nach der reinen Lehre Jesu. Königsberg 1795, S. 25 u. S. 33. 32 Vgl. Eisen: Das Christenthum nach der gesunden Vernunft und der Bibel, S. 431. 33 Vgl. Janis Kreslins: Der Einfluss des hallischen Pietismus auf Lettland. In: Johannes Wallmannn u. Udo Sträter (Hg.): Halle und Osteuropa. Zur europäischen Ausstrahlung des hallischen Pietismus. Tübingen 1998, S. 145−156, hier S. 153. 34 Vgl. Art. ‚Stender, Gotthard Friedrich‘. In: Deutschbaltisches Biographisches Lexikon, 1710–1960. Im Auftr. der Baltischen Historischen Kommission begonnen von Olaf Welding und unter Mitarb. von Erik Amburger und Georg von Krusenstiern hg. v. Wilhelm Lenz. Köln u. Wien 1970, S. 767–768; K[arl] Kundsin: Gotthard Friedrich Stender. Ein Vertheidiger der christlichen Wahrheit im Zeitalter der Aufklärung. In: Mittheilungen und Nachrichten für die evangelische Kirche in Rußland 40 (1884), S. 89–108.

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In seinem Werk Wahrheit der Religion wider den Unglauben der Freygeister und Naturalisten (1772) bediente er sich aus der theosophisch-alchimistischen Gedankenwelt hergeleiteter Kategorien. Er schrieb u. a. über den Naturgeist, die Weltseele, den Ausfluss des Naturgeistes, die magnetischen Kräfte, verschiedene Geisterklassen, vier Naturelemente etc. Seine spiritualistischen Spekulationen legen nahe, dass Stender mit dem theosophischen Erbe der Barockzeit gut vertraut war. Er selbst hat aber kein konkretes Vorbild in diesem Gebiet genannt, sondern nur in ungefährer Weise auf die „Naturweisheit der Alten“ hingewiesen.35 Stender war nicht der einzige, den die theosophischen Anschauungen anzogen. Fast pantheistisch hört sich manche Textpassage bei dem sonst ziemlich nüchternen Ockel an. Ein Beispiel: Dies große Geheimnis, den Menschen in Thätigkeit zu setzten, und ihm Thätigkeit zu erleichtern durch diese süße Täuschung, daß der Mensch glaubt, alles für andere zu thun, und doch alles für sich thut: durch dies geistige elektrische Feuer, die magnetische Kraft, die durch die ganze Schöpfung strömt, und alles vereinigt zu einem Leibe und einem Geiste!36

Gelegentlich aufgetretene spiritualistische oder andere heterodoxe Aussagen können jedoch nicht als etwas Typisches für die Aufklärungstheologen angesehen werden, sondern eher umgekehrt als Abweichung von der Norm, in der sich das Erbe des Vergangenen kundtat.

5. Die Eschatologie Die Theologie der Aufklärung könnte man anhand etlicher Themen aus der Dogmatik veranschaulichen. Ich beschränke mich hier auf die Eschatologie, weil sie die für die Aufklärung charakteristische ideelle Vielfalt aufweist. Die von den Neologen heftig diskutierte Lehre von der Erlösung aller Wesen (grch. apokatastasis panton nach Apg. 3, 21) wurde in Livland von J. G. Eisen vertreten. Er teilte den Optimismus der Aufklärer, glaubte an den Fortschritt und die Möglichkeit aller Menschen, selig zu werden. In Bezug auf die Zukunft im Jenseits hat Eisen auch über den physischen Ort des Himmelsreichs spekuliert: „Werden wir übrigens unsere Seligkeit auf Himmelskörpern genießen, warum soll auch nicht ein Himmelskörper zur Verdammnis bestimmt sein?“37 Mit diesen und ähnlichen Aussagen stimmte er dem Pluralismus zu, wonach alle Sterne Sonnensysteme mit Lebewesen bilden können. Mit dieser kosmologischen Vision versuchte Eisen den Chiliasmus, d. h. die aus der Bibel hergeleitete Lehre von einem tausendjährigen Reich (Offb. 20), zu vereinbaren. Er meinte: „Was den ewigen Bestand unseres Leibes anhängt, so kann er durch Weisheit in der Lebensord35 Gotthard Friedrich Stender: Wahrheit der Religion wider den Unglauben der Freygeister und Naturalisten. Mitau 1772, S. 321. 36 Ockel: Ueber die Religion der Vollkommnern (= Anm. 18), S. 47. 37 Eisen: Das Christenthum nach der gesunden Vernunft und der Bibel (= Anm. 14), S. 441.

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nung und die Klarheit, die er erhalten wird, ewig bestehen: Warum nicht tausend Jahre.“38 Mit seinen Ansichten über die Vielheit der Welten stand Eisen keineswegs allein. Um die Mitte des 18. Jahrhunderts wurde in vielen Kreisen – unter den Rationalisten wie unter den Theosophen – über das Leben in anderen Sonnensystemen spekuliert. Nach diesen Vorstellungen lebten verstorbene Seelen auf anderen Planeten fort.39 Eisen schreibt: „Die Geschichte Mosis von der Welterschaffung kann sehr leicht so verstanden werden, daß diese Welt nur aus einer vorigen verwandelt entstanden sei; und die Engel, von deren Erschaffung die Schrift nichts erwähnet, können die Seligen und Verdammten von der vorigen Welt sein“.40 Ähnlichkeiten zeigen sich hier mit den berühmten Philosophen und Mystiker Emanuel Swedenborg: Nach Swedenborg sind auch Geister, Engel und Teufel eigentlich Menschen, und nicht etwa eine zwischen Gott und Mensch geschaffene eigene Geistgattung.41 Eisens Beispiel zeigt exemplarisch, wie weit das Ideengut eines baltischen Theologen vom orthodoxen Glaubensbekenntnis abweichen konnte.

6. Zusammenfassung Es konnte hier keine umfassende Untersuchung vorgelegt werden, sondern nur eine fragmentarische Übersicht über die Aufklärungstheologie im Baltikum. Nach einem ersten Eindruck müssten alle vorgestellten Autoren und deren Schriften einer tiefergehenden Untersuchung unterzogen werden. Aufgrund des jetzigen Kenntnisstands eröffnet sich allerdings ein für die Epoche der Aufklärung typisch eklektisches Bild. Die baltischen Theologen beriefen sich auf eine vielfältige Gedankenwelt von spiritualistischen bis zu zeitgenössischen philosophischen Theorien, die sie teilweise mit ihren eigenen Ideen zu bereichern versuchten. Da die präsentierten Autoren alle in Jena und Halle studiert haben, wurden ihre Ansichten zwangsläufig von der deutschen Aufklärung geprägt. Ihre ideologischen Vorbilder waren meistens die Neologen. Seit Ende der 1780er Jahre reflektierte man häufig die kantische Philosophie. Neben den deutschen Einflüssen im Baltikum gibt es allerdings auch einzelne Belege für Bezüge zu französischen Aufklärungsideen und autoren.42 Abgesehen von einzelnen Meinungsunterschieden suchten alle Literaten, das sogenannte reine Christentum und den richtigen Glauben zu verteidigen. Ihr Ansatzpunkt war die für die Aufklärung charakteristische Kirchenkritik. Im Vergleich zu der deutschen Aufklärungstheologie fällt auf, dass die baltischen Theologen in ihren 38 Ebd., S. 442 39 Vgl. Friedemann Stengel: Aufklärung bis zum Himmel. Emanuel Swedenborg im Kontext der Theologie und Philosophie des 18. Jahrhunderts. Tübingen 2011, S. 424. 40 Eisen: Das Christenthum nach der gesunden Vernunft und der Bibel (= Anm. 14), S. 442. 41 Vgl. Stengel: Aufklärung bis zum Himmel (= Anm. 39), S. 431. 42 So z. B. bei dem livländischen Literaten Jakob Heinrich von Lilienfeld (1716–1785), der sich in seinem Buch Versuch einer neuen Theodicee (1777) auf Philosophen wie Pierre Bayle, Charles Bonnet und Jean-Jacques Rousseau berufen hat.

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Aira Võsa

Schriften nicht mit dem Konfessionalismus zu kämpfen hatten. Die lutherische Kirche in den baltischen Provinzen empfand um diese Zeit keine scharfe Konkurrenz zu anderen Konfessionen. Eine Trennlinie verlief innerhalb der lutherischen Kirche zwischen den orthodoxen und den aufklärungswilligen Theologen. Die Aufklärer konzentrierten sich vor allem auf die Dogmatik, aber auch die Relevanz der Toleranzidee Andersgläubigen gegenüber wurde nicht verschwiegen. Als Gemeinsames in den Texten erweist sich der Aufruf, dass die Gläubigen in Religionsfragen der Vernunft folgen und eine moralische Lebensführung praktizieren sollten. Zusammenfassend lässt sich jedoch sagen, dass die Aufklärungstheologie auch im baltischen Raum keine einheitliche Denkrichtung darstellte. Die Verbreitung der heterodoxen Ideen durch die Druckmedien erklärt sich teilweise damit, dass um diese Zeit die Zensurgesetze in Russland noch nicht in aller Strenge befolgt wurden. Zum Schluss sei nochmals betont, dass die baltische Aufklärungstheologie dringend einer eingehenderen Forschung und Differenzierung bedarf. Sie ist allzu oft in der baltischen Historiografie nur als eine praktisch orientierte Morallehre oder als Folge einer gesellschaftlichen Reformbewegung angesehen worden.

Tiina-Erika Friedenthal

Der Wert des Theaters und die Luxusdebatte am Ende des 18. Jahrhunderts in dem nicht so aufgeklärten Livland1 Mit der Aufklärung verbinden sich die Ideale, die Welt zu verbessern, den Menschen und die menschliche Gesellschaft immer vollkommener zu machen, sie in ein künftiges goldenes Zeitalter zu führen, wo jedermann Prosperität sowie Kultur und Bildung zuteilwerden. Hält man sich diese Ideale vor Augen, so richtet sich an jede Institution oder jedes Phänomen zwangsläufig die Frage nach dessen Wert: Trägt die jeweilige Erscheinung dazu bei, die Ziele der Aufklärung zu erreichen, oder wirkt sie diesen Zielen sogar entgegen? Bis vor Kurzem sind die meisten Abhandlungen, die auf die zeitgenössische Theaterpolemik eingegangen sind, von der selbstverständlichen Voraussetzung ausgegangen, dass das Theater als solches aufklärerisch sei oder zumindest aus aufklärerischer, das heißt, aus unvoreingenommener Perspektive durchaus gutzuheißen sei. Aus diesem Grund seien die Angriffe gegen das Theater generell auf ein blindes Vorurteil, religiös-moralische Borniertheit sowie auf das Bestreben schwacher Herrscher, alles eventuell Bedrohliche zu unterdrücken, zurückzuführen.2 Obwohl auch diese Gründe in verschiedenen Fällen zweifelsohne eine Rolle spielen können, muss man sich für ein vollständigeres Bild dessen bewusst sein, dass die kritische Einstellung zum Theater auch auf solchen gesellschaftlichen Ansichten beruhen konnten, die nach heutigen Begriffen als progressiv gelten, wie etwa auf der Verurteilung einer krassen Ungleichheit und Ungerechtigkeit in der Gesell-

1 Aus dem Estnischen von Anu Aibel-Jürgenson. Der Artikel basiert auf meiner Dissertation, die 2020 verteidigt wurde. Vgl. Tiina-Erika Friedenthal: Võitlus ja väitlus teatri üle Eesti- ja Liivimaal 18. sajandi lõpus ja 19. sajandi alguses [Streit und Debatte um das Theater in Estland und Livland Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts]. Tartu 2020. Die Dissertation geht auf die Theaterpolemik von Reval (Tallinn), Dorpat (Tartu) und Riga (Rīga) um 1800 ein. 2 Die bisher übliche Herangehensweise, wonach eine ‚moralische Empörung‘ über jede Form von Theaterfeindlichkeit fast als Bestandteil der Forschungsmethode zu verstehen war, ist im deutschsprachigen Raum aus theologischer Perspektive schon am Ende des 20. Jahrhunderts kritisiert worden, vgl. Thomas Brunnschweiler: Johann Jakob Breitingers „Bedencken von Comoedien oder Spilen“. Die Theaterfeindlichkeit im alten Zürich. Bern 1989, S.  108; sowie aus theaterwissenschaftlicher Perspektive: Stefanie Diekmann, Gabriele Brandstetter u. Christopher Wild: Theaterfeindlichkeit. Paderborn 2012, S.  3−7. In der estnischen Theatergeschichte gilt die unkritische ‚religiös-moralische Borniertheit‘ oft als Hauptkritikpunkt gegen das Theater, obwohl der einzig bemerkenswerte Fall von Theaterfeindlichkeit in der Geschichte Estlands und Livlands – das Tartuer Theaterverbot 1812−1867 − mit Kirche und Religion kaum etwas zu tun hatte. Das Theaterverbot ist bisher als ein lokalpolitisches Kuriosum betrachtet worden. Vgl. hierzu: Jaak Rähesoo: Eesti teater: ülevaateteos [Das estnische Theater: eine Übersicht]. Tallinn 2011; Evald Kampus: Von den Beziehungen der Universität Dorpat/Tartu zum Theater in den Jahren 1803–1812. In: Laurence Kitching (Hg.): Das deutschsprachige Theater im baltischen Raum, 1630−1918. Frankfurt a. M. 1997 (Thalia Germanica Bd. 1), S. 29−44; Malle Salupere: Die Dorpater Studenten und das Theaterleben in Tartu zur Zeit des Theaterverbots. In: Triangulum 6 (1999), S. 187–196.

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schaft. Aus heutiger Perspektive ist es schwer zu glauben, dass das Bestreben, sowohl die Wissenschaften und die Künste als auch die Bildung einer strengen Aufsicht zu unterstellen, in früherer Zeit eher auf eine republikanische Gesinnung zurückging, während die Tyrannen und andere dekadente und korrupte Regime ihren Untertanen womöglich weitgehende individuelle Freiheiten zugestanden.3 Noch am Ende des 18. Jahrhunderts war diese Gesinnung durchaus verbreitet. Der vorliegende Aufsatz setzt sich zum Ziel, die Argumentation vorzustellen, die der Theaterkritik im Livland des ausgehenden 18. Jahrhunderts zugrunde lag. Livland, das zu Beginn des Jahrhunderts, ebenso wie Estland, als Ostseeprovinz dem russischen Imperium eingegliedert worden war, wurde zwar von der aufgeklärten Monarchin Katharina II. regiert, doch konnten die dortigen Lebensverhältnisse unter deutschbaltischer Herrschaft keineswegs als aufgeklärt bezeichnet werden. Während ein Teil der Aufklärer die Lebensqualität vor Ort u. a. durch die Theaterkunst zu verbessern und zu veredeln suchte, erhoben sich kritische Stimmen gegen diese Bemühungen aus dem Kreis derjenigen, die den Eindruck machten, am eifrigsten an die Möglichkeit einer besseren, gerechteren und aufgeklärteren Gesellschaft zu glauben. Der vorliegende Beitrag fokussiert einen im Jahre 1785 in Riga veröffentlichten Zeitschriftentext, in dem die Theaterfrage als Teil der Luxusdebatte in den Mittelpunkt gerückt wird, die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Europa sowie in Est- und Livland ausgetragen wurde. Implizit sind mit der Diskussion über das Theater auch die livländischen Bauernunruhen aus dem Jahr 1784 sowie generell das Thema der Leibeigenschaft der estnischen und lettischen Bauern verbunden.

1. Das Theater in Deutschland Die französischen Aufklärer mit Diderot und Voltaire an der Spitze waren der Ansicht, dass das künstlerisch niveauvolle Theater für alle vorteilhaft sei, und rieten auch den würdigen Städten, die noch eines Theaters entbehrten, zur Theatergründung – wie etwa aus Jean le Rond d’Alemberts Enzyklopädie-Artikel über Genf bekannt ist. Vom deutschsprachigen Theater als einem Medium der Aufklärung konnte aber zu Beginn des Jahrhunderts allenfalls im potenziellen Sinne gesprochen werden. So war der aufklärerische Reformator des deutschen Theaters Johann Christoph Gottsched der Auffassung, man solle nicht „das Kind mit dem Bade aus[...]schütten“, auch wenn die Theaterkunst in Deutschland bisher in erster Linie missbraucht worden sei, und begann damit, das improvisatorische, nicht-literarische deutsche Wandertheater am Beispiel des französischen Theaters zu einem geschmackvollen Aufklärungsmedium umzugestalten. Er verkündet in der im Jahre 1729 gehaltenen akademischen Rede mit Bezug auf die gegenteilige Botschaft in Platons Politeia, dass „die Schauspiele […] aus einer wohlbestellten Republik nicht zu verbannen sind.“4 3 Zu diesem Thema vgl. die Einleitung des Herausgebers in: Jean-Jacques Rousseau: Politics and the Arts: Letter to M. d’Alembert on the Theatre. Hg. v. Allan Bloom. Ithaca 1968, S. XI–XXXVIII. 4 Johann Christoph Gottsched: Akademische Rede. Die Schauspiele, und besonders die Tragödien

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Der Gedanke, dass das Theater als ein Medium der Bildung und des Unterrichts eingesetzt werden könne, war auch in Deutschland nichts Neues – im 16. und auch noch im 17. Jahrhundert war neben dem Theater an Höfen eben das Schultheater die stabilste Theaterform gewesen. Im 18. Jahrhundert büßte das Schultheater seine Rolle ein und es entstand allmählich das deutschsprachige professionelle Theater in der Weise, dass ein Übergang von einem wandernden Geschäft zu einer zivilisierten Kunstform für einen anspruchsvollen Geschmack zustande kam. Dabei wurde – mit Hinweis auf seine Gemeinnützigkeit – erwartet, dass es vom Staat und seinen Herrschern unterhalten werde. Diese zunächst mühsame und am Ende des Jahrhunderts stürmische Bewegung wurde von einer leidenschaftlichen Debatte darüber begleitet, ob und inwieweit welches Theater eine positive Wirkung auf das Publikum im moralischen, ästhetischen, religiösen, wissenschaftlichen, wirtschaftlichen oder in einem anderen Sinne hat oder haben könnte. Als Höhepunkte dieser Polemik lassen sich folgende anführen: der erste Hamburger Opernstreit in den 1680er Jahren; Gottscheds Theaterreform in den 1730er Jahren; Jean-Jacques Rousseaus berühmte Opposition zur Theaterliebe der französischen Aufklärer, die er in seiner im Jahre 1757 geschriebenen Antwort an d’Alembert ausdrückt5 und die auch in Deutschland großen Einfluss hatte; sowie die Tätigkeit von Gotthold Ephraim Lessing, der sich um die Mitte des Jahrhunderts als Gottscheds Nachfolger um die Entwicklung des Theaters als eines aufklärerischen Mediums bemühte und Diderots Ideen weiterentwickelte, wobei er mit seinem bürgerlichen Drama darauf abzielte, das Mitleidsvermögen des Publikums zu steigern. Das Hamburger Nationaltheater (1767–1769) wurde in dem Glauben gegründet, dass das deutsche Volk mithilfe des Theaters ästhetisch und sittlich gebildet werden könne. Der zweite Hamburger Theaterstreit stellte unter anderem die Behauptung infrage, dass das moderne Theater nach Gottscheds Reformen wesentlich moralischer geworden sei. Schließlich sei für das Ende des Jahrhunderts Friedrich Schiller genannt, der vom Theater als einer Institution sprach, die potenziell die Moral zu heben vermöge (1784), und der die Behauptung aufstellte, dass das Theater für das Erreichen der Ganzheit und Freiheit des Menschen unentbehrlich sei (1794). Außer diesen Personen und Ereignissen, die weitreichenden Einfluss ausübten, können aber noch zahllose Positionsnahmen und Auseinandersetzungen mehr oder weniger lokalen Ausmaßes verzeichnet werden. Viele bis heute erhalten gebliebene Zeitschriftenausgaben, Predigten, Gutachten, Archivdokumente der Universitäten, akademische Disputationen, rhetorische Redeübungen usw. legen davon Zeugnis ab. In vielen dieser Texte wird das Ziel verfolgt, die Frage zum Theater in Hinblick auf die Form oder bezogen auf einen konkreten Ort ,unparteiisch‘ zu erörtern, wobei Argumente dafür und dagegen angeführt und geprüft werden.6 sind aus einer wohlbestellten Republik nicht zu verbannen. In: Ders.: Ausgewählte Werke. Gesammelte Reden. Bd. 9/2. Hg. v. Phillip M. Mitchell. Berlin 1976, S. 464–500, hier S. 493. 5 Vgl. Jean-Jacques Rousseau: Lettre à d’Alembert sur les spectacles. Amsterdam 1758. 6 Die Unparteilichkeit wird in vielen Positionsnahmen ausdrücklich betont. Vgl. etwa: Johann David Michaelis: Raisonnement über die protestantischen Universitäten in Deutschland. Bd. 4. Frankfurt

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2. Das Theater in Livland und Estland Wenngleich das erste bekannte Schauspiel im Baltikum bereits im Jahre 1205 aufgeführt worden war,7 so gibt es bis zur Reformationszeit keine Informationen über weitere Aufführungen. Da auch hierzulande das Luthertum zur herrschenden Konfession wurde, begann man das humanistische Schuldrama zu fördern. In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts kamen außer einzelnen englischen und niederländischen Truppen auch die ersten deutschsprachigen professionellen Schauspielertruppen in Est- und Livland an. Die Theateraktivitäten, die wegen des Nordischen Krieges für Jahrzehnte unterbrochen werden mussten, kamen im Zusammenhang mit der Gründung St. Petersburgs zu Beginn des 18. Jahrhunderts wieder in Schwung – bereits am Ende des 17. Jahrhunderts hatten das Schuldrama und das Liebhabertheater der Moskauer Deutschen den Anstoß zur Entwicklung des russischen Theaters gegeben, und als außer dem Hof auch ein Großteil der deutschen Kolonie in die neue Hauptstadt umzog, suchten auch deutsche Wandertruppen St. Petersburg auf.8 Auf der Route Königsberg (Kaliningrad) – Mitau (Jelgava) – Riga (Rīga) – Dorpat (Dorpat) – Reval (Tallinn) – St. Petersburg waren immer öfter die namhaftesten Schauspielertruppen Deutschlands unterwegs, wobei sie auch in den Städten, durch die sie reisten, das Interesse am Theater weckten. Dies hatte zur Folge, dass bis zum Ende des Jahrhunderts in allen oben genannten Städten die Basis für ein kontinuierlich betriebenes Theater geschaffen wurde. In St. Petersburg wurden während des 18. Jahrhunderts sowohl italienische, französische und deutsche als auch russische Truppen gefördert sowie Opern, Ballette und Dramen aufgeführt. In den 1780er Jahren ließ Katharina II., die an das Theater als an ein Aufklärungsmedium glaubte, mehrere Theatergebäude für die öffentliche Nutzung erbauen, und die deutsche Schauspielertruppe genoss um die Mitte des Jahrzehntes auch außerhalb der zahlenmäßig großen deutschen Gemeinde der Hauptstadt großes Ansehen.9 Zu Beginn der 1780er Jahre wurden auch in Riga, Dorpat und Reval entscheidende Schritte unternommen: In Reval gründeten ,Freunde der Bühne‘ mit August Friederich Ferdinand von Kotzebue (1761–1819), Friedrich Freiherr von Rosen (1740–1817) und Friedrich Gustav Arvelius (1753–1806) an der Spitze im Jahre 1784 ein Liebhabertheater, das in den Wintermonaten der nächsten zehn Jahre sowohl Kotzebues Schauspiele wie u. Leipzig 1776, S. 491: „Die Unparteilichkeit erfordert, die widrigen Folgen [...] mit gleicher Offenherzigkeit zu erzählen“; Anonymus: Ueber die Zulässigkeit der öffentlichen Schauspiele in Universitätsstädten. In: Wittenbergsches Wochenblatt zum Aufnehmen der Naturkunde und des ökonomischen Gewerbes. Johann Daniel Tietz Wochenblatts-Expedition 9, Nr. 37–39 (September 1776), S. 293–311, hier S. 293: „Ich kann meine Gedanken hier um so viel unpartheyischer sagen […].“ 7 Vgl. Livländische Chronik = Henrici chronicon Livoniae. Hg. v. Albert Karl Leo Bauer und Leonid Arbusow. Übersetzt v. Albert Karl Leo Bauer. Darmstadt 1959 (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters Bd. 24), S. IX, S. 14. 8 Vgl. Carola L. Gottzmann u. Petra Hörner: Lexikon der deutschsprachigen Literatur des Baltikums und St. Petersburgs: Vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Bd. 1. Berlin u. New York 2007, S. 97−99. 9 Vgl. ebd.

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auch andere populäre Komödien auf die Bühne brachte, wobei es den ganzen Erlös aus den Eintrittskarten für Hilfsbedürftige in Reval spendete. Während der gesamten Zeit war die Truppe auf die Verteidigung und Rechtfertigung ihrer Tätigkeit angewiesen, da ihr Unternehmen von einem gewissen Teil des Adels und des vermögenden Bürgertums ständig verspottet und verleumdet wurde.10 In der Stadt Dorpat ließ ein Baumeister im Jahre 1781 eine alte Kupferwerkstatt zu einem Theaterhaus mit 200 Plätzen umbauen und vermietete es den Wandertruppen, die sich oft in der Stadt aufhielten.11 Im Jahre 1804 unternahm eine aus Adligen und Gelehrten zusammengesetzte Interessengruppe, darunter der Medizinprofessor an der Universität Dorpat Daniel Georg Balk (1764–1826), den Versuch, in Dorpat ein Liebhabertheater zu gründen, um die Armenkasse zu füllen.12 Den beiden Theaterformen wurden Hindernisse in den Weg gelegt von der im Jahre 1802 wiedereröffneten Universität mit dem ersten Rektor, Mathematik- und Physikprofessor Georg Friedrich Parrot (1767–1852) und dem ersten, langjährigen Kurator Friedrich Maximilian Klinger (1752–1831) an der Spitze. Nach einer langjährigen Auseinandersetzung zwischen dem Gouverneur, dem Magistrat, dem Universitätsrat und dem Kurator sowie dem Bildungsministerium Russlands wurde in Dorpat im Jahre 1812 ein allgemeines Theaterverbot erlassen, das grundsätzlich bis 1867 aufrechterhalten blieb. In Riga, der größten Stadt und dem kulturellen Zentrum Est- und Livlands, hatte man bereits ab 1768 Versuche unternommen, eine Wandertruppe sesshaft werden zu lassen, doch zur Gründung einer eigenen Schauspielertruppe und zur Errichtung eines eigenen Theaterhauses kam es erst im Jahre 1782, als mit großer Feierlichkeit das Rigaer Stadttheater eröffnet wurde.13 Hinter diesen Bemühungen stand ein Vertreter des alteingesessenen Adels, der Rigaer Großhändler und Rat der livländischen Gouvernementsregierung, wirklicher Geheimrat der kaiserlichen Regierung, Gesundheitsminister und Senator, der sogenannte „Kleinkönig von Livland“14 Baron Otto Hermann von Vietinghoff-Scheel (1722–1792), der unter anderem auch das aus 24 Musikern bestehende Orchester unterhielt. Die Errichtung eines prächtigen Theater- und Vereinshauses mit 500 Plätzen, das der Baron neben seinem Stadthaus erbauen ließ, bezahlte er aus eigener Tasche und übernahm in den ersten Jahren auch dessen Leitung. 10 Für einen Überblick über die Ereignisse vgl. August Kotzebue: Nachricht von einem theatralischen Institut zu Reval, welches der Welt bekannt zu werden verdient. In: Kleine gesammelte Schriften des Herrn von Kotzebue, Präsidenten des Gouvernements-Magistrats in der Provinz Ehstland. Bd 2. Reval 1788, S. 343–374. 11 Vgl. Evald Kampus: Über die Geschichte des deutschen Theaters in Dorpat. In: Helmut Piirimäe u. Claus Sommerhage (Hg.): Zur Geschichte der Deutschen in Dorpat. Tartu 2000, S. 219–244, hier S. 232. 12 Vgl. Rahvusarhiiv [Nationalarchiv] Tartu. EAA.995.1.1808: Dorpater Magistrat. Akte betreffend die Veranstaltung von Theatervorstellungen und die Errichtung eines Liebhabertheaters in Dorpat (10.01.1800−15.05.1851). 13 Vgl. hierzu z. B.: Heinrich Bosse: Die Etablierung des deutschen Theaters in den russischen Ostseeprovinzen um 1800. In: Carola L. Gottzmann (Hg.): Unerkannt und (un)bekannt: Deutsche Literatur in Mittel- und Osteuropa. Tübingen 1991, S. 79−102. 14 Vgl. ebd., S. 86.

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Das Stadttheater wurde mit Lessings bürgerlichem Trauerspiel Emilia Galotti eröffnet, dem ein Ballett folgte. Am nächsten Tag wurde dem Publikum eine Komödie von Carlo Gozzi dargeboten und einige Tage später die erste Oper – Pierre Monsignys Die schöne Arsena – aufgeführt. Durch Vermittlung von Korrespondenten war man über die Ereignisse in den wichtigsten deutschen Theatern informiert, und für die Vorstellungen konnte das neueste Material beschafft werden. Vietinghoff unterstellte die Schauspielertruppe strengen Disziplinregeln, garantierte ihr ein Einkommen, führte für das Publikum das neue Abonnementsystem ein und gewährte den Schauspielern Zugang zu den Häusern des Rigaer Publikums, wobei er selbst beispielgebend voranging. Nachdem sich Vietinghoff im Jahre 1784 vom Rigaer Stadttheater zurückgezogen hatte, wurde die Leitung des Privatunternehmens von den Schauspielern Siegfried Gotthilf Koch (1754–1831) und Johann Christoph Gotthelf Meyrer (1749– 1810) übernommen. In den nachfolgenden Jahren 1784 bis1788 erlebte das Rigaer Stadttheater unter der Leitung dieser Männer seine erste künstlerische Blüte. Es erübrigt sich zu erwähnen, dass ebenso, wie es in der vorherigen Theatergeschichte in Est- und Livland überwiegend der Fall gewesen war, auch das Rigaer Stadttheater im künstlerischen Sinne ausschließlich für gut und sehr gut situierte Deutschbalten bestimmt war, während die Esten und Letten als Theaterpublikum und als Akteure erst ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Erscheinung traten. Während sich Kotzebue und Arvelius in zahlreichen Texten in aller Ausführlichkeit darüber beklagten, dass sie Verfolgungen ausgesetzt seien, und das Theaterleben in Dorpat zu Beginn des 19. Jahrhunderts in erster Linie eben in der Polemik bestand, so kommt in den Quellen, in denen die Anfangsjahre des von Vietinghoff gegründeten Rigaer Stadttheaters dokumentiert sind, in der Regel nur Begeisterung und Dankbarkeit zum Ausdruck.15 Dennoch ist in der Autobiografie des ersten künstlerischen Leiters des Theaters Johann Christian Brandes (1735–1799) über Vietinghoffs Abschied im Jahre 1784 der folgende Kommentar angeführt: „Der Geheimrath von Vietinghoff, […] dessen in der That uneigennütziges Streben, zum Vergnügen seiner Mitbürger zu wirken, dennoch von Vielen verkannt wurde, und der noch überdies den Verdruss hatte, zu hören, dass man in Petersburg, seiner guten Absicht den verhassten Anstrich zu geben suche, als wenn er nur auf sein Vergnügen dächte, und seine Pflichtgeschäfte darüber vernachlässigte – entschloss sich endlich, die ganze Entrepriese aufzugeben“.16

Ähnliche Beschuldigungen – die Vernachlässigung der Pflichten zugunsten einer Tätigkeit, deren Gemeinnützigkeit umstritten war – wurden auch gegen die Liebhaber in Reval und Dorpat erhoben. Der Behauptung, dass den Theateraktivitäten ein 15 Vgl. etwa August Friedrich Wilhelm von Kersten: Auszug aus dem Tagebuch eines Russen auf seiner Reise nach Riga. Riga 1783, S. 133−147; Friedrich Lacoste: Zur Geschichte des Rigischen Theaters. In: Rigisches Theaterblatt (1815), Z. B. S. 69 (Nr. 15); S. 80 (Nr. 18); Reinhold Berens: Geschichte der seit hundert und fünfzig Jahren in Riga einheimischen Familie Berens aus Rostock, nebst Beiträgen zur neuesten Geschichte der Stadt Riga. Riga 1812, S. 65. 16 Johann Christian Brandes: Meine Lebensgeschichte. Bd. 3. Berlin 1800, S. 50f.

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uneigennütziges Motiv zu Grunde läge, kam auch bei der Verteidigung des Revaler Theaters eine bedeutende Rolle zu.

3. Die Zeitschriftenausgabe Patriotische Unterhaltungen Einer der oben erwähnten Texte, in denen Argumente bezüglich der Nützlichkeit respektive Schädlichkeit des Theaters – in diesem Fall des Rigaer Stadttheaters – vorgebracht wurden, erschien in der 1785 in Riga herausgegebenen Ausgabe der Zeitschrift Patriotische Unterhaltungen.17 Was das Genre dieser Zeitschrift betrifft, so handelt es sich um ein interessantes Gebilde, in dem das in Deutschland im 18. Jahrhundert populäre Genre der Totengespräche mit einer akademischen Disputation verflochten wird, und wo sich der Autor, der als Ich-Erzähler fungiert, an der Erzählung in einer Weise beteiligt, die den Leser hinsichtlich seiner tatsächlichen Absichten und Schlussfolgerungen in Verwirrung bringen dürfte. Die 66 Seiten dieser Ausgabe sind in drei Teile geteilt: die „Einleitung“, die „Rede von der Entbehrlichkeit des Schauspiels in Riga“ des Geistes von Platon und die „Rede von der Notwendigkeit des Schauspiels in Riga“ des Geistes von Epikur. Auf unübliche Weise beginnt der Text weder mit der Begründung, warum über das Theater ein Urteil abgegeben werden soll, noch mit der Bekräftigung, dass der Autor durchaus unparteiisch sei, sondern mit einem Prolog in den elysischen Feldern, wo die Prophetin Sibylla aus der Oberwelt Zeichen erhalten hat, dass dort bald das goldene Zeitalter, das sie vor 3.000 Jahren prophezeit hatte, beginnt.18 Sibylla, die einen Vorwand dafür sucht, sich in die irdische Welt zu begeben, überzeugt den Herrscher der Unterwelt, Pluto, mithilfe des Plakats des Rigaer Stadttheaters, das für die Aufführung Elysium von Johann Georg Jacobi wirbt, von der Notwendigkeit, den „theatralischen Unfug, den die Dichterlein und Spielermein mit den heiligen Schatten ihrer Vorfahrer treiben, näher [zu] untersuchen.“19 Pluto schickt Sibylla tatsächlich mit einem Gefolge, dem Platon, Epikur und Diogenes angehören, im Sommer 1784 nach Riga, wo die Geister bis zum 7. Januar des nächsten Jahres verbleiben, bis es ihnen schließlich gelingt, sich das Schauspiel Elysium anzusehen. Von der ganzen Geschichte erfahren die Erdbewohner aufgrund des folgenden Ereignisses:20 Irgendwann in der zweiten Hälfte des Jahres 1784 erscheint Platons Geist zu später Nachtstunde im Kabinett des Rektors der Rigaer Domschule Karl Philipp Michael Snell (1753–1806), um ihn zu fragen, wie es komme, dass er nichts außer officio, das heißt, für ein breiteres Publikum schreibe? Der Geist betont, dass von Snell als einem gelehrten Mann mehr als nur die Wahrnehmung seiner Amtsaufgaben erwartet werde. Als sich im Laufe des nun folgenden Gesprächs heraus-

17 Karl Philipp Michael Snell: Patriotische Unterhaltungen. Riga 1785. Nach der ersten Ausgabe konnte trotz Snells großer Pläne nur noch eine Ausgabe im nächsten Jahr herausgebracht werden. 18 Ebd., S. 2. 19 Ebd., S. 4. 20 Ebd., S. 10–22.

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stellt, dass der 34-jährige Schulleiter weder durch Faulheit noch Gleichgültigkeit, sondern durch ins Schwanken geratenes Selbstvertrauen daran gehindert ist, ruft Platons Geist aus: „Rede nicht so! Ein Liebhaber der Wissenschaften muss nie den Muth sinken lassen!“ Der Geist liest Snells sämtliche Schulprogramme und das Manuskript eines topografischen Werkes durch und erteilt ihm allgemeine und konkrete Anweisungen zu einer aufklärerischen Publikation. Unter anderem stellt er klar, dass es die Pflicht eines gelehrten Mannes, Menschenfreundes und Patrioten sei, ohne Belohnung und Dank zu erwarten, alles Nötige zu fördern, zu verbessern, eigene Ideen einzubringen und seine Kenntnisse zu vermitteln, um zur Vervollkommnung der Welt beizutragen, das heißt, sich darum zu kümmern, dass das Leben der Menschen immer leichter, geschmackvoller und edler werde. Die Anerkennung durch die Mitbürger und ihr Respekt seien zweifelsohne erstrebenswert, doch sei es noch höher einzuschätzen, dass man im Leben „ein gutes Zeugnis“ erhalte, das der Seele nach dem Tod den Weg zu den elysischen Feldern öffne. Die Veröffentlichung der Patriotischen Unterhaltungen erscheint als direkte Folge dieses Ereignisses. Am letzten Abend versammelt sich im Kabinett des Rektors die ganze Unterweltgesellschaft, die sich zuvor im Stadttheater das Schauspiel Elysium angesehen hat, und nimmt ein Gespräch „über das Komödienwesen überhaupt“ auf.21 Platons Geist bringt seine Meinung zum Ausdruck, dass die Schauspiele in Riga „wonicht schädlich, doch gewiss entbehrlich seien“, und gerät mit seinem Freund Epikur „in Dispute“, wodurch sich für Snell die Möglichkeit eröffnet, die Reden der bedeutenden Persönlichkeiten der Antike aufzuzeichnen und – mit ihrer freundlichen Erlaubnis – in der ersten Ausgabe seiner neuen Zeitschrift zu veröffentlichen.

4. Das Problem mit der „kurischen Peitsche“22 Was Sibylla jedoch in Wirklichkeit interessiert, unterscheidet sich vom offiziellen Auftrag dieser Delegation. Eine ähnliche Verschiebung scheinen auch das Motiv für Snells Aufsatz und dessen explizites Erörterungsthema – das Rigaer Stadttheater – aufzuweisen. Es hat den Anschein, als ob es dem Autor der Gespräche auf die Beantwortung von Sibyllas Fragen zum goldenen Zeitalter in Hinblick auf die Stadt Riga und Livland ankommt. Die eben in Riga angekommene Sibylla ist nämlich vollständig verblüfft über den Wohlstand und den Geschmack der Stadt, was sie so weit im Norden gar nicht erwartet hatte – „als hätten hier von Anfang an aufgeklärte Menschen gelebt und gehandelt!“23 Platons Geist rät ihr jedoch, kein voreiliges Urteil zu fällen – dringe man mit einem sachkundigen und unparteiischen Blick unter die Oberfläche, so erweise sich, dass „es noch viel fehlet!“

21 Ebd., S. 22–24. 22 Ebd., S. 19. 23 Ebd., S. 6–9.

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Platons Geist schreckt nicht vor einer aufrichtigen Diskussion über das in Riga herrschende Wohlstandsniveau und die Gründe seiner Unsicherheit zurück, doch rät er Snell, heikle Themen zu vermeiden. Zum Teil aus eben diesem Grund muss Snell sein Manuskript Topographische Merkwürdigkeiten vom Rhein bis an die Düna verwerfen, auf dessen Inhalt die Frage des Geistes hinweist: „Was wilst du zB mit dem Kapitel, welches zur Ueberschrift hat, die kurische Peitsche?“ Snell bringt zu seiner Verteidigung vor: „In diesem Kapitel habe ich nur die Grausamkeiten der livländischen Starosten und Wacker schildern; keineswegs aber die Leibeigenschaft der Bauern selbst, als welche wesentlich zur Landesverfassung gehört, tadeln wollen.“ Dennoch rät Platon ihm, sich auf dieses Thema nicht näher einzulassen. Erstens trage er damit zur Erleichterung des Schicksals der unglücklichen Sklaven keineswegs bei, und zweitens sei es für Snell als einem Neuankömmling nicht vernünftig, dieses komplizierte Thema anzuschneiden: „[D]iese Materie ist auch wegen besonderer im vorigen Jahr vorgefallener ländlicher Begebenheiten, allzu delicat geworden, als dass ich dir rathen wollte, ein einziges Wort davon zu schreiben.“ Es ist mit ziemlicher Gewissheit anzunehmen, dass der Geist damit die livländischen Bauernunruhen aus dem Jahr 1784 meint. Ein innerer Dialog dieser Art war in Est- und Livland auch anderen bekannt. Snell war einer der vielen jungen Männer, die in den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts nach dem Studium an norddeutschen Universitäten hier oder in St. Petersburg eine Beschäftigung fanden und Karrieremöglichkeiten in Aussicht hatten, während es in Deutschland einen Überschuss an Gelehrten gab. In Anbetracht dessen, dass in Est- und Livland im 18. Jahrhundert eine eigene Universität fehlte, bestand ein dringender Bedarf an akademisch gebildeten Männern im Hinblick auf gut ausgebildete Fachkräfte ebenso wie auf die Bevölkerungsreproduktion, denn nur durch eine kontinuierliche Einwanderung von Deutschen konnten die Deutschbalten ihren Status als Oberschicht unter einer weitaus zahlreicheren nichtdeutschen Unterschicht aufrechterhalten.24 Viele dieser jungen Männer veröffentlichten über ihre Anpassungserfahrungen sogenannte Migrationsberichte, die einen Einblick in ihre physische und mentale Reise ermöglichen, die sie als junge Akademiker durchmachen mussten. Als Deutsche konnten sie hier deutlich größere materielle Vorteile und ein höheres soziales Prestige genießen als in Deutschland. Doch hatte die überwiegende Mehrheit von ihnen große Schwierigkeiten, sich dem niedrigen Bildungsniveau der meisten Arbeitgeber und dem spärlichen Geistesleben an der Peripherie anzupassen, die Leibeigenschaft hinzunehmen, sich mit der äußerst schwierigen Lage der Leibeigenen sowie mit der Brutalität, mit der sie von der deutschen Oberschicht oft behandelt wurden, abzufin24 Vgl. Ulrike Plath: Esten und Deutsche in den baltischen Provinzen Russlands: Fremdheitskonstruktionen, Lebenswelten, Kolonialphantasien 1750−1850. Wiesbaden 2011 (Veröffentlichungen des Nordost-Instituts Bd. 11), S. 40−67. Mit Bezug auf Snell vgl. Hans Graubner: Ständisches und aufgeklärtes Denken zur Statthalterschaftszeit in Riga (Schwartz, Berens, Snell). In: Norbert Angermann u. Klaus Neitmann (Hg.): Von regionaler zu nationaler Identität. Beiträge zur Geschichte der Deutschen, Letten und Esten vom 13. bis zum 19. Jahrhundert. Lüneburg 1998, S. 173–194.

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den.25 Während die Deutschbalten in vielen Reiseberichten und Erzählungen für ihre außergewöhnliche Gastfreundschaft und Herzensgüte gerühmt werden,26 wird an anderen Stellen der Schock beschrieben, den man als Augenzeuge eines grausamen Vorfalls erlitten hat, und z. B. konstatiert: „Menschenfreundlichkeit ist auf den Lippen, aber nicht im Herzen – wenigstens gegenüber den Bauern nicht.“27 Die Rückkehr nach Deutschland erwies sich aber als keineswegs einfach: Snell, der im Jahre 1780 mitsamt Frau und Kindern aus Gießen angereist war, hatte fast von seiner Ankunft an unaufhörlich Briefe in die Heimat geschickt in der Hoffnung, dort erneut eine Stelle zu finden,28 musste aber mit der Möglichkeit rechnen, bis zum Ende seines Lebens in Riga zu verbleiben.

5. Das Theater – ein geeignetes Gesprächsthema Statt der Erörterung der Leibeigenschaft empfiehlt Platon: „Wähle hauptsächlich alles, was hier zu Lande national ist, und was die Erziehung, die Sitten, die Aufklärung, die öffentliche und besondere Glückseligkeit der Menschen betrifft, zu deinem Gegenstand.“29 Dementsprechend erschien das Material des Kapitels „Kurische Peitsche“ erst zehn Jahre später, als Snell, nachdem er 1787 nach Deutschland zurückgekehrt war, ein umfangreicheres Werk unter dem Titel Beschreibung der russischen Provinzen an der Ostsee veröffentlichte, wo er im Abschnitt „Zustand der lettischen und esthnischen Bauren“ auch auf die Leibeigenschaft einging.30 Der Aufsatz aus dem Jahr 1785 bezog sich stattdessen auf das Rigaer Stadttheater. Auch hinsichtlich dieses Themas riet Platon Snell davon ab, übermäßige Kritik zu üben. Vielmehr sollte er „überall Menschenliebe und Bescheidenheit durchscheinen“ lassen, sich mit dem Publikum auf unterhaltsame Weise zu befreunden versuchen und sich „vor dem Fehler derjenigen Schriftsteller [...] hüten, welche, indem sie alle Vorurtheile unter die Füsse getreten zu haben, vorgeben, alle vorkommende Dinge allein am besten verstehen wollen, über andere Menschen wegsehen, und dadurch in eine Tadelsucht verfallen, welche sie nicht selten nötigt, ihre übereilten Urtheile mit Beschämung dem Publicum abzubitten.“31 Vielleicht hat der Autor aus diesem Grund zur Behandlung des Themas die antiken Philosophen nach Riga geholt und sich selbst mit der Rolle einer Nebenperson begnügt?

25 Vgl. Plath: Esten und Deutsche (= Anm. 24), S. 60. 26 Vgl. z.  B. Joseph Anton Christ: Schauspielerleben im achtzehnten Jahrhundert. Leipzig 1912, S. 191. 27 So Christian Hieronymus Justus Schlegel, der im Jahre 1780 aus Jena nach Estland reiste und als Hauslehrer angestellt wurde, hier zit. nach: Plath: Esten und Deutsche (= Anm. 24), S. 65f. 28 Vgl. Friedrich Wilhelm Strieder: Grundlage zu einer Hessischen Gelehrten- und Schriftsteller-Geschichte, seit der Reformation bis auf gegenwärtige Zeiten. Bd. 15. Kassel 1806, S. 41–53. 29 Snell: Patriotische Unterhaltungen (= Anm. 17), S. 20. 30 Karl Philip Michael Snell: Beschreibung der russischen Provinzen an der Ostsee. Jena 1794, S. 163– 179. 31 Snell: Patriotische Unterhaltungen (= Anm. 17), S. 21.

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Zu Platons Ratschlägen eignete sich auch das zur Behandlung des Theaters gewählte Format – eine traditionelle akademische Disputation, das heißt, ein vor dem Publikum ausgetragenes und bestimmten Regeln folgendes argumentatives Streitgespräch zwischen Gelehrten, die gegensätzliche Positionen einnehmen.32 Platons These, dass „die Schauspiele in Riga wo nicht schädlich, doch gewiss entbehrlich seien“, erfüllte sehr genau die Kriterien einer Disputationsthese:33 Es handelte sich nicht um ein Axiom, das nicht bestritten werden konnte. Im Unterschied zur Anzweiflung der Leibeigenschaft rüttelte sie nicht an den Hauptgrundlagen des sozialen und politischen Lebens, auch stellte sie keine bedeutungslose oder ordinäre Proposition dar. Sie stachelte weder zum Unglauben gegenüber dem Staat oder der Kirche an noch verstieß sie gegen die guten Sitten. Sie war zwar provokativ, aber zugleich glaubwürdig, angenehm und nützlich in dem Sinne, dass sie es dem Opponenten – in diesem Fall dem Geist von Epikur – ermöglichte, auf die schwachen Seiten der These einzugehen und dadurch die Auffassungen aller Beteiligten hinsichtlich dieser Frage auszuweiten. Über die betreffende Frage wusste Snell vor der Ankunft in Riga anscheinend besser Bescheid als über das Theater selbst, da er in Gießen in einer Zeit studiert und gearbeitet hatte, als die dortige Universität sowohl die Aufführungen der Wandertruppen als auch die Studentenkomödien mit wechselndem Erfolg zu verbieten versuchte.34 Ebenso gab es damals auch in Göttingen keine Theateraufführungen,35 wohin Snell eine längere Reise unternommen hatte. Snell erreichte Riga just in der Zeit, als das Stadttheater gegründet wurde und seine erste Blütezeit erlebte. Dass er an seiner Tätigkeit beteiligt war, lässt sich sowohl aus den Patriotischen Unterhaltungen wie auch aus der im Jahre 1784 erschienenen Programmschrift Von dem moralischen Werth des Schauspiels 36 schlussfolgern: Während er im Gespräch mit den Geistern behauptet, „ein großer Liebhaber des Schauspiels“37 und außerdem ein guter Freund des Theaterleiters Meyrer zu sein, analysierte er im Schulprogramm die Inszenierungen, die er sich dort angesehen hatte.

6. Platons Geist gegen die Rigaer Schauspiele Platon macht in seiner Rede eine Pause, um Vietinghoffs Edelmut und Patriotismus zu verherrlichen, die es einem nicht verübeln, wenn man „das Beste des Publicums öffentlich und freimüthig“ prüft, obwohl „mancher denken wird, dieser Herr könnte auf mich ungnadig werden, wenn Er mein Raisonnement über Sein Institut 32 Vgl. Ku-ming Chang: From Oral Disputation to Written Text: The Transformation of the Dissertation in Early Modern Europe. In: History of Universities 19 (2004), H. 2, S. 127–185. 33 Vgl. Ebd., S. 136. 34 Vgl. Karl Gustav Konrad: Die deutsche Studentenschaft in ihrem Verhältnis zu Bühne und Drama. Berlin 1912, S. 190. 35 Vgl. Otto Deneke: Göttinger Theater im achtzehnten Jahrhundert. Göttingen 1930, S. 41f. 36 Karl Philip Michael Snell: Von dem moralischen Werth des Schauspiels. Riga 1784. 37 Snell: Patriotische Unterhaltungen (= Anm. 17), S. 43.

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vernähme“.38 Vermutlich weiß der Geist über die gegen den Kleinkönig von Livland erhobenen Vorwürfe Bescheid, denn er erklärt, dass „Sein theatralisches Institut […] Ihm selbst auch bereits zu viele Aufopferung gekostet hat, als dass der Verdacht eines niedrigen Eigennutzes, der von Ihm weit entfernt ist, bei irgend einem vernünftigen Menschen Eingang finden sollte“. Im Übrigen sei jedem bekannt und auch in Berliner Theaterzeitschriften zu lesen, dass Vietinghoffs Motiv unter anderem „wohlthätige Absicht sei […], zugleich vermittelst guter Theaterstücke, eine Art von neuer Aufklärung zu verbreiten“.39 Auch Platon zählt am Anfang seiner Rede zum Lob des Theaters eine ganze Reihe von gemeinnützigen Eigenschaften auf und beteuert, dass das Theater „im Ganzen zur Aufklärung und zur Verschönerung einer Stadt ungemein viel beiträgt.“40 So hat es den Anschein, dass Platons Geist von den Argumenten gegen die Theaterkunst Abstand nimmt, die er in seinem bekanntesten Dialog Politeia vorgebracht hatte, wobei diese Argumente nicht aufgegriffen werden. Stattdessen stützt sich der Geist auf Platons Dialog Nomoi (Gesetze), der den Entwurf der besten Gesetze für die noch zu gründende Kolonie zum Gegenstand hat, und in dem bei der Beurteilung der Nützlichkeit oder Schädlichkeit eines Phänomens dem wirtschaftlichen Aspekt eine wichtige Rolle zukommt.41 Der Platonsche Geist ist auch mit den im 18. Jahrhundert in Deutschland verbreiteten ökonomischen Theorien, darunter mit der Kameralwissenschaft, die gerade an deutschen Universitäten unterrichtet wurde, gut vertraut. So erklärt Platons Geist, dass er das Rigaer Theaterhaus „bloß von der ökonomischen Seite“ betrachte, und sein Hauptargument kann wie folgt kurz zusammengefasst werden: Werden auf einer Fläche von 3.000 Quadratmetern 500 Quadratmeter als „Lustrevier“ ausgewiesen, so erwächst daraus dem Gartenbesitzer kein allzu großer Schaden, doch werden im Garten mit einer Fläche von nur 500 Quadratmetern ebenso viele Alleen und Lustfelder angelegt und Gartenhäuschen errichtet, so wäre dies „Thorheit“. Die gleiche Logik müsse in Hinsicht auf öffentliche Vergnügungen gelten, und die Schauspiele seien mit demselben „Lustrevier“ zu vergleichen. Der Geist befürchtet, „dass bey genauer Untersuchung seines Verhältnisses, in welchem es gegen die innere Stärke des Staats stehet, es an vielen Orten für allzu gros und übermässig angenommen, und daher auf einen verhältnismäsigern Fus zurückgesetzt, oder wenn dieses nicht thunlich ist, gar abgeschaft werden müsse“.42 Am Beispiel von Riga unternimmt er den Versuch, den Umfang des wirtschaftlichen Einflusses des Theaters möglichst genau zu berechnen, vergleicht die jährlichen Ausgaben und Einnahmen der Stadt, schätzt das Ausfuhrvolumen, das Ausmaß des Geldabflusses sowie das Tempo des Geldumlaufs und zieht einen pessimistischen Schluss: Die Stadt komme kaum über die Runden und bei der Errichtung des The38 39 40 41

Ebd., S. 25–50 (Platons Rede). Ebd., S. 46. Ebd., S. 26. Vgl. Platon: Nomoi (Die Gesetze). Übersetzt v. Franz Susemihl. In: Platons Werke. Gruppe 4. Bändchen 9–15. Stuttgart 1862/1863. 42 Snell: Patriotische Unterhaltungen (= Anm. 17), S. 26f.

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aters handele es sich um eine Investition, die nicht im richtigen Verhältnis zu ihrer Größe und inneren Sicherheit stehe. Auf Empfehlung von Platons Geist müsse man auf dieses übermäßig feine und kostspielige Luxusgut zugunsten der Fähigkeit, wichtigere Bedürfnisse zu befriedigen, verzichten.

7. Volksaufklärung, Wirtschaftskrise und Luxusdebatte Es gibt mehrere gute Gründe, warum Platons Geist eben die Wirtschaft in den Fokus nimmt.43 Der erste ist Snells voraussichtliches Interesse an der Volksaufklärung, worauf Platons Geist in der Einleitung eingeht, wo er Rigas Mängel aufzählt: „Noch fehlt es dem gemeinen Mann an Aufklärung“, und worauf auch Snells spätere Vorschläge zur Verbesserung der Lage der Bauern hinweisen.44 In Anbetracht dessen, dass von völlig rechtlosen Menschen, die Hunger leiden und mit Arbeit überlastet sind, weder geistiges noch moralisches Gedeihen erwartet werden konnte, legte die volksaufklärerische Tätigkeit das Hauptgewicht auf die Fragen des materiellen Wohlstandes der Bauern – etwa auf die Propagierung des Kartoffelanbaus und Ähnliches. Zweitens war die auf der Leibeigenschaft beruhende Landwirtschaft in Est- und Livland in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in eine tiefe Krise geraten. Über deren Ursachen wird angenommen, dass im Hinblick darauf, dass die Rechte und Privilegien der Gutsbesitzer gewährleistet waren und sie über freie Arbeitskräfte verfügten, nicht in Neuerungen und die Steigerung der Arbeitsproduktivität investiert wurde. Stattdessen wurde ein erheblicher Teil der Einkünfte für Luxusgüter und die Errichtung imposanter Gutshäuser aufgewandt, um die standesgemäße Lebensweise aufrechtzuerhalten.45 Diese Ursachen wurden auch in der damaligen Zeit schon gesehen, doch angesichts des Umstandes, dass die Lösung des ersten Teils dieser Gleichung bahnbrechende sozioökonomische Veränderungen sowohl in Hinblick auf das Denken als auch in der Gesellschaft bedeutet hätte, zog man es vor, sich auf den zweiten Teil zu konzentrieren. So geschah es, dass man auf den im Jahre 1780 abgehaltenen Landtagen der estländischen wie auch der livländischen Ritterschaft beschloss, zur Lösung des immer dringlicher gewordenen Problems traditionelle Luxusordnungen zu verabschieden, die darauf abzielten, den Konsum von Luxusgütern zu verringern, indem die Reichhaltigkeit der Nahrung, der Transportmittel und der Bekleidung der Adligen geregelt wurde.46 43 Alternative Argumente konnten sich auf die Religion, die Moralfragen, die Sicherheit u. ä. stützen. Über den Rückzug religiöser Argumente aus dem öffentlichen Raum vgl.: Tiina-Erika Friedenthal u. Meelis Friedenthal: The Use and Abuse of Performative Arts for Religion and Society. In: Baltic Journal of Art History 8 (2014), S. 119–156. 44 Vgl. Snell: Beschreibung der russischen Provinzen (= Anm. 30), S. 161f. 45 Vgl. Andres Kasekamp, Marek Laane, Kai Nurmik u. Joonas Rumvolt: Balti riikide ajalugu [Geschichte der baltischen Staaten]. Tallinn 2011, S. 80. 46 Vgl. Matthias Müller: Das Konsumverhalten der Deutschbalten in Est- und Livland während der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. In: Anne Sommerlat-Michas (Hg.): Das Baltikum als Konst-

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Obgleich eine übermäßige Vergeudung im Allgemeinen verurteilt wurde, so stießen die Landtagsbeschlüsse doch auf heftige Kritik und lösten in Est- und Livland eine Luxusdebatte aus. So schrieb etwa der Rigaer Ratsherr Johann Christian Berens (1729– 1792), der sich durch aufklärerische Ansichten auszeichnete, dass „das kranke Land“ mit dem Einfluss des Bargeldes und der Verhinderung seines Ausflusses geheilt werden müsse, wobei die lokale Industrie gefördert, nicht aber dilettantisch versucht werden müsse, „durch die Regelung der Kleidermode dem Bargeldmangel abzuhelfen“.47 Ein anderer alteingesessener Livländer, der Pastor der St.-Georgs-Gemeinde in Lais (Laiuse), Johann von Jannau (1753–1821), war hingegen der Auffassung, dass die Rezession auf problematische Grundsätze der Livländer und auf ihre Lebensführung zurückzuführen sei; deren Verbesserung müsse man unter anderem mit der Gründung ordentlicher Schulen, nicht aber mit der Einführung der Bekleidungsgesetze in Angriff nehmen.48 Besonders gründlich setzte sich mit dieser Frage der Pastor in Oberpahlen (Põltsamaa) August Wilhelm Hupel (1737–1819) in zwei im Jahre 1781 veröffentlichten Texten auseinander: Der Luxus in unsern Nordländern und Noch etwas für Feinde und Freunde des Luxus.49 Hupel bestritt, dass die Livländer großen Luxus im Sinne einer maßlosen Vergeudung trieben. Er wandte vielmehr ein, dass man sich den Luxus, sich das Leben angenehm zu gestalten, hier in größerem Umfang leisten könne, da die Ressourcen und Möglichkeiten für die Produktion eines Überschusses, der diesen Luxus erst ermögliche, in Livland in einem größeren Umfang vorhanden seien als in den alten europäischen Ländern, wo das Klima wärmer sei. Auch wenn der Umfang des vorliegenden Aufsatzes es nicht ermöglicht, eine gründliche Übersicht über die Luxusdebatten im 18. Jahrhundert sowohl in Europa als auch in Estland und Livland zu geben, so sei jedoch angemerkt, dass eine gewisse Informiertheit darüber eine Voraussetzung für das Verständnis der Theaterpolemiken des 18. Jahrhunderts wenigstens in Verbindung mit Est- und Livland ist. Die fingierten Reden von Platon und Epikur verweisen direkt auf diese Luxusdebatte sowohl durch die Wiederholung der jeweiligen Stichworte (Luxus, Überschuss, Konsumzunahme, eine Welt ohne Luxus) als auch durch die Fragestellung (das Wesen und die Arten der Verwendung des Überschusses). Dabei lässt sich ein maßgeblicher Einfluss der Luxusdebatte auch auf die zur gleichen Zeit ausgetragene Polemik über Kotzebues Liebhabertheater in Reval wahrnehmen. Die Luxusdebatte spiegelt sich auch im Repertoire der beiden Theater wider – sowohl in Riga als auch in Reval wurde in der ersten Saison Gustav Friedrich Wilhelm Großmanns (1746–1796) sozialkritisches Schauspiel Nicht mehr als sechs Schüsseln aufgeführt, das sich mit den Luxusfragen auseinandersetzt. rukt (18.−19. Jahrhundert): Von einer Kolonialwahrnehmung zu einem nationalen Diskurs. Würzburg 2015, S. 237–254, S. 243 u. S. 247. 47 Johann Christoph Berens: Für und wider die Einführung neuer Gesetze zur Einschränkung des Luxus in Liefland. Drei Aufsätze. In: St. Petersburgisches Journal. Oktober 1780, S. 235–252, hier S. 238. 48 Vgl. Heinrich Johann von Jannau: Sitten und Zeit. Ein Memorial an Lief- und Estlands Väter. Riga 1781, S. 25. 49 August Wilhelm Hupel: Der Luxus in unsern Nordländern und Noch etwas für Feinde und Freunde des Luxus. In: Nordische Miscellaneen (1781), S. 113–147 u. S. 147–173.

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8. Platon, Epikur und Diogenes als Beteiligte an der Luxusdebatte Das Fragen nach der Zulässigkeit von Luxus, die offensichtlich in eine noch frühere Zeit als Platons Politeia zurückreicht, war schwungvoll auf die Tagesordnung gesetzt in Zusammenhang mit den ersten Anzeichen des modernen Wirtschaftswachstums und einer ,Konsumrevolution‘ des Aufklärungsjahrhunderts, die sich durch eine rasche und bemerkenswerte Ausbreitung von Porzellan, Essbesteck sowie bestimmter Möbel- und Kleidungsstücke auszeichnete. Ergänzt wurde dies durch den ,Kulturkonsum‘ – Theaterbesuche, die Anschaffung von Kunstgegenständen, Musikinstrumenten und Büchern.50 In den Luxusdebatten wurden Fragen der Ethik, der Wirtschaftspolitik sowie der Künste und Wissenschaften miteinander verflochten, und die heftigsten Streitigkeiten wurden eben über deren Wechselverhältnis ausgetragen. Das Theater als eine Kunstform, die in jeder Hinsicht auf umfangreiche Ressourcen angewiesen ist, war in dieser Debatte ein übliches Diskussionsobjekt. Rousseaus berühmte Ansprache gegen das Theater etwa war eben durch seine grundsätzliche Stellungnahme gegen den Luxus – und somit auch gegen die ganze Zivilisation veranlasst. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts war der Luxus als Komfort des modernen Lebens zwar im Allgemeinen akzeptiert. Kontrovers wurde aber verhandelt, wie der Überschuss in einer vernünftigen und geschmackvollen Weise verwendet werden sollte, wobei man den Wohlstand zur Verfolgung gemeinnütziger Zwecke, unter anderem zur Förderung der Künste und Wissenschaften, guthieß, einen ‚barbarischen‘ und ‚wilden‘ Luxus, der etwa einer nutzlosen und egoistischen Selbstdemonstration diente, aber eher ablehnte.51 In den Mittelpunkt der Debatte rückte die Gegenüberstellung zwischen einem „ungeregelten“ und einem „gut geregelten“, einem „epikureischen“ versus einem „patriotischen“ Luxus.52 Ohne Rücksicht auf die Luxusdebatte lässt sich von den handelnden Figuren der Patriotischen Unterhaltungen nur Platon verstehen, der nach traditioneller Auffassung den Grund zu der in der westlichen Kultur ausgetragenen Polemik gegen das Theater gelegt hatte. Epikur und Diogenes dagegen haben sich bekanntlich nicht über das Theater geäußert, doch kommt den beiden eine wichtige Rolle in den Luxusdebatten des 18. Jahrhunderts zu. Die Rezeption von Epikur war bereits seit der Antike widersprüchlich gewesen: Für seine Lebensphilosophie, in der es um die Suche nach dem Seelenfrieden geht, bekundete man Sympathie, sein Materialismus bereitete dagegen Probleme und sein Lustprinzip wurde ständig verzerrt dargestellt.53 50 Vgl. Müller: Konsumverhalten (= Anm. 46), S. 238. 51 Vgl. Dena Goodman: Furnishing Discourses: Readings of a Writing Desk in Eighteenth-Century France. In: Maxine Berg u. Elisabeth Eger (Hg.): Luxury in the Eighteenth Century: Debates, Desires and Delectable Goods. Basingstoke 2016, S. 71–88, hier S. 73−75. 52 Istvan Hont: The Early Enlightenment Debate on Luxury and Commerce. In: Mark Goldie u. Robert Wokler (Hg.): The Cambridge History of Eighteenth-Century Political Thought. Cambridge u. New York 2006, S. 379–418, hier S. 380f. 53 Vgl. Dorothee Kimmich: Lob der ‚ruhigen Belustigung‘. In: Friedrich Vollhardt (Hg.): Christian Thomasius (1655−1728). Neue Forschungen im Kontext der Frühaufklärung. Berlin u. Boston 1997, S. 379–394.

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Wenngleich seit der Zeit des Humanismus eine ‚Rehabilitierung‘ Epikurs erfolgt war, so hatte die Bezeichnung ,Epikureer‘ in erster Linie eine polemische Intention.54 In der Luxusdebatte nahm Epikur sowohl im positiven als auch im negativen Sinne eine zentrale Rolle ein: Mit Bezug auf seine Philosophie wurde auf der einen Seite ein natürlicher Hang des Menschen zum Genuss und die Unentbehrlichkeit des Vergnügens für die Glückseligkeit akzeptiert, auf der anderen Seite wurde mit dem Wort ,epikureisch‘ eine Lebensweise bezeichnet, die auf grenzenlosen und egoistischen Genuss ausgerichtet ist. Auch in den Patriotischen Unterhaltungen sind diese beiden Seiten vertreten – der Geist von Epikur, der zum Fürsprecher der Rigaer Schauspiele gewählt wurde, ist äußerst zivilisiert, angenehm, intelligent und von gutem Geschmack, doch nimmt er weder die Mängel der Stadt Riga noch die trostlose Lage der Armen wahr, auch kümmert er sich nicht um das Wohl der Stadt als Ganzes. Als die Delegation in Riga ankommt und Platons Geist mit Sibylla über ihre ersten Eindrücke zu reflektieren beginnt, wird es Epikur langweilig und er geht stattdessen in die Stadt spazieren, um sich Frauen anzusehen. Er verherrlicht den Luxus und den Genuss wie auch Hupel in seinen Aufsätzen, doch erwähnt er bei der Beschreibung der Genüsse eines aufgeklärten Menschen ausschließlich individuelle Bequemlichkeiten: feine Bekleidung, feines Essen und feine Lebensbedingungen, wobei seine Argumente im Unterschied zu Hupel nicht auf gemeinnützige Themen wie etwa die Wissenschaften und Künste hinauslaufen.55 Bei Diogenes handelt es sich im Aufklärungsjahrhundert um eine noch widersprüchlichere Figur, mit deren Namen sowohl ein Kompliment als auch eine Verspottung verbunden werden konnte.56 Rousseau, der das Theater als die erste Stufe des Verfalls der Stadt Genf beschrieben hatte, wurde von Voltaire und anderen Aufklärern als Diogenes im Sinne eines vernunftwidrigen Radikalismus verspottet.57 Wäre in den Patriotischen Unterhaltungen die Rede gegen das Theater von Diogenes vorgetragen worden, so hätte man die Argumente gegen das Theater als lächerlichen Radikalismus wahrgenommen. Doch lässt Snell ihn beinahe nicht zu Wort kommen – den berühmten Kyniker scheinen in Riga in erster Linie die im Hafen befindlichen Fässer zu interessieren, und wenn er im Laufe der Debatte auch etwas gesagt haben sollte, so wurde dies von Snell nicht aufgezeichnet. Der verantwortungsbewusste und methodische Geist Platons hingegen lässt seine Aufmerksamkeit nicht vom Hauptziel ablenken und wird der aufklärerischen Diskussionen zum Thema der Vervollkommnung der Welt, die er sowohl mit der „aufmerksamen Sibylla“58 als auch mit dem Rektor der Domschule führt, nicht über54 Vgl. Jochen Schmidt: Für und wider die Lust: Epikur und Antiepikureismus von der Antike bis zur Moderne. In: Ders. (Hg.): Aufklärung und Gegenaufklärung in der europäischen Literatur, Philosophie und Politik von der Antike bis zur Gegenwart. Darmstadt 1989, S. 206–219, hier S. 214. 55 Vgl. Hupel: Der Luxus (= Anm. 49), S. 133. 56 Vgl. Heinrich Niehues-Pröbsting: The Modern Reception of Cynicism: Diogenes in the Enlightenment. In: Robert Bracht Branham u. Marie-Odile Goulet-Cazé (Hg.): The Cynics: The Cynic Movement in Antiquity and Its Legacy. Berkeley 2007, S. 329–365, hier S. 333. 57 Vgl. ebd., S. 340–345. 58 Snell: Patriotische Unterhaltungen (= Anm. 17), S. 9.

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drüssig. Das zentrale Prinzip der Nomoi lautet, dass die Glückseligkeit sowohl eines Individuums als auch einer Stadt bzw. eines Staates dadurch gewährleistet wird, dass man auf einem schmalen Mittelweg zwischen zwei natürlichen Trieben – der Furcht als Erwartung eines Schmerzes und der Hoffnung als Erwartung von Lust – das Gleichgewicht zu halten vermag.59 Und im Verhältnis zu Diogenes und Rousseau wird Platon auch vom Geist des Epikur auf die „Mittelstraße“ platziert.60 Platons Geist in Riga stimmt im wichtigsten Punkt „mit seinem Freund Epikur“61 bzw. mit dem in der Luxusdebatte bekannten ‚epikureischen Wirtschaftsprinzip‘ völlig überein, nämlich darin, dass die Zivilisation, Aufklärung, Sittlichkeit, die Wissenschaften und Künste, der Handel, der Geld- und Warenumlauf usw. zweifelsohne vorteilhaft sind. Ihm kommt es dabei jedoch auf eine gleichmäßigere Verteilung des Wohlstandes und des Überschusses in der Gesellschaft an. Dies unterscheidet ihn vom Geist des Epikur, der den Armen überhaupt keine Aufmerksamkeit zuteilwerden lässt, oder auch von Hupel, der die Leibeigenschaft als einen Vorteil Livlands darstellte, der es der deutschen Oberschicht ermöglicht, den notwendigen Überschuss zu erwirtschaften, durch den sie sich den aufgeklärten Luxus leisten und ihr Leben hier in einem rauen Klima lebenswert und angenehm gestalten können.62 Es sei hierbei noch hinzugefügt, dass nach Hupels Auffassung auch den Esten ihr ‚barbarischer‘ Luxus – die Prasserei in der herbstlichen Erntezeit – großzügig zugestanden werden konnte, da er durch ihre Notlage im Winter wieder ausgeglichen würde.63 Während der Pastor von Oberpahlen (Põltsamaa), der selbst Leibeigene besaß, seine Gegner verspottete, die eine vollständige Gleichstellung anstrebten, da diese zum einen unmöglich und zum anderen nicht zweckmäßig sei,64 betonte Platons Geist – wie übrigens auch Platon selbst in seinen Nomoi –, dass es für die Glückseligkeit der Gesellschaft darauf ankomme, dass die Arbeiten und Güter mit nur mäßigen Unterschieden verteilt seien, damit sich die Gesellschaft nicht aus nur wenigen sehr reichen Leuten und aus einer großer Menge sehr armer Menschen zusammensetze.65 Zwar nehme der Fremde, der vom feinen Luxus begeistert werde, neben prächtigen Palästen und anderen großartigen Sehenswürdigkeiten nicht die große Menge notleidender Armer wahr, doch in Wirklichkeit sei ein Staat glücklicher, in dem sowohl die Arbeiten als auch die Güter zwischen den Einwohnern gleichmäßiger verteilt seien. Hinzu komme, dass die wahre Glückseligkeit eines Staates beziehungsweise das von Sibylla prophezeite goldene Zeitalter nicht erreicht werden könne, wenn man den Dingen ihren Lauf lasse. Dies sei nur dann möglich, wenn man die ganze Gesellschaft der Aufsicht der Vernunft, darunter auch notwendigen Beschränkungen unterstelle.

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Vgl. Platon: Nomoi (= Anm. 41), z. B. 644c–645c, 792c–793a. Snell: Patriotische Unterhaltungen (= Anm. 17), S. 53. Ebd., S. 23. Vgl. Hupel: Der Luxus (= Anm. 49), S. 137−139. Vgl. ebd., S. 146. Vgl. ebd., S. 132. Vgl. Snell: Patriotische Unterhaltungen (= Anm. 17), S. 33 u. S. 39.

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9. Das Urteil über die Stadt Riga Die Stellungnahme zur Luxusfrage war am Ende des 18. Jahrhunderts in Est- und Livland auf die eine oder andere Weise mit dem Urteil über die gesellschaftliche Ungleichheit, starre Standesschranken und die Sklaverei verbunden. Deshalb kann man sagen, dass der Gegenstand, über den in den Patriotischen Unterhaltungen eigentlich diskutiert wird, nicht so sehr das Rigaer Theater, sondern vielmehr das Wohlstandsniveau der Stadt und seine sozioökonomische Nachhaltigkeit ist. Das, was Platons Geist verurteilt, ist weder das Theater im Allgemeinen noch das Rigaer Stadttheater im Besonderen, sondern die Stadt Riga und die Ostseeprovinz Livland, die nur bei vordergründiger Betrachtung einen verblüffend prächtigen Eindruck machen: Denn man thut der Stadt und dem Lande Unrecht, wenn man sie schon jetzo auf den Gipfel der Vollkommenheit setzt. Noch fehlt es an Fabriken und Kunstwerkstätten; noch fehlt es dem gemeinen Mann an Aufklärung; dem Gelehrten fehlet es an Mitteln, seine Kenntnisse zu erweitern, weil er die meisten Bücher ausser Lands hernehmen muss; dem Reichen fehlet es an Gelegenheit, für sein Geld ein reelles Vergnügen zu verschaffen; und dem Armen fehlet es ohnehin an allem, wie in der ganzen Welt. O, es fehlet noch viel!66

Dass diese Botschaft bei den Rigensern angekommen ist, geht aus den Ausführungen in Snells Autobiographie hervor: Auch hatte ich vor Ostern das erste Stück meiner Patriotischen Unterhaltung herausgegeben, welches, weil es sich für das Rigische Schauspieler-Institut, in Ansehung des dadurch entstehenden Aufwandes, nicht vorteilhaft erklärte und überhaupt den sinkenden Wohlstand von Riga zu klar schilderte, von dem grössten Theil der Einwohner übel aufgenommen wurde.67

10. Zusammenfassung Stellt man die etwa zur gleichen Zeit verfassten Texte zur Theaterpolemik aus Riga, Dorpat und Reval nebeneinander, so kommen sowohl ihre jeweiligen Besonderheiten als auch die Aspekte, die bei einer gesonderten Betrachtung unbemerkt bleiben, besser zum Vorschein. Die Patriotischen Unterhaltungen samt anderen Texten von Snell stellen in dieser Hinsicht ein gutes Material dar, das es ermöglicht, auf die Fragen zum Theater einzugehen, die in erster Linie von den gebildeten und pflichtbewussten Menschenfreunden gestellt wurden, denen an der Verbesserung der Welt lag und die ihre Taten und auch ihre unterlassenen Taten eben von diesem Standpunkt aus beurteilten.

66 Ebd., S. 8. 67 Zit. nach Wilhelm Diehl: Des Rigaer Rektors und Butzbacher Pfarrers Karl Philipp Michael Snell Selbstbiographie. Mitgetheilt von Wilhelm Diehl. In: Beiträge zur hessischen Schul- und Universitätsgeschichte 4 (1918), S. 56–79, hier S. 67f.

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Besonders anschaulich zeigt sich hierbei, inwieweit die Fragen zum Theater eines konkreten Ortes mit grundsätzlichen Stellungnahmen zu aktuellen gesellschaftlichen Problemen im weiteren Sinne verbunden sein konnten. Die Frage nach einer verantwortungsbewussten und moralischen Verwendung der vorhandenen (knappen) Ressourcen kann man in einer Gesellschaft nicht für überflüssig halten, in der eine beträchtliche Mehrheit im äußersten geistigen und materiellen Elend lebt. Liest man die Theaterpolemiken, die in Est- und Livland um 1800 ausgetragen wurden, so gewinnt man den Eindruck, dass eben diejenigen, die um eine kulturelle Degeneration und um die schwierige Lage der Bauern am meisten besorgt waren, gelegentlich dazu neigten, das Theater zu unzweckmäßigen Ressourcenkosten zu zählen, die auf Kosten wichtigerer Zwecke aufgewendet werden. Unter Ressourcen sind dabei nicht so sehr Geld und materielle Kosten, als vielmehr die Zeit, die Aufmerksamkeit und die Energie der potenziell tatkräftigen Menschen zu verstehen. Das Theater in diesem Sinne stellt ohnehin eine Kunstform dar, die auf umfangreiche Ressourcen angewiesen ist, das gilt für das Rigaer Stadttheater um so mehr, als es mit fürstlicher Großzügigkeit errichtet wurde und drei Sparten pflegte. Gleichzeitig konnten die Fragen zur aufklärerischen Effizienz des Theaters beziehungsweise zu deren eventueller Größe und Messbarkeit in der deutschen Aufklärung nicht als hinreichend beantwortet angesehen werden. Platons Geist bezeichnet sich – übrigens genau wie auch Snell sich selbst – als „einen eifrigen Liebhaber des Schauspiels“ und wenn er das Theater „bloß von der Seite des Angenehmen betrachtet“, so gebe es unter „allen Arten des Spiels und der Zerstreuung, welche sich die Menschen erfunden haben“ nichts Gleichwertiges.68 Im Interesse der allgemeinen Glückseligkeit und des Gemeinwohls der Stadt sei er aber – patriotisch – zum Verzicht auf sein individuelles Vergnügen bereit.

68 Snell: Patriotische Unterhaltungen (= Anm. 17), S. 26.

VI. Aufgeklärte Medien und Kulturtransfer

Tristan Coignard

Die Archives littéraires de l’Europe (1804−1808). Ein Medium der Aufklärung mit transnationaler Ausrichtung Die Archives littéraires de l’Europe stellten ein Medienprojekt dar, das 1804 in einem einzigartigen Kontext entstanden war und das gerade aufgrund dieses Kontextes transnational konzipiert und durchgeführt wurde. Die Entstehung dieses ‚literarischen Archivs für Europa‘ war auf Frankreichs dominierende Position zu Beginn des 19. Jahrhunderts zurückzuführen und wurde vom Staatsapparat unter Napoleon begrüßt und unterstützt. Die Redakteure und Mitarbeiter waren zwar von der übergeordneten Position Frankreichs in Europa überzeugt, wollten aber auch aus der Zeitschrift ein Instrument zur Verbesserung der Kommunikation zwischen den Völkern machen, das einen kulturellen und politischen Fortschritt ermöglichen sollte. In dieser Hinsicht verstand sich diese Zeitschrift als Sammelkompendium der Erzeugnisse und Innovationen der europäischen Staaten. In diesem Aufsatz soll herausgearbeitet werden, wie die Vorstellung eines aufgeklärten und vernetzten Europas in der Zeitschrift vermittelt wurde und wie die Redakteure und Mitarbeiter sie umsetzen wollten.

1. Ein Medienprojekt der Aufklärung mit internationalem Mitarbeiternetzwerk Das Medienprojekt der Archives littéraires de l’Europe war eine Reaktion auf die Ereignisse, die seit Mitte der 1790er Jahre die europäische Staatenordnung und somit die Beziehungen zwischen den Ländern verändert hatten. Mit dem erklärten Ziel, ein ehrgeiziges Medium mit international besetztem Mitarbeiternetzwerk zu gründen, sollte die zunehmende Entfremdung zwischen den Völkern überwunden werden. Die Hauptakteure dieses Projekts wollten damit an den Geist des Basler Frieden von 1795 anknüpfen und somit gegen die europaweiten Feindseligkeiten, die im Zuge der Revolutionskriege und der Feldzüge Napoleons entstanden waren, ankämpfen. Die Archives littéraires de l’Europe wurden dementsprechend als ein Medium konzipiert, das zur Friedensstiftung und zur kosmopolitischen Annäherung zwischen den Völkern beitragen sollte. Selbstverständlich wurde dieses publizistische Unternehmen ursprünglich von Seiten der französischen Regierung unterstützt. Für die verantwortlichen Träger der Archives war der von der Zeitschrift geleistete Beitrag zur kulturellen und friedenspolitischen Annäherung Teil der zivilisatorischen Aufgabe, der sich Frankreich im Zuge der Revolution verschrieben hatte. Es ging ihnen aber auch darum, die Macht Frankreichs zu festigen.1 1 Vgl. dazu Jean-Luc Chappey: Les Archives littéraires de l’Europe (1804−1808). Un projet intellectuel et politique sous l’Empire. In: La Révolution française: Dire et faire l’Europe à la fin du XVIIIe siècle. 09.06.2011. URL: http://journals.openedition.org/lrf/pdf/284 [24.06.2021].

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Im Kontext der napoleonischen Herrschaft könnte dieses Bekenntnis zur kulturellen und missionarischen Übermacht Frankreichs in Europa als das Ergebnis einer realpolitischen Instrumentalisierung betrachtet werden: Die Zeitschrift wäre mit ihrem aufklärerischen Impetus lediglich als ein Feigenblatt anzusehen, mit dem Napoleons imperialistische Absichten geschmückt werden sollten. Wenn man die Zusammensetzung des Mitarbeiternetzwerkes ins Auge fasst, kann diese Mutmaßung auf überzeugende Weise widerlegt werden. Soweit es möglich ist, die Mitarbeiter zu identifizieren, entsteht ein differenziertes Bild des beteiligten Personals.2 Die meisten Redakteure waren Persönlichkeiten, die im französischen aber auch im europäischen intellektuellen und politischen Kontext anerkannt waren. Joseph-Marie Degérando, einer der wichtigsten Impulsgeber der Zeitschrift, hatte ab Dezember 1804 eine Schlüsselstelle im Innenministerium inne. Joseph de Bernardi war indessen im Justizministerium beschäftigt. Die Zeitschrift konnte sich bis 1808 der Unterstützung der napoleonischen Behörden sicher sein. Viele der Mitarbeiter waren nicht nur in den Staatsapparat integriert, sie waren auch bedeutende Wissenschaftler, die im Rahmen des im Jahre 1795 gegründeten Institut de France ihre Arbeit weiterführen konnten (Morellet, Quatremère de Quincy, Sainte-Croix, Suard).3 Die Zeitschrift wurde somit zum Spiegelbild einer regen wissenschaftlichen Beschäftigung, insbesondere in den Sprachwissenschaften, in den Geschichtswissenschaften und in der Philosophie, einer Beschäftigung, die sich nicht nur an französischen, sondern auch und vor allem an internationalen Maßstäben orientierte. Da die Zeitschrift sowohl Monarchisten als auch Republikaner beschäftigte, waren die Netzwerke, die im Ausland für die Archives mobilisiert wurden, sehr vielfältig. Die Verfechter des Ancien Régime waren mehrheitlich vertreten und hatten im Exil (Joseph-Marie Degérando, Charles de Villers, Pierre-Victor Malouet, Pierre Samuel Dupont de Nemours) viele Kontakte knüpfen können, die ab 1804 im Dienste der Zeitschrift reaktiviert wurden. Allerdings waren auch Liberale wie Charles Vanderbourg und Jacques-Henri Meister beteiligt. Selbst Republikaner wie Marc-Antoine Jullien de Paris leisteten ihren Beitrag zum Gelingen des Unternehmens. Viele dieser Redakteure oder Korrespondenten waren im Revolutionsjahrzehnt durch ganz Europa gereist. So erklärt sich, warum deutsche (Friedrich Bouterweck), schweizerische, italienische, aber auch spanische, portugiesische und holländische Mitarbeiter an der Redaktion beteiligt waren. Ein Schwerpunkt der Zeitschrift war die Vermittlung zwischen Deutschen und Franzosen. Dementsprechend waren mehrere Mitarbeiter stark involviert, die zum deutschsprachigen Pariser Milieu gehörten und einen wesentlichen Beitrag zur kontroversen Rezeption der deutschen Philosophie in Frankreich leisten sollten. In diesem Zusammenhang müssen vor allem Charles de Villers, Charles Vanderbourg und Jean Geoffroy Schweighäuser genannt werden. Auf diese Persönlichkeiten wird im Folgenden noch näher eingegangen.

2 Vgl. ebd., S. 3. 3 Vgl. Léon Aucoc: L’Institut de France et les anciennes Académies. Paris 1889.

Die Archives littéraires de l’Europe (1804−1808)

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Die Archives littéraires stützten sich also auf eine internationale Gruppe von Redakteuren und Experten. Die Zeitschrift war aber nicht nur auf die Initiative einiger Publizisten zurückzuführen. Als wesentliche Akteure dieses Vorhabens müssen zwei Verleger genannt werden, die bereits über eine internationale Ausstrahlung verfügten und als Vermittler zwischen Deutschland und Frankreich in die Geschichtsschreibung eingegangen sind.4 Hermann Henrichs in Paris, der als Übersetzer im Außenministerium unter Talleyrand gedient und 1800 den einflussreichen Verlag Dupont de Nemours aufgekauft hatte, und vor allem Johann Friedrich Cotta, einer der bedeutendsten deutschen Verleger um 1800, der von Tübingen aus seine eigenen Netzwerke für dieses Unternehmen einbringen konnte.5 1805 musste Henrichs die Verlegertätigkeit an Michel Joseph Xhrouet abgeben, der sie aber im gleichen Sinne fortsetzen konnte.6 Diese Verleger hatten die Absicht, die Kreise der Abonnenten und Leser über die Grenzen des Napoleonischen Reiches hinaus zu erweitern. Dank Degérando und Vanderbourg, die der Zeitschrift ihren Stempel aufsetzen konnten, war es dem Periodikum gelungen, eine grenzüberschreitende Aufmerksamkeit zu wecken. Diese Leistung war Teil des transnationalen Konzepts, das es kurz zu erläutern gilt.

2. Das transnationale Konzept der Zeitschrift Die unterschiedliche Herkunft der Verleger, Redakteure und Mitarbeiter hatte zum Ziel, die publizistische Leitidee der Zeitschrift zu untermauern. Im ersten Band aus dem Jahr 1804 wurde diese Absicht von Joseph-Marie Degérando in dem Aufsatz „Von literarischen und philosophischen Verbindungen zwischen den Nationen Europas“ („Des communications littéraires et philosophiques entre les nations d’Europe“) erläutert. Degérandos Text geht der Frage nach, wie im Reich Napoleons der kulturelle Fortschrittsprozess der Aufklärung vorangetrieben werden kann. Dieser Fortschritt sei nicht möglich, wenn das Reich sich weiter isoliere und von den 4 Zur Rolle Hermann Henrichs’ und Johann Friedrich Cottas bei der Gründung der Archives vgl. Carl A. Hinstorff: Die Archives littéraires de l’Europe und ihre Stellung zur deutschen Literatur. Frankfurt/M. 1907. 5 Vgl. Annika Hass: Der Verleger Johann Friedrich Cotta (1764−1832) als Kulturvermittler zwischen Deutschland und Frankreich. Frankreichbezüge, Koeditionen und Übersetzungen. Frankfurt a. M. 2015. 6 Der Übergang von Henrichs zu Xhrouet wird von Nicole Brondel folgendermaßen erläutert: „En janvier 1804, Suard associé à Cotta, célèbre libraire de Tubingue, crée Les Archives littéraires de l’Europe, ou Mélanges de littérature, d’histoire et de philosophie, par une société de gens de lettres, suivis d’une Gazette littéraire universelle, reprise d’une Gazette politique créée par Cotta en 1793.  Mais dès 1805 l’imprimeur Henrichs fait faillite. Dans une lettre du 25 décembre 1805, Suard propose à son associé Cotta de le remplacer par M-J. X. Ce qui fut fait en janvier 1806. C’est dans la correspondance de Vanderbourg, rédacteur en chef, puis copropriétaire du périodique, qu’on voit M-J. X. tenant les cordons de la bourse, en tant que propriétaire et imprimeur, et donnant son approbation ou non aux articles proposés, en fonction de l’état du marché et de ses possibilités d’investissement.“ Nicole Brondel: Michel Joseph Xhrouet. In: Dictionnaire des journalistes (1600–1789). URL: http:// dictionnaire-journalistes.gazettes18e.fr/journaliste/809a-michel-joseph-xhrouet [24.06.2021].

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anderen Staaten abschotte. Demzufolge setzte es sich Degérando als Hauptredakteur der Archives zur Hauptaufgabe, die Bildung eines sehr dichten Netzes von Verbindungen und Austauschmöglichkeiten zwischen den europäischen Nationen zu fördern. Damit unterstrich er, dass die Vervollkommnung der Sitten und des kulturellen Fortschritts in Frankreich nur im engen Zusammenhang mit der Entwicklung Gesamteuropas erreicht werden könne. Das Kaiserreich müsse, so die Aufforderung der Publizisten, mit der europäischen Idee aufs Engste verknüpft werden: Zweierlei Hindernisse sorgen dafür, dass die aufgeklärten Nationen die Vorteile, die ihnen der gegenseitige Austausch von Ideen und Kenntnissen verspricht, nicht nutzen können. Die einen rühren vom blinden Enthusiasmus für ausländische Literaturen her, der in einem Land dazu führt, dass die Produktion nur einer engstirnigen und untertänigen Nachahmung des Fremden entspricht; die anderen Hindernisse sind auf nationale Beschränkungen und Antipathien zurückzuführen, deren Übertreibung bei einem Volk eine Verachtung für alles, was nicht von ihm stammt, hervorrufen kann. Beides ist gleichermaßen verhängnisvoll. Man bereichert sich ausschließlich durch Austausch, und es gibt keinen Austausch, wenn man alles selbst geben will oder wenn man sich damit begnügt, alles von Anderen zu erhalten.7

Dieser programmatische Text der Archives macht deutlich, worum es Degérando ging: Frankreich dürfe nicht einer hegemonialen Überheblichkeit verfallen und seinen Beitrag zum Fortwirken der Aufklärung in Europa einstellen. Nationaler Egoismus wurde im Allgemeinen angeprangert, doch Degérandos Botschaft war vor allem eine an die politische Elite Frankreichs gerichtete Warnung. Seit 1789 habe sich Frankreich zunehmend von der Ideenzirkulation und von der Wissensproduktion in Europa ferngehalten und gehe das Risiko ein, den Anschluss an den neuesten Stand der kulturellen Entwicklung Europas zu verlieren. Von dieser Überzeugung ausgehend wurde das Revolutionsjahrzehnt von Degérando sehr kritisch beurteilt, weil er der Meinung war, in dieser Phase seien besonders viele Verbindungen unterbrochen worden. Wie sehr die Öffnung einer Nation gegenüber der europäischen Staatengemeinschaft die Beziehungen zwischen den Völkern beeinflussen kann, wird in den Archives littéraires de l’Europe am als paradigmatisch angesehenen Beispiel Russlands veranschaulicht.8 In mehreren Beiträgen wird an die vormalige Bedrohung für den 7

8

J[ospeh] M[arie] D[egérando]: Des communications littéraires et philosophiques entre les nations d’Europe. In: Archives littéraires de l’Europe 1 (1804), S. 1–18, hier S. 1: „Deux sortes d’obstacles privent les nations éclairées des avantages que leur promet un commerce réciproque des idées et des connaissances. Les uns naissent de cet aveugle enthousiasme qui se manifeste quelquefois dans un pays pour les littératures étrangères, et donne alors à ses productions le caractère d’une étroite et servile imitation; les autres, de ces préventions et de ces antipathies nationales dont l’exagération fait dédaigner à un peuple tout ce qui n’a pas germé sur son propre territoire. L’une et l’autre disposition sont également funestes; on ne s’enrichit que par les échanges, et il n’y a plus d’échanges, lorsqu’on veut tout donner, ou lorsqu’on consent à tout recevoir.“ Vgl. zum Beispiel den Aufsatz O. A.: Fragmens sur les Mœurs et Usages des anciens Russes, et les changemens qu’ils ont éprouvés. In: Archives littéraires de l’Europe 4 (1804), S. 314–356, hier S. 314: „La Russie est un pays si vaste et si éloigné du reste de l’Europe qu’il n’est pas étonnant qu’elle ait conservé aussi longtemps qu’elle l’a fait ses mœurs antiques, et qu’elle ait eu beaucoup de peine à adopter des usages fort différents des siens. Soit que le grand éloignement ou la difficulté de

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Frieden hingewiesen, die von einem als kriegsfreudig und aggressiv beschriebenen Russischen Reich ausgegangen war. Die Redakteure, die über Russland berichteten, bemühten sich aber, ein ganz anderes Bild zu vermitteln. Sie zeigten beispielsweise, wie sehr die Entstehung und Weiterentwicklung von Gelehrtengesellschaften zu einer intensiven Rezeption der europäischen Aufklärung insbesondere in St. Petersburg führten. So wurde über die Tätigkeit der „Société libre d’amateurs de la littérature, des sciences et des arts“, vor allem über die Übersetzungen der Werke Montesquieus, die in diesem Kreis entstanden, berichtet.9 Das transnationale Konzept der Zeitschrift spiegelte sich in den Rubriken wider, die den Inhalt der Bände strukturierten. Die relevanteste Rubrik ist in dieser Hinsicht die „Gazette littéraire universelle“ als monatlicher Versuch, dem Lesepublikum eine Übersicht der Wissensproduktion in weiten Teilen Europas zu liefern. Die Schwerpunkte der „Gazette“ waren: ein Panorama der europäischen Theaterlandschaft, eine kommentierte Auflistung von Neuerscheinungen, aber auch Zeugnisse der Aktivitäten von Gelehrtengesellschaften und von Institutionen, die als aufklärungsfördernd galten. In diesem Zusammenhang kann festgehalten werden, dass die Mitarbeiter und Redakteure immer wieder die Aspekte hervorheben wollten, die auf Verknüpfungen und Austauschprozesse zwischen den Nationen hinwiesen. Bezeichnenderweise wurde in der „Gazette littéraire“ die Neugründung der Universität Dorpat im Jahre 1802 aus der Perspektive eines deutschen (anonymen) Publizisten kommentiert, der dabei die Fortschritte des russischen Erziehungs- und Bildungswesens unterstrich.10 Die zweite, für den transnationalen Charakter der Zeitschrift genauso relevante Rubrik trug den Titel „Mélanges de littérature, d’histoire et de philosophie“. Die darin gesammelten Aufsätze hatten ein gemeinsames Anliegen: Sie boten eine anspruchsvolle Auseinandersetzung mit aktuellen Fragen des Wissenschaftsdiskurses und stellten dementsprechend wichtige Anhaltspukte dar, um zu überprüfen, ob die Archives littéraires de l’Europe ihre Programmatik umsetzen konnten. Dieser Fragestellung soll im Folgenden am Beispiel der Rezeption der deutschen Philosophie nachgegangen werden.

3. Die Rezeption der deutschsprachigen Philosophie in Frankreich Die Archives littéraires leisteten einen wichtigen Beitrag zur Verbreitung der deutschen Philosophie in Frankreich. Von mehreren Mitarbeitern der Zeitschrift wurde der Bereich des philosophischen Denkens in Frankreich als ein Defizit im Vergleich

voyager empêchassent les étrangers de visiter cette immense contrée, ils n’ont commencé à y voyager que très tard […]. On voit que, si les mœurs ont perdu de leur antique simplicité, du moins elles ont bien gagné quelque chose du côté de la douceur.“ 9 Vgl. O. A.: Gazette litteraire. Avril 1804. Russie. In: Archives littéraires de l’Europe 2 (1804), S. If., hier S. I. 10 Vgl. O. A.: Gazette litteraire. Mai 1804. Russie. In: Ebd., S. XXVI–XXIX, hier S. XXVI.

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zum deutschsprachigen Raum identifiziert. Laut Friedrich Bouterweck ging es darum, der französischsprachigen Leserschaft in Europa Alternativen zum als „oberflächlich“ bezeichneten Empirismus anzubieten.11 In den Archives mehrten sich die kritischen Stimmen gegenüber dem Stand der französischen Philosophie. Dementsprechend sahen es die Redakteure der Archives littéraires de l’Europe als ihre Aufgabe, eine vermittelnde Herangehensweise in der Darlegung der deutschsprachigen Philosophie zu entwickeln, und verbanden damit die Hoffnung, dass so Impulse auch für andere Teilen Europas gegeben würden. Damit wurden die Archives littéraires de l’Europe zu einem der wichtigsten Organe der Verbreitung der kritischen Philosophie und der Begrifflichkeit des Idealismus. In diesem Zusammenhang können unterschiedliche Strategien identifiziert werden. Der bereits seit der Jahrhundertwende als Kantianer bekannte Charles de Villers12 zeigte sich der französischen Philosophie gegenüber sarkastisch und verknüpfte seine Verteidigung Kants mit Angriffen auf das vermeintlich in philosophischer Hinsicht rückständige Frankreich. Diese allzu offensive Herangehensweise erklärt vermutlich, warum Charles de Villers in den Archives littéraires nur eine zweitrangige Rolle spielte und immer seltener in der Zeitschrift publizierte. Eine andere Strategie, die besonders von Johann Gottfried Schweighäuser und von Charles Vanderbourg vertreten wurde, fand mehr Zuspruch, insbesondere bei Degérando. Beide kommentierten die deutsche Philosophie mit kritischer Distanz und waren von der Notwendigkeit überzeugt, die theoretische Komplexität und die Begrifflichkeit dieses Denkens der französischsprachigen Leserschaft zugänglich zu machen. Mit dem Aufsatz „Sur l’état actuel de la philosophie en Allemagne“ („Über den aktuellen Stand der Philosophie in Deutschland“) war Schweighäuser bemüht, ein differenziertes und ausführliches Bild zu liefern.13 Seine Darstellung, die von Kant und Jacobi über Fichte und Schelling bis zu Hegel reichte, war auch eine Einschätzung des Potentials und der Anschlussfähigkeit ihres jeweiligen Schaffens für andere Kulturen. Beispielsweise unterstrich er in seinen Kommentaren die aus seiner Sicht unzulängliche Fundierung von Kants Transzendentalphilosophie und somit die Aporien für die Weiterentwicklung der europäischen Wissenschaft. Schweighäuser war der Ansicht, dass vor allem die Moralphilosophie Kants für den Fortschritt der Aufklärung relevant sein könnte. Charles Vanderbourg vertrat seinerseits die Meinung, dass das französischsprachige Lesepublikum nicht unmittelbar mit der kantischen Terminologie konfrontiert werden sollte.14 Vanderbourg wies auf die wesentlichen Unterschiede in den Erwar11 O. A.: Le beau côté de la littérature allemande. In: Archives littéraires de l’Europe 7 (1805), S. 414– 432, hier S. 431. 12 Vgl. Charles de Villers: Philosophie de Kant, ou Principes fondamentaux de la philosophie transcendentale. Metz 1801. 13 Vgl. [Johann] G[ottfried] Schweighauser: Sur l’état actuel de la philosophie en Allemagne. In: Archives littéraires de l’Europe 1 (1804), S. 189–206. 14 Vgl. O. A.: Note des rédacteurs. In: Archives littéraires de l’Europe 12 (1806), S. 270−272, hier S. 270f. zu O. A.: De la cause du plaisir que nous donnent les émotions tragiques. (Traduction libre et abrégée de l’allemand de Fred. Schiller). In: Ebd., S. 256−270.

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tungen bei philosophischen Sachverhalten zwischen den Lesern in Frankreich und denen in den deutschen Staaten hin. So wurde in den Archives littéraires eine Strategie deutlich, die darauf hinzielte, durch eine Anpassung der Begriffe und eine durchdachte Auswahl der aus dem Deutschen übersetzten Texte einen Paradigmenwechsel herbeizuführen. Es ging Degérando und Vanderbourg darum, das französischsprachige Lesepublikum mit den Möglichkeiten des deutschen Denkens vertraut zu machen und ihm zu zeigen, dass die Philosophie, die in diesem Kontext um 1800 entstand, sinnstiftende Impulse für ganz Europa geben könnte. Diesbezüglich waren sie zwar in der Formulierung vorsichtiger als Charles de Villers, konnten aber seiner grundsätzlichen Einschätzung der Lage durchaus zustimmen.

4. Ein abruptes Ende Die Archives littéraires de l’Europe waren für die Medienpraktiken der Aufklärung paradigmatisch: Vermitteln, Wissen sammeln und zugänglich machen, kulturellen Austausch fördern – das waren die wesentlichen Absichten derjenigen, die für diese Publikation zuständig waren. Damit standen die Archives in ihren Leitlinien anderen Publikationen wie dem Magasin encyclopédique oder der Décade philosophique nahe, die sich maßgeblich um die kulturellen und intellektuellen Transfers in Europa verdient machten und, wie es Jean-Luc Chappey zu Recht erkannt hat, das kosmopolitische Erbe der Aufklärung weiterführten und für das 19. Jahrhundert übertragbar machten. Erkennbar waren bei den Archives littéraires de l’Europe die Überzeugung eines kulturellen Zusammenhalts Europas, aber auch das weiter reichende politische Projekt einer gegenseitigen Bereicherung der europäischen Nationen. Das Europa, über das in der Rubrik „Gazette littéraire“ der Archives littéraires de l’Europe berichtet wurde,15 umfasste (in abnehmender Reihenfolge der meistbehandelten Nationen): Frankreich, die deutschen Staaten, England, Russland, die italienischen Staaten, Dänemark, Holland, Schweiz, Schweden, Spanien und Ungarn. 1808 aber musste das Periodikum mit seiner europäischen Ausstrahlung den Veränderungen des politischen und militärischen Kontextes Rechnung tragen. In jenem Jahr machte Napoleon eine Reihe schwerwiegender diplomatischer Fehler. Der Aufstand in Spanien offenbarte zudem Schwächen in der Konsolidierung der Eroberungen.16 Die Idee einer gegenseitigen Bereicherung der Nationen musste einer Weltsicht weichen, die von Hierarchien in den internationalen Beziehungen und von einem konfliktträchtigen Umgang unter den Nationen ausging. Für die Medienpraktiken der Aufklärung und insbesondere für die Archives littéraires de l’Europe gab es von Seiten der französischen Machthaber keinen Bedarf mehr.

15 Vgl. Chappey: Les Archives littéraires de l’Europe (= Anm. 1), S. 10. 16 Vgl. Charles Esdaile: Fighting Napoleon. Guerillas, Bandits, and Adventurers in Spain, 1808−1813. New Haven [u. a.] 2004.

Rémy Duthille

Cultural Transfer Theory and Exchanges between Britain and the Baltic in the Eighteenth Century This article reviews cultural transfer methodology as it was devised in the context of Franco-German research in the 1980s, and as it developed alongside other relational, transnational historiographies. Examining the historiography of relations between Britain and the Baltic (from Sweden to Russia) in the eighteenth century, it suggests that cultural transfers could complement current approaches and proposes avenues of research on the basis of books published in Riga in the eighteenth century. Since its theoretical elaboration in the early 1980s, ‘cultural transfer’ has become a current term in the present historiographical literature, especially when it comes to the study of eighteenth-century Germany and France. Such a development is in keeping with the global turn that was taken by research across the world as it has increasingly focused on exchanges and phenomena that cannot be understood within a purely national framework of analysis. This essay aims to give a critical perspective on some exchanges involving the Baltic region in the eighteenth century (in the broad sense of areas bordered by the Baltic Sea, encompassing the current Baltic states but also Sweden, Denmark, North German states and Saint Petersburg), by rehearsing the methodology of cultural transfer, and discussing the historiography of relations between the Baltic and Britain, and especially Scotland, the part of Britain which had the most sustained and complex relations with the Baltic. The question of British-Baltic transfers has not been systematically tackled. However, exchanges were sustained and varied but they have been viewed through other historiographical prisms, which suggests that cultural transfer is still a potential critical tool for research in that area. A final section will present examples of possible research based on cultural transfer methodology. Cultural transfer methodology1 was defined in the early 1980s by French Germanists Michel Espagne and Michael Werner; the first theoretical formulations and case studies were carried out in the framework of the French national centre for scientific research CNRS. Werner and Espagne, and a group of scholars working on Heinrich Heine, were looking for the emergence of a ‘German cultural reference’ in France in a long nineteenth century ranging from c. 1750 to the outbreak of the First World War. Their work involved tracing the translations, appropriations and acculturations that occurred in literature and the social sciences resulting in a Ger-

1 This presentation is based on Michel Espagne: Les transferts culturels franco-allemands. Paris 1999; Wolfgang Schmale: Cultural Transfer. In: European History Online (EGO). 05.12.2012. URL: http://www.ieg-ego.eu/schmalew-2012-en; Matthias Middell: Kulturtransfer, Transferts culturels. Version: 1.0. In: Docupedia-Zeitgeschichte. 28.01.2016. URL: http://docupedia.de/zg/Kulturtransfer [24.06.2021].

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man ‘memory’ embedded in French archives and institutions. The cultural transfer approach went beyond the simple concern with influences and was concerned with tracing the cultural intermediaries and the institutional and social milieus effecting transfers (in a sociological perspective), but also (in a philological perspective) the genesis and development of references to German culture in French discourses. ‘Transfer’ is a very simple word, chosen for its neutrality, any Freudian overtone being left aside. It involves a movement (real in the form of travelling or transport; or metaphorical e. g. like the act of reading a foreign writing). As Hartmut Kaelble notes: “Unter Transfers versteht Espagne die Wandlungen, die bei der Übertragung von Konzepten, Normen, Bildern und Repräsentationen von einer Kultur in die andere stattfinden.”2 In the process the object transferred occupies a certain space and performs a given function in the receptor culture, which may accept or reject it. A transfer involves some transformation of the object; it is akin to a translation as the object’s meaning will change in the receptor culture’s semiotic system. Understanding culture as a multilayered semiological system serving as a communication network for the whole people, Espagne considers that transfers can be located at different levels, though the most visible and significant ones are the large literary-ideological constructions that give a national culture its identity and sense of itself.3 Hence studies of the adaptation of vast cultural fields of disciplines from one country to the other (anthropology, sociology etc.), or the reception of great authors – but Espagne also insists that such an emphasis on great men is insufficient and should be complemented by research on networks and micro-transfers in the realm of everyday life.4 Cultural transfer can be best approached through a concise yet rich definition given by a practitioner of the theory, Matthias Middell: “Kulturtransfer wird verstanden als ein aktiv durch verschiedene Mittlergruppen betriebener Aneignungsprozess, der von den Bedürfnissen der Aufnahmekultur gesteuert wird.”5 As an acculturation process, cultural transfer implies that foreign elements are adopted over time and are transformed in the operation. The process involves a period of time, which can extend to years, decades or even centuries. Werner and Espagne argued against the simple ideas of diffusion and influence. It is mistaken, for instance, to argue that Louis XIV’s absolutist model and its tools and symbols like Versailles simply diffused across Europe. Such a view of diffusion suggests the superiority of one culture over others. Whatever the princes may have thought of the superiority of Versailles, their cultural productions should be judged in their own terms without positing the superiority of the model, or the ‘original’, over the ‘copy’. The concept of influence is rejected because of its assumption of passivity on the part of the receptor culture, and because it presupposes that both cultures are given and static. 2 Hartmut Kaelble: Die Debatte über Vergleich und Transfer und was jetzt? In: Connections. A Journal for Historians and Area Specialists 08.02.2005, URL: https://www.connections.clio-online.net/ article/id/artikel-574 [24.06.2021]. 3 Cf. Espagne: Transferts (= n. 1), pp. 18f. 4 Cf. ibid., p. 30. 5 Middell: Kulturtransfer, Transferts culturels (= n. 1).

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On the contrary, the adoption of external cultural elements has nothing automatic about it, but requires the active engagement of cultural intermediaries and an active process of adaptation on the part of members of the receptor culture; it happens “durch verschiedene Mittlergruppen” which are the second key element of Middell’s definition. A rich literature has been devoted to such go-betweens, using various classical historiographical methods like biography or prosopography but also more innovative, digital tools of network analysis. The Republic of Letters, a time-hallowed, though disputed field, still provides a framework for such studies.6 The idea has received a new boost of critical attention through the study of those below (or behind) the ‘great men’, a host of translators, journalists, critics, reviewers, printers, newspaper owners – all those intermediaries whose unremitting work provided the infrastructure for the international exchanges of texts, ideas and practices.7 Two major projects are using digital technologies to map the numerous interlocking networks and provide visually stunning representations. “Mapping the Republic of Letters”, piloted by Stanford University, groups a cluster of studies of major philosophers (Voltaire, Locke, d’Alembert, Huyghens) undertaken by European universities and research institutions.8 The other major project, “Reassembling the Republic of Letters” is an EU cooperation project offering a “digital framework for multi-lateral collaboration on Europe’s intellectual history (1500–1800)”. The websites enable a visualization of correspondence networks filtered by date, names, and other criteria, thus hopefully giving a clearer perception of intertwined, complex, shifting networks than research publications could give.9 However seductive and useful those digital initiatives might be when it comes to grasping certain complex realities and popularizing them, they cannot show causation and context-dependent processes of appropriation; but this is precisely what studies of cultural transfer can best provide. Finally, to return to Middell’s three-fold definition, transfers are driven by the needs of the receiving culture. The receptor context is key; it matters more than the goals or 6 The contours of the Republic of Letters are unclear and debated, the narrower German concept of “Gelehrtenrepublik“ being favoured by some French scholars to delimit a “République des Sciences” inside the “République des Lettres”. Cf. the introduction to a journal issue on the intermediaries of the Republic of Science: Irène Passeron, René Sigrist and Siegfried Bodenmann: La République des sciences. Réseaux des correspondances, des académies et des livres scientifiques. In: Dix-huitième siècle 40 (2008), pp. 5−27. 7 Cf. e. g. a major prosopography, including famous figures like Leibniz and much lesser known actors: Christiane Berkvens-Stevelinck, Hans Bots and Jens Häseler (Ed.): Les Grands Intermédiaires culturels de la République des Lettres: études de réseaux de correspondances du XVIe au XVIIIe siècles. Paris 2005. – This is how the authors defined cultural intermediaries: “Für das Ancien Régime wird der kulturelle Vermittler als ein Mitglied der Gelehrtenrepublik definiert, der sich selbst als Bindeglied zwischen unterschiedlichen kulturellen Einheiten sah, seien dies Nationen, Sprachen, Milieus, konfessionelle oder philosophische Räume” (quoted in Martin Stuber’s review of the book in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 59 [2009], p. 255). 8 Cf. Stanford University: Mapping the Republic of Letters. URL: http://republicofletters.stanford. edu/ [24.06.2021]. 9 Reassembling the Republic of Letters. URL: http://www.republicofletters.net/ [24.06.2021].

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ambitions of would-be cultural exporters. A cultural entrepreneur may well try, but fail, to set up a venture abroad, publish a translation or register a patent; the fate of cultural products largely escapes their originators’ intentions as the adaptation of cultural or sociable institutions like clubs, salons, lodges or cafés, the fate of translations, and the multiple, surprising or contradictory uses of texts in other contexts can show. One of the implications is that failed transfers can be as illuminating as successful ones as they reveal much about the receptor culture through the untranslatability of some cultural products, the constraints on actors’ agency, the social norms or the preconditions that must be met by networks and social capital for the success of a cultural transfer venture.10 The end product of a transfer is not simply an unchanged cultural item tacked into a receiving culture, but a hybrid product that serves an original purpose in that culture – unless the transfer was rejected, in which case the original product remains available for transfer. Middell also details a sequence of adoption, starting by identification of the deficit in the receiving culture and ending with a recognition of the cultural transfer. The example he gives is that of the reform of French universities in the nineteenth century. The French authorities borrowed new forms of pedagogy, organization and management from German universities and set up a new system that looked much like the German one. When the cultural transfer was complete, several decades later, the French refused to acknowledge any debt to the German model, for reasons of national rivalry, and claimed they had set up their own, original model. This example is a particularly complete one because the cultural transfer was planned and its steps were visible and extremely well documented in the archives; it is also paradigmatic in the sense that it modelled national identities through the education system and the involvement of government and administration. However, there are many smallscale cultural transfers that do not follow the pattern entirely or have to be largely inferred. On the other hand, there are diffuse connections that extend over centuries, involve many intermediaries with sometimes overlapping, at times conflicting agendas, and that lack the clarity and purposefulness of a state-driven scheme like Middell’s example. While Espagne considered that the model was best applied to national groups, and therefore to periods posterior to the emergence of national identities (which he dated to the mid-eighteenth century),11 since the 1990s cultural transfer methodology has been adopted in broader contexts, both in space and time. Espagne himself and researchers from the ex-GDR like Middell have looked at the infra-national level, i. e. local and regional cultures like Saxony or the links between Bordeaux, Ham-

10 Cf. e. g. the multiple attempts of Scottish polymath William Playfair: Jean-François Dunyach: Les réseaux d’un excentrique: vies et parcours de William Playfair (1759−1823). In: Ann Thomson, Simon Burrows, Edmond Dziembowski and Sophie Audidière (Ed.): Cultural Transfers: France and Britain in the Long Eighteenth Century. Oxford 2010, pp. 115−127. 11 Cf. Espagne: Transferts (= n. 1), pp. 1−2, here p. 17.

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burg and Hanseatic cities, still in the eighteenth and nineteenth centuries.12 As the demise of the Soviet Union facilitated collaborations with the former Eastern bloc, the Franco-German focus broadened to include Russia in ‘triangular transfers’.13 Interest for Russia and the eastern reaches of the German-speaking world has sparked interest in the Baltic. Michel Espagne has chronicled the fate of Tartu, showing how the successive states it belonged to turned the city and its university into a palimpsest of Swedish, German, and Russian heritage and memories, but also as an enclave of German-speaking research within the tsarist empire – a hybridity which gave Tartu a distinctive identity and a highly original position as a site of criticism over the centuries, including under Soviet rule.14 Beyond France, Germany and their immediate European neighbours, studies have focused on a multiplicity of colonial settings. In the process, the phrase ‘cultural transfer’ has sometimes, but not always, been used in a loose sense, without reference to the original model, in studies of the impact of colonial migrations for instance.15 Michel Espagne claimed that the new approach of cultural transfer went ‘beyond’ the established practice of comparatism, which, in his view, had to constitute national cultures (so that they could be compared in the first place), thus reifying cultures by ignoring some elements that were foreign (and precisely those elements were undergoing significant cultural transfer), finally yielding synchronic, snapshot views at the expense of the diachronic, dynamic appraisals of reality afforded by cultural transfer.16 Espagne’s attacks prompted a lively debate among (mostly) German and French historians and Germanists, in part because he stated that comparatism led to a reinforcement of national histories.17 It is unlikely, however, that cultural transfers will supersede the practice of historical comparison. Outstanding comparative work such as Kenneth Pomeranz’s study of the “great divergence” between the economies of China and Western Europe shows how useful the exercise of comparison remains, and how historians have rejected the most objectionable, Eurocentric, rei-

12 Cf. Michel Espagne and Matthias Middell (Ed.): Von der Elbe bis an die Seine: Kulturtransfer zwischen Sachsen und Frankreich im 18. und 19. Jahrhundert. Leipzig 1993; Michel Espagne: Bordeaux-Baltique. La présence culturelle allemande à Bordeaux aux XVIIIe et XIXe siècles. Paris 1991. 13 Cf. Katia Dmitrieva and Michel Espagne (Ed.): Transferts culturels triangulaires France-Allemagne-Russie. Paris 1996. 14 Cf. Michel Espagne: Dorpat, Derbt, Juriew, Tartu. Une Russie de langue allemande. In: L’Ambre et le fossile: transferts germano-russes dans les sciences humaines XIXe − XXe siècles. Paris 2014, pp. 37−52. 15 This is the case in: Brad Patterson (Ed.): Ulster-New Zealand migration and cultural transfers. Dublin, Portland/OR 2006. On the other hand, see the special issue of Revue germanique internationale, which is critically informed by Espagne’s and Werner’s work and contains several articles on German perceptions of alterity, theories of métissage and translation, and studies of transfers to non-Western spaces, like: Sergei Serebriany: Le roman en Russie et en Inde. Deux cas de transfert d’un objet culturel occidental dans une culture non occidentale. In: Revue germanique internationale 21 (2004), pp. 149−162. 16 Cf. Michel Espagne: Sur les limites du comparatisme en histoire culturelle. In: Genèses 17 (1994), pp. 112–121; ders.: Au-delà du comparatisme. In: Ders: Transferts (= n. 1), pp. 35−49. 17 Cf. Kaelble: Die Debatte über Vergleich und Transfer und was jetzt? (= n. 2).

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fying aspects of the outdated method of comparative history (if ever there was one such method).18 Many historians focusing on transnational patterns have remedied the defects of traditional approaches without adopting cultural transfer theory; or rather, this theory could be presented, as Matthias Middell does, as “eine bemerkenswerte methodische Offenheit”, as a toolbox enabling many uses appropriate to the historical object considered. “Angesichts dieser wechselseitigen Stimulierung hat sich einerseits der Begriff des Kulturtransfers in das Repertoire einer kulturhistorischen Transnationalismus- und Globalisierungsforschung eingefügt.”19 Cultural transfer theory can thus be presented as a member of a family of relational histories alongside ‘global history’ and ‘Atlantic history’, which are much more influential paradigms in English-speaking research.20 But, in a more critical, reflexive approach, Middell has also analyzed the conceptual and methodological relations between cultural transfer and global history, pleading for a dialogue with yet other approaches (American studies of cultural encounters, postcolonial studies, métissage).21 Some cross-fertilization is under way; the cultural transfer methodology is making its way into the field of British history and into research written in English more generally. Perhaps unsurprisingly, the earlier occurrences of the phrase ‘cultural transfer’ came from scholars based in French or German, rather than British or American, universities. A paramount example is a collection of essays edited by Stefanie Stockhorst, who developed a methodological reflection on transfers in translation studies.22 French scholars also recently examined ‘cultural transfers in religion’, charting the wandering and adaptations of the Book of Common Prayer from the sixteenth to the eighteenth century. Another project traces the ‘travels’ of the English Republic to various European countries, and the ideological, rhetorical and strategical changes that mid-seventeenth century English texts, symbols and figures underwent until the time of the French Revolution.23 18 Cf. Kenneth Pomeranz: The Great Divergence: China, Europe and the Making of the Modern World Economy. Princeton/NJ 2000. Among many publications, cf. on this debate: Kaelble: Die Debatte über Vergleich und Transfer und was jetzt? (= n. 2). 19 Middell: Kulturtransfer, Transferts culturels (= n. 1). 20 Cf. Chloé Maurel: De la world history à la global history. In: Ders.: Manuel d’histoire globale. Comprendre le “global turn” des sciences humaines. Paris 2014, pp. 49−78. There exist several good presentations of cultural transfer theory in French and German textbooks, but not, to the best of the author’s knowledge, in English-language ones. See for instance: Hans-Jürgen Lüsebrink: Interkulturelle Kommunikation: Interaktion, Fremdwahrnehmung, Kulturtransfer. 4., akt. und erw. Aufl. Stuttgart 2016; Thomas Keller: Kulturtransferforschung: Grenzgänge zwischen den Kulturen. In: Stephan Moebius and Dirk Quadflieg (Ed.): Kultur: Theorien der Gegenwart. Wiesbaden 2006, pp. 101−114. Conversely, cultural transfer is absent from English-language textbooks like: Jerry H. Bentley (Ed.): The Oxford Handbook of World History. Oxford 2013. 21 Cf. Matthias Middell: Histoire universelle, histoire globale, transfert culturel. In: Revue germanique international 21 (2004), pp. 227−244. 22 Stefanie Stockhorst (Ed.): Cultural Transfer through Translation. The Circulation of Enlightened Thought in Europe by Means of Translation. Amsterdam and New York 2010. 23 Cf. Rémy Bethmont and Aude de Mézerac Zanetti (Ed.): The Book of Common Prayer: Studies in Religious Transfer. Paris 2017 (Revue française de civilisation britannique 22/1); Luc Borot and

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Since the mid-2000s a number of studies have been published on the relations between Britain and France in the eighteenth century, trying to go beyond influential accounts in terms of antagonism (the long eighteenth century understood as the second Hundred Years’ War; or Britishness stemming from rejection of France as an alien Other).24 The generally prevailing state of war between Britain and France (and much of the continent) in the eighteenth century hamstrung or slowed exchanges, but never entirely blocked them; conversely, war encouraged some forms of interactions and perhaps even, as Stephen Conway claims, transnational ways of thinking. The Channel can be understood as a zone of contact and exchange, not just conflict.25 The editors of Cultural Transfers: France and Britain in the Long Eighteenth Century have devoted an insightful and historiographically strong introduction to Anglo-French cultural transfers, while recognizing that they adopted a supple understanding of the model since their aims partly differed from the original intentions of the Franco-German team (in particular, their focus was not on the emergence of a national culture). However the book is exemplary of cultural transfer methodology, both in its objects (the three overlapping areas covered being networks and correspondences, journalism, and translations) and in its methodological concern for intermediaries, channels and networks of communications, constraints placed on actors, the impact of imports on the recipient culture, and especially “what new configurations emerged in this process.”26 Where does the Baltic stand with respect to cultural transfers with Britain? It is virtually absent from the above-mentioned literature that focuses on France and Western Europe mostly. But there have been studies on translation and the circulation of ideas between the Scottish Enlightenment and German thinkers, some of whom lived in the Baltic region.27 Herder, in particular, drew on some insights of the

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Myriam-Isabelle Ducrocq (Ed.): Le voyage des Républiques anglaises dans l’espace européen aux XVIIe et XVIIIe siècles. Paris 2017 (Philosophical Enquiries. Revue des philosophies anglophones 8). Cf. Frédéric Ogée (Ed.): ‘Better in France?’ The Circulation of Ideas across the Channel in the Eighteenth Century. Lewisburg/PA 2005; Kathleen Hardesty and Dorothy Medlin (Ed.): British-French Exchanges in the Eighteenth Century. Newcastle 2007; François-Joseph Ruggiu and Jean-Philippe Genet (Ed.): Les idées passent-elles la Manche? Savoirs, représentations, pratiques: France-Angleterre, Xe–XXe siècles. Paris 2007; Christophe Charle, Julien Vincent and Jay Murray Winter (Ed.): Anglo-French Attitudes: Comparisons and Transfers between English and French Intellectuals since the Eighteenth Century. Manchester 2007; Frédéric Ogée, John Dunkley, Lise Andries and Darach Sanfey (Ed.): Intellectual journeys: The Translation of Ideas in Enlightenment England, France and Ireland. Oxford 2013. Cf. Stephen Conway: Transnational and Cosmopolitan Aspects of Eighteenth-Century European Wars. In: Dina Gusejnova (Ed.): Cosmopolitanism in Conflict: Imperial Encounters from the Seven Years’ War to the Cold War. London 2018, pp. 29−54; Renaud Morieux: The Channel: England, France and the Construction of a Maritime Border in the Eighteenth Century. Cambridge 2016. Ann Thomson and Simon Burrows: Introduction. In: Ann Thomson, Simon Burrows, Edmond Dziembowski, Sophie Audidière (Ed.): Cultural Transfers: France and Britain in the Long Eighteenth Century. Oxford 2010, pp. 1–16, here p. 3. Cf. László Kontler: Translations, Histories, Enlightenments: William Robertson in Germany, 1760−1795. New York 2014.

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Scottish philosophers, and his critique of cosmopolitan modernity was inspired partly by Adam Ferguson as Eva Piirimäe has shown.28 On the other hand, interactions between Britain (and especially Scotland) and the Baltic have been studied in three fields, neither of which is primarily concerned with cultural transfer: economic history; Jacobitism; and what may be called the ‘Northern world’. Economic historians have shown that trade between Britain and the Baltic was brisk, though its share in British overseas trade declined because of the boom of Atlantic exchanges. But the two areas should not be opposed, historians have recently argued: as one set of merchants in London directed operations in both areas, the Baltic, ranging from Sweden and Denmark to Russia, was integrated into the Atlantic economy, a fact which calls for “a unified history of these two busy areas of mercantile endeavour”.29 One challenge is to treat the Baltic as more than just a semi-periphery providing raw materials to a richer, more advanced core (to use Immanuel Wallenstein’s world-system terminology). The question remains whether, or how, economic integration led to cultural exchange and homogenization; but the ‘Atlanticization’ of the North certainly had cultural consequences. One key area has been investigated in depth: anticolonial discourse in Riga and Courland, especially Garlieb Merkel’s critique of serfdom in Die Letten. Merkel’s adaptation of Abbé Raynal’s arguments to the Baltic context have been dissected by Thomas Taterka and others who, like Hans-Jürgen Lüsebrink, have self-consciously situated themselves in the paradigms of cultural transfer and entangled history.30 Those recent studies, which have brought to light Merkel and other lesser known anticolonial Baltic authors, could be brought into perspective thanks to work on ‘slavery hinterland’, a concept applying to zones beyond the Atlantic seaboard that were not directly involved in the slave trade yet were impacted by it economically and culturally.31 Riga, Saint Petersburg and the surrounding regions lay in that hinterland, and comparison with other thinkers else-

28 Cf. John H. Zammito: Die Rezeption der schottischen Aufklärung in Deutschland. Herders entscheidende Einsicht. In: Barbara Schmidt-Haberkamp, Brunhilde Wehinger and Uwe Steiner (Ed.): Europäischer Kulturtransfer im 18. Jahrhundert. Literaturen in Europa − Europäische Literatur. Berlin 2003, pp. 113–138; Eva Piirimäe: Sociability, Nationalism and Cosmopolitanism in Herder’s Early Philosophy of History. In: History of Political Thought 36 (2015), pp. 521−559. 29 Åsa Eklund, Chris Evans and Göran Rydén: From the Baltic to the Atlantic: British Merchants and the Development of Trade Networks in the Northern Seas during the Eighteenth Century. In: Margrit Schulte Beerbühl and Jörg Vögele (Ed.): Spinning the Commercial Web. International Trade, Merchants, and Commercial Cities, c.  1640−1939. Frankfurt/M. and Oxford 2004, pp. 203−215. 30 Cf. York-Gothart Mix and Hinrich Ahrend (Ed.): Raynal − Herder – Merkel. Transformationen der Antikolonialismusdebatte in der europäischen Aufklärung. Heidelberg 2017; Thomas Taterka: Humanität, Abolition, Nation, Baltische Varianten des kolonialkritischen Diskurses der europäischen Aufklärung um 1800. In: Ibid., pp. 183−252; Hans-Jürgen Lüsebrink: Guillaume-Thomas Raynal und Garlieb Merkel − Reflexionen und Ansätze zu einer transkulturellen Verflechtungsgeschichte. In: Ibid, pp. 143−158. 31 Cf. Felix Brahm and Eve Rosenhaft (Ed.): Slavery Hinterland. Transatlantic Slavery and Continental Europe, 1680−1850. Martlesham 2016.

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where, like Therese Huber in Berlin, could bring out both the originality of Merkel’s anticolonial critique and the commonalities of a transnational abolitionism that encompassed the whole of the Baltic seashore and central Europe. In addition to trade, another strong area of scholarship is Jacobitism. Specialists have long recognized the presence of a Jacobite diaspora on the shores of the Baltic.32 The limelight has been largely thrown on the Jacobites in France and Italy, whose presence in the Jacobite courts at Saint-Germain en Laye and later Urbino and Rome, involved cultural production and consumption of high quality and originality.33 Yet there were English, Scottish, and Irish Jacobite courtiers, advisers and spies in the courts of Sweden, Russia, and lesser powers, as well as Jacobite soldiers in their armies. There exists no overall study of a ‘Baltic’ Jacobitism, if only because the Jacobites found themselves in rival, often warring, countries, which considerably complicated their agenda of bringing major Northern powers to support a Stuart restoration.34 Jacobitism did entail cultural transfer in the sense that Jacobite emblems, objects and customs (conviviality, toasting) adapted to local circumstances, but the impact of Jacobitism on the outside culture (not just inside Jacobite circles and networks) remains unclear. One commonality between trade links and Jacobitism is the presence of British, and especially Scottish expatriates on the shore of the Baltic. A whole historiographical field bears on ‘the Northern World’ linking Scotland to Scandinavia and the Baltic. A collection bearing this name at Brill publishing and a number of journals have hosted studies of the Scottish diaspora and its links with the home country and the various societies bordering the Baltic shores. From the Netherlands to Riga, the Scots established a network of enclaves in seaports and further inland, especially in the Polish-Lithuanian Commonwealth, where a whole community of Scottish Calvinists was brought in to form the city of Kėdainiai.35 Since the 2010s a rich historiography has examined return migration, which has occurred ever since the late seventeenth century when second-generation Polish-Scots returned to Scotland. Those studies show “how the process of return shapes the iden-

32 The Jacobites were the partisans of King James VII of Scotland/II of England who fled to France due to the 1688−1689 ‘Glorious Revolution’, taking refuge in France with Louis XIV’s backing. James’s descendants and their followers (both in the British Isles and in exile abroad) kept up his claim to the throne and mounted two rebellions, in 1715 and 1745−46. 33 Cf. Edward Corp: A Court in Exile. The Stuarts in France, 1689−1718. Cambridge 2009; idem: The Jacobites at Urbino. An Exiled Court in Transition. Basingstoke and New York 2009; idem: The Stuarts in Italy, 1719−1766. A Royal Court in Permanent Exile. Cambridge and New York 2011; Paul Kléber Monod, Murray Pittock and Daniel Szechi (Ed.): Loyalty and Identity. Jacobites at Home and Abroad. Basingstoke and New York 2010. 34 Cf. however studies of networks like Steve Murdoch: Des réseaux de conspiration dans le nord? Une étude de la franc-maçonnerie jacobite et hanovrienne en Scandinavie et en Russie, 1688−1746. In: Politica Hermetica 24 (2010), pp. 29−56. 35 Cf. Alexia Grosjean and Steve Murdoch (Ed.): Scottish Communities Abroad in the Early Modern Period. Leiden and Boston 2005; Rimantas Žirgulis: The Scottish Community in Kėdainiai c. 1630 − c. 1750. In: Ibid., pp. 225−248.

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tities of both migrants and the communities to which they come back”.36 Studies of the Scottish diaspora have to overcome several obstacles; besides the need for strong language skills needed to navigate several cultural spaces and historiographies, the dispersal of archives and excessive specialization over one particular city or area may preclude perceptions of wider, regional or transnational patterns.37 The collections of essays mentioned in this paragraph try to be more than strings of case studies and to generalize results. One new avenue of research is to place migrations in the Northern World in European context, through a comparative approach of the emigrant experience of the Scots, the Irish other Europeans in the early-modern period.38 On the basis of this brief review of British-Baltic links, it is possible to identify a few areas which could be usefully complemented by cultural transfer studies. A first question raised is the cultural implications of maritime trade and migrations. In the eighteenth century, the Baltic timber trade was of strategic importance to Britain’s navy, and hence its capacity to wage war and survive as an independent nation.39 Does it follow from this sustained trade pattern and its geopolitical implications, that cultural transfers did take place, changing Baltic, Scandinavian, or British cultures in the process? ‘Northern World’ research has focused on emigrants’ experiences rather than their impact on the receptor culture (with exceptions). The involvement of cultural go-betweens and productions still needs establishing, and one cannot conclude to the existence of anything undergoing transfer on the simple evidence of trade links. A case in point is Steve Murdoch’s comparison between Scottish networks in Bordeaux and in the United Provinces from 1670 to 1720. In the late seventeenth century, during the repressive policies of the late Stuart monarchs, and after the Glorious Revolution of 1688−1689, the Netherlands were willing “to make a good, symbiotic use of the arrivals” of Scottish political-religious refugees that fled persecution and, after 1689, régime change.40 Although trade relations were as strong with Bordeaux as they were with Holland, the French seaport never hosted a large Scottish community and was apparently not impacted with the ideology of Scottish Jacobite emigrants, who found little in the way of religion or politics to bind them with the French. The links between Bordeaux and Scotland remained limited to the econom36 D. A. J. MacPherson: The Scots Abroad: Recent Approaches to Migration, Diaspora and Identity. In: Northern Scotland 8/1 (2017), pp. 87–95, here p. 89. 37 Cf. Kathrin Zickermann: Across the German Sea. Early Modern Scottish Connections with the Wider Elbe-Weser Region. Leiden and Boston 2013, pp. 235f. 38 Cf. Lex Heerma van Voss, Sølvi Sogner and Thomas O’Connor: Scottish Communities Abroad. Some Concluding Remarks. In: Murdoch and Grosjean: Scottish Communities Abroad (= n. 33), pp. 375−394. 39 Cf. Ragnhild Hutchison: The Norwegian and Baltic Timber Trade to Britain 1780–1835 and its Interconnections. In: Scandinavian Journal of History 37 (2012), pp. 578−599; James Davey: Securing the Sinews of Sea Power: British Intervention in the Baltic 1780–1815. In: The International History Review 33/2 (2011), pp. 161−184. 40 Steve Murdoch: The French Connection: Bordeaux’s ‘Scottish Networks’ in Context, c. 1670−1720. In: Gilles Leydier (Ed.): Scotland and Europe, Scotland in Europe. Newcastle upon Tyne 2007, pp. 26−55, here p. 43.

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ic interests of the wine trade that was the original reason for the connection. It takes a precise case study to establish the existence and exact nature of a transfer. Incidentally Murdoch’s comparative analyses bring out the originality of the Dutch case: comparatism should perhaps complement rather than oppose cultural transfer. Such work also suggests that comparative studies of the impact of the Scottish merchant communities in Baltic seaports like Riga would be welcome. Besides the study of migration and diaspora in the Baltic area, cultural transfer methodology could be applied to the area where it has displayed the most strength, the intellectual history of cultural productions and their circulations, as the treatment of Merkel’s Die Letten demonstrates. One line of enquiry starts with the identification of cultural intermediaries. Leaving aside the discovery of new ones for the moment, it may be the case that the Baltic dimension has been underappreciated even in the case of well-known figures such as architect William Chambers (1722−1796), who wrote in an autobiographical note: “I was born in Gothenburg, was educated in England, and returned to Sweden when I was 16 years old. I made three journeys to Bengal and China in the service of the Swedish East India Company”.41 Chambers was famous for popularizing the taste for Chinese gardens in Britain, a fashion that was taken up in other countries as an English-style orientalist gardening style. The Swedish background of the expeditions might yield some significant information, and, together with Chambers’s study of architecture and gardening in South China, his education in Paris and Rome, and his success in London, it lends a truly global dimension to the man, his achievements and his writings. ‘Below’ those famous international (and internationalizing) figures more modest go-betweens – e. g. translators, educators, publishers or journalists – can be identified, if only by starting by a bibliographical search, for instance a search of items in English published in Riga in the eighteenth century. The English Short Title Catalogue (ESTC) gives only three results but even such a poor yield suggests opportunities for cultural transfer studies.42 First comes a quarto sheet by one Andreas Biorkgren advertising An approved balsam for the head, rheumatism, wounds and nerves. I. It recommends itself for a shot, stab or cut wound. ... This marwelous [sic] balsam is to be had by te [sic] maker Andreas Biorkgren, at Riga, in Smith-Street naer [sic] the townes [sic] steables [sic] (ESTC number T205636). The compilers of the catalogue give a tentative date of 1790, adding that “[a]dvice on dating this will be gratefully received”. There seems to exist only one copy of this small piece (in the Wellcome Library in London), and the author of this article has not seen it. The title, as well as the shaky spelling, raise a series of questions about the readership (the British community in Riga, British sailors stopping in the city, exporters to Britain?); medical discourse and popular beliefs in the curative powers of balsam; the balsam producer’s marketing strategy and hence the 41 Quoted from James Harris: Chambers, Sir William (1722–1796), architect. In: Oxford Dictionary of National Biography (23.09.2004).URL: http://www.oxforddnb.com/view/10.1093/ref: odnb/9780198614128.001.0001/odnb-9780198614128-e-5083 [29.06.2021]. 42 The ESTC is freely searchable at URL: http://estc.bl.uk/ [29.06.2021].

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cultural transfer involved in trade and the sale of a medicine, possibly the Riga black balsam which to this day has become an icon of Riga. The other two English-language imprints from Riga are textbooks published between 1792 and 1794 by Johann Georg Rievethal, three volumes of Lectures Intended for the Instruction and Amusement of Young People, Who Apply Themselves to the English Tongue (Riga, J. Fr. Hartknoch, 1792, 1793, 1794), and a slimmer work, which presents itself as a sequel to the lectures, Historical and Moral Miscellanies or a Choice or Interesting Tales, Anecdotes, Curiosities of Nature, Lives of Remarkable Men, Customs of People, and Reflections on Several Important Subjects (Riga, I. Fr. Hartknogh, 1794).43 In 1795 Rievethal also published a similar collection of lectures, in French, still with his publisher Hartknoch.44 The foreword to the Miscellanies rather blandly promises a pedagogical tool for the study of English combining instruction and delight, in classic Horatian fashion. But the choice of extracts is worth commenting, as it introduces to pupils in Riga a medley of stories. Some of which (Spanish tales or Brahmin legends) may be innocuous enough, but, in the context of the tsarist empire in the midst of the French Revolution, other texts have more political bearing, especially the execution of four Protestants in France in 1762, and “authentic memoirs of Alexis Pugatscheff”.45 A study in cultural transfer should focus on Rievethal, his social standing in Riga – the title page of the Miscellanies present him as “instructor at the Cathedral school in Riga” –, his intellectual upbringing and ambitions, and his editorial and pedagogical options. But as Rievethal was one among many, he could also be located within the transnational network of pedagogues and publishers who circulated, copied, translated and adapted texts. Cultural transfer methodology could help elucidate the Baltic/Latvian reception of ‘Enlightenment’ texts (to put it in very general words, given the unspecialized nature of Rievethal’s language teaching); a study of networks cannot be conducted on the basis of Rievethal’s publications alone but is dependent on the availability of correspondences and archives. This essay has tried to sketch out a few possible directions of research on British-Baltic transfers. It is suggested here that cultural transfer methodology has not been much brought to bear on this field, despite shining exceptions like recent work on Merkel’s creative adaptation of French and British anticolonialism. In one sense, however, perhaps the paramount wish of cultural transfer theorists has been granted, in the sense that many historians have resisted the compartmentalization of historical reality along nation-state lines and taken a variety of transnational approaches instead. Relations between Britain and the Baltic could be fruitfully studied by the cul43 The English Short Title Catalogue numbers are N60469 and N66491. The publisher must be the same, though the name is spelt slightly differently. 44 Cf. I.  G. Rievehal: La ruche, ou lecture amusante et instructive pour la jeunesse. 3 vols. Riga 1793−1795. 45 Johann Georg Rievethal: Historical and Moral Miscellanies or a Choice or Interesting Tales, Anecdotes, Curiosities of Nature, Lives of Remarkable Men, Customs of People, and Reflections on Several Important Subjects. Riga 1794, pp 5–12, pp.  184−196, pp.  36−46 (available online at Google-Books. URL: https://play.google.com/store/books/details?id=wmFMAAAAcAAJ [02.07.2021]).

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tural transfer approach, especially as it provides a spirit and general guidelines rather than a methodological straightjacket, and as it complements rather than rivals other approaches (such as comparative studies of British expatriate communities along the Baltic shores and elsewhere, which are a dynamic part of ‘Northern World’ scholarship). Current trends in British historiography favour such studies, in particular approaches in terms of European connections and transfer (and criticism of approaches in terms of opposition between Britain and continental ‘Others’) and the broadening of the ‘Atlantic’ away from an exclusive focus on North America to encompass continental European ‘hinterlands’. This article could not be complete without an acknowledgement of the importance of the researcher’s own location and point of view. The author of this article is a French specialist of Britain; and his historiographical review and resulting suggestions of further studies must be dependent on this position. Writing as an outsider to the field may enable a quicker perception of gaps, or suggestions of studies on the model of what is done in another field. On the other hand, one absolute condition to cultural transfer research is the need for strong language skills; another requirement that may be still more difficult to attain is a familiarity with two (or more) cultures and historiographies. The emphasis on the receptor context in cultural transfer theory means that an excellent knowledge of the receptor culture is fundamental. Possible omissions of publications from researchers in Baltic countries in this article stem from sheer ignorance. The implication is that cultural transfer studies might be best carried out in teams rather than single-handedly. More importantly, and more positively, just as the present study started from French, British (and to a lesser extent German) historiography and tried to apply to the Baltic, conversely researchers based in a Baltic state might wish to study cultural transfers with Britain starting from their historiography, in a process that would yield other results and open up new perspectives.

Ruth Florack

Die ‚Entdeckung‘ der estnischen Nation in Wielands Teutschem Merkur Im Jahr 1817, nach Aufhebung der Leibeigenschaft durch Zar Alexander I., schreibt Christian Hieronymus Justus Schlegel (1757−1842) über die Esten: „Ich bin nicht wenig stolz darauf, daß ich, so viel mir bewußt ist, der erste war, der öffentlich im deutschen Merkur 1787 und 88 ziemlich ernsthaft Dinge zur Sprache brachte, die man vorher nur leise berührt hatte, und dieses Volk von Seiten darstellte, von denen es so vielen bis dahin unbekannt gewesen war.“1 Das Zitat findet sich in Schlegels Nachwort zu seinem Buch Reisen in mehrere russische Gouvernements in den Jahren 178*, 1801, 1807 und 1815. Im ersten, 1819 publizierten Band dieses mehrbändigen Werks beschreibt er in Form von Reisenotizen in empfindsamer Tradition – „An einen Freund in Deutschland“ steht auf dem Titelblatt2 – seine Annäherung an Estland, in das er, nach einem Theologie-Studium in seiner Heimatstadt Jena, Anfang der 1780er Jahre als Hauslehrer gekommen war, bevor er eine Predigerstelle in Weißrussland antrat. In diesem ersten Band seines Reisebuchs steht auch – auf knapp hundert Seiten – ein wörtlicher Abdruck eben der Beiträge in Wielands Teutschem Merkur (1773−1810), dem großen „National-Journal“, wie Wieland selbst es genannt hat,3 auf die Schlegel in seinem Zitat anspielt. Die drei Beiträge über Estland und die Esten, die er (wie üblich) anonym Ende 1787 und im zweiten Quartal 1788 im Teutschen Merkur veröffentlichte, hat er dreißig Jahre später unter der Überschrift „Resultate eines längern Aufenthalts in Ehstland“ unverändert in sein Reisebuch übernommen,4 nur die Anordnung ist umgekehrt: Während der Teil Volksgedichte der Esthnischen Nation die Ausführungen im Reisebuch beschließt, ist er für die Leser des Teutschen Merkur in den 1780er Jahren der – in sich abgeschlossene – Auftakt für die Darstellung dieses Volks, das, wie Schlegel rückblickend behauptet, ‚so vielen unbekannt‘ war. Schlegels Text ist also in zwei unterschiedlichen Publikationsformaten veröffentlicht worden: zum einen im Rahmen eines aus großer zeitlicher Distanz geschriebenen, umfassenden und bewusst auf persönliche Erfahrungen zugeschnittenen Berichts einer Reise von Deutschland nach Russland, in dem Estland bloß eine Etappe 1 [Christian Hieronymus Justus Schlegel:] Reisen in mehrere russische Gouvernements in den Jahren 178*, 1801, 1807 und 1815. Bd. 1. Meiningen 1819, S. 374 (S. 369−375: „Einige Worte gegen das Ende des Jahrs 1817 niedergeschrieben“). 2 „Reise über Ober- und Nieder-Sachsen und die Ostsee nach Ehstland im Jahre 178*. An einen Freund in Deutschland“ (ebd. unpaginiert). 3 So, unter Bezug auf Wielands Korrespondenz, Hans-Peter Nowitzki: Der „menschenfreundliche Cosmopolit“ und sein „National-Journal“. Wielands Merkur-Konzeption. In: Andrea Heinz (Hg.): Der Teutsche Merkur – die erste deutsche Kulturzeitschrift? Heidelberg 2003, S. 68−107, hier S. 68. 4 [Schlegel:] Reisen in mehrere russische Gouvernements (= Anm. 1), S. 225−322.

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ausmacht, zum anderen als dreiteiliger Beitrag über die „Esthnische Nation“ im Kontext einer gut etablierten, erfolgreichen Zeitschrift, mit deren Mischung von „Aufklärung, Popularisierung und Unterhaltung“ eine „ganz neue Epoche deutscher Journalistik“ begonnen hat.5 Im Teutschen Merkur steht Schlegels Aufsatz inmitten von Artikeln zu völlig anders gearteten, höchst unterschiedlichen Themen. So finden sich die Volksgedichte der Esthnischen Nation6 am Ende des letzten Quartals 1787 zwischen einer Idylle und zwei Verserzählungen, nach Diskussionsbeiträgen über Aberglauben, Wunderlehre und Magnetismus und vor Rezensionen, unter anderem zu Schriften Herders. Schlegels wenige Monate später publizierter zweiteiliger Beitrag Etwas über Form, Geist, Charakter, Sprache, Musik und Tanz, der Ehstnischen Nation7 hingegen steht im Kontext von Auszügen aus einem Reisetagebuch und Reflexionen über den Nutzen der Belletristik – in eben dem Jahrgang des Teutschen Merkur, in dem auch Wielands Aufsatz über Kosmopolitismus erschienen ist und Goethes erster Bericht über seine italienische Reise.8 Die Erstveröffentlichung von Schlegels Beiträgen über die Esten im Teutschen Merkur steht im Zentrum der folgenden Überlegungen. Denn in ihrer eigentümlichen Kombination von zeitgenössischem Wissen und parteilicher Meinung lässt sie sich als Beispiel für die (zumindest intendierte) Beförderung einer aufgeklärten Öffentlichkeit verstehen. Dabei vertritt Schlegel, so ist zu zeigen, nicht nur den Anspruch, die Kenntnisse gebildeter Leser über ein bis dahin wenig beachtetes Volk zu mehren, sondern er sucht darüber hinaus die Einstellung des Publikums gegenüber diesem aus seiner Sicht verkannten Volk positiv zu beeinflussen, indem er für dessen Anerkennung wirbt. Aufklärung, Popularisierung und Unterhaltung gehen dabei Hand in Hand.

1. ‚Wissenswertes‘ über die Esten und ihre Kultur In seinem Zeitschriften-Beitrag über die Esten gibt sich Schlegel als Empiriker, der aus eigener Erfahrung spricht. Seine Informationen über die estnische Kultur werden durch eigene Anschauung und erworbene Kompetenz beglaubigt. So vermittelt 5 John A. McCarthy: Artikel „Öffentlichkeit“. In: Werner Schneiders (Hg.): Lexikon der Aufklärung. Deutschland und Europa. München 2001, S. 292−294, hier S. 293. 6 [Christian Hieronymus Justus] S[chlegel:] Volksgedichte der Esthnischen Nation. Bruchstück einer größern Abhandlung über Sprache, Poesie, Charakter und Geist dieser Nation. In: Der Teutsche Merkur 4 (1787), S. 232−255. Zitate aus diesem ersten Beitrag Schlegels zu den Esten werden im Folgenden direkt im fortlaufenden Text unter Angabe der Zahl I sowie der entsprechenden Seitenzahl nachgewiesen. 7 [Christian Hieronymus Justus Schlegel:] Etwas über Form, Geist, Charakter, Sprache, Musik und Tanz, der Ehstnischen Nation. Beyläufig etwas über die Schönheit der teutschen Damen in Ehstland. An einen Freund im Jahr 1783. In: Der Teutsche Merkur 2 (1788), S. 331−347 u. S. 404−433. Zitate aus diesem zweiten Beitrag Schlegels zu den Esten werden im Folgenden direkt im fortlaufenden Text unter Angabe der Zahl II sowie der entsprechenden Seitenzahl nachgewiesen. 8 Siehe [Johann Wolfgang von Goethe:] Auszüge aus einem Reise-Journal. 1. Rosaliens Heiligthum. In: Der Teutsche Merkur 4 (1788), S. 32−49.

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er Informationen über die estnische Sprache, Lieder und Tänze, Hochzeitsbräuche, Wohnverhältnisse, Kleidung, Aussehen, Körperbau und Nationalcharakter. Zugleich prangert er schon zu Beginn seiner Ausführungen die Unfreiheit dieses „armen Sklavenvolks“ (I, 232) an, dessen „simple Naturpoesien“, „Ausflüsse eines zärtlichen, oft gequälten Herzen[s]“, er den Lesern des Teutschen Merkur nahezubringen sucht (I, 233). Dreizehn Lieder bietet er in deutscher Übersetzung, die ersten drei sogar zusätzlich im estnischen Original. Es sind Hochzeitslieder vor allem, Erntelieder, auch ein Schaukellied. An ihnen werden Sitten und Bräuche der Esten veranschaulicht, deren Einfachheit Schlegel – ganz im Sinne Rousseaus und Herders – als sicheres Indiz für eine unverbildete Natürlichkeit gilt. So zitiert er ein Lied über eine Waise, die ohne die übliche Mitgift – „Wirthschaftsgeräthe, Leinen, Kleidungsstücke und einen kleinen Viehstand“ – auskommen muss und klagt: „Ich bin allein wie die Ente / Und doch ist die Ente paarweis. / [...] Ich bin allein wie die Löffelgans / Doch hat sie zwey Kinder. / Ich bin ganz allein, / Habe keinen Vater / Keine Mutter, / Wem soll ich meine Trauer klagen?“ (I, 240) Dies kommentiert Schlegel: Es ist die ausdrucksvollste Sprache der Natur. Die Gleichnisse von der Ente und der Löffelgans sind vielleicht unserm verfeinerten Jahrhunderte anstößig, wo man nur gern vom Straus, Phönix, Cameleon und Geschöpfen hört, von denen man so oft weiter nichts als den Namen weis. Aber wenn man bedenkt, daß hier eine arme Bäurin spricht, die ihre Gleichnisse nur von Dingen hernehmen kann, mit denen sie täglich umgeht, so wird man sie entschuldigen. (I, 241f.)

Und Schlegel beendet seinen ersten Beitrag über die Esten mit der programmatischen Behauptung, aus diesen „paar Proben ihrer Nationalpoesie“ sei zu ersehen, „daß wir von dieser Nation bey größerer Kultur und erlangter Freyheit“ sowohl „schöne“ als auch „originelle“ Dichtung zu erwarten hätten (I, 254). Der 1788 erschienene zweiteilige Beitrag aus Schlegels Feder mit dem eklektisch anmutenden Titel Form, Geist, Charakter, Sprache, Musik und Tanz, der Ehstnischen Nation widmet sich zunächst dem Aussehen der Frauen in Estland. Die Schönheit ihrer weißen Haut wird dem Klima zugeschrieben – der salzigen Luft, den langen Wintern – und den eigentümlichen Hygiene-Gewohnheiten, insbesondere der Sauna. Auch die ‚typischen‘ blauen Augen und hellen Haare werden mit dem Klima erklärt. Abweichungen hiervon, also dunkle Haare und Augen, führt Schlegel entweder auf die harten Lebensumstände zurück – wie etwa bei der rauchigen und fettigen Stube einer Fischersfrau – oder auf den mutmaßlichen Einfluss der deutschen Kolonialherren, die „der armen blonden Bauermädchen nicht werden geschont“ haben (II, 343). Vorteilhaft erscheint ihm zudem das bescheidene Leben auf dem Lande, das mit einfachen Speisen und schlichter Kleidung den Ausschweifungen und dem raffinierten Luxus in den Städten genau entgegengesetzt zu sein scheint. In seinen Ausführungen zur „Physiognomie“ der Esten (II, 340), in denen er von ihrem „gewöhnlichen flachen nordischen Gesicht“ spricht, das ihn an „das so ausgezeichnete Gesicht des Lappen und Samojeden“ erinnere (II, 345), steht Schlegel unverkennbar unter dem Einfluss von Lavaters Physiognomischen Fragmenten (1775−1778). Dabei versteigt sich der Estophile zur Sophisterei, wenn er zu der Nase ‚der‘ Esten, die im

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allgemeinen „klein und stumpfigt“ sein soll, erläutert: Wenn man „von vielen Debauschen und Schwelgereyen einzelner Menschen und ganzer Nationen auf lange Nasen schließen“ dürfe und umgekehrt, so müsse „es vermöge des Gegensatzes wahr seyn, keine Debauschen, keine heftigen Leidenschaften, wenn vollends kaltes zusammenengendes Klima dazu kömmt, geben kleine Nasen.“ (II, 344) Dies ist nicht von ungefähr eine der seltenen Stellen, an denen der Herausgeber Wieland einen spöttischen Kommentar anfügt, der den Leser seines Teutschen Merkur zur kritischen Reflexion des Gelesenen anhält: „Vermuthlich hat der Verf[asser] d[es] Aufsatzes weder eine griechische noch römische Nase.“ (II, 344) Auf diese Weise führt Wieland eine zentrale Denkfigur der seinerzeit modischen Physiognomik – nämlich den Rückschluss von äußeren physischen Merkmalen auf Charaktereigenschaften eines Menschen – gegen Schlegel selbst ins Feld,9 um dessen Thesen in ein kritisches Licht zu rücken. Mit dem Blick auf die Geschichte der Kolonisierung des Baltikums eröffnet Schlegel seine Ausführungen zum „Moralischen Charakter“ der estnischen „Nation“ (II, 404), den er im Wesentlichen als Produkt historischer Erfahrungen sieht: Wenn die Esten je gewalttätig geworden seien, so hätten sie sich aus einem „Trieb der Selbsterhaltung“ gegen die deutschen Eindringlinge gewehrt (II, 405); Gewalt gegen „Amtleute“ – das heißt „Aufseher“, die Schlegel zufolge in der Regel „Taugenichtse von verdorbenen teutschen Handwerkern“ sind – sei durch deren exzessive „Grausamkeit“ zu erklären (II, 409f.). Dank einer gewissen Bildung infolge der Reformation sowie einer strengen, auf Zucht und Ordnung bedachten Obrigkeit habe sich die „klimatisch“ bedingte „Trägheit“, die „Leidenschaften nicht so hoch empor kochen läßt“,10 zum „jetzigen guten moralischen Charakter[...]“ der Esten entwickelt (II, 407). Ihre Frauen seien ein Muster an „Zärtlichkeit“ und „Empfindsamkeit“ (II, 410), die Männer „gutmüthig und wohlwollend“, gutherzig und hilfsbereit (II, 411). Der „Geist der Nation“ (II, 412) sei aufgrund ihrer unfreien, hauptsächlich auf Landwirtschaft beschränkten Lebensverhältnisse bislang nicht voll entfaltet, doch seien die Anlagen vielversprechend: „Gutes Gedächtniß“, gesunder Menschenverstand, Aufmerksamkeit, Gelehrigkeit, insbesondere eine ausgeprägte Sprachbegabung, „Einbildungskraft“ und eine „ausserordentliche Lust zur Poesie“ seien den Esten zu eigen (II, 413). Solche Kollektivzuschreibungen sind aus heutiger Sicht allemal problematische Verallgemeinerungen, Klischees, ja fragwürdige Vorurteile. Doch da der Begriff ‚Kultur‘ im modernen Verständnis noch nicht etabliert ist, dient in der Aufklärung das überkommene Konzept von Nationalcharakter und Nationalgeist zur ra-

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Lavater spricht etwa in Bezug auf „griechische Köpfe“ von einer „Nase, die an sich [...] voll Ausdrucks fester männlicher Weisheit ist“. (Johann Caspar Lavater: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. Winterthur 1777, S. 50.) 10 Dies entspricht durchaus der zeitgenössischen Vorstellung vom Temperament der Völker im kalten Norden. Siehe hierzu etwa den Artikel „Naturell der Völcker, Natura populorum“. In: Johann Heinrich Zedler: Grosses vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschafften und Künste. Bd. 23. Leipzig u. Halle 1740, Sp. 1246−1251, besonders Sp. 1246f.

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tionalen Erfassung und zum Vergleich kultureller Differenz.11 Schlegel beschließt seine Ausführungen mit Hinweisen zu Gesang und Tanz sowie einer ausführlichen Würdigung des Estnischen, das – wie er wiederum an Liedern zu zeigen sucht – „eine äußerst wohlklingende, weiche, zärtliche und in ihren Tönen harmonievolle Sprache sey“, „die sich in ihrer Süßigkeit an die italienische anschließt“ (II, 417). Dass es ihm nicht nur darum geht, die Kenntnisse einer großen und weit verzweigten Leserschaft zu mehren, indem er Einzelheiten über die Kultur der Esten bekannt macht, sondern vor allem darum, die Meinung der gebildeten Leserschaft des Teutschen Merkur über diese fremde Kultur positiv zu beeinflussen, zeigt sich besonders deutlich im Vergleich mit dem einzigen Text zu Estland, der außer Schlegels Beitrag jemals in Wielands Journal publiziert worden ist. „Von den ehstnischen und russischen Bädern“ ist ein Artikel des Erfurter Theologen Bellermann überschrieben, der im letzten Quartal des Jahres 1789, also anderthalb Jahre nach Schlegels Betrachtungen, im Teutschen Merkur erscheint.12 Auf der Grundlage seines „vierjährigen Aufenthalt[s] in Ehstland und St. Petersburg“13 stellt Bellermann in einem nüchtern beobachtenden Stil den Lesern die in Deutschland seinerzeit unbekannte Saunakultur vor Augen. Dazu beschreibt er die Räumlichkeiten, Öfen, Instrumente und den Vorgang selbst – Schwitzbad, Körperreinigung, Abkühlung und Ruhephase – in allen Einzelheiten und geht auf Unterschiede der Einrichtung abhängig vom sozialen Stand der Nutzer ein. Da sein Interesse einer Sitte gilt, die in Nordosteuropa verbreitet ist und die er selbst auf seinen Reisen im Baltikum kennengelernt hat, spricht er von Esten und Russen zugleich, ergänzt seine Beschreibungen der estnischen Badestuben um persönliche Erfahrungen mit solchen in der Nähe von St. Petersburg. Ganz anders als Bellermann in dieser anschaulichen, doch um einen unparteiischen ethnographischen Blick bemühten Darstellung der Badesitten in Nordosteuropa bedient sich Schlegel einer leidenschaftlichen, suggestiven Sprache mit deutlich empfindsam geprägtem Vokabular, wenn er die Esten gesondert und unter unterschiedlichen Aspekten in den Blick nimmt – als eine Nation mit eigener Sprache und Kultur. Nicht selten formuliert er rhetorische Fragen, die sich unmittelbar an die Leser richten, so etwa zu einem Klagelied estnischer Bauern: „Will man [...] einen lebendigern und wahrern Kommentar über das Verhältniß dieses armen Volks gegen seine Herren, als dies Lied, das Resultat seiner Empfindung und seiner Erfahrungen?“ (I, 246) An anderer Stelle verstärkt er sein Lob der zartfühlenden, moralisch vorbildlichen Estin durch eine Apostrophe an die imaginäre Tochter einer deutschen Gutsfamilie, die von ihrer estnischen Amme auf ihre Rolle als Ehefrau vorbereitet wird: „Du zärtliches, gutmüthiges Fräulein, das du deinen künftigen Gatten durch 11 Siehe hierzu Ruth Florack: Bekannte Fremde. Zu Herkunft und Funktion nationaler Stereotype in der Literatur. Tübingen 2007, S. 59−141 („Stereotyp und Wissen. Geschichtliches zum Nationalcharakter“). 12 [Johann Joachim] Bellermann: Von den ehstnischen und russischen Bädern. In: Der Teutsche Merkur 4 (1789), S. 67−85. 13 Ebd., S. 67.

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alle das feine Gekette deiner Gefühle beseligst, du hast die erste Stimmung deines Herzens zur Zärtlichkeit, deine schmeichelnde liebkosende Stimme – deiner Bäurin zu verdanken. O, trage auch das Deinige dazu bey, daß die Härte ihres Schicksals sich vermindre.“ (II, 411) Weil Schlegels engagierte Meinungsmache in ihrer Verve bisweilen in eine Manipulation des Lesers umzukippen droht, sieht sich der Herausgeber Wieland sogar zur Distanzierung genötigt. So schreibt er in einer Fußnote zu der Stelle, an der Schlegel über das bereits zitierte Lied vom Waisenmädchen ins Schwärmen gerät und den Lesern suggeriert, dass „wir“ uns bei wiederholter Lektüre mit dem armen Mädchen identifizieren und „mit ihrem Herzen“ „empfinden“ würden, zudem Gefallen an ihrer Sprache finden müssten, „da sie die Sprache der Natur ist“: „Herr S. verdient unsern warmen Dank für die Mittheilung dieser ehstnischen Volkslieder: aber er sollte mehr Zutrauen zum Geschmack der Leser haben, und nicht so viel – commentiren.“ (I, 242)

2. Intertextuelle Bezüge: Hupels Topographische Nachrichten Auch wenn Schlegel im Teutschen Merkur als erster ausführlich über die Esten schreibt, so scheint es doch übertrieben zu sagen, dass er, wie seine eingangs zitierte Selbsteinschätzung nahelegt, als ein Pionier auf diesem Gebiet gelten muss. Immerhin bekommen ethnographische Kenntnisse über Estland in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts durchaus einen festen Platz in wissenschaftlichen, genauer: geographischen Schriften. So etwa, kurz und bündig, in Büschings Neuer Erdbeschreibung. Auf gut informierte Korrespondenten vor Ort gestützt, liefert Büsching einen „recht zuverlässigen Überblick“ über „Natur, Klima, Landwirtschaft und Handel, [...] verschiedene Stände, Behörden, Kreise und bedeutendere Städte und Orte“ in Estland und Livland – und eben auch über ihre Einwohner.14 Das maßgebliche Referenzwerk aber bilden die mehrbändigen Topographischen Nachrichten von Lief- und Ehstland aus der Feder des deutschstämmigen, in Oberpahlen (Põltsamaa) ansässigen Pastors August Wilhelm Hupel, die vor allem unter Deutschbalten rasch zum Standardwerk werden, darüber hinaus aber nicht nur in Nicolais Allgemeiner Deutscher Bibliothek, sondern auch in Wielands Teutschem Merkur beste Kritiken bekommen.15 Schlegel erwähnt Hupel in seinem Artikel über die Esten mit keinem Wort, doch er steht unverkennbar in dessen Schatten, seine Argumente und seine Rhetorik werden erst vor dem Hintergrund der erfolgreichen Topographischen Nachrichten klar verständlich. 14 Indrek Jürjo: Aufklärung im Baltikum. Leben und Werk des livländischen Gelehrten August Wilhelm Hupel (1737−1819). Köln, Weimar u. Wien 2006, S. 125. 15 Siehe ebd. S. 172f. Der Teutsche Merkur hat Hupels Werk schon im Jahr 1774, dem Erscheinungsjahr des ersten Bandes, gewürdigt mit dem Hinweis, dass er eine Wissenslücke schließe: Denn „bis jetzt“ habe es „keine genaue und zuverläßige Beschreibung der Herzogthümer Liefland und Ehstland“ gegeben; Büschings Erdbeschreibung sei nicht „ausführlich“ genug. ([Anonym:] Rezension: Topographische Nachrichten von Lief- und Ehstland. Gesammlet und herausgegeben durch August Wilhelm Hupel. Erster Band. Riga, bey Hartknoch, 1774. In: Der Teutsche Merkur 7 [1774], S. 364f., hier S. 365.)

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Auf der Höhe zeitgenössischen Wissens – das Hupel direkt über Quellen und aus eigener Anschauung gewinnt oder vermittelt durch Fachbücher und -journale – widmen sich die Topographischen Nachrichten faktengesättigt und reich an Statistik und anderen Belegen der Natur und dem Klima sowie Institutionen, Kirche und Gerichtsbarkeit, beleuchten zudem das „baltische Agrarwesen“, „Fronpflichten“ und die schlechte „sozialökonomische Lage der estnischen und lettischen Bauern“, die Landwirtschaft, Nutzpflanzen und Haustiere, Handel und Währung und geben vor allem eine minutiöse „topographische Beschreibung“ der Städte und Kirchspiele in Livland und Estland.16 In der Forschung hat, wie Indrek Jürjo in seiner Monographie zu Hupel betont, gerade das Kapitel über die Bauern im zweiten Band der Topographischen Nachrichten große Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Hupel seien „große Unvoreingenommenheit“ und ein „stark ethnographischer Ansatz“ zu bescheinigen, er biete „ein außerordentlich informatives und zuverlässiges Bild der Sitten und Lebensführung der damaligen Esten und Letten“.17 Nur manchmal werde „seine Objektivität, die eher betrachtende als beurteilende Haltung, [...] durch die Vorurteile eines Vertreters der andersnationalen Oberschicht getrübt. Hinzu kommt noch die den Aufklärern allgemein eigene Einstellung zum Bauern als einem Objekt der Umerziehung.“18 Schlegel kann sich mit Hupel nicht messen, er argumentiert nicht streng wissenschaftlich, seine Anleihen bei Ethnographie, Physiognomik und Klimalehre wirken dilettantisch zusammengeklaubt. Doch einige Passagen seines Textes widersprechen Hupel indirekt, und die emotional aufgeladene Sprache verrät ein leidenschaftliches Engagement. So schreibt Schlegel beispielsweise in seinem Kapitel zum „Moralischen Charakter der Nation“ (II, 404), mit dem der dritte Teil seines Beitrags im Teutschen Merkur beginnt: „Man macht dem Ehsten den Vorwurf, daß er tückisch sey.“ (II, 408) Dies entlarvt er als ein unreflektiertes Vorurteil: „Ein Sclave, der ohne Belohnung für seine Mühe [...] arbeiten muß – der, wenn er unsern Wünschen weder gemäß noch genug arbeitet, hart bestraft wird [...], sollte der nicht tückisch seyn? Der Hund, den ich übel behandle, soll Zuneigung gegen mich erhalten [...]?“ (II, 408) Das entspricht ganz Lichtenbergs Argumenten gegen das verbreitete zeitgenössische Vorurteil vom vermeintlich dummen und tückischen „Neger“, die er den Vertretern der Physiognomik entgegenhält.19 Hupel teilt zwar solch eine Kritik im Grundsatz, wenn er die un-

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Jürjo: Aufklärung im Baltikum (= Anm. 14), S. 133f. Ebd., S. 158f. Ebd., S. 159. „Ich will nur etwas weniges für den Neger sagen, dessen Profil man recht zum Ideal von Dummheit und Hartnäckigkeit und gleichsam zur Asymptote der Europäischen Dummheits- und Bosheits-Linie ausgestochen hat. Was Wunder? da man Sklaven [...] einem Candidat en belles lettres gegenüberstellt. Wenn sie jung in gute Hände kommen, wo sie geachtet werden, wie Menschen, so werden sie auch Menschen [...]. Gegen ihre Westindischen Schinder sind sie nicht treulos, denn sie haben ihren Schindern keine Treue versprochen. [...] Jeder brave Deutsche, mit dem sein Nebenmensch gleichen Viehhandel treiben wollte, würde gleiche Unbiegsamkeit beweisen.“ (Georg Christoph Lichtenberg: Über Physiognomik; wider die Physiognomen. Zu Beförderung der Menschenliebe und Menschenkenntnis. In: ders.: Schriften und Briefe. Hg. v. Wolfgang Promies. Bd. 3. Darmstadt 1972, S. 257−295, hier S. 273.)

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freien Lebensumstände dafür verantwortlich macht, dass die estnischen und lettischen Bauern „ihren Herrn und überhaupt alle Deutsche zu hintergehen“ suchen.20 Dennoch relativiert er die Not der Bauern21 und behauptet: „Lügen, Fluchen und Schwören geht unter ihnen sehr im Schwange“, maßlos sei ihre Rachsucht.22 An anderer Stelle urteilt Hupel pauschal, im Unterschied zu den Letten – die „verträglich“ seien, „höflich und ehrerbietig wie die Russen“ – seien die Esten „listig, falsch, zanksüchtig [...], rachgierig, widerspenstig, naseweis“, „unhöflich“, „unbarmherzig gegen Jedermann“, sie „freuen sich wenn sie Andre, sonderlich Deutsche, beleidigen können“.23 Schlegel hält dagegen: „Und doch bey alle den Beleidigungen, die man seinem Körper, seinen Kindern und seinem Wohlstand anthut“, ist der Este „wenig zur Rachgierde geneigt. Nicht selten verliert seine Tochter ihre Unschuld, eine in ihrer Größe willkührliche Strafe wird ihm auferlegt, und er rächt sich nicht oder sehr selten.“ (II, 408f.) Und wenn Pastor Hupel den Bauern zwar handwerkliches Geschick und Gelehrigkeit attestiert, doch beklagt, dass „unter tausenden kaum zween wissen daß sie Christen sind“,24 kontert Schlegel: „Gewiß der moralische Charakter dieser Nation ist recht sehr gut. Sie liebt und schäzt ihre Religion. Die meisten gehen des Sonntags, wenn gleich ihre Kirche manchmal eine, zwey Meilen, ja noch weiter entfernt ist, zum Gottesdienst, hören da still und andächtig den [...] Religionsunterricht an; zu Hause lesen sie in ihrem Gesangbuch und der Bibel.“ (II, 407) Vor allem aber in zwei – eng miteinander verknüpften – Aspekten korrigiert Schlegel Hupel entscheidend: zum einen in Bezug auf die Kultur der Esten, zum zweiten in Bezug auf ihren Status als Nation. Schlegel spricht von den Esten als Nation – freilich im Sinne des 18. Jahrhunderts, nämlich auf gemeinsame Herkunft und Kultur bezogen und noch nicht in der politischen Bedeutung, die der Begriff mit der Französischen Revolution gewinnt25 –, während Hupel sie ausschließlich, gemeinsam mit den Letten, ihrem Stand nach, also als Bauern, in den Blick nimmt. In seinem vielbeachteten Kapitel „Von den Bauern überhaupt“ spricht er von beiden 20 August Wilhelm Hupel: Topographische Nachrichten von Lief- und Ehstland. Bd. 2. Riga 1777, S. 135. 21 „Ein wahres Eigenthum eines andern Menschen; nicht Personen, nein Waare und Sachen sind Erbmenschen! der Erbherr, und noch mehr dessen unvernünftiger gewinnsüchtiger Amtmann aus dem niedrigsten Pöbel, bestimmt nach Gutdünken vielleicht ihr Wohl, und belegt sie mit Strafen! [...] Weder die elende Hütte die er bewohnt, noch das Korn welches er mühsam bauet, ist sein! So wird ein Ausländer urtheilen. Doch ist nicht jeder Sklav unglücklich: es giebt gelinde Erbherren, die sich selbst, und ihren Amtleuten, bestimmte Schranken setzen. Was ist öfters die hochgerühmte Freyheit in andern Ländern, wo Steuern ohne Zahl, Generalpächter, Soldaten u. d. g. den Landmann aufs äusserste bringen, ihn und seine Kinder verschmachten lassen, damit die Armee vermehret und der Großen Geitz befriediget werde. Es ist Eins, als Sklav oder als freyer Mensch zu hungern“. (Ebd., S. 121f.) 22 Ebd., S. 136. 23 Ebd., S. 165. 24 Ebd., S. 126. 25 Zur komplexen Begriffsgeschichte von ‚Volk‘ und ‚Nation‘ siehe den Artikel „Volk, Nation, Nationalismus, Masse“. In: Otto Brunner, Werner Conze u. Reinhart Koselleck (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Bd. 7. Stuttgart 2004, S. 141−431. Prägnant: Reinhart Koselleck: Lexikalischer Rückblick. In: Ebd., S. 380−389.

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Abb. 1: Ehsteische Melodien. Nr. I. Ehsteischer Tanz auf dem Dudelsack; Nr. II. Ehsteischer Hochzeitgesang. Aus: Hupel: Topographische Nachrichten, Bd. 2.

„Völkern“ zugleich,26 ohne ihnen jeweils Eigentümlichkeit im Sinne Herders zuzubilligen: „Weder der Ehsten noch der Letten eigenthümlichen Nationalcharakter getraue ich richtig genug zu beschreiben: beynahe könnte man sagen, sie hätten jetzt gar keinen.“27 Zu groß sei die Vermischung ihrer „Sitten und Gebräuche“ mit „andern mit denen sie umgehen“, insbesondere Russen und Deutschen.28 Und die estnische Sprache ist aus Sicht des Topographen unterentwickelt: Es fehle ihr „an vielen Ausdrücken“, „weder Dankbarkeit noch Freyheit kan der Ehste in seiner Sprache ausdrücken; auch nicht Wesen, Dauer, Raum und andre abgezogene [abstraktere] Begriffe.“29 So geht Hupel auch nur beiläufig auf estnische Lieder ein, begnügt sich mit kurzen Kostproben. Diese zu sammeln lohnt sich für ihn nicht, das Niveau sei einfach zu schlecht: „An diesen Proben mag es genug seyn: unter allen elenden Liedern habe ich die erträglichsten gewählt. Viele sind unausstehlich kindisch“.30 Zwar ist unter den Kupfern, die dem umfangreichen zweiten Band zu Hupels Topogra-

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Hupel: Topographische Nachrichten (= Anm. 20), S. 121. Ebd., S. 123f. Ebd., S. 124. Ebd., S. 124f. Ebd., S. 160.

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Abb. 2: Ehstnische Kleidung. Aus: Hupel: Topographische Nachrichten, Bd. 2.

phie beigegeben sind, auch ein Blatt mit Noten zu einem Lied zu finden. Doch dies gehört eben zum Vollständigkeitsanspruch des Empirikers, der, wo es dem besseren Verständnis zu dienen scheint, auf das anschauliche Bild zurückgreift. Im Übrigen finden sich die Noten als Anhang neben Abbildungen zu Wirtschaftsgeräten und einer Illustration zur Kleidung estnischer Bauern. Melodien und Verse sind also nur eine Marginalie in Hupels Darstellung der Bauern in Estland, einer Darstellung, die alles registriert, zählt, misst und sogar den Preis der „Lostreiber“ genau beziffert.31 Bloß der Vollständigkeit halber geht Hupel auf Sprache und Lieder der Esten ein, wirklich wichtig nimmt er sie offensichtlich nicht. Genau gegen diese (partiell durchaus ignorante) Haltung wendet sich Schlegels Artikel im Teutschen Merkur. Erst auf der Folie von Hupels Topographie mit ihrem umfassenden wissenschaftlichen Anspruch, der auf Nützlichkeit abzielt, werden das eigentliche Anliegen von Schlegels Text und seine Leistung deutlich – und die ist in gewisser Hinsicht doch auch eine Pionierleistung.

31 „Lostreiber und deren Kinder werden zuweilen verkauft, oder gegen andre Sachen, gegen Pferde, Hunde, Pfeifenköpfe u. d. g. vertauscht: die Menschen sind hier nicht so theuer als ein Neger in den amerikanischen Kolonien, einen ledigen Kerl kauft man für 30 bis 50; wenn er ein Handwerk versteht, Koch, Weber u. d. g. ist, auch wohl für 100 Rubel“ (ebd., S. 127). Ein Lostreiber ist „in Lievland ein umherschweifender mensch der keinen festen sitz hat; auch ein erbbauer, dem von seinem herrn keine ländereien angewiesen sind [...], daher er sich als taglöhner ernährt“. (Jacob und Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch. Bd. 12. München 1984, Sp. 1199.)

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3. Sprache und Lieder als Ausdruck des estnischen Nationalcharakters Bekanntlich hat Wielands Teutscher Merkur grundsätzlich keine Abbildungen. Dennoch räumt er den Noten zu drei estnischen Liedern in Schlegels Beitrag fünf ganze Seiten ein. „Tanz und Gesang“ sind zwei der Lieder überschrieben (II, 426; 428), das dritte ist als „ehstnische Bauermelodie“ ausgewiesen (II, 430), auf die der – zuvor auf Estnisch und Deutsch zitierte – Text zu singen sei, den Herr von Tiesenhausen auf Saus, ein Vertreter der deutschen Oberschicht, „auf den Tod seiner Gemalin“ geschrieben habe (II, 422). In seiner Poetizität zeugt dieser Liedtext von der Bildung seines Verfassers, doch „nicht in Ansehung seiner Ideen, Form und Bilder“ führt Schlegel ihn als „Ehstnisch“ an, „sondern nur in Rücksicht seiner Töne und Schälle“, also wegen des Klangs der Sprache (II, 422). Die Melodien estnischer Lieder erscheinen bei Schlegel, anders als bei Hupel, nicht als Beleg eines Faktensammlers, sondern als ein künstlerisches Produkt von eigenem Wert. Sie seien Ausdruck von „Simplicität und Wahrheit“ (II, 425), lobt Schlegel. Ausführlich würdigt er Gesang und Tanz, der, ganz Natur (II, 431), zugleich ‚wehmütiger‘ Ausdruck des „Herabgebeugten“ sei (II, 432), wie es am Schluss seines Beitrags heißt. Vor allem aber widmet sich Schlegel der Sprache, die das Zartfühlende, Gutmütige der Esten und ihre lebhafte Einbildungskraft zum Ausdruck bringe (II, 418). Dass das Estnische „eine äußerst wohlklingende, weiche, zärtliche und in ihren Tönen harmonievolle Sprache sey“ (II, 417), sucht er durch Vergleiche mit dem Englischen, Französischen und Italienischen zu belegen – den Sprachen also, die den gebildeten Lesern des Teutschen Merkur wohl vertraut sind. Die Gegenüberstellung einer Arie von Metastasio (II, 420f.) und eines estnischen Klagelieds (II, 421) bestärkt ihn in seinem Urteil, dass das Estnische fast so „musikalisch“ sei wie das Italienische (II, 425), auf jeden Fall aber klangvoller als Englisch oder Französisch (II, 417). Im Teutschen Merkur, also dem Aufklärungsorgan, in dem schöne Literatur einen festen Platz hat, das Wielands Dichtungen an die Öffentlichkeit bringt und sich auf die Fahnen geschrieben hat, „auch für angehende Schriftsteller einen Schauplaz zu eröfnen, wo sie sich dem Publico zeigen können“,32 präsentiert Schlegel die Esten als Dichter. Schon im ersten Teil seines Zeitschriftenbeitrags lobt er ja die „Volksgedichte der Esthnischen Nation“ (I, 232) geradezu enthusiastisch: „Simpel, einfach, volle Natur!“ (I, 235) seien sie, „ausdrucksvollste Sprache der Natur“ (I, 241). „Wie naiv!“ ruft er bei einem Hochzeitslied aus, und: „Wer hier nicht Natur fühlt, fühlt sie nirgendwo.“ (I, 239) Das ist die leidenschaftliche Sprache des Sturm und Drang, die Sprache Herders. Und dessen wegweisender Aufsatz Ossian und die Lieder alter Völker von 1773 hat 32 [Christoph Martin Wieland:] Vorrede des Herausgebers. In: Der Teutsche Merkur 1 (1773), S. III− XXII, hier S. IV.

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Abb. 3: Ehstnische Bauermelodie. Aus: [Christian Hieronymus Justus Schlegel:] Etwas über Form, Geist, Charakter, Sprache, Musik und Tanz, der Ehstnischen Nation. In: Der Teutsche Merkur 2 (1788), S. 430.

Schlegels Ausführungen über die „Esthnische Nation“ eindeutig inspiriert, wie schon die ersten Zeilen verraten: „Man erwarte hier keine Iliade Homers oder Lieder Ossians. Wie könnte die das arme Sklavenvolk liefern? Was ich geben werde, sind Ausflüsse eines zärtlichen, oft gequälten Herzen[s], simple Naturpoesien, ein Beytrag zu den Volksgesängen europäischer Nationen von einem Volke oben am finnischen Meerbusen, von dem man sich keinen dichterischen Laut vermuthet hätte.“ (I, 232f.) Die Idee, dass die ungekünstelten Volkslieder Ausdruck der ‚Natur‘, des ‚Eigentümlichen‘ eines Volkes seien, stammt selbstverständlich von Herder. Sie ist im Ossian-Aufsatz formuliert, in dem vom „sinnlichen Verstand“ die Rede ist und von der „Einbildung“ als eigentlicher „Seele des Volks“,33 und sie liegt auch Herders 33 Johann Gottfried Herder: Auszug aus einem Briefwechsel über Ossian und die Lieder alter Völker. In: ders: Werke in zehn Bänden. Bd. 2: Schriften zur Ästhetik und Literatur 1767−1781. Hg. v. Gunter E. Grimm. Frankfurt a. M. 1993, S. 447−497, hier S. 477 (S. 445−562: „Von deutscher Art und Kunst. Einige fliegende Blätter“). Einbildungskraft als eine besondere Qualität der Esten findet

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Abb. 4: Hochzeitslied. Aus: [Christian Hieronymus Justus] S[chlegel:] Volksgedichte der Esthnischen Nation. In: Der Teutsche Merkur 4 (1787), S. 235.

zweibändiger Sammlung Volkslieder aus den Jahren 1778/79 zugrunde. So schreibt Herder in der Vorbemerkung zu seiner Liedersammlung: Schon die älteste griechische Poesie, die „im Ohr des Volks, auf den Lippen und der Harfe lebendiger Sänger“ „lebte“, „war die Blume der Eigenheit eines Volks, seiner Sprache und seines Landes, seiner Geschäfte und Vorurteile, seiner Leidenschaften und Anmaßungen, seiner Musik und Seele“.34

sich leitmotivisch auch in Schlegels Beitrag. 34 Johann Gottfried Herder: Volkslieder. Nebst untermischten andern Stücken, Zweiter Teil. In: ders.: Werke in zehn Bänden. Bd. 3: Volkslieder, Übertragungen, Dichtungen. Hg. v. Ulrich Gaier. Frankfurt a. M. 1990, S. 229−428, hier S. 230 (S. 230−248: „Vorrede“).

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„Je wilder“, das heißt je ungebundener („freiwirkender“) und „lebendiger [...] ein Volk ist“, „desto lebendiger, freier, sinnlicher“ seien seine „Lieder“, postuliert Herder im Ossian-Aufsatz,35 wo er nur pauschal auf die Lieder aus „Lapp- und Esthland“, auf „Lettisch und Pohlnisch, und Schottisch und Deutsch“ verweist.36 Auch in seine Volkslied-Sammlung nimmt er – übrigens auf Hupels Vermittlung37 – ein paar estnische Texte auf, er bringt sie allerdings nur in deutscher Übersetzung. Da ist außer Hochzeitsliedern eine lange Klage über die Tyrannen der Leibeignen abgedruckt,38 um die „wirklich gefühlte[...] Situation eines ächzenden Volks“ zu Gehör zu bringen.39 Deshalb druckt Herder das Lied vollständig ab, obwohl es „abgekürzt [...] schöner“ wäre.40 Bei Schlegel hingegen finden sich nur wenige Verse daraus41 – weil es ihm vorrangig darum zu tun ist, die Esten trotz aller Unterdrückung als empfindsam und zur Poesie fähig darzustellen.42 Indem Schlegel Hupels Topographie im Sinne Herders korrigiert, leistet er in der Tat Pionierarbeit. Erstmals bietet er einem breiteren deutschen Publikum jenseits des Baltikums eine Zusammenstellung estnischer Lieder auch in Originalsprache, die er als Ausdruck für die Eigentümlichkeit des estnischen Volkes liest. Das ist gegenüber Hupel ein qualitativer Sprung. Wenn Schlegel gerade das, was der Wissenschaftler marginalisiert, ins Zentrum des Interesses rückt, und zwar in Wielands Teutschem Merkur als einem Forum, das „moralphilosophisch [...] auf die Mitmenschen bildend einzuwirken suchte“,43 löst er die Esten aus der Position von Objekten im wissenschaftlichen Diskurs. Stattdessen gibt er ihnen eine Stimme durch den Abdruck und die Erläuterung einer Reihe von Liedern, die über die Grenzen Estlands hinaus bekannt werden sollen. So würdigt er sie als eine Nation mit eigenem Charakter, der sich, wie bei anderen Völkern auch, in den Erscheinungsformen ihrer Kultur äußert. Die Formulierung des Titels: Form, Geist, Charakter, Sprache, Musik und Tanz, der Ehstnischen Nation ist folglich weniger eklektisch zu lesen als vielmehr programmatisch zu verstehen. Dabei schließt Schlegel an die seit Herder bekannte Denkfigur

35 Herder: Über Ossian und die Lieder alter Völker (= Anm. 33), S. 452. 36 Ebd., S. 478. 37 „Die Esthnischen und Lettischen Lieder dieses Teils, sind mir durch die Güte des Verf[assers] der topographischen Nachrichten von Lief- und Esthland worden. Für die Treue der Lieder ist also Bürgschaft da; für die Schönheit jeder Strophe brauchts keine Bürgschaft, da hier von treuen, wahren, charakteristischen Gesängen eines Volks, und nicht von abstraktem Ideal eines Liedes die Rede sein kann. Es sind daher diese, so ich geliefert, nur als Proben aus einer größern Anzahl erlesen.“ (Herder: Volkslieder [= Anm. 34], S. 420 [S. 417−428: „Verzeichnis“].) 38 Siehe ebd., S. 301−303. 39 Ebd., S. 420. 40 Ebd. 41 Siehe die Übereinstimmungen zwischen Herder: Volkslieder (= Anm. 34), S. 302, und den Versen 6f. sowie 10−17 bei Schlegel (I, 246). 42 Herder lässt dagegen in seiner Sammlung griechische Hochzeitslieder auf das Klagelied folgen, „um zarte griechische Seelen über die Barbarei der vorhergehenden und folgenden zu trösten“. (Herder: Volkslieder (= Anm. 34), S. 420.) 43 Sven-Aage Jørgensen, Herbert Jaumann, John A. McCarthy u. Horst Thomé: Christoph Martin Wieland. Epoche – Werk – Wirkung. München 1994, S. 165.

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an, dass aus dem ‚Keim‘, den Anlagen, des Volkes bei freier, ungehemmter Entfaltung Beachtliches sprießen könnte: „eine liebliche Sprache, die bey Kultur und freyem Athem dieses Volks immer lieblicher werden würde“, und „schöne Stücke“ im „Reich der Poesie, mit originellem Stempel versehen“ (I, 254).44

4. Nach- und Widerhall Im Jahr 1843 würdigt der Historiker und Jurist Paucker, Vizepräsident der neu gegründeten Ehstländischen Literärischen Gesellschaft, Schlegels Bemühungen um die estnische Kultur in einem ausführlichen Nachruf. Zu einer Zeit, da Hupels Werk in Deutschland noch kaum bekannt gewesen sei, hätte Schlegel mit seinem Beitrag in „Wieland’s damals viel gelesenem und weit verbreiteten ‚Deutschen Merkur‘ [...] die vollständigste, charakteristische Auffassung und Darstellung der Eigenthümlichkeiten esthnischer Nationalität“ veröffentlicht; selbst Generationen später blieben Schlegels Beobachtungen unerreicht, seine Ausführungen seien „auch für die Zukunft unter den Sitten und Charakterschilderungen unseres Volks“ von „unverlierbarem Werth“.45 ‚Unser Volk‘ meint selbstverständlich die Esten, und doch erscheint der Nachruf in einem deutschsprachigen Journal. Damit steht sein Verfasser in der Tradition der „baltischen Aufklärer“, die „sich ganz allgemein der deutschen ‚Gelehrtenrepublik‘ zugehörig“ „fühlten“ und „zugleich“ als „liv- und estländische Patrioten“ verstanden.46 Bei Paucker und bei Schlegel ist, wie gezeigt, die Rede von den Esten als Volk oder Nation im Sinne von Herkunft und Kultur zu verstehen. Die Forderung nach einer politischen Emanzipation der Esten – gegen die deutsche Oberschicht – sollte erst nach 1850 laut werden.47 Überhaupt verzichten Schlegels Beiträge im Teutschen Merkur auf explizit politische Forderungen. Zehn Jahre später, nach der Französischen Revolution, liegen die Dinge anders. Im Jahr 1797 verweist der Herausgeber des Neuen Teutschen Mer44 In seiner Bemühung um Beschreibung und Vermittlung estnischer Lieder tritt Schlegel nicht nur in die Fußspuren Herders, sondern er geht zugleich über diesen hinaus. Denn in seiner 1772 publizierten Abhandlung über den Ursprung der Sprache zählt Herder die „Estländer“ noch, ebenso wie die „Lappen“, zu einem „kleinen Rest von Wilden in Europa“, die „oft eben so halb artikulierte und unschreibbare Schälle, als Huronen und Peruaner“ hätten. (Johann Gottfried Herder: Abhandlung über den Ursprung der Sprache [...]. In: ders.: Werke in zehn Bänden. Bd. 1: Frühe Schriften 1764−1772. Hg. v. Ulrich Gaier. Frankfurt a. M. 1985, S. 695−810, hier S. 703.) 45 C. H. J. Schlegel’s Leben und Schriften. Vorgetragen am 15. September 1843 in der öffentlichen Versammlung der Allerhöchst bestätigten esthl[ändischen] litter[ärischen] Gesellschaft von deren Vice-Präsidenten Dr. C[arl] J[ulius] Paucker. In: Archiv für die Geschichte Liv-, Esth- und Curlands 5 (1847), S. 95−107, hier S. 101. Schlegel sei nicht nur ein sehr genauer Beobachter estnischer Sitten gewesen, sondern habe zudem estnische „Mährchen, alte Lieder und Sprüche“ gesammelt, „welche von eben so viel Mutterwitz, als Phantasie und Tiefe der Empfindung eines rohen Naturvolks zeugen“ (ebd., S. 99). 46 Norbert Angermann, Karsten Brüggemann: Geschichte der baltischen Länder. Stuttgart 2018, S. 178. Weiter heißt es, sie „bekannten sich aber auch zu Russland, in dessen Kaiserin Katharina II. sie das Beispiel einer aufgeklärten Herrscherin sahen“ (ebd.). 47 Siehe ebd., S. 199−209 („Die nationalkulturellen Emanzipationsbewegungen“).

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kur48 lobend auf Garlieb Merkels radikal aufklärerisches Buch Die Letten, vorzüglich in Liefland am Ende des philosophischen Jahrhunderts, in dem die „empörende Hauszucht des Liefländischen Adels“ zu Recht an den Pranger gestellt werde.49 Es sei nur zu hoffen, dass der neue Zar „diese seufzende Nazion“ erhöre.50 Mit diesen Worten wird ein Beitrag im Neuen Teutschen Merkur eingeleitet, der aus Merkels Feder stammt: Über Dichtergeist und Dichtung unter den Letten. Darin würdigt Merkel die Letten als ein Volk, das seine Eigentümlichkeit in seinen Liedern zum Ausdruck bringe und durch die Geschichte seiner Unterdrückung geprägt sei. Wenn der Herausgeber Böttiger seinen Lesern empfiehlt, Merkels Bild „dieses unglücklichen Volks [...] mit einigen frühern Aufsätzen im Merkur ähnlichen Inhalts“ zu „vergleichen“,51 bezieht er sich zweifellos auf Schlegel – freilich ohne ihn zu nennen oder gar als einen Pionier zu würdigen.

48 Karl August Böttiger, „ständiger Mitarbeiter seit Ende 1791“, „übernimmt“ 1796 „die redaktionelle Leitung der Zeitschrift“ und „verwandelt“ sie „in ein antiquarisches Journal für Fachgelehrte“, mit „manch einem wichtigen politisch-historischen Beitrag Wielands“ (Jørgensen u. a.: Christoph Martin Wieland [= Anm. 43], S. 164). 49 So Böttiger in seiner zweiseitigen Vorbemerkung zu Garlieb Merkel: Ueber Dichtergeist und Dichtung unter den Letten. In: Der Neue Teutsche Merkur 2 (1797), S. 29−49, hier S. 29. 50 Ebd., S. 30. 51 Ebd.

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Erste Begegnungen. Über Angelsachsen, England und Engländer in deutschbaltischen Zeitschriften um 18001 Welches Bild der englischsprachigen Kultur hatten die Deutschbalten? Im Gegensatz zur florierenden deutschen Forschung zum Vereinigten Königreich, dessen Kultur und Literatur, die schon längst eine England-Begeisterung für das Deutschland des 18. Jahrhunderts – man spricht sogar vom „englische[n] Jahrhundert der deutschen Literatur-, Geistes- und Wirtschaftsgeschichte“ (Bernhard Fabian)2 – attestiert und an vielen Beispielen erläutert hat, gibt es kaum Untersuchungen, die das EnglandBild und die Anglophilie der deutschen Minderheit im Baltikum zum Gegenstand gemacht hätten. Bis vor Kurzem waren es hauptsächlich Kunsthistoriker, die sich für die England-Rezeption im Baltikum um 1800 interessierten und zu Themen wie der Rezeption der englischen Gutsarchitektur forschten.3 In anderen Bereichen lassen sich britische Einflüsse nur sporadisch verzeichnen und wurden oft über die Vermittlung Deutschlands und manchmal auch St. Petersburgs ins Baltikum transferiert; sie treten etwa in Verbindung mit Moralischen Wochenschriften, Clubs, gelehrten Gesellschaften, allgemeinnützigen ökonomischen Vereinen und Freimaurern auf. So hat die Buchhistorikerin Tiiu Reimo einen Artikel über die Bibliothek von Conrad Joseph de Nuss, einem anglophilen Juristen aus Reval (Tallinn), geschrieben, der in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts lebte.4 Mein Anliegen ist es, die Desiderate in puncto Literatur einigermaßen zu beheben. Dazu habe ich schon eine erste Übersicht über die deutschbaltische Rezeption der englisch(sprachig)en Lyrik und des Dramas anhand der Bestände der Bibliothek der Estländischen Literärischen Gesellschaft, einer deutschbaltischen gelehrten Gesellschaft (1842–1940) 1 Dieser Artikel wurde von der Europäischen Union durch den Europäischen Fonds für regionale Entwicklung (Exzellenzzentrum CEES) gefördert und ist mit dem Forschungsprojekt IUT20-1 des Estnischen Bildungs- und Forschungsministeriums verbunden; der Artikel ist ebenfalls verknüpft mit der kulturhistorischen Baltica-Sammlung der Akademischen Bibliothek der Universität Tallinn. 2 Bernhard Fabian: Selecta Anglicana. Buchgeschichtliche Studien zur Aufnahme der englischen Literatur in Deutschland im achtzehnten Jahrhundert. Wiesbaden 1994, S. 141, zitiert nach Jennifer Willenberg: Distribution und Übersetzung englischen Schrifttums im Deutschland des 18. Jahrhunderts. München 2008, S. 5. 3 Zu erwähnen wären hier vor allem die Arbeiten der zwei bekanntesten Forscher der Gutsarchitektur in Estland, Juhan Maiste und Ants Hein, siehe zum Beispiel Juhan Maiste: English Style Garden and Baltic Identity. In: Lars Olof Larsson (Hg.): Kunst- und Kulturgeschichte im Baltikum. Homburger Gespräche. Kiel 2006, S. 131−148; Ants Hein: Inglise pargistiili algusaegadest Eestis [Über die Anfangszeiten des englischen Parksstils in Estland]. In: Tiina Tammet (Hg.): Eesti parkide almanahh [Almanach der estnischen Parks]. Tallinn 2016, S. 10−23. 4 Tiiu Reimo: Anglofiil Eestis. Pilguheit Conrad Joseph des Nussi raamatukokku [Ein Anglophiler in Estland. Ein Blick in die Bibliothek von Conrad Joseph de Nuss]. In: Omanikumärgid vanaraamatus. Artiklite kogumik = Ownership marks in old books. Collection of articles. = Vladel’českij znak na starinnoj knige: sbornik statej. Tallinn 2008, S. 25−33.

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in Nordestland/Reval, veröffentlicht.5 Die Sammlung reicht in die Zeit der Inkunabeln zurück, der Schwerpunkt im Bereich der Literatur liegt im 18. und 19. Jahrhundert.6 Die Schlussfolgerungen, die man anhand dieser Materialien ziehen kann, sind jedoch oft eher indirekter Art. Um nachzuvollziehen, welches Wissen von der englischsprachigen Kultur im Baltikum anzunehmen ist, bietet sich besonders das Medium Zeitschrift an.7 In diesem Artikel werde ich mich auf einige wenige in baltischen Periodika erschienene Beispiele aus dem Zeitraum um 1800 konzentrieren, die exemplarisch erste Begegnungen mit der englischsprachigen Kultur dokumentieren. Dazu gehören: Gedanken über erste, nur vermutete Aufenthalte der Angelsachsen im Baltikum; erste für baltische Leser beschriebene Begegnungen mit England, vermittelt durch Reisende aus Deutschland, oder wenig später, von Deutschbalten selbst, und schließlich eine Nachricht von einem nachweislichen Aufenthalt britischer Untertanen auf dem Boden Estlands. Ich hoffe aber, dass am Beispiel dieser Beiträge recht gut sichtbar wird, wie sich das Bild von England und den Engländern im Baltikum im 18. Jahrhundert entwickelte. 5 6

7

Vgl. hierzu auch Kairit Kaur: Inglise luule ja draama baltisaksa retseptsioonist. Eestimaa Kirjanduse Ühingu raamatukogu põhjal. [About the Baltic German Reception of English Poetry and Drama, based on the Library of the Estonian Literary Society]. In: Keel ja Kirjandus 5 (2018), S. 365−381. Siehe hierzu auch meinen Beitrag zur graveyard poetry: Kairit Kaur: Totentanz and Graveyard Poetry: about Baltic German Reception of English Graveyard Poetry. In: Methis. Studia humaniora esthonica 21/22 (2018), S. 26−49. Wie ich ermitteln konnte, kann man etwa seit den 1740er Jahren eine Rezeption der englischen graveyard poetry im Baltikum feststellen. Näher betrachtet werden im Artikel die erste Übersetzung eines graveyard poems im Baltikum, Gottlieb Schlegels, des Rektors der Rigaer Domschule Verdeutschung von Thomas Grays Elegy written in a Country Churchyard (Riga 1783) und Elisa von der Reckes Gedicht Todtenköpfe (1797) im Dialog mit Robert Blairs Poem The Grave (1743) und Friedrich Schillers Resignation (1786) sowie der am meisten rezipierte Text dieser poetischen Strömung, Edward Youngs umfangreiches Poem Nachtgedanken (The Complaint or Night-Thoughts on Life, Death, and Immortality), das seine Wichtigkeit unter deutschbaltischen Lesern ungewöhnlich lange behauptete – noch 1939 veröffentlichte Heinrich Mutschmann, Professor für Englisch an der Universität Tartu/Dorpat eine von der Psychoanalyse inspirierte Interpretation und Verteidigung dieses Textes, Youngs bis zu diesem Zeitpunkt größtenteils schon in Vergessenheit geratenes Gedicht sogar neben Goethes Faust stellend. Interessanterweise scheint ein größeres Interesse für englischsprachige Kultur ziemlich genau um dieselbe Zeit eingesetzt zu haben, als die Zeitschriftenlandschaft im Baltikum zu entstehen begann, das heißt um die Mitte des 18. Jahrhunderts. Die ältesten englischen Bücher in der Unterabteilung XII der Bibliothek der Estländischen Literärischen Gesellschaft sind zwar schon 1715 und 1730 gedruckt (Benjamin Griffins Injured Virtue: Or, The Virgin Martyr [Standortnummer: XII-470] bzw. John Miltons Paradise lost [XII-2180]), die ältesten Bücher mit Besitzervermerken stammen aber erst aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. So erwarb Johann Berend Stein, Ältester der Seiden- und Lakenhändler-Kompagnie in Reval, im Jahr 1760 ein Exemplar des 1740 in Hamburg auf Deutsch erschienenen An Essay on Man von Alexander Pope, übersetzt von Bartholomäus Johann Zinck und herausgegeben vom berühmten Naturdichter Barthold Heinrich Brockes (XII-588). (Kairit Kaur: Inglise luule ja draama [= Anm. 5], S. 372). Die ersten Zeitschriften im Baltikum waren Moralische Wochenschriften, die um 1740 entstanden, eine kontinuierliche Entwicklung auf diesem Feld setzte um 1760 ein, als im Jahr 1761 Gelehrte Beyträge zu den Rigischen Anzeigen zu erscheinen begannen. (Näher zu der Entstehung der Zeitschriftenlandschaft siehe: Indrek Jürjo: Aufklärung im Baltikum. Leben und Werk des livländischen Gelehrten August Wilhelm Hupel (1737−1819). Köln, Weimar u. Wien 2006, S. 181−198).

Über Angelsachsen, England und Engländer in deutschbaltischen Zeitschriften

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1. Die Angelsachsen im Baltikum In den Gelehrten Beyträgen erschien im Jahr 1762 ein erster Beitrag, der eine Brücke zwischen England und dem Baltikum zu schlagen versuchte. Ob die Angelsachsen oder andere teutsche Völker, nach Taciti und anderer Geschichtsschreiber Meinung, in Lief- und Kurland, in alten Zeiten gewohnet haben, fragte ein anonymer Verfasser, wobei unter ,teutsch‘ wohl ,germanisch‘ zu verstehen ist.8 Im ersten Abschnitt seines Aufsatzes erläutert er näher, welche Annahmen ihn zu seiner Untersuchung bewogen haben: Die Angelsachsen, von welchen die Aengelländer, Engelländer, ihren Namen bekommen haben, durch die Aussprache des Buchstaben A, wie ein Ae oder E, wohnten in dem Winkel, oder Angel des Sachsenlandes, an der Ostsee, welches itzo Holstein heisset, und Liefland an dieser Seite der Ostsee gegen über lieget; so daß es wohl möglich gewesen, daß diese Angel- oder Aengelländer, gleichwie sie in näheren Zeiten, nämlich im fünften Seculo, und also vor dreyzehnhundert Jahren, als von den Britten erbetene Hilfsvölker, wider die Schotten, ein Zug nach Engelland thaten, sie auch lange vorher, von Ueberfluß an Menschen gereitzet, Ostwärts, nach Liefland gezogen, und sich daselbst Wohnungen bereitet haben, hernach aber, bald oder spät von den Wenden und Letten wieder verdränget worden, mit Hinterlassung verschiedener Wörter ihrer Sprache. Diesem ohngeachtet wird man aus diesem Grunde, Liefland so wenig als Preussen und Kurland, und weniger Lapland, mit dem Tacito zu Teutschland zu rechnen haben: weil die eigenthümlich gewordenen teutschen Völker sich nachdrücklich würden gehalten haben, daß mehr als die noch übrige Wörter würden nachgeblieben seyn. Derowegen ist zu glauben, daß wann ja Angelsachsen unser Liefland bewohnet haben, es nur eine Bewohnung auf kurze Zeit gewesen.9

Der Autor versucht anhand von ausgewählten Wortbeispielen die These zu beweisen, dass [m]an […] schon vorlängst das engelländische Wort Look, welches die Engelländer Luck aussprechen, und welches bey den Letten und bey den Engelländern Sehen bedeutet, zum Beweis der vormaligen Anwesenheit der Angelsachsen gebraucht [hat]: es sind derselbigen aber noch vielmehr, obgleich die Aussprache zuweilen verändert worden. Wedge (sprich Wedsche) ist auf englisch, ein Keil Holz zu spalten, und wird auf Lettisch wadsis, in gleicher Deutung ausgesprochen. Gune ist Feur auf engelländisch: Uggun dasselbe im lettischen. Sew (sprich schu) heisset nähen auf engelländisch, und auf Lettisch bedeutet schut dasselbe. Wilie bedeutet in beiden Sprachen Betrug. String ein Strick, auf englisch, wird auf lettisch Streng genannt. Tarri aufhalten heisset im lettischen turret. Jou engelländisch ihr, ist das lettische juhs. Bet heisset im lettischen, aber, im engelländischen but.10 […] Die Particul par bedeutet im lettischen eine mäßige Behandlung einer Sache, als par-warit heisset mäßig kochen und so wird im englischen solcher Particul gebrauchet, par-boil 8

O. A.: Ob die Angelsachsen oder andere teutsche Völker, nach Taciti und anderer Geschichtsschreiber Meinung, in Lief- und Kurland, in alten Zeiten gewohnet haben; und wie die alten teutschen sächsischen Wörter in die Lettische Sprache gekommen; im gleichen die griechischen oder anderer Völker Sprachen. In: Gelehrte Beiträge zu den Rigischen Anzeigen. Hg. von Johann Gottfried Arndt. Riga 1762, St. 4, S. 25−31; St. 6, S. 49−56, hier S. 25. 9 Ebd., S. 25−26. 10 Ebd., St. 4, S. 26.

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heisset auch im Englischen etwas mäßig kochen. Der Buchstabe L. wird vor vielen engländischen Wörter doppelt gesetzet, und obwohl solches im lettischen nicht geschiehet, so wird doch ein einzelnes l im Lettischen mit einem doppelten ausgesprochen.11

Ganz sicher ist er seiner Sache jedoch nicht: Diese angeführten teutschen Wörter, die in der lettischen Sprache vorhanden sind, haben den Schein gehabt, des Taciti Nachricht, daß Liefland in alten Zeiten von Teutschen bewohnet gewesen, zu bekräftigen. Es will solches aber dadurch nicht ganz erhärtet seyn. Der Herzog von Kurland Ernst Johann sandte etwa A. 1738. hundert Cabanische TatternKnaben nach Kurland; vielleicht ist ein Theil derselben wieder davon gelaufen, vielleicht aber haben sicher viele daselbst beweibet, gewiß werden in dasiger Gegend hiedurch viele Tatarische Wörter zu finden seyn, dermaßen, daß die Nachkommen glauben werden, das Land sey von undenklichen Jahren von Tattern bewohnet worden.12

Leider blieb der Autor dieses Aufsatzes anonym, so dass man nur über seine Identität mutmaßen könnte. In seinem Artikel verweist er mehrmals auf einen Montan, mit dem er diskutiert.13 Bei diesem Montan handelte es sich um Johann Bernhard von Fischer (1685–1772), den ehemaligen Leibarzt der russischen Zarin Anna Ivanovna, der 1742 aus dem öffentlichen Dienst ausschied, sich auf ein kleines Gut in der Nähe von Riga zurückzog und sich der Landwirtschaft und dem Schreiben widmete. 1745 gab er in Riga ein Buch mit dem Titel Hinter-Bergens Allgemeine und eigene Winter- und Sommerlust, Mit untermischten Physicalischen und Moralischen Betrachtungen in Versen beschrieben, Von daselbst in Beruhigung vnd Friede wohnenden Montan heraus, eine Verserzählung, die inspiriert von Brockes die Natur und das Landleben preist. In demselben Buch ist außerdem eine etymologische Erörterung zu finden, wie der Untertitel des Buches signalisiert: Nebst dessen [Montans] angehängten Gedanken Uber die Nahmen der Stadt Riga, Curlandes und Lieflandes, in der Landesund in der teutschen Sprache. Dieser Aufsatz war nicht der einzige, in dem er etymologisch arbeitete, außerdem verzeichnen Recke und Napiersky ihn als Autor der „Erörterung, ob der Eridanus der Alten der heutige Dünastrom sei“.14 Könnte es sein, dass auch der Artikel über die Angelsachsen eigentlich von „Montan“ selbst verfasst worden ist? Recke und Napiersky zählen Johann Bernhard von Fischer jedenfalls zu den Mitarbeitern der Gelehrten Beyträge.15 Auch direkte Bezüge zu England sind bei ihm festzustellen: Nach seinem Medizinstudium in Deutschland und in den Niederlanden besuchte der in Lübeck geborene und in Riga aufgewachsene junge Mann aus einer Arzt- und Apothekerfamilie 1709 neben Frankreich auch England; im Jahr 1744 wurde er Mitglied der Royal Society. Außerdem hat er u. a. Schriftbeispiele für Englisch herausgegeben,16 so dass angenommen werden kann, dass er zumindest 11 12 13 14

Ebd., St. 4, S. 28. Ebd., St. 4, S. 29. Ebd., St. 6, S. 49, S. 55, S. 56 (Anm. 8). Allgemeines Schriftsteller- und Gelehrtenlexikon der Provinzen Livland, Esthland und Kurland. Hg. v. Johann Friedrich von Recke u. Carl Eduard Napiersky. Bd. I. Mitau 1827, S. 579. 15 Ebd., S. 580. 16 Siehe Lexikon der deutschsprachigen Literatur des Baltikums und St. Petersburgs. Hg. v. Carola L.

Über Angelsachsen, England und Engländer in deutschbaltischen Zeitschriften

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Englisch lesen konnte. Verbindungen zu Angelsachsen wurden noch ein halbes Jahrhundert später gesucht. In der Zeitschrift Livona schrieb ein anonymer Autor 1812 in der Rubrik „Schilderungen und Züge aus der nordischen Vorzeit“ über die „Lebensweise der Aestier zu den Zeiten Alfreds, Königs der Angelsachsen“.17

2. Die ersten Schilderungen des zeitgenössischen Englands a. Auf der Suche nach dem britischen ‚Nationalcharakter‘ in London und Bath Erste umfassendere Schilderungen des zeitgenössischen Englands, meist in Form von Reiseberichten, erschienen in deutschbaltischen Zeitschriften in den 1780er Jahren. Im Jahr 1780 wurden in der Lektürezeitschrift Für Leser und Leserinnen „Bemerkungen über England, aus der Brieftasche eines Reisenden von Stande“ abgedruckt.18 Leider fehlt auch hier der Name des Verfassers, einige Passagen im Text deuten aber an, dass sie vermutlich von einem in Deutschland wohnenden Autor stammen, wie zum Beispiel eine Ausführung über englische Gastfreiheit erahnen lässt: In Deutschland begeben sich Landbegüterte des Sommers auf ihre Güter, sowohl um die Verbesserung derselben zu besorgen, als auch die Lücken wieder außzubessern, die ihr Vermögen durch den Aufenthalt in grossen Städten erhalten hat, und zu sammeln, daß sie es auf den Winter wieder zusetzen können. Hier [in England] hat jeder Eigenthümer auch wohl die erstere Absicht, aber die andere findet nicht statt; denn der Edelmann auf seinen Gütern ist ein geborner Gastwirth aller seiner Nachbarn mit ihrem ganzen Gefolge, und derjenige, der selbst keinen Landsitz hat, kömmt mit seiner ganzen Familie, oft ungebeten, um zwey bis drey Monate lang den londner Kohlendampf außzudünsten. Hierin besteht die gepriesene englische Gastfreyheit.19

Zumindest im 19. Jahrhundert lassen sich längere Aufenthalte auf den Gütern von Verwandten als gängige deutschbaltische Sitte ausweisen. Eine zunächst von England inspirierte Mode? Über das englische Landleben wird noch mehr berichtet. „Sollte man glauben können, dass Leute von Stande und beträchtlichem Vermögen, 4000 Pfund Sterling (denn so viel kostet eine Kompagnie zu Pferde) bezahlen, um sich drey bis vier Monate auf einem Dorfe zu begraben, wo sie keine andere Gesellschaft haben, als den Dorfpfarrer, den Steuereinnehmer, und etwa einige Reisende.“20 Dabei betont er: „Die Lebensart der Edelleute auf dem Lande ist von der bey uns gewöhnlichen so unterschieden, ja selbst von der städtischen in England Gottzmann u. Petra Hörner. Bd. I. Berlin u. New York 2007, S. 425. 17 In: Livona: ein historisch-poetisches Taschenbuch für die deutsch-russischen Ostsee-Provinzen. Hg. v. Gotthard Tobias Tielemann. Bd. I. Riga u. Dorpat 1812, S. 207−211. 18 O. A.: Bemerkungen über England, aus der Brieftasche eines Reisenden von Stande. In: Für Leser und Leserinnen I (1780), H. 1, S. 58−79; H. 2, S. 116−136. 19 Ebd., H. 2, S. 130. 20 Ebd., H. 1, S. 62.

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so verschieden, dass derjenige, der den Britten nicht anders als in London gesehen hat, nur einen sehr unvollkommenen Begriff davon haben kann.“21 „Der vornehme und niedere Adel machen besonders auf ihren Landsitzen ihren größten Aufwand, hier suchen sie in ihrer Kleidung die äußerste Simplicität, und ihren Glanz in der leckerhaftesten Schwelgerey, an den schönsten und schnellsten Pferden, an den mehresten Hunden, und vorzüglich in den mehresten Besuchen.“22 Schon hier wird das Stereotyp des kennerhaften, aber exzentrischen Engländers eingeführt: „Hier zeigen sie vornehmlich ihren Geschmack an den schönen Künsten, und ihren Hang zum Sonderbaren.“23 Die Kombination von Simplizität und Kennerschaft wird auch an den Alleen und (natürlich wirkenden) Parks,24 sowie an der „prächtige[n] und geschmackvolle[n] Meublirung“ ihrer Landhäuser hervorgehoben.25 Der englische Squire wird als „ein Muster wunderlichsonderbarer Menschen“26 bezeichnet. Einsam und langweilig ginge es auf dem Lande jedoch keineswegs zu. Der Edelmann hat während seines Aufenthalts auf dem Lande nicht einen langweiligen Augenblick. Sein speculativer Geist beschäftigt sich mit Beobachtungen über den Landbau; der Morgen wird gemeiniglich mit Besuchung seiner Ländereyen zugebracht, wenn es das Wetter erlaubt, wo nicht, mit lesen und schreiben; die übrige Zeit ist der Jagd, Fischerey u.s.w. gewidmet. Auf diese Vergnügungen folgen die Besuche; man setzt sich in zahlreicher Gesellschaft zu einer köstlichen Tafel; die besten französischen Weine sind im Ueberfluß, aus den Städten braucht nichts gekauft zu werden, um die Schüsseln zu vervielfältigen; eigene Heerden, Ställe, Teiche, Parks und Gärten versehen die Küche mit allem, was zu einer leckerhaften Tafel erforderlich seyn kann.27

Ein Beispiel zum Nacheifern. Wirklich zugänglich sei diese Lebensart allerdings nur den Reichsten, konstatiert der Verfasser.28 Als ein exzentrisches Hobby der englischen Landjunker wird die Fuchsjagd dargestellt.29 Der Verfasser spricht in diesem Zusammenhang sogar von einer „Jagdtollheit“,30 von der auch die Pferde der Junker angesteckt seien, und die auch zu sinnlosen Jagdunglücken führen konnte.31 Nach der Jagd wurde heftig gefeiert, so dass der Morgen so manchen Edelmann unter dem Tisch finden konnte.32 Zum Landleben gehörte auch das Militär, dessen Lebensweise und Zusammensetzung einer längeren Beschreibung für wert erachtet wurde.33 Die Landtruppen seien

21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33

Ebd., H. 2, S. 129. Ebd. Ebd., H. 2, S. 132. Ebd., H. 2, S. 130. Ebd. Ebd., H. 2, S. 132. Ebd., H. 2, S. 131. Ebd., H. 2, S. 131f. Ebd., H. 2, S. 132f. Ebd., H. 2, S. 133. Ebd., H. 2, S. 134. Ebd. Ebd., H. 1, S. 62−64; S. 75−77 über das Hospital zu Chelsea für verwundete Landsoldaten.

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aber im Gegensatz zu Seekräften benachteiligt und auf dem Lande nicht beliebt, da sie auf Kosten der Landbesitzer unterhalten werden, behauptet der Reisende: „Die Nation, die ganz Seemann ist, schätzt nur den Seeoffizier, dessen Nutzen er um so mehr erkennet, da er ihr nichts kostet.“34 Just mit einem Ausflug nach Greenwich Hospital, dem Pensionat für verwundete Seeleute, an dem nicht gespart wurde, beginnt der Aufsatz.35 Umgeben von einem schönen Park und geschmückt mit einem Amphitheater, eröffneten sich von dort aus großartige Aussichten auf London und die Umgebung sowie auf die majestätische Themse. Auf dem Flussweg begab sich der Reisende nach London, wo der Besucher von einem regen Schiffsverkehr begleitet wurde.36 In London angekommen, macht er Bekanntschaft mit den englischen Clubs, schildert die Aufnahmeprozedur, berichtet, dass Fremde nur als Gäste eingeladen, aber nicht Mitglieder werden können. Hier sei der beste Ort, um den Charakter der Nation kennenzulernen. Im Zusammenhang mit den Engländern spricht er geradezu von einer „Clubsucht“.37 Interessant findet er außerdem, dass es auch Frauenclubs gibt. Dabei handelte es sich nicht um geschlossene Treffpunkte nur für das schönere Geschlecht, sondern auch Männer waren eingeladen, um einen zivilisierten gesellschaftlichen Umgang zu kultivieren, „durch Wohlstand und Sittsamkeit gemäßigt.“38 Unter sich würden sich die Männer, zumindest was feiernde Soldaten betrifft, ganz anders benehmen: „Die Freyheit, dieser angebetete Götze des brittischen Volkes, ist gänzlich von der Tafel verbannt, wo sich nur Mannspersonen befinden. Man erwählt einen Despoten, und seine Befehle müssen ohne Untersuchung, ohne Wiederrede vollzogen werden.“39 Zu englischen Frauen äußert er die Meinung, dass sie zärtlich und bis zum Übertriebenen empfindsam seien. „Wenige Nationen treiben die Anständigkeit so hoch.“40 Andererseits findet er, dass die englischen Frauen entweder höchst tugend-, oder aber höchst lasterhaft seien.41 Sie erhielten eine sorgfältige Erziehung, sowohl des Verstandes als auch des Herzens. Die Eltern sparten nicht an ihrer Erziehung,42 auch nicht außerhalb des Hauses, was die Institution der Frauenzimmerpensionen hat entstehen lassen. Ein Beispiel aus Chelsea wird auch vorgestellt, wobei ihr Vorteil gegenüber Mädchenklosterschulen hervorgehoben wird, da sie meistens von Witwen geführt werden, die anders als viele Nonnen verheiratet gewesen sind und das Eheleben, für das sie die Mädchen erziehen, selbst aus Erfahrung kennen.43 Der Grundsatz, dass „die Frauenzimmer und die Geistlichen geehrt werden müssen“, sei in England allgemein.44 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44

Ebd, H. 1, S. 62. Ebd., H. 1, S. 58f. Ebd., H. 1, S. 60. Ebd., H. 1, S. 61. Ebd. Ebd., H. 1, S. 63. Ebd., H. 1, S. 61. Ebd., H. 1, S. 62. Ebd. Ebd., H. 1, S. 77f. Ebd., H. 2, S. 129.

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Immer wieder moniert der Verfasser, dass die königlichen Einrichtungen auf ihn nicht wirklich majestätisch wirkten: „Die einzige Promenade in dem ganzen London ist der St. James Park, ein königlicher Garten, der aber nichts königliches enthält, ebenso wenig wie die Paläste die daran stossen; nämlich der St. James Palast und der Königin Palast [Buckingham House]. Beyde entsprechen nicht der Hoheit eines so großen Monarchen.“45 Die Wohnungen, in welchen Themis ihre Orakelsprüche erhält, mögen ohne allen eitlen Prunk seyn, aber doch müssen sie ihrer Würde nicht ganz entsprechen. Die Abtey Westmünster ist dieser Gottheit geheiligt, hier wachen die Väter des Volkes für das Beste ihres Vaterlandes, und die Gerichte entscheiden die Schicksale ihrer Mitbürger. Aber ihre Versammlungszimmer sind weit unter der Vorstellung, die ich mir von ihnen gemacht hatte. Die Königliche Kanzley und Bank, die beyden ersten Richterstühle des Königreichs, geben ihre Bescheide in zwey kleine Stuben, in welchen kaum die Richter und Advokaten mit ihren Klienten Platz haben. Die Parlamentskammer, zumal die Kammer der Gemeinen, sind den Hallen ähnlich, in welchen in vielen Ländern Markt gehalten wird; ohne Verzierung und ohne Geschmack.46

Gleiches gelte für die Börse und das Zollhaus.47 „Selbst die Kirche, in der das königliche Begräbnis ist, zeigt den Augen nichts als Unsauberkeit und Vernachlässigung, indeß ihre [der Nobilität] eigenen Häuser Pracht und Verschwendung erhalten.“48 Sein Fazit: „Es lebt wohl kein gekrönter Haupt in Europa mit weniger Pracht, als der König von England.“49 Hier durfte die Beschreibung des königlichen Paares nicht fehlen. „Er [der König, Georg III.] lebt als ein guter Hausvater mit der Königin und den Königlichen Kindern, über deren Erziehung beyde Majestäten selbst die Aufsicht führen.“50 „Es scheint, als vielmehr die Liebe, als die Staatsklugheit dies Durchlauchtige Paar vereinigt habe.“51 „Der König hat eine sehr vortheilhafte Gesichtsbildung, ein majestätisches und ehrfurchtgebietendes Ansehn, vorzüglich, wenn er im Oberhause eine Rede hält. Man erkennt ihn nicht allein für einen wahren Bürger, sondern auch für so guten König, als ihn die Nation haben muß, viel Entschließung und Vestigkeit, die durch Menschen- und Gerechtigkeitsliebe geläutert sind.“52 „Die Königin [Sophie Charlotte von Mecklenburg-Strelitz] ist eben keine Schönheit, aber ihre Sanftmut und Güte der Seele, die in allen ihren Gesichtszügen ausgedrückt sind, machen ihr alle Herzen unterwürfig; auch wird sie von ihren Unterthanen bis zur Anbetung geliebt.“53 Als Beweis der Beliebtheit der Königin führt er an, dass sie nie Zielscheibe des Spottes wurde. „So stark auch sonst die Neigung der Nation zur Satire ist, daß 45 46 47 48 49 50 51 52 53

Ebd., H. 1, S. 64. Ebd., H. 1, S. 72. Ebd., H. 1, S. 78f. Ebd., H. 1, S. 71. Ebd., H. 2, S. 120. Ebd., H. 2, S. 120f. Ebd., H. 2, S. 122. Ebd. Ebd.

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sie sogar der gekrönten Majestät nicht schont, so hat sie sich doch noch nie den geringsten satirischen Zug gegen diese liebenswürdige Prinzessin erlaubt, [...].“54 Aber auch die Menschenliebe des Königs wird am Beispiel der Satire erläutert: Die Witwe des Karikaturisten Hogarth bekam von ihm eine Pension trotz der Satire ihres Gatten auf den König.55 Dies war keine Selbstverständlichkeit im damals hauptsächlich von absolutistischen Herrschern regierten Europa. Großbritannien war eine parlamentarische Monarchie. Eine besondere Bedeutung kam dadurch dem Parlament zu, die auch im Hofzeremoniell zum Ausdruck kam: „Aller Glanz der Hoheit ist nur für die Tage aufbehalten, an welchen sich der König in das Parlament begibt.“56 Das geschah in der Staatskutsche.57 In diesem Zusammenhang ist auch von königlichen Garden die Rede, die aus „200 Reutern, eben so viele[n] Grenadieren zu Pferde, und drey Regimentern zu Fuß“ bestand. Um Grenadier zu werden, müsse man nur „ein schöner Kerl“ sein, behauptet der Reisende, während die Offiziersposten viel kosteten und nur den Söhnen aus adligen oder wohlhabenden Häusern vorbehalten seien.58 Die Furcht vor der Obrigkeit und die Machtdistanz zwischen den Ständen werden als eher gering dargestellt. Das erläutert er am Beispiel gewisser „Courtage, die Levees genannt werden“.59 „Man braucht nicht von Adel, oder sonst bey Hofe bekannt zu seyn, um zugelassen zu werden; ein anständiges Kleid und ein Degen öffnen jedem den Zutritt.“60 „Eine zahlreiche Gesellschaft, ohne Unterschied des Standes, Ranges, Alters, oder Geschlechts, versammelt sich in einem großen Audienzsaal.“61 Auch das Phänomen des small talks wird an diesem Ereignis vorgestellt: „Sr. Majestät reden zu den ersten Bekannten, den sie sehen, vom Wetter, zu einem andern von der Jagd, zum dritten von einer andern 54 55 56 57 58 59 60 61

Ebd., H. 2, S. 123. Ebd. Ebd., H. 2, S. 121. Ebd. Ebd., H. 2, S. 122. Ebd., H. 2, S. 117. Ebd. Ebd. – Interessanterweise wurde später ein geringes Machtgefälle von Vertretern des kurländischen Adels rückblickend auch für sich und ihr Land reklamiert, siehe etwa die Art und Weise, wie Elisa von der Recke das Haus ihres Vaters und ihrer Stiefmutter ihrem Lebensgefährten und ersten Biographen Christoph August Tiedge gegenüber schilderte. In seiner Biographie über Elisas Halbschwester Dorothea, der letzten Herzogin von Kurland, beschreibt Tiedge das Medem’sche Haus der frühen Jugend Elisas wie folgt: „Nicht, was man den Glanz eines großen oder vornehmen Hauses nennt, der sich in Aufwand, Prunkfesten und rauschenden Ergötzlichkeiten verbreitet, gab hier Gesetze, sondern das Leben der feinen Sitte eines edlen Geschlechts waltete in dem Medem’schen Hause, und ordnete wenn die Gelegenheit es gab, Feste, bei denen auch der Geist seine Befriedigung fand. Sie selbst [Agnesa Elisabeth von Medem], die würdige Herrin des Hauses, war eine unterrichtete Frau, liebte die Wissenschaften und den Verkehr mit wissenschaftlichen Männern, so wie auch ihr Gemahl in einer geistreichen Gesellschaft seine liebste Erholung fand. Jedem, ohne Unterschied des Standes, der Anspruch auf Vorzüge der Bildung zu machen, und Wohlanständigkeit und Reinheit der Sitten mitzubringen hatte, fand in diesem Hause des harmlosen Frohsinns und des feinen geistigen Genusses dem Zutritt offen.“ [Hervorhebung, K. K.] (Christoph August Tiedge: Anna Charlotte Dorothea, letzte Herzogin von Kurland. Leipzig 1823, S. 11f.).

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gleichgültigen Materie, usw. und begeben sich wieder weg, wenn sie so einige Minuten zugebracht, und die Bittschriften angenommen haben, die Ihnen überreicht sind; die Königin macht es eben so, und die Cour hat ein Ende.“62 Als Beispiel der Furchtlosigkeit vor der Obrigkeit erzählt er von einem Stadtältermann, der von königlichen Wachen, die ohnehin ihre Waffen nicht benutzen durften, beim Eindringen in den königlichen Garten aufgehalten wurde. Als er den Befehlen nicht gehorchen wollte, warf ihn ein Offizier nieder. Der Ältermann verklagte ihn und bekam Schmerzensgeld.63 In englischen Gesetzen sieht der Reisende den Ausdruck „des gütigen Charakters des Engländers“,64 denn es würde keine langsamen Folterstrafen, keine Tortur, nur Axt und Galgen als einzige erlaubte Mittel zur Vollstreckung der Todesstrafe geben.65 Er stellt das Geschworenengericht vor und betont, dass die Angeklagten viele Rechte haben und die Verurteilung nicht zur Ächtung ihrer Angehörigen führt.66 Merkwürdig findet er allerdings die Gestaltung der öffentlichen Hinrichtungen zu einer öffentlichen Unterhaltung: „In anderen Ländern findet man selten für dergleichen Schauspiel Geld geben; aber hier sind ordentliche Plätze gemacht, und für Geld zu haben, wie die Logen im Schauspielhause.“67 Er behauptet: „Der Britte ist von Natur menschenfreundlich und großmüthig, und doch bezeichnen beynahe alle seine Ergötzlichkeiten Grausamkeit.“68 Durch diesen Widerspruch findet er sogar den „Grundsatz, als ob man aus den Lieblingsbeschäftigungen einer Nation eine sichere Schlußfolge auf ihren Charakter ziehen könne“69 in Frage gestellt. „Auf die Klopffechter, an denen die alten Britten so grosses Vergnügen fanden, sind die Kämpfe mit Knüppeln und Fäusten, die Hahnenkämpfe u. u. gefolgt.“70 Professionelle Kämpfer schlagen sich für Geld und können dabei oft mit schlimmen Folgen verletzt werden. Neben Hahnenkämpfen werden Pferderennen als beliebte Unterhaltung geschildert.71 Der Beruf der Jockeys, die oft ein gefährliches, ungesundes und „unnatürliches“ Leben führen (sie hungern, um leichter zu sein), wird vorgestellt.72 Spielen aufs Geld, allerlei Wetten sind beliebt: Pferderennen, Karten, Würfel und andere ‚Hazardspiele‘.73 Dieser Brauch trage zur Verarmung ganzer adliger Familien und zum politischen Opportunismus bei.74

62 63 64 65 66 67 68 69 70 71 72 73 74

Ebd., H. 2, S. 117. Ebd., H. 2, S. 118−120. Ebd., H. 1, S. 69. Ebd. Ebd. Ebd., H. 1, S. 68. Ebd., H. 1, S. 65. Ebd. Ebd. Ebd., H. 1, S. 66. Ebd., H, 1, S. 67. Ebd. Ebd., H. 1, S. 68.

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Neben London wird außerdem der Badeort Bath vorgestellt, das sich hervorragend zum Studium des ‚Charakters der Nation‘ eigne: „In London findet man die verschiedenen Nüancen nur in den verschiedenen Quartieren der Stadt, weil ein jedes von Leuten von gleicher Lebensart und Beschäftigung bewohnt wird. Aber hier sieht man das wahre Gemälde, welche alle Schriftsteller von den englischen Sitten entworfen haben.“75 Hier sei der Ort, wo der zurückhaltende und vorsichtige Engländer mit seinem Reichtum prahle und allerlei Glücksritter unterwegs seien.76 Die englischen Damen seien die unerschrockensten Tänzerinnen. Begründet wird das mit der Sportlichkeit der Nation: „Mäßige, und in allen Jahreszeiten täglich wiederholte Leibesübungen, und eine Kleidung, die der Natur die Freyheit läßt, ihren Bau zu vollenden und zu stählen, machen die Glieder geschmeidig, und den Wuchs so zierlich, als ihn Milton an der Stammesmutter des menschlichen Geschlechts so schön beschreibt.“77 Zum Schluss kommt er zurück in die „eigentliche“ Stadt London (der Teil Londons, der mit der Stadtmauer umgeben ist), die er als eine „Republik in einer anderen Republik“78 bezeichnet. Er stellt die Institution des Lordmajors und die Ältermänner (in der Funktion der Ratsherren) vor und schließt mit der Beschreibung der Clubs der Kaufleute: „Man findet dort die ausgesuchtesten Speisen, die köstlichsten Weine, und wird fürstlich bedient. Ihre Zimmer sind prächtig, und vornehmlich der Tanzsaal übertrifft alle Vorstellung.“79 Sicherlich ein Ansporn für die Rigaer Clubs, die um 1780 zahlreich entstanden.

b. Wanderungen eines kunstliebenden kurländischen Barons 1784 folgten in der kurländischen Mitauischen Monatsschrift (Mitau/Jelgava, 1784−1785, herausgegeben von Karl August Kütner, Professor der griechischen Sprache und Literatur an der Academia Petrina) „Bemerkungen auf einer durch die westlichen und nördlichen Provinzen Englands im Jahre 1779 gemachten Reise“.80 Dieser anonyme Reisebericht scheint von einem gebildeten, kunstliebenden und mit guten Empfehlungen ausgestatteten Adligen verfasst worden zu sein. Seine Kunstliebe kommt gleich am Anfang seines Reiseberichts zum Ausdruck: „Die Ausstellung der königlichen Malakademie hielt uns bis zum eilften May [1779] in London auf […].“81 Neben allgemeineren Überlegungen, wie der Feststellung: „Nur in volkreichen Residenzen reicher und mächtiger Nationen läßt sich solch ein Schau75 Ebd., H. 1, S. 124, ein näherer Beschreibungsversuch der Vertreter verschiedener Stände findet sich auf den S. 127f. 76 Ebd., H. 1, S. 125. 77 Ebd., H. 1, S. 126. 78 Ebd., H. 1, S. 135. 79 Ebd., H. 1, S. 136. 80 O. A.: Bemerkungen auf einer durch die westlichen und nördlichen Provinzen Englands im Jahre 1779 gemachten Reise. In: Mitauische Monatsschrift 1784, April, S. 63−86; Mai, S. 99−129. 81 Ebd., S. 63.

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spiel sehen; denn die schönen Künste sind nur Blüthen öffentlicher Wohlfahrt, und lassen sich in kleinen Treibhäusern ebenso wenig erzwingen und zur Reife bringen, als die feinern Früchte Indiens,“82 teilt er auch mit, welche Werke er besichtigt hat: „Wir erfreuten uns herzlich der meisterlichen Werke von Sir Joshua Reynolds, West, Gainsborough, Louterbourg, Wright, Wilton, Cypriani, Angelika Kaufmann, Rigaud u. a.“83 Skizzen der in London lebenden Künstler, des Amerikaners Benjamin West, des Franzosen John Francis Rigaud und der Schweizerin Angelica Kauffmann, alle unterzeichnet mit dem Namen des Künstlers und versehen mit der Bemerkung „London 1779“ befanden sich in „eine[r] Art Album, in welchem der Geheime Rat und Präsident des Kurl[ändischen] Oberhofgerichts Baron Heinrich von Offenberg Skizzen, Zeichnungen, Aquarelle berühmter Künstler, mit denen er auf seinen Reisen Bekanntschaft machte, gesammelt hat.“84 Der Aufenthalt in England war Teil einer längeren Reise des jungen Barons Offenberg, die ihn zunächst nach Deutschland und in die Niederlande und später in die Schweiz führte, wie seine Reisetagebücher berichten.85 Es war also höchstwahrscheinlich Heinrich von Offenberg (1752–1827), der in der Mitauischen Monatsschrift seine Eindrücke aus England seinen Landsleuten mitteilte. Offenberg war Nachfahre eines etwa seit 1545 im Baltikum ansässigen, ursprünglich aus der Schweiz stammenden Adelsgeschlechts. Sein Vater Heinrich Christian von Offenberg bekleidete seit 1763 das Amt des Vorsitzenden des kurländischen Hofgerichts. Über den Lebenslauf Heinrich von Offenbergs heißt es: 1776 [trat er] als Jurist in die Dienste des Herzogs Peter Biron von Kurland, der ihn zu einer zweijährigen Bildungsreise nach Westeuropa und Italien anregte. Später begleitete er als Hofmarschall die herzogliche Familie nach Deutschland und Italien. Die von seinen Reisen mitgebrachten Zeichnungen, Altertümer und Pflanzen machten sein Haus und seinen Garten in Mitau zu einer Sehenswürdigkeit. Der Vertreter der Aufklärung (1778 Mitglied der Freimaurerloge in Mitau) war seit 1807 Mitglied des kurländischen Oberhofgerichts und von 1818 bis zu seinem Tode dessen Präsident. Der Kurländischen Gesellschaft für Literatur und Kunst in Mitau, zu deren Gründungsmitgliedern er 1815 gehörte, vermachte er seine Sammlungen und stellte seinen Garten der Öffentlichkeit zur Verfügung.86

82 Ebd. 83 Ebd., S. 63f. 84 Über dieses Album berichtete am 7. Oktober 1887 in der 740. Sitzung der Kurländischen Gesellschaft für Literatur und Kunst Julius Döring (Sitzungsberichte der Kurländischen Gesellschaft für Kunst und Geschichte, nebst Veröffentlichungen des Kurländischen Provinzial-Museums aus dem Jahre 1887. Mitau 1887, S. 16−23, Zitat S. 16f., Hinweise auf Skizzen von Rigaud S. 17, Kauffmann S. 18, West S. 19. 85 Ebd., S. 17; heute aufbewahrt im Lettischen Historischen Staatsarchiv. 86 Karl-Otto Schlau: Offenberg, von. In: Neue Deutsche Biographie 19 (1999), S. 483−484, hier S. 483 [Online-Version]; https://www.deutsche-biographie.de/pnd137564392.html#ndbcontent [16.09.2019]

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Der Kurländer führte die baltischen Zeitschriftenleser weiter weg von London in ländliche Gegenden und schließlich ans Meer, nach Portsmouth und auf die Insel Wight. Nach der Besichtigung der Ausstellung traten die Reisenden „Dienstag, den eilften May, bey herrlicher Witterung, in einer Postchaise, durch Piccadilly und Hyde Park, Knightsbridge und Brompton, bey Fulham über die Themse nach Puttney die Reise an.“87 Die Reise gibt immer wieder Gelegenheiten zur „Landschaftsmalerei“, im direkten wie im indirekten Sinne, um den Leser mit typischen oder auch untypischen englischen Landschaften in ihrer Vielfalt bekannt zu machen. Dabei lenkt er die Aufmerksamkeit mehrmals auf die Praktik der Einzäunung, die er vor allem aus ästhetischen und wirtschaftlichen Gründen gutheißt, ohne sich Gedanken über mögliche weniger angenehme soziale Folgen zu machen (Überlegungen zum ökologischen Nutzen der Gemeinweiden können für diesen Zeitpunkt noch nicht erwartet werden), zum Beispiel „Puttney-Heath, welche wir nun passierten, ist wie andere uneingezäunte Gemeinheiten [Gemeinweiden], mit Heide und gelbblühenden Ginst bedeckt, und könnte, gleich den daran und herumliegenden Parks, Gärten, Wiesen und Waldungen in besserm Zustande seyn, wenn man guten Exempeln folgen wollte.88 „Das Land ist in dieser ganzen Gegend [bei Lady Pelhams Landgut und Hampton-Court] einem Garten ähnlich, in großem englischen Geschmack, eingezäunte Wiesen, Ackerland nach der Schnur besäet und ohne Unkraut, Hecken, Reihen von hohen Ulmen, Dörfer, Landhäuser, mit schwarzer Heide, Teichen und Bächen vermischt, und weite Thäler und sanft umlaufende Hügel!“89 „Die Spaziergänge in dieser Wildniß [Paynes-Hill bei Cobham, ehemals Besitz eines Mr. (Charles) Hamilton] brachten uns endlich auf die Spitze des Berges, wo im dicken Walde ein hoher Thurm, in gothischem Geschmack, erbauet worden ist, von dem man den ganzen Park und das ganze benachbarte Land übersehen, und sich überzeugen kann, sichtbarer Weise, daß eingezäunte Ländereyen schön und fruchtbar werden, da hingegen die Commons, oder Gemeinweiden mit nichts als schwarzer Heide, Ginst und kümmerlichem, unfruchtbarem Gesträuch bedeckt bleiben.“90 Aber auch exotischere Ansichten fesselten den Blick: „Durch stattliche Nadelholzplantagen kamen wir zu einem Abhange des Berges, der die Morgen- und die Mittagssonne hat und zu einem Weinberge eingerichtet ist. – Der erste Weinberg, der in England mir zu Gesicht kam.“91 Die Reben stammten aus Burgund. Manchmal war die Landschaft so künstlerisch einladend, dass man direkt zum Skizzenbuch und Bleistift greifen musste: „Die Gegend war zu beyden Seiten malerisch, so, daß wir ausstiegen, und in der Eile die auffallendsten Parthien aufzunehmen versuchten. Dann fuhren wir über Rippock, wo die Pferde zu unserer Weiterreise schon fertig standen, sogleich weiter durch ein höchst angenehmes, waldiges und bergiges Land, die Schu-

87 88 89 90 91

O. A.: Bemerkungen (= Anm. 80), S. 64. Ebd., S. 65. Ebd., S. 66. Ebd., S. 79f. Ebd., S. 74f.

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le der Landschaftsmalerey, nach Petersfield zu.“92 „Gleich nach Petersfield änderte sich das Ansehen und die Beschaffenheit des Landes. Der Wald verschwand, die hohen Berge waren ganz kahl, und feiner Rasen bedeckte die darunter liegenden Kreitenschichten; – die mit den gewöhnlichen Versteinerungen, Belemniten und Echeniten und auch mit Feuersteinklumpen angefüllt waren. Die Art von Bergen und Boden soll sich viele Meilen zur Rechten bis über Salisburg hinaus erstrecken, und die feinste Wolle geben.“93 Und schließlich der Anblick des Meeres „weit jenseit von Portstown, da von der Höhe auf einmal das niedrigere von Flüßen und Morästen durchschnittene feste Land, die Insel Portsea, die Stadt Portsmuth, den Haven Gosport, den großen Seearm bey Spithead und St. Helens, die daselbst liegende königliche Flotte bey Spithead vor Anker war.“94 Die ganze zweite Folge des Reiseberichts ist dem Hafen und der Flotte in Portsmouth und einem Ausflug auf die Insel Wight gewidmet. Hier, in den gigantischen Dock-Yards von Portsmouth und bei den Kanonenübungen der Marine kam die schon vom Rigaer Journal betonte Mächtigkeit der Seenation voll zum Ausdruck. Aber nicht nur darin. Schon im ersten Teil des Berichts wird die Aufmerksamkeit des Lesers darauf gelenkt, dass es sich nicht nur um eine Seenation mit einer langen Geschichte, sondern auch um eine Kolonialmacht mit kaum vorstellbaren Reichtümern handelte:95 „Wir erreichten bald nachher Claremont-Park, von König Georg des Zweiten Staatsminister, dem Herzoge von Newcastle, auf einem Grund angelegt, den schon Kardinal Wolsey unter Heinrich dem Achten wählen gewußt hat, – und nun vom berühmten Lord Clive mit indianischen Reichtümern erkauft, ein ruhiger Landsitz mitten im herrlichsten Lande zu seyn, um daselbst seines in Indien erworbenen Ruhms und Ueberflusses zu genießen, wenn Reichthum und äußeres Glück ihm das Leben hätten angenehm machen können, das er sich selbst, aus Melancholey, verkürzte.“96 Der Besitz des Lord [Robert] Clive wird minutiös beschrieben, sowohl die Umgebung (Park, Insel, Teich) samt einem schönen Ausblick auf Surrey als auch das Innere seines Hauses.97 Wie später etwa bei der Beschreibung der ehemaligen Besitztümer des Herrn Hamilton, die neben dem Weinberg neugebaute gotische und römische Ruinen, eine künstliche Grotte und einen künstlichen Fluss, Basreliefs und Urnen, ein Schöpfrad, eine Einsiedelei und einen Turm „in gothischem Geschmack“98 beinhalteten, oder einer für die Frau des Sir Robert Barker gebauten Katakombe in Busbridge, den der spätere Besitzer zuwerfen ließ,99 beklagt der kunstliebende kurländische Baron, dass die Nachfolger und neuen Inhaber das ihnen anheimgefallene Erbe nicht wirklich schätzen können, seinen ästhetischen oder sentimentalen Wert nicht erkennen. 92 93 94 95 96 97 98 99

Ebd., S. 85. Ebd., S. 87f. Ebd., S. 88. Zum Selbstverständnis der Deutschbalten als Kolonisten siehe Ulrike Plath: Esten und Deutsche in den baltischen Provinzen Russlands. Fremdheitskonstruktionen, Lebenswelten, Kolonialphantasien, 1750–1850. Wiesbaden 2011, S. 262−282. Ebd., S. 66f. Ebd., S. 67−72. Ebd., S. 79. Ebd., S. 84.

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Anders als der Reisende der Rigaer Lektürezeitschrift neigt der Kurländer eher wenig zu großen Verallgemeinerungen und Aussagen über den ‚Charakter der Nation‘. Einmal kann man ihn bei dem letzteren doch ertappen, bei der Beschreibung eines Trupps schottischer Highlander, des 73. Regiments des Lord Macleod: Sie waren noch nicht in völliger Uniform; man sahe sie also in ihrer eigentlichen Nationaltracht, ohne Beinkleider, mit gestreiften Hüftschürzen und Strümpfen, kurzen Jacken und platten blauen Kappen. Die Officiere und Unterofficiere allein zeigten sich in ihrem völligen militärischen Putze, mit rothen Jacken, gelb angeschlagen mit Silber, Patrontaschen vor dem Unterleibe, langen Handdegen, Dolchen, gutem Schießgewähr und großen Federbüschen auf den blauen Kappen. Ihre Feldmusik, eine Sackpfeife, thut keinen sonderlichen Effekt, und ihr Exercieren mit dem Schießgewähr, wobey englisch kommandirt ward, war so unvollkommen und fehlerhaft, als sich von ganz rohen Leuten erwarten ließ. Aber eben dies zeigte sie um so mehr in ihrem wahren Nationalcharakter, – kurz und gedrungen und leicht von Wuchs und von eigenthümlichen Physiognomien, von englischen und teutschen merklich verschieden. Ein gedankenvoller, stiller Ernst war sichtbar in ihren Gesichtern. Vom Singen und Springen und Pfeifen und Plaudern der südlichen europäischen Nationen war unter ihnen nichts zu bemerken, sondern vielmehr blos der vorhererwähnte Ernst, der etwas melancholisches und die finstern Stirnen der ossianischen Helden erklärt, und der [sic!] Melancholey zum Grunde zu haben scheint, die durch die Wildheit ihrer hohen, kahlen Gebirge, durch ihre einsame Lebensart, ihre Armuth und den Verdruß natürlicher Weise hervorgebracht seyn dürfte, – daß sie bey allen ihren militärischen Verdiensten eine besiegte Nation seyn müßen.100

Einen Schotten stellt er jedoch auch in Person und in einem ganz anderen Ton vor. Sir Charles [Douglas, Kommandeur des Kriegsschiffes Duke] ist ein Schottländer, ein Mann von großem Geist und Weltkenntniß. Er spricht vollkommen Französisch, etwas Teutsch und gut Holländisch, weil er oft in Holland gewesen ist, und Frankreich, die Schweiz, Teutschland, Dänemark, Preußen und Rußland durchreiset und aller Orten seine Kenntnisse durch Hofumgang, Lektüre und Erfahrung erweitert hat. Sein Gedächtnis ist ausnehmend; und man wird nicht leicht einen Seeofficier sehen, der so sehr ein Menschenfreund ist, und nicht leicht einen Hofmann, der so viel gründliche und praktische Kenntnisse hat, als er.101

Vorgestellt wurde Sir Charles ihnen von einem russischen Lieutenant Lohmann, an den sie eine Empfehlung hatten.102 Herr Lohmann hatte unter dem Grafen [Alexej] Orlov im griechischen Archipelag [im russisch-türkischen Krieg] gedient, als Freiwilliger auf englischer Seite in Amerika gekämpft und studierte jetzt an der Seeakademie in Portsmouth.103 Es handelte sich um Friedrich Wilhelm von Lohmann (1752– 1822) aus Wagenküll (Taagepera) im südestnischen Teil Livlands, dessen Laufbahn das Deutschbaltische Biographische Lexikon wie folgt zusammenfasst:

100 101 102 103

Ebd., S. 85−87. Ebd., S. 110. Ebd., S. 99. Ebd., S. 106f.

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Seit 1766 im Seekadettenkorps in Kronstadt, 1771 Offz., 1772-75 auf d. Mittelmeerflotte, 1777 Lt., 1778-80 Volontär auf d. brit. Flotte, Reise nach Westindien, Kdt. v. Fregatten im Krieg 1788-90 in allen Seeschlachten gegen d. Schweden, 1789 Kptn. II. R., 1796 Kptn. I. R., 1803 Konteradm., 1805 Kdr. e. Schiffsdiv. in d. Ostsee, seit 1806 in Reval stationiert, 1808 Kdr. d. Geschwaders u. Dir. d. Steuermannschule d. Ostsee, 1808 Vizeadm., 1809-22 Flottenchef in Reval. 1803 estl. Indigenat.104

Beim Besuch der Insel Wight fanden die Kurländer weitere Spuren von englischrussischen Beziehungen, als die Töchter eines Gastwirtes sie um die Übersetzung der Briefe von russischen Seeoffizieren baten. „Man erzählte uns, das bei Zurückkunft der russischen Flotte aus dem Archipel, die ihre Schiffe zu Portsmouth ausbesserten, vierhundert Russen auf der Insel Wight und meist an diesem Orte [Upper-Ride], gelegen und sich durch gute Mannszucht, Höflichkeit und gute Bezahlung unvergeßlich gemacht hätten.“105 Die Kurländer, damals noch Untertanen Polens, konnten mit Russischkenntnissen nicht helfen.

3. Englische Seeleute in Werrohof Den Engländern einen Dienst erweisen konnte man aber Jahrzehnte später im südestnischen Teil Livlands. Im Nordischen Archiv (Riga u. Leipzig, 1803–1809, herausgegeben von einer Gesellschaft von Gelehrten in Deutsch-Russland, eigentlich vom Rigaer Schauspieler Johann Christoph Kaffka) wurden 1803 Dankbare Gesinnungen einiger englischer Schiffskapitaine106 abgedruckt: Im Jahr 1800, während des Embargos, wurden sechs englische Schiffskapitaine mit 70 Matrosen nach dem Städtchen Werro geschickt. In der Nachbarschaft derselben lebt der Arrendator des kaiserlichen Gutes Werrohof, Baron D., der sich der fremden eifrig annahm; und wenn wir so gerne über seine menschenfreundlichen Gesinnungen etwas sagen möchten, so wollen wir doch nicht dem Urtheil der Leser beifolgender Briefe vorgreifen. – Die Schiffskapitaine, die er selbst aufsuchte, waren immer willkommen an seiner gastfreien Tafel, und den Matrosen verschaffte er Gelegenheit durch Arbeit etwas zu gewinnen. Er ließ unter andern von ihren Zimmerleuten drei kleine englische Fahrzeuge bauen. – Die beiden ersten Briefe sind aus Riga nach St. Petersburg, wo sich der Baron damals aufhielt der letzte nach dem Schlosse Werro addressirt. Die Briefe wurden ihm in der Uebersetzung zugesandt.107

Es ist nicht ganz klar, was passiert ist. Man erhält aus den Briefen nur vage Hinweise, dass englische Seeleute um 1800 in russische Gefangenschaft geraten waren, wie etwa aus dem zweiten Brief hervorgeht: 104 In: Wilhelm Lenz (Hg.): Deutschbaltisches biographisches Lexikon 1710–1960, im Auftrag der Baltischen Historischen Kommission begonnen v. Olaf Welding u. unter Mitarbeit von Erik Amburger u. Georg von Krusenstjern. Köln u. Wien 1970, S. 473. 105 O. A.: Bemerkungen (= Anm. 80), S. 123. 106 O. A.: Dankbare Gesinnungen einiger englischer Schiffskapitaine. In: Nordisches Archiv 2 (1803), S. 207−210. 107 Ebd., S. 207f.

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„Wir haben ihren gütigen Brief erhalten. – Wir dachten recht lebhaft an das Schmerzvolle und Tröstende unserer vorigen Lage. – Wie wir getrennt von unserm Vaterlande und den Unsrigen als Gefangene in angstvoller Vorstellung einer drohenden Zukunft lebten; wie wir Sie fanden, Sie sich unserer so menschenfreundlich annahmen. Beschämt nehmen wir ein Vorurtheil zurück, als übte die russische Nation die Tugend der Menschlichkeit nicht aus; wir verlassen dieses Land mit dem Glauben, daß es überall gute und edle Menschen giebt. – Unsere Schiffe sind schon segelfertig. Geben Sie uns ihren Segen zu einer glücklichen Fahrt. Sehen wir die Unsrigen wieder; so werden wir von Ihnen und Ihrer werthen Familie sprechen. Mit dankbarem Herzen versichern wir Sie noch einmal unserer unveränderlichen Hochachtung. J. D. W. T. C. R.“108

Im Jahr 1800 wurde Russland noch von Zar Paul I. regiert und näherte sich gerade diplomatisch dem napoleonischen Frankreich an, weil die Briten den Seehandel schwacher neutraler Staaten verhinderten.109 Um ihre Schiffe zu schützen, schlossen Dänemark, Schweden, Preußen und Russland einen Bund. Die Beziehungen zwischen England und Russland spitzten sich dermaßen zu, dass Paul I. die in russischen Häfen stehenden britischen Schiffe besetzen und ihre Mannschaften gefangen nehmen ließ.110 Nach der Machtübernahme Alexander I. im Jahr 1801 fand schnell eine Umorientierung nach Großbritannien statt.111 Unklar ist ebenfalls, wer Baron D. war. Seit 1784 war Werrohof ein dem Staat gehörendes Kronsgut bei Werro (Võru), das von Arrendatoren geführt wurde, die nicht immer leicht zu ermitteln sind. Es ist bekannt, dass um 1800 der spätere berühmte Forschungsreisende, Admiral und Gouverneur von Alaska, Ferdinand von Wrangell (1797–1870), einen Teil seiner Kinderjahre in Werrohof zubrachte. Und interessanterweise hatte die Familie Wrangell auch Beziehungen zum schon vorher erwähnten Friedrich Wilhelm von Lohmann, der 1795 eine von Wrangell geheiratet hatte und später auch Ferdinand von Wrangell protegierte.112 Wandten britische Seeleute sich an Lohmann, der sie mit Hilfe seiner angeheirateten Verwandten in Südestland in Sicherheit brachte? Diese Frage bedarf noch der näheren Aufklärung. Versucht man anhand des Vorausgehenden zusammenzufassen, wie das Englandbild in den deutschbaltischen Medien im 18. Jahrhundert entstand, kann man in einem ersten Anlauf Folgendes feststellen: Deutschbaltische Anglophile haben Ähnlichkeiten zwischen der englischen und der lettischen Sprache wahrgenommen und nach Erklärungen gesucht, wie diese entstehen konnten. Die Idee einer direkten Sprachverwandtschaft dieser beiden (indoeuropäischen) Sprachen war ihnen aber

108 Ebd., S. 209f. 109 Ilkka Tapio Seppinen: Keiser Aleksander ja Soome suurvürstiriigi asutamine 1812. aastal. [Zar Alexander I. und die Gründung des finnischen Großherzogtums]. In: Eesti sõjaajaloo aastaraamat [Estnisches Jahrbuch für Militärgeschichte] 2013, Bd. 3, S. 59−88, hier S. 61−63. 110 Hanno Ojalo u. Mati Õun: Aur ja püssirohi. Võitlused Läänemerel 19. sajandil [Dampf und Schießpulver. Kämpfe auf der Ostsee im 19. Jahrhundert]. Tallinn 2011, S. 11. 111 Seppinen: Keiser Aleksander (= Anm. 109), S. 64. 112 Vgl. Deutschbaltisches biographisches Lexikon (= Anm. 104), S. 473 und Andres Lundalins Kurzbiographie Ferdinand von Wrangells in EEVA (Digitale Textsammlung älterer Literatur Estlands), https://utlib.ut.ee/eeva/index.php?lang=de&do=autor_ylevaade&aid=86 [1.10.2020].

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noch fern und stattdessen stellten sie über eine hypothetische frühere Anwesenheit von Angelsachsen in Lettland einen Bezug zwischen den baltischen Provinzen und England her. In den abgedruckten Reiseberichten der 1780er Jahre konnten deutschbaltische Leser erste Eindrücke über die Hauptstadt London und den berühmten Badeort Bath, aber auch ländlichere, abwechslungsreiche Gegenden zwischen London und Portsmouth sowie über die Insel Wight sammeln. Dabei wurde eine Reihe von Sehenswürdigkeiten vorgestellt: Greenwich Hospital, Themse, Westminster School und Abbey, St. James Park und Palast, The Queen’s [Buckingham] House, Königliche Kanzley, Parlament, Börse, Zollhaus, die königliche Malakademie in London, Hampton-Court, Dockyards von Portsmouth usw., aber auch das Hofzeremoniell, die Staatskutsche, königliche Garden, Lordmajor und Ältermänner von London sowie Clubs der Kaufleute. Neben der städtischen Kultur wurde auch der englische Gutshof im Allgemeinen, aber auch anhand von konkreten Beispielen geschildert. Hervorgehoben wurde die hohe gesellschaftliche Differenzierung, aber auch ein geringes Machtgefälle zwischen den Ständen bei gewissen Veranstaltungen. England wurde als eine parlamentarische Monarchie dargestellt, der König als ein ,wahrer Bürger‘, der im Gegensatz zu absolutistischen Herrschern Satire vertragen kann, wenig prunkhaft lebt und eine Liebesehe mit seiner liebenswürdigen Frau führt. Freiheit wurde als führender Wert der Nation genannt, eine Kombination von Simplizität und Kennerschaft, die allerdings ins sonderbar Exzentrische, aber auch ins Suchthafte oder Melancholische abschweifen konnte, als ein eigentümlicher Zug der Engländer postuliert. Der Respekt für Frauen und Geistliche wurde unterstrichen, die Wichtigkeit von Frauenbildung betont. Das andersartige englische Rechtsystem mit dem Geschworenengericht, milden Strafen und vielen Rechten der Angeklagten wurde den Lesern bekanntgemacht. Die Engländer wurden nicht nur als eine Handels- und Seenation, sondern auch als eine Kolonialmacht mit mächtigem Militär und angehäuften Reichtümern dargestellt. Und schließlich fanden auch die freundschaftlichen Beziehungen zwischen den Vertretern des Vereinten Königreichs und des Russischen Reichs Erwähnung.

VII. Medien der Volksaufklärung

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Übersetzung als Medium der baltischen Aufklärung – am Beispiel von Schillers Ode An die Freude in estnischen Übersetzungen Welche Bedeutung kommt dem Übersetzen in der Aufklärung zu? Hat diese Medienpraktik einen besonderen Stellenwert jenseits der Zentren, an „Orten eigener Vernunft“?1 Welche Funktionen hatte sie etwa in der baltischen Region? Diese grundsätzlichen Fragen, die ohne Weiteres einen eigenen Band zum Übersetzen an periphereren Orten der Aufklärung rechtfertigen, möchte ich im Folgenden an einen konkreten Fall, ein sinnfälliges Beispiel, herantragen: an zwei Übersetzungen von Schillers Ode An die Freude in die estnische Sprache. Die beiden unterschiedlichen Übersetzungen des Schiller’schen Liedes durch den deutschbaltischen Pastor Otto Reinhold von Holtz einerseits und den estnischen Dichter Friedrich Reinhold Kreutzwald andererseits manifestieren sowohl die Entwicklung, die dem Übersetzen in der baltischen Aufklärung eingeschrieben ist, als auch einen signifikanten Bruch.

1. Zum Stellenwert des Übersetzens für die Aufklärung Übersetzen war – neben und mit dem Buchdruck – geradezu eine Voraussetzung zur Verbreitung der Aufklärung über Sprachgrenzen hinweg: [T]he aim of popularising intellectual discourses represented an essential part of the selfimage of the Enlightenment. Such task rendered it necessary to produce translations into the vernacular so that a wider audience not educated in foreign languages could profit from works written in neighbouring countries. As a result, in large part, the exchange of Enlightened thought between different language-areas took place by means of translation.2

Übersetzen stellt zudem eine zentrale Medienpraktik der Aufklärung dar, insofern durch den interlingualen Austausch die Sprachen in ihrer Entwicklung beeinflusst wurden und sich mit der wachsenden Bedeutung übersetzter Texte ein neues Problembewusstsein entwickelte, das schon in den Übersetzungsdebatten der Aufklärung zu grundlegenden Fragen führte: Wie ist das Verhältnis zu älteren Kulturen,

1 Vgl. hierzu die folgende Publikation, deren Zielsetzungen sich der vorliegende Band in mehrerer Hinsicht anschließt: Alexander Kraus u. Andreas Renner (Hg.): Orte eigener Vernunft. Europäische Aufklärung jenseits der Zentren. Frankfurt a. M. u. New York 2008. 2 Stefanie Stockhorst: Introduction. Cultural Transfer through Translation: A Current Perspective in Enlightenment Studies. In: dies. (Hg.): Cultural Transfer through Translation. The Circulation of Enlightened Thought in Europe by Means of Translation. Amsterdam u. New York 2010, S. 7−26, hier S. 8.

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insbesondere der europäischen Moderne zur Antike – gebündelt in dem Schlagwort der Querelles des Anciens et des Modernes? Welchen konstitutiven Einfluss übt die Translation auf die Entwicklung einer Zielsprache, deren Literatur und Kultur aus? Wie ist das Verhältnis zwischen dem sogenannten Eigenen und dem Fremden nicht zuletzt hinsichtlich des Nation-Building? Die Bildung einer Sprache und mithin ihrer Sprecher anhand von Übersetzungen ist in der europäischen Aufklärung keine Ausnahme, sondern der Regelfall. Überhaupt ist der Einfluss der Medienpraktik des Übersetzens auf die Sprach- und Kulturentwicklung historisch immens. „Modern European languages obtained a new wealth of literary, scientific, and philosophical idioms. Toward the end of the century, national cultures were consciously being constructed, enriched, and even challenged to originality by means of translations“.3 So pointiert Karl-Heinz Göttert für die deutsche Sprache in seinem Buch Deutsch. Biographie einer Sprache: „Die deutsche Sprache […] hat […] sprechen gelernt beim Übersetzen.“4 In der deutschen Aufklärung haben Französisch (und unter gewissen Umständen auch Englisch) als Gebersprachen das Lateinische abgelöst: Gottsched lud zur Nachahmung der Franzosen ein, und junge Autoren begannen zu übersetzen, noch bevor sie eigene Stücke schrieben. Mitte des 18. Jahrhunderts waren viele der in Deutschland aufgeführten Stücke französischen Ursprungs. Bahnbrechend waren die Shakespeare-Übersetzungen durch Christoph Martin Wieland, August Wilhelm Schlegel und später durch Heinrich Wilhelm Voß, ohne die Sturm und Drang und Romantik nicht denkbar gewesen wären. Ja, seither gilt Shakespeare geradezu als ein deutscher Autor. Friedrich Hölderlin entwarf seine Dichtung am Beispiel von bzw. parallel zu Übertragungen und Übersetzungen aus dem Griechischen, insbesondere Pindar, und er entwickelte eine eigene Theorie über das Verhältnis von Eigenem und Fremden in seinen Briefen und theoretischen Schriften, nach der das Fremde den freien Gebrauch des Eigenen evoziert und erst ermöglicht.5 Eine Sprache (bzw. Kultur) behauptet sich darin – das zeigt der deutsche Fall –, sich Elemente oder Texte einer anderen Sprache anzueignen. „[W]hat is alleged to be a genuine part of the ‚own‘ culture, on closer inspection often turns out to be imported, and vice versa“, schreibt Stefanie Stockhorst im Rekurs auf die Kulturtransfertheorie von Michel Espagne und Michael Werner.6 Lässt sich die Kulturtransfer3 Fania Oz-Salzberger: Translation. In: Alan Charles Kors (Hg.): Encyclopedia of the Enlightenment. Bd. 4. Oxford 2003, S. 181–188, hier S. 181. 4 Karl-Heinz Göttert: Deutsch: Biografie einer Sprache. 4. Aufl. Berlin 2010, S. 56. 5 Welche Impulse und Erneuerungskraft aus der Beschäftigung mit Pindar hervorging, belegen für die estnische Sprache die im Pindarischen Stil gehaltenen Oden des Dichters Kristian Jaak Peterson (1801−1822), den Jaan Undusk nicht zu Unrecht mit Hölderlin vergleicht. Auch Petersons Gedichte üben sich, so ließe sich mit Hölderlins Böhlendorff-Brief sagen, geschult am Beispiel der Alten im freien Gebrauch des Eigenen. Vgl. Jaan Undusk: Pindar als Erneuerer der europäischen Dichtung. Am Beispiel von Johann Wolfgang Goethe und Kristian Jaak Peterson. In: Heinrich Bosse, OttoHeinrich Elias u. Thomas Taterka (Hg.): Baltische Literaturen in der Goethezeit. Würzburg 2011, S. 131−186. 6 Stockhorst: Cultural Transfer through Translation (= Anm. 1), S. 19.

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theorie, die sich explizit gegen den Gedanken eines Kulturgefälles wendet, auf die baltische Aufklärung anwenden – oder sind unter Berücksichtigung der spezifischen soziohistorischen Bedingungen der Region konzeptionelle Modifikationen notwendig? Wäre hier nicht die quasi kulturkoloniale Situation mit zu bedenken, die Fragen hervorruft wie: Wer übersetzt was und weshalb? Welches Machtverhältnis besteht zwischen Zielsprache bzw. -kultur und Ausgangssprache bzw. kultur? Oder inwiefern wirken hier tatsächlich kulturelle Kräfte verschiedener Kulturräume in einer Region zusammen, die das Denken in Nationalkulturen durch eine Blickverschiebung auf die eigene Dynamik des Kulturaustauschs öffnet? 

2. Zur medialen Praktik des Übersetzens in der baltischen Aufklärung Während innerhalb der deutschen Aufklärung Übersetzer aus dem Französischen respektive über die Mittlersprache Französisch – sowie auch aus dem Englischen – übersetzten, beanspruchte in den russischen Ostseeprovinzen Estland, Livland und Kurland die deutsche Sprache die Funktion der Gebersprache7 für Translationen ins Estnische bzw. Lettische, wobei die Übersetzer zumeist einen deutschbaltischen Hintergrund hatten. Große Unterschiede gab es beim Anteil von Übersetzungen an der gesamten Buchproduktion: Während in Deutschland ca. ein Drittel aller auf dem Buchmarkt angebotenen Titel Übersetzungen waren,8 machten „fast durchweg Übersetzungen“ die lettischen Sprachkunstwerke Anfang bis Mitte des 19. Jahrhunderts aus9 – gleiches gilt für die estnischsprachige Textproduktion dieser Zeit. Dieses große Übergewicht von Übersetzungen im Bereich der literarischen Produktion erklärt sich durch die soziohistorischen Verhältnisse im historischen Baltikum. So ist der Volksaufklärung in Estland, Livland und Kurland, die mit der bäuerlichen Schicht zugleich die Mehrheitsbevölkerung der Esten und Letten adressierte, ein Sprachenwechsel inhärent. Während der gelehrte Diskurs innerhalb der baltischen Aufklärung auf Deutsch geführt wurde, fand die Volksaufklärung im Wesentlichen auf Estnisch bzw. Lettisch statt. Es stellt sich die Frage, inwiefern dieser „translatorische Furor“, wie Thomas Taterka die volksaufklärerischen Anstrengun-

07 Der Begriff ,Gebersprache‘ soll hier kein Kulturgefälle implizieren, bei dem eine vermeintlich höher entwickelte Kultur einer anderen Nachhilfe in ihrer Entwicklung leistet, sondern im Sinne der Akkulturation verstanden werden. Dies schließt nicht aus, dass hierbei eine Machtasymmetrie vorhanden und wirksam ist. 08 Vgl. Reinhard Wittmann: Buchmarkt und Lektüre im 18. und 19. Jahrhundert. Beiträge zum literarischen Leben 1750−1880. Berlin 1982 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der deutschen Literatur 6), S. 119. 09 Vera Vavere: Die Bedeutung der Aussenbeziehungen während der Schaffung einer lettischen Nationalliteratur (in den 50er bis 80er Jahren des 19. Jahrhunderts). In: Yrjö Varpio u. Maria Zadencka (Hg.): Literatur und nationale Identität. Zur Literatur und Geschichte des 19. Jahrhunderts im Ostseeraum: Finnland, Estland, Lettland, Litauen und Polen. Stockholm 2000, S. 314−324, hier S. 316.

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gen apostrophiert,10 für die Entwicklung des Estnischen (resp. des Lettischen) als Kultur- und Literatursprache hinderlich oder auch hilfreich war. Ist die estnische (resp. lettische) Literatursprache über den Einfluss des Deutschen gebildet oder deren Entwicklung durch die Übersetzungen vielmehr verzögert worden? Und wie ist die Medienpraktik des Übersetzens in der baltischen Aufklärung damit im europäischen Kontext zu bewerten?11 In den baltischen Provinzen des Russischen Zarenreiches trafen im ausgehenden 18. und im beginnenden 19. Jahrhundert unter den Bedingungen der Leibeigenschaft zwei divergierende Übersetzungskonzepte aufeinander bzw. lösten einander ab, wie es die auf Livland spezialisierte Übersetzungswissenschaftlerin Julija Boguna in einem grundlegenden Aufsatz zur Geschichte des Übersetzens in Livland und Lettland dargestellt hat: Während das erste für die baltische Volksaufklärung prägend war, markierte das zweite schon den Übergang zum nationalen Schrifttum und damit zu einer neuen Epoche. Zunächst dominierte im Rahmen der Volksaufklärung ein kulturhegemoniales Konzept, das „Translation als volksbildende und volksbewahrende Aufgabe“ auffasste,12 eine „starke Formbarkeit des Lesers, kein Zugeständnis an dessen Fähigkeit, sich mit Differenzphänomenen auseinanderzusetzen“, bedeutete und damit letztlich auf „kontrollierte Bildung“ hinauslief.13 Über weite Strecken sind die Translationen deutsch-baltischer Pastoren diesem Typus der „kolonialisierende[n] Übersetzung“ zuzurechnen, bei dem die christliche Mission durch eine kulturelle abgelöst bzw. ergänzt wird.14 Die Textsorten reichten von Lesebüchern, Anleitungen und Gebrauchsanweisungen bis hin zu Liedern, Gedichten und Romanen wie etwa, um ein besonders wirksames literarisches Beispiel zu nennen, der Erfolgsroman Das Goldmacherdorf des Schweizer Aufklärers Heinrich Zschokke. Gemeinsam ist diesen Textsorten, dass ihre Funktion auf eine erzieherisch-utilitaristische beschränkt bleibt, oder ihnen aber diese reduzierte Funktion via Translation eingeschrieben wurde, insbesondere dann, wenn es sich nicht um Gebrauchs-, sondern um ästhetisch-fiktionale Texte handelte. 10 Thomas Taterka: Aufgeklärte Volksaufklärung. Aufklärung und Volksaufklärung im Baltikum oder Garlieb Merkel und die Entstehung des deutsch-lettischen Lesebuchs Das Goldmacherdorf / Zeems, kurfeltu taifa nach Heinrich Zschokke. In: Ulrich Kronauer (Hg.): Aufklärer im Baltikum. Europäischer Kontext und regionale Besonderheiten. Heidelberg 2011, S. 17−56, hier S. 36. 11 Eine umfassende Darstellung zum Übersetzen in der baltischen Aufklärung in deutscher oder englischer Sprache steht noch aus. Vgl. jedoch Pauls Daija: Literary History and Popular Enlightenment in Latvian Culture. Cambridge 2017 und dort vor allem das Kapitel „The culture of Translation“ (S. 63−66). 12 Julija Boguna: Translation und Tradition. Zur Geschichte des Übersetzens in Livland und Lettland. In: Raivis Bičevskis, Jost Eickmeyer, Andris Levans u. a. (Hg.): Baltisch-deutsche Kulturbeziehungen vom 16. bis 19. Jahrhundert. Medien – Institutionen – Akteure. Bd. 2: Zwischen Aufklärung und nationalem Erwachen. Heidelberg 2019, S. 287−311, hier S. 302. 13 Ebd., S. 301. 14 Jürgen Joachimsthaler: Wie übersetzt man sich aufeinander zu, wie voneinander hinweg? Zur Formung interkultureller Differenz durch den Vorgang des Übersetzens. In: Silke Pasewalck, Dieter Neidlinger u. Terje Loogus (Hg.): Interkulturalität und (literarisches) Übersetzen. Tübingen 2014, S. 69−85, hier S. 75.

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Von diesem Übersetzungskonzept, das einen zivilisatorisch unterentwickelten Leser, der in Maßen ‚zivilisiert‘ werden soll, voraussetzt, ist ein sprachförderndes und bildendes Verständnis von Übersetzen zu unterscheiden, das sich etwa an Herders Konzept der ,tonbewahrenden‘ Übersetzung oder an Gottscheds Modell der einbürgernden Übersetzung festmachen lässt und die Übersetzung „überhaupt als Möglichkeit [ansieht], neues, in der Originalsprache erst entfaltbares und mögliches Gedankengut und rhetorisches Repertoire kennenzulernen.“15 Dieses Verständnis setzt sich allerdings erst in der Mitte des 19. Jahrhunderts durch und geht signifikanterweise mit einem Wechsel vom deutschbaltischen zum estnischen (respektive lettischen) Übersetzer einher. Dem Wandel des Übersetzungskonzepts entspricht ein Wechsel der Übersetzer. Der folgende Beitrag soll diese Doppelbödigkeit der Medienpraxis ‚Übersetzen‘ für die baltische Aufklärung am Beispiel von Schillers Ode An die Freude aufzeigen. Das Beispiel eignet sich, da an Schillerübersetzungen im gelehrten Diskurs im baltischen Kulturraum unter den (Volks-)Aufklärern und Übersetzern grundlegende Fragen diskutiert wurden und die auch im Baltikum äußerst beliebte Ode gleich mehrfach ins Estnische übersetzt wurde.16 Dadurch lassen sich an zwei Übersetzungen des gemeinsamen Ausgangstextes unterschiedliche Strategien und translatorische Wirkungen sowie generell Verschiebungen der translatorischen Absichten ablesen, die mit dem Wechsel der kulturvermittelnden Akteure einhergehen. Indem die Frage nach der Sprach- und Literaturentwicklung des Estnischen und Lettischen ebenfalls gestellt wird, verweist die eingeschriebene Entwicklung über die Epoche der Volksaufklärung hinaus und öffnet sich hin zu Fragen des nationalen Erwachens.17

3. Zur Diskussion über die Übersetzbarkeit von Schillers Lyrik ins Estnische respektive Lettische Über translatorische Fragen wurde in den Reihen der (Volks-)Aufklärer in den baltischen Ostseeprovinzen lebhaft debattiert.18 Dies gilt auch für die Schiller-Überset15 Boguna: Zur Geschichte des Übersetzens in Livland und Lettland (= Anm. 12), S. 295. 16 Die Schiller-Übersetzungen ins Estnische sind hervorragend dokumentiert und kommentiert worden von Herbert von Salu, an dessen Quellenlage sich die folgenden Überlegungen anschließen. Vgl. Herbert von Salu: Seid umschlungen, Millionen! Die frühesten Übersetzungen von Schillers Liedern und Balladen in Skandinavien und im Baltikum. Stockholm 1968, S. 114−168. 17 Grundsätzlich verschiebt sich die Epochendatierung in der baltischen Region, wo die Aufklärung Ende des 18. Jahrhunderts nicht vorbei ist und weit ins 19. Jahrhundert hineinreicht. Hierbei schließe ich mich der Periodisierung an, die unlängst vorgenommen wurde von Raivis Bičevskis, Jost Eickmeyer, Andris Levans u. a.: Einleitung. In: Dies.: Baltisch-deutsche Kulturbeziehungen. Bd. 2 (= Anm. 12), S. 1–20, hier S. 1: „Mit der zeitlichen Erstreckung von der Aufklärung bis zum ,nationalen Erwachen‘ wird der Untersuchungszeitraum der frühen Neuzeit im Baltikum vervollständigt. Darin ist die Prämisse enthalten, dass es eine lange frühe Neuzeit gewesen ist, die die baltische Kulturregion kennzeichnet, ja dass sie unter den spezifischen Bedingungen der baltischen Länder bis in die 1860er Jahre andauerte.“ 18 Im Folgenden wird der Fokus auf dem Estnischen liegen. Die Diskussionen im baltischen literarischen Feld betrafen jedoch gleichermaßen die estnische wie die lettische Sprache.

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zungen, an denen grundsätzliche Fragen der Übersetzungsstrategie und der Übersetzungspolitik aufgeworfen wurden. So entzündete sich eine Debatte an der Frage, ob man Schiller überhaupt ins Estnische (bzw. Lettische) übersetzen sollte bzw. könnte. Zunächst diskutierte man in den Sprachgesellschaften, in der Lettisch-Literärischen Gesellschaft (gegründet 1824) und der Gelehrten Estnischen Gesellschaft (gegründet 1838), wo „nicht nur Translationsnormen tradiert, sondern auch neue festgelegt“ wurden. Denn in dem Maße, in dem sich „das Bild des Bauern [verändert], so verändert sich metonymisch auch die Art, was und wie man für ihn übersetzt.“19 Diskutiert wurde über die zu übersetzenden Texte und die Strategien des Übersetzens. Einige Volksaufklärer vertraten in diesen Debatten mit unterschiedlichen Argumenten die Position, dass Schiller wie auch andere deutsche Klassiker (vor allem Klopstock, Grimm, Hebbel und Voß) nicht ins Estnische oder Lettische, die sogenannten Bauernsprachen, übersetzt werden könne. So betont Otto Wilhelm Masing, Herausgeber der ersten estnischen Zeitung Maarahwa näddula-leht: Es scheint daher wohl gerathen zu seyn […], von keiner Poesie des Ehsten, noch von Dichtungsarten und von vorzuschlagenden Sylbenmaßen zu sprechen; noch viel weniger den vergeblichen Versuch zu wagen, den esthnischen Bauern über die Grenzen seiner Sprache und seines dermaligen Ideenkreises hinauszuführen, und ihn, unserem Dafürhalten nach, wie Schiller empfinden, denken, fühlen und sprechen zu lassen. Ohne den Stein des Weisen gefunden zu haben, ist es unmöglich, den hölzernen Kochlöffel des Ehsten in eine goldne Kelle verwandeln zu können.20

Unterstellt wird hier, dass weder die Bevölkerung noch die Sprachen der Esten (und Letten) für Dichtung und für den Ideenkreis Schillers empfänglich seien; mittels Schillerübersetzung könne der estnische Bauer deshalb auch nicht „über die Grenzen seiner Sprache hinausgeführt“ werden. Zwischen der „goldnen Kelle“ der Schiller’schen Dichtung und dem „hölzernen Kochlöffel“ der Esten klaffe eine unüberwindliche zivilisatorische Distanz.

19 Julija Boguna: Das Goldmacherdorf, ein lettisch-deutsches Lesebuch. Zur Geschichte der Translation in Livland. In: Pasewalck, Neidlinger u. Loogus: Interkulturalität und (literarisches) Übersetzen (= Anm. 14), S. 251−265, hier 259. Julija Boguna bezeichnet „die Schiller-Frage“ als „Kristallisationspunkt der Übersetzungsdebatten“. Dies.: Nützt es dem Volke, übersetzt zu werden? In: Silke Pasewalck u. Matthias Weber (Hg.): Bildungspraktiken der Aufklärung / Education Practices of the Enlightenment (Journal für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa 1). Berlin u. Boston 2020, S. 51–72, hier S. 68. Liina Lukas benennt als Ziel der Sprachgesellschaften zu Recht die „Suche nach einer eigenen Identität“ der Deutschbalten. Daraus „entstand“, so Lukas, „auch ein größeres Interesse für die est-, liv- und kurländische Landeskunde und Eigenkultur, das sich in der Tätigkeit der verschiedenen Gesellschaften entfaltete.“ Liina Lukas: Die Überbrückung des Fremden in der deutschbaltischen Literatur. In: Michael Schwidtal u. Armands Gūtmanis (Hg.): Das Baltikum im Spiegel der deutschen Literatur. Carl Gustav Jochmann und Garlieb Merkel. Heidelberg 2001, S. 263−280, hier S. 264. 20 Otto Wilhelm Masing: Sprach- und andere Bemerkungen über einige im ersten, zweiten und dritten Hefte dieser Beiträge enthaltenen esthnischen Aufsätze, Worterläuterungen u. s. w. In: Beiträge zur genauern Kenntnis der esthnischen Sprache 4 (1815), S. 103−112, hier S. 106.

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Selbst ein Garlieb Merkel, seines Zeichens Verfasser der berühmten Streitschrift Die Letten (1797), in der er für die Aufhebung der Leibeigenschaft plädierte, behauptet, die Letten bräuchten Schiller nicht, denn dies sei kein Autor fürs Volk, sondern für die „gebildeten Klassen“.21 Angesichts dieser Vorbehalte muss sich die LettischLiterärische Gesellschaft für Schiller-Übersetzungen aus ihren Reihen rechtfertigen: Schiller war ein reflectirender, philosophischer Dichter, und wer Übersetzungen seiner Gedichte, wo die Reflexion vorherrscht, für geeignet hielte, schon jetzt von unseren Letten verstanden zu werden, würde dadurch seine Unkunde verraten. Aber nicht alle Gedichte Schiller’s sind der eben bezeichneten Art. Seine Balladen und Romanzen, diejenigen seiner Gedichte, die den Menschen als Menschen interessieren, müssen auch für unsere Letten Interesse haben, oder man müsste sie hors de l’humanité erklären. Wir rechnen zu solchen Schillerschen Gedichten: ,den Gang nach dem Eisenhammer‘, ,den Handschuh‘, ,die Kindsmörderin‘, ,die Bürgschaft‘, ,die Schlacht‘ […].22

Die Debatte verrät, welches Kulturverständnis die Volksaufklärer leitete und welches Bild der indigenen Bevölkerung imaginiert wurde. Bei allem Reiz von Exotik, den etwa Herder oder auch Rousseaus Kulturkritik evoziert hatten, blieb das Dogma des eigenen höheren Zivilisationsgrades unangetastet und Maßstab höherer Kultur. Doch die Auffassung, Schiller passe nicht oder noch nicht zu Bauernvolk und -sprache, wird auch von estnischer Seite geäußert, so wenn es anlässlich der Gedenkfeiern zu Schillers 100. Geburtstag im Jahr 1859 in der Perno Postimees heißt: Am Martinitage wurden es 100 Jahre, dass in Deutschland ein grosser Dichter geboren wurde, mit Namen Schiller (in unserer Sprache Siller). Uns sind sein Name und seine Lieder meistenteils wohl eine recht unbekannte Sache, aber umso bekannter und teurer sind sie den Deutschen. […] Uns sind seine Gedichte und Schriften etwas hoch zu verstehen und schwer in die Landessprache zu übersetzen, sie passen uns wie ein Tuchrock hinter dem Pfluge. Wir sind in der Entwicklung noch nicht so weit. Schiller ist uns wie ein Fruchtbaum mit hohen Ästen, an dessen Früchte wir nicht heranreichen. Es ist von seinen Schriften meines Wissens noch nichts ins Estnische übersetzt, was uns wohl auch eine fremde Speise wäre.23

Wird die Fremdzuschreibung hier also als Selbstzuschreibung übernommen? Die Zweifel sind nicht grundsätzlich, sondern stellen sich als Frage nach der rechten Zeit. „Meie asjad polle veel nenda kaugel“ („Wir sind in der Entwicklung noch nicht so weit“), heißt es ja einschränkend. Doch offensichtlich wurden das paternalistische Verhältnis und damit die Auffassung vom Gefälle zwischen den Kulturen übernommen. 21 Der Aufsatz erscheint in Merkels Provinzialblatt für Kur-, Liv- und Esthland: Garlieb Merkel (1828): Lettische Literatur. In: Literarischer Begleiter des Provinzialblattes für Kur-, Liv- und Ehstland. 29.02.1828, Sp. 18b−19b, hier Sp. 19a. 22 Christian Wilhelm Brockhusen: Vorwort. In: Magazin der Lettisch-Literärischen Gesellschaft, 1. Heft, 2. Stück (1829), S. V−VII. 23 In der deutschen Übersetzung zit. nach Salu: Seid umschlungen, Millionen (= Anm. 16), S. 149. Das estnischsprachige Original ist am 18. November 1859 in der Perno Postimees erschienen (verfügbar unter: http://dea.digar.ee/cgi-bin/dea?a=d&d=pernopostimees18591118 [19.07.2021]).

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Wer ist der Verfasser dieses Zeitungsartikels? Könnte es Johann Woldemar Jannsen sein, der zu dieser Zeit als Redakteur und Publizist in der Perno Postimees tätig war? Dann wäre es bemerkenswert, dass kein anderer als Jannsen nur ein halbes Jahr später Schillers Ode An die Freude erneut übersetzen sollte, orientiert an der von Otto Reinhold Holtz angefertigten ersten Übersetzung. Doch immerhin wird der Einwand, Schiller überfordere die estnische Sprache, nicht mehr erhoben. Auch das zweite Argument, Schiller sei dem Volke nicht zuzumuten, verliert an Bedeutung. Der spätere Verfasser des estnischen Nationalepos Kalevipoeg, Friedrich Reinhold Kreutzwald, verschiebt die Problematik der Übersetzung zur Frage nach der Kompetenz des Übersetzers. In seinem Briefwechsel mit der Dichterkollegin Lydia Koidula, Jannsens Tochter, aus den Jahren 1868–1879 diskutiert er, worin eine gute Schillerübersetzung bestünde. Mit seiner eigenen übersetzerischen Leistung unzufrieden, will er den Stab an die jüngere Dichterfreundin weitergeben: Um die beiden deutschen Dichterfürsten (Schiller und Goethe) so unter unser Volk zu bringen, dass der Uebersetzer nicht zu erröthen braucht, und ein verständiger Leser mit Genuss die Production lesen kann, dazu gehört Talent und Geschick in viel größerem Maße, als Altvater mir verliehen hat. [...] Eine gute Übertragung soll soviel wie möglich den Geist und Sinn des Originals wiederspiegeln, zugleich aber auch so fließend sich lesen lassen als ein dichterischer Erguss in der eigenen Muttersprache.24

Schiller ist keine unerreichbare Frucht mehr, sondern es ist nur noch die Frage, wie man sie bekommen bzw. weitergeben kann. Weder die Sprache noch ihre Sprecher müssen sich entwickeln, sondern es ist nur noch eine Frage der Kompetenz bzw. des Konzepts des Kulturvermittlers. Im Sinne eines Kulturtransfers gilt hier Schiller noch mehr als Goethe als potentielle Gabe einer anderen Kultur, die nach geeigneten Akteuren der Vermittlung verlangt. Als eine solche Gabe gilt er nicht mehr als Lackmustest für die Kulturfähigkeit einer Sprache und deren Sprecher. Er ist ein Angebot, das angenommen oder abgelehnt werden kann. Schiller wurde zweifelsohne adaptiert und hat seinen Platz im Pantheon des Baltikums bekommen. Worin bestand der Nimbus, den Schiller (nicht nur) im Baltikum genoss?

4. Zur Popularität Schillers im Baltikum Wie ist die Schillerbegeisterung im Baltikum zu erklären? Bekanntlich wurden weite Teile Europas, vor allem nach dem frühen Tod des Dichters im Jahr 1805, von einer wahren Schillerbegeisterung erfasst. In Frankreich, in der Schweiz, in Polen, Russland und Italien – um nur einige Länder zu nennen – wurde Schiller im 19. Jahrhundert als Dichter der Freiheit und der nationalen Eigenständigkeit rezipiert: „Die ost- und südeuropäischen Völker neigen im 19. Jahrhundert dazu, den Dramatiker in ihren Kämpfen für die Anerkennung ihrer nationalen Identität und Freiheit zu ei-

24 Friedrich Kreutzwald an Lydia Koidula. 18.04.1870, zit. nach Salu: Seid umschlungen, Millionen! (= Anm. 16), S. 157.

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nem Verbündeten zu machen.“25 Hier ließen sich, wie Herbert von Salu gezeigt hat, auch die skandinavischen Länder und das Baltikum hinzufügen.26 Doch bei wem war Schiller im Baltikum populär? Zunächst betraf dies allein die deutsche Oberschicht bzw. deren kulturelle Elite – vor allem jene, die Ende des 18. Jahrhunderts in Ermangelung einer eigenen regionalen Universität in Jena, Leipzig, Halle oder Göttingen studiert hatten und von dort ebenso Schillers Gedichte und Lieder wie die studentischen Traditionen in die Heimat mitbrachten. „[G]erade diejenigen Balten, die in Jena während der ,klassischen Zeit‘ studierten, [prägten] als Träger von Aufklärungsideen die Atmosphäre des geistigen Lebens in den Ostseeprovinzen im ersten Viertel des 19. Jahrhunderts“27 Sowohl die Schiller-Begeisterung als auch die studentischen Traditionen sollten in Dorpat (Tartu) nach der Wiedereröffnung der Kaiserlichen Universität ab 1802 lebhaften Niederschlag finden. Zwar hatten einige deutschbaltische Studenten direkt bei Schiller in Jena Vorlesungen gehört,28 aber das Gros derselben war mit Schiller eher im geselligen Studentenleben konfrontiert worden. Dort wurden vor allem dessen Lieder gesungen und Schiller-Verse in die Studentenbüchlein eingetragen, nicht zuletzt die gefährlichen Verse aus der ersten Fassung der Ode An die Freude: „Rettung von Tyrannenketten“ – eine Strophe, die Schiller bekanntlich bei der zweiten Fassung des Gedichts gestrichen hat. An der Universität Dorpat konnte sich die Schillerbegeisterung rasch verbreiten. Vermittelnd wirkte hierbei auch der klassische Philologe Karl Morgenstern, der in seinen Vorlesungen stets auch die deutsche Klassik behandelte. Schillers früher Tod führte sowohl in Deutschland als auch im Baltikum zu einem wahren Schiller-Kult: Die allerersten Schillerdenkmäler sind in Estland errichtet worden, Jahre vor denen in Deutschland, und zwar in Helmet (Helme) in der Landgemeinde Törwa (Tõrva) und auf der Halbinsel Puht (Puhtu). Die Ode An die Freude, entstanden im Sommer 1785 in Leipzig, gehörte im Baltikum zu den po-

25 Anne Feler, Raymond Heitz u. Gilles Darras: Vorwort. In: Dies. (Hg.): Friedrich Schiller in Europa. Konstellationen und Erscheinungsformen einer politischen und ideologischen Rezeption im europäischen Raum vom 18. bis zum 20. Jahrhundert. Heidelberg 2013, S. 5−15, hier S. 5. Der Band geht auf die Schiller-Rezeption im germanischen, romanischen und slawischen Raum ein. 26 Vgl. Salu: Seid um schlungen, Millionen (= Anm. 16). 27 Arvo Tering: Baltische Studenten an europäischen Universitäten. In: Otto-Heinrich Elias (Hg.): Aufklärung in den baltischen Provinzen Russlands. Ideologie und soziale Wirklichkeit. Köln, Weimar u. Wien 1996 (Quellen und Studien zur baltischen Geschichte 15), S. 125−154, hier S. 137. 2008 hat Arvo Tering die Ergebnisse seiner jahrelangen Forschungen zur Geschichte der baltischen Akademikersozietät in eine Monographie münden lassen. Vgl. ders.: Eesti-, liivi- ja kuramaalased Euroopa ülikoolides 1561–1798 [Die Estländer, Livländer und Kurländer an europäischen Universitäten]. Tartu 2008. 28 Der bekannteste von ihnen war wohl der Dichter und Maler Karl Gotthard Grass, der mit Schiller sogar befreundet war: „In Schillers Freundeskreis gab es viele Balten, darunter den Künstler Karl Gotthard Graß, den späteren Sekretär der Universitätsbibliothek in Dorpat Carl Petersen […], den in Dorpat gebürtigen späteren Arzt Ludwig Reinhold Stegemann“ (ebd., S. 137f.). Johann Wilhelm Reinhold Ewert hielt sich um 1797/98 in Jena auf und sollte später Schillers Ode An die Freude ins Estnische übersetzen. Vgl. auch Salu: Seid umschlungen, Millionen (= Anm. 16), S. 132.

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pulärsten Texten, gefolgt vom Lied von der Glocke und Balladen wie Der Handschuh oder Der Taucher. Diese Schiller’schen Gedichte wurden als Gesellschaftslieder öffentlich vorgetragen oder sogar gesungen, im Freundeskreis oder bei größeren Festen und Feiern. Aber es „wäre einseitig, in der Frage von Schillers Beliebtheit nur die aus Deutschland kommenden Einflüsse zu betrachten. Als Teil des Zarenreiches waren die Provinzen […] vor allem von der russischen Kulturpolitik abhängig. In Bezug auf Übersetzungen von Schiller wirkte sich dies eher positiv als negativ aus.“29 Den allermeisten Esten oder Letten freilich war Schiller zu dieser Zeit noch fremd und unvertraut. Sie partizipierten nicht an den Säkularfeiern anlässlich Schillers 100. Geburtstag. Hier kann man noch sauber trennen: Populär ist das deutsche Original, und noch nicht die Übersetzungen.30 Wieso konnte es aber dazu kommen, dass Schillers Ode An die Freude schließlich Ende des 19. Jahrhunderts einen festen Platz im estnischen Liederrepertoire erringen sollte? Juhan Kunders flüssige Übersetzung aus dem Jahr 1886 unter dem Titel Laul rõõmule wurde ja von Aleksander Läte, einem der bekanntesten zeitgenössischen estnischen Komponisten, vertont. Herbert von Salu beschreibt die Popularität des Liedes wie folgt: Das Lied wurde bald zu einem der beliebtesten Konzertstücke. Zum vierten estnischen allgemeinen Sängerfest, das vom 15.–17. Juni 1891 stattfand, wurde das Lied am zweiten Tage von 2700 Sängern (150 vereinigten Chören) und einem 300 Mitglieder zählenden Orchester vor einem zahlreichen, jubelnden Publikum vorgetragen. Die zeitgenössische Kritik zählte Laul rõõmule zu den besten Liedern des Festes.31

Was hat Schillers Ode also trotz der anfänglichen Unkenrufe auf deutschbaltischer und estnischer Seite diesen Erfolg beschieden? Und diese Frage verbindet sich mit der grundsätzlicheren Frage, ob Schiller als Vertreter der Hochkultur oder aber der Freiheit und der Aufklärung verstanden und weitervermittelt wurde.

5. Zu den Übersetzungen von Schillers Ode An die Freude ins Estnische (Holtz, Kreutzwald) Schillers Ode An die Freude wurde mehrmals ins Estnische übersetzt. Grundlage der Übersetzung war die erste Fassung der Ode aus dem Jahr 1785, deren letzte Strophe mit dem Aufruf „Rettung von Tyrannenketten“32 zu der Berühmtheit des Liedes 29 Ebd., S. 126. 30 Hier gilt es jedoch, auf eine bemerkenswerte Ausnahme hinzuweisen, und zwar auf die Übersetzung von Schillers Drama Die Räuber durch den lettischen Leibeigenen Jānis Peitāns im Jahre 1817, der überdies die erste Aufführung eines lettischsprachigen Schauspiels in der Scheune des Gutshofes von Dickeln (Dikļi) ermöglichte. Vgl. zu dieser spannenden Rezeptionsgeschichte Beata Paškevica: Schillers Drama Die Räuber in der Übersetzung eines lettischen Leibeigenen. Eine eigenartige Rezeptions- und Inspirationsgeschichte. In: Heinrich Bosse, Otto-Heinrich Elias u. Thomas Taterka (Hg.): Baltische Literaturen in der Goethezeit. Würzburg 2011, S. 291−302. 31 Salu: Seid umschlungen, Millionen (= Anm. 16), S. 167. 32 Die Ode An die Freude wird im Folgenden zitiert nach: Schillers Werke. Nationalausgabe. Begr. v.

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nicht unwesentlich beigetragen hatte, aber bekanntlich in der späteren Fassung von 1804 aus Gründen der Zensur ersatzlos gestrichen wurde. Ohne Vollständigkeit zu beanspruchen, sei auf die einflussreichsten Übersetzungen hingewiesen: – Otto Reinhold von Holtz: Römu kitus, 1813 – Jakob Wilhelm Reinhold Everth: Laul Römo ülle, 1813 – Johann Woldemar Jannsen: Römu kitus, 1860 – Friedrich Reinhold Kreutzwald: Röömule, 1861 – Juhan Kunder: Laul rõõmule, 188633 Bemerkenswert ist, dass der weiter oben zitierten Warnung aus der Lettisch-Literärischen Gesellschaft zum Trotz doch ein Gedicht gewählt wurde, das einen recht hohen Reflexions- und Abstraktionsgrad aufwies, jedoch keinen lehrhaften Text im engeren Sinne darstellt. Um diesen Mangel auszugleichen, wurde – wie anhand der Übersetzung von Otto Reinhold von Holtz gezeigt werden wird – dem Gedicht diese vermeintlich notwendige, gleichwohl fehlende pädagogische Essenz eingeflößt. Hier tritt die paternalistische Grundhaltung der Volksaufklärer offen zutage und paart sich mit der christlich-moralischen Mission, die man gegenüber der indigenen Bevölkerung glaubte erfüllen zu müssen. Es können daher zwei Übersetzungsphasen unterschieden werden: Die ersten Übersetzungen wurden schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts von deutschbaltischen Pastoren realisiert – also von Akteuren, die bei aller Kenntnis und Vertrautheit mit der estnischen Kultur und Sprache gleichwohl in der deutsch-baltischen Kultur verwurzelt waren – und zwar von Otto Reinhold von Holtz und von Jakob Wilhelm Reinhold Ewerth. Eine zweite Übersetzungswelle wurde von den Säkularfeiern 1859 angestoßen, und nun waren es estnische Publizisten und Schriftsteller, die Schillers Lied mit Noten versahen oder übersetzten. Diese waren zugleich mit der deutschen Kultur vertraut, weil damals der baltische Bildungsweg eine deutsche Sozialisation unausweichlich mit sich brachte. Auf zwei Übersetzungen – je eine aus jeder Übersetzungsphase – möchte ich nun näher eingehen und hierbei auf die zentralen Unterschiede zwischen diesen beiden aufmerksam machen: zunächst die des deutschbaltischen Pastors Otto Reinhold Holtz aus dem Jahr 1813 und schließlich auf die des estnischen Schriftstellers Friedrich Reinhold Kreutzwald aus dem Jahr 1861.

Julius Petersen. Fortgef. v. Lieselotte Blumenthal. Hg. v. Norbert Oellers. Bd. 1: Gedichte in der Reihenfolge ihres Erscheinens 1776−1799. Hg. v. Julius Petersen u. Friedrich Beißner. Unveränd. fotomechanischer Nachdr. d. Ausg. 1943. Weimar 1992, S. 170−172. 33 Nicht näher berücksichtigt werden die Übersetzung von Schillers Ode An die Freude ins Lettische. Diese setzten einige Jahre zuvor ein, und zwar durch den Sohn des berühmten deutschbaltischen Aufklärers Gotthard Friedrich Stender, Alexander Johann, der die Übersetzung 1805 in eine Sammlung mit Liedern, Fabeln und Märchen aufnahm. Karl Gotthard Elverfeld integrierte die Ode in Das Buch der Freude (1804), das dezidiert die ästhetische Erziehung des Menschen anstrebte. Die Ode wurde außerdem von Jakob Florentin Lundberg und Karl Friedrich Hugenberger ins Lettische übersetzt. Vgl. Liina Lukas: Die Geburt der estnisch- und lettischsprachigen Lyrik aus dem Geiste des Liedes. In: Letonica 37 (2018), S. 51−62, hier S. 55.

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5.1. Otto Reinhold von Holtz: Römu kitus, 1813 Otto Reinhold von Holtz (1757−1828), der erste Übersetzer von Schillers Ode An die Freude ins Estnische, arbeitete als Pastor in Kegel (Keila) und betätigte sich, wie für die Volksaufklärer seiner Zeit typisch, zudem als Übersetzer für verschiedenste Textsorten: juristische, pädagogische, medizinische und religiöse. Von seinen juristischen Übersetzungen war die Übertragung des Bauerngesetzes im Jahr 1816 sehr einflussreich. Sie wurde unter dem Titel Eestima Tallorahwa Seädmised veröffentlicht und kann als Pionierarbeit für die estnischsprachige juristische Terminologie eingestuft werden.34 Außerdem schrieb Holtz didaktische Kurzgeschichten und sogar Gedichte auf Estnisch. Für kurze Zeit arbeitete er als Estnischlehrer in der Tallinner Kreisschule, und einer seiner Schüler dort war niemand Geringeres als Friedrich Reinhold Kreutzwald. In seinem populärsten Buch, einer Anthologie mit Gedichten und Kurzgeschichten, genannt Luggemissed Eestima Tallorahwa Moistusse ja Süddame Juhatamisseks (Lektüre zur Anleitung von Verstand und Herz des estnischen Bauernvolks) versuchte Holtz, die Bauerngesetze den estnischen Bauern zu erklären. Er übersetzte diese in allegorische Geschichten, in der Annahme, dass diese dann besser verstanden würden. Die Anthologie ist sehr charakteristisch für das Unternehmen der baltischen Volksaufklärung, was der Titel einer dieser Geschichten gut auf den Punkt bringt: „Jut on se Koroke, öppetus on se Iwwa“ („Die Geschichte ist die Rinde, und der Inhalt ist der Kern“).35 Holtz’ Übersetzung von Schillers Ode erschien nicht nur in dieser populären Sammlung, sondern z. B. auch in dem Eestima Rahwa Kalender aus dem Jahr 181436 sowie in der Anthologie Monned laulud (Einige Lieder), der ersten estnischsprachigen Liedersammlung, die hauptsächlich Adaptionen von Otto Rein34 „Seeläbi sai O.  R.  von Holtzist üks eesti juriidilise terminoloogia teerajajaid“ [Damit wurde O. R. von Holtz zum Wegbereiter der estnischen juristischen Terminologie]. So Kairit Kaur: Otto Reinhold von Holtz (1757–1828). In: EEVA. Digitale Textsammlung älterer Literatur Estlands. URL: http://www.utlib.ee/ekollekt/eeva/index.php?lang=de&do=autor&aid=42 [19.07.2021]. 35 Wer waren die Adressaten dieses Buches? Es waren nicht direkt die estnischen Bauern, sondern die Pastorenkollegen („Ammeti vennad“ [Amtsbrüder]), die dieselbe Aufgabe wie er hatten, nämlich die Botschaft an die bäuerliche Bevölkerung zu bringen. Es stellt sich die Frage, ob Holtz mit dem Bauerngesetz und mit diesen allegorischen Geschichten soziopolitischen Veränderungen Vorschub leistete. Auf der einen Seite war Holtz seit 1812 ein Mitglied der Kommission, die sich für die Einführung des Bauerngesetztes einsetzte, auf der anderen Seite zeigt ein näherer Blick in die Geschichte, dass es in erster Linie darum ging, Missverständnisse und Unruhen unter den Bauern zu vermeiden. 36 Eesti-Ma Rahwa Kalender, ehk Täht-Ramat 1814 Aasta peäle [...] [Estnischer Bauernkalender für das Jahr 1814]. Tallinn 1813, unpag. URL: https://galerii.kirmus.ee/grafo/raamat.php?id=538 [19.07.2021]. Die Übersetzung von Reinhold von Holtz wird zitiert nach Salu: Seid umschlungen, Millionen (= Anm. 16), S. 129−131. Herbert von Salu hat eine hervorragende Grundlagenarbeit geleistet, auf welcher meine Überlegungen aufbauen. Seiner Analyse stimme ich in weiten Teilen zu, jedoch ist meiner Analyse und meinem Übersetzungsvergleich zufolge die Differenz zwischen Holtz und Kreuzwald in semantischer Hinsicht deutlich stärker als durch von Salu herausgestellt wurde, während die sprachliche Verbindung von Kreuzwald zur estnischen Tradition des Volkslieds übertrieben wirken könnte.

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hold von Holtz und Johann Reinhold Winkler enthielt.37 Aufgrund dieser verschiedenen Publikationswege fand die Ode rasch weite Verbreitung in Form von mehreren Auflagen.38 Zur Frage, wie gut Reinhold von Holtz Estnisch konnte, gibt es unterschiedliche Positionen: Cornelius Hasselblatt nennt ihn einen der besten Kenner des Estnischen seiner Zeit.39 Auch Herbert von Salu unterstreicht, dass Holtz den Ruf eines der besten Kenner des Estnischen und eines geschickten Übersetzers habe, diese Auffassung indes durch eine kritische Äußerung Otto W. Masings irritiert worden sei.40 Nach welchen Prinzipien hat Holtz übersetzt? Er behielt formale Charakteristika der Ode bei, wie das Versmaß, den 4-hebigen Trochäus und den Reim (Kreuzreim in den achtzeiligen Strophen, umschließenden Reim im vierzeiligen Chorgesang). Das kann hier anhand der ersten Strophe demonstriert werden: Freude, schöner Götterfunken, Tochter aus Elisium, Wir betreten feuertrunken Himmlische, dein Heiligtum. Deine Zauber binden wieder, Was der Mode Schwert geteilt; Bettler werden Fürstenbrüder, Wo dein sanfter Flügel weilt. Seid umschlungen, Millionen! Diesen Kuß der ganzen Welt! Brüder – überm Sternenzelt Muß ein lieber Vater wohnen.

Rööm! sa taewa ello sedde, Taewa tüttar olled sa! Tundes sinno maggust wägge Kulutan so kitust ma. Sinna kergitad keik waewad Kerjejail’ ja kunningal’ – Waesed würsti wennaks sawad Sinno pehme tiwa al. Keik ma-ilma innimessed! Kät ja suud teil’ keikidel’. Wennad! Wist seal üllewel On üks armas issa asset.

So streng Holtz formale Elemente übertrug, so frei fühlte er sich hinsichtlich des Inhalts und veränderte diesen in erheblichem Maße. Damit steht er Kreutzwalds Forderung, dem Original in Sinn und Geist so weit als möglich zu entsprechen, aber ansonsten das Estnische sprechen zu lassen, diametral entgegen. Dies beginnt schon damit, dass er eine neue Strophe an den Anfang setzte; seine Version umfasst insgesamt zehn Strophen – und nicht wie die des Schiller’schen Gedichts in der Erstfassung neun. Die Sprecherinstanz der hinzugefügten Strophe unterscheidet sich von der in Schillers Gedicht: Es ist ein Pastor, der sich an seine Gemeinde wendet, um vor den falschen Freuden („Wallatus ja joma-ello, / Körkus, laiskus, kawwalus“ [„Ungezogenheit und Trunksucht / Hochmut, Faulheit, List“]) zu warnen und sie die wahre Freude zu lehren („Meie öppetame teid / Römud tundma, mis on selged“ [„Wir lehren euch / die reine Freude zu fühlen“]). Mithilfe dieser hinzugefügten 37 Vgl. hierzu Lukas: Geburt der estnisch- und lettischsprachigen Lyrik (= Anm. 33), S. 56. 38 Vgl. Salu: Seid umschlungen, Millionen (= Anm. 16), S. 129. 39 Vgl. Cornelius Hasselblatt: Geschichte der estnischen Literatur. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Berlin 2006, S. 165. 40 Vgl. Salu: Seid umschlungen, Millionen! (= Anm. 16), S. 131.

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Strophe schuf Holtz einen Rahmen, um gleich zu Beginn Missverständnisse aufseiten der estnischen Bauern zu verhindern. Diese didaktische Methode sowie dieser moralisierende Auftakt werden zum bestimmenden Grundton und sind in der ganzen Übersetzung auffällig. Was sich im neuen Titel (Römu kitus [Verherrlichung der Freude]) erst andeutet, ist eine Umdeutung vom Trinklied zum Abstinenzlied. Wenn Holtz die Realia an die Lebenswelt seiner imaginierten Adressaten anpasst (dieses Verfahren der sogenannten Lokalisierung, einer zielkulturellen Anpassung unter Berücksichtigung der politisch-gesellschaftlichen Bedingungen, ist generell für die volksaufklärerischen Übersetzungen typisch),41 kappt er die kulturelle Bedeutung des Weines, welche der Schnaps nicht erfüllen kann. Zugleich verschiebt der veränderte Anlass (aus dem Trinkgelage wird der Hochzeitstisch und das Treffen von Gleichgesinnten wird zur Familienfeier) den gesamten Kontext: [Schiller’sches Original:] Freude sprudelt in Pokalen, In der Traube dunklem Blut

[Holtz’ Übersetzung:] Rööm keeb pulma laue kausist -Wilja-iwwa rammo seest [Freude sprudelt aus der Schale der Hochzeitstafel Aus der Kraft der Körner]42

Außerdem hat Holtz alle Anspielungen auf die heidnischen Götter der Antike abgeschwächt sowie solche auf die weltlichen Freuden. Wenn Schillers Original dazu auffordert, die Zunge mit entsprechenden Getränken aufs Singen einzustimmen („Brüder, trinkt und stimmet ein“), fehlt diese Aufforderung zum Alkoholgenuss bei Holtz gänzlich („Wennad! töstkem lauldes heält“ [„Brüder! lasst uns singend die Stimme erheben“]). Gleiches gilt auch für den Vers „Schwört bei diesem goldnen Wein“, der mit den Worten „Römo tundes vanduge“ („Schwört Freude fühlend“) wiedergegeben wird. Stattdessen wird der religiöse Gehalt deutlich ins Christliche gesteigert, und aus der Aufforderung bei Schiller, der eigenen Bestimmung zu folgen, wird bei Holtz der Kampf gegen die eigenen Sünden. So in der fünften Strophe: Laufet, Brüder, eure Bahn, Freudig wie ein Held zum Siegen.

Lahkuvad keik nutto-ööd Sellel’, kes on patto woitja [alle Tränennächte weichen von dem, der die Sünde besiegt]

41 Vgl. hierzu etwa Boguna: Geschichte des Übersetzens in Livland und Lettland (= Anm. 12), S. 304. Boguna führt Brockhusen an, der als „Nationalisierung [...] eine Weglassung alles Fremdartigen“ bezeichne. 42 Unter den Bauern gab es keinen Wein, wohl aber Branntwein (Wodka), der aus Roggen gebrannt wurde.

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Schließlich mutiert der Ruf nach Freiheit in der letzten Strophe, der eindeutig als Aufruf zur Revolution verstanden werden kann, bei Holtz zum Gebot, Ruhe zu wahren, wenn er „Rettung aus Tyrannenketten“ mit „Peästmist seest, mis rahho rikkub“ („Einhalt allem, was die Ruhe stört“) übersetzt. Hält man sich diese zahlreichen inhaltlichen Veränderungen vor Augen, so fällt es schwer, Holtz’ Römu kitus eine Übersetzung im engeren Sinne des Wortes zu nennen, verkehrt er den Sinn doch teilweise in sein Gegenteil. Dennoch sei bemerkt, dass Holtz durch die Treue in der Form auch hinreichend belegte, dass sich die estnische Sprache poetische Formen, die ihr traditionell nicht eigen waren – wie etwa der Endreim – bereits angeeignet hatte. Dass sich seine Übersetzung trotz seiner eminent volksaufklärerischen und somit belehrend-kontrollierenden Absicht offenbar unter estnischen Lesern verbreitete und auch prägend bleiben sollte, belegt Johann Woldemar Jannsen, der estnische Publizist und Herausgeber der Zeitschrift Perno Postimees, indem er sich im Jahr 1860 bei seiner Adaptation der Schiller’schen Ode stark an dieser Version orientieren und neben dem Titel sogar die moralisierende Eingangsstrophe übernehmen sollte. Den Text gestaltete er insgesamt sangbarer und er verwendete eine modernere Sprache. Kreutzwalds Intention, der estnischen Sprache eine eigene Rolle zu geben, entsprach er gleichwohl noch nicht.43 5.2 Friedrich Reinhold Kreutzwald: Röömule, 186144 Friedrich Reinhold Kreutzwald wurde in einer Leibeigenenfamilie geboren und gehört zur ersten Generation der höher gebildeten Esten. Durch Unterstützer der Herrnhuter konnte er nach Abschaffung der Leibeigenschaft kostenfrei die Kreisschule in Reval (Tallinn) besuchen. Dies bedeutete gleichwohl, einen deutschen Bildungsweg zu durchlaufen. So fand etwa sein Studium der Medizin in Dorpat selbstredend auf Deutsch statt. Als er sich anschließend als Stadtarzt in Werro (Võru) niederließ, begann er neben seiner Tätigkeit als Arzt sowohl zu übersetzen als auch zu schreiben und wurde zu einem der Wegbereiter der estnischen Literatursprache. So übersetzte er u. a. die sogenannte Trauergeschichte Branntweinpest von Heinrich 43 Jannsens Übersetzung ist weniger wegen ihrer dichterischen Qualität von Interesse, sondern aufgrund ihres Verbreitungsweges. Er war zugleich ein starker Förderer des estnischen Chorgesanges, u. a. veranstaltete er 1869 das erste estnische Sängerfest. Schillers Lied hatte er aus rein pragmatischen Gründen übertragen und in seine Liedersammlung Eesti laulik (Estnisches Liederbuch, 1860) integriert, weil es zu seiner Zeit als Gesellschaftslied bekannt und beliebt war. Vgl. zu Jannsens Übersetzung Salu: Seid umschlungen, Millionen (= Anm. 16), S. 141−143. 44 Die Übersetzung von Friedrich Reinhold Kreutzwald wird zitiert nach Salu: Seid umschlungen, Millionen (= Anm. 16), S. 153f. Kreutzwalds Übersetzung wurde zuerst abgedruckt in: Friedrich Reinhold Kreutzwald: Angerwaksad. Üks laulu-krantsikene, mis Wiru-laulik wäljaannud [Angerwaksad. Ein Liederkranz, von einem Sänger aus Wierland herausgegeben]. Dorpat 1861, S. 5−8 (einsehbar in: EEVA. Digitale Textsammlung älterer Literatur Estlands. URL: https://utlib.ut.ee/eeva/index.php?lang=de&do=tekst_detail&eid=1089&fit=true&full=false&lens=true &loupe=120&off=1&rotation=0&thumb=false&tid=37&zoom=100 [19.07.2021]).

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Zschokke, aber auch zahlreiche Gedichte Schillers. Er verfasste außerdem estnische Volksmärchen und nicht zuletzt das estnische Nationalepos Kalevipoeg. Symptomatisch ist, dass Friedrich Reinhold Kreutzwald den Weg über die deutsche Sprache als Kultursprache und über die Eindeutschung gegangen ist – die estnische Sprache und die estnische Kultur mussten bei ihm ihre Literaturfähigkeit allererst unter Beweis stellen und über den Weg der Übersetzung bekräftigen. Kreutzwald steht mit seinem Werk und seiner Wirkung damit zwischen der baltischen Volksaufklärung mit ihrem kulturellen Paternalismus und dem grundsätzlichen kulturellen Autonomiegebot der Aufklärung, das sich im nationalen Erwachen der Esten durchzusetzen begann und die neue Epoche im Baltikum einläutete. Ein näherer Blick auf Kreutzwalds Übersetzung der Ode An die Freude zeigt, dass er insgesamt textnah am Original orientiert übersetzt hat und sich darin deutlich von seinem Lehrer Holtz absetzt. „Die Übersetzung ist bestrebt, dem Geist und dem Wortlaut des Originals möglichst genau zu folgen.“45 Es gibt fast keine Beispiele für eine Lokalisierung mehr (außer dass Kreutzwald das Elysium aus Schillers Gedicht in das christliche Eden überführt hat und Seraphs Hymne zu Cherubs Hymne gemacht hat sowie wenig anderes mehr). Das pädagogisch-belehrende Element fehlt – das drückt sich in der direkten Übersetzung des Titels Röömule (An die Freude) aus, die nicht mehr zu einer ,reinen Freude‘ transzendiert werden muss, im Fehlen der belehrenden Eingangsstrophe wie bei Holtz sowie generell im Fehlen eines belehrenden Grundtones. Stattdessen wird die Stimmung der Begeisterung, des Schiller’schen Pathos zu übertragen versucht. Bei Kreutzwald werden die sinnlichen Freuden auch direkt angesprochen und nicht – wie noch bei Holtz – geistig verklärt: Es ist vom Weintrinken, vom Erringen eines Weibes etc. die Rede. Dies sei an der Übersetzung der siebten Strophe kurz verdeutlicht: Freude sprudelt in Pokalen, in der Traube dunklem Blut, trinken Sanftmut Kannibalen, Die Verzweiflung Heldenmut – Brüder fliegt von euren Sitzen, wenn der voller Römer kreist, Laßt den Schaum zum Himmel sprützen: Dieses Glas dem guten Geist.

Röömu tõuseb karikatest; Wiina-marja kobarast Joowad heldust – mõrtsukatest – Julgust mittu argelast. Wennad, tõuskem püsti ismelt, Kui täis peeker ringi a‘as, Laskem wahtu taewa pritselt; Kalli waimule se klaas!

Kreutzwald übersetzt hier nahezu wortwörtlich. Die Berauschung durch den Wein wird in der Übersetzung weder ausgespart noch durch einen neuen Kontext zu legitimieren versucht. Formal orientierte er sich ebenfalls am Schiller’schen Original, wenn er hier etwa den Kreuzreim beibehält. Oder wenn er den vierhebigen Trochäus bewahrt, diesen aber, wenn wir Salu folgen, – stärker als Holtz – mit der altestnischen Stabreimdich45 Salu: Seid umschlungen, Millionen (= Anm. 16), S. 155.

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tung, dem Regivärss bzw. Regilaul verbindet.46 Wie wichtig dies für die weitere Entwicklung der estnischen Sprache auch als Literatursprache sein sollte, zeigt sich auch daran, dass Kreutzwald ja auch das estnische Nationalepos Kalevipoeg schuf, ebenfalls im 4-hebigen Trochäus, aber nun stärker orientiert am Regilaul und mit Blick auf die Potentiale der estnischen Sprache. Um mit Karl-Heinz Götterts Bild der Biografie einer Sprache zu arbeiten: Die estnische Sprache hat hier die Phase der Nachahmung schon hinter sich und geht nun eigene Wege auch in den Übersetzungen.47 Während Holtz’ Adaptation sich in erzieherischer (und zügelnd-kontrollierender) Absicht an die Bauern richtet, dabei vor Umdeutungen nicht zurückschreckt und der estnischen Sprache kaum einen eigenen Gestaltungsraum zugesteht, legt Kreuzwald auf Bedeutungsäquivalenz höchsten Wert, orientiert sich zugleich an der Form des Ausgangstextes, zielt allerdings in der Translation der Form zudem auf Tradition und Entwicklung der estnischen Sprache. Sein Gedicht spricht die Esten nicht mehr als Bauern an, sondern als Literatur- und Begeisterungsfähige, die mit diesem Lied performativ in den Bund der Gleichgesinnten aufgenommen werden.48

46 Vgl. hierzu auch Liina Lukas: „[…] mit Treue, Lust und Liebe.“ Einfühlung in das Volkslied. In: Dies., Eva Piirimäe u. Johannes Schmidt (Hg.): Herder on Empathy and Sympathy. Einfühlung und Sympathie im Denken Herders. Leiden 2020, S. 272−296, hier S. 283. Liina Lukas geht auf „die älteste Tradition des estnischen Volksliedes – Regilaul, Regivärss“ als „Dichtungstradition der finno-ugrischen (ostseefinnischen) Völker“ ein, die charakterisiert sei „durch den Stabreim, einen fehlenden Endreim sowie durch den Parallelismus […] beiden [Regilaul sowie die lettischen Dainas] ist ihr trochäischer Rhythmus eigen.“ 47 Kreutzwald markiert damit einerseits einen Bruch, anderseits ist er Teil einer kulturellen Entwicklung, die ein nicht-endender Prozess ist, bei der aus Sicht moderner Kulturtransfertheorien die Grenze zwischen Eigenem und Fremden nicht mehr so einfach gezogen werden kann bzw. letztlich sogar irrelevant ist. So hielt man bis 1932 ein Gedicht aus der Feder Jaan Bergmanns für dessen eigene Schöpfung, bis sich herausstellte, dass es eine Vorlage von Emanuel Geibel gibt. Doch ist dies mehr von historischem als von kulturellem Interesse. Bergmanns Rolle für die estnische Literatur bringt Jüri Talvet am Beispiel von dessen Schiller-Übersetzung wie folgt auf den Punkt: „Bergmann, and Liiv after him, understood well a simple truth: a poetry translator cannot struggle against his/her mother language by violating and forcing it into artificially coined forms or doing something that would be entirely against its nature. Bergmann followed closely the metrical rhythm of Schiller’s original poem, but throughout the long poem he applied endrhymes liberally, not at all sticking to the ‘full’ rhymes of the German original poem but instead forming lax rhymes by means of vowels’ coincidence in auxiliary or secondary stress of words.“ Jüri Talvet: Some Considerations on (Un)translatability of (Dante Alighieri’s and Juhan Liiv’s) Poetry. In: Ders.: Critical Essays on World Literature, Comparative Literature and the “Other”. Cambridge 2019, S. 142–153, hier S. 145. 48 Vgl. hierzu den Parallelfall zu Kreutzwalds Schiller-Übersetzung aus der lettischen Literatur: Alunans‘ Gedichte verdanken sich – bis auf eine Ausnahme – sämtlich Übersetzungsvorgängen, die auf Gedichte von Horaz, Goethe, Heine und Lermontov zurückgehen: „Die durch Alunans durch Übersetzung vorgeführte Übersetzbarkeit europäischer Literatur in die lettische Sprache begründe erst die Gleichwertigkeit der lettischen Literatur, die sich durch diese Übersetzungshandlungen ihres epigonalen Charakters entledige.“ Boguna: Geschichte des Übersetzens in Livland und Lettland (= Anm. 12), S. 310.

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6. Zusammenfassung An zwei unterschiedlichen estnischen Übersetzungen der Schiller’schen Ode An die Freude wurde eine zentrale Entwicklung und zugleich ein Bruch deutlich, die dem Übersetzen als mediale und kulturelle Praktik der baltischen Aufklärung eingeschrieben ist: Diese Entwicklung geht vom Zweckgebundenen der Übersetzung im Rahmen der Volksaufklärung zum Sprach- und Formgebundenen der Übersetzung im Sinne einer eigenständigen estnisch- (bzw. lettisch-)sprachigen Literaturentwicklung über. Der Übergang vom Zweck- zum Sprach- und Formgebundenen markiert damit zugleich eine Zäsur, die sich am Typus des Übersetzers, am Modell des Lesers sowie an der Übersetzungsintention ablesen lässt: Für die baltische Aufklärung insgesamt charakteristisch und auch im Falle der Übersetzung von Schillers Ode An die Freude ins Estnische zu erkennen sind die Übersetzer zunächst deutschbaltische Pastoren. Mit der Übersetzung werden erzieherische Zwecke verfolgt, zu denen u. a. auch (aber nicht als vorrangiges Ziel) die Förderung der Volkssprache gehört. Dabei steht der Übersetzer (Holtz) zu seinen (imaginierten) Adressaten in einem paternalistischen Verhältnis. Der deutschbaltische Pastor wird in der Folge vom estnischen Publizisten und Volksliedsammler (Jannsen) und schließlich vom Dichter in estnischer Sprache (Kreutzwald, Kunder) abgelöst. Erst jetzt werden mit der Übersetzung ästhetische und sprachkünstlerische Intentionen verfolgt, ebenso wird die Übersetzung im Sinne des Nation-Building nutzbar gemacht, wenn Jannsens Übersetzung der Schiller’schen Ode als sangbares Lied das Repertoire des estnischen Sängerfestes bereichert. Zugleich zeigt das Beispiel dieser Schillerübersetzung, dass die beiden unterschiedlichen Übersetzungsintentionen – volksaufklärerisch und sprachbildend – in der Praxis eng zusammenhängen: etwa wenn wir uns den Umstand vergegenwärtigen, dass Kreutzwald selbst zunächst als Volksaufklärer begonnen und Zschokkes Branntweinpest ins Estnische übersetzt hatte oder dass die Übersetzung des Volksaufklärers Holtz von Jannsen mit nur geringfügigen Änderungen übernommen worden ist. Für den Erfolg von Schillers Ode An die Freude im Baltikum lassen sich abschließend zumindest drei Gründe anführen: Zum einen war Schiller mit der Ode An die Freude, dem Lied von der Glocke und Balladen wie dem Handschuh oder der Bürgschaft im baltischen kulturellen Feld in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts sehr präsent – und in dieses kulturelle Feld mussten Esten ja zunächst Einlass finden, um sich zu bilden und kulturell zu betätigen. Des Weiteren ließ sich Schillers Ode An die Freude klanglich gut ins Estnische übertragen, nicht zuletzt durch das Versmaß des Trochäus. Dies lässt sich an Kreutzwalds Übersetzung, die sich klanglich an der Vorlage orientiert, akustisch gut nachvollziehen. Schillers Ode wurde vor allem als Lied rezipiert – dies war der Hauptweg der Verbreitung. Und schließlich, last but not least, hatte die Popularität schon auf deutscher und dann auch auf estnischer Seite mit Schillers Freiheitspathos zu tun; Freiheit in einem umfassenden, nicht nur – aber auch – politischen Sinne.49 49 In diesem Zusammenhang sei auf die Diskussion innerhalb der Schillerforschung hingewiesen, ob die Ode in der ursprünglichen Fassung An die Freiheit geheißen und später zu An die Freude ver-

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Mit Blick auf die eingangs gestellte Frage nach der Funktion bzw. Bedeutung der Übersetzung zeigt sich an Schiller sehr eindrücklich, dass es zwar nicht ohne Bedeutung ist, was übersetzt wird, dass es aber zugleich höchst wichtig ist, wer übersetzt und wie übersetzt wird. Die verschlungenen Wege der Übersetzung von Schillers Ode belegen nicht nur die Rolle der Akteure, sondern auch die je spezifischen Bedingungen der Zielkultur. Bezogen auf die deutsche Aufklärung konnte eingangs gezeigt werden, dass sich eine Sprache (bzw. Kultur) darin behauptet, sich Elemente einer anderen Sprache oder Texte einer anderen Sprache anzueignen. Im Falle der baltischen Aufklärung spielte das Übersetzen eine noch größere und tragendere Rolle, die jedoch zunächst darauf ausgerichtet war, das kulturelle Gefälle zwischen Deutsch und den Bauernsprachen Estnisch und Lettisch nicht zu verringern, sondern eher noch zu erhalten. Erst mit Übersetzungen im Stil eines Kreutzwald oder einer Koidula (oder zuvor schon eines Kristian Jaak Peterson) konnte sich das ändern. Schiller, so ließe sich pointieren, wird hier erst durch den Bruch in der Konzeption der Übersetzung von einem instrumentalisierten Vertreter der Hochkultur zu einem Dichter der Aufklärung und der Freiheit, und er wird nun gewissermaßen zu einem estnischen Dichter.

harmlost worden sei. Die Forschungsdiskussion ist zusammengefasst bei Christoph Bruckmann: „Freude! sangen wir in Thränen, / Freude! in dem tiefsten Leid.“ Zur Interpretation und Rezeption des Gedichts „An die Freude“ von Friedrich Schiller. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 35 (1991), S. 96−112 sowie bei Uwe Martin: Im Zweifel für die Freiheit. Zu Schillers Lied An die Freude. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift 48 (1998), H. 1, S. 47−59.

Pauls Daija

Lettischsprachige Kalender im 18. Jahrhundert1 Die ersten lettischen Kalender – Kurländischer Kalender und Livländischer Kalender – erschienen seit der Mitte des 18. Jahrhunderts unter dem Einfluss der Ideen der Volksaufklärung. Die Verfasser beider Kalender, zu denen auch literarische Beilagen gehörten, waren deutschbaltische Literaten. Bisher haben diese Kalender noch nicht die ihnen gebührende Aufmerksamkeit in der Forschung zur baltischen Volksaufklärung erhalten, und die in ihren Beilagen angebotene Lektüre ist nur teilweise oder gar nicht in den Fokus gerückt. Dieser Beitrag verfolgt das Ziel, einen Einblick in die Beilagen der lettischen Kalender aus dem 18. Jahrhundert zu bieten und ihre Texte im Kontext der Ideen der baltischen Aufklärung zu verorten. Die lettischen Kalender gehörten neben dem Gesangbuch im 18.  Jahrhundert und noch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu den beliebtesten Druckwerken. Dies belegen Auflagenzahlen für die zweite Hälfte des 18.  Jahrhunderts, als jährlich 2.000 bis 3.000 Exemplare erschienen.2 Zeitgenossen, welche die Lektüre weltlicher Literatur bei den Letten ansonsten kritisch bewerteten, pflegten zu erwähnen, dass ihre Skepsis nicht den Kalendern galt.3 Die Popularität der Kalender lässt vermuten, dass die darin enthaltenen Texte die Leser schneller erreichten als gedruckte Bücher. Gleichzeitig sollte man jedoch im Blick behalten, dass die Verkaufszahlen nicht unbedingt vom tatsächlichen Lesen der Beilagen zeugen – den Hauptteil bildeten ein Kalendarium mit Namens- und Feiertagen, Wettervorhersagen für das nächste Jahr und Angaben über Sonnen- und Mondfinsternis sowie Verzeichnisse mit Markttagen. All dies waren für den Alltag nützliche Informationen, welche die Popularität der Kalender beförderten. 1 Aus dem Lettischen von Aiga Šemeta. Dieser Aufsatz wurde durch das Projekt „Exploring documentary heritage for building synergies between research and society“ (VPP-IZM-2018/1-0022) im Rahmen des staatlichen Forschungsprograms „Latvijas mantojums un nākotnes izaicinājumi valsts ilgtspējai“ (Lettisches Erbe und zukünftige Herausforderungen für staatliche Nachhaltigkeit) finanziell unterstützt. 2 Vgl. Aleksejs Apīnis: Latviešu grāmatniecība: no pirmsākumiem līdz 19. gadsimta beigām [Lettisches Buchwesen: Von den Anfängen bis zum Ende des 19. Jahrhunderts]. Riga 1977, S. 125. 3 Vgl. Friedrich Wilhelm Kade: Beleuchtung der Albersschen Kritik. Mitau 1806, S. 10f.: „Sollten die vorhandenen lett. Schriften wirklich einen so allgemeinen bedeutenden Einfluß auf die Gemüther unserer Letten gehabt haben; so müßten sie doch wohl vor allen Dingen sehr allgemein und begierig gekauft und gelesen worden seyn. [...] Bei den mehresten übrigen Artikeln (versteht sich, daß vom Gesangbuche, einem lett. Predigtbuche und dem Kalender nicht die Rede ist) hat der geringe Absatz den Verleger kaum wegen der gemachten Auslagen schadlos gehalten.“ Vgl. hierzu auch Karl Watson: Plan über die Art und Weise, wie die Gesellschaft auf die Kultivirung des lettischen Landvolkes einwirken könne, vorgelesen am 8ten August 1817 von dem Pastor Watson zu Lesten. In: Jahresverhandlungen der kurländischen Gesellschaft für Literatur und Kunst (1819), H. 1, S. 45–52, hier S. 47: „Nächst dem Gesangbuche ist der Kalender noch das einzige Buch, was der Lette liebt, und also auch kauft und lieset, weil es für ihn den Reiz des Wunderbaren hat, und weil die Festtage, die Jahrmärkte, das Wetter und manche Heiligentage, auf die er bey seinem Feldbau sehr achtet, darin angemerkt sind.“

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1. Kurländischer Kalender Der Kurländische Kalender nahm seinen Anfang im Jahr 1758.4 Er wurde also früher publiziert als die ersten lettischen Bücher weltlichen Inhalts, die bald danach im lettischen Sprachraum durch die Volksaufklärung etabliert wurden – durch die belletristische Sammlung Jaukas pasakkas in stahsti [Lettische Fabeln und Erzählungen] (1766) von Gotthard Friedrich Stender und durch das von Peter Ernst Wilde und Jakob Lange gestaltete Periodikum Latweeschu Ahrste [Lettischer Arzt] (1768– 1769).5 Bis 1768 wurde der Kalender von Christian Liedtke herausgegeben, in den nachfolgenden Jahren übernahm ihn der aus Preußen eingewanderte Johann Friedrich Steffenhagen. Auch als die Herausgabe 1776 von der Mitauer Academia Petrina übernommen wurde, übertrug diese das Verlagsrecht an Steffenhagen. In den ersten Jahren hatte der Kalender keine Beilage. Dies änderte sich 1763. Ähnlich wie in damaligen deutschen Kalendern in Liv-, Est- und Kurland wurde der Text der Beilage auf den Seiten des Kalendariums neben den Monatstagen gedruckt. Diese Praxis änderte sich 1775, als damit begonnen wurde, die literarischen Texte als Beilagen hinter dem Kalendarium zu platzieren. Der Titel des Kalenders wurde mehrfach geändert. 1761 lautete er Semneeku jeb latweeschu laiku grahmata [Bauer- oder lettischer Kalender], 1763 Jauna un wezza latweeschu laiku un notikuschu leetu grahmata [Lettischer Kalender neuer und alter Zeit und Ereignisse], seit 1764 Jauna un wezza latweeschu laiku grahmata [Lettischer Kalender alter und neuer Zeit], ab 1785 Jauna un wezza laiku grahmata [Kalender neuer und alter Zeit] und seit 1800 Wezza un jauna laiku grahmata [Kalender alter und neuer Zeit]. Ursprünglich beabsichtigte man, den Kalender nicht nur unter den kurländischen, sondern auch unter den livländischen Bauern zu verbreiten. Der Hinweis auf die neue und alte Zeit im Titel bezeichnete den Julianischen bzw. den Gregorianischen Kalender (im Livländischen Kalender sind beide Systeme der Zeitzählung enthalten). Ein charakteristisches formales Merkmal der Kalenderbeilagen ist, dass sie über mehrere Jahre hinweg von demselben Verfasser erstellt wurden, bevor sie an den nächsten Verfasser weitergegeben wurden. Somit kann die Beilage als eine Art erweiterte Abhandlung eines einzelnen Autors gelesen werden, die in mehreren Fortsetzungen Jahr für Jahr veröffentlicht wurde. Dieses Verfahren wurde erst im letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts geändert. Die Beilagen wurden immer anonym veröffentlicht, über einige ihrer Verfasser können aktuell nur – mehr oder weniger be4 Ausgaben der ersten Jahrgänge sind leider nicht erhalten. Hier und nachfolgend wird bei der Angabe des Kalenderjahrs das auf dem Titelblatt genannte Jahr verwendet. In der Regel wurde der Kalender tatsächlich am Ende des vorherigen Jahrs herausgegeben. 5 Vgl. zu diesen Vertretern der Volksaufklärung Māra Grudule (Hg.): Gothards Frīdrihs Stenders (1714–1796) un apgaismība Baltijā Europas kontekstā / Gotthard Friedrich Stender (1714–1796) und die Aufklärung im Baltikum im europäischen Kontext / Gotthard Friedrich Stender (1714–1796) and the Enlightenment in the Baltics in European Contexts. Riga 2018; Irene Ischreyt u. Heinz Ischreyt: Der Arzt als Lehrer. Populärmedizinische Publizistik in Liv-, Est- und Kurland als Beitrag zur volkstümlichen Aufklärung im 18. Jahrhundert. Lüneburg 1990, S. 14–25.

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gründete – Vermutungen angestellt werden.6 Ebenso ist noch nicht bekannt, nach welchen Prinzipien die Autoren herangezogen wurden und wie groß die kreative Freiheit war, die sie bei der Auswahl ihrer Themen genossen. Die im 18. Jahrhundert in den Kalenderbeilagen veröffentlichten Texte lassen sich in vier chronologisch aufeinander folgende Gruppen einteilen: Von 1763 bis 1771 umfassten sie schöngeistige Literatur sowie Abhandlungen über die kurländische Geschichte und Geographie. Von 1772 bis 1780 wurden in Fortsetzungen Anweisungen in Medizin und Gesundheitspflege veröffentlicht, bevor von 1781 bis 1786 pädagogische Abhandlungen folgten. Von 1786 bis zum Ende des 18.  Jahrhunderts erhielt der Kalender schließlich Beilagen mit gemischten Inhalten. Im Folgenden wird jede dieser Gruppen einzeln betrachtet.

1.1. Geschichte und Belletristik (1763–1771) Die in Fortsetzungen veröffentlichte Abhandlung über die Geographie und Geschichte Kurlands, deren Verfasser nicht geklärt und die in Form von Fragen und Antworten verfasst ist, stellt den ersten in lettischen Kalendern veröffentlichten Text und einen der ersten Texte weltlichen Inhalts überhaupt dar, der sich an das lettische Lesepublikum richtete. Die Darlegungsform, die auch für die deutschsprachigen liv-, kur- und estländischen Kalender charakteristisch war,7 erinnert an den Aufbau des Katechismus, der in den 1760er Jahren den lettischen Lesern bereits bekannt war, die Thematik korrespondierte aber mit der primären Funktion des Kalenders. Während das auf den Innenrändern gedruckte Kalendarium die Möglichkeit bot, die kommende Zeit für die Zukunft zu planen, erlaubte der auf den Außenrändern gedruckte Text der Beilage zu lernen, wie man sich in der vergangenen Zeit zu orientieren hat. In nicht geringerem Maße als die Fabeln von Stender oder die medizinischen Anweisungen von Wilde kündigte auch das historische Narrativ eine Konkurrenz des gedruckten Worts zur älteren und immer noch lebendigen mündlichen Tradition an. Den Fragen und Antworten, die im Geiste des später erschienenen Augstas gudrihbas grahmata [Buch der Hohen Weisheit] (1774) von Stender die Einteilung der Erdkugel in Kontinente und den geographischen Standort von Kurland erklärten,8 folgten Informationen über den ersten kurländischen Herzog Gotthard Kettler und über die Gründe dafür, warum Kurland unter polnischer Herrschaft stand, sowie 6 Dies bezieht sich insbesondere auf Gotthard Christoph Brandt und Joachim Friedrich Vogt, deren Autorschaft zu vermuten, aber nicht sicher belegt ist. Vgl. Silvija Šiško u. Aleksejs Apīnis (Hg.): Seniespiedumi latviešu valodā, 1525–1855: kopkatalogs / Die älteren Drucke in lettischer Sprache 1525– 1855. Gesamtkatalog. Riga 1999, S. 149 und S. 188. 7 Vgl. o. A.: Zur Geschichte unserer bisherigen deutschen Kalender. In: Rigasche Stadtblätter (1828), H. 46–48, S. 365–371, S. 374–379 u. S. 381–383. 8 Vgl. o. A.: [Ohne Titel]. In: Jauna un wezza Latweeschu Laiku un notikuschu Leetu Grahmata us to 1763. Gaddu [Lettischer Kalender der neuen und alten Zeit und Ereignisse auf das Jahr 1763]. Jelgawa [1762], [S. 9–19].

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Angaben über die Erbfolge der kurländischen Herzöge, aus deren Herrschaftszeiten die wichtigsten Ereignisse festgehalten wurden. Unter diesen Ereignissen wurden Informationen über die Kriegstätigkeit präsentiert, darunter z. B. die Besetzung Rigas von 1621 durch die Schweden, der schwedische Kriegszug von 1678 durch Kurland und der Nordischen Krieg (1700–1721);9 ebenso wurde die erste Pestepidemie von 1657 eingehender behandelt.10 Einen besonderen Stellenwert nahm die Arbeit an der Übersetzung der Bibel im 17. Jahrhundert und das Redigieren der Übersetzung von 1739 ein, die eingehend und mit Erwähnung der wichtigsten daran beteiligten Persönlichkeiten beschrieben wurden.11 Ganz offensichtlich stand Kurland im Fokus der Abhandlung, ohne dass Livland besondere Aufmerksamkeit gewidmet wurde. Daher ist besonders hervorzuheben, dass es um die Geschichte dieser Region und nicht der Nation (der Letten) ging. Die durch den Kurländischen Kalender eingeleitete Initiative blieb ohne Fortsetzung. Bis zur ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts kam kein einziges historisches Buch heraus, die Geschichte war auch kein Thema in Periodika – einige historische Abhandlungen erschienen in anderen Kalendern, wovon im Folgenden noch die Rede sein wird. Gelegentlich wurden die historischen Abhandlungen im Kalender durch in Prosa oder Versen verfasste Fabeln unterbrochen, von denen einige von Stender stammten. Diese waren die ersten Ansätze einer Richtung innerhalb der literarischen Kultur, die später die Vorstellung vom Lesen als Zeitvertreib etablierte – in diesem konkreten Fall als Erholung von den mit Fakten überladenen historischen Abhandlungen. Die in dieser Zeit im Kalender veröffentlichte Belletristik war von einem hohen Maß an Eklektizismus geprägt: Neben einer populären deutschen Legende der Frühen Neuzeit über einen verurteilten Dieb, der am Galgen seiner Mutter das Ohr abbeißt,12 oder dem in der lettischen Folklore bekannten Märchen über die Stadtund Landmaus13 waren etwa auch Paraphrasen mit Motiven aus der Antike zu lesen, z. B. eine Geschichte über die Freunde Damon und Phytias, deren uneigennützi9

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Vgl. o. A.: Kas irr appaksch tahs waldischanas ta Kursemmes lieelkunga Ģederta (ar to pawahrdu Kettler) notizzis? [Was hat sich unter der Herrschaft des kurländischen Großherrn Gotthard (mit dem Nachnamen Kettler) ereignet?] In: Jauna un wezza Latweeschu Laiku-Grahmata us to 1764. Gaddu [Lettischer Kalender der neuen und alten Zeit auf das Jahr 1764]. Jelgawa [1763], [S. 5–13]. Vgl. o. A.: Kas irr wehl appaksch tahs waldischanas ta Kursemmes leelkunga Jehkaupa notizzis? [Was hat sich noch unter der Herrschaft des kurländischen Großherrn Jakob ereignet?] In: Jauna un wezza Latweeschu Laiku-Grahmata us to 1765. Gaddu [Lettischer Kalender der neuen und alten Zeit auf das Jahr 1765]. Jelgawa [1764], [S. 5–7]. Vgl. o. A.: Kas irr appaksch tahs waldischanas ta zeeniga lieelkunga Ernesta Jahņa notizzis? [Was hat sich unter der Herrschaft des ehrwürdigen Großherrn Ernst Johann ereignet?] In: Jauna un wezza Latweeschu Laiku-Grahmata us to 1771. Gaddu [Lettischer Kalender der neuen und alten Zeit auf das Jahr 1771]. Jelgawa [1770], [S. 5–13]. Vgl. o. A.: Tas puisis in wiņņa mahte, weens jauks stahsts [Der Junge und seine Mutter, eine nette Geschichte]. In: Jauna un wezza Latweeschu Laiku-Grahmata us to 1770. Gaddu [Lettischer Kalender der neuen und alten Zeit auf das Jahr 1770]. Jelgawa [1769], [S. 19–25]. Vgl. o. A.: Pilsahtu un lauka pele, weena mahziba zaur pasakku [Die Stadtmaus und die Landmaus, eine Lehre durch Märchen]. In: Jauna un wezza Latweeschu Laiku-Grahmata us to 1771. Gaddu [Lettischer Kalender der neuen und alten Zeiten auf das Jahr 1771]. Jelgawa [1770], [S. 13–26].

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ge Freundschaft den Herrscher Dionysios von Syrakus in Staunen versetzte.14 Diese Texte lassen den Optimismus der späteren moralischen Prosa der Aufklärung noch vermissen, es fehlt ihnen der Realismus und der Bezug zum alltäglichen Leben der Leser. Sie enthalten barocke Motive, die die Nichtigkeit des weltlichen Lebens predigen, auch ihr didaktischer Anspruch kommt deutlich zum Ausdruck – jede kurze Erzählung erhält eine Belehrung, die mit einem separaten Titel von ihr abgesetzt ist. Somit wiederholt die Prosa des Kalenders das Prinzip der bereits erwähnten belletristischen Sammlung von Stender. Die Tatsache, dass hier mehrere Werke von Stender aufgenommen waren, wirft die Frage auf, ob Stender auch an der Produktion der historischen Abhandlung beteiligt war.

1.2. Medizin (1772–1880) Die Gestaltung der Kalenderbeilagen ging 1771 an den Mitauer Arzt Karl Ferdinand Hummius. Dieser aus Preußen eingewanderte Arzt hat in lettischer Sprache sonst nichts weiter veröffentlicht, weswegen auch nicht ausgeschlossen werden kann, dass die von ihm in lettischer Sprache veröffentlichten Beilagen aus dem Deutschen übersetzt waren. Dem deutschsprachigen Publikum war er bereits als Mitarbeiter der Mitauischen Nachrichten bekannt. Darin hatte er Abhandlungen über medizinische Themen veröffentlicht und sich vor allem gegen vermeintlich schädliche Sitten gerichtet. Zwischen 1765 und 1775 nahm sich Hummius einer Reihe von Gewohnheiten der kurländischen Deutschen an, die seiner Meinung nach für die Gesundheit schädlich waren: Dazu zählten der Genuss von Branntwein vor Mahlzeiten, den Hummius für die Ursache der vielen Hypochonder in Kurland hielt, die Gewohnheit in die Badestube (pirts) zu gehen, die Methoden der Fleischlagerung sowie die kurländische Angewohnheit, Tisch und Gerichte mit Blumen zu schmücken usw.15 Ähnlich berührten auch im lettischen Kalender die Abhandlungen von Hummius ein breites Themenspektrum und lieferten interessante kulturhistorische Beobachtungen, die sich jedoch stets im Rahmen der medizinischen und gesundheitlichen Prophylaxe hielten. Somit verschob sich der Fokus der Beilage als eines Mediums der Aufklärung in eine radikal andere Richtung als die vorher etablierte, und zwar von der intellektuell und moralisch didaktischen Lektüre zu praktischen und alltäglichen Fragen. Diese Verschiebung festigte zwei Richtungen der Volksaufklärung im lettischen Sprachraum: die unterhaltsam-didaktische einerseits und die praktisch-wirtschaftliche/medizinische Richtung andererseits. Diese entwickelten sich in den nachfolgenden Jahrzehnten parallel zueinander und kamen erst 1791 in der lettischen Adaption des Noth-

14 Vgl. o. A.: Tee diwi draugi, weens stahsts [Zwei Freunde, eine Geschichte]. In: Jauna un wezza Latweeschu Laiku-Grahmata us to 1770. Gaddu [Lettischer Kalender der neuen und alten Zeiten auf das Jahr 1770]. Jelgawa [1769], [S. 9–15]. 15 Vgl. Johann Friedrich Recke u. Carl Eduard Napiersky: Allgemeines Schriftsteller- und GelehrtenLexikon der Provinzen Livland, Esthland und Kurland. Bd 2. Mitau 1829, S. 362.

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und Hülfsbüchleins von Rudolph Zacharias Becker zu einer Synthese.16 Während die Darlegung der kurländischen Geschichte ihre Ausdrucksmittel in formaler Hinsicht dem Katechismus entnahm, wiederholten die medizinischen Ratschläge von Hummius eine andere, den lettischen Lesern ebenfalls bereits bekannte und von ihnen geliebte Gattung der geistlichen Literatur – die Predigt. Sie können als säkulare Predigten gelesen werden, in denen die Leser zuweilen direkt angesprochen werden (an einer Stelle verspricht der Verfasser sogar, einen Hausbesuch abzustatten und zu überprüfen, ob die Leser seine Ratschläge befolgen).17 Das Material weist keinerlei systematische Struktur auf, seine Anordnung folgt eher rhetorischen Methoden und diversen Abschweifungen, deren Zweck es ist, das träge Publikum von der Nützlichkeit der gut gemeinten Ratschläge zu überzeugen. Sowohl hinsichtlich des Inhalts als auch der Darlegungsstrategie sind hier zahlreiche Parallelen mit dem livländischen Periodikum Latweeschu Ahrste [Lettischer Arzt] zu ziehen. Zudem setzte sich Hummius mit Themen auseinander, die später in den ersten lettischen Volksaufklärungsbüchern medizinischen Inhalts eingehender behandelt wurden: Die Ratschläge zur Hygiene, zum Vorbeugen von Krankheiten und zur gesundheitlichen Prophylaxe umfassten Pocken, Fieber, Spulwürmer, Hautkrankheiten usw. Ein besonderes Augenmerk wurde in seinen Texten auf die richtige Entbindung und die Pflege der Neugeborenen gelegt, die recht bald danach im Buch Mahzibas preeksch behrnu saņehmejam [Lehren für Hebammen] (1783) von Karl Johann Meier behandelt wurden. Ebenso detailliert wurden Quacksalberei, das Schlagen mit dem Badequast in der Badestube und die Trunkenheit kritisiert, wobei der regelmäßige Besuch der Badestube und der Branntweingenuss als gleichermaßen ernst zu nehmende Todesursachen dargestellt wurden. In der Beschreibung der Trunksucht wies Hummius darauf hin, dass gerade wegen der hohen Anzahl der Todesfälle, die durch dieses Unglück verursacht würden, in Kurland eine viel kürzere Lebensdauer zu beobachten sei als anderswo in Europa, wo sich nach der Pest die Lebenserwartung wieder verbessert habe. In Kurland dagegen würden die meisten Bewohner in den besten Jahren sterben, nur die wenigsten erreichten ein Alter von sechzig Jahren. Dies ließe sich daran beobachten, dass für die Bestimmung der Grenzen kein Greis mehr aufzufinden sei, der in der Lage wäre, ihren früheren Zustand zu bestätigen.18 16 Vgl. Pauls Daija. „... daß für das Wohl der lettischen Nation noch sehr viel zu thun übrig sey“. Die Umarbeitung von R. Z. Beckers ‚Noth- und Hülfsbüchlein‘ als Versuch der Volksaufklärung in Lettland im 18. Jahrhundert. In: Hanno Schmitt, Holger Böning, Werner Greiling u. Reinhart Siegert (Hg.): Die Entdeckung von Volk, Erziehung und Ökonomie im europäischen Netzwerk der Aufklärung. Bremen 2011, S. 157–178. 17 [Karl Ferdinand Hummius]: Mihļi draugi! mihļi brahļi! [Liebe Freunde! Liebe Brüder!] In: Jauna un wezza Latweeschu Laiku-Grahmata us to 1773. Gaddu [Lettischer Kalender der neuen und alten Zeit auf das Jahr 1773]. Jelgawa [1772], [S. 5–28, hier S. 28]. 18 Vgl. [Karl Ferdinand Hummius]: Waijadsiga eemahzischana tai mihļai wesselibai par labbu [Nützliche Belehrung zu Gunsten der lieben Gesundheit]. In: Jauna un wezza Latweeschu Laiku-Grahmata us to 1778tu Gaddu [Lettischer Kalender der neuen und alten Zeit auf das Jahr 1778]. Jelgava [1777], [S. 34–44, hier S. 34].

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Zudem teilte Hummius seine Überlegungen über Egalitarismus und die bedeutende Rolle des Bauernstands in der Gesellschaft mit und phantasierte über die Abschaffung des Krugwesens. Seine womöglich noch radikaleren Appelle pflegte er mit einem unterbrochenen Satz und einer darauffolgenden Reihe von Gedankenstrichen nur anzudeuten.19 Detailliert beschrieb er nicht nur mit eigenen Augen beobachtete Szenen der Ausschweifung, sondern nahm auch vermittelte Beobachtungen über Armut und Schmutz auf den kurländischen Bauernhöfen in seine Abhandlung auf.20 Auch deswegen stellen seine medizinischen Anweisungen eine interessante kulturhistorische Quelle dar.

1.3. Pädagogik (1781−1786) Nach Hummius wurde der Kalender sechs Jahre lang vom Dalbinger Pfarrer Gotthard Christoph Brandt gestaltet. Ähnlich wie im Falle seines Vorgängers können auch die von Brandt herausgebrachten Beilagen als eine Abhandlung in mehreren Fortsetzungen gelesen werden. Wie Hummius hatte auch Brandt vor diesen Beilagen kaum etwas anderes in lettischer Sprache veröffentlicht.21 Sämtliche von Brandt verfassten Beilagen waren der Pädagogik gewidmet, wodurch die praktische und mit dem alltäglichen Leben verbundene Richtung scheinbar fortgesetzt, eigentlich aber in eine religiöse Strömung überführt wurde. Denn die meisten Fragen, die sich mit der Erziehung der Kinder beschäftigten, widmeten sich dezidiert der christlichen Erziehung. In der Beilage von 1783 wird dagegen eine belletristische Form gewählt: Wissensvermittlung erfolgt im Medium eines Gesprächs zwischen Vater und Kind. Weitere Abhandlungen haben die Form von Anweisungen, bei denen theoretische Überlegungen und abstrakte Gedankengänge gegenüber der alltäglichen Praxis oft überwiegen. Dadurch unterscheidet sich dieser pädagogische Schriftenzyklus von der späteren, für die lettische literarische Kultur bedeutenden Übersetzungswelle von Werken der philanthropischen Erzieher  – Christian Gotthilf Salzmann, Friedrich Eberhard von Rochow, Joachim Heinrich Campe.22 Auch Brandt war von den pädagogischen Ideen der Aufklärung nicht unberührt geblieben. Dies zeigt sich an seinen wiederholten Aufforderungen, neben dem religiösen Leben auch für das weltliche Wohl der Kinder Sorge zu tragen, Leibesstrafen zu vermeiden und diese durch Gespräche zu ersetzen sowie auf Körperpflege und sportliche Aktivitäten zu achten: Die Kinder haben aber – wie auch alle anderen Menschen – nicht nur Seele, nicht nur Geist. Ebenso haben sie Leib und Knochen. Deswegen haben diejenigen, die die Kinder richtig erziehen wollen, die Kinder so zu erziehen, dass sie nicht nur den Nutzen des Geis19 Vgl. ebd., [S. 44]. 20 Vgl. [ders.]: Mihļi draugi! mihļi brahļi! (= Anm. 17), [S. 19–23]. 21 1780 hatte Brandt das Communionbuch nebst einer Vorstellung wider Geringschätzung des heiligen Abendmahls (1772) des Berliner Theologen Friedrich Germanus Lüdke ins Lettische übersetzt. 22 Vgl. Pauls Daija: „The Reason for Lack of Culture Is Not Yet the Lack of Mental Abilities“. Philanthropist Pedagogy and Latvian Literature at the Turn of 18th and 19th Centuries. In: Humanities and Social Sciences Latvia 19 (2011), H. 1, S. 111–128.

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tes, sondern auch den des Leibes kennen und begreifen, nicht nur den geistigen und ewigen, sondern auch den weltlichen Wohlstand wirklich erzielen.23

Insgesamt gewann Brandt seine innovative Bedeutung aber dadurch, dass er in den Erzählstrang auch einzelne Bauerngestalten aufnahm, deren didaktische-warnende Lebensläufe in einer belletristischen Form verfasst waren. Ein Beispiel dafür ist eine Geschichte über einen jungen Mann, der rationale Zeitplanung und technischen Arbeitsfleiß entwickelt und sich vornimmt, „unterschiedliche Werkzeuge zu verfertigen, die bei der Feldarbeit und zu Hause nützlich sind, etwa Löffel, Eimer, Eggen, Pflüge, Wagen und Hörner. Während andere junge Leute an den langen Winterabenden mit Schlafen, Faulenzen und Narrheiten beschäftigt waren, hat er alle diese nützlichen Sachen geschnitzt.“24 Hier kann man beobachten, wie sich die von Hummius übernommene Ausdrucksweise der weltlichen Predigt allmählich der belletristischen Form annähert.25 Ein weiteres Thema, das Brandt mehrfach behandelte, war mit der bereits von Hummius skizzierten physiokratischen Vorstellung vom Bauernstand als erstem und vornehmstem Beruf verbunden. In dieser Hinsicht verdient Brandt besondere Aufmerksamkeit als einer der wenigen, die die restriktive Vorstellung ihrer Epoche von den sozialen Grundlagen der lettischen ethnischen Identität auch in der lettischen Sprache formulierte. „Die Pflege des Felds und des Hauses ist, liebe Letten, eine solche Arbeit, die Gott euch zu leisten gegeben hat, und alle wissen, dass diese gute und fruchtbare Arbeit ohne guten Verstand und kluge Vernunft nicht richtig gemacht werden kann“, schrieb Brandt. Und weiter: „Deswegen lehret eure Kinder und Jugend, sich diese Arbeit richtig anzueignen und zu leisten. Denn, wenn ein Stand der Leute in dieser Welt nützlich und gut ist, dann ist das der Stand der Bauern oder Ackerarbeiter: ihr und eure Kinder seid an diese Arbeit von Gott, dem Allherrschenden, gesetzt.“26 Die hier zitierte Stelle beleuchtet sehr genau die Widersprüche, welche die Imagination des Bauernstands als zentraler Akteur der aufgeklärten Gesellschaft in sich birgt: Einerseits zielt dieser Diskurs auf die Aufwertung des bäuerlichen Selbstbewusstseins sowohl in den Augen der Elite, als auch der Bauern selbst ab; andererseits geht er von der Vorannahme aus, dass der Ackerbau als ein ausschließlich lettischer Beruf aufzufassen sei, und ignoriert die Letten, die bereits im 18. Jahrhundert zu anderen Ständen gehörten, etwa Diener auf den Gutshöfen und Letten in den Städten. Damit aber wird implizit jegliches weitere Gespräch über die soziale Mobilität und Emanzipation des Bauernstandes abgeschnitten. 23 [Gotthard Christoph Brandt?]: Mihļi draugi! [Liebe Freunde!]. In: Jauna un wezza Laiku-Grahmata us to 1785tu Gaddu [Kalender der neuen und alten Zeit auf das Jahr 1785]. Jelgawa [1784], [S. 33–44, hier S. 33]. 24 [Ders.?]: Mihļaki draugi! [Liebste Freunde!] In: Jauna un wezza Laiku-Grahmata us to 1786stu Gaddu [Kalender der neuen und alten Zeit auf das Jahr 1786]. Jelgawa [1785], [S. 33−43], hier [S. 34]. 25 Vgl. zu ähnlichen Entwicklungstendenzen in deutschsprachigen Ländern Silvia Serena Tschopp: „Predigten, gefaßt in Lebenssprache“. Zur narrativen Strategie von Gotthelfs Neuem Berner-Kalender. In: Dies., Walter Pape u. Hellmut Thomke (Hg.): Erzählkunst und Volkserziehung: Das literarische Werk des Jeremias Gotthelf. Tübingen 1999, S. 111–127, hier S. 111. 26 [Brandt]: Mihļi draugi! [Liebe Freunde!] (= Anm. 23), [S. 37].

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1.4. Belletristik und praktisch ökonomische Texte (1787–1800) Nachdem der Zyklus pädagogischer Schriften von Brandt abgeschlossen war, wurden in mehreren Kalenderjahrgängen einzelne Abhandlungen ohne übergeordnetes Thema veröffentlicht. Zu erwähnen sind hier die gekürzte und überarbeitete Übersetzung des Werks Der praktische Catechismus christlicher Sittenlehre fuer das Landvolk (1787) des Frankfurter Juristen und Literaten Johann Georg Schlosser27 und die Abhandlung No kristihtu ļauschu swehtkeem [Von den Festtagen christlicher Leute] (1789) eines nicht identifizierten Verfassers. In der Struktur der Kalenderbeilagen etablierten sich allmählich und parallel zu diesen Texten gemischte Inhalte, die letztendlich zum Standard wurden, als die Gestaltung der Beilagen von Joachim Friedrich Voigt, dem in der Literatur und im Zeitungswesen der baltischen Deutschen und Letten überaus engagierten Pastor der Mitauer Annenkirche übernommen wurde.28 In die Kalenderbeilagen kehrte die Belletristik zurück, und üblich wurde eine Kompilation von praktischen Anweisungen für das alltägliche Leben und medizinischen Ratschlägen sowie populärwissenschaftlichen Berichten und Belletristik. Dabei wurde auf umfangreiche Abhandlungen verzichtet, und es wurden stattdessen kürzere, dafür aber vielfältigere Texte bevorzugt. An den praktischen Ratschlägen lässt sich die thematische Fragmentierung und Diversifizierung besonders gut beobachten: In einem der Jahrgänge sind neben Informationen über die Schutzimpfung gegen Pocken auch Anweisungen für Mittel gegen Zahnschmerzen und Bisse tollwütender Hunde oder auch den Schutz der Obstbäume vor Hasen zu lesen.29 Ein Vergleich der Belletristik, die im Kurländischen Kalender am Ende der 1780er Jahre und in den 1790er Jahren erscheint, mit den Anfängen des Kalenders ermöglicht es, die Transformationen wahrzunehmen, die sich im Laufe dieser wenigen Jahrzehnte nicht nur im lettischen, sondern auch im deutschen, an das gemeine Volk gerichteten Schrifttum vollzogen haben. Die Paraphrasen von Sagen aus der Folklore und mittelalterlichen Legenden mit der charakteristischen grausamen Schilderung des Lebens und der Welt wurden durch eine lebensbejahende Anschauung der Welt und der Menschen ersetzt, die für die moralische Prosa der Aufklärung und das von ihr vertretene „optimierte Gesellschaftsideal“ typisch ist.30

27 Vgl. Šiško u. Apīnis: Seniespiedumi (= Anm. 6), S. 167f. 28 Zum Beitrag Voigts für die lettische Literatur vgl. Johann Friedrich Recke u. Carl Eduard Napiersky: Allgemeines Schriftsteller- und Gelehrten-Lexikon der Provinzen Livland, Esthland und Kurland. Bd. 4. Mitau 1832, S. 452f. 29 Vgl. [Joachim Friedrich Voigt?]: Jaunus ahboļa un zittus augļu kohkus aissargaht, ka saķķi tohs neaplaupa. Kad kahds zilweks no trakka suņņa apreets. Skohla pret sohbu sahpem. Johki [Junge Apfelund sonstige Obstbäume schützen, dass sie nicht zum Raub der Hasen werden. Wenn ein Mensch von einem tollwütenden Hund gebissen wurde. Schule gegen Zahnschmerzen. Witze]. In: Jauna un wezza Laiku-Grahmata us to 1799tu Gaddu [Kalender der neuen und alten Zeit auf das Jahr 1799]. Jelgawa [1798], [S. 37–40]. 30 Heidrun Alzheimer-Haller: Handbuch zur narrativen Volksaufklärung. Moralische Geschichten 1780–1848. Berlin u. New York 2004, S. 359.

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Am Ende des 18. Jahrhunderts übernimmt in der Belletristik die idealisierte Gestalt des Musterbauern die zentrale Rolle. Der bereits in den pädagogischen Abhandlungen von G. K. Brandt skizzierte Musterbauer rückt in den Fokus der Kurzprosatexte, die 1789 als Zyklus veröffentlicht wurden. Hier geht es um den rationalen und wohlhabenden Bauern Girgens. Beschrieben werden seine Beziehungen mit den Nachbarn, sein Familienstand, seine Wirtschaftsgewohnheiten – richtig durchgeführter Ackerbau, Düngen, Einrichtung eines Obstgartens und eine besondere Sorgfalt gegenüber dem Vieh, insbesondere den Pferden.31 Ein in einer anderen Geschichte dargestellter Musterbauer praktiziert das Füttern des Viehs mit Stallhaltung, pfropft Obstbäume und betreibt Imkerei. Eine besondere Bedeutung gewinnt die Rolle der Bücher und des Lesens im Alltag des Musterbauern.32 Nicht selten lassen sich zwischen den in diesen Texten vermittelten Prinzipien der ästhetischen Gestaltung und der Einstellung zu sittlich moralischer Erziehung einerseits und der Kinder- und Jugendliteratur der Mittelschicht andererseits Parallelen ziehen, worauf bereits im Kontext der deutschen Bauernkalender hingewiesen wurde.33 Im Unterschied zum Livländischen Kalender, der unten weiter behandelt wird, tendierte der unterhaltsame Inhalt hier nur selten dazu, die moralische Belehrung zu dominieren – sie befanden sich eher im Gleichgewicht. Um diese Tendenz zur unterhaltsamen und zugleich bildenden Funktion in Verbindung mit der lakonischen Form zu bezeichnen, die durch den kompilatorischen Charakter der Beilagen beeinflusst wurde, hat sich in der deutschen Literaturwissenschaft das Konzept einer eigenständigen Gattung etabliert – der ‚Kalendergeschichte‘.34 Diese kann auch für die Analyse der lettischen Kalender produktiv eingesetzt werden. Neben dem Durcheinander, das durch abwechselnd gedruckte Geschichten, Anekdoten und praktische Ratschläge entstand, wurden in den 1790er Jahren neue Genres eingeführt – populärwissenschaftliche Abhandlungen und literarische Anzeigen des Verlags von Johann Friedrich Steffenhagen (ergänzt um Fragmente aus Büchern). Bald wurden die Beilagen mit einer Titel- und Preisliste der im Verlag von Steffenhagen erschienenen Schriften abgeschlossen. Die Herausgabe der Kalenderbeilage wurde 1799 vom Mitauer Hofmeister Mathias Stobbe übernommen – gleich nach der wegen Lesermangels erfolgten Einstellung der eigens redigierten lettischen

31 Vgl. [Joachim Friedrich Voigt?]: Daschadi jauki stahsti par labbu mahzibu [Verschiedene nette Geschichten als gute Belehrung]. In: Jauna un wezza Laiku-Grahmata us to 1789stu Gaddu [Kalender der neuen und alten Zeit auf das Jahr 1789]. Jelgawa [1788], [S. 33−46]. 32 Vgl. [ders.?]: Gohdiga Saimneeka un Saimneezes isteikschana [Geschichte über einen ehrlichen Wirt und eine ehrliche Wirtin]. In: Jauna un wezza Laiku-Grahmata us tu 1794tu Gaddu [Kalender der neuen und alten Zeiten auf das Jahr 1794]. Jelgawa [1793], [S. 34–37, hier S. 36]. 33 Vgl. Holger Böning: Almanache, Taschenbücher und Kalender im literarischen Leben Norddeutschlands und ihre Bedeutung für die Volksaufklärung. In: Paul Gerhard Klussmann u. YorkGothart Mix (Hg.): Literarische Leitmedien. Almanach und Taschenbuch im kulturwissenschaftlichen Kontext. Wiesbaden 1998, S. 31–46, hier S. 44. 34 Vgl. ebd., S. 41.

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Quartalschrift Latwiska Gadda-Grahmata (1797–1798).35 Die Herausgabe des Kalenders gehörte zu seinen Aufgaben bis zu seinem Tod 1817, und er setzte in seiner Tätigkeit die in den neunziger Jahren etablierten inhaltlichen und strukturellen Grundsätze fort. Am Ende des 18. Jahrhunderts erlangte der Kalender eine Form, die sich auch im 19. Jahrhundert als lebensfähig und nachhaltig erwies.

2. Livländischer Kalender Der Gemeindepastor von Papendorf (Rubene) Christoph Harder – ein Einwanderer aus Preußen, der in den 1760er Jahren in Riga sein Interesse an der lettischen Kultur durch seine Teilnahme am ,Berens’schen Kreis‘ vertieft hatte – rief 1781 zusammen mit seinem Patron, dem Künstler und Gutsherrn Woldemar Dietrich von Budberg, eine Privatbuchdruckerei in Ķiegaļi ins Leben. Damit folgte er dem früheren Beispiel von Peter Ernst Wilde in Oberpahlen (Pöltsama) und Gustav Bergmann in Ruien (Rūjiena).36 In dieser Druckerei druckte er die meisten seiner auf Lettisch verfassten Volksaufklärungsschriften, unter anderem auch den von ihm selbst herausgegebenen Livländischen Kalender. Der ungeschickte Satz, der offenkundig nicht von einem professionellen Drucker erstellt wurde, zeugt davon, dass der Großteil der Druck- und Buchbinderarbeit von Harder selbst zusammen mit Budberg ausgeführt wurde – dies reduzierte die Kosten des Kalenders und erlaubte einen Verkaufspreis von 4 Ferding (zum Vergleich: der Kurländische Kalender kostete 2 Sechser).37 Die Verbreitung des Kalenders wurde ähnlich pragmatisch wie der Druck organisiert: Man konnte ihn bei den Bettlern der Papendorfer Kirche erwerben, die Einnahmen wurden dann für gemeinnützige Zwecke gespendet.38 Somit ist dieser Kalender ein schlagendes Beispiel für den Philanthropismus der Aufklärung und den einsamen Arbeitsstil von Harder (da Harder mit den baltischen Radikalaufklärern sympathisierte, unterschied er sich deutlich von den meisten politisch eher indifferenten Volksaufklärern).39 Bei der Gestaltung des Kalenders ließ sich Harder in Struktur und Anordnung vom deutschen Livländischen Kalender beeinflussen. Die auffälligste Innovation war die Ersetzung der Namenstage durch selbsterdachte letti35 Vgl. Pauls Daija: Die Lettische Quartalschrift ‚Latwiska Gadda-Grahmata‘ als Beispiel der baltischen Volksaufklärung in Kurland um 1800. In: Raivis Bicevskis, Jost Eickmeyer, Andris Levans, Anu Schaper, Björn Spiekermann u. Inga Walter (Hg.): Baltisch-deutsche Kulturbeziehungen vom 16. bis 19. Jahrhundert. Bd. 2: Zwischen Aufklärung und nationalem Erwachen. Heidelberg 2018, S. 229–249. 36 Vgl. dazu o.  A.: Privatbuchdruckereien in England und Livland. In: Rigasche Zeitung (1834), Nr. 73, unpag. 37 Vgl. Aleksejs Apīnis: Soļi senākās latviešu grāmatniecības un kultūras takās [Die Schritte auf den Pfaden des älteren lettischen Buchwesens und der lettischen Kultur]. Riga 2000, S. 79–85; Āronu Matīss: Latviešu literāriskā (latviešu draugu) biedrība savā simts gadu darbā. Ainas no vāciešu un latviešu attiecību vēstures. [Die Lettische literärische Gesellschaft in ihrem hundertjährigen Wirken. Bilder aus der Geschichte der deutsch-lettischen Beziehungen]. Riga 1929, S. 110. 38 Vgl. ebd., S. 79. 39 Zur Bedeutung von Harder für die Aufklärung vgl. ebd., S. 75–105.

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sche Personennamen, die unterschiedliche moralische Eigenschaften spielerisch thematisierten, sich aber bis auf eine Ausnahme (der Frauenname Skaidrīte als Substantivierung des lettischen Adjektivs skaidrs [klar]) nicht im allgemeinen Sprachgebrauch durchsetzen konnten. Der Kalender stand bis 1790 unter der Aufsicht von Harder, und in dieser Zeit wurden in seinen Beilagen populärwissenschaftliche Abhandlungen, Gedichte und Bauerngesetze veröffentlicht. Danach wurde die Gestaltung des Kalenders von Gustav Bergmann übernommen, der den Inhalt der Beilage auf eine unterhaltsambelletristische Schiene verschob. Insgesamt war der Umfang der Kalenderbeilagen übersichtlicher, und die Entwicklung des Kalenders verlief im Vergleich zum Kurländischen Kalender weniger dynamisch. Der Livländische Kalender gewann aber neben der Popularisierung der Belletristik und der Wissenschaften eine gewichtige Rolle auch für die Volksaufklärung durch die Veröffentlichung der Bauerngesetze und historischer Abhandlungen. Die Ausgaben des Livländischen Kalenders aus den Jahren 1796 bis 1799 sind nicht erhalten geblieben, deswegen können Schlussfolgerungen über die Arbeit von Bergmann nur ansatzweise gezogen werden. Nachfolgend werden die im Kalender veröffentlichte Belletristik und populärwissenschaftliche Abhandlungen, Bauerngesetze und die Beschreibung der livländischen Geschichte behandelt.

2.1. Popularisierung der Wissenschaften und Belletristik (1784–1787; 1791–1800) Die von 1784 bis 1787 in Fortsetzungen veröffentlichte Abhandlung Harders No Saules un Mehnes aptumschoschanam [Von der Sonnen- und Mondfinsternis] war am Anfang als eine Ergänzung zu den jährlichen Angaben über die Sonnen- und Mondfinsternis zu lesen. Bald wurde aber dieser engere Zweck überholt, und es folgte eine eingehende Behandlung unterschiedlicher astronomischer Fragen, wodurch die von G. F. Stender aufgenommene Arbeit der Volksaufklärung in den Naturwissenschaften eine Fortsetzung fand. Harder führte indirekte Argumente für die heliozentrische Weltanschauung an und nutzte in seinen Abhandlungen Metaphern aus dem alltäglichen Leben der Bauern, ebenso widerlegte er den lettischen Volksaberglauben (etwa die Vorstellung, dass die Sonnenfinsternis dadurch entsteht, dass die Sonne von Hunden zerrissen wird). Lettische Sprichwörter und Volkslieder kannte er gut und sammelte sie sein Leben lang.40 Der Verdrängung des Volksaberglaubens ist auch eines der zwei Gedichte Harders, die in den Kalenderbeilagen veröffentlicht wurden, gewidmet, und zwar Ta krusta sweeschana us durwim [Das Zeichnen des Kreuzes auf die Tür]. Darin wird mit grotesken Mitteln und einer rustikalen Rauheit über die lettische Sitte ironisiert, am Heilig40 Vgl. [Christoph Harder]: No Saules un Mehnes Aptumschoschanam [Von der Sonnen-

und Mondfinsternis]. In: Widsemmes Kalendars us to 1786 Gaddu [Livländischer Kalender auf das Jahr 1786]. Rubbenês [1785 oder 1786], [S. 30–41].

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abend ein Kreuz auf die Haustür zu zeichnen, um Krankheiten, böse Geister und Zauberer abzuwehren.41 Das andere Gedicht von Harder ist eine Variation über das bereits erwähnte und in Prosa im Kurländischen Kalender dargestellte Motiv des Diebs am Galgen und seine Mutter: Harder benutzte aber offenbar eine andere Quelle, denn in seiner Version beißt der Dieb vor Reue und Zorn über seine fehlerhafte Erziehung – die ihn auf die ,schiefe Bahn‘ des Verbrechens geführt habe – seiner Mutter nicht das Ohr, sondern die Nase ab.42 Es scheint, dass Harder über den entsprechenden Jahrgang des Kurländischen Kalenders nicht verfügte. Vielmehr ist zu vermuten, dass dieses brutale Motiv eine empfindliche Stelle im Diskurs der Volksaufklärer traf, denn das Gedicht wurde später noch zweimal nachgedruckt – im Jahrgang 1804 des Livländischen Kalenders und 1842 im Periodikum Tas Latweeschu Ļauschu Draugs [Der Freund der lettischen Leute].43 Als der Kalender von Gustav Bergmann übernommen wurde, veröffentlichte er in der Beilage von ihm selbst überarbeitete Texte von G. F. Stender – ohne Hinweis auf den eigentlichen Verfasser – sowie praktische Ratschläge, und folgte damit der bereits beschriebenen Wende der Kalenderbeilagen in die Richtung gemischter Inhalte. Die von Bergmann selbst verfassten bzw. übersetzten belletristischen Werke kennzeichnete eine charakteristische Tendenz, die sowohl bei Bergmann als auch bei einigen anderen Autoren der Volksaufklärung zu beobachten ist, die nicht wirklich in der Lage waren oder die Absicht verfolgten, in der moralischen Prosa ein Gleichgewicht zwischen unterhaltsamen und didaktischen Elementen zu finden. In Geschichten wie Leelmahte starp slepkawam [Gutsfrau unter Mördern] und Poļu leelskungs [Polnischer Großherr] hat die moralische Belehrung ihre Bedeutung fast vollkommen verloren. Ähnlich wie bei den anderen in dieser Manier verfassten Geschichten drängen sich ferne Echos des zu dieser Zeit in ganz Europa populären Genres des gotischen und Schauerromans in den Vordergrund, dem ein mit krassen Wendungen übersättigter Handlungsstrang, blutige Rachen, geheimnisvolle Handlungsräume – wie etwa verlassene Schlösser, übernatürliche Wesen und grober Witz – entliehen wurden. Die erste Geschichte erzählt von einem Gutshof, der vom Gutsherren kurz verlassen und währenddessen von Räubern aufgesucht wurde, die von der Gutsherrin vor dem ermordeten Gesinde vorgefunden werden (die Details der Mordszene sind eingehend beschrieben). Sie bewahrt kühlen Kopf und spielt vor, dass sie auf der Seite der Räuber sei, lockt sie auf diese Weise in den Keller und schließt sie dort ein.44 41 Vgl. [Ders.]: Ta Krusta Sweeschana us Durwim [Das Zeichnen des Kreuzes auf die Tür]. In: Widsemmes Kalendars us to 1785 Gaddu [Livländischer Kalender auf das Jahr 1785]. Rubbenês [1784 oder 1785], [S. 41−48]. 42 Vgl. [Ders.]: Tas Saglis [Der Dieb]. In: Widsemmes Kalendars us to 1786 Gaddu [Livländischer Kalender auf das Jahr 1786]. Rubbenês [1785 oder 1786], [S. 41−48]. 43 Vgl. zu diesem Motiv im deutschsprachigen Raum Hans-Jörg Uther: Deutscher Märchenkatalog. Ein Typenverzeichnis. Münster u. New York 2015, S. 215f. Es wurde auch von der Volksaufklärungsliteratur im deutschsprachigen Raum adaptiert, vgl. Joachim Heinrich Campe: Sämmtliche Kinder- und Jugendschriften. Bd. 9. Braunschweig 1831, S. 73f. 44 Vgl. [Gustav Bergmann]: Leelmahte starp Slepkawam [Gutsfrau unter Mördern]. In: Widsemmes Kalendars us to 1792 Gaddu [Livländischer Kalender auf das Jahr 1792]. Riga [1791], [S. 30–34].

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In der zweiten Geschichte wird von einem polnischen Kriegsherrn berichtet, der in einem geheimnisvollen Schloss übernachtet, wo nach der Warnung des dortigen Pfarrers Geister wohnen sollen. Es folgt seine Begegnung mit einem Geist und die Reise durch die Schlosskammern, die mit der Erledigung der natürlichen Bedürfnisse nach dem Erwachen endet, wobei sich der Träumende nochmals vergewissert, ob die Erscheinungen tatsächlich bloß ein Traum waren.45 Um 1800 genossen derartige Trends bzw. „spaßhafte, oder gar muthwillige Geschichten“46 kurzfristige Beliebtheit, obgleich sie auf Unverständnis unter den zeitgenössischen lettischen und deutschbaltischen Lesern stoßen konnten.47

2.2. Bauerngesetze (1787–1790) Von 1787 bis 1790 veröffentlichte Harder im Kalender eine selbstverfasste Zusammenfassung aller seit der schwedischen Zeit verabschiedeten Gesetze, die das alltägliche Leben und die Rechte der Bauern berührten. Harder wies darauf hin, dass, obgleich die Gesetze von der Kanzel verlesen würden, es oft schwierig sei, diese im Kopf zu behalten, zudem habe nicht jeder die Möglichkeit, jeden Sonntag die Kirche zu besuchen.48 Dieser Hinweis wiederholte fast wortwörtlich eine These von Heinrich Johann Jannau, die dieser in seinem ein Jahr zuvor publizierten Buch Geschichte der Sklaverey (1786) geäußert hatte. Zudem hatte Jannau die Veröffentlichung der Gesetze gerade in einem Kalender empfohlen.49 Zunächst waren diese Gesetze dem alltäglichen Zusammenleben gewidmet – etwa Ehebrüchen, Begehung von Festen, Hochzeiten etc. 1789 und 1790 nahm sich Harder der Gesetze über Gerichte und der Beschwerdeordnung an, ohne jedoch die warnende Anmerkung zu vergessen: „Dieses Patent habe ich euch in kurzen Worten nun wirklich nicht deswegen nacherzählt, um euch zum Einreichen von Beschwer45 Vgl. [ders.]: Pohļu Leelskungs [Polnischer Gutsherr]. In: Ebd., [S. 35–39]. 46 Vgl. Friedrich Wilhelm Kade. Die lettische Industrieschule, in Absicht ihrer Möglichkeit, Nüzlichkeit und wesentlichen innern Einrichtung. Mitau 1805, S. 21. 47 Davon, dass diese Art lettischer Prosa unter den Lesern rezipiert wurde, zeugt folgende Beobachtung des Pastors Friedrich Wilhelm Kade (ebd., S. 21f.): „Wie oft hat der Verf[asser] Gelegenheit gehabt, von Letten die bittersten Anmerkungen über spaßhafte, oder gar muthwillige Geschichten [...] zu hören. So etwas hatten sie gar nicht in einem, ihnen vom Prediger empfohlen Buche, erwartet, und ihre Äußerungen gingen ganz offenbar darauf hinaus, daß sie bei dem Erzähler einen Mangel an Achtung gegen das lett. Publikum voraussezten, und dies sehr übel empfanden. (Ļaudis skaidri taisa par johku [aus Leuten wird klarer Weise ein Scherz gemacht] – dies sind die eigenthümlichen Worte eines Letten, wodurch er sein Missfallen an jener Geschichte äußerte.) Der Bauer, im Ganzen genommen, ist zu ernsthaft, um an dergleichen Einkleidungen Geschmack zu finden und besizt nur einen geringen Grad von Empfänglichkeit für ästhetische Produkte.“ 48 Vgl. [Christoph Harder]: Patentes un Pawehleschanas, kas Semneekeem wissuwairak waijaga sinnat [Patente und Ukase, die die Bauern am meisten kennen müssen]. In: Widsemmes Kalendars us to 1787 Gaddu [Livländischer Kalender auf das Jahr 1787]. Rubbenês [1786 oder 1787], [S. 40−47, hier S. 40]. 49 Vgl. [Heinrich Johann Jannau]: Geschichte der Sklaverey, und Charakter der Bauern in Lief- und Ehstland. Ein Beytrag zur Verbesserung der Leibeigenschaft. [Riga] 1786, S. 138f.

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den anzuregen, sondern vielmehr, um euch davon abzuhalten und auf ein liebevolles gehorsames Leben hinzuweisen.“50 Weder diese Anmerkung noch die im Allgemeinen idealisierte Beschreibung des harmonischen Zusammenlebens der Bauern und Gutsherren noch die mehrfache Erinnerung an die Risiken, die hinter grundlosen Beschwerden steckten, konnten Harder retten. Laut der gut begründeten These von Aleksejs Apīnis erreichten es „sehr mächtige Kreise, vermutlich diejenigen, die daran Interesse hatten, Harder mundtot zu machen“,51 dass die Herausgabe des Kalenders illegal in den Verlag von Müller verlegt wurde, der den Jahrgang 1790 ohne Beilage druckte und den Druck des Kalenders auch weiterhin fortsetzte, ohne auf die Proteste von Harder zu achten.52 Dieses Ereignis löste zwar keinen Skandal aus, sorgte jedoch für eine zunehmende Entfremdung zwischen Harder und Bergmann als dem neuen Verfasser der Beilage. Obwohl es bisher nicht gelungen ist, eine Quelle zu finden, die Licht hinter die Kulissen des Müllerschen Handelns werfen würde, ist zu vermuten, dass Apīnis recht hat, wenn er dies mit der Befürchtung eventueller Bauernunruhen verbindet, die unter den Zeitgenossen angesichts der durch die Ereignisse der Französischen Revolution entstandenen angespannten Atmosphäre aufkommen konnte.53 Darüber hinaus  – davon zeugt ebenfalls die Analyse von Apīnis  – hatte Harder eine Reihe wirtschaftlicher Fragen nicht ganz im Sinne der Tradition der livländischen Leibeigenschaft, sondern vielmehr im Geiste von Adam Smith und der englischen politischen Wirtschaft ausgelegt. Zudem hatte er neben dem heiklen Sujet des bäuerlichen Rechts, Gutsherren vor Gericht zu verklagen, die Bauern auch über deren Auskunftsrecht bezüglich der festgelegten Fron und Abgaben in Kenntnis gesetzt.54 Dies war kein weniger sensibles Thema – aus den Forschungen des lettischen Historikers Marģers Stepermanis weiß man, dass mindestens ein Pfarrer über die Offenlegung solcher Informationen von der Kanzel bestraft wurde und seine Stelle verlor.55 Es ist zwar kaum glaubhaft, dass Harder zu Bauernunruhen anstacheln wollte, vielmehr bezweckte er wohl das Gegenteil davon. Seine als Freigeisterei interpretierten Handlungen kosteten ihm dennoch seinen Status als Verleger des Kalenders und führten in der Konsequenz dazu, dass der Fokus der Kalenderbeilage sich auf unterhaltsam-belletristische Themen verschob.

50 [Harder]: Patentes (= Anm. 48), [S. 47]. 51 Aleksejs Apīnis: Mazītiņas, necilas lappusītes – „Vidzemes kalendārs“ [Kleine, unscheinbare Seiten  – Livländischer Kalender]. In: Oskars Gerts (Hg.): Dabas un vēstures kalendārs 1982. gadam [Kalender für Natur und Geschichte auf das Jahr 1982]. Riga 1981, S. 203f., hier S. 204. 52 Vgl. Carl Eduard Napiersky: Erste Fortsetzung des Chronologischen Konspekt’s der lettischen Literatur. Die Jahre 1831 bis 1843 umfassend, nebst Nachträgen zu den früheren. Mitau 1844, S. 13. Vgl. Apīnis: Soļi (= Anm. 37), S. 92. 53 Vgl. Apīnis: Soļi (= Anm. 37), S. 88−92. 54 Vgl. ebd., S. 91. 55 Vgl. Marģers Stepermanis: Zemnieku nemieri Vidzemē. 1750–1784 [Bauerunruhen in Livland. 1750–1784]. Riga 1956, S. 315–318. Vgl. Apīnis: Soļi (= Anm. 37), S. 90.

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2.3. Geschichte (1791) In der Kalenderbeilage von 1791, die bereits unter der redaktionellen Verantwortung von Gustav Bergmann stand, wurde ein kurzer Text mit einer gewichtigen Bedeutung für die Volksaufklärung veröffentlicht: die Beschreibung der Christianisierung von Livland, für die ein Fragment aus der Handschrift Stahsti no tahs wezzas un jaunas buhschanas to Widsemmes ļauschu [Erzählungen aus der Geschichte und Gegenwart der Livländer] (1753) von Friedrich Bernhard Blaufuß verwendet wurde, die unter den livländischen Herrnhutern im Umlauf war.56 Gemäß einem von Bergmann handgeschriebenen Hinweis, auf den sich der Bibliograph Karl Eduard Napiersky bezieht, wurde diese Beilage noch von Harder verfasst;57 im Kalender selbst wird als Verfasser „ein hiesiger Gelehrter“ genannt. Der Grund für die Veröffentlichung einer solchen Abhandlung wird folgendermaßen erklärt: „Für meine livländischen Freunde weiß ich nichts Besseres zu schreiben, als Geschichten über das erste Bestehen ihrer Heimat, bis die Deutschen sie gefunden haben; denn ich weiß, dass jeder sein Vaterland liebt.“58 Im Unterschied zur historischen Beschreibung im Kurländischen Kalender steht hier der Konflikt zwischen den livländischen Ureinwohnern und den Kreuzrittern im Zentrum, der im Sinne des Geschichtskonzepts der damaligen Zeit dargelegt wird. Die Beschreibung beginnt mit der zufälligen Aufsegelung Livlands durch deutsche Handelsschiffe auf dem Weg nach Finnland und Estland, fährt mit der Entstehung von freundschaftlichen Kontakten zwischen deutschen Neuankömmlingen und livländischen Einwohnern sowie mit der durch diese Freundschaft inspirierten Christianisierung fort, ohne den Widerstand der autochthonen Bevölkerung zu übergehen, und berichtet schließlich über die daraus hervorgehenden militärischen Konflikte. Die Beschreibung endet mit der Darstellung eines Blutbads, infolge dessen der Bischoff Berthold stirbt. Die Verschiebung der Aufmerksamkeit von der Regional- auf die Volksgeschichte war bedeutend und legte das Fundament für die spätere, bereits viel detailliertere Beschreibung der livländischen Geschichte in der Redaktion von Paul Tiedemann und Karl Gottlob Sonntag im Jahrgang 1820 des Livländischen Kalenders.59 56 Vgl. Jānis Krēsliņš: Friedrich Bernhard Blaufuß und seine ‚Erzählungen aus der Geschichte und Gegenwart der Livländer‘ vom Jahre 1753. In: Erich Donnert (Hg.): Europa in der Frühen Neuzeit. Festschrift für Günter Mühlpfordt. Bd. 3. Weimar, Köln u. Wien 1997, S. 423–428. 57 Vgl. Carl Eduard Napiersky: Chronologischer Konspekt der lettischen Literatur von 1587 bis 1830. Mit teilweiser Benutzung von K. G. Sonntags handschriftlich hinterlassenen ‚Notizen zur lettischen Literatur von 1700 bis 1825‘. Mitau 1831, S. 123. – An anderen Orten wird Gustav Bergmann als der vermutliche Verfasser genannt mit dem Vermerk auf den Text von Blaufuß als die Quelle für die im Kalender aufgenommene Beschreibung, vgl. Šiško u. Apīnis: Seniespiedumi (= Anm. 6), S. 186. 58 [Christoph Harder?]: Stahsti no tas wezzas un jaunas buhschanas to Widsemmes ļauschu (Erzählungen aus der Geschichte und Gegenwart der Livländer). In: Widsemmes Kalendars us to 1791 Gaddu (Livländischer Kalender für das Jahr 1791). [Riga 1790], [S. 41–47, hier S. 41]. 59 Vgl. [Karl Gottlob Sonntag u. Paul Tiedemann]: Ihsi Stahsti par Widsemmes notikumeem [Kurze Geschichten über livländische Ereignisse]. In: Widsemmes Kalendars us to 1821mu Gaddu [Liv-

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Insgesamt aber umfasste die Redaktionsarbeit des Textes – wie der Vergleich der Handschrift von Blaufuß mit der im Livländischen Kalender veröffentlichten Beschreibung zeigt  – hauptsächlich die Beseitigung von Widersprüchen. So hat etwa der Überarbeiter im Werk von Blaufuß berührte Fragen, wie etwa die Kritik am Katholizismus oder das Aufzeigen von Fehlern, die im Laufe der Christianisierung zur Gewalt geführt haben, weggelassen oder gemäßigt; dazu zählt auch der Vorwurf der Unkenntnis der Sprache der Einheimischen und die Kritik an der nachlässigen, oberflächlichen Verbreitung des christlichen Glaubens. Stattdessen wird der hohe Preis betont, den die ,Heiden‘ den Kreuzrittern für ihren Widerstand zu zahlen gezwungen waren. Somit ist die im Livländischen Kalender veröffentlichte Geschichtsbeschreibung als ein Versuch anzusehen, die gegenseitig im Konflikt stehenden Erinnerungen anzugleichen und die mündlich umlaufenden Überlieferungen durch eine offizielle Geschichte zu ersetzen. Im Kontext dieser historischen Abhandlung sind die Zeugnisse von Bedeutung, die Blaufuß selbst hinterlassen hat. Er betont, dass „die Leute über zwei und drei Jahrhunderte hinweg diesen Druck durch die Macht nicht vergessen haben“, und fährt fort: „Die Livländer, die jetzt leben, haben wohl von deren Vätern von diesen Sachen [den Kreuzzügen] gehört, jedoch sind in diesen Geschichten viele unwahre Sachen an sie weitererzählt, sodass manch einer, wenn er sich an die alte Zeit erinnert, klagt, trauert und weint über die eine oder andere Sache“.60 Während im Fall von Blaufuß das Potenzial der miteinander in Konkurrenz stehenden Erinnerungen, soziale Konflikte auszulösen, vor dem Hintergrund der Bauernunruhen in der Mitte des 18. Jahrhunderts kommentiert wird, konnte die Veröffentlichung im Livländischen Kalender eine pädagogische Funktion in einer Zeit übernehmen, als Nachrichten über die Französische Revolution das Baltikum erreichten und unter der Elite Angst vor der Wiederholung vergleichbarer Ereignisse im eigenen Land herrschte.61 Die Bedeutung dieser Beschreibung liegt nicht nur darin, dass sie die träge Volksaufklärung auf dem Gebiet der Geschichte fortsetzte; sie stellt auch einen der seltenen Fälle im lettischen Schrifttum dar, in dem sich die Tradition der gedruckten Literatur und die der Handschriftenliteratur einander begegnen, während sie sich sonst in einer relativen Isolation voneinander entwickelten. Es wurde eine Fortsetzung der Geschichte versprochen, diese ließ aber noch dreißig Jahre auf sich warten.62

ländischer Kalender auf das Jahr 1821]. Riga 1820; [dies.]: Widsemmes Notikumi, kamehr peederram pee Kreewu walsts [Livländische Ereignisse während unserer Zugehörigkeit zum Russischen Reich]. In: Widsemmes Kalendars us to 1822tru Gaddu [Livländischer Kalender auf das Jahr 1822]. Riga 1821. 60 Akademische Bibliothek der Universität Lettlands. Rara-Abteilung. 5316 R3639: Friedrich Bernhard Blaufuß: Stahsti no tas wezzas un jaunas buhschanas to Widsemmes ļauschu [Erzählungen aus der Geschichte und Gegenwart der Livländer]. [Handschrift, o. J.], S. 7. 61 Vgl. Arveds Švābe: Kāda mācītāja dzīve. [Das Leben eines Pfarrers]. Stockholm 1958, S. 51. 62 Vgl. Anm. 59.

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3. Schluss Die Bedeutung beider im lettischen Sprachraum erschienenen Kalender lässt sich im Kontext der Ideen der Volksaufklärung in drei Perspektiven beschreiben. Erstens sind, was die Ideen der Volksaufklärung thematisch angeht, mehrere bedeutende Richtungen erkennbar: Medizin, Naturwissenschaften, Geschichte, Rechtswesen und Geographie, schließlich auch schöngeistige Literatur, die sowohl Prosa als auch Lyrik umfasst. Der Kalender wiederholte und vertiefte nicht nur Themen, die in Büchern weltlichen Inhalts im 18. Jahrhundert behandelt wurden, sondern führte diese Themen zuweilen noch vor der Publikation dieser Bücher in den Diskurs ein. Allmählich gewann der Kalender eine Tendenz, die im Fokus der Aufmerksamkeit deutscher Studien zu Kalendern aus dem 18. Jahrhundert steht: Er gewann enzyklopädischen Charakter, sodass mit der Zeit kaum ein Thema übrig blieb, das in Kalendern nicht betrachtet worden wäre.63 In dieser Hinsicht war der Kalender mit der Verbreitung des Wissens und der Horizonterweiterung seiner Leser als einer der wichtigsten Zielsetzungen der Volksaufklärung eng verbunden. Zu betonen ist dabei, dass der Kalender hauptsächlich weltliche Lektüre beinhaltete, und dass er in einer Epoche, in der auf dem Buchmarkt die religiöse Literatur dominierte, eine wichtige Rolle für die Säkularisierung der literarischen Kultur übernahm. Obwohl man mit großer Sicherheit behaupten kann, dass der Kalender hauptsächlich nicht wegen der Beilage, sondern aufgrund der darin enthaltenen praktischen Informationen gekauft wurde, hatten die hier erwähnten Texte aus den Beilagen eine größere Chance als Bücher, das Lesepublikum zu erreichen. Ähnlich wie in den deutschsprachigen Ländern können die lettischen Kalender sowohl als „Volksbuch“ als auch als „Hausbuch“ betrachtet werden, wie dies nicht selten in der lettischen Kulturforschung getan wurde,64 und schließlich – durch die allmähliche quantitative Zunahme und Verzweigung der im Kalender behandelten Themen – auch als „Lebensbuch“.65 In diesem Fall ist die Rede nicht nur vom Inhalt der Kalenderbeilagen, sondern auch von der engen Verbindung des Inhalts mit den Lesegewohnheiten sowie dem hohen Prestige, das der Kalender in der Gesellschaft genoss. In den deutschsprachigen Ländern wurde er sowohl ‚Bauernbibliothek‘ als auch ‚Bauernorakel genannt‘;66 ebenso können wir auch im lettischsprachigen Raum Zeugnisse

63 Vgl. Holger Böning: Von der landwirtschaftlichen Belehrung zur enzyklopädischen Welterkenntnis. Tendenzen in deutscher Publizistik und Volksaufklärung des 18. Jahrhunderts. In: Ingrid Tomkowiak (Hg.): Populäre Enzyklopädien. Von der Auswahl, Ordnung und Vermittlung des Wissens. Zürich 2002, S. 143–158, hier S. 154. 64 E. Skujenieks: Muhsu kalendari 1888. gaddam [Unsere Kalender auf das Jahr 1888]. In: Baltijas Wehstnesis 1887.17.12. 65 Tschopp: Predigten, gefaßt in Lebenssprache (= Anm. 25), S. 111. 66 Vgl. Holger Böning: Volksaufklärung und Kalender: Zu den Anfängen der Diskussion über die Nutzung traditioneller Volkslesestoffe zur Aufklärung und zu ersten praktischen Versuchen bis 1780. In: Archiv für Geschichte des Buchwesens (2002), H. 56, S. 79–108, hier S. 79 u. S. 88.

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vom „unkritischen Vertrauen geringer gebildeter Leser in alles, was in Kalendern geschrieben steht“ finden.67 Zweitens sind die lettischen Kalender als lokale Variationen der musterbildenden deutschsprachigen Kalender zu betrachten. Unter der ländlichen Bevölkerung in deutschsprachigen Ländern war der Bauernkalender seit dem 17.  Jahrhundert fest etabliert. Genauso wie im lettischsprachigen Raum herrschte auch in deutschsprachigen Ländern die Vorstellung vor, dass der Kalender das einzige Buch sei, das die Bauern lesen würden.68 Die Entwicklung des deutschen Kalenders war mit der Gattung der ‚Hausväterliteratur‘ verbunden, deren Ziel es war, Informationen über sämtliche im Alltag relevanten Fragen zu vermitteln; gleichzeitig diente der Kalender zuweilen auch als eine Quelle abergläubischer Vorstellungen. In der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, als die Verfasser der Volksaufklärung in deutschsprachigen Ländern die inhaltliche Reform des Kalenders wagten und ihn in ein Instrument für die Verbreitung der volksaufklärerischen Ideen zu verwandeln versuchten, war ein Verzicht auf Motive des Volksaberglaubens zu beobachten. Stattdessen bot man zunächst nützliche und praktische Informationen an, bevor man im Laufe des 18. Jahrhunderts allmählich stärker unterhaltsame Inhalte bevorzugte.69 Der Zeitraum, in dem die ersten Kalender volksaufklärerischen Inhalts in deutschsprachigen Ländern erschienen, fällt mit dem Anfang der lettischen Kalender zusammen, und hier ist die Annahme gerechtfertigt, dass die genannten Reformen bis zu einem gewissem Grade auch die Vorstellungen der Verfasser der lettischen Kalender über die in die Beilagen aufzunehmenden Inhalte geprägt haben. Genauere Schlussfolgerungen wären nach einer eingehenderen Erforschung der Vorlagen und Quellen der in Kalendern veröffentlichten Übersetzungen und Lokalisierungen möglich, die bisher nur teilweise erfolgt ist. Drittens spiegelten die in den Kalenderbeilagen umgesetzten Grundsätze der Textstruktur und darlegung die Änderungen in den Lesegewohnheiten wider. So wuchsen die Kalender aus einzelnen, in Predigtformat verfassten Texten zu Beilagen mit gemischtem Inhalt, in denen der Umfang der Texte kürzer, deren thematische Vielfalt aber bunter wurde. Diese Wende wird durch die Popularität unterschiedlicher Almanache und Taschenbücher in ganz Europa markiert – für sie ist eine bewusst gemischt gestaltete Struktur charakteristisch, bei der im Vordergrund nicht der 67 Vgl. Līga Krūmiņa: Latviešu kalendāri, 1758–1919. Bibliografēšanas metodika un kultūrvēsturisks raksturojums. Promocijas darbs filoloģijas doktora grāda iegūšanai komunikāciju zinātnes nozarē, bibliotēkzinātnes apakšnozarē [Lettische Kalender, 1758–1919. Methoden der Erstellung der Bibliographie und kulturhistorische Charakterisierung. Promotionsarbeit zur Erlangung des Doktortitels in Philologie im Fach Kommunikationswissenschaften, Teilfach Bibliothekswissenschaften]. Riga, Latvijas Universitāte 2005 (unveröffentlicht; Nationalbibliothek Lettlands, BZ01/Kr895), S. 122. 68 Vgl. Böning: Volksaufklärung und Kalender (= Anm. 66), S. 80. 69 Vgl. Gertrud Schröder-Lembke: Die Bedeutung der Bauernkalender. In: Klaus Herrmann u. Harald Winkel (Hg.): Vom ‚belehrten‘ Bauern. Kommunikation und Information in der Landwirtschaft vom Bauernkalender bis zur EDV. St. Katharinen 1992, S. 1–11, hier S. 9; Böning: Volksaufklärung und Kalender (= Anm. 66), S. 80.

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Inhalt der Texte, sondern eben deren Vielfalt steht.70 Dies wurde durch die Vorstellung von einer Lektüre beeinflusst, die nicht mehr einen utilitären oder konkreten Zweck hatte, sondern für die Augenblicke der Muße und selbst genügenden Unterhaltung bestimmt war.71 Unterhaltsame Gattungen – Witze und Anekdoten – fingen an, die Darlegungsform dieser utilitären Texte (der praktisch-wirtschaftlichen Anweisungen) zu beeinflussen: Sie wurde lakonischer und beinhaltete nun auch öfter unterhaltsam-belletristische Elemente. Diese Beobachtung entspricht Aleksejs Apīnis’ historischer Rekonstruktion des Wandels der lettischen Lesegewohnheiten im 18. Jahrhundert, der auf einen Bedeutungsgewinn hedonistisch-genussvoller Modi der Lektüre abstellt, die gleichwohl eine Funktion der praktischen Erkenntnis erfüllen konnten.72 A. Apīnis hat als einer der ersten auf den Übergang von der intensiven zur extensiven Lektüre als wesentliches Merkmal in der lettischen Geschichte des Lesens im 18. und 19. Jahrhundert hingewiesen;73 in dieser Hinsicht ist die Vermutung zulässig, dass die Kalender, die jedes Jahr neue Lektüre anboten, die Verbreitung der extensiven Lektüre gefördert74 und dadurch eine neuartige Leseerfahrung im Vergleich zum zweiten am meisten verbreiteten Druckwerk – dem Gesangbuch – ermöglichten, das den konventionellen Modus intensiver Lektüre repräsentiert. Im Hinblick auf die weitere Entwicklung der Kalender im 19.  Jahrhundert ist zu beobachten, dass dieses Medium zum gewichtigen Bestandteil des Buchwesens wurde, sodass sogar einige praktisch-wirtschaftliche und belletristische Bücher in der Form von Kalendern gestaltet wurden – etwa die Anweisungen zum Gartenbau Dahrsa Kalendars [Gartenkalender] (1796) von Samuel Holst oder die Lyriksammlung Dseesmu Kalendars [Liederkalender] (1810 oder 1811) von Alexander Johann Stender.75 Die Bedeutung des Kalenders, der die publizistische Lücke schloss, die durch die schwere Zugänglichkeit der weltlichen Lektüre entstand, wird mit Blick auf das frühe 19. Jahrhundert in den Erinnerungen des lettischen Journalisten und Schriftstellers Ansis Leitāns deutlich: Für das Jahr 1824 hat mein Vater zum ersten Mal ein Kalender gekauft – das war das einzige neue Buch, ich wusste aber damals nicht, dass man einmal im Jahr ein neues kaufen 70 Vgl. Böning: Almanache, Taschenbücher und Kalender (= Anm. 33), S. 32, S. 37. 71 Vgl. Andrew Piper: Dreaming in Books. The Making of the Bibliographic Imagination in the Romantic Age. Chicago 2013, S. 121–125. 72 Vgl. Aleksejs Apīnis: Grāmatas funkcijas latviešu sabiedrībā 18. gadsimta otrajā pusē un 19. gadsimta sākumā [Die Funktion des Buchs in der lettischen Gesellschaft in der zweiten Hälfte des 18. und am Anfang des 19. Jahrhunderts]. In: Karogs (1981), H. 3, S. 143–150. 73 Vgl. ders.: Latviešu grāmatniecība (= Anm. 3), S. 128. 74 Vgl. ders.: Grāmata un latviešu sabiedrība līdz 19. gadsimta vidum [Buch und lettische Gesellschaft bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts]. Riga 1991, S. 117. 75 Vgl. Samuel Holst: Dahrsa-Kallenders, ar Peelikkumu no ihsahm derrigahm Mahzibahm, kà Pirschukohkus, Kesberes un Wihnakohkus pareisi buhs apgraisiht un labbi audsinaht; Manneem Dahrsa-Mahzekļeem par Dahwanu [Gartenkalender, samt Beilage mit kurzen nützlichen Anweisungen, wie Kirschbäume, Süßkirschbäume und Weinbäume zu schneiden und gut anzubauen sind; für meine Gartenlehrlinge zum Geschenk]. Riga 1796; Alexander Johann Stender: DseesmuKalendars us 1811tu gaddu, wisswairak seewischkahm par jauku islusteschanu [Liederkalender auf das Jahr 1811, größtenteils für Frauen zum netten Zeitvertreib]. Jelgawa [1810 oder 1811].

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soll, bis das Jahr 1825 kam und der Gutspächter dem Vater einen neuen Kalender schenkte, wie er das dann weiterhin jedes Jahr machte. Der Kalender war das einzige neue Buch, so hielt ich ihn dann für einen lieben Freund. Das Gotteswort hatte man zu ehren, und die übrigen Bücher waren alle nur unnützes Zeug. [...] Wenn es nun mit den Büchern immer schlechter ging, dass man kein Neues zum Lesen bekam, schaute ich doch, dass ich zu den beiden lettischen Kalendern komme. Als mein Vater vom Gutspächter den Livländischen Kalender bekam, schaute ich, dass ich Kopeken zusammensparte, dass ich auch den Kurländischen Kalender kaufen kann, und trug diese Kalender stets bei mir.76

Dies zeugt davon, dass der Kalender unter der entstehenden intellektuellen Elite der Bauern auch als Ersatz für periodische Werke dienen konnte und bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts der literarische Gehalt der Kalender mit ihrem praktischen Inhalt zu konkurrieren begann. Deswegen sollten die Kalender in der Mediengeschichte der Volksaufklärung im lettischsprachigen Raum gerade wegen der Lesegewohnheiten und Bücherverbreitung getrennt von Büchern und Periodika bewertet werden. Ihre literarischen Beilagen sind wiederum wertvolle Quellen für zukünftige Forschungen zur Wissensvermittlung im baltischen Raum und zum deutsch-lettischen Kulturtransfer.

76 Ansis Leitāns: A. Leitana dsihwes-gahjums [Lebenslauf von A. Leitans]. In: O. A.: Ans Leitana dsihwe, darbi un mirschana [Leben, Werk und Tod von Ans Leitans]. Riga 1875, S. 24–43, hier S. 32 u. S. 36.

Māra Grudule

Gotthard Friedrich Stender and Latvian Vocal Music in the Age of Enlightenment The time of mid- and second half of the 18th century is rightly related to the birth of Latvian (and Estonian)1 secular literature, with the first popular scientific texts and periodicals, handbooks on medical, agricultural, childcare and other issues, cookbooks and textbooks, as well as the advent of fables, short pastoral poems – idylls, elegies, stories, literary anecdotes and comedy. The Enlightenment also brings a change of attitude towards the Baltic indigenous people. Along acute social criticism, articles on Latvian mythology are published, proverbs and riddles are collected, Latvian folk songs are collected and translated into German and the origin of the Latvian language is studied. All these events are the result of cultural transfer from the German-speaking environment to the Latvian cultural space.2 All text collectors and creators, translators, compilers and publicists are the Germans who are either born and work in the Baltics or just work there. A special and outstanding role among them is played by Gotthard Friedrich Stender (1714−1796), a Courland pastor’s family offspring. Having completed theology studies at Jena and Halle, Stender returns to Courland, where he works as a teacher for a couple of years, then as a pastor at various rural parishes. In 1759 Stender leaves Courland for the Duchy of Brunswick-Lüneburg to later visit Copenhagen, Hamburg, Saint Petersburg and in 1765 to return to Courland. The entire future of Stender’s life is related to the pastor’s work in the parishes of Sonnaxt (Sunākste) and Selburg (Sēlpils). Stender is one of the most peculiar disseminators and adepts of Western European thought in the Baltics. He works in several directions – linguistics, pedagogy, religious philosophy, theology –, contributes to technological enlightenment and also translates and composes popular science articles, poetry and prose in Latvian. Already in 1761, he is known as “der berühmte Lette” (the famous Latvian) in the press,3 and at the end of his life – as “unser Patriarch in der lettischen Literatur” (our patriarch of Latvian literature).4 Stender’s activity in the field of Latvian vocal music is a novelty in the history of Latvian culture, too.

1 Cf. Liina Lukas: Die Geburt der estnisch- und lettischsprachigen Lyrik aus dem Geiste des Liedes. In: Letonica 37 (2018), pp. 51−62. 2 Cf. Māra Grudule: Volksaufklärung in Lettland. In: Schmitt, Hanno (Ed.): Die Entdeckung von Volk, Erziehung und Ökonomie im europäischen Netzwerk der Aufklärung. Bremen 2011, pp. 137−157; Ulrich Kronauer (Ed.): Aufklärer im Baltikum. Europäischer Kontext und regionale Besonderheiten. Heidelberg 2011; Pauls Daija: Literary History and Popular Enlightenment in Latvian Culture. Newcastle 2017. 3 „Sachen, so zu verkaufen“. In: Rigische Anzeigen, 12.11.1761, n. 19, p. 114. 4 Publikation. In: Mitausche Zeitung, 27.05.1796 (n. 46), unpag.

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Fig. 1: Johann Christoph Brotze: Gotthard Fried. Stender [silhouette]. c. 1790–1791. Johann Christoph Brotze: Sammlung verschiedener Liefländischer Monumente, Prospecte, Wappen etc. Vol. 4. Riga 1792, fol. 218 [1]. University of Latvia, Academic Library.

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1. German music context in the 18th century Already in the Baroque era, solo music plays a major role in German music. The collections of spiritual songs are complemented by a secular repertoire, mainly for chamber house music with one or a couple of instruments. Songs affect French and Italian musical traditions. The changes in the era are also reflected in the titles of the collections.5 Singing is an important part of German folk culture. Songs of soldiers, students, including drinking songs, as well as those at weddings, funerals, baptising are spread by word of mouth and cheap printed flyers, so called Fliegende Blätter. The origins of these melodies are often traced to the German hymns, as well as the songs of other nations.6 The age of Enlightenment is characterized by the introduction of music in the public sphere, as well as the geographical and historical discovery of ‘the other’.7 The second half of the 18th century is the time when the concepts of Volkslied (‘the folk song’), and almost simultaneously Lied im Volkston (‘folk style song’), are gathering momentum. Music dictionaries and lexicons, music history studies and music periodicals, issues in the field of music perception and music pedagogy are discussed, theoretical articles are published. After 1750, Berlin becomes the centre of the German song. Influenced and inspired by the French rococo culture, the solo song thrives in German burghers’ houses. Between 1753 and 1768 alone there are more than 1.000 new German songs.8 Women singers and composers make their debuts in salons. In 1753, the editors of Oden mit Melodien. Erster Theil, published in Berlin, Karl Wilhelm Ramler (1725−1728) and Christian Gottfried Krause (1719−1770), in the foreword to the collection conjure an ideal model of enlightened society as that of a singing society, where everyone is singing – a peasant with his grapes and garlic sings with joy and happiness, a city burgher sings and his song makes him forget his worries and troubles and nobility, ladies and gentlemen sing while taking a promenade and sprinkle their wine with jokes and songs.9 The authors of the foreword also ex5

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Cf. Heinrich Albert (Ed.): Erster Theil der Arien oder Melodeyen / etlicher theils Geistlicher / theils Weltlicher / zu gutten Sitten und Lust dienenden Lieder. In ein Positiv, Claivicimbel / Therbe oder Anders vollstimmiges Instrument gesetzt. Königsberg 1640; Gabriel Voigtländer (Ed.): Ersther Theil / Allerhand Oden vnd Lieder / welche auff allerley / als Italienische / Frantzösische / Englische/ vnd anderer Teutschen guten Componisten / Melodien und Arien gedichtet. Sohra 1642. Cf. Achim Aurnhammer and Dieter Martin: Musikalische Lyrik im Literatursystem des Barock. In: Hermann Danuser (Ed.): Musikalische Lyrik. Vol. 1: Von der Antike bis zum 18. Jahrhundert. Laaber 2004, pp. 334−348, here p. 343. Cf. Michela Garda: Musikalische Paradigmenwechsel im Zeitalter der Aufklärung. In: Joseph Willimann (Ed.): Musik und Aufklärung. Berlin et al. 2001 (Schweizer Jahrbuch für Musikwissenschaft. Neue Folge 20), pp. 5–19, here p. 6. Cf. Berta Joncus: Private Music in Public Spheres Chamber Cantata and Song. In: Simon P. Keefe (Ed.): The Cambridge History of Eighteenth-Century Music. Cambridge 2009, pp. 513−541, here p. 534. “Es ist ein schöner Anblick für einen unpartheiischen Weltbürger und allgemeinen Menschenfreund, wenn er bei diesem Volk einen Landmann mit seiner Traube oder mit seiner Zwiebel in

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plain the social functions of the song – the singing peasant no longer drinks, or overeats, or overindulges and binges. In the second half of the century debates on songs as a tool to influence the character of the folk go on in full speed, a number of collections of songs for children, for folk, for peasants, for soldiers etc. are published.10 A good song should be of a simple form, of clear expression and easy to remember. A representative of Berlin Song School, the musician and composer Johann Abraham Peter Schulz (1747−1800), observes these requirements in the collections Gesänge am Clavier (1779) and Lieder im Volkston (1782, 1785, 1790). Schulz also reveals his belief in the educational role of music in the treatise Gedanken über den Einfluß der Musik auf die Bildung eines Volks (1790).11 The concepts of Lied im Volkston and Volkslied are not clear at first. They are also used as synonyms. Volkslied or ‘folk song’ or ‘song in folk tone’ as a stylistically appealing framework for the transmission of ideas meant for the people and Lieder im Volkston ‘songs in folk style’ as a formal path to another social layer through an easily perceived instructive stereotype and schematic approach.12 In other words – Volkslied derives from the folk as folksong, Lied im Volkston is meant as an instructive and didactic aid for folk. The concept will be stabilized in the early 19th century.13 The musicologist Heinrich W. Schwab maintains that the first one (Lied im Volkston), being the heritage of enlightenment, is a deliberately simplified song with a specific function, with the help of which – enlightened speaking – the nation is brought out of its innocent ignorance or adolescence, and the second one is the folk song, which is

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der Hand singend und lustig und glücklich sieht; wenn er sieht, wie die Bürger in den Städten die Sorgen von ihren Tischen durch ein Liedchen entfernen, und wie die Personen aus der schönen Welt, die Damen von dem feinsten Verstande und die Männer von den größten Talenten ihre Zirkel und Spaziergänge mit Liedern aufgeräumt erhalten und ihren Wein mit Scherz und Gesang vermischen.” Carl Wilhelm Ramler and Christian Gottfried Krause: Vorbericht. In: Idem (Ed.): Oden mit Melodien. Vol. 1. Berlin 1753, unpag. Cf. Reinhart Siegert: “Lieder für das Volk” – Vorgeschichte und Vorläufer des “Mildheimischen Liederbuchs” (1799/1815). In: Idem: Studien zum Zeitalter der Aufklärung im deutschsprachigen Raum 1750–1850. Vol. 1: Gesammelte Studien zur Volksaufklärung. Bremen 2021, pp. 577–606. “Daß die Musik, wenn solche zweckmäßig ausgeübt und angewandt wird, die Sitten mildern, die Empfindung veredeln, Freude und Geselligkeit unter das Volk verbreiten, und überhaupt auf die Bildung des moralischen Charakters großen Einfluß haben könne, kann nur von denen bezweifelt werden, die keine Gelegenheit gehabt haben, über das Wesen und die Wirkungen dieser Kunst Betrachtungen anzustellen, oder von solchen, bey welchen es überhaupt noch nicht ausgemacht ist, daß die Cultur einer Nation ihre Glückseligkeit befördert”. Quoted from: Heinrich W. Schwab: Die musikalpolitischen Aktivitäten von Johann Abraham Peter Schulz. Zur deutsch-dänischen Musikkultur im Zeitalter der Aufklärung. In: Klaus Bohnen and Sven-Aage Jørgensen (Ed.): Der dänische Gesamtstaat. Kopenhagen, Kiel, Altona. Tübingen 1992, pp. 182−190, here p. 185. Cf. e. g. J. F. Voss in the letter to Carl Friedrich von Baden (1775). Cf. Siegert: “Lieder für das Volk” (= n. 10). Cf. Reinhart Siegert: “Im Volkston”. Zu einem Phantom in Literatur, Musik und Bildender Kunst. In: Ursula Brunold-Bigler and Hermann Bausinger (Ed.): Hören Sagen Lesen Lernen. Bausteine zu einer Geschichte der kommunikativen Kultur. Festschrift für Rudolf Schenda. Bern et al. 1995, pp. 679−694, here p. 691 and p. 692.

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later evaluated in a truly romantic spirit as a folk hymn whose unconscious, dark individuality was gradually appraised as a special and characteristic poetic richness of northern peoples.14

2. Stender and the Latvian ziņģes or popular songs as Lieder im Volkston In the second half of the 18th century a new concept emerges in the collections of Latvian lexicons compiled by Baltic German pastors, the genre of song is accompanied by a new genre, ziņģe, from German singen (to sing). The first mention of the word is in the dictionary by Livland pastor Jakob Lange (1711−1777), who also gives an example: Gribb tee Kungi turreht Talku; / buhs teem sneegt mums Allus malku, / doht ikweenam sawu Daļļu, / Puttras, Maises, Ahschu Gaļļu, / Masche, Mahdsche, Lasche, Trina, / dserr tur arri Brandawihna. / Tà kà mehs pee Darba ķerram; / Tà lai ehdahm, tà lai dserram, / lai mehs preezigi tad lezzam, / tas gan klahjahs Jaunam, Wezzam, / lai tam peeaug pilni Lauki, / kas muhs meelojis tik jauki.15 (They, the landlords, want us to give them a hand, / they shall reward us with a good sip of beer, / give everyone their share, / porridge bread, buck meat, / Maže, Madže, Laše, Trīna, / treat yourself to some vodka, too. / As we work, / so we can eat, and drink, / so we’re happy to go dancing / it will do for young and old, / may the fields reward with a great harvest, / those who gave us such a great treat.)

Lange points out that this song differs from Latvian “natürliche Gesänge” (“natural songs”), which later on are called ‘folksongs’ by Johann Gottfried von Herder. Ziņģe has a regular rhyme scheme. For that reason, as Lange states – it cannot have been born in a Latvian brain (“aus einem lettischen Gehirn geflossen”).16 The word ‘song’ is entered with the dictionary entry of Talka (‘working bee’), which means communal work, bringing the peasants together from different households to carry out a large amount of work. The landlords are mentioned in the song – “Landlords want to hold their working bee” – hence, it could be a manor – an environment where Germans and Latvians meet. The Latvians take over from Germans the calque ‘ziņģēt’ as well as the songs of a form that is altogether different from that of Latvian folk songs. We may conclude that Latvians already from the middle of the 18th century are well acquainted also with the German secular songs; they even sing them in Latvian. 14 “[…] von der Aufklärung überkommene absichtlich simplifizierte Funktionslied, mit dem man – aufklärerisch gesprochen – das Volk aus seiner unverschuldeten Bildungsnot herauszuführen [...], der später als romantisch bewertete echte Volksgesang, dessen ungeschliffene, dunkle Individualität man als besonderen poetischen Reichtum gerade der nordischen Völker allmählich zu schätzen begann”. Schwab: Die musikalpolitischen Aktivitäten (= n. 11), p. 189. 15 Jakob Lange: Volständiges Lettisches Lexicon samt angezeigten verschiedenen Provinzialdialekten in Lief- und Kurland. Schloß Ober-Pahlen 1772, col. 511. 16 Ibid.

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Thus, it might be assumed that, when Stender publishes several collections of Jaunas Siņģes (New ziņģes or Popular Songs, 1774) and Siņģu Lustes (Ziņģu Joy or Joy from Singing, two parts: 1783, 1789), he uses a simple, rhymed form already known to Latvians, while the content is new – instructive, emotional and enlightening. Stender supplements his collections of popular songs with instructions in German and Latvian. Almost all of the 113 texts in these collections are translations of the 18th century German poets Gottfried August Bürger (1747−1794), Barthold Heinrich Brockes (1680−1747), Justus Wilhem Friedrich Zachariae (1726−1777), Christian Fürchtegott Gellert (1715−1769), Johann Wilhelm Ludwig Gleim (1719−1803), Matthias Claudius (1740−1815), Christian Felix Weiße (1726−1804), Friedrich von Hagedorn (1708−1754) and others. The insights into the contents of the collections are provided by the names of some chapters, such as “Kursemmes siņģes” (Songs for Kurzeme [Courland]), “Dabbas siņģes” (Songs about Nature), “Mihlibas siņģes” (Love songs), “Kahsu siņģes” (Wedding songs), “Tikkuma Siņģes” (Songs about virtues) etc. So far, Stender’s ziņģes have been rated as a novelty, even as “garīgs apvērsums” (“spiritual revolution”) in Latvian literature.17 As Latvian researcher Pauls Daija has pointed out, Stender, by publishing sentimental and written in somewhat German poetic Anacreontic tradition poems, intends to teach the reader how to love “bürgerlich” (graciously) by shifting the focus from primitive sexual desire to a sensual, emotional, erotic interest.18 Stender himself also points out in his foreword to the book that he wants “dem bäurischen Herzen zärtliche Empfindungen einflößen” (to teach peasants a softer and more delicate feeling),19 his Latvian songs, in his own words, are meant “auf das Vergnügen und die Bildung der uns so wichtigen Nation” (for the entertainment and upbringing of the people who are of great importance to us).20 However, contrary to popular belief, the collections of Stender’s ziņģes are not to be seen exclusively as a literary novelty. Ziņģes are to be sung. This is indicated, for example, by the title of the collection – Jaunas Siņģes pehz jaukahm meldeijahm par gudru islusteschanu (New ziņģes with Lovely Tunes for a Clever Entertainment) and also by the table of contents in German “Verzeichniß der Gesänge” (A song list).21 The melody is no less important than the text. Stender and, as mentioned above, also his contemporaries, including Johann Abraham Peter Schulz, believe that an instruction 17 Aleksejs Apīnis, Oto Čakars and Ināra Klekere: Vecais Stenders latviešu dzejas laukā [Stender the Elder in the Field of Latvian Poetry]. In: Gothards Frīdrihs Stenders: Dzeja [Poetry]. Rīga 2001, pp. 237−284, here p. 250. 18 Daija: Literary History (= n. 2), p. 86. 19 Gotthard Friedrich Stender: Vorrede. In: Idem (Ed.): Siņģu Lustes [Joy from Singing]. Jelgava 1785, p. [3]. 20 Gotthard Friedrich Stender: Vorrede. In: Idem (Ed.): Siņģu Lustes. Ohtra Daļļa [Joy from Singing. Part II]. Jelgava 1789, pp. [3–5], here p. [3]. 21 Gotthard Friedrich Stender (Ed.): Jaunas Siņģes pēc jaukahm meldeijahm, par gudru islusteschanu [New Siņģes or Popular Songs with Pretty Melodies Denoted for Clever Entertainment]. Jelgava un Aizpute 1774, p. 79.

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or educational message would reach the intended recipient easier when it is communicated through a song because, as Stender writes “Tīri vārdi caur vienu ausi ieiet, caur otru iziet. […] Ne cietas galvas vaina, bet bērnam lustes trūkst” (sheer words enter through one ear and pass through the other. [...] Not a hard head fault, but a child’s joy is missing).22 It is not without reason, that Stender includes the calque of the German word ‘Lust’ (joy) in the Latvian titles of his collections, e. g. Siņģu Lustes, where melody becomes the bearer of “luste” (joy). Unfortunately, the musical sources, or song collections used by Stender for his books, have not been studied so far. Stender himself is not consistent with the melody references. In the first collection, Jaunas Siņģes, each Latvian text is accompanied by a line in German without any specific indication that it is a melody. There is only one poem in the collection, “Grahmatas” (The Books),23 where the German title is replaced by the reference to a French melody: “Mel. Pensez vous, jeune Lisette”. The search for its source leads to the aria of Niccoló Jommelli (1714−1774), a composer born in Naples and a chaplain of the Duke of Württemberg for fifteen years.24 The melody is also known to the Dutch.25 However, on closer inspection, many of the German lines mentioned in the collection turn out to be the original German songs translated into Latvian. Apparently, Stender believed that it was important to add the French reference, because the Latvian text has no other common grounds with the French song except the melody. The first and second part of the Siņģu Lustes have more references to melodies (indicated as “Mel”), but not in all texts. In the second part of the collection Siņģu Lustes Stender includes several original texts, some of which have no reference to the melody. However, these texts are also sung. This is brought to evidence, for example, by the subsequent publication of such songs with notation later on, in the middle of the 19th century.26 The second part of Siņģu Lustes contains also several texts, which are to be sung by the same melody. There are also texts where the reference to the melody is given in Latvian, although in the previous edition (Jaunas Siņģes, 1774) it was in German – so over a couple of years these songs have become popular enough to make no reference to the German original.

22 Mihļie Latweeschi [Dear Latvians]. In: Gotthard Friedrich Stender: Pasakkas in Stahsti teem Latweescheem par islusteschanu un gudru mahzibu sarakstīti [Fairytales and Tales for Latvians, Written as a Tool for Joy and Learning]. Jelgava 1789, pp. 3−8, here p. 5. 23 Stender: Jaunas Siņģes (= n. 21), n. 15, p. 28. 24 Cf. Répertoire International de Sources Musicales: Niccollò Jommelli: Pensez-vous jeune Lisette. URL: http://www.rism-ch.org/catalog/400196151 [29.06.2021]. 25 Cf. Nederlandse Liederenbank: Pensez-vous jeune Lisette. URL: http://www.liederenbank.nl/resultaatlijst.php?zoek=6924&actie=melodienorm&sor teer=jaar& lan=nl [29.06.2021]. 26 Cf. Seltenite kà Eņģels [Girl as an Engel]. In: Stender: Siņģu Lustes Ohtra (= n. 20), p. 62, also in: Jānis Kakting and Juris Caunit (Ed.): 100 Dseesmas un ziņģes ar nohtem jaunekļeem par labbu [100 Songs and ziņģes with notation for young people]. Rīga 1858, p. 71.

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Fig. 2: [Gotthard Friedrich Stender]: Jaunas Siņģes pēc jaukahm meldeijahm, par gudru islusteschanu [New Siņģes or Popular Songs with Pretty Melodies Denoted for Clever Entertainment]. Jelgava un Aizpute 1774.

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A lot of Latvian ziņģes are solo songs, arias, incl. opera arias27 and oratorio fragments28 by such mid-18th century composers as Johann Joachim Quantz (1697−1773), Johann Friedrich Reichardt (1752−1814), Johann Adam Hiller (1728−1804), Johann Anton André (1741−1799), Johann Abraham Peter Schulz, Johann Georg Witthauer (1750−1802), Johann Gottlieb Naumann (1741−1801) and others. It is likely that Stender’s translated songs were widespread in the German-speaking space and often beyond it. For instance, in 1769 Hannoverisches Magazin writes about the song “Dämotas war schon lange Zeit” (in Latvian translated by Stender “Indriķis un Dahrte”)29 with Gellert’s text: “Mein Beweiß ist Sachsen und Thüringen, wo fast jedes Bauermädchen einige Lieder, wenigstens das bekannte Lied des Gellert, ‘Dämotas war schon lange Zeit’ mit einer gewissen ländlichen Grazie, die ich dem gezwungenen Gesange mancher Stadtdame weit vorziehe, zu singen weiß“.30 Several Stender’s songs are related to the composer Johann Abraham Peter Schulz mentioned above. Stender’s translations and ideas are similar to Schulz’s ideas on the educational nature and simplicity of the song. Stender’s collection Siņģu Lustes contains “Wakkara dseesma” (Evening Song),31 a song with Schulz’s own melody and Matthias Claudius’s lyrics “Der Mond ist aufgegangen”. It is not only one of the most popular but also top-rated Schulz’s song. Johann Gottfried von Herder adds it to his collection of folk songs.32 All verses in the song have one easy-to-keep melody at a constant quadruple. All words correspond exactly to the melody. Anna Heinrike Eymess, a musicologist, also highlights this in her research.33 Stender translates all seven original verses, retaining the original rhythm. The Latvian song is easily sung along a German melody.

27 Cf. Greeta ar pautiem / Es trug einst Gretchen ihre Eyer. In: Stender: Siņģu Lustes (= n. 19), pp. 24f. Music: Adam Hiller. Lyrics: Christian Felix Weiße. From the opera Die Liebe auf dem Lande (1770). 28 Cf. Zeema Meita / Ein Mädchen das auf Ehre hielt. In: Stender: Siņģu Lustes (= n. 19), p. 17. Music: Joseph Haydn, Die Jahreszeiten. Winter. 29 Stender: Siņģu Lustes (= n. 19), p. 22. 30 “My proof is Saxony and Thuringia, where almost every peasant girl knows how to sing some songs, at least the well-known song by the Gellert, ‘Dämotas war schon lange Zeit’, with a certain rustic grace, which I greatly prefer to the compulsive and stiff singing of many a city lady.” F. G. H. I. R.: Schluß der Abhandlung von der Erlernung der Musik. Für junge Frauenzimmer. In: Hannoverisches Magazin (1769), St. 46, 9. VI, col. 727. 31 Stender: Siņģu Lustes (= n. 19), p. 63. 32 Cf. Abendlied. In: Johann Gottfried Herder: Volkslieder. Vol. 2. Leipzig 1779, p. 297. 33 “Es handelt sich um einen homophonen Satz, der ohne rhythmische Verzierungen [...] auskommt […]. Der Melodiesprung […] tritt in aufsteigender Bewegung auf [...], was gesangstechnisch einfacher zu bewältigen ist als ein abwärts gerichteter Sprung. […] Das Rahmenintervall der Melodie […] ist dabei verhältnismäßig klein und kann durchaus als leicht singbar eingestuft werden. [...] Zum Wort-Ton-Verhältnis des ‚Abendlied‘ lässt sich anmerken, dass die Melodie dem Sprachduktus genau entspricht: Betonte Silben entsprechen Notenwerten mit schwerer Zählzeit [...] im Takt”. Anna Henrike Eymess: Lied im Volkston. Zu ästhetischen Überlegungen zur Gattung Lied von Christian Gottfried Krause und Johann Abraham Peter Schulz. Hausarbeit Univ. Göttingen 2017, p. 7. URL: https://www.academia.edu/32802382/LIED_IM_VOLKSTON [29.06.2021].

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The content of the translation is close to the original: the same nature scene – the evening with the moon – and the pious reflections. Stender takes some liberty at the end of the song, thus making it differ from the original. At the end of the song, Matthias Claudius returns to the scene of nature, the evening breeze described at the onset. The Latvian translation refers to a person who, like a chicken, goes to a hen and – is under its wing, i. e. stays protected under the wing of God. The spirit of the Latvian translation is even closer to the idea of im Volkston: “So legt euch denn ihr Brüder / in Gottes Namen nieder. – Kalt ist der Abendhauch” (“That’s how you lay down brothers / in the name of God. – Cold is the evening breath”) in Latvian translation “Tad eita gulēt brāļi / Kā apakš vistas cāļi / No Dieva apklāti” (Then go to sleep brothers / As chickens flock to hen / By God protected).34 Stender translates several other Schulz’s songs set for the lyrics of Matthias Claudius35 and Johann André.36 He also translates Christian Adolf Overbeck’s (1755–1821) well-known poem “An den Mai” (“Komm, lieber Mai und mache”), composed by Wolfgang Amadeus Mozart in 1791, but Stender’s translation is apparently meant for an older melody by the poet and composer Johann Friedrich Reichardt.37 An interesting exception to other Stenders’ songs is the translation of “Sophron an seine Freunde”38 (Sophron to his friends) written by the German poet Gottlob David Hartmann (1752–1775),39 who died prematurely in Mitau (Jelgava). It does not belong to Lieder im Volkston genre. In 1785, this elegy is published in a separate edition with the melody by Johann Gottlieb Naumann.40 The vocal mood is enhanced by the choice of instruments – a keyboard instrument complemented by the violin and the reference on the title page – “Für Wenige” (for few). The poem reflects endless sadness over unfulfilled love and ends with a veiled suicidal idea. The mood of the poem coincides with the motif of Goethe’s young Werther’s suffering,41 a fashion at this time. As is known from Hartmann’s biography, the coincidence of experience is not accidental. Hartmann, who was born in the vicinity of Ludwigsburg, arrives in Mitau at the invitation of the Duke of Courland in 1774 and begins his career as a professor of philosophy at Mitau Peter’s Academy. During this time, he gets to know the well-educated young poetess Elisa von der Recke (1754−1833), the half-sister of the future Duchess of Courland Dorothea von Medem (1761−1821). Reading and discussing Goethe’s Die Leiden des jungen Werthers brings Hartmann and von 34 Stender: Siņģu Lustes (= n. 19), p. 65. 35 Ich danke Gott und freue mich / Sawas kahrtas patikschana. In: Ibid., p. 74; Der Mond ist aufgegangen / Wakkara dseesma. In: Ders.: Siņģu lustes (= n. 19), p. 63. 36 In einem Thal, bey einem Bach / Meitiņa tauriņu ķehreja. In: Ders.: Siņģu Lustes Ohtra (= n. 20), p. 12. 37 Seedu=mehnesis [Month of Blossoms]. In: Ders.: Siņģu Lustes Ohtra (= n. 20), p. 32. 38 Sprantscha gaudas [Sophron to his friends]. In: Ibid., p. 64. 39 Cf. Friedrich Konrad Gadebusch: Livländische Bibliothek nach alphabetischer Ordnung. Vol. 2. Riga 1777, pp. 14f. 40 Cf. Elegie von Hartmann für Wenige von Naumann. Dresden 1785. In: Petrucci Music Library (IMSLP). URL: https://imslp.org/wiki/Elegie_(Naumann%2C_Johann_Gottlieb) [29.06.2021]. 41 Cf. Johann Wolfgang Goethe: Die Leiden des jungen Werthers. Leipzig 1774.

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der Recke closer to each other.42 Unfortunately, affected by a fever Hartmann passes away at the age of 23 in Mitau. The complicated form of the poem where each of the four lines of the verse has its own count of syllables requires the translator’s skill. Though Stender pays attention to it, not always the original accents coincide with the natural emphasis in Latvian words. The sad mood of the song is reinforced by the intense use of diminutives (underlined) and explicit piety in the Latvian translation. [German original, the first and the last verse:] 44 1. Eures Sophrons Seele, Freunde, trübt in Schwermuth sich; Habt ihr Thränen, Freunde, habt ihr Thränen? Weint für ihn! [...] 10. Komm, mein Arzt, o Schlummer, wiege, mich in meinen Gram, Wach’ ich wieder auf, so sei’s der Morgen Jener Welt.

(1. Your Sophrons soul, Friends, soaks in melancholy; If You, friends, have you tears, Cry for him! […] 10. Come, my doctor, o, sleep, cradle me in my sorrow, If I wake up again, let it be the morning Of the other world.)

[Latvian translation:] 45 1. Juhsu Sprantscha dwehselite, Brahli skumjás peld. Irr jums, Brahli, assaras, lai wiņas Preeksch man pill. [...] 10. Nahz, mans preezinsch, meedsin, schuhpo Man eeksch skummibas, Buhs man rihtà mohstees, lai tas irraid Debbes=rihts

(1. Your Sprancis‘ soul (in diminutive), Brothers drifts in grief. If, you Brothers, have tears, let them Flow for me. […] 10. Come, my joy (in diminutive), sleep (in diminutive), cradle me in sorrow, If I have to wake up tomorrow, let it be Tomorrow in heaven).

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Stender’s translation attracts the attention of German community in Courland. Already in 1784, though without the translator’s reference, it is published in a local Courland newspaper45 and soon afterwards also in the magazine Deutsches Museum in Leipzig with a commentary: “Da wol noch kein deutsches Gedicht in die ganz rohe lettische Sprache übersetzt ist, kan dieser Versuch dem deutschen Publikum [...] nicht uninteresant sein” (Since no German poem has yet been translated into the very raw Latvian language, this attempt would be noticed by the German public).46 Judging by the comment, the authors of the edition have no knowledge of many ex-

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Cf. Werther in Kurland. In: Baltische Monatsschrift (1888), pp. 515−521. Auszüge aus Briefen. In: Deutsches Museum 43/2 (1784), pp. 88−90, here p. 88 and p. 91. Sprantscha gaudas [Sprancis Grief ]. In: Stender: Siņģu Lustes Ohtra (= n. 20), pp. 64f. Spranzis. In: Mitauische Monatsschrift (1784), März, pp. 284f. Auszug eines Briefs von Hn. Prof. Jäger aus Mitau vom 18. Apr. 84 an Hn. Schulmeister Hartmann in Ludwigsburg. In: Deutsches Museum 43/2 (1784), pp. 88−90, here p. 90.

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Fig. 3 and 4: Swehtas gudribas Grahmatiņņa sarakstita no Sehrpilles un Sunnakstes Basnizkunga Stender [Book of Holy Wisdom. Compiled by Pastor Stender of Selpils and Sunakste]. Jelgava and Aizpute 1774.

cellent translations of spiritual songs in Latvian, which at that time have 200 years of history. This text is offered to the reader as an example of discovery of yet another language of ‘the other’. For Stender himself, the form of Hartmann’s work seems worthy of imitation. In the second part of the collection Siņģu Lustes, his original work “Augsta Siņģe us saweem Behrneem un Behrnu-behrneem” (The High Song for the Children and Children’s Children) is published,47 and it is also an elegy, this time – about an early separation from relatives. It is to be sung by “Sophron an seine Freunde” melody composed by Naumann. The translation of Hartmann’s elegy, several comments in German, the German foreword and content in German raise the question of the addressee of Stender’s 47 Augsta Siņģe us saweem Behrneem un Behrnu-behrneem [The High Song for the Children and Children’s Children]. In: Stender: Siņģu Lustes Ohtra (= n. 20), p. 52. The poem was written in German in original (1787), later on all but three first verses were translated into Latvian. Stender dedicated the poem to his family and meeting with his daughter Eva Elisabeth von Schwentzen (1745−1794) in 1786 when she arrived from Copenhagen to visit her father. More about it: Kārlis Kundziņš: Vecais Stenders sawa dsihwe un darbā [Stender the Elder in his Life and Works]. Jelgava 1879, pp. 94−97.

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collections of songs. Who bought and who used those books? Who encouraged the recurring editions of the collections after a relatively short break? Were the users of Stenders volumes just German pastors and teachers who were concerned with educating peasants, or perhaps the local German public as well? The review of Stender’s encyclopaedic publication in Latvian Augstas gudrihbas grahmata (The Book of High Wisdom, 1774) is at least one reference in this regard.48 The Germans living in the countryside, as described by the anonymous reviewer, qualify well for Lieder im Volkston consumer. The addition of five “Danču lustes” (Joy from Dancing), known at that time as Tanzlieder (dancing songs) in the second part of the popular songs collection is a novelty at the time. Stender offers dancing or dancing song, a kind of a play or game, as a methodological tool to be integrated into the school curriculum. This is precisely what his own comment in the foreword to the collection suggests, with the reference to such songs being well-tested in the school founded by Johann Georg Bolschwing (1732–1776), a country nobleman: Die Tanzlieder [...] dienen zum unschuldigen Vergnügen, wovon ich eine auffallende Erfahrung nicht unberührt lassen kann. – Als der sel. Herr Hauptmann von Bolschwing, dessen Name im Segen bleibe, die Warenbrocksche Schule aufrichtete, sahen die lettische Kinder selbige als ein Marterhaus an und kamen mit nassen Wangen. Sobald aber auf meinen Rath Tänze, besonders der Schultanz [...] eingeführt wurden, ward alles fröhlich49 (Dance songs [...] serve innocent pleasures, and I cannot but mention some innocent adventure in this regard. The late landlord von Bolschwing, may his name be blessed, established the Wahrenbrock School, but it seemed to Latvian children as a torture chamber, and they went there red with weeping. However, when on my advice, the school introduced dancing, especially a school dance [...], everyone became joyous).

The co-founder, philosopher and educator of the Mitau Peter’s Academy Johann Georg Sulzer (1720−1779) in his Allgemeine Theorie der schönen Kunste (1771−1774) also points to the educational role of songs and dances.50 Dances are a part of the learning process of the 18th century putting emphasis on games and, therefore, the joy in the learning process. These dances can also be considered from a broader per48 “Der Herr Pastor verdient also wohl recht großen Dank dafür, daß er seine Talente und große Stärke in der Lettischen Sprache dazu angewendet hat, einem der wichtigsten Bedürfniße des größten Theils der Einwohner unsers Landes abzuhelfen. Denn in der That ist durch dieses Werk nicht blos für die Letten gesorgt, auch Deutsche, die unter den Bauren auf dem Lande wohnen, mehrentheils nicht viel aufgeklärter, als die Letten sind, und oft Lettische Lektüre mehr als Deutsche lieben, auch diese werden aus diesen Bogen manche falsche Begriffe von der Welt und der Natur berichtigen, und ihre Erkänntniß von den herrlichen Eigenschaften Gottes merklich verbeßern können, die sonst bei den mehresten unter ihnen sehr unvollkommen, und daher auch sehr unwirksam ist”. Gelehrte Sachen. Augstas Gudribas Grahmata no Pasaules un Dabbas. Sarakstita no Sehlpilles un Sunakstes Basnizkunga Stender. Jelgawâ un Aisputte, pee J. F. Hinz 1774. In: Mitauische Politische und gelehrte Zeitungen, 25.07.1775, n. 7, pp. 27f., here p. 27. 49 Stender: Vorrede (= n. 20), pp. [4f ]. 50 Cf. Johann Georg Sulzer: Tanzkunst. In: Idem: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Vol. 2. Leipzig 1774, pp. 1142−1144.

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spective – as a path marked by Stender for Latvian peasants to approach the German bürgerliche Gesellschaft or to build a civic society with appropriate cultural expressions of personal relationships and leisure opportunities. The games and plays are taken from the Germans living among the Latvians, incl. in social gatherings and wedding rituals throughout the 19th century. Thus, in 1900, in the story Godības Skudrājos (Feast in Skudrāji), its author Zeiboltu Jēkabs (1867−1924), in an episode of the Latvian wedding, devotes an entire segment to a play or a dancing song organized by the former manor tailor. This tailor is specially invited as an entertainer of a high expertise, because he is from the manor. Another Latvian writer Andrievs Niedra (1871−1942) shares somewhat similar childhood memories about a play with a strange actor – “Āmurs” (a hammer). Several years later Niedra finds out that it had been Cupid or in German – Amor and the play derives from Germans – judging by the description, he mentions still today famous German game “Amor ging und wollte sich erquicken” (Cupid went and wanted to refresh himself ).51

3. Stender and the first cantata in Latvian In the age of Enlightenment churches open their doors to public concerts. They are no longer exclusively associated with worship services, but hold oratory and cantatas as well. Large-form musical compositions supplement the church services during Christmas or Easter. Oratories and cantatas are used to celebrate various festive events, for example, in Libau (Liepāja), in 1788, a cantata is chosen to celebrate the consecration of the town school.52 In the context of this new musical tradition Stender’s translation of the cantata by Carl Heinrich Graun Der Tod Jesu (The Death of Jesus, 1755) with the oratorio libretto by Karl Wilhelm Ramler may be of interest. The Latvian translation is published in the supplement of his Swehtas gudribas Grahmatiņņa (Book of Holy Wisdom, 1774) in the same year when the above mentioned first collection of Stender’s Jaunas siņģes appears. Graun’s cantata at that time is popular all over Europe. John Whitfield Grubbs maintains that it has phenomenal success and it is difficult to find a town in Germany without any copy of the cantata at the time.53 It is also performed in Riga. Already in the mid 60’s of the 18th century the young teacher and pastor living in Riga, Johann Gottfried von Herder, expresses his admiration for the co-work of Ramler and Graun in a letter to his friend Johann Georg Scheffner (1736–1820): “[…] die Rammlersche vortrefliche Kantate [...] die beste, die ich je in der Welt gelesen. [...] Rammler ist ein Sohn der Harmonie, u. eines Graun würdig” ([...] Ramler’s excellent cantata […] the best in the world I’ve ever

51 Cf. Andrievs Niedra: Mana bērnība un puikas gadi [My Child- and Boyhood]. Rīga 1943, p. 55. 52 Cf. Zane Gailīte: Laika sijātas skaņas [Sounds Riddled by the Time ]. Liepāja and Rīga 2012, p. 27. 53 Cf. Herbert Lölkes: Ramlers „Der Tod Jesu“ in den Vertonungen von Graun und Telemann. Kontext. Werkgestalt. Rezeption. Kassel, Basel and London 1999, p. 211.

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read. Ramler is a son of ‘Harmony, worthy of Graun).54 Graun is also mentioned by the music historian Zane Gailīte (1952−2019) as a composer favoured at the court of the Duke of Courland.55 We can only speculate about the reasons why Stender translates this cantata into Latvian. Perhaps this is done to diversify the festive service in his rural church and to please its German-speaking part. Traditionally, the number of Germans in the Baltic rural churches is small. As is known, in many places in the countryside German worship services were held only a few times a year; for example, the Germans when partaking of the Lord’s Supper, had to join a congregation speaking in Latvian or Estonian.56 German participation, incl. in Latvian devotional service, is also mentioned in Latvian hymnals at least since the end of the 17th century.57 Unfortunately, there are no documented facts about the Latvian performance of Graun’s cantata in the 18th century, but there is evidence that Latvians played a great musical composition, possibly cantata in Wolmarshof (Valmiermuiža/Livland), in 1742, in a solemn assembly of Moravian Church.58 The fact that Graun’s cantata is to be played in Latvian with the text of Gotthard Friedrich Stender, was confirmed by the performance of the same under the guidance of the conductor and early-music researcher Māris Kupčs in Riga, St. Magdalene Church on 31 March, 2015 on Good Friday.

4. Stender and solo song translations And finally, in the context of Enlightenment musical tradition and its transfer in Latvian culture, another edition is to be mentioned – Gotthard Friedrich Stender’s issue Eelihses diwpadesmit swehtas Dseesmas (Elisa’s Twelve Sacred Songs, 1789). Along with the search for new concert forms in churches, the Enlightenment also brings house music tradition into manors and town dwelling houses, including the passion 54 However, a few years later Herder changes his mind. Cf. ebd., p. 254. 55 Cf. Zane Gailīte: Par Rīgas mūziku un kumēdiņu spēli [About Music and Comedian Plays in Riga]. Rīga 2003, p. 286. 56 “Die wenigen deutschen Familien in den ländlichen Kirchspielen besuchten vorzugsweise die nur wenige Male im Jahr abgehaltenen deutschsprachigen Gottesdienste und entzogen sich der religiösen Gemeinschaft mit den Bauern nach Kräften. Und von den Gutsbesitzern wurde die transnationale Abendmahlgemeinschaft nicht selten aufgrund des Ekels vor den stinkenden und unhygienischen Bauern aufgekündigt”. Ulrike Plath: Esten und Deutsche in den baltischen Provinzen Russlands. Fremdheitskonstruktionen, Lebenswelten, Kolonialphantasien 1750−1850. Wiesbaden 2011, p. 182. 57 “[...] ein herrliches Gesang=Buch Reim=weise verfertiget, [...] von meinen Zuhören / mit so grosser Begierde entgegen genommen / daß Sie nicht allein den Text / da Ihnen eines nur etliche mahl vorgelesen worden / bald behalten / sondern auch hernach die Melodey / (welche sonst den meisten Lettischen recht nachzusingen eine Unmöglichkeit zu seyn scheint /) so wol gefasset / das auch die jenigen Teutschen / denen vor dem die armen Leute mit ihren Thun gar verdrießlich gewesen / so eine hertzliche Freude darauß geschöpffet / daß Sie wieder vorige Gewonheit / dem Lettischen Gottesdienste mit grosser Vergnügung fleissig beygewohnet”. Christlicher und in Christo geliebter Leser. In: Vermehretes Lettisches Hand-Buch. Mitau 1685, unpag. 58 Cf. Zane Gailīte: Laika sijātas skaņas [Sounds Riddled by the Time]. Liepāja and Rīga 2012, p. 27.

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for keyboard musical instruments and especially pianos. The cooperation between the well-known Courland landlord Dietrich Ewald von Grotthuß (1751−1786) and Carl Philipp Emanuel Bach (1714−1788) in Hamburg prompts Bach’s gift to Grotthuß – the Silbermann company piano. The occasion is honoured by the cantatas composed by both, Grotthuß and Bach.59 At the turn of the 18th and 19th century, the piano becomes a popular commercial object. The publication in the periodical Für Leser und Leserinnen in Mitau in 1781 offers an improvised dialogue between a cantor and an organ player where with outrage and irony they speak on the “piano drumming” in many Baltic manor houses where performers overestimate their abilities: Wenn die Herren und Damen eine edelmännische Sinfonie auf ihren Hämmerklavieren abtrommeln können, dann denken sie Wunder gethan zu haben, und sie finden immer Zuhörer, die weniger verstehen, und ihnen doch mit einer Kennermiene ein gravitätisches Bravo zunicken, oder mit affektiertem Enthusiasmus Beyfall zuklatschen.60 (When gentlemen and ladies can drum a lofty symphony out of their keyboards, they are sure that they have done a miracle, and they always manage to find listeners, who know little, but who follow the performance with a knowledgeable flair, with a great deal of ovation and affection to applaud their appreciation).

The perception of citizens’ dwelling is also changing: Nicht mehr war es ‘die dumpfe Stube’, in der ‘Urahne, Großmutter, Mutter und Kind’ beisammen waren und – wie in Uhlands Ballade – auf den Schlag des Schicksals warteten, sondern es wurde zum aktiven Refugium, zur bürgerlichen ‘Burg’ als einem Schutz der Innerlichkeit für das ins solistische Musizieren versunkene Individuum, wie zum Kraftzentrum für soziale Interaktionen ‘draußen’, die durch gemeinsames Erarbeiten und Erleben von Musik eingeübt wurden.61 (It was no longer ‘a stifling room’, where ‘forefathers, grandmother, mother and child’ lived together and – as in Uhlands ballad – waited for the stroke of the fate, on the contrary – it was converted in an active lounge, a kind of civic ‘castle’, that protects the subjectivity of the individual gone deep in the musical world and a place of strength for social interactions ‘outside’, that had to be learned through common work and common musical experience.)

The houses of noble and wealthy burghers would often have a salon centred around a musical woman. The decline in the popularity of salons dates from the 1830s in Germany.62 In Courland and Livland, due to the historical situation,63 the period of 59 Cf. Leonidas Melnikas: C. Ph. E. Bachas ir Pabaltijys: Apie brolius Grotthussus / C. Ph. E. Bach und das Baltikum: Über die Brüder Grotthus. Vilnius 1997. 60 Gespräch zwischen einem Kantor und Organist. In: Für Leser und Leserinnen (1781), 17 (October), pp. 422−428, here pp. 424f. 61 Reinhold Brinkmann: Musikalische Lyrik im 19. Jahrhundert. In: Hermann Danuser (Ed.): Musikalische Lyrik. Vol. 2. Laaber 2004, pp. 9−119, here p. 102. 62 Cf. ibid. 63 “[…] social change, economic challenge, the national awakening of the Latvians and Estonians, administrative centralization, and cultural Russification”. Heide W. Whelan: Adapting to Modernity.

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Fig. 5: [Elisa von der Recke]: Eelihses diwpadesmit swehtas Dseesmas, Latweeschu wallodâ pahrtulkotas no ta Wezza Mahzitaja Stendera [Elisa’s Twelve Sacred Songs, Translated into Latvian Language by the Old Priest Stender]. Jelgava 1789.

the salon culture could be much longer: from the middle of the 19th century when the „family and home become the guarantors of German nationality, German spirits and German customs […] and a woman as a wife and a mother becomes the central agent in this struggle to preserve Baltic Deutschtum“.64 The number of different chamber compositions, solo, duet and multi-voice compositions is growing steadily from the second half of the 18th century. One of the most beloved poets of German composers is the mentioned above enlightened and noble Elisa von der Recke with her spiritual poetry. Her poetry is set by her acquaintances: Adam Hiller, and Friedrich Heinrich Himmel (1765−1814), Carl Friedrich Zelter (1758−1832), and others.65 Adam Hiller, a guest at the House of the Duke of CourFamily, Caste and Capitalism among the Baltic German Nobility. Köln, Weimar and Wien 1999, p. 233. 64 Ibid., pp. 235f. 65 Cf. Gudrun Busch: Die Emanzipation einer “freyen Kurländerin”, oder: Musik und Musiker im Leben Elisa von der Reckes. In: Ulrich Leisinger (Ed.): Die Verbreitung der Werke Carl Philipp Emanuel Bachs in Ostmitteleuropa im 18. und 19. Jahrhundert. Frankfurt a. M. 2002, pp. 360−398;

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land, not only composes, but also edits and publishes her poetry collections. In 1784 Elisa von der Recke in Dresden meets the composer Johann Gottlieb Naumann and they become friends for many years to come. After Naumann’s death, Recke becomes his first biographer and an active promoter of his talent in the German press.66 In 1787, Naumann publishes collection containing twelve songs with Elisa von der Recke’s words accompanied by notes for univocal and polyphonic singing XII. von Elisens geistlichen Liedern beym Clavier zu singen. Naumann dedicates it to Recke’s half-sister, the Duchess of Courland, Dorothea. In the foreword, Naumann gives directions to the songs, calling for precision with piano and forte, but advises to not too blindly follow these directions and pay attention to the accompaniment of the songs as an emotional booster, in particular, in “Gewitterlied” (Thunderstorm song), as well as to appreciate “einfaches deutsches geistliches Lied” (simple German spiritual song), apparently hinting at the affected and stilted arrogance of Italian arias.67 The very same collection with twelve songs is translated by Gotthard Friedrich Stender into Latvian two years later. He does not publish the music notation, but the comparison between the source text and its translation demonstrates that the accuracy of the form allows for the same melody both, in Latvian and German. Stender also devotes his translation of Eelihses diwpadesmit swehtas Dseesmas to the Duchess of Courland, Dorothea von Medem, by explicitly declaring the introduction of the Latvian language into an elite cultural environment – in the Duchess’s Lounge: Tas gaischums, kas eeksch Eelihses swehtahm Dseesmahm walda, un muhsu Tehwusemmei gohdu darra, irr wissu mannu dwehseli ar swehtu ugguni pildījis, tahs paschas Latwiski isdarrinaht. Kam warru es schihs swehtas Dseesmas labbaki nodoht, kà tahm mihligahm un schehligahm Rohkahm muhsu Wissmihļakas Semmes/Mahtes, kas to Latweeschu tautu ne smahde, bet ar tahs semniskâ wallodâ daschu reis schehligi sarunnatees ne atraujahs.68 (The light that dominates Elisa’s sacred songs and celebrates our Fatherland, has filled the whole of my soul with the sacred fire translate these songs into Latvian. Who I can bestow these holy songs on as not on those loving and gracious Hands of our Dearest Mother Earth, who does not spurn Latvian people, but holds a few gracious conversations with them in their native language.) Kornél Magvas: “Unvermerkt entfloh’n unsre Stunden von fünf Uhr Abends bis gegen Mitternacht bei Orpheus Naumann”. Elisa von der Reckes Beziehung zu Johann Gottlieb Naumann und zeitgenössische Vertonungen ihrer Gedichte. In: Valérie Leyh, Adelheid Müller and Vera Viehöver (Ed.): Elisa von der Recke. Aufklärerische Kontexte und lebensweltliche Perspektiven. Heidelberg 2018, pp. 197−227. 66 Cf. Kornél Magvas: Für Freimaurerloge und häuslichen Kreis. Johann Gottlieb Naumann und das Dresdner Liedschaffen im 18. Jahrhundert. Vol. 1. Beeskow 2008, pp. 220−236. 67 Johann Gottlieb Naumann: Vorbericht. In: Ders.: XII. von Elisens geistlichen Liedern beym Clavier zu singen der Durchlauchtigen Herzogin Frauen Frauen Dorotheen Herzogin von Curland und Semgallen u.s.w. unterthänigst gewidmet. Dresden 1787, unpag. 68 Stenderis: Zeeniga un Schehliga Leela Mahte. In: [Elisa von der Recke]: Eelihses diwpadesmit swehtas Dseesmas, Latweeschu wallodâ pahrtulkotas no ta Wezza Mahzitaja Stendera [Elisa’s Twelve Sacred Songs Translated into Latvian Language by the Old Priest Stender]. Jelgava 1789, p. [4].

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The same as with the performance of Graun’s cantata in the 18th century, there is no information about the performance of these songs. However, this could not be an obstacle to assert that in the second half of the 18th century, the foundations not only for Latvian secular literature, but also for a new musical tradition in Latvian – cantata and solo are laid. All of Stender’s contributions and novelties introduced in Latvian music culture, starting with the didactic song of Lied im Volkston type, can be seen as a transfer of German culture to Latvian musical space. Stender’s established genre of ziņģe has particularly far-reaching effects as it still retains its link with the folk culture. Although there are no references to Stender’s translation of Naumann’s solo song and Graun’s cantata in the age of Enlightenment, the emergence of these works on the Baltic book market is considered to be a significant event. The age of peasant or folk enlightenment in the second half of the 18th century and the beginning of the 19th century can be seen not only as the time of the emergence of Latvian secular literature in the broadest sense of literature, but also as the starting point for the transfer of European secular musical tradition to Latvian culture, e. g. solo songs and cantata, as well as didactic, easy to sing and easy to remember ziņģe, known at that time as Lied im Volkston. This tradition evolves and exists side by side with Latvian traditional music – folk songs and instrumental music – and dominates in the public sphere: church, Latvian schools and even the first Latvian song festivals (1864–1873), little by little from the middle of the 19th century onwards leaving its place to the Latvian national music based on Latvian folk traditions.

Autorinnen und Autoren Heinrich Bosse, Dr., pens. Akad. ORat am Deutschen Seminar der Universität Freiburg. Forschungsschwerpunkte: Sozial-, Bildungs- und Öffentlichkeitsgeschichte des 18. Jahrhunderts, Jakob Michael Reinhold Lenz. Ausgewählte Publikationen: Medien, Institutionen und literarische Praktiken der Aufklärung (2021); Bildungsrevolution 1770–1830 (2012); Baltische Literaturen in der Goethezeit (Mithg., 2011); Autorschaft ist Werkherrschaft. Über die Entstehung des Urheberrechts aus dem Geist der Goethezeit (1981/2014). Tristan Coignard, Prof. Dr., Professor für Germanistik an der Universität Bordeaux Montaigne und Fellow am Institut universitaire de France (2018–2023). Forschungsschwerpunkte: Ideen-, Medien- und Kulturgeschichte des deutschsprachigen Raums (18.–21. Jahrhundert), deutsch-französische Kulturtransfers, deutsch-amerikanische Geschichtsschreibung. Ausgewählte Publikationen: Le transnational au prisme des études germaniques (Mithg., 2021); Une histoire d’avenir (2017); Politique et cosmopolitique (Mithg., 2015); Enlightenment and History (Mithg., 2010); L’apologie du débat public (2009). Pauls Daija, Dr., leitender Forscher in der Nationalbibliothek Lettlands, 2006–2021 leitender Forscher an der Universität Lettlands. 2008–2012 Lektor an der Universität Lettlands, 2013–2018 Chefredakteur der Zeitschrift für humanitäre Wissenschaften Letonica. Forschungsschwerpunkte: lettische literarische Kultur des 18.–19. Jahrhunderts, Aufklärung, lettisch-deutsche Kulturbeziehungen. Ausgewählte Publikationen: Literary History and Popular

Enlightenment in Latvian Culture (2017); Apgaismība un kultūrpārnese [Aufklärung und Kulturtransfer] (2013). Andreas Degen, apl. Prof. Dr., Mitarbeiter am Institut für Germanistik der Universität Potsdam, 2008–2012 Projektleiter am Exzellenz-Cluster „Languages of Emotion“ an der Freien Universität Berlin, 2003–2008 DAAD-Lektor für deutsche Literatur und Sprache an der Universität Klaipėda (Litauen) und an der Comenius-Universität Bratislava (Slowakei). Forschungsschwerpunkte: Kanon- und Heterogenitätsforschung, Literatur- und Ästhetikgeschichte, Erinnerungskulturen. Ausgewählte Publikationen: Concepts of fascination, from Democritus to Kant (in: Journal of the History of Ideas 2012); Leidenschaftliche Aufmerksamkeit. Verblendung als Grenze und Bedingung des Ästhetischen bei Georg Friedrich Meier (in: Eickenrodt [Hg.]: Blindheit. Zur Genealogie eines Topos in Literatur und Ästhetik (1750–1850), 2012); Zeit aus Schweigen. Johannes Bobrowski. Leben und Werk (Mithg., 2009). Rémy Duthille, Dr., Dozent für britannische Kultur in der Anglistikabteilung der Universität Bordeaux Montaigne, Lehrbeauftragter an der Universität Paris Diderot 2008-2010, Doktorand an der Universität Paris 3 Sorbonne Nouvelle und der Universität Edinburgh. Forschungsschwerpunkte: Geschichte Großbritanniens, Ideengeschichte politischer u. religiöser Radikaler, englische Literatur des 18. Jahrhunderts, Geschichte des politischen Denkens vom 17. bis zum 20. Jahrhundert. Ausgewählte Publikationen: Sociability and democratic practices in Britain and Ireland, 1789–

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Autorinnen und Autoren

1832 (Mithg., 2021); Le Discours radical en Grande-Bretagne, 1768–1789 (2017); Sociabilité et convivialité en Europe et en Amérique aux XVIIe et XVIIIe siècles (Mithg., 2013). Jost Eickmeyer, Dr., wiss. Mitarbeiter am Institut für Kirchen- und Dogmengeschichte der Universität Hamburg sowie am Exzellenzcluster „Understanding Written Artefacts“ ebenfalls der UHH, 2015–2017 wiss. Mitarbeiter am Institut für Deutsche und Niederländische Philologie der Freien Universität Berlin, 2009–2015 wiss. Angestellter am Germanistischen Seminar der Universität Heidelberg. Forschungsschwerpunkte: deutsche Literatur und Kultur der Frühen Neuzeit unter Einschluss des Neulateinischen; baltisch-deutsche Kulturbeziehungen; Intermedialität u. Literatur von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart. Ausgewählte Publikationen: Genelogical Knowledge in the Making (Mithg., 2019); Baltisch-deutsche Kulturbeziehungen vom 16. bis 19. Jahrhundert. 2 Bde. (Mithg., 2019 u. 2017); Gretchen – Mörderin, Verführte, Unschuldige? Goethes Margarete in interdisziplinärer Perspektive (Mithg., 2018). Ruth Florack, Prof. Dr., Professorin für Neuere deutsche Literatur an der Universität Göttingen, 1995–2004 Wissenschaftliche Mitarbeiterin und Wissenschaftliche Assistentin an der Universität Stuttgart, 1989– 1993 DAAD-Lektorin an der Université de Rouen. Forschungsschwerpunkte: Literatur des 18.  Jahrhunderts, Jahrhundertwenden 1700, 1800 und 1900, Stereotype in Literatur, Kulturtransfer Frankreich-Deutschland, Sexualdiskurs und Literatur, Literatur und Gedenkkultur. Ausgewählte Publikationen: Gallotropismus – Bestandteile eines Zivilisationsmodells und die Formen der

Artikulation (Mithg., 2016); Die Kunst der Galanterie. Facetten eines Verhaltensmodells in der Literatur der Frühen Neuzeit (Mithg. 2012); Bekannte Fremde. Zu Herkunft und Funktion nationaler Stereotype in der Literatur (2007); Tiefsinnige Deutsche, frivole Franzosen. Nationale Stereotype in deutscher und französischer Literatur (2001); Nation als Stereotyp. Fremdwahrnehmung und Identität in deutscher und französischer Literatur (Hg., 2000). Tiina-Erika Friedenthal, Dr., wiss. Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Weltliteratur an der Universität Tartu. Forschungsschwerpunkte: Geistesgeschichte (insb. Theologie, Theater, geistliche Dichtung) der frühen Neuzeit in Estland und Livland, insbesondere Aufklärung, Pietismus, Herrnhuter Brüdergemeine. Ausgewählte Publikationen: Balti kirjakultuuri ajalugu I: Keskused ja kandjad [Geschichte der baltischen literarischen Kultur I: Zentren und Träger] (Mitautorin, 2021); Võitlus ja väitlus teatri üle Eesti- ja Liivimaal 18. sajandi lõpus ja 19. sajandi alguses [Streit und Debatte um das Theater in Estland und Livland Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts] (Diss., 2020). Daniel Fulda, Prof. Dr.,  Professor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Halle-Wittenberg, 2007– 2020 Leiter des Interdisziplinären Zentrums für die Erforschung der Europäischen Aufklärung (Halle), Gastprofessuren in Paris (EPHE), Notre  Dame (USA) und Lyon (ENS), seit 2016 Ordentliches Mitglied der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, 2019 Wahl zum Second Vice-President der International Society for Eighteenth-Century Studies. Aktuelle Publikationen: Seit wann und warum gibt es

Autorinnen und Autoren „deutsche Klassiker“? Zwölf Thesen im Ausgang von Klassiker-Erwartung und Buchmarkt des langen 18. Jahrhunderts (2021); Revolution trifft Aufklärungsforschung. 1989/90, DDR-Erbe und die Gründung des hallischen Aufklärungszentrums (Hg., 2021); Aufklärung fürs Auge. Ein anderer Blick auf das 18. Jahrhundert (Hg., 2020); „Die Geschichte trägt der Aufklärung die Fackel vor.“ Eine deutsch-französische BildGeschichte (2017).

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Gottfried Herder, Poetik und Ästhetik der Aufklärung, Rhetorik, Wahrnehmung und Bilddenken. Ausgewählte Publikationen: Anschauung oder Anschaulichkeit? Sinntransparenz, Rhetorik und Epistemologie als Bezugsgrößen eines alltagssprachlichen Sinnkonzeptes (in: Adler/Gross [Hg.]: Anschauung und Anschaulichkeit. Visualisierung im Wahrnehmen, Lesen und Denken, 2016); ,... ganz andre Beredsamkeit.‘ Transformationen antiker und moderner Rhetorik bei Johann Gottfried Herder (2007).

Māra Grudule, Prof. Dr., Professorin für lettische Literatur an der Universität Lettlands, wiss. Mitarbeiterin im Institut für Literatur, Folklore und Kunst der Universität Lettlands. Forschungsschwerpunkte: Literatur des 16. bis 19. Jahrhunderts, Deutschbaltische Literatur- und Kulturgeschichte. Ausgewählte Publikationen: Gotthard Friedrich Stender (1714–1796) und die Aufklärung im Baltikum (Hg., 2018); Latviešu dzejas sākotne 16. un 17. gadsimtā kultūrvēsturiskos kontekstos [Die Anfänge der lettischen Dichtung im 16. und 17.  Jahrhunderten in kulturhistorischen Kontexten] (2017); „Mach dich auf und werde Licht – Celies nu un topi gaišs“ Zu Leben und Werk Ernst Glücks (1654– 1705). Akten der Tagung anlässlich seines 300.Todestages vom 10. bis 13. Mai 2005 in Halle (Mithg., 2010).

Vinzenz Hoppe, wiss. Mitarbeiter an der Professur Kulturen der Aufklärung am Institut für Germanistik der Universität Potsdam, Mitarbeiter der Arbeitsstelle GrimmBriefwechsel an der Humboldt-Universität zu Berlin und Lehrer am Rosa-LuxemburgGymnasium in Berlin, Projektbetreuung der Erasmus+ Strategischen Hochschulpartnerschaften „Medienpraktiken der Aufklärung“ (2016–2019) und „Die Zukunft des kulturellen Erbes im modernen Europa“ (2019–2022) sowie der Germanistischen Institutspartnerschaft Potsdam-Tartu. Forschungsschwerpunkte: Geschichte der Germanistik, Aufklärung, Romantik, Briefedition sowie Jacob und Wilhelm Grimm. Ausgewählte Publikationen: Symphilologie. Formen der Kooperation in den Geisteswissenschaften (Mithg., 2016).

Björn Hambsch, Dr., Lehrbeauftragter am Zentrum für Qualitätsverbesserung in Studium und Lehre der Hochschule RheinWaal (HSRW), 2013 Brittingham Resident an der University of Wisconsin Madison, 2007–2009 Lehrbeauftragter am Seminar für Allgemeine Rhetorik der Universität Tübingen. Forschungsschwerpunkte: Rhetorik und Kommunikationsgeschichte von der Antike bis zur frühen Neuzeit, Johann

Kairit Kaur, Dr., wiss. Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Weltliteratur an der Universität Tartu und wiss. Mitarbeiterin an der Baltica-Abteilung der Akademischen Bibliothek der Universität Tallinn. Forschungsschwerpunkte: Baltische Literatur- und Kulturgeschichte, ihre Beziehungen zu Westeuropa, frühe Frauenliteratur im Baltikum. Ausgewählte Publikationen: Balti kirjakultuuri ajalugu I. Keskused

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Autorinnen und Autoren

ja kandjad.  [Geschichte der baltischen Schriftkultur I. Zentren und Träger] (Mitautorin, 2021); Totentanz and Graveyard Poetry: About the Baltic German Reception of English Graveyard Poetry (in: Methis: Studia humaniora Estonica 21/22, 2018); Recke – Becker – Reimarus oder Sophie zwischen Elise(n) und Emilie. Ein Beitrag zur Entstehung der frühen belletristischen Prosa von baltischen Frauen (in: Leyh/Müller/Viehöfer [Hg.]: Elisa von der Recke. Aufklärerische Kontexte und lebensweltliche Perspektiven, 2018); Dichtende Frauen in Est-, Liv- und Kurland, 1654–1800. Von den ersten Gelegenheitsgedichten bis zu den ersten Gedichtbänden (Diss., 2013). Kadi Kähär-Peterson, Doktorandin im Institut für Geschichte der Universität Tartu. Forschungsschwerpunkte: politische Ideengeschichte des 18.–19. Jahrhunderts, Baltische Geschichte. Ausgewählte Publikation: Garlieb Merkel’s Plans for a History of Humanity (in: Māra Grudule [Hg.]: Zum 250. Geburtstag von Garlieb Merkel. Beiträge und Ausstellungskatalog, 2021; i. V.). Martin Klöker, Dr., Senior Researcher (exterritorial) am Under und Tuglas Literaturzentrum der Estnischen Akademie der Wissenschaften in Tallinn, 1996–2010 wiss. Mitarbeiter in Projekten zur „Erfassung und Erschließung von personalen Gelegenheitsschriften“ am Interdisziplinären Institut für Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit (IKFN) der Universität Osnabrück, 1993–1996 DFG-Graduiertenkolleg „Bildung in der Frühen Neuzeit“. Forschungsschwerpunkte: Literatur der Frühen Neuzeit, Gelegenheitsdichtung, Baltische Literatur- und Kulturgeschichte, Buch- und Bibliotheksgeschichte. Ausgewählte Publi-

kationen: Baltische Bildungsgeschichte(n) (Mithg, i. V.); Davild Hilchen: Sub velis poetices. Lateinische Gedichte (Mithg., 2021); Balti kirjakultuuri ajalugu I: Keskused ja kandjad [Geschichte der baltischen literarischen Kultur I: Zentren und Träger] (Mitautor, 2021); Caspar und Catharina. Eine Revaler Liebe in Briefen des 17. Jahrhunderts (2020); Literarisches Leben in Reval in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts (2005, estn. Übers. 2014). Liina Lukas, Prof. Dr., Professorin der vergleichenden Literaturwissenschaft an der Universität Tartu, Leiterin der Digitalen Textsammlung der älteren Literatur Estlands EEVA. Forschungsschwerpunkte: Estnisch-deutsche Literaturbeziehungen (gegenseitige Wahrnehmung, geteiltes Erbe, Volksüberlieferung als Quelle der Literatur, Frauenliteratur etc.), deutschbaltische Literatur, Europäische, darunter Baltische Literatur der Aufklärung, methodologische und theoretische Probleme der vergleichenden Literaturwissenschaft aus der Perspektive kleiner Literaturen, Rezeptionsgeschichte. Ausgewählte Publikationen: Balti kirjakultuuri ajalugu [Geschichte der baltischen literarischen Kultur] (Hg., 2021); Herder on Empathy and Sympathy (Mithg., 2020); Politische Dimensionen der baltischen literarischen Kultur (Mithg., 2018).  Juhan Maiste, Prof. Dr., Professor für Kunstgeschichte an der Universität Tartu, 1993–2007 Professor für Kunstgeschichte und Denkmalpflege an der Estnischen Kunstakademie, 1990–2002 Gastprofessor in Helsinki, Turu, Oulu, Greifswald, Rom. Forschungsschwerpunkte: Philosophie der Denkmalpflege, Landschafts- und Gutshausarchitektur, Baltische Architektur und Kunstgeschichte von der Renaissance

Autorinnen und Autoren bis zum Klassizismus. Ausgewählte Publikationen: Johann Wilhelm Krause, Tartu ülikooli arhitekt (1757–1828). Arhitektuuriajaloolised teaduskataloogid 1 – 5 [Johann Wilhelm Krause, Architekt der Universität Tartu (1757–1828). Architekturgeschichtliche Kataloge 1–5] (1999–2019); Eesti kunsti ajalugu. 3, 1770–1840 [Estnische Kunstgeschichte. Bd. 3, 1770–1840] (Mithg. u. Mitautor, 2017); aktuelles Projekt einer kooperativen Monographie: Eesti mõisaarhitektuur. 13. sajandist 20. sajandini [Estnische Gutshausarchitektur vom 13. bis zum 20. Jahrhundert]. Jean Mondot, Prof. Dr., Prof. em., Universität Bordeaux-Montaigne. Forschungsschwerpunkte: Literatur des 18. Jahrhunderts, Ideengeschichte, Kulturtropismus. Ausgewählte Publikationen: Gallotropismus und Zivilisationsmodelle im deutschsprachigen Raum. 4 Bde (Mithg., 2016– 2019); D’Amalie (Malchen) à Recha, de la belle-fille de Lessing à la fille adoptive de Nathan (2019); L’aforistica di Lichtenberg come scrittura da Outsider (2016). Silke Pasewalck, Dr., wiss. Mitarbeiterin im Bundesinstitut für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa (BKGE) und Lehrbeauftragte an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, 2010–2018 Assoziierte Professorin für deutsche Literatur an der Universität Tartu (Estland), 2000–2005 DAAD-Lektorin für deutsche Literatur und Sprache an der Nikolaus-Kopernikus-Universität in Toruń (Polen). Forschungsschwerpunkte: Literatur des 18. bis 21. Jahrhunderts (insb. Aufklärung, klassische Moderne und Gegenwartsliteratur), Baltische Literaturund Kulturgeschichte, Alteritätsdiskurse in der Literatur. Ausgewählte Publikationen:

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Baltische Bildungsgeschichte(n) (Mithg.; i. V.); Bildungspraktiken der Aufklärung (Mithg., 2020); Zum Beispiel Estland: Das eine Land und die vielen Sprachen (Mithg., 2017); Interkulturalität und (literarisches) Übersetzen (Mithg., 2014). Kaspar Renner, wiss. Mitarbeiter an der Professur Kulturen der Aufklärung am Institut für Germanistik der Universität Potsdam und Lehrer am evangelischen Gymnasium zum Grauen Kloster in Berlin, Projektbetreuung der Erasmus+ Strategischen Hochschulpartnerschaften „Medienpraktiken der Aufklärung“ (2016–2019) und „Die Zukunft des kulturellen Erbes im modernen Europa“ (2019–2022) sowie der Germanistischen Institutspartnerschaft Potsdam-Tartu. Forschungsschwerpunkte: Herder, deutsch-baltische Literatur- und Kulturbeziehungen, Gegenwartsliteratur. Ausgewählte Publikationen: „Ausweg zu Liedern fremder Völker“. Antikoloniale Perspektiven in Herders Volksliedprojekt (in: Mix/Arend [Hg.]: Herder – Raynal – Merkel. Transformationen der Antikolonialismusdebatte in der europäischen Aufklärung, 2017); Eine „Kopernikanische“ Wende? Zur Bedeutung der „Philosophieschrift“ für Herders ästhetische Bildungstheorie und -praxis der Rigaer Jahre (in: Herder-Jahrbuch 14, 2018). Aiga Šemeta, Mitarbeiterin im Projekt „A New History of Latvian Literature: The Long 19th Century“ am Institut für Literatur, Folklore und Kunst an der Universität Lettlands, Lektorin für Lettisch an der Universität Greifswald. Forschungsschwerpunkte: Öffentlichkeit, Aufklärung, Pressegeschichte im Baltikum im 18. und 19.  Jahrhundert. Ausgewählte Publikationen: Deutsche Periodika im Baltikum bis

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Autorinnen und Autoren

1800 (in: Taterka/Bosse/Elias [Hg.]: Baltische Literaturen der Goethezeit, 2011); Warum sollen Bauern Zeitungen lesen? Zum bäuerlichen ‚impliziten‘ Leser und zur (simulierten) Öffentlichkeit der Bauern in Kurland und Livland in der ersten Hälfte des 19.  Jahrhunderts (in: Bičevskis/Eickmeyer/Levans u. a. [Hg.]: Baltisch-deutsche Kulturbeziehungen vom 16. bis 19.  Jahrhundert. Medien –Institutionen – Akteure. Band  II. Zwischen Aufklärung und nationalem Erwachen, 2019). Aira Võsa, Dr., wiss. Mitarbeiterin in der Akademischen Bibliothek der Universität Tallinn, 2008–2014 wiss. Mitarbeiterin und Bibliothekarin in der Universitätsbibliothek Tartu, 2007–2008 Lektorin im Theologischen Institut der Estnischen Evangelischen Lutherischen Kirche. For-

schungsschwerpunkte: Baltische Kirchenund Kulturgeschichte, radikaler Pietismus und Mystik. Ausgewählte Publikationen: Am Beginn des achten Jahrhunderts: Die Ritter- und Domschule zu Reval 1319– 2019 (Mitautorin, 2020). Die Bittschriften der estnischen Nationalgehilfen als ein Zeugnis der Wirksamkeit des herrnhutischen Kulturtransfers (in: Soboth/Schmid/ Allbrecht-Birkner [Hg.]: „Schrift soll leserlich seyn“. Der Pietismus und die Medien. Beiträge zum IV. Internationalen Kongress für Pietismusforschung 2013. 2. Bd., 2016); Johann Georg Gichtels Verhältnis zum anderen Geschlecht in Leben und Lehre (in: Breul/Meier/Vogel [Hg.]: Der radikale Pietismus. Perspektiven der Forschung: „Der radikale Pietismus“. Bilanz und Perspektiven der Forschung, 2010).