Die Kommunikation der Medien [Reprint 2012 ed.] 9783110910667, 9783484350977

This collection assembles articles pursuing a programmatic combination of approaches from media studies and cultural stu

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German Pages 305 [308] Year 2004

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Table of contents :
Einleitung
Der Unterschied der Medien
Diskurs und Medium. Noten zur Grundlegung einer historischen Techno-Logie
Medien und ihre kulturelle Konkretion. Eine ethnologische Perspektive
Die Verfahren der Medien: Transkribieren – Adressieren – Lokalisieren
Resistenz und Transparenz der Zeichen. Der verdeckte Mentalismus in der Sprach- und Medientheorie
Die Medialität der Intertextualität – Die Textualität der Intermedialität – Das Bild der Seife
Die Intermedialität des Photographischen
Die Szene der (medien-)technischen Überlegenheit und ihre Brechung. Zur Sozialgeschichte der Unterscheidung von Schriftlichkeit und Mündlichkeit. Ein Kommentar zu Forschungen Michael Harbsmeiers
Rhetorik des Neuen. Mediendiskurse zwischen Buchdruck, Zeitung, Film, Radio, Hypertext und Internet
»Verwaltung für menschliche Wünsche und Tatsachen«. Utopie und Krise der Gesellschaft in Mediendiskursen
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Die Kommunikation der Medien [Reprint 2012 ed.]
 9783110910667, 9783484350977

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STUDIEN UND TEXTE ZUR SOZIALGESCHICHTE DER LITERATUR

Herausgegeben von Wolfgang Frühwald, Georg Jäger, Dieter Langewiesche, Alberto Martino, Rainer Wohlfeil

Band 97

Die Kommunikation der Medien

Herausgegeben von Jürgen Fohrmann und Erhard Schüttpelz

Max Niemeyer Verlag Tübingen 2004

Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft

Redaktion des Bandes: Georg Jäger

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN 3-484-35097-0

ISSN 0174-4410

© Max Niemeyer Verlag GmbH, Tübingen 2004 http://www.niemeyer.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Druck: Memminger MedienCentrum, Memmingen Einband: Buchbinderei Geiger, Ammerbuch

Inhaltsverzeichnis

Jürgen Fohrmann Einleitung

1

Jürgen Fohrmann Der Unterschied der Medien

5

Bernhard J. Dotzler Diskurs und Medium Noten zur Grundlegung einer historischen Techno-Logie

21

Tobias Wendl Medien und ihre kulturelle Konkretion Eine ethnologische Perspektive

37

Ludwig Jäger Die Verfahren der Medien: Transkribieren - Adressieren - Lokalisieren

69

Gisela Fehrmann / Erika Linz Resistenz und Transparenz der Zeichen. Der verdeckte Mentalismus in der Sprach- und Medientheorie

81

Axel Fliethmann Die Medialität der Intertextualität - Die Textualität der Intermedialität Das Bild der Seife

105

Matthias Bickenbach Die Intermedialität des Photographischen

123

Erhard Schüttpelz Die Szene der (medien-)technischen Überlegenheit und ihre Brechung. Zur Sozialgeschichte der Unterscheidung von Schriftlichkeit und Mündlichkeit. Ein Kommentar zu Forschungen Michael Harbsmeiers . . .

163

VI

Inhaltsverzeichnis

Leander Scholz / Hedwig Pompe / Albert Kümmel / Eckhard Schumacher Rhetorik des Neuen Mediendiskurse zwischen Buchdruck, Zeitung, Film, Radio, Hypertext und Internet

177

Torsten Hahn / Nicolas Pethes / Irmela Schneider »Verwaltung für menschliche Wünsche und Tatsachen« Utopie und Krise der Gesellschaft in Mediendiskursen

275

Jürgen Fohrmann

(Bonn)

Einleitung

Der vorliegende Band versammelt Beiträge, die - auch in allen gegenstandsbezogenen Entfaltungen - grundsätzlich programmatisch ausgerichtet sind. Dem Arbeitszusammenhang des Kulturwissenschaftlichen Forschungskollegs Medien und kulturelle Kommunikation (einem Forschungsverbund der Universitäten Aachen, Bonn und Köln) entstammend, versuchen sie, insbesondere den Einsatzpunkt medienwissenschaftlicher Forschung zu diskutieren. Die Strittigkeit eines solchen Einsatzpunkts läßt sich vornehmlich auf die Frage zurückführen, ob von einem technischen oder von einem Symbolsystem-bezogenen Apriori auszugehen ist. Ist mithin die technisch-apparative Verfaßtheit eines Mediums in seiner determinierenden oder zumindest überdeterminierenden Kraft an den sozialen Prozessen als >Klartext< ablesbar oder kann die Wirkungsmächtigkeit von Medien nur aus einer Analyse von Symbolsystemen gewonnen werden, der die >Eigentlichkeit< dieses Mediums unoder zumindest unterbestimmt bleibt, weil sie sich in ihrem So-Sein jenseits der durch sie hervorgebrachten Formen grundsätzlich entzieht? Auch wenn sich im vorliegenden Band - wie nicht anders zu erwarten - in dieser Frage keine unisono akklamierte Position festmachen läßt, so neigen doch die meisten Beiträge zu einer kulturellen Fundierung des Medienbegriffs und nicht zu einer medientechnischen Fundierung von Kultur. Eröffnet wird die beschriebene Spannung durch die Texte von Jürgen Fohrmann und Bernhard Dotzler, in denen einerseits ein Plädoyer für die kulturelle Rahmung von Medienanalysen gehalten und andererseits die Transformation von der Diskurs- zur Technikanalyse betont und vollzogen wird. Der erste Beitrag (Fohrmann) entfaltet zunächst das Spektrum kurrenter medienwissenschaftlicher Annahmen und entwickelt dann Argumente, die gegen die Möglichkeit einer absoluten Funktionsbestimmung von Einzelmedien sprechen; alles, was man über Medien wissen kann, erfährt man nur aus einem Medienvergleich, und zwar stets in einer konkreten historischen Situation, in einem kulturell geprägten Kontext. Der zweite Beitrag (Dotzler) setzt diese Überzeugung ins Verhältnis zu der von einer medienwissenschaftlichen Position immer wieder vertretenen These, daß eine Ablösung des Menschen (und seiner Diskurse) durch eine Technik feststellbar sei, die selbst zum Adressaten der Medien wird und in ihren Schaltungen eine >posthumane< Adressenordnung entfaltet. Ging es in den beiden ersten Beiträgen um das Beziehungsgeflecht von Medien Technik - Kultur, so nimmt der dritte Text (Wendl) sowohl die Medienvergessenheit der Kulturtheorien als auch die Kulturvergessenheit der Medientheorien in den

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Jürgen Fohrmann

Blick; er erläutert - aus ethnologischer Perspektive - die jeweiligen kulturellen wie medialen Transformationen, die entstehen, wenn moderne mediale Praktiken in weitgehend >indigeneSinn< untersteht damit stets Prozessen der Remediatisierung, die von Jäger als Transkriptionsvorgänge. zwischen Medien begriffen werden, bei denen Rahmung und (Re-)Adressierung sich wechselseitig bedingen. Nach Transkription diskutieren Gisela Fehrmann und Erika Linz mit Zeichen einen fünften Begriff, der in Medientheorien systematisch einzubeziehen ist. Ausgehend von einer Kritik an mentalistischen Konzepten wird die konstitutive Rolle des Mediums auch für mentale Prozesse behauptet und zugleich der Nachweis zu führen versucht, daß bereits mit Saussures Zeichenbegriff ein Modell entwickelt wird, das über die Type/Token-, Kompetenz/Performanz- oder Ereignis/Wiederholungsschemata hinausführt und das es erlaubt, Medialität nicht als i/ftermittlungs-, sondern als Vermittlungszusammenhang zu denken. Die beiden nächsten Beiträge (Fliethmann und Bickenbach) gehen einer Reihe von Annahmen nach, die Theorien von Intermedialität eigen sind. Dabei steht zunächst der Modellcharakter des aus den Literaturwissenschaften bekannten Intertextualitätsansatzes für Beschreibungen von Intermedialität im Vordergrund; das Verhältnis von Medien zu Text wird als eine wechselseitige >Blindheit< gekennzeichnet. Dann werden die Versuche vorgestellt, in der Akzentuierung eines Mediums des intermedialen Vergleich eine Schwerpunktsetzung vorzunehmen, die die gesamte mediale Konfiguration interpretiert und sich auf diese Weise eine Möglichkeit von Medienkritik eröffnet. Das Konzept >Intermedialität< wird in beiden Texten in seiner Leistungsfähigkeit bewertet und der Vorschlag gemacht, das Verhältnis von Medien zueinander insbesondere als Medienbruch zu fassen. Die beiden nachfolgenden Beiträge (Schüttpelz; Scholz/Pompe/Kümmel/Schumacher) setzen die medienvergleichende Perspektive fort und rekonstruieren mediale Ensembles. Die Idee des >Medienbruchs< als wechselseitiger Bezug von Medien auf Medien wird implizit aufgenommen und an jenem Zeitpunkt beobachtet, an dem sich mit der Etablierung eines neuen Mediums eine Distanznahme und Abwertung überkommener Medien vollzieht (so werden im Falle ethnologischer Darstellungen jetzt >nur mündliche< Verbände konstruiert, um die Überlegenheit von Schriftgesellschaften zu zeigen). Besonders steht der Versuch im Vordergrund, die Versprechen nachzuzeichnen, die stets mit dem Aufkommen neuer Medien verbunden sind. Es wird anhand einer langen Reihe (zwischen dem Humanismus des 16. Jahrhundert und dem Hypertext; mit den Medien Buchdruck, Zeitung, Radio, Film, Computer) detailliert vorgeführt, daß neue Medien sich in der Regel als die

Einleitung

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Erfüllung all' jener Zusagen, die auch schon die bislang tradierten Medien gegeben haben, zu verstehen suchen. Schließlich wird der Prominenz des Diskurses über Medien nachgegangen. In der Rede über Medien (Beitrag Hahn/ Pethes/ Schneider) wird ein Schauplatz eröffnet, auf dem die Gesellschaft sich selbst diskutiert, indem sie ihr Wissen über die Medien und deren Bedeutung immer wieder aufs Neue einzuschätzen versucht und zu einer Kardinalfrage gesellschaftlicher Entwicklung erklärt. Die Herausgeber danken der Deutschen Forschungsgemeinschaft für die Gewährung eines Druckkostenzuschusses, dem Max Niemeyer Verlag für die Aufnahme in sein Programm, Ellen Jünger und Christopher Strunz für die Hilfe bei der Drucklegung des Bandes.

Jürgen Fohrmann

(Bonn)

Der Unterschied der Medien

Der Blick auf >TechnikMedien< und von ihnen ausgehend auf >Medialität< riskiert in seinen Folgerungen jenes zwingende Argument, das Theorien mit überdeterminierendem Charakter stets eigen war: Die Auswirkungen der Technik zeigen sich nicht in Meinungen und Vorstellungen, sondern sie verlagern das Schwergewicht in unserer Sinnesorganisation oder die Gesetzmäßigkeiten unserer Wahrnehmung ständig und widerstandslos. 1

Diese Auswirkungen der Technik, wenn sie denn für die gesellschaftliche Kommunikation von Relevanz sein sollen, formieren Medien und gestalten durch sie »die Veränderung des Maßstabs, Tempos oder Schemas«2 menschlichen Zusammenlebens. Marshall McLuhan, von dem die Sätze stammen, formuliert jenen Anspruch, mit dem Medientheorie nach ihm stets beginnt: Es reiche nicht aus, gesellschaftliche Kommunikationen auf ihre Formen hin zu untersuchen, sie nach Textsorten, Gattungen o. ä. einzuteilen; es genüge schon gar nicht, nur Inhalte in den Blick zu nehmen. »Denn der >Inhalt< eines Mediums ist mit dem saftigen Stück Fleisch vergleichbar, das der Einbrecher mit sich führt, um die Aufmerksamkeit des Wachhundes abzulenken.«3 Man muß Formen wie Inhalte als die Hervorbringungen jeweils spezifischer Medien (des einen und nicht des anderen) begreifen. Die jeweilige Form trägt die Spuren der sie konstituierenden Medialität unhintergehbar. M. a. W.: Das Medium ist der Unterschied, das den Unterschied macht - um mit einer berühmt gewordenen Formel Gregory Batesons zu spielen.4 Oder gar: Das Medium ist der Ausgang der Form aus ihrer selbstverschuldeten Unmündigkeit. Kant zum Gruße. Dieser Befund ist wohl nur schwer zu widerlegen, und da er gerade jetzt, unter dem Siegeszug digitaler Techniken, zu so allgemeiner Akzeptanz geronnen ist, daß er die Hitliste wissenschaftlicher Alt- wie Neuvorhaben ganz unstrittig anführt, stellt sich die Notwendigkeit um so stärker, den Implikationen dieses Befundes genauer nachzugehen. Im Mittelpunkt steht daher im folgenden, der Zauberformel >Medialität< (und ihrem Versprechen) etwas näher zu kommen.5 1 2 3 4 5

Marshall McLuhan: Die magischen Kanäle. Düsseldorf-Wien. 2. Aufl. 1970. S.25. M. McLuhan: Magische Kanäle (Anm. 1). S. 14. M. McLuhan: Magische Kanäle (Anm.l). S. 24/25. Gregory Bateson: Ökologie des Geistes. Frankfurt/M.1985. Zumal, wenn es darum geht, die gegenwärtige Gesellschaft als eine vollkommen mediatisierte zu begreifen; vgl. Rudolf Maresch: Mediatisierung. Dispositiv der Öffentlichkeiten 1800/2000. In: Ders. (Hg.): Medien und Öffentlichkeit o.0.1996. S. 11-29.

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Jürgen Fohrmann

Daß >Medialität< vorgängig, damit unhintergehbar und universell am Werk ist, ist so richtig wie ««beobachtbar. Sie tritt damit in die Reihe jener Kategorien, die als Einheitsformeln dienen und in dieser Funktion dazu tendieren, differenzlos und damit unbestimmbar zu werden. >Geist< ist einer der Begriffe, der lange eine ähnliche Rolle zu spielen hatte: Hinter den Formen verbirgt sich ein sie hervorbringender >Geist der EpocheSäkulumsWeltgeschichte< usw., der als Beweger wirkt, selbst aber vollständig immateriell und nur in mystischer Überwältigung spürbar ist. Die Rede von >Medialität< allerdings wendet diese Rolle in ihren argumentativen Zusammenhängen spiegelbildlich: Hinter den Formen enibirgt sich für sie ein materieller Träger, dessen So-Sein die Formen und den Inhalt der Aussagen präge. Die Beobachtung dieser >Entbergung< changiert dabei zwischen Sicht- und Unsichtbarkeit, Hör- und Nichthörbarkeit, zwischen >Spur< und >blindem FleckÜberschuß< an Sinn [,..].«8 Die Stimme etwa, dies ist ihr erstes Beispiel, »verhält sich also zur Rede, wie eine unbeabsichtigte Spur sich zum absichtsvoll gebrauchten Zeichen verhält.«9 Dies einräumend läßt sich folgern: »Das Medium ist nicht einfach die Botschaft; vielmehr bewahrt sich an der Botschaft die Spur des Mediums.«10 Das Rauschen oder Flimmern eines Kanals wäre in diesem Sinne jene mediale Spur, von der sich der distinkte Ausdruck einer Mitteilung abhöbe. Um dieses Changieren zwischen Sicht- und Unsichtbarkeit allein als Funktion (und Fiktion) unseres Diskurses zu markieren, sollte besser von einer Spurfunktion gesprochen werden, die im Rahmen der Unterscheidung materieller Träger-Botschaft/Sinn< die Seite des leeren, aber verursachenden Prinzips übernimmt, das der vollen Bezeichnung, der bestimmten Form, gegenübersteht. An sich ist diese Spur das Undifferenzierte schlechthin, und wenn sie beobachtet werden soll, dann ist dies ebenfalls nur als Form und damit in einer Unterscheidung möglich. Das Rauschen auf dem Sender ist dann auch eine Form, aber eine solche, die den Hörer sofort auf die Medialität des Mediums verweist und das Medium als Medium einem komparativen Beobachtungsversuch unterzieht. Im folgenden soll daher die These vertreten werden, daß die Funktion oder die Leistung, die je spezifischen Eigenschaften von Medien nur im Medienverg/eic/t zu

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Wie leicht zu sehen: Die Beschreibung dieser Relation nutzt selbst mediale Metaphern. Sybille Krämer: Das Medium als Spur und als Apparat. In: Dies. (Hg.): Medien. Computer. Realität. Wirklichkeitsvorstellungen und Neue Medien. Frankfurt/M.1998. S.74. S. Krämer, Medium als Spur (Anm.7). S. 78/79. S. Krämer, Medium als Spur (Anm.7). S.79. S. Krämer, Medium als Spur (Anm.7). S.81.

Der Unterschied der Medien

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rekonstruieren sind und daß diesen Vergleich eine mediale Reflexion von Anfang an begleitet. Wenn etwa Plato in der Geschichte von Theuth und Thamus im Phaidros die grundsätzlichen Argumente für und wider die Einführung der Schrift diskutiert, und zwar im Bezug auf die von ihm positiv sanktionierte Leistung eines personalen Gedächtnisses im Kontext von Mündlichkeit, so beobachtet er die Leistung eines Mediums als Medium im Vergleich mit einem anderen Medium; nur in der Differenz von Schrift und Mündlichkeit erfährt man so etwas über die Schrift im Bezug auf ein Drittes, einen Vergleichsparameter. Nimmt man hinzu, daß sich die Reflexion ebenfalls in einem Medium vollzieht, so kann man sehen, daß es sich bei Medienbestimmungen immer um eine fünfstellige Relation handelt: Ein Medium a läßt sich bestimmen im Bezug auf ein Medium b, wobei man eine gemeinsame Bezugsgröße c benötigt. Der Vergleich findet ebenfalls in einem Medium (d) statt, das intrikaterweise in der Regel mit einem der verglichenen Medien identisch ist. Und der Vergleich vollzieht sich in einer Form (einem Text, einem Bild o. ä) (e). Plato beobachtet so in der Schrift (d/a), die sich als mündliches Gespräch (b) gibt (Medienfiktion) und als Dialog ein Textgenre erfüllt (e), über das Medium Schrift (a) die memorialen Leistungen (c) mündlicher Rede (b). Schematisch lässt sich dies so notieren: Medium des Vergleichs (d) (oft zugleich a oder b) Form des Vergleichs (e) zu bestimmendes Medium (a) Vergleichsmedium (b) Bezugsgröße (c) Alles mithin, was sich über ein Medium sagen läßt, ergibt sich erst aus einem Medienvergleich im Rahmen einer solchen fünfstelligen Relation und nicht aus einer Medienontologie. Die entsprechenden Medienzuschreibungen und Mediendefinitionen sind folglich Produkte komparativer Analysen und der sie steuernden Interessiertheit. An diese Voraussetzung schließen sich drei Beobachtungen an. Beobachtung 1: Das, was als ein Medium angesehen wird, ist zu zerlegen und auf ein anderes Medium zurückzuführen (Rekursivität). Mit Martin Seel kann man sagen: »Es gibt keine letzten Elemente, aus denen die Elemente aller anderen Medien und ihrer möglicher Formen gebildet wären.«11 Seels Weigerung, ein Letztinventar zur Bestimmung von Medien anzunehmen, zielt im wesentlichen auf die These, daß die Beziehung zwischen materiellem Träger und Nutzung dieses materiellen Trägers zur Erzeugung von Form als eine relationale zu denken ist. Nimmt man etwa die Stimmwerkzeuge als >materielle TrägerMediumForm< ist, kommt mithin auf die Perspektive an, von der bzw. aus der ich blicke, d. h. was ich als mediale Ausgangsbedingung u. d. h. als Konstitutionszusammenhang bewerte. Die Sprache kann das Medium der Form >Schrift< sein12 oder aber die Schrift das Medium der Form des Drucks - und auch umgekehrt: Der Druck ist das Medium, in dem die Schrift als Form zum >Ausdruck< gebracht wird, die Schrift das Medium, in dem die Sprache Form gewinnt usw. Der Vollzug der jeweiligen Differenz von Medium und Form ist eine beobachterabhängige, relationale Wahl, bei der die beiden Seiten der Unterscheidung sich jeweils substitutieren können. 13

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Vgl.auch die Überlegungen zu Sprache und Schrift bei Sybille Krämer: Sprache und Schrift oder: Ist Schrift verschriftete Sprache? In: Zeitschrift für Sprachwissenschaft 15.1, 1996. S. 92-112, bes. S. 92/93. Ich erweitere an dieser Stelle die von Luhmann geprägte >Medium-FormBildes< zu sehen (Simultaneität) im Unterschied zur Schrift (Sukzessivität), und dies auch noch in elaborierten Fortentwicklungen. So argumentiert etwa Gottfried Boehm: Was uns als Bild begegnet, beruht auf einem einzigen Grundkontrast, dem zwischen einer überschaubaren Gesamtfläche und allem, was sie an Binnenerzeugnissen einschließt. [...]. Was Bilder in aller historischen Vielfalt als Bilder >sindzeigensagensagenVortrags< habe durch die Arbeitsweise eines personalen Gedächtnisses seine Ausformung gefunden. Es mußte immer wieder repetitive Teile, partielle Wiederholungen geben, um das Gedächtnis für einen Augenblick zu entlasten und damit freie Kapazität für die Formulierung von Neuem zu finden. Dem hätte ein spezifischer Textaufbau entsprochen (eine überschaubare Syntax, die Bevorzugung von Parallelismen u. a.). Behauptet wird also eine strikte Bindung vom Medium Mündlichkeit und von textueller Form im Vergleich zu einem Dritten, einem bestimmten Memorialverfahren, das eine orale Kultur prägte. Mit der Einführung der Schrift sei alles anders geworden. Eine solche Theorie operiert also mit starken Annahmen; und daß sie ihre Hypothesen im Gang der Argumentation >wirklich< erweisen könne, bildet ihr eigentliches Versprechen. Dies mögen - medienwissenschaftlich gesehen - frühe Beispiele sein, der Argumenttypus ist aber noch current. So wird zur Zeit das >Laus hypertexti< gesungen, das intoniert, der Hypertext sei in seiner paradigmatischen Verweisstruktur der Linearität der an Schrift gebundenen Lesebewegung deutlich überlegen, wobei als Gradmesser dieser Überlegenheit ein eher unterkomplex behandelter Begriff von Komplexität fungiert, der >Transformation< einseitig als Zugewinn definiert. 18 In diesem Sinne wird Hypertext als Form einer Überschreitung gefaßt. Dazu zunächst der noch nüchterne Befund Knud Böhles, daß Hypertexten in einem Punkt gelingen kann, was dem Buch verwehrt bleibt. Während die Texttechnologie des Buches letztlich - trotz aller Verweise, Register, etc. - kein Mittel finden kann, von der Bedeutung her zusammenhängende Stellen tatsächlich zu verknüpfen, bieten Hypertexte ein operatives Verfahren. [...]: auf der Benutzeroberfläche im Text piazierte operative Verweise [.. .]. 19

Es geht mithin um die Weiterarbeit an einem unendlich komplex gedachten Konzept von Textur,20 für das Prätexte der unterschiedlichsten Art gefunden werden: Der Essay als diskursive, literarische und wissenschaftliche Form hat viele Ähnlichkeiten mit den Prinzipien des Hypertexts: Arbeit mit Fragmenten, Revolte gegen geschlossene

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1987. Eric A. Havelock: Als die Muse schreiben lernte. Frankfurt/M. 1992. Siehe auch Jack Goody: Die Logik der Schrift und die Organisation der Gesellschaft. Frankfurt/ M. 1990. Vgl. Jay David Bolter: Writing Space. The Computer, Hypertext, and the History of Writing. Hillsday, N.Y. 1991. Und George P. Landow: Hypertext. The Convergence of Contemporary Critical Theory and Technology. Baltimore-London 1992. Knud Böhle: Inkunablenzeit. Theoreme, Paratexte, Hypertexte. Eine Nachlese. In: Hyperkult. Hg. von Martin Warnke/Wolfgang Coy/Georg Christoph Tholen. Basel 1997. S. 119150 (hier: S. 123). Vgl. »auf den Stoff, aus dem sie gemacht, das Verfahren, nach dem sie hergestellt sind«: Moritz Baßler: Die Entdeckung der Textur. Unverständlichkeit in der Kurzprosa der emphatischen Moderne 1910-1916. Tübingen 1994. S. 15. Als Versuch, die Textur-Metapher konsequent für die Mediengeschichte zu lesen, s. Vilém Flusser: Lob der Oberflächlichkeit. Für eine Phänomenologie der Medien. o.O.: Bollmann o. J.

Der Unterschied der Medien

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Systeme, Konstruktion von Begrifflichkeiten als >work in progressa kulturkritische Subjektivität, Kristallisierung der einzelnen Elemente durch Bewegung [.. .].21

Oder der Hypertext ist eine Fortsetzung von Verfahren, die Autoren wie Sterne im Tristam Shandy schon versuchten usw. Hypertext wird seinerseits gesteigert durch das World Wide Web, das selbst als ein riesiger Hypertext anzusehen sei und damit wiederum bisherige Formen von Intertextualität überbiete: Das maschinenlesbare Universum des Internet kann als die Exterriosierung einer Intertextualität gelten, welcher den herkömmlichen Texten implizit blieb. Die Idee, daß Textbedeutungen der Inbegriff ihrer Bezugnahme auf abwesende Texte sind, wird in der simultanen Verweisstruktur dieses Netzes realisiert. 22

Auch wenn solche Vermögensanalysen von Einzelmedien oft durchaus vergleichend ausgerichtet sind, bleiben sie doch auf einen abstrakten Komparativ bezogen (das eine Medium kann etwas grundsätzlich besser als ein anderes). Auf dem hier wahrgenommenen Abstraktionsgrad lassen sich die Argumente aber auch immer genau invertieren bzw. läßt sich die Schwäche des einen Verknüpfungsmodus als die Stärke des anderen ausgeben. Die ikonische Differenz, die nach Boehm u. a. ein Bild macht, erlaube eine andere Einläßlichkeit als die palimpsestische Oberfläche einer windows->screenKünstliche Intelligenz< zum Mythos >Künstliche Kommunikation oder: Ist eine nicht-anthropomorphe Beschreibung von Internet-Interaktion möglich? In: Mythos Internet. Hg. von Stefan Münker und Alexander Roesler. Frankfurt/M. 1997. S. 83-107 (hier: S.100).

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Jürgen Fohrmann

die anderen Medien und mit ihnen die gesellschaftlichen Verhältnisse strukturell infizieren. Noch einmal Marshai McLuhan: »Wir sind in unserer neuen elektrischen Welt befangen, wie der Eingeborene in unserer alphabetischen und mechanisierten Welt verstrickt ist.«23 Man muß, um zu verstehen, welcher Anspruch mit der Rekonstruktion von Medienevolution verbunden wird, sich konsequent diesem McLuhanschen Bild vom Eingeborenen zuwenden. Wer bestimmen kann, wer und wer nicht der Eingeborene ist, markiert den Medienvorteil. Es gibt daher einen Krieg der Medien, der sich selbst als Kriegsgeschichte schreiben läßt. Ihre Hypothese: Wenn sich ein epochales Leitmedium finden lässt (etwa heute der Computer), dann indiziert das >t< im Worte >Leit< zugleich ein >d< bei den anderen Medien: Leidmedien. Es geht mithin um einen Verdrängungskampf, dessen einzelne Modellierungen nun etwas genauer entfaltet werden sollen; sie münden in fünf Varianten von Mediengeschichte: 1. Variante: Evolutionärer Ansatz. Mediengeschichte ist Medienevolution und als solche >mediale Differenzierung< und >MediendifferenzierungMediale Differenzierung< soll heißen, daß sich im Laufe technischer/menschlicher Geschichte ein zunehmendes Arsenal von Medien ausdifferenziert hat, die entweder zunächst dem menschlichen Körper entstammen oder die Möglichkeiten des menschlichen Körpers technisch delegieren, veräußerlichen, (nach MacLuhan) eine Art >Prothese< bilden, mittels derer die (medialen) Wünsche, Bedürfnisse verstärkt und differenziert werden können. Dies führt zu einem Steigerungsimperativ, der dann die Einzelmedien berührt und sie zwingt, sich intern so zu differenzieren, daß Aufgaben zu vollbringen sind, die ein neues Medium schon vollbracht hat. Solche >Mediendifferenzierung< führt zu einer Gewinn-/ Verlust-Bilanz, je nach Blickwinkel, aber immer als Effekt von medialer Differenzierung auf der Basis evolutionärer Annahmen, die sich die Idee eines Leitmediums zunutze machen. Es affiziert nicht nur die Qualität, sondern auch die Quantität der anderen Medien, etwa nach dem Modell: Bei eintretendem Computerfrühling wirft der Buchmarktherbst noch einmal besonders viele Früchte ab, um zu überleben usw. 2. Variante: Geschichtsphilosophischer Ansatz. Diese Variante wendet die Leitmediumsvorstellung in eine Geschichtsphilosophie Hegelscher Provenienz. Sie geht davon aus, daß jedes Medium seine besondere Zeit hat in gesamtgesellschaftlich definierten Rahmungen, deren Impetus dann über die Aktualität eines spezifischen Mediums entscheidet. 24 Texte dieses Typs bewegen sich ganz im Feld geschichtsphilosophischer Konstruktion und sind beherrscht von

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M. McLuhan: Die magischen Kanäle (Anm. 1). S.23. Vgl. ζ. B. Siegfried Zielinski: Audiovisionen. Kino und Fernsehen als Zwischenspiele der Geschichte. Reinbek b. Hamburg 1989. S. 11. Vgl. dazu auch den Kommentar von Heidemarie Schumacher: Fernsehen fernsehen. Modelle der Medien- und Fernsehtheorie. Köln 2000. S.96.

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Der Unterschied der Medien

Verfall und Prognose, von >wird nicht mehr< und von >wirdZivilen< stattfindet, die die Gesellschaft grundlegend verändert habe). 26 Bei dieser Kriegstechnologie geht es um das zum Ernst verkehrte Prinzip der Olympischen Spiele: altius - citius - fortius. Es soll ein Reichweitenvorteil, ein Geschwindigkeitsvorteil, ein Gewaltvorteil erzielt werden, der sich in die Überlegenheit über den Gegner ummünzen läßt und dann kriegsentscheidend wird. Der Mediengebrauch wird in ein Konzept des Politischen als der Markierung und Erledigung des Gegners, Feindes, einbezogen, als dessen Kronzeuge nicht zu Unrecht Carl Schmitt von Vertretern dieser Theorie angerufen wird. Die mit Medienevolution verbundene Strukturgeschichte wird tentativ in Ereignisgeschichte rücküberführt, um als neue, überraschende Waffe in der Konstellation von Freund und Feind sichtbar zu werden. Es ist dann nur eine Weiterentwicklung dieses Modells, wenn es in das Match, >Silicon Valley gegen den Rest der Welt< übersetzt wird. Und versuchen nicht auch andere Ableger des Apparatedenkens, die stets neue Wissenschaftsentdeckungen als omnipotente Kaninchen aus dem Hut des Zauberers ziehen, die übrigen Kulturwissenschaftler blitzkriegartig zu erledigen? Worauf als Film folgt: Das Schweigen

der jungen

Männer.

4. Variante: Typologischer Ansatz Um ihn zu identifizieren, kann man nahezu beliebig Beiträge der neueren Mediendiskussion aufschlagen, insbesondere solche, die den Abschied von der Gutenberg-

25 26

Friedrich Kittler: Grammophon, Film, Typewriter. Berlin 1986. S. 149. Vgl. Wolfgang Hagen: Der Radioruf. In: Martin Stingelin/Wolfgang Scherer (Hg.): HardWar/SoftWar. München 1991. S. 243-273.

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Jürgen Fohrmann

Galaxis feiern, das Ende der Buchkultur freudig begrüßen; oder aber solche, die den Hypertext und das Web als endliche Befreiung von der Kette linearer Anordnung, die uns die Schrift in der Regel bietet, willkommen heißen und dies zugleich als Realisierung poststrukturalistischer Thesen über Präsenz und Differance zu denken versuchen. Etwa in der Formulierung Jay D. Bolters: In gewisser Hinsicht ist das Web die Erfüllung des Versprechens des Hypertextes. Ein isolierter, für sich stehender Hypertext ist ein Selbstwiderspruch, weil ein Hypertext immer über sich hinausgreifen möchte und Verbindungen mit anderen Texten herstellen will. Das implizite Telos ist ein einziger, alles umfassender Hypertext [.. .]. 27

Diese Erfüllung sei eine Befreiung des Lesers, dem nun eine ganz neue Souveränität über den Text zukäme, wobei am Ende ein der Neuen Zeit angemessenes Konzept von Persönlichkeit und Sozialität entstehe. Ähnliche Thesen finden sich auch im POP, in der Beschreibung einer DJ-culture, deren scratching- und sampling-Verfahren zur emanzipativen Tat werden, die die Signifikanten endlich tanzen läßt, wobei sich manchmal - wie etwa bei Ulf Poschardt - merkwürdige Symbiosen mit ganz überkommenen Konzepten ergeben: »Der DJ ist der Wissenschaft bisher bis auf wenige kleine Ausnahmen unbekannt geblieben. DJs sind unstrukturierte, von der Episteme weitgehend unberührte >NaturhomeageKulturindustrie< ein (so schon Horkheimer/ Adorno), 36 schlagen einen >Medienbaukasten< (so schon Enzensberger) 37 vor oder beobachten die Veränderungen von information retrieval·. 38 Informationstheorien mathematischer Provenienz sehen in Medien jene Kanäle, die Redundanzen erzeugen oder minimieren und so den Weg der Informationsgewinnung steuern. 39 Ein anthropologischer oder auch psychologischer Ansatz untersucht Medien als Variablen für den Versuch von Bedürfnissteigerung oder aber Bedürfnisumschichtungen, für Affektivitäts- und Aufmerksamkeitsveränderung oder für die Modifikation von Raum-Zeit-Wahrnehmungen. Und ein postrukturalistischer Ansatz sieht in bestimmten medialen Ausprägungen die Performanz von Sinn, die - contre coeur - im wesentlichen aus einer metonymischen, auf ein Geflecht hinführenden und Linearität subvertierenden Bewegung besteht usw. All' diese Theorien erzeugen über den Einbau von Medien als Variablen in bereits entwickelte Theorienangebote einen weiteren Unterschied und vergrößern damit das Setting von Begriffspaaren. Mit einem systemtheoretischen Blick, dem es um die Reichweite von Theorien geht, ließe sich das wie folgt durchspielen: Bei >Formen gesellschaftlicher Kommunikation etwa wird es nach der Unterscheidung von Medien der Individual- oder der Massenkommunikation, betrachtet man nun >Massenkommunikation< näher, zunächst um die soziale Organisation von Kommunikation gehen und um die Frage, welche Rolle welche Massenmedien für diese Organisation spielen.40 Als mögliche Funktionen wird man schnell nennen können: - Informationsproduktion, Informationsregelung und Informationswettbewerb - kommunikativer Erfolg und Reichweite. Hier wird man i. d. R. quantitativ argu-

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Vgl. zur Semiotik als Metawissenschaft etwa Roland Posner: Acht Thesen zum wissenschaftstheoretischen Status der Semiotik und zu den Aufgaben des Handbuchs der Semiotik. In: Knut Hickethier/Siegfried Zielinski (Hg.): Medien/Kultur. Schnittstellen zwischen Medienwissenschaft, Medienpraxis und gesellschaftlicher Kommunikation. Berlin 1991. S.219-224. Vgl. Max Horkheimer/Theodor W. Adorno: Kulturindustrie. Aufklärung als Massenbetrug. In: Dies.: Dialektik der Aufklärung. Frankfurt/M. 1961. S. 108-150. Vgl. Hans Magnus Enzensberger: Baukasten zu einer Medientheorie. In: Kursbuch 20 (1970). S. 160-210. Vgl. etwa Klaus Krippendorff: Some Principle of Information Storage and Information in Society. In: General Systems 20,1975. S. 15-35. Vgl. dazu Albert Kümmel: Mathematische Medientheorien. In: Daniela Kloock/Angela Spahr (Hg.): Medientheorien. Eine Einführung, 2. Aufl., München 2000. S. 205-236. Paradigmatisch hierfür: Niklas Luhmann: Die Realität der Massenmedien, Opladen 1995.

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Jürgen Fohrmann

mentieren und zugleich einen Zeit- und Raumbegriff hinzuziehen: Mit diesem Medium ist die Information schneller am Ziel, dieses Medium okkupiert einen größeren Raum usw. - Informationssicherung und -speicherung - Zugangsregelungen - Form der Mitteilungen/Information. Wendet man sich dann etwa den Zugangsregelungen zu und beobachtet ihre Codierung in den einzelnen gesellschaftlichen Teilsystemen, so lässt sich sehen, daß die Politik, die Ökonomie, das Bildungssystem, das Recht hier den Medienbegriff sehr unterschiedlich fassen und aus der Logik ihres Systems auch fassen müssen: >Zugang< wird in der Politik häufig als Frage funktionierender oder nicht-funktionierender Öffentlichkeit diskutiert, in der Ökonomie als schiere Universalisierung der Verbraucher und Märkte, im Bildungssystem als Mediensozialisation und im Recht als Codifizierung gesetzlicher Rahmenbedingungen, Aufnahme oder Ablehnung einer Medienethik. Ausgangspunkt aller Teilsysteme ist: Nur Medien schaffen Zugang, aber die Art, wie sie diesen Zugang und diese Medien beschreiben, differiert beträchtlich, weil er aus den spezifischen Problemlagen (Autopoiesis) der jeweiligen gesellschaftlichen Teilsysteme entwickelt wird. Und dies gilt auch für alle angelagerten Begriffe, die denselben formalen Status haben, so daß sofort die Frage entsteht: Was will ich untersuchen, wenn ich Begriffe, die für ein solches Abstraktionsniveau stehen, in den Blick nehme? Disziplinär gewendet: Sind die Fragen, welche Rolle die Medienevolution für das Wissenschaftssystem gespielt hat und spielt, Gegenstand der Medienwissenschaft oder aber sind sie Gegenstand einer Wissenschaftsgeschichte, die eine Medienreflexion miteinschließt?41 Kann und soll die Unhintergehbarkeit von Medialität in eine eigenständige Wissenschaft führen, oder muß es so viele medienwissenschaftliche Felder und dann Disziplinen geben, wie Medien in gesellschaftlichen Zusammenhängen erscheinen? Gefragt wird also danach, ob Medien aus ihrer systemspezifischen Codierung entlassen und zum Untersuchungsgegenstand einer autonomen Wissenschaft gemacht werden sollen. Ich möchte für ein eingeschränktes >ja< plädieren. Dieses eingeschränkte >ja< trägt jener notwendigen Steigerung der Beobachtungsebenen Rechnung, ohne die es keine Selbstbeobachtungsmöglichkeit von Medientheorien und Medienwissenschaft gäbe. Denn nur so kommen etwa die Verfahren in den Blick, die als Tran-

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Ein gutes Beispiel bietet hierfür: Medienwissenschaft. Ein Handbuch zur Entwicklung der Medien und Kommunikationsformen. Hg. von Joachim-Felix Leonhard/Hans-Werner Ludwig/Dietrich Schwarze/Erich Straßner, Bd. 1. Berlin-New York 1999; hier hat jede der versammelten Einzelwissenschaften die Chance, sich jeweils zur Medienwissenschaft zu erklären, wobei die anderen, gerade im Teilabschnitt der Darstellung nicht focussierten Disziplinen sich entweder als Hilfs- oder als Nachbarwissenschaften deklarieren können. Am liebsten wird gewählt: Nachbarwissenschaften.

Der Unterschied der Medien

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skriptionen von Metaphern und als Transfer von Konzepten die medienwissenschaftliche Prozesse prägen. Sinnvoll erscheint eine solche Beobachtung dritter Ordnung aber nur im Wechsel mit jenen Untersuchungen, die den medienbezogenen Blick für die Analyse eines spezifischen Rahmens nutzen. Denn der Unterschied, den ein Medium macht, läßt sich nur in der Differenzanalyse von Medien rekonstruieren, die nicht leer läuft, indem sie auf sehr abstrakte Weise das So-Sein von Medien zu bestimmen versucht, m. a. W. das technische Dispositiv von Medien zu einer Ontologie macht, die wie ein Algorithmus zur Erklärung kultureller Phänomene funktioniert. Denn wenn der Algorithmus von der »Wiederholung einer Möglichkeit«42 ausgeht, so reagieren sinnverarbeitende Systeme stets mit dem Vollzug der Selektion von Mitteilung und Information, um nur an basale Überlegungen Niklas Luhmanns zu erinnern. 43 Diese Selektion ist aber gerade nicht als reines Wiederholungsgeschehen denkbar, sondern nur als Iteration u. d. h. als gleichzeitiger Vollzug von Referenz und Differenz. Eine Medienontologie hingegen verabschiedet sich von sozialen Systemen und stellt die apparative Verarbeitung ins Zentrum. Für kulturwissenschaftliche Hinsichten ist dies nicht reichhaltig genug, denn wenn man immer schon weiß, welche Effekte ein Medium hat, dann wird jede historische Analyse zur reinen Applikation; und ist die >ErscheinungsetwasEtwas< ist stets vindiziert durch historische, kulturelle Rahmungen, die forschungsgeschichtlich ebenfalls in einer Kette von Abweichungen rekonstruiert worden sind. Daß es kulturelle Rahmungen sind, ist begründet in der Unhintergehbarkeit von Form, die es nicht zuläßt, einen >reinen Inhalt< zu destillieren, der als form- und zeitloses Substrat, als eine >langue< untersucht werden kann. Damit wird das historische Feld notwendigerweise geöffnet, und der anti-historizistische Effekt enthusiastischer bzw. apokalyptischer Gegenwartszentrierung mit ihren schnell zirkulierenden Diskussionsmarkern und ihren narzistischen Agenten, denen keine Zeit schnell genug ist, auch politisch konterkariert. Von einer Einzelwissenschaft ausgehend, ist Transdisziplinarität gefordert, die in eine Allgemeine Medienwissenschaft dann mündet, wenn sich die Notwendigkeit für eine Beobachtung dritter Ordnung ergibt. Sie ist notwendiges Korrektiv und bedenkt die transzendentalen Bedingungen, unter denen man das Geschäft betreibt; nicht weniger und nicht mehr.

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F. Kittler: Grammophon (Anm.25). S.118. Niklas Luhmann: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt/M. 1984.

Bernhard. J. Dotzler (Berlin)

Diskurs und Medium Noten zur Grundlegung einer historischen Techno-Logie

Fabel heißt Mythos, Fabel heißt Rede. »Nos iam fabula sumus«: »Wir sind schon ins Gerede gekommen«, wußte Terenz. »Cinis et manes et fabula fies«: »Leichnam, Asche, Gesprächsstoff wirst du sein«, nahm Persius das Memento mori! oder vielmehr Memento homo... eines späteren Kirchenlatein vorweg. Und die Epistulae des jüngeren Plinius klagten in Variation auf den aristotelischen Anfang aller Philosophie, es seien die Menschen »von Natur aus« so »neugierig«, daß sie sich »sogar von Klatsch und Märchen fesseln« ließen: »Sunt enim homines natura curiosi et quamlibet nuda rerum cognitione capiuntur, ut qui sermunculis etiam fabellisque ducantur.« 1

I. Nietzsche So denn - fabula docet. Wie die »wahre Welt« einst zur Fabel wurde,2 hat auch »der Mensch« seine Fabelhaftigkeit längst offenbart. Darum hat Nietzsche nicht zuletzt als Erzähler über ihn philosophiert. Etwa so: Der Mensch fragt wohl einmal das Thier: warum redest du mir nicht von deinem Glücke und siehst mich nur an? Das Thier will auch antworten und sagen, das kommt daher, dass ich immer gleich vergesse, was ich sagen wollte - da vergass es aber auch schon diese Antwort und schwieg: so dass der Mensch sich darob verwunderte. 3

Daß der Mensch ein Gedächtnis hat, macht ihn, den Menschen selber, wie dieses sein Verwundern. Das Tier dagegen kennt weder sich noch seine Wahrheit, und darum auch keine Lüge, moralisch so wenig wie außermoralisch. In letzterem Sinne kann ebenfalls nur der Mensch betrachtet werden, weil nur er nicht bloß, aber auch Tier ist, »kluges Thier«. Und diese Fabel geht dann so: In irgend einem abgelegenen Winkel des in zahllosen Sonnensystemen flimmernd ausgegossenen Weltalls gab es einmal ein Gestirn, auf dem kluge Thiere das Erkennen erfanden. Es war die hochmiithigste und verlogenste Minute der »Weltgeschichte«: aber doch nur

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Alle Belege (lat. u. dt.) nach: In medias res. Lexikon lateinischer Zitate und Wendungen. Hg. v. Ernst Bury. CD-ROM. Berlin 1999. Vgl. Friedrich Nietzsche: Götzen-Dämmerung (1888). In: Ders.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. Hg. v.G.Colli U.M.Montinari. München 1980. Bd.6. S.80f. Friedrich Nietzsche: Unzeitgemäße Betrachtungen II: Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben (1874). In: Ders.: Sämtliche Werke (Anm.2). B d . l . S.248.

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Bernhard J. Dotzler eine Minute. Nach wenigen Athemziigen der Natur erstarrte das Gestirn, und die klugen Thiere mussten sterben. - So könnte Jemand eine Fabel erfinden und würde doch nicht genügend illustrirt haben, wie kläglich, wie schattenhaft und flüchtig, wie zwecklos und beliebig sich der menschliche Intellekt innerhalb der Natur ausnimmt; es gab Ewigkeiten, in denen er nicht war; wenn es wieder mit ihm vorbei ist, wird sich nichts begeben haben. Denn es giebt für jenen Intellekt keine weitere Mission, die über das Menschenleben hinausführte. 4

So also könnte man nicht nur, so hat man - hat Nietzsche - die Fabel erzählt (sie erfunden, wie auf der Ebene ihres Inhalts gleichfalls von Erfindung die Rede ist), wonach dem Menschen zu seinem Gedächtnis auch noch ein Intellekt gegeben ist, ein Erkennen als das Vermögen, Daten nicht nur zu speichern, sondern auch zu verarbeiten. Beide Fabeln trägt, daß der Mensch - als die gängigste seiner Definitionen - ein redendes Wesen ist. Der »mit dem Erkennen und Empfinden verbundene Hochmuth«, wie Nietzsche ihn nennt, käme nicht zustande, würden die Menschen ihn nicht miteinander teilen, indem sie einander sich mitteilen. Sämtlich sind sie, jeder für sich, »tief eingetaucht in Illusionen und Traumbilder, ihr Auge gleitet nur auf der Oberfläche der Dinge herum und sieht >Formenneuen Medien< aber rücken diese - rückt >das Medium< - selber an die Stelle des Objekts und nicht mehr nur der Vermittlung von Erkenntnis ein. Zugleich treten sie als ein schwieriger Gegenstand hervor. Denn die Welt der technischen oder genauer: der elektronischen Medien beginnt gerade an der Schwelle, vor der Heider innehält. Vom alten Begriff des Mediums herkommend, zählt für ihn nur dessen Durchsichtigkeit, seine Unsichtbarkeit, seine Übermittlungsfunktion für Lichtstrahlen oder Schallwellen jenseits des zugehörigen »Wellengeschehens«, vom »Kleingeschehen der Moleküle« gar nicht zu reden. Den »Wellen, die durch das Medium eilen«, kommt nur Bedeutung zu, insoweit sie makroskopisch »dem Dinge zugeordnet« sind, das sie wahrnehmbar machen. An sich bleiben sie irrelevant, und das heißt mit einer von Heiders Zwischenüberschriften: »Mediumvorgänge sind unwichtig«. 17 Dagegen beruht das Ereignis elektronisch schaltender Sende- und Empfangsgeräte gerade auf der kontrolliert-kontrollierenden Verfügung über die Vorgänge innerhalb des Mediums, mehr und mehr also durchaus über die mikroskopische Ebene der Moleküle und Atome. Das ist die Schwelle, an der - um es kurz und direkt zu sagen - aus der Fernwahrnehmung, wie sie Heider beschäftigt, das Fernsehen wird, das seiner Theorie knapp entgeht. Konkret hat Heider nämlich keine Probleme, Film und Grammophon in seine Ausführungen einzubeziehen, während die Technologie der Meßapparate ihm ein Sonderfall heißt. Im Falle der ersteren, also der »[Lein-]Wand des Kinos« einerseits, von »Stift« und »Schalldose« andererseits, werden Licht- bzw. Tonwellen aufgezeichnet und wieder ausgesandt, um gleichwohl nicht als »Lichtwellenmannigfaltigkeit« oder »wirre Beleuchtung« einer weißen Fläche und nicht als akustische »Schwingungen« oder »Nebeneinander von einzelnen voneinander unabhängigen Spuren« [= Rillen], sondern als Bilder und Töne wahrgenommen zu werden. 18 Das trifft, was den erzeugten Schein angeht, in ähnlicher Weise wohl auch für das Fernsehen zu. Aber dessen Technologie wurzelt in der der »physikalischen Meßapparate«, und »Anzeigeapparate« gleich Ferdinand Brauns Kathodenstrahloszilloskop oder »Verfahren zur Demonstration und zum Studium des zeitlichen Verlaufs variabler Ströme« von 1897 haben nach Heider zwar »etwas Mediumhaftes«, sind aber doch »keine gewöhnlichen Medien, die einfach die Einwirkung, die sie empfangen, weitergeben«. Vielmehr besitzen sie »eine Eigengesetzlichkeit, sie machen aus dem auf sie Eintreffenden etwas Anderes, sie transponieren es in Veränderungen«, sie »abstrahier[en] aus der Einwirkung bestimmte Momente« 19 - ganz so, wie eben auch die neuen Medien es tun, etwa in ihrer Synthese von Tonfilm und Rundfunk: »Alles ist stumm« lautete ausgerechnet deren Parole, indem der Ton zuerst in

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F. Heider: Ding F. Heider: Ding 18 F. Heider: Ding 19 F. Heider: Ding 17

und und und und

Medium Medium Medium Medium

(Anm.9). (Anm.9). (Anm.9). (Anm. 9).

S . l l l u. 120. S. 130-132. S. 134f. u. 141 f. S. 139.

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Bernhard J. Dotzler

eine »Lichtzeichensprache« und diese mittels einer Photozelle in »elektrische Schwankungen« verwandelt wurde, die sich dann »ohne Ton oder direkte akustische Energien« übertragen ließen.20 Die Technologien, wie sie nach Heider den Medienbegriff okkupieren, basieren - weil sie sie leisten - auf Abstraktion und Eigengesetzlichkeit; ihr Geheimnis ist schon das erste Moment einer eigenen, künstlichen Intelligenz. Tatsächlich geht Heider soweit, in einer ebenso knappen wie kühnen Nebenbemerkung »einen Apparat« anzudeuten, »der auf äußere Dinge durch ein Medium sinnvoll zugeordnet reagiert«.21 Aber auch und zumal damit markiert er nur die Grenze zwischen einem oder seinem Medienbegriff für das Erscheinen der Dingwelt und dem der Eigendinglichkeit der Medien, die als Erkenntnisobjekte hervortreten, indem sie selber erkennende Züge annehmen. Moderne, also technische Medien speichern, verrechnen und übertragen Information. Sie realisieren, heißt das, sämtliche Funktionen, aus denen das »kluge Thier« namens Mensch - wie Nietzsche es sah - das Bewußtsein einer »Mission« seines Bewußtseins bezieht. Nicht nur die literarische Gattung der Science Fiction, sondern auch die fiktionalen Ausgriffe der Wissenschaft haben daher auf Mittel und Wege gesonnen, dieselbe Mission in Gestalt »kluger Maschinen« über jeden Tod, sogar den Wärmetod des Universums, hinauszuretten. 22 »Mediumvorgänge« sind wichtig, gilt es seitdem zu begreifen, denn das »Menschenleben« ist seitdem nicht mehr die ultimative Referenz des Intellekts, für den es vielmehr mit der Grenzüberschreitung des (Begriffs des) Mediums durchaus eine darüber hinausgehende, »weitere Mission« zu erkennen gibt. Entsprechend kann freilich auch des Menschen Rede, der Diskurs nicht länger die - autoreferentielle - Adresse allen Redens über das menschlich-unmenschliche Wissen und Nichtwissen sein. Der von Heider mehr oder weniger unwissentlich vermessene Grenzverlauf zwischen altem und neuem Medienbegriff bedeutet auch in diesem Punkt eine Zäsur. Solange Medien nicht weiter zählten, indem ihre Durchsichtigkeit nur dem Erscheinen der Dingwelt half, war - mit Foucaults prominenten Überschriften - die »Ordnung der Dinge« in Abhängigkeit von der »Ordnung des

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Guido Bagier: Der Tonfilm veredelt den Rundfunk. Gedanken über die Verwendungsmöglichkeiten des Tonfilms im Funk. In: Bildfunk. Illustrierte Monatsschrift und Bastelmagazin für Rundfunk, Kurzwellen, Bildübertragung, drahtloses Fernsehen 1,1929. S. 1820 (hier: S. 19). F. Heider: Ding und Medium (Anm.9). S. 145, wozu man die Definition künstlicher Intelligenz bei Alan Turing: Intelligente Maschinen, eine häretische Theorie [1951]. In: Ders.: Intelligence Service. Schriften. Berlin 1987. S. 10, parallel lesen muß: Intelligenz beweist sich durch »eine wirkliche Reaktion der Maschine auf Umwelt«. Das beginnt - vormedientheoretisch, weil die Luft als Universalmedium feiernd - mit Gustav Theodor Fechner: Zend-Avesta, oder Über die Dinge des Himmels und des Jenseits. Vom Standpunkte der Naturbetrachtung. Leipzig 1851. Für jüngere, an moderner Technologie orientierte Belege vgl. Freeman Dyson: Zeit ohne Ende. Physik und Biologie in einem offenen Universum [1979]. Berlin 1989, und Hans Moravec: Mind Children. Der Wettlauf zwischen menschlicher und künstlicher Intelligenz [1988]. Hamburg 1990, und dazu meinen Beitrag: Kein Grund mehr zur Sorge, in: B.J. Dotzler: Technopathologien (Anm.7). S.247-287 (bes.: S.274ft).

Diskurs und

Medium

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Diskurses« zu denken. Mit der Eigendinglichkeit der inzwischen heraufgekommenen technischen Medien dagegen stellt sich die Reichweite des Diskurses und mithin der Diskursanalyse als methodisches Problem.

III. Foucault Um zunächst, wie es inzwischen wieder nötig erscheint, an Foucault zu erinnern: Keines seiner Bücher, kaum einer seiner Aufätze wäre ohne seine methodische Luzidität ein Aufsatz, ein Buch - eine Aussage, »énoncé«, im Unterschied zu »Proposition«, »Satz« und »Sprechakt«23 - Foucaults. An diese Luzidität, an Foucaults Methodik anzuknüpfen empfiehlt sich, weil sie und nur sie den Diskurs selber als Medium im neuen Sinn hat hervortreten lassen. Als etwas, das nicht, wie sonst die Reden über das Reden suggerieren, immer schon durchsichtig auf anderes ist, sondern opake Realität - und darum, kraft dieser Eigenrealität, kraft »seiner materiellen Wirklichkeit als gesprochenes oder geschriebenes Ding«,24 verwoben in die Realität. Diskurse haben die Welt nie bloß interpretiert, sondern stets schon verändert. Reden haben nicht bloß ihre Gültigkeit oder Ungültigkeit als Reden über die Welt, also indem sie auf etwas verweisen, sondern sie haben ihre Macht oder Ohnmacht dadurch, daß sie in der Welt sind. Nichts anderes aber steht hinsichtlich der Medienfrage auf dem Spiel. McLuhans längst zum Ohrwurm verkommener Slogan »The Medium Is the Message«, der der Einsicht Prägnanz verleihen sollte, daß »die >Botschaft< jedes Mediums« vorab in der »Veränderung des Maßstabs, Tempos oder Schemas« liegt, »die es der Situation des Menschen bringt«25 - gleich den Grundsätzen der Diskursanalyse darf diese McLuhansche Perspektivierung von Medienwissenschaft als bekannt, obschon vielleicht noch immer nicht eingelöst, vorausgesetzt werden. Weniger bekannt, weil so gut wie unerforscht, sind McLuhans Anstrengungen, seine Hypothesen durch psychologische Tests zu verifizieren. Die zeittypische Ausrichtung am Ideal naturwissenschaftlicher Empirie war dabei gewiß nur die eine Seite. Die andere ist das Bemühen, mit einer Wissenspraxis in Verbindung zu treten, die ihrerseits direkt mit der »Situation des Menschen« verbunden ist. Er wolle, erklärte McLuhan mehrfach, die »Grammatik« der neuen Medien lehren, um die Kontrolle ihrer Effekte so einfach und sicher zu machen »wie das Einstellen des Thermostats im Wohnzimmer«.26 Die damit gestellte Frage heißt theoretisch, in welcher Weise die Medien ineins mit der übrigen Situation der Menschen auch die Wissenschaft verändern, und wie auf die Situation der Menschen auch durch Medienwissenschaft eingewirkt wird, und nicht allein durch die Medien selber. Und praktisch: Wie dazu die Medien selber

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Vgl. Michel Foucault: Archäologie des Wissens. Frankfurt/M. 1981. S. 115 ff. Michel Foucault: Die Ordnung des Diskurses. Frankfurt/M.-Berlin-Wien 1982. S.6. Marshall McLuhan: D i e magischen Kanäle. »Understanding Media«. Düsseldorf-WienNew York-Moskau 1992. S. 18. Vgl. Philip Marchand: Marshall McLuhan. Botschafter der Medien. Stuttgart 1999. S.237.

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Bernhard J. Dotzler

und ihre Theorie ins Verhältnis zu setzen sind - denn das ist oder war wohl die Attraktion psychologischer Tests: ihre Medialität sui generis. Nun leidet keinen Zweifel, um das zu wiederholen, daß Foucault den Diskurs (und somit die Literatur) als Medium in den Vordergrund rückte. »Ich setze voraus, daß in jeder Gesellschaft die Produktion des Diskurses zugleich kontrolliert, selektiert, organisiert und kanalisiert wird [...].«27 Die Bibliothek, das Archiv als Foucaults Gegenstand; seine Problematisierung von »Übertragungs- und Kommunikationsfakten«, namentlich der »[m]aterielle[n] Einheit des Buchs«;28 sein Blick für die »besondere Existenzweise, die für jede Folge von Zeichen charakteristisch ist«, etwa für die Zeichen auf der »Tastatur einer Schreibmaschine« oder für »eine Handvoll Drucklettern«: »Es genügt, daß die so gegebenen Zeichen von mir auf ein Blatt Papier übertragen werden (und sogar in der Ordnung, in der sie aufeinanderfolgen, ohne daß sich ein Wort ergibt), damit sie eine Aussage bilden«29 - all das belegt zur Genüge, daß Foucaults Begründung einer »Diskursanalyse [...], die in dem, was gesagt worden ist, keinen Rest und keinen Überschuß, sondern nur das Faktum seines historischen Erscheinens voraussetzt«,30 zugleich die Möglichkeit einer Analyse der Medialität des Diskurses eingeräumt hat. Doch hören Foucaults Analysen ausgerechnet »mit genau der Epoche« auf, »als das gedruckte Buch sein Wissensmonopol einbüßte: Überwachen und Strafen machte 1830 Schluß, Wahnsinn und Gesellschaft 1889, nur Die Ordnung der Dinge brachte es bis zu Freud und Saussure«.31 Die einzige Ausnahme eines (zeitgleich mit dem Erscheinen von Les mots es les choses gehaltenen) Vortrags mit dem Titel Botschaft oder Rauschen? bestätigt lediglich die Regel, daß das Zeitalter der Nachrichtentechnik zwar den Ort definierte, von dem aus er sprach, dabei aber selbst unanalysiert blieb. Sein eigenes Projekt war, wie es dort heißt, »Ausfilterung« von »Botschaften« aus dem »Rauschen«, dem »endlose[n] Geblöke der Wörter«. 32 Die Archäologien des Wissens, die er schrieb, fragten, »über welche Kanäle und nach welchen Codes« es »die Phänomene registriert«.33 Eine Archäologie ebendieser Denkmöglichkeit in Begriffen technischer Medien blieb bei ihm jedoch ausgespart. Daran ändert nichts oder wenig, daß Foucault über die Ausweitung seiner Methodik auf andere Gegenstände als den Diskurs wenigstens vereinzelt nachgedacht

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M. Foucault: D i e Ordnung des Diskurses (Anm. 24). S. 7. M. Foucault: Archäologie des Wissens (Anm. 23). S.33 u. 36. M. Foucault: Archäologie des Wissens (Anm. 23). S. 128. Michel Foucault: D i e Geburt der Klinik. Frankfurt/M.-Berlin-Wien 1976. S. 15. So Friedrich Kittler, passim, hier im Wortlaut des Geleitworts zu Michel Foucault: Botschaften der Macht. Der Foucault-Reader: Diskurs und Medien. Stuttgart 1999. S.8f. Vgl. zum folgenden auch Friedrich Kittler: A Discourse on Discourse. In: Russell Berman/David Wellbery (Hg.): Interpretation - Discourse - Society. Stanford Literature Review. Spring 1986. S. 157-166. Michel Foucault: Botschaft oder Rauschen? In: Ders.: Botschaften (Anm. 31). S. 142, mit Michel Foucault: Schriften zur Literatur. Frankfurt/M.-Berlin-Wien 1979. S. 101. Michel Foucault: Wahrnehmung - Körper - Denken: Projet d'enseignement (1969). In: Bernhard J. Dotzler/Ernst Müller (Hg.): Wahrnehmung und Geschichte. Berlin 1995. S.4.

Diskurs und Medium

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hat. Da ist zum Beispiel eine kurze Skizze über den Objektbereich gemalter Bilder, die in einer Digression über Manet immerhin ansatzweise ihre Einlösung fand. 34 Aber das Beispiel Manet sprengt den historischen Rahmen nicht. Mag sein, daß er nicht bloß den Impressionismus, sondern »die ganze Malerei des 20. Jahrhunderts« ermöglicht hat, indem er es wagte, »in seine Gemälde, in das, was sie darstellen, die materiellen Eigenschaften der Fläche, auf die er malte, einzubeziehen«35 - und mag sein, daß ein solcher Blick auf Manet durchaus für eine gewisse mediale Aufmerksamkeit spricht. Aber die solchermaßen postulierte Gegenwärtigkeit Manets impliziert noch lange keine Erhellungskraft - jenseits der traditionellen Kunst; die so in den Blick gefaßte Medialität des Tafelbilds sagt nicht viel über die Gegenwart und ihr technologisches Fundament, über die technischen Medien oder das Medienwissen und dessen Geschichte. Vielmehr erhärtet das Beispiel ein, wenn man so will, methodologisches Paradox. Foucault hat zwar die Medialität, weil Materialität des Diskurses in Opposition zu den Kategorien des »Geistes«, der »Mentalität«, des »Werks« und so fort unterstrichen; doch hat ihn diese Medialität darüber hinaus kaum interessiert. Sie war nur der eine von zwei Polen, in deren Zwischenfeld der Diskurs seine »Funktion« entfaltet. Der Diskurs nach Foucault ist weder von »derselben Art wie der Satz, die Proposition oder der Sprechakt«, noch geht er gänzlich darin auf, »ein materieller Gegenstand« zu sein. Er erfüllt »eine Existenzfunktion«, 36 und gemäß dieser Bestimmung fokussierte Foucault sowohl die Durchkreuzung der Malerei durch »eine diskursive Praxis«37 im besonderen als auch die theoretische Frage im allgemeinen: ob die faktische Beschränkung der in seinen Untersuchungen vorgeführten Diskursanalyse auf die Epoche der Buchkultur »einer Notwendigkeit gehorcht, die sie nicht überschreiten könnte, - oder hat sie nach einem besonderen Beispiel Analyseformen skizziert, die eine ganz andere Ausdehnung haben können?« 38

IV. . . . und die Analyseformen historischer Techno-Logie Es sind, versteht sich, vielerlei Verhältnisse zwischen Diskurs und Medium konstatierbar: das der Ablösung des Diskursmonopols durch die Pluralität konkurrierender Medien (samt ihrer computertechnischen Remonopolisierung) ebenso wie das einer Erweiterung des Diskursbegriffs (Literaturbegriffs, Textbegriffs) in Richtung

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Vgl. M. Foucault: Archäologie des Wissens (Anm.23). S.276f. und dazu Foucaults wenig später (am 20. 5.1971) in Hinis gehaltenen Manet-Vortrag: La peinture de Manet, zuerst abgedruckt in: Les cahiers de la Tunisie. Numéro spécial: Foucault en Hinisie. Tunis 1980. S. 61-87; jetzt auch in Übersetzung: Michel Foucault: Die Malerei von Manet. Berlin 1999. M. Foucault: Die Malerei (Anm.34). S.5f. - Für eine von Bataille ausgehende, in die gleiche Richtung zielende Erkundung Manets und seiner Folgen vgl. jetzt Yves-Alain Bois/ Rosalind E. Krauss: Formless. A User's Guide. New York 1997. M. Foucault: Archäologie des Wissens (Anm.23). S. 126. M. Foucault: Archäologie des Wissens (Anm.23). S.276. M. Foucault: Archäologie des Wissens (Anm.23). S.274.

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bildlicher, filmischer, computersimulatorischer Artikulationsformen oder auch das einer den Medien sich verdankenden Amplifikation des Diskurses (Reden über die Medien, Reden in den Medien). All das erbringt indes noch keine Diskursanalyse der Medien. Um sie zu begründen (im doppelten Wortsinn), ist vielmehr gerade von ihrer Begrenzung auszugehen. Sowohl das Reden über sie als auch das Reden in den Medien liefert als Analyseobjekt keineswegs die Medien selber, sondern einzig und allein einen Beweis mehr, daß Reden an Reden anschließen können, weiter nichts. Dem Aufweis der Medialität des Diskurses korrespondiert die Einsicht in seine Bedrohung durch die Konkurrenz anderer Medien. Aber diese Konkurrenz besteht oder bestand lange Zeit nur in einem Nebeneinander verschiedener Zuständigkeiten für Ton, Bild und Schrift. Auch das konturiert den Diskurs in seiner Begrenztheit. Gleichwohl ist die Limitation des Diskurses vollends erst von dem Punkt her zu begreifen, an dem er weniger ein ihm von anderer Seite gesetztes als vielmehr sein Ende aus sich selbst erreicht. An diesem Punkt, auch wenn sie ihn nicht als solchen ausdrücklich machen, treffen sich die Darlegungen Nietzsches, Heiders und Foucaults. Nietzsche pointierte die - generell die Wissenschaftsgeschichte des 19. Jahrhunderts prägende - Übersetzung transzendentalphilosophisch gedachter Erkenntnisaprioris in diejenigen einer Psychophysik, die gleichzeitig mit dem Advent technischer Medien im Bunde stand. Heider stieß auf die neue Medialität elektr(oni)scher Schaltungen, die ihm kategorial noch ein Rätsel bleiben mußte, indem sie das Fassungsvermögen des alten phänomenologisch orientierten Medienbegriffs übersteigt. Und Foucault gehorchte zwar der Denknotwendigkeit moderner Informationstechnologie, langte in ihrer Anwendung aber nicht über den von Heider markierten Umbruch hinaus. Denn es ist ein Umbruch, mit dem die Heraufkunft einer »allgemeinen Schaltungstechnik« 39 gerade den Diskurs konfrontierte (und seitdem konfrontiert). Bald genug schritt sie in Theorie und Praxis »zur systematischen Entwicklung von Schaltungen mit Hilfe der Operandenrechnung«, 40 also zu einer »Methode«, die »kurz folgendermaßen beschrieben werden [kann]: Jede Schaltung wird durch eine Menge von Gleichungen dargestellt, wobei die Terme der Gleichungen den verschiedenen Relais und Schaltern der Schaltung entsprechen.« 41 So entstand eine neue Anschreibbarkeit, die wie keine andere den Texten, die unter ihrer Ägide möglich und wirklich wurden, wahrhaft generative Macht verlieh. Bis hin zu dem Traum, Computerprogramme als literarische Dokumente zu behandeln, 42 reicht

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Vgl. die neuerdings auch ins Deutsche übersetzte Grundlegung von Claude E. Shannon: Eine symbolische Analyse von Relaisschaltkreisen [1938]. In: Ders.: Ein/Aus. Ausgewählte Schriften zur Kommunikations- und Nachrichtentheorie. Berlin 2000. S. 177-216. Zur deutschsprachigen Einführung von Wort und Sache s. ein Jahr später Hansi Piesch: Begriff der allgemeinen Schaltungstechnik. In: Archiv für Elektrotechnik 33,1939. S.672686, sowie Hansi Piesch: Über die Vereinfachung von allgemeinen Schaltungen. In: Ebd. S. 733-746. H. Piesch: Begriff (Anm.39). S.681. Claude E. Shannon: Symbolische Analyse (Anm.39). S. 179. Vgl. Donald E. Knuth: Literate Programming. Stanford 1992.

Diskurs und Medium

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diese Macht. Um aber zu laufen, müssen Programme in andere Codes übersetzt (assembliert und kompiliert) - und letztlich in physikalische Zustände oder eben Schaltkreise transponiert werden. Von daher ergibt sich als Pointe, Paradox oder Ironie: Die »mächtigste Art von Maschine« ist - noch einmal - »mit Worten« (oder alphanumerischen Zeichenketten) gemacht,43 aber diese Worte erfahren durch eben dieselbe Maschine ihre Auflösung. Das ist die Besonderheit des Computers als Medium (wie darum der History of Computing als ein gegenüber Filmtheorie und Fernsehsoziologie zu bevorzugender approach): daß er nicht nebenher existiert, nicht neben dem Text, der ihn entwirft, so wenig wie einfach neben den anderen Medien, die er ja vielmehr sämtlich in sich vereinigt, indem er - sehr im Gegensatz zu allen anderen Medien - exekutiert (tut, verrechnet, verwest), was ihn hervorbringt. Der Bruch, der ihn und den er bewirkt, verläuft zwischen der Schreibmaschinentastatur, wie Foucault sie noch Zeichen und Zeichenketten als Aussagen zu Papier bringen sah, und dem Keyboard, das das QWERTY seiner Beschriftung als Signalfolge an den Rechner übermittelt. Der Diskurs, könnte man sagen, ist damit seinerseits zur Fabel geworden. Ohne seine Verflüchtigung wäre es vermutlich bis heute nicht zu dem Gerede gekommen, das ihn oder sich selber zum Gegenstand hat. Jedenfalls erweist sich das Verhältnis von Diskurs und Medium hier technisch real als das einer Begrenzung und der Spielraum fortgesetzter Diskursanalysen in erster Linie als der entsprechender Grenzvermessungen. Mag das Geblöke der Reden und Meinungen in und über Medien noch anschwellen; mögen die Medien, wie alle technischen Erfindungen, von einer Art Lichthof der Faszination umgeben sein, so daß es den beiden traditionellen Polen literaturwissenschaftlicher Umtriebigkeit - Wort-und-Gedanken-Befragung einerseits, Ausdeutung des Imaginären andererseits - auch in Zukunft nicht an Betätigungsfeldern (so wenig wie an der Möglichkeit, sich für Medienwissenschaft zu halten) gebrechen wird. Sollen nicht »Vorstellungen hinter den Diskursen« 44 behandelt werden, sondern der Diskurs wie die Medien in ihrer äußerlichen Tatsächlichkeit, führt der Weg von der Diskursanalyse zur Technikanalyse. Diese gibt »das negative Spiel einer Beschneidung und Verknappung des Diskurses«45 zu erkennen, wodurch jener - wenn also überhaupt noch der Diskurs gegenüber den Medien und ihrer Technik in Anschlag gebracht wird - die Funktion zukommt, die Foucault als Kritik definiert hat. Denn es ist die Limitation des Diskurses lehrreich, um das Mindeste zu sagen, für die Limitiertheit auch der anderen Medien. Der menschliche Hochmut, als den Nietzsche die Illusion des Erkennens entlarvt hat, macht ja auch vor ihnen nicht halt. Als etwa in den Anfängen des Fernsehens noch für ungewiß galt, ob eine über

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Oswald Wiener et al.: Eine elementare Einführung in die Theorie der Turing-Maschinen. Wien - New York 1998. S. 12, mit Jacques Lacan: Das Seminar. Buch II (1954-1955): Das Ich in der Theorie Freuds und in der Technik der Psychoanalyse. Olten-Freiburg 1980. S. 64. M. Foucault: Ordnung des Diskurses (Anm.24). S.41. M. Foucault: Ordnung des Diskurses (Anm.24). S.36.

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Bernhard J. Dotzler

die ersten Versuchsanordnungen hinausgehende brauchbare »elektrische Übertragung beweglicher Bilder« realisierbar sei, arbeitete diesem Zweifel oder dieser Unwahrscheinlichkeit nicht sogleich technische Optimierung entgegen, sondern das Argument, daß die zu erfüllenden Anforderungen »wesentlich geringer« seien »als früher angenommen«. Auch die »Möglichkeit des Fernsprechens« sei ehemals »genau so angezweifelt« worden, »wie heute die Möglichkeit des Fernsehens angezweifelt wird«. Das menschliche Ohr »vermag noch sehr hohe Töne bis über 8000 Hz festzustellen«. Und doch kann man mit einem Frequenzband von nur 2500 Hz »eine vollkommen ausreichende Verständlichkeit erzielen«. Es kommen nämlich dem Ohr - nicht anders als dem Auge - »Gedächtnis« und »Phantasie« zuhilfe. »Man unterscheidet beim Fernsprechen deshalb zwischen Silben-, Wort- und Satzverständlichkeit, bei denen die Phantasie in immer größerem Ausmaß tätig wird.« Was mithin zählt, ist - oder sei - der »subjektive Eindruck«. »Rein subjektiv« habe man festgestellt, »daß die [telefonisch übertragene] Sprache verständlich war«; »rein subjektiv« sei schon bei grobem und gröbstem Bildraster »das Erkennen einer sichtbaren Handlung möglich«. Wie das »Fernhören« funktioniere also auch das »Fernsehen«, indem weniger übertragungstechnische Wunder als vielmehr »die Anregung der ergänzenden Phantasie eine Voraussetzung für guten Empfang« bilde. »Die Betrachtung einer fortlaufenden Spielhandlung«, heißt die medienvergleichende Begründung in aller Schlichtheit, »entspricht einem zusammenhängenden Ferngespräch. Genau wie ein Ferngespräch geführt werden kann, auch wenn einmal ein ganzer Satz unverständlich bleibt, so ist auch das Erkennen einer sichtbaren Handlung möglich, selbst wenn einzelne Phasen derselben nicht erkannt werden.«46 Die Argumentation, daß Fernsehen möglich sei, vollzieht so einen Wechsel vom technischen Medium oder Kanal auf die Leistung des Erkenntnissubjekts, der Wahrnehmung, der Rezeption. Einmal mehr sieht es danach aus, als bestätigte sich der erkenntnistheoretische Stolz einer Rezeptionsästhetik, wie die Allianz von goethezeitlich-idealistischer Philosophie und sinnesphysiologischer Empirie sie ins Werk setzte.47 Zugleich aber tritt der Betrachter, Zuschauer, Rezipient als (im mathematischen Wortsinn) Argument einer Funktion der Technik auf. Diese Technik wird in all ihrer Megalomanie und ihrer Begrenztheit vorgeführt: »Also benötigt man zum Fernsehen die Übertragung von 80 Millionen Bildpunkten in einer Se-

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Erwin Roessler: Die physiologischen und die psychologischen Grundlagen des Fernsehens. In: Zeitschrift für technische Physik 10,1929. S. 519-525. Vgl. Johannes Müller: Ueber die phantastischen Gesichtserscheinungen. Coblenz 1826. Zur Mediengründerzeit hielt diese Schrift ein Teilabdruck in: Hugo von Hofmannsthal (Hg.): Deutsches Lesebuch. Zweite vermehrte Auflage. München 1926. Bd. 1. S. 253-256, präsent. »Johannes MÜLLER, der Physiolog (1801-1858)« wird darin (S.337f.) wie folgt vorgestellt: »Sein >Handbuch der Physiologie des Menschen< schuf die Grundlagen der neueren experimentellen Physiologie und der strahlenförmig von ihr ausgehenden Nebenwissenschaften. Aber schon in seinen ersten Arbeiten, die den Gesichtssinn und die phantastischen Gesichtserscheinungen< zum Gegenstand haben und noch völlig in Goethes Lebens- und Wirkungskreis fallen, tritt er als ein herrlicher Schüler dieses Meisters hervor, das Aussen und Innen mit hoher Intuition sprachgewaltig zu verknüpfen.«

Diskurs und Medium

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künde«, sprich »40 Millionen Hertz« - so würde eine rein technische Hochrechnung oder das techno-logische Begehr sui generis es verlangen; praktisch steht oder stand indes »höchstens ein Frequenzband von ± 5000 Hz« zur Verfügung, und das reicht hin, insoweit »der subjektive Eindruck eines Fernsehbildes« ausschlaggebend ist so antwortet dem Begehr die pragmatische Einschränkung nicht weniger techno-logischer Konvenienz. 48 Der Rezipient supplementiert die Aussparungen, Begrenzungen, Lücken, wie die Technik sie bedingt. Aber als deren Funktionsprinzip - ihre Wirklichkeit und Bannkraft - zeichnet sich dadurch gerade das Moment der Selektion und/oder Abstraktion in aller Deutlichkeit ab, wie es, übereinstimmend mit Heiders Beobachtung am vermeintlichen Sonderfall der Meßapparate, die Medien als Medien definiert. Die Logik der technischen Spezifikation ist somit kritisch per se zu nennen. Ihre Anwendung bringt indes alles andere als nur und ausschließlich mathematisch-physikalische Parameter zur Sprache. Vielmehr klingt ebenso an, wie die Technik in (mit McLuhans Formel) die »Situation des Menschen« involviert ist. Ausdrücklich beruft sich das gegebene Beispiel früher Fernsehwissenschaft auf »das Vorhandensein des blinden (Mariettesehen) Fleckes« 49 und bietet entsprechende Bildtafeln zum Selbstversuch an. Aber solcher Explizitheit bedürfte es gar nicht, um über jeden Zweifel erhaben sein zu lassen, daß sein Beweisgang - seine Beschwörung des subjektiven Eindrucks - mit der Experimentalkultur der Psychophysik im Bündnis steht. Die idiomatisch gewordene Mattscheibe macht jedes Wohnzimmer zum Versuchslabor. Ineins mit der techno-logischen Limitation des Mediums rückt dergestalt in den Blick, wie dasselbe Medium - durch, aber nicht allein reduziert auf seine ingenieurstechnischen Aspekte - im Wissen figuriert. Immerhin umreißt der wahrnehmungspsychologische Argumentationszusammenhang auch die Systemstelle, an der das Medium nicht nur nach dem Zutrag seines sogenannten Benutzers heischt, sondern sich anheischig macht, dessen Platz einzunehmen. Überschriften wie die über Paul Nipkows Patent vom 6. Januar 1884, das ein »Elektrisches Teleskop« in Aussicht stellt, präsentieren das Fernsehen als eine (weiter als mit »unbewaffnetem« Auge) sehen lassende Vorrichtung. Andere jedoch sprechen unumwunden von seiner eigenen Fähigkeit wahrzunehmen. Die »Photozelle«, das »elektrische Auge«, heißt es in einer zeitgenössischen Broschüre zur »Wirkungsweise der Fernsehtechnik«; 50 das Fernsehen, verrät ein damaliger Buchtitel wörtlich, emergiert aus der Konstruktion Sehender Maschinen.51 Heiders Vision von einem Apparat, »der auf äußere Dinge durch ein Medium sinnvoll zugeordnet reagiert«, war also schon keine bloße Science Fiction mehr, sondern die Realität der Medialität,

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E. Roessler: Grundlagen (Anm.46). S.519f. u. 525. E. Roessler: Grundlagen (Anm.46). S.522. Wilhelm Schräge: Fernsehen. Wie es vor sich geht und wie der Radiohörer daran teilnehmen kann. Ein praktischer Wegweiser. München 1929. S.3 u. 25. Chr. Ries: Sehende Maschinen. Eine kurze Abhandlung über die geheimnisvollen Eigenschaften der lichtempfindlichen Stoffe und die staunenswerten Leistungen der sehenden Maschinen. Diessen vor München 1916.

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die seine Begriffe übersteigt. Nicht einmal ein halbes Jahrzehnt später baute ein gewisser Gustav Tauschek eine »Maschine mit Gesichtssinneffekt«. 52 In ihr überkreuzen sich die Linie der Fernsehentwicklung und die der History of Computing als der Geschichte maschineller Intelligenzbegabung.53 Jener Gustav Tauschek dachte und konstruierte nämlich in den Fußstapfen der Lochkartenmaschinen Herman Holleriths, denen ein Charles Babbage vorherging, der wiederum die Webstühle Joseph Marie Jacquards zum Vorbild genommen hatte. Zu behaupten, daß deshalb sowohl in jedem heutigen TV-Gerät als auch in jedem Notebook ein (milliardenfach kopiertes) Denkmal dieses Textilindustriellen zu sehen sei, wäre sicherlich überspitzt. Aber das beste Denkmal, das ihm tatsächlich gesetzt wurde, verrät doch genug über die seitdem implementierte Bilderwelt. »Es gibt ein wunderschönes gewebtes Portrait von Jacquard, zu dessen Herstellung 24000 Lochkarten erforderlich waren«,54 erinnern dazu die Schriften von und über Babbage, und es gab, wie Babbage außerdem berichtet, den Dienstagnachmittag des Jahres 1842, an dem es zu einer bezeichnenden Verwechslung kam. An diesem Nachmittag empfängt Babbage hohen Besuch: Graf Mensdorf, Herzog von Wellington und Prinz Albert (der, von dem heute das Victoria & Albert Museum, einst Museum of Ornamental Art, seinen Namen trägt). Allen drei soll Babbages berühmte neue Rechenmaschine vorgeführt werden. Aber bevor er seine Gäste in die Geheimnisse seiner eigenen Konstrukteursarbeit einweiht, führt Babbage sie vor ein Exemplar des besagten Jacquard-Portraits, deren eines er besitzt. »Oh! Dieser Stich?« markiert Wellington höfliche Neugier. Prinz Albert dagegen ahnt sofort, »das ist kein Stich«, ohne jedoch des Rätsels Lösung zu erraten, die erst Babbage auskostet: »Das gewebte Portrait war in Wirklichkeit ein Stück gewebter Seide, das gerahmt und mit Firnis versehen worden war; es glich allerdings so vollkommen einem Stich, daß es fälschlicherweise sogar von zwei Mitgliedern der Royal Society dafür gehalten worden war.«55 Zeitgleich zur Ausbreitung von Lithographie und Photographie trat so eine Reproduktionstechnik in Konkurrenz zu Holzschnitt, Kupferstich und Radierung, die noch einem Benjamin verschlossen blieb. Niemand konnte ihre Bedeutung ahnen, nicht einmal Babbage selbst, so deutlich die Examinierung seiner Besucher vor dem gewebten Portrait als Propädeutikum zur folgenden Demonstration einer Zukunftstechnologie (gemäß Babbages eigener Einschätzung seiner Rechenmaschinen) inszeniert ist. Der Vorgang spielt nicht auf der Ebene individueller Bewußtheit. Lange vor der Ausbildung der zugehörigen Begrifflichkeit zeigt er die Maschine als (neues) Medium. Statt auf direkter oder bei aller Vermitteltheit (alias

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Vgl. Josef Nagler: In memoriam Gustav Tauschek. In: Blätter für Technikgeschichte 28, 1966. S. 1-14. Dazu ausführlicher Bernhard J. Dotzler: Die Schaltbarkeit der Welt. Herman Hollerith und die Archäologie der Medien. Erscheint in: Stefan Andriopoulos/Bernhard J. Dotzler (Hg.): 1929. Schnittpunkte der Medialität. Frankfurt/M. 2003. Babbages Rechen-Automate. Ausgewählte Schriften. Hg. v. Bernhard J. Dotzler. BerlinNew York 1996. S.365f. (mit Abb.). Charles Babbage: Passagen aus einem Philosophenleben [1864]. Berlin 1997. S. 116f.

Diskurs und Medium

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Medialität im alten Sinne) doch unmittelbarer Widerspiegelung basiert die Bildwiedergabe hier auf einem Code, der das Bild generiert. Das ist - mit der in das Portrait mit eingewobenen Gravur zu sprechen, die keine Gravur mehr ist - das Ereignis »à la mémoire de J. M. Jacquard«. Ein solches Ereignis aber bedeutet eine Verschiebung in der Ordnung des Wissens, der Techno-Logie - und damit einen Fall für jene »mit erbitterter Konsequenz betriebene Gelehrsamkeit«, »welche Fragen über Herkunft und Anfang aufwirft«, 56 also der Genealogie und der Archäologie. Man sieht ja, wie die von Babbage erzählte Anekdote pointiert, dem seidenen Kupferstichimitat seine buchstäbliche Fadenscheinigkeit nicht einfach so an. Genauso wenig wie am bloßen Artefakt namens TV-Gerät ablesbar wäre, daß sein technischer Hintergrund ein gewisses eigenes - dabei freilich niedriges, lächerliches: geeignet »alle Eingenommenheiten zu zerstören« 57 - Sehvermögen ist, das wiederum mit der ganz anders scheinenden Technik lochkartengesteuerter Schaltkreise in Zusammenhang steht. Solche Zusammenhänge sind eine Frage der Wissenskonfigurationen, die sich in Maschinen und/oder Medien verkörpern: ihrer Archäologie, wie gesagt, als der Frage nach den grundierenden Wissensformationen einer Kultur; und ihrer Genealogie als der Frage nach den Herkunfts- und Fortpflanzungslinien des Wissens und seiner Verkörperungen. Der selbsternannte Vater der Kybernetik, um deren Geschichte es nicht zuletzt geht, sprach (nicht als erster) von Technik generell als verkörpertem Wissen; einer seiner Weggefährten präsentierte speziell dessen kybernetische Verkörperungen als »Embodiments of Mind«.58 Will man aber mit dieser These Ernst machen, will man also die Realität der Medien auf diese Dimension ihrer Körperlichkeit oder Materialität, will sagen: auf ihre Wissensgeschichte, auf die sie prägende und von ihnen geprägte Wissenskultur hin erforschen, bedarf es im Gegenzug immer auch der Korrelation ihrer Materialität oder Technizität mit - eben: dem Wissen, der Techno-Logie, den Konfigurationen, in die sie eingelassen ist. Mit anderen Worten, wie das kritische Moment der medialen Limitation des Diskurses von der Diskursanalyse zur Technikanalyse überzugehen nötigt, bedarf die Technikanalyse, um mehr als bloß die Abschilderung von Artefakten zu leisten, der Diskursanalyse. Gerade der Bruch oder die Spannung zwischen Diskurs und Medium eröffnet das Feld der hier - in ihrem Bezug auf Techniken, Maschinen, Medien - historische Techno-Logie getauften Analyseformen. Die Fabelhaftigkeit der »wahren Welt« hat nicht nur »den Menschen« in ihren Bann gezogen. Auch »die Medien« sind durchaus fabelhaft.

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Michel Foucault: Nietzsche, die Genealogie, die Historie. In: Ders.: Von der Subversion des Wissens. Frankfurt/M.-Berlin-Wien 1982. S. 83-109 (hier: S.83f.). Wie Foucault mit Nietzsche unterstrichen hat, daß »das historische Beginnen etwas Niedriges« ist, »etwas Lächerliches, das geeignet ist, alle Eingenommenheiten zu zerstören« (ebd., S.86). Vgl. Norbert Wiener: Cybernetics or control and communication in the animal and the machine [1948/1961], Cambridge/Mass. 1985. S.38 und Warren McCulloch: Embodiments of Mind. Cambridge/Mass. 1965.

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(Bayreuth)

Medien und ihre kulturelle Konkretion Eine ethnologische Perspektive

In einem Cartoon von Gary Larson sieht man eine Gruppe von Eingeborenen: Einer von ihnen schreit: »Anthropologists! Anthropologists!« und die übrigen versuchen rasch, ihre Fernseher, Videorekorder, Lampen, Telefone und Satellitenschüsseln vor den herannahenden Wissenschaftlern zu verstecken. Das Bild mag überzeichnet sein, doch trifft es durchaus die Grundeinstellung vieler Ethnologen, die lange einen großen Bogen um all das machten, was ihnen als leidige Begleiterscheinung der westlichen Moderne galt. Schließlich war die Ethnologie einmal angetreten, andere, vermeintlich authentische und alternative Kultur- und Gesellungsformen zu erforschen, um dann stets deren »Ungleichzeitigkeit«2 zu konstatieren. In einem provozierenden Aufsatz mit dem Titel The Interpretation ofCulture(s) after Television attackiert Lila Abu-Lughod nicht nur die allgemeine Medienvergessenheit der ethnologischen Theoriebildung; sie zeigt auch auf, wie problematisch es inzwischen geworden ist, Kulturen weiterhin als lokalisierte Gemeinschaften von Personen zu sehen, die in ein stabiles gemeinsames Geertzsches Bedeutungsnetz eingebunden sind.3 Die Ethnologie hat sich - von wenigen Ausnahmen abgesehen4 - mit dem Thema der Medien lange Zeit ausschließlich aus methodischer Sicht befaßt. Ihr ging es um die Anwendungsmöglichkeiten von Fotografie und Film im Rahmen von Forschung und Lehre. Das geschah im Rahmen der Visuellen Anthropologie, einer Forschungsrichtung, die erstmals dezidiert für die Emanzipation der Bilder und des

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Bei dem vorliegenden Aufsatz handelt es sich um eine überarbeitete Version eines im Dezember 1999 im Rahmen der Ringvorlesung »Medien und kulturelle Kommunikation« an der Universität Köln gehaltenen Vortrags. Für Anregungen und Diskussionen danke ich Kerstin Pinther, Heike Behrend und den Mitarbeitern des kulturwissenschaftlichen Forschungskollegs. Vgl. dazu Johannes Fabian: Time and the Other. How Anthropology Makes its Object. New York 1983. Lila Abu-Lughod: The Interpretation of Culture(s) after Television. In: Representations 59,1997. S. 109-133. Im Zweiten Weltkrieg haben US-amerikanische Anthropologen wie Gregory Bateson und Margaret Mead deutsche und japanische Spielfilme analysiert, um Unterschiede zwischen Nationalkulturen und die Entstehung des Faschismus zu erforschen. Vgl. dazu: Gregory Bateson: Cultural und Thematic Analysis of Fictional Films. In: Transactions of the New York Academy of Sciences (Series 2) 5,1943. S. 72-78. Sowie: Margaret Mead/ Rhoda Metraux: The Study of Culture at a Distance. Chicago 1953. Hortense Powdermaker legte zur gleichen Zeit eine ethnografische Pionierstudie über Hollywood vor: Hollywood: The Dream Factory. Boston 1950.

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Bildlichen in den von Wort und Schrift dominierten Wissenschaften vom Menschen eintrat. Margaret Meads berühmter Aufsatz von 1973 Visual Anthropology in a Discipline of Words5 verkündete das Programm, dessen Kernstück und Paradigma bis weit in die 1980er Jahre hinein der ethnografische Film war. Doch in den 1990er Jahren war vom ethnografischen Film kaum mehr die Rede. Und der 1998 im amerikanischen Williamsburg abgehaltene ICEAS-Kongress stand nun unter dem Motto Visual Anthropology in a World of Images. Das war mehr als ein geschicktes Wortspiel, verkündete es doch zugleich die neue Herausforderung, die durch die weltweite Mediatisierung entstanden war. Worum es geht, ist ein kulturanthropologisch fundierter Zugriff auf die neuen Bilderfluten, die unseren Globus überschwemmen und die lokalen Bildwelten dabei zunehmend hybridisieren. Doch ist die Überlagerung der lokalen Bildwelten nur die eine Seite der Medaille. Die andere ist, daß mit dem weltweiten Siegeszug der neuen Medientechnologien die früheren medialen Monopole des Westens endgültig gebrochen wurden. Überall wird inzwischen fotografiert, gefilmt, montiert und gesendet, überall werden Medien >hybridisiertkreolisiert< und >indigenisiert< (also an lokale Bedürfnisse adaptiert), werden sie ins Repertoire der Abbildungstraditionen integriert, verändern sie kulturelle Praxen und Diskurse ebenso, wie sie Kultur neu konstituieren. Erste Ansätze zur Klärung dieser Fragen gibt es innerhalb der Medienanthropologie, die die Visuelle Anthropologie langsam abzulösen scheint.6 In dem gleichem Maße, wie man von einer >Medienvergessenheit< der ethnologischen Kulturtheorie sprechen kann, muß man allerdings auch umgekehrt eine >Kulturvergessenheit< der Medientheorie konstatieren, scheut sie sich doch ihrerseits, über den euroamerikanischen Kulturkreis hinauszublicken. Mit der rühmlichen Ausnahme von Marshall McLuhan 7 und Régis Debray 8 vermißt man bei den meisten Medientheoretikern überhaupt das Bewußtsein dafür, daß Medien nicht nur selbst Kultur konstituieren, sondern auch ihrerseits kulturellen Konkretionen unterliegen.9

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Margaret Mead: Visual Anthropology in a Discipline of Words. In: Principles of Visual Anthropology. Hg. von Paul Hockings. Den Haag-Paris 1975. S. 3-10. Vgl. dazu auch Heike Behrend: Die Rückkehr der gestohlenen Bilder. Ein Versuch über wilde Filmtheorien. In: Anthropos 85,1990. Debra Spitulnik: Anthropology and Mass Media. In: Annual Review of Anthropology 22,1993. S. 293-315. Dorle Dracklé: Medienethnologie: eine Option auf die Zukunft. In: Wozu Ethnologie? Hg. von Waltraud Kokot/ Dorle Dracklé. Berlin 1999. S. 261-290. Sowie: Media Worlds. Anthropology on New Terrain. Hg. von Faye Ginsburg/Lila Abu-Lughod/Brian Larkin. Berkeley 2002. Marshall McLuhan: Die magischen Kanäle. Understanding Media. Dresden-Basel 1995 (1964). Régis Debray: Vie et mort de l'image. Une histoire du regard en Occident. Paris 1992. Ders.: Manifestes médiologiques. Paris 1994. Ders.: Histoire de quatres M. In: Cahiers de médiologie 6,1998. S. 7-24. Trotz ihres spekulativen Charakters sind die Arbeiten McLuhans für die ethnologische Medienforschung interessanter als viele andere Richtungen (etwa die »schriftzentrierten« Ansätze von Kittler, Flusser oder Postman oder der »systemtheoretische« von Luhmann).

Medien und ihre kulturelle Konkretion

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Daß die Botschaft eines Mediums nicht immer die gleiche sein muß, hat Marshall McLuhan im übrigen selbst am Beispiel des Buchdrucks in England eingeräumt, der dort ja gerade nicht - und damit anders als in Frankreich oder Deutschland - zur Kodifizierung des Rechts führte. McLuhan rekurriert hier - in Anlehnung an Alexis de Tocqueville - auf den eigentümlich unberechenbaren Charakter der englischen Kultur, der die Engländer - entgegen jeder Medienlogik - an ihrem althergebrachten »case law« festhalten ließ. 10 Was bei McLuhan jedoch gleichsam noch als Ausnahme von der Regel erscheint, ist bei Régis Debray in Ansätzen bereits systematisch beschreibbar. Hier erzeugen die Medien selbst noch keine zwingenden kulturellen Konfigurationen, vielmehr integrieren sie sich in die bestehenden kulturellen Milieus und treten mit diesen in nicht-lineare, wechselseitige Austauschprozesse. 11 Debray benutzt hier - ähnlich wie Arjun Appadurai 12 - den Ausdruck »Mediasphä-

Das liegt zum einen an dem den Medien hier explizit zugestandenen Werkzeugcharakter, zum anderen daran, daß Kulturvergleich und Interdisziplinarität immer im Mittelpunkt stehen. Ein Forscher, der heute beinahe vergessen ist (weil er zunehmend in den Schatten McLuhans geriet), ist der Ethnologe Edmund Carpenter. Carpenter und McLuhan hatten im Jahre 1953 gemeinsam den ersten Antrag an die Ford-Foundation gestellt, aus dem sowohl die Zeitschrift Explorations (1953-1959) als auch das Centre for Culture and Techology in Toronto hervorgingen (vgl. Edmund Carpenter: That not so Silent Sea. Unveröffentlichtes Manuskript. New York o. J.). Anfang der 1970er Jahre war Carpenter im Auftrag der Regierung von Neuguinea unterwegs, um die Situation der Medien genauer zu erkunden. In seinem 1973 erschienenen Buch Oh What A Blow That Phantom Gave Me! (New York; deutsche Übersetzung unter dem Titel: Sinnestäuschung. Wie Medien unsere Wahrnehmung verändern. München 1994) schildert er eine Fülle interessanter Beobachtungen und Analysen. So berichtet er z. B. von Briefvorlesern, die sich beim Vorlesen der Briefe ihrer Kunden die Ohren zuhielten, weil sie über den Inhalt nicht Bescheid wissen sollten (Sinnestäuschung, S. 82), oder von traurigen Häuptlingen, denen niemand mehr zuhören wollte und die deshalb ihre Reden zuhause auf Tonband aufnahmen, um dann das Band auf dem Dorfplatz abspielen zu lassen, wodurch ihre Worte - medial verstärkt - neue Macht gewannen (Sinnestäuschung, S. 11). Für eine wissenschaftliche Einschätzung von Carpenters Einfluß auf McLuhan siehe auch: Harald Prins: >Let me tell you a storyc Edmund Carpenter as Forerunner in the Anthropology of Visual Media. Göttingen: Unveröffentlichtes Manuskript 2001. 10

M. McLuhan: Die magischen Kanäle (Anm.7). S. 32 f. Debray schreibt: »La machinérie [...] ne détient que la moitié du programme, le millieu fait l'autre, et la causalité est circulaire. Un médium pousse par le millieu, qui en fait ou non la demande.« (Manifestes médiologiques [Anm.8], S. 28) Und weiter: »L'erreur des futurologues et la déception des futuristes proviennent ordinairement d'une surestimation des effets du médium par sous-sousestimation des trames lourdes du millieu.« (Manifestes médiologiques [Anm.8]. S.28) Eine Mediologie, die diesen Namen wirklich verdient, muß inter· und pluridisziplinär agieren: »La prise en compte de l'effet-retour ne date pas non plus d'aujourd'hui. Ethnologues et sociologues nous ont appris ce que l'homme fait de ses outils (l'empreinte sociale des artefacts). Technologues et épistémologues, nous ont appris ce que ses outils font à l'homme (plutôt du bien). La diagonale médiologique croise les registres >technique< et >culturemoderne< (technische) Formen aufzuspalten, denn ein solches Verfahren würde der Komplexität gegenwärtiger Medienkulturen nicht gerecht, die ja gerade dadurch geprägt ist, daß sowohl >traditionelle< Medien in >modernen< Kulturformationen überleben als auch >moderne< Medien in >traditionelle< Praktiken integriert werden. Ich möchte dazu ein erstes Beispiel aus Westafrika anführen, und zwar für ein Medium, für das es in der westlichen Kulturgeschichte keine Entsprechung gibt. Bekanntermaßen hat man in Westafrika keine Schrift für das Auge entwickelt, wohl aber so etwas wie eine Schrift für das Ohr. Sie beruht auf dem Nachtrommeln standardisierter Sätze, wobei die Codierung der einzelnen Silben durch die unterschiedlichen Tonhöhen geschieht. Wir haben es hier mit Tonsprachen zu tun, also mit Sprachen bei denen die Tonhöhe zur Bedeutungsunterscheidung verwendet wird. Das Verfahren selbst ist entfernt vergleichbar mit dem, was einst geübte Telegrafen taten, wenn sie ein Telegramm rein nach dem Gehör aufnahmen, ohne dabei auf die Schrift zu sehen. Die in Ghana gebräuchliche Apparatur besteht z. B. aus dem atupaw-Trommelpaar, die männliche hat den etwas höheren, die weibliche den etwas niedrigeren Ton. Die dritte Trommel, die abuba, hat den Tiefton. Jeder Silbe entspricht ein Schlag. Länge bzw. Kürze einer Silbe bleiben unberücksichtigt, wohl aber finden die rhythmischen Intervalle zwischen den Silben ihre Entsprechung in der Stärke des Aufschlags. So erhält das Wort »Häuptling« òhéné ζ. Β. 3 Schläge: erst »mitteltief« - dann zweimal »hoch«. Allerdings werden keine einzelnen Worte getrommelt, sondern nur ganze Sätze. In einem Aufsatz aus dem Jahre 1907 schreibt der deutsche Afrikanist Dietrich Westermann: Man kann die Trommelsprache sowohl der Telephonie als auch der Télégraphié vergleichen; ersterer, insofern der erzeugte Schall in die Ferne getragen wird, um dort gehört, verstanden und beantwortet zu werden, letzterer, insofern nicht das Wort der menschlichen Rede, sondern eine auf rein mechanischem Wege erzeugte Schallfigur das Mittel der Mitteilung ist, nur daß bei der (Morse-)Telegraphie Länge und Kürze, bei der Trommelsprache Höhe und Hefe für die Bedeutung des Schalles bzw. Tones entscheidend sind. 19

Man benutzte die Trommeln zum Erlassen von Gesetzen, zur Bekanntgabe von Gerichtsurteilen, zur Einberufung von Palavern, oder kündigte die Ankunft von Handelskarawanen an. Noch häufiger - insbesondere heute - ist jedoch der Tratsch und das Necken zwischen Nachbardörfern. Der Ablauf der Trommelkommunikation ist standardisiert. Die Ouvertüre macht meist ein Lob Gottes oder ein Sinnspruch. (Etwa: »Die Wege kreuzen die Flüsse - die Flüsse kreuzen die Wege. Welche sind

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W. J.T. Mitchell: Der Mehrwert von Bildern (Anm. 13). S. 158. Dietrich Westermann: Zeichensprache des Ewevolkes in Deutsch-Kongo. In: Mitteilungen des Seminars für orientalische Sprachen 10/3,1907. S. 1-14 (hier: S.8).

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älter?« Antwort: »Die Wege stammen vom Menschen, die Flüsse stammen von Gott«). Dann kommt die eigentliche Adressierung: Ortsname oder noch häufiger der Name des Häuptlings. Das ist nie sein wirklicher Name, sondern immer der viel bekanntere Preis- oder auch Spitzname. Der Name wird zweimal wiederholt. Dann erst beginnt die eigentliche Rede. Und meist folgt auch postwendend die Antwort. 20 Es handelt sich um einen in hohem Maße öffentlichen und zugleich auch unüberhörbaren Diskurs. Oft geht er die ganze Nacht. Kultur- und mediengeschichtlich interessant ist nun, daß die Ewe ihre heutige aus drei Trommeln bestehende Apparatur im 19. Jahrhundert von ihren westlichen Nachbarn, den Akan übernommen haben. Die Folge: Nicht nur die Trommeln wurden übernommen, sondern auch die getrommelten Sätze.21 Es kam also zu einer Art Sprachwechsel. Das konnte funktionieren, weil viele Leute sowieso zweisprachig waren; andere mußten jedoch, wollten sie fortan die Trommelsprache (wugbe) verstehen, das Akan neu erlernen. Die ältere Version der Trommelsprache mit der agblowu-Apparatur benutzte dagegen Sätze der Ewe-Sprache. Sie bestand aus einer einzigen Trommel. Man hält sie unter dem Arm und verändert die Tonhöhe durch Spannen bzw. Entspannen der Schnüre. Wir haben es hier also mit einem frühen Afrika-internen Fall von »Medien- und Kulturimperialismus« zu tun. Zugleich aber zeigt das Beispiel auch, daß sich mit den Veränderungen in der medialen Apparatur unter Umständen auch Veränderungen der medialen Codierungen ergeben können. 22

II. Medienbiografien Ende der 1980er Jahre sind in der Ethnologie eine Reihe recht einflußreicher Arbeiten erschienen, die sich mit den lebensweltlichen Verstrickungen von Objekten und Technologien beschäftigen, mit ihrem soziokulturellen Innenleben und ihren kulturgeschichtlichen Trajektorien. Erwähnt sei hier das 1986 von Arjun Appadurai herausgegebene Buch The Social Life of Things.23 In diesem Buch entwickelt Igor Kopytoff das Konzept der »kulturellen Biografien« von Dingen. Er illustriert dieses Biografie-Konzept am Beispiel eines Autos in Afrika:

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D. Westermann: Zeichensprache des Ewevolkes (Anm. 19). S.9f. D. Westermann: Zeichensprache des Ewevolkes (Anm. 19). S.6. Man hat die afrikanischen Trommeln oft mit einer Vorform des Radios verglichen. Und Marshall McLuhan, der die deutsche Kultur gerne als eine wenig visuelle, dafür aber umso mehr der auditiven Sinnesmodalität verhaftete beschrieb, hat versucht, diese besondere Sinnesdisposition der Deutschen mit dem Faschismus und dem Radio in Verbindung zu bringen. Mit ihrer starken »voralphabetischen Vitalität« seien die Deutschen gegen die »heisse Macht« des Rundfunks nicht gefeit gewesen. Er sprach wörtlich vom »Afrika in uns« (M. McLuhan: Die magischen Kanäle [Anm. 7]. S.456). Was die Deutschen angeht, mögen seine Überlegungen noch Sinn machen, was den Vergleich mit Afrika angeht, sind sie jedoch absurd. The Social Life of Things. Hg. von Arjun Appadurai. Cambridge 1986. Der Ansatz dieses

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The biography of a car in Africa would reveal a wealth of cultural data: the way how it was acquired, how and from whom the money was assembled to pay for it, the relationship of the seller to the buyer, the uses to which the car is regularly put, the identity of its most frequent passengers and of those who borrow it, the frequency of borrowing, the garages to which it is taken and the owner's relation to the mechanics, the movement of the car from hand to hand and over the years, and in the end, when the car collapses, the final disposition of its remains. All of these details would reveal an entirely different biography from that of a middle-class American, or Navajo, or French peasent car. 24 Dieser Ansatz ist auf Medien übertragbar. Nicht nur Individuen und Kollektive erwerben »Medienbiografien« (entsprechend ihrer Mediennutzungsgewohnheiten), auch Medien selbst entwickeln durch ihre spezifischen lokalen Vorgeschichten, ihre Entlehnungs- und Nutzungsweisen, ihre Interaktionsformen mit anderen Medien so etwas wie »kulturelle Biografien«. Das Biografie-Konzept unterstreicht einerseits die Belebtheit von Medien (oder um Mitchell 25 zu paraphrasieren: ihren aus spezifischen Verwendungspraxen resultierenden »Mehrwert«), andererseits ihre Geschichtlichkeit. In eine ähnliche Richtung zielt auch Stephen Greenblatt, wenn er die kulturellen Assimilationsmechanismen mit Enzymen vergleicht, durch die die ideologische Zusammensetzung der von außen eindringenden (Fremd-)Stoffe verändert wird 26 Vielleicht könnte man sich also der Einfachheit halber darauf verständigen, ein Medium zunächst als eine Art Repertoire von Verwendungspotentialen zu begreifen. Dabei liefert die Technologie lediglich eine notwendige, aber noch keine hinreichende Bedingung dafür, was aus einem Medium letztlich wird. Die entscheidenden kulturellen Konkretionsprozesse vollziehen sich erst auf der Ebene der alltäglichen Praxen. Hier werden die Verwendungspotentiale abgeschliffen, hier filtern sich bestimmte Verwendungsweisen heraus, hier erhalten die Medien gleichsam ihre »kulturelle Biografie« in Übereinstimmung mit den Szenarien ihrer Verwendung. 27

Buches hat auch die Beiträge der seit 1996 erscheinenden Zeitschrift Material Culture (London, Sage Publications) nachhaltig geprägt. 24 Igor Kopytoff: The Cultural Biography of Things. Commoditation as a Process. In: The Social Life of Things. Hg. von Arjun Appadurai. Cambridge 1986. S.67. 25 Vgl. W.J.T. Mitchell: Der Mehrwert von Bildern (Anm. 13). 26 Stephen Greenblatt: Wunderbare Besitztümer. Die Erfindung des Fremden: Reisende und Entdecker. Berlin 1994. S.13. 27 In eine ähnliche Richtung, wenn auch eher binnenkulturell ausgerichtet, argumentiert Grossberg: »The very force and impact [...] of any medium changes significantly as it is moved from one context to another (a bar, a theatre, the living room, the bedroom, the beach, a rock concert...). Each medium is then a mobile term, taking shape as it situates itself- almost always comfortably - within the different roadside rests of our lives.« (Lawrence Grossberg: The In-Difference of Television. In: Screen 28/2, 1987. S. 28-45 [hier: S. 34]). Nach wie vor sind aber die meisten Mediengeschichten etwa des Telefons Geschichten über technische Erfindungen und ihre heroischen Erfinder. Was dabei außer Acht bleibt, sind die verschiedenen Reaktionen und Debatten, die das Telefon ausgelöst hat, die technikinduzierten Veränderungen des Soziallebens und die damit korrespondierenden kulturellen Aneignungspraxen. Bei den Mitgliedern der pennsilvanischen Amish-Kirche führte das 1909 von den Führern erlassene Verbot des Telefons z. B. zu einer Spaltung, durch die

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III. Die Tragbarkeit des Radios Eine Ethnologin, die diesen »medienbiografischen« Weg beschritten hat, ist Debra Spitulnik. Am Beispiel der Radiokultur in Sambia zeigt sie auf, zu welchen Transformationen es kommen kann, wenn Medien aus ihren bestehenden Praxen herausgelöst und in neue lokale Kontexte eingebunden werden. 28 Das entscheidende Moment des Radios, so resümiert Spitulnik ihre Befunde, sei letztlich seine Tragbarkeit: »The actual portability of radios allows for (their) circulation in a way unachievable by most other mass-media. [...] They are portable machines and their sounds drift through social spaces.«29 Radios sind in Sambia ein hohes ökonomisches Gut ebenso wie die zu ihrem Betrieb notwendigen Batterien, die oft bis zu einem 1/10 des durchschnittlichen Monatseinkommens verschlingen. Entsprechend findig geht es beim Reaktivieren alter Batterien zu. Charakteristisch für die sambische Radiopraxis ist das Positionieren des Mediums im sozialen Raum. Das Radio wechselt immer wieder seinen Standort, es unterliegt einem ausgeklügelten Bewegungszyklus. Tagsüber hört man draußen, abends im Salon, und nachts wandert das Gerät ins Schlafzimmer seines Besitzers. Antisozial wäre, wer tagsüber mit seinem Radio drinnen bliebe und die anderen nicht teilhaben ließe. Auch die Lautstärke ist wichtig, denn wer das Gerät nicht wirklich laut stellt, erweist sich als Geizhals. (»Audiogeiz« wäre vielleicht der richtige Ausdruck.) 30 Man nimmt das Radio mit ins Büro oder aufs Feld, denn anders als in Europa gehören die Radios hier zur öffentlichen Sphäre. Man hört auf der Straße, auf dem Markt, an der Bushaltestelle oder im Bus. Und viele Staatsdiener tragen allabendlich ihr Dienstradio aus dem Büro nachhause. Das ist erlaubt. Aber nicht weil der Staat hier besonders großzügig wäre. Nein, es hat sich als eine wirksame Form der Diebstahlsprävention bewährt.

die Kirche etwa ein Fünftel ihrer Anhänger verlor. Die Amish-Häuser sollten vor den negativen Folgen des Telefons geschützt werden, denn man betrachtete die existierende Sozialordnung (das Ideal der Gelassenheit) als gefährdet. Später gestattete man jedoch die Einrichtung von Gemeinschaftstelefonzellen. Die mußten außerhalb der Häuser sein, um den »natürlichen« Rhythmus des Familienlebens weiter zu gewährleisten. Die Kirche fand also einen Kompromiß: Zugang zur aktiven Nutzungsmöglichkeit bei gleichzeitiger Geringhaltung der von außen kommenden Störungen (Vgl. dazu Diane Zimmermann Umble: The Amish and the Telephone. Resistance and Reconstruction. In: Consuming Technologies. Media and Information in Domestic Spaces. Hg. von Roger Silverstone/Eric Hirsch. London 1992). Anderswo sollte es bis zum Auftauchen der Anrufbeantworter dauern, um den von Carpenter so anschaulich beschriebenen unbedingten Appellcharakter des Telefons zu zähmen (E. Carpenter: Sinnestäuschung [Anm. 9], S. 12). 28 Debra Spitulnik: Documenting Radio as Lived Experience. Reception Studies and the Mobile Machine in Zambia. In: African Broadcast Cultures: Radio and Public Life. Hg. von Richard Fardon/Graham Furniss. London 2000. Dies.: Media Connections and Disconnections. Radio and the Public Sphere in Zambia. Durham/NC (im Druck). 29 D . Spitulnik: Documenting Radio... (Anm.28). S . l l und S.3 (zitiert nach dem Manuskript). 30 In dem Lied »Let the band play on« von Lucky Dube (CD »The Way It Is«, o. J.) heißt es: »Police came in halfway through the night with the good news neighbours are complaining

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Radios sind in Sambia Statussymbole. Daher nimmt man sie auch gerne auf Reisen mit, besonders in die ländlichen Regionen. Dort gehen die Apparate dann oft vorübergehend vom individuellen in kollektiven Besitz über. Der Wanderarbeiter übergibt sein Radio an jüngere Verwandte, die es nun - jeder jeweils einen Tag - ihr eigen nennen und durchs Dorf tragen. Die Tragbarkeit gestattet die Zirkulation. Das Radio wurde integriert in ein Netz von Tausch- und Reziprozitätsbeziehungen. Es wurde Bestandteil eines Güterkreislaufs, durch den Status erworben und soziale Beziehungen regelmäßig erneuert werden. In den Dörfern zirkulieren die Radios wie andere tragbare Prestigegüter: Sonnenbrillen unter den jungen Männern, Armreifen unter den Mädchen, Kochutensilien unter den Frauen. Debra Spitulnik hat die Zirkulationswege der Radios minutiös dokumentiert. Sie kommt zu dem Schluß, daß die Sendungen selbst mehr oder weniger beliebig seien, das Entscheidende sei sein »comodity status«.31 Der aber ist nicht per se im Medium (oder seiner Technologie) angelegt. Erst das kulturelle Konkretionsdispositiv setzt ihn frei. Von einer »Unsichtbarkeit des Radiogebrauchs« oder von »den Hintergrundeigenschaft des Radios«, von denen westliche Medientheoretiker so gerne sprechen,32 kann in Sambia keine Rede sein. Und ebenso irrig wäre die Vorstellung, daß die Familien sich hier abends gemeinsam um das Radio versammeln würden.

IV. Zur Mediengeschichte der Fotografie in Ghana Ein anderes Medium, über dessen »Biografie« wir inzwischen ebenfalls detailliertere Aussagen machen können, ist die Fotografie in Ghana. 33 Hier haben wir eine zeitliche Tiefe von immerhin 120 Jahren und können einigermaßen nachvollziehen, wie die Anschlüsse zwischen den verschiedenen Medien aussehen, und damit lassen sich auch eine Reihe von Differenzen zur europäischen Fotografiegeschichte benennen. Die Akan im südlichen Ghana unterscheiden nicht - wie wir es gewohnt sind zwischen »bildenden« und »performativen« Künsten, sondern zwischen »stummen«

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'cause the music is so low, low, low, low. So turn it up now. Let the band play on.« D e n Hinweis auf diese Textstelle verdanke ich Lucia Obi. D. Spitulnik: Documenting Radio... (Anm.28). S. 15 (zitiert nach dem Manuskript). Vgl. David Morley/Roger Silverstone: Domestic Communication: Technologies and Meanings. In: Media, Culture & Society 12/1,1990. S. 31-55. Für vergleichbare Befunde in Kenia siehe Heike Behrend: Love à la Hollywood and Bombay. Kenyan Postcolonial Studio Photography. In: Paideuma 44,1998. S. 139-153. Dies.: Populäre Fotografie und die Konstruktion einer afrikanischen Moderne. In: Snap me one! Studiofotografen in Afrika. Hg. von Tobias Wendl/Heike Behrend. Miinchen-LondonNew York 1998. S. 24-28. Dies.: Imaginäre Reisen. Die Likoni Ferry-Fotografen in Mombasa/Kenia. In: Fotogeschichte 71,1999. S. 25-34. Dies.: Feeling Global: The Likoni FerryPhotographers in Kenia. In: African Arts 33/3, 2000. S. 70-77. Heike Behrend/Tobias Wendl: Afrika in den Bildern seiner Studiofotografen. In: Snap me one! Studiofotografen in Afrika. Hg. von Tobias Wendl/Heike Behrend. München-London-New York 1998. S.8-16.

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und »sprechenden Künsten« (dzinn adwendze und kasa adwendze). Wenn unsere Bildkunst hier also als »stumme Kunst« klassifiziert wird, dann ist das allerdings nicht ganz strikt zu verstehen. Denn auch von der »stummen Kunst« sagt man, daß sie »im Schweigen spricht«. Im Stammbaum der stummen Künste werden die Fotografien zusammen mit den Gemälden in die Kategorie der mfonyi gesteckt, die der »flachen, materialisierten Bilder«. Durch ihre Materialität markieren sie das Gegenstück einerseits zu den flüchtigen Geist-, Schatten- und Spiegelbildern - andererseits zu den mentalen inneren Vorstellungs- und Erinnerungsbildern (wörtlich »den Dingen im Auge«). Ihre Flachheit unterscheidet sie von Plastiken und anderen 3D-Objekten. Das, was wir gerne als das eigentliche Charakteristikum der Fotografie betrachten, nämlich ihre »Indexikalität«, fällt in der Akan-Wahrnehmung (und Klassifikation) unter den Tisch. Nicht daß sie sich darüber nicht bewußt wären - das Kriterium besitzt jedoch keine klassifikatorische Signifikanz. Etablieren konnte sich die Fotografie in Ghana vor allem im Bereich der Porträtkunst. Andere Genres sucht man auch heute noch vergebens. Das gilt für Stilleben ebenso wie für Landschaftsaufnahmen. 34 Was wir ebenfalls nicht finden, sind Schnappschüsse und der investigativ-dokumentarische Habitus des westlichen Bildjournalismus. Die Vorstellung, daß man mit der Fotografie der Wirklichkeit zu Leibe rücken könne und sie gleichsam wie die Fliege im Bernstein einfangen und archivieren könne, stößt hier auf Unverständnis. Ob Bilder wahr sind oder unwahr, läßt sich letztlich schwer entscheiden und spielt bei ihrer Beurteilung auch keine Rolle. Diese Auffassung hängt mit einer anderen Epistemologie und Wirklichkeitskonzeption zusammen. Das Wort für Wahrheit, nokware, gehört in der Akan-Sprache in eine semantische Klasse von Dingen, die mit bloßem Auge gar nicht wahrzunehmen sind. Der ghanaische Philosoph Kwasi Wiredu hat auf die oral-auditive Konnotation des Wortes hingewiesen: Etymologisch setzt sich nokware aus ano für »Mund« und koro für »eins« zusammen, wörtlich also »ein Mund« oder »eine Stimme«. Wahrheit ist hier etwas, auf das man sich gemeinsam verständigt, etwas sozial Ausgehandeltes, nicht etwas, das unabhängig von den Menschen existiert. 35 Ghanaer rufen manchmal voller Entzücken: »this picture speaks the truth!«, doch dabei räumen sie immer ein, daß eine Wahrheit im realistischen westlichen Sinn jenseits des Visuell-Wahrnehmbaren liegt. Übrigens sind die Akan hier keine Ausnahme - auch in anderen afrikanischen Sprachen ist diese Kopplung von Wahrheit und oral-auditiver Sinnesmodalität zu konstatieren. Doch was bedeutet das? Ist es nun umgekehrt unser westlicher Wahrheitsbegriff, der der Erklärung bedarf? Ist die

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Malick Sidibé, einer der Altmeister der malischen Fotografie zeigte sich auf der letzten Foto-Biennale (1998) in Bamako sehr erstaunt darüber, daß jüngere Fotografen plötzlich Bilder völlig unnützer Fels- und Gesteinsstrukturen präsentierten. »Eine Landschaft«, meinte er, »wird nie in mein Studio kommen, um ihr Bild zu kaufen. Warum sollte ich sie aufnehmen?« Kwasi Wiredu: Cultural Universels and Particulars. An African Perspective. BloomingtonIndianapolis 1996. S.105Í.

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Idee einer unabhängig vom Menschen existierenden (und zudem in der visuellen Sphäre zugänglichen) Wahrheit möglicherweise ein Artefakt unserer Schriftkultur und des Buchdrucks? Folge einer McLuhanschen medialen Aufrüstung, die es uns westlichen Menschen ermöglicht hat, Kognitionen zu externalisieren und auf sie zuzugreifen - ohne dabei direkt mit unseren Mitmenschen zu kommunizieren? Wie immer dem auch sei: Für die Vereinzelungserfahrung, die mit dem »Übergang von rituellen zu textuellen Kohärenzen« 36 verbunden ist, gibt es in der (schwarz-)afrikanischen Kulturgeschichte keine wirkliche Entsprechung. 37 Doch zurück zur Fotografie. Da es in Ghana zwar eine hochentwickelte plastische Kunst gab, aber keine Tradition individueller Porträts, konnte sich die Fotografie hier gleichsam auf einer Leerstelle etablieren, die nicht durch die Konventionen eines älteren lokalen Mediums vorgeprägt war (wie das etwa in Europa mit der Porträtmalerei der Fall war). Allerdings hatte dies zur Folge, daß damit nun das gesamte »Studio-Dispositiv« übernommen wurde, also nicht nur die Technik, sondern auch die einschlägigen Codes für Bildgestaltung und Selbstdarstellung: die Regeln des Inszenierens, des Posierens und auch des Kleidens. Es sollte noch etwa bis in die 1940er Jahr dauern, daß wir im Zuge der sich allmählichen formierenden antikolonialen Emanzipation die ersten Anzeichen für eine »Afrikanisierung« erkennen. 38 Ein Bereich allerdings, in dem sich diese Prozesse bereits früher ankündigen, ist der der Retusche. Die in Ghana übliche Retusche mit einem Graphitstift führte immer zu einer Aufhellung der Hautfarbe. Falten und Furchen, die das Leben in die Gesichter individuell eingeschrieben hat, wurden geglättet, gefüllt und gelöscht. Das Ideal ist eine Balance konkaver und konvexer Gesichtspartien mit möglichst sanften, unmerklichen Übergängen. Das verleiht den Gesichtern oft etwas zutiefst Künstliches und Maskenhaftes: die individuellen Gesichtszüge und Idiosynkrasien sind durch die geschickte Hand des Retuscheurs hinter einer zivilisatorischen >Maske der Kühle< verschwunden. In Zusammenhang damit steht auch die Praxis, die Augen (insbesondere die die Iris umgebende weiße Lederhaut) aufzuhellen, denn >weiße Augen< stehen ebenfalls für Kühle und Besonnenheit; sie markieren das Gegenstück zu den

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Vgl. Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München 1992 (hier besonders: S. 87-102). In diesem Zusammenhang sind auch die verschiedenen Spitznamen besser zu verstehen, die man etwa dem Telefon gegeben hat. Kwesi Yankah schreibt dazu: »The Akan of Ghana refer to the telephone as ahomatrafo, meaning >liarthe tale bearing wirestring or wire that conveys lies, unverified information^ >not to be trusted, unreliable, dealing in falsehoods^ This implies that fast travelling news, whose veracity cannot be checked, is not trustworthy.« (Kwesi Yankah: African Folk and the Challenges of a Global Lore. In: Africa Today 46/2,1999. S.9-27 [hier: S. 16]). Zum Ineinandergreifen von Dekolonialisierung und dem Aufkommen neuer fotografischer Praktiken siehe Tobias Wendl: »Picture is a silent talker...« Zur Geschichte der afrikanischen Studiofotografie am Beispiel Ghanas. In: Fotogeschichte 71,1999. S. 35-50 (hier besonders: S. 39).

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>roten Augenwrabbles< genannt - sind die Indices körperlicher Prosperität und Schönheit par excellence (Abb.2). 4 0

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Vgl. dazu Jean Borgatti: African Portraits. In: Likeness and Beyond. Portraits from Africa and the World. Hg. von Jean Borgatti/Richard Brilliant. New York 1990. S. 29-84. Vgl. dazu auch Tobias Wendl: Portraits et décors. In: Anthologie de la photographie africaine et de l'océan Indian. Hg. von Pascal Martin Saint Léon. Paris 1998. S. 105-117.

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Abb. 2: Abfotografiertes Glasnegativ 9x13 cm (Archiv Francis K. Honny, Elmina, Ghana, ca. 1970). Bei den hellen Partien am Hals (Querlinien) und im Gesicht handelt es sich um nachträglich von Hand eingezeichnete Retuschen.

V. Fotografie und textile Kommunikation Studionamen wie >Mma mhwe nde< (Don't think of today only) oder >Remember< spielen darauf an, daß der eigentliche Wert von Fotografien in der zukünftigen Rückschau auf die dann vergangene Gegenwart liegt. Anders als in Europa und Indien, wo viele Fotografen ihre Laufbahn als Porträtmaler begannen, war in Ghana jedoch der häufigste Erstberuf der Fotografen der des Schneiders. Das wird verständlich, wenn man sich vergegenwärtigt, daß die ghanaischen Fotografen ihre Kunden gerne >bildgerecht< einkleiden; und daß umgekehrt auf Seiten der Kunden eines der Hauptmotive, sich fotografieren zu lassen, darin besteht, sich später an ihre Kleidung erinnern zu können. In Ghana gibt es eine lange Tradition, Ereignisse mit Hilfe von Stoffen zu erinnern und Stoffe anschließend mit Hilfe von Fotografien. Jedes Jahr wird eine Unzahl von >Gedenkstoffen< eigens für die Gründungsfeierlichkeiten oder Jubiläen von Vereinen, Kirchen oder anderen Institutionen hergestellt. Festliche Ereignisse, insbesondere aber die Totenfeiern, die in Ghana bisweilen >potlachtextilen< Devise. Es wird ein bestimmter Stoff bekannt gegeben, und jeder Festteilnehmer wird versuchen, diesen Stoff zu kaufen, um sich daraus ein Kostüm nähen zu lassen. Textilien als Stoff des Sozialen - Stoffe als Allegorien sozialer Kohäsion. In Ghana werden Totenfeste nicht wie in Europa >uni-form< gefeiert, sondern im wahrsten Wortsinn >uni-textin den gleichen Stoff (etam) gewandet< durch die soziale Krise, die der Tod verursacht hat. Man besiegt den Tod durch die Totenfeier und ordert anschließend beim Fotografen zur Erinnerung an diesen Sieg ein Bild (Abb.3).

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Abb. 3: >Unitextsinnbildlich< teilen (Abb. 4 und 5). Manche Fotografen haben die Kunst der textilen Anspielung zu wahrer Meisterschaft entwickelt. Ein Bild von Francis K. Honny (Abb. 6) zeigt ζ. B. ein Paar, dessen >textile Devisen< dem Bild gleichsam als Subtext eingeschrieben sind: der Stoff des Mannes heißt >Kotoka Pencil< (er bezieht sich auf General E. Kotoka, den neuen starken Mann, dem es 1966 gelang, Kwame Nkrumah durch einen Staatsstreich zu entmachten); der Stoff seiner Frau zitiert dagegen ein eher fatalistisches Sprichwort: »Wenn die Ehe eine Erdnuß wäre, würden wir sie vorher aufmachen und hineinsehen.« Viele Bilder enthalten solche versteckten Subtexte in Form von auf dem Körper getragenen textilen Referenzen; sie sind sehr bewußt gewählt und nur aus der Kenntnis der Sprichwörter und Redensarten zu verstehen. 41 Die Textilkunst spielt für die Fotografie eine besondere Rolle. Textilien und Kleider sind selbst bereits ein Medium, das mit einer Vielzahl von Referenzen verknüpft ist: Sie markieren Rolle, sozialen Typus, Ethnizität, ganz allgemein stiften sie Identität und bekräftigen das »soziale Eingebundensein«. Wer gut gekleidet ist, präsentiert sich zugleich als soziale Person. Er lobt sich - oder gerade bei Frauen - den

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Vgl. dazu auch Kerstin Pinther: Wenn die Ehe eine Erdnuß wäre. Über Textilien und Fotografie in Afrika. In: Snap me one! Studiofotografen in Afrika. Hg. von Tobias Wendl/ Heike Behrend. München-London-New York 1998. S. 36-^1.

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Abb. 4: Mutter und Sohn teilen sich den gleichen Stoff. Studioportrait von Francis K. Honny, Elmina, Ghana, ca. 1970.

Abb. 5: Mann und Frau teilen sich den gleichen Stoff. Studioportrait von Francis K. Honny, Elmina, Ghana, ca. 1970.

Kleidergeber. Stoffe fungieren als Sinnbilder des sozialen Gewebes, sie markieren und evozieren Erinnerungen (etwa an Passageriten, Feste oder Moden). Stoffe kommentieren das Soziale: Sie werden bewußt als Kommentare eingesetzt, als eine ins Visuelle gemünzte Form des Sprechens oder des »silent talk« (ζ. Β. »Ich laufe schneller als meine Rivalin«), Sie fungieren als die »zweite Haut des Menschen«, nehmen »indexikalische« Körperspuren in sich auf und speichern gleichsam die Stofflichkeit des Menschen. Ihre wichtigste Referenz aber ist sicher, daß Stoffe den

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Abb. 6: Porträt eines Paars. Mit >textilen Subtexten< (Frau: »Wenn die Ehe eine Erdnuß wäre.. .«/Mann: »Kotoka Pencil«). Francis K. Honny, Elmina, Ghana, ca. 1970.

Körper verhüllen und mit »Bedeutung« überhäufen. Durch Stoffe hat der menschliche Körper Teil am »Ewig Bedeutungsvollen«. »Cloth does not die!« besagt eine Redensart der Yoruba. Selbst wenn ein bestimmter Stoff bereits verschlissen ist, so bleibt doch der Ur-Stoff stets erhalten. (Ähnlich wie korporative Gruppen durch ihre Nachkommen erhalten bleiben, auch wenn einzelne Personen sterben). Stoffe stehen hier also - gleichsam als »ultimative Referenz« für Kontinuität angesichts von Unsicherheit und Tod. Marshall McLuhan hat gesagt, der Inhalt eines Mediums sei immer ein anderes Medium: Sprache der Inhalt der Schrift, Schrift der Inhalt des Drucks, der Druck der Inhalt des Telegrafen oder der Flaschenpost. 42 Das stimmt oft - wenngleich vielleicht nicht immer. Im Fall der ghanaischen Fotografie ist eine solche inhaltliche Verbindung mit der Textilkunst allerdings kaum zu übersehen. Und wenn Kleider so etwas bilden wie die zweite >Haut des Menschen< - dann, so ließe sich zumindest spekulieren - liefert das Fotoalbum jetzt die >dritte HautKUhle< und >BalanceErinnerungslandschaft< ein Medium, in dem traumzeitliche Ereignisse eingeschrieben sind. Ihr Abfilmen ermöglicht das Wiedererleben mythischer Ereignisse, sie bindet aber auch das anschließend zu Sehende gleichsam in den Mythos ein.55 Das ist oft ein Problem für kulturfremde Betrachter, weil sie mit der indigenen Landschaftssemantik nicht vertraut sind. Ein anderes interessantes und erfolgreiches Aborigine-Fernsehprojekt entstand bei den Pitjantjajarra in Ernabella. Das Ernabella-Projekt ist auch deshalb so spannend, weil hier eine ganze Reihe der traumzeitlichen Reiserouten tatsächlich verfilmt wurden. Auf diesen Reisen erfuhr die Landschaft ihre heutige Prägung -

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Eric Michaels: A Primer of Restrictions on Picture-Taking in Traditional Areas of Australia. In: Visual Anthropology 4,1991. S. 259-275 (hier: S. 260-262). E. Michaels: The Indigenous Languages (Anm.48). S.273f. E. Michaels: The Aboriginal Invention (Anm. 48). E. Michaels: Hollywood Iconography (Anm.48). F. Ginsburg: Mediating Culture (Anm. 45). S.270. F. Ginsburg: Mediating Culture (Anm. 45). S. 271-273. P. Batty: Singing the Electric (Anm.47) und E. Michaels: Bad Aboriginal Art (Anm.48).

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markante Felsen, Hügel, Wasserstellen, Bäche und Höhlen. Mit jeder dieser urzeitlichen Reisen ist ein Lieder- und Versezyklus verbunden wie auch bestimmte Tänze und Rituale. Die Traumzeitverfilmung wurde bald zur Hauptbeschäftigung, das Filmteam machte sich mit bis zu 30 >Traumzeit-Hütern< aus verschiedenen Siedlungen auf den Weg, um für mehrere Tage an den jeweiligen Landschaften die dazugehörigen Episoden zu erzählen, zu singen und aufzuführen. Die Begeisterung war groß darüber, daß das neue Medium so geeignet war, die verschiedenen anderen beteiligten MedienTraumzeit< aufgenommen. Montagearbeiten folgten, und schließlich wurden Kassetten gezogen und distribuiert. Die Folge war ein neu erwachtes Interesse an Traditionen, eine Art kultureller Renaissance.56

VII. Bestattungsvideos in Ghana In Ghana geschah die Einführung der Videotechnologie später, auf einem anderen Weg, und vor allem ohne staatliche Einmischung und Unterstützung. Die ersten Consumerkameras und Schnittgeräte kamen Ende der 80er Jahre durch Personen aus der Diaspora ins Land. Man benutzte das Medium zunächst, um religiöse Zeremonien zu dokumentieren, Hochzeiten, Beerdigungen oder die Einsetzung neuer Häuptlinge. Kopien dieser Bänder wurden dann oft ins Ausland geschickt, und die Videokassette begann bald eine zentrale Rolle in der Kommunikation zwischen Zuhause und Diaspora zu spielen. Anfang der 1990er Jahre begannen die Studiofotografen, sich die neue Technologie anzueignen. Sie hatten bereits einen fixen Kundenstamm und boten ihrer Klientel nun zusätzlich zu ihren Fotos auch Videodokumentationen der wichtigsten Rituale und Feste. Heute ist Videografieren integraler Bestandteil einer jeden Festivität. Bemerkenswert ist in Ghana der Einsatz des Mediums im Rahmen der Totenfeiern. Wie Kwame Arhin gezeigt hat, bilden Totenfeiern hier eine Art privilegierter Bühne, auf der sich die ghanaische Gesellschaft selbst inszeniert.57 Man scheut weder Aufwand noch Kosten, verschuldet sich oft über Jahre hinaus, um andere zu beeindrucken und ihnen die eigene Größe im Gedächtnis einzuprägen. Bereits in den 40er Jahren hatte der oberste Rat der Asante-Konföderation ein Dekret erlassen, um die ständig steigenden Ausgaben für Totenfeiern einzudämmen - doch vergebens. Inzwischen gibt es vielerorts die Möglichkeit, die Toten in speziellen Kühlhäusern bis zu einem Jahr einzufrieren und so die Bestattung hinauszuzögern; dadurch bleibt mehr Zeit, um eine eindrucksvolle und pompöse Inszenierung vorzubereiten. Arhin interpretiert diese Entwicklungen vor dem Hintergrund von Statusrivalitäten

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P. Batty: Singing the Electric (Anm.47). S. 110-113. Kwame Arhin: The Economic Implications of Transformations in Akan Funeral Rites. In: Africa 64/3,1994. S. 307-322.

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zwischen Verwandtschaftsgruppen, die gar nicht anders können, als ihre Konkurrenten zu überbieten, wenn sie nicht in der lokalen Status- und Prestigehierarchie zurückfallen wollen.58 Die Banken geben hier Beerdigungskredite zu Sonderkonditionen, und ein neuer Berufsstand, eine Art Makler (eyitofo - >Bestattungskäuferplotpotlach-artige< Charakter ghanaischer Totenfeste wird durch die medialen Rückkopplungseffekte noch weiter gesteigert. Die Totenfeiern für den 1999 verstorbenen Ashanti-König Otumfuo Opoku Ware II glichen einer Medienschlacht. Nicht nur, daß die verschiedenen lokalen Radio- und TV-Sender, einschließlich der staatlichen GBC, über mehrere Tage hinweg live übertrugen; einige Monate später erschien im Handel eine vier Einzelkassetten umfassende (knapp achtstündige) Memorialanthologie. Die ersten drei Teile befaßten sich nach dem oben skizzierten Muster der Funeralxideos mit der Biografie des Verstorbenen und den Totenfeiern; der vierte Teil war schließlich den Einsetzungsfeierlichkeiten für den neuen König Otumfuo Osei Tutu II gewidmet. Gerahmt wurden die Ritualsequenzen durch im Studio aufgenommene Kommentare des überaus beliebten Heimatforschers und Radiomoderators Edusi Poku, der im Video nicht nur als Exeget auftritt, sondern zugleich die Funktion eines Preissängers übernimmt, wie man ihn von realen Totenfeiern her kennt. Die Memorialanthologie ist ein erstaunliches Dokument in dreierlei Hinsicht: 1. als (auto-)ethnografische Quelle eines überaus komplexen (man könnte mit Clifford Geertz 62 sogar sagen >zentralen< und >kulturkonstituierendenConcert PartiesAfrican Heritages In: Africa Today 46/2,1999. S. 93-114. Africanus Aveh: Ghanaian Video Films of the 1990s. An Annotated Selected Filmography. In: Fontomfrom. Contemporary Ghanaian Literature, Theatre and Film. (= Matatu 21-22) Hg. von Anyidoho/ Kofi/James Gibbs. Amsterdam-Atlanta 2000. S. 283-300. Für ähnliche Entwicklungen in Nigeria siehe die Beiträge in: Nigerian Video Films. Hg. von Jonathan Haynes. Ohio 2000. 65 Zum Thema der Concert Parties siehe Kwabena M. Bame: Come to Laugh. A Study of African Traditional Theatre in Ghana. Legon 1981. Sowie Michelle Gilbert: Concert Parties, Paintings and Performance. In: Journal of Religion in Africa 28/1,1998. S. 62-92. Dies.: Hollywood Icons, Local Demons. Ghanaian Popular Paintings by Mark Anthony. Ausstellungskatalog Trinity College. Hartford & Gallery of Art. University of Missouri. Kansas City 2000.

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Abb. 10: Diabolo-Filmplakat, Teshie, Ghana.

gemalt von Daniel A. Jasper 1991,

discotheken oder sogenannten Videos-Centers, wo mit großflächigen, von Hand gemalten Postern für sie geworben wird (Abb. 10).66 Fast alle Filme thematisieren das Böse: die Genese des Bösen, seine Zuspitzung und schließlich den Kampf des Guten gegen das Böse, in dem das Gute - vorläufig zumindest - obsiegt. Die Protagonisten des Bösen sind Hexen, Teufel, Wertiere, finstere Juju-Männer oder korrupte Häuptlinge - auf der Seite des Guten sind es Polizisten, Kammerjäger, Richter oder fundamental-christliche Pastoren. Der Grad, in dem sich Böses und Gutes durchdringen - Gutes sich in Böses verwandelt und Böses in Gutes - ist von Film zu Film verschieden - ebenso wie die dafür benutzten Erklärungsfiguren. Sie wurzeln mal stärker in der lokalen Folklore - mal stärker in der christlichen Imagination. Die Exposition skizziert üblicherweise die näheren Umstände, unter denen sich das Böse herausbildet und seine Protagonisten findet. In dem Film Demona von Richard Quartey (1993) geht es z. B. um ein Mädchen, das später selbst zur Hexe wird. Demona, die eigentlich Nerteley heißt, ist das Opfer eines Hexenfluchs, der bereits auf ihrer Mutter lastet. Sie kommt mit rotglühenden Augen zur Welt und wird, nachdem sie einen Jungen mit ihrem bösen Blick niedergestreckt hat, in die Wildnis verbannt. Dort läßt sie sich in den Hexenkult initiieren und zieht anschließend in die Großstadt, wo sie nun serienweise Männer betört und anschließend vernichtet. In den Expositionen wird meist sehr differenziert und einfühlsam erzählt, wie unbescholtene Menschen sich ohne eigenes Zutun immer tiefer in Schuld verstricken.

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Vgl. dazu auch den von Ernie Wolfe herausgegebenen Katalog: Extreme Canvas. HandPainted Movie Posters from Ghana. Los Angeles 2000.

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Ein Leitmotiv, das in diesen Verstrickungsepisoden eine besondere Rolle spielt, ist das Geld und der soziale Sprengstoff, der mit ihm verbunden ist. Wie Birgit Meyer gezeigt hat, sind in der lokalen Vorstellung Geld und Reichtum immer nur im Austausch gegen ein Kind (oder einen Blutsverwandten) zu haben, gegen die eigene sexuelle Fruchtbarkeit oder gegen ein Körperteil. 67 Die eigene Fortpflanzungsfähigkeit bzw. ihre Produkte müssen den Hexen, einem Juju oder dem Teufel geopfert werden. Doch das Geld pervertiert die sozialen Beziehungen, es erscheint selbst wie ein Dämon: der Dämon des modernen ökonomischen Individualismus, der die überlieferten Solidarstrukturen bedroht und zerstört. An diesem Widerspruch arbeiten sich viele der ghanaischen Filme ab; sie suchen nach immer wieder neuen Möglichkeiten seiner Veranschaulichung. Dabei hat sich eine Motivkombination, nämlich die von Teufel, Frauenkörper, Geld und Schlange gebildet, die so erfolgreich und überzeugend war, daß es inzwischen bereits vier Fortsetzungsfolgen und drei Remakes gibt. Es ist die Geschichte vom Schlangenmann Diabolo (Abb. 10).68 Diabolo ist ein Mann mittleren Alters, ein typischer Protagonist des modernen ökonomischen Individualismus, er lebt alleine, außerhalb jeder Solidargemeinschaft in einer Vorstadtvilla. Von dort zieht er nachts los und holt sich Prostituierte nach Hause. Er mixt ihnen ein Pulver in den Drink und legt sie auf sein Bett. Dann verwandelt er sich selbst in eine Schlange und dringt in die Vagina der Prostituierten ein. Nach diesem perversen Beischlaf verwandelt er sich zurück, und die Prostituierten beginnen nun Geldscheine aus ihrem Mund zu spucken, die Diabolo dann fein säuberlich glättet und bündelt. Normalerweise sterben die Prostituierten nachdem Diabolo sie zum Gartentor gebracht hat. Er hat ihr Leben in einem Pakt mit dem Teufel zu Geld gemacht. Die Diabolo-Masche funktioniert allerdings nicht bei normalen Frauen, sondern nur bei Prostituierten, denn die haben ihre eigene Sexualität bereits von der Prokreation abgekoppelt und in den Dienst des Geldes gestellt. Doch ist auch Diabolos eigene Zeugungskraft durch den Pakt mit dem Teufel zerstört. Als er einmal in der ersten Folge aus Liebe - und auch nicht in Schlangen- sondern eben in Menschengestalt mit einer Frau schläft, gebiert ihm diese anschließend neue Schlangen und stirbt. In den Diabolo-Filmen wird das Szenario einer verkehrten Welt der Moderne gezeichnet: Die sexuelle Vereinigung von Schlangenmann und Prostituierter führt nicht zu neuem Leben sondern zu Geld. Und das Geld - als pervertiertes Äquivalent des Lebens - kommt nicht mehr aus dem Unterleib der Frauen - sondern aus ihrem Mund. Diabolo ist Opfer und Täter zugleich. In seiner Person werden die Widersprüche, wird das Unbehagen in der Moderne, in der im wahrsten Wortsinn >der Teufel stecktdominanten Symbolokkulten ÖkonomienBotschaftFaustischen Bunde Hier werden Tradition und Kultur als etwas Authentisches und Bewahrenswertes gesehen, das durch die Medien unwiderruflich verschmutzt und zerstört wird. Dieser eher pessimistische Ansatz fokussiert auf die kulturelle Hegemonie des Westens und versucht die nicht-westlichen Kulturen in ihrer Eigenheit (und damit auch ihrem Anderssein) festzuschreiben. Der andere, der eher optimistische (zugleich aber auch utopistische) Topos ist der des >global villager Er geht davon aus, daß die Medien die verschiedensten Menschen und Kulturen zusammenbringen und daß dabei eine neue anheimelnde und kreolisierte >Weltdorf-Atmosphäre< entsteht. Hier wird Kulturwandel als etwas Positives gesehen, doch kommen die lokalen Besonderheiten und die kulturelle Unterschiede vermutlich zu kurz.

Ludwig Jäger (Aachen)

Die Verfahren der Medien: Transkribieren - Adressieren - Lokalisieren

I. Wann sind Medien? Nelson Goodman beginnt das vierte Kapitel seines Buches Weisen der Welterzeugung mit der Feststellung: »Wenn Versuche, die Frage »Was ist Kunst?« zu beantworten, meist mit einer Enttäuschung und Verwirrung enden, dann ist vielleicht wie so oft in der Philosophie - die Frage falsch gestellt.« 1 Als wohl ähnlich falsch gestellt darf - wie ein Blick auf weite Bereiche des medientheoretischen Diskurses in den Kulturwissenschaften illustrieren kann - die Frage angesehen werden: »Was sind Medien?« bzw. »Was ist Medialität?«. 2 Wittgenstein hat bekanntlich Denkversuche, die durch die Beantwortung ontologisierender Fragen »das Wesen des Dings zu erfassen trachten«, 3 unter jene gerechnet, die dem Verstand eine »Verhexung [...] durch die Mittel unserer Sprache« 4 auferlegen. Wie aber die von Wittgenstein prognostizierten »Beulen« vermeiden, die das Stellen der Wesensfrage »beim Anrennen an die Grenzen der Sprache« 5 verursacht? Goodman versucht den Verhexungen des Ontologisierens dadurch zu entgehen, daß er die Frage »Was ist Kunst?« durch eine temporalisierte Version ersetzt. Dieses lautet: »Wann ist Kunst?«, 6 das heißt wohl, wann und unter welchen Bedingungen fungiert ein Objekt als Kunstwerk? Wenn auch Goodman seine Dekonstruktion ontologischen Fragens nicht durchhält, weil er sich an der - von ihm selbst für verfehlt erklärten - Suche nach den Eigenschaften von Kunst durch das Postulieren von fìinf Symptomen des Ästhetischen beteiligt 7 - was hier nichts näher zur Sache tut - können wir doch seinem methodischen Fingerzeig folgen: wir ersetzen die Frage danach, was Medien

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Vgl. Nelson Goodman: Weisen der Welterzeugung. Frankfurt/M. 1990. S.76. Vgl. exemplarisch Klaus Wiegerling: Medienethik. Stuttgart-Weimar 1998, ein Buch, dessen Inhaltsverzeichnis Titelüberschriften wie die folgenden enthält: »Was heißt Medium und was sind seine Charakteristika?«, »Was transportieren Medien?«, »Wie bestimmt sich der Mensch gegenüber dem Medium?« etc. Vgl. Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen. Werkausgabe Band 1. Frankfurt/M. 1984. S. 300 [Abschnitt 116]. Vgl. L. Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen (Anm.3). S.299 [Abschnitt 109]. Vgl. L. Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen (Anm.3). S.301 [Abschnitt 119]. Vgl. N. Goodman: Welterzeugung (Anm.l). S.76. Vgl. N. Goodman: Welterzeugung (Anm.l). S.88f.; hierzu kritisch Axel Spree: Erkenntnistheorie der Kunst. Die symboltheoretische Ästhetik Nelson Goodmans. In: Thomas Hecken/Axel Spree (Hg.): Nutzen und Klarheit. Anglo-amerikanische Ästhetik im 20. Jahrhundert. Paderborn 2002. S. 124-151.

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sind, d. h. die Suche nach den Eigenschaften, die ihnen als gegenstands-konstitutiv zugeschrieben werden sollen, durch die Frage nach ihrer operativen Logik: »Wann sind Medien?« Folgt man einer solchen Frage, so tritt an die Stelle definitorischer Bemühungen um Medialität und Einzelmedien das Programm einer »[dichte(n)] Beschreibung medialen Fungierens unter bestimmten historischen und kulturellen Bedingungen.« 8 In der Tat spricht einiges für die Goodmansche De-Ontologisierungs-Strategie. Da in einer Situation beinahe unüberschaubarer Bezugnahmen auf Medien und das Mediale »nichts dringender scheint, aber nichts [...] auch fruchtloser [wäre], als definieren zu wollen, »was Medien eigentlich sind«,9 vermag sich eine operativ positionierte Medientheorie auf Fragen zu richten, die die »Vielfalt und Konkretion pointierter Befunde ins Zentrum rücken und das theoretisch verallgemeinernde Sprechen über die Medien seinerseits an bestimmte konkrete, historisch und kulturell spezifizierbare Problemlagen rückzubinden erlauben.« 10 Für die Fokussierung des Blicks auf die operative Logik von Medien und gegen Versuche einer vorgängigen definitorischen Gegenstandskonstitution von >Mediendingen< lassen sich weiterere Überlegung in Anschlag bringen: Jürgen Fohrmann hat jüngst darauf verwiesen, daß sich alles »was sich über ein Medium sagen läßt, f...] erst aus einem Medienvergleich [ergibt].«11 Wenn sich Medien - wie es den Anschein hat - nie unmittelbar, sondern immer nur über jene Medien beobachten lassen, in denen sie sich über Differenzmarkierungen entfalten, treten Kommunikationskulturen als das Feld in den Blick, auf dem das symbolische Spiel interagierender und miteinander verwobener Medien die kulturelle Semantik generiert, stört, konserviert und fortschreibt. Medien - so formuliert Sybille Krämer - »markieren die Nahtstelle, an der Sinn aus nicht sinnhaften Phänomenen entsteht. Sie bilden die historische Grammatik der Performativität unserer symbolischen Praktiken.« 12 Dabei ist allerdings immer zu beachten, daß sich die medialen Verfahren nie monomedial, sondern durchweg in intermedialen symbolischen Prozeduren entfalten: Medien operieren - wie Mitchell in seiner »Bild-Theorie« im Hinblick auf das Bild/ Text-Problem formuliert - bereits in sich als »mixed media«.13 Dies gilt natürlich nicht nur für die Text- und Bildmedien, sondern etwa auch für Musik oder die sog. »neuen Medien«, die alle - so jüngst Lev Manovich 14 - »durch Remediatisierung,

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Vgl. Friedrich Balke, Allgemeine Angaben zum Forschungsprogramm. Einleitung zum Finanzierungsantrag 2002-2004 des SFB/FK 427. S. 9. Bernhard Dotzler/Erhard Schüttpelz/Georg Stanitzek: Die Adresse des Mediums. Einleitung. In: Stefan Andriopoulos/Gabriele Schabacher/Eckhard Schumacher (Hg.): Die Adresse des Mediums. Köln 2001. S. 9-15 (hier: S. 9). Vgl. F. Balke: Allgemeine Angaben (Anm.8). S. 8. Vgl. Jürgen Fohrmann: Der Unterschied der Medien (in diesem Band). Vgl. Sybille Krämer: Von der sprachkritischen zur medienkritischen Wende? Ein Kommentar zur Mediendebatte in sieben Thesen. Unter: http://www.netz-kasten.de; allerdings kann man dieser Formulierung nur zustimmen, wenn »nicht sinnhafte Phänomene« nicht im Sinne präsemiologischer Weltausschnitte verstanden werden. Vgl. W. J.T. Mitchell: Picture Theory. Chicago-London 1994. S. 94 f. Im Anschluß an Bolter und Grusin; vgl. Jay David Bolter/Richard Grusin: Remediation. Understanding New Media. Cambridge/Mass 1999. S. 19.

Die Verfahren der Medien: Transkribieren

- Adressieren

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d.h. durch Übersetzung, Umgestaltung und Umformung von anderen Medien sowohl auf der Inhalts- als auch auf der Formebene« 15 prozedieren. Wenn sich also wofür ich im folgenden argumentieren möchte - die kulturelle Semantik nicht in je monomedialen »Weisen der Welterzeugung« - dies scheint die Verfahrenslogik etwa der Goodmanschen Symboltheorie 16 zu sein - sondern durchgängig in Prozessen der Remediatisierung entfaltet, müssen ontologische Fragen nach dem Wesen des Medialen einem Erkenntnisinteresse weichen, das die performativen Praktiken kommunikativer Kulturen unter der Perspektive ihrer intermedialen Differenz-Logik beobachtet. In den Fokus des operativen Blickes tritt nun also die Inszenierungsqualität kultureller Kommunikation, ihre transkribierende, adressierende und lokalisierende Verfahrenslogik. Denkt man etwa an Cassirers geisteswissenschaftliches Programm einer Philosophie symbolischer Formen, das darauf abzielt, »die Grundformen des »Verstehens der Welt« als eine gleichsam morphologische »>Formenlehre< des Geistes«17 umfassend auszuarbeiten, 18 so kann es als eine Pointe des hier skizzierten Programms angesehen werden, daß >Geist< hier nicht aus der Perspektive seiner Sedimentierung in symbolischen FormenWeisen der WelterzeugungscMeßung, der in einem bestimmten Sinne auch die Konstitution der erschlossenen Bedeutung miteinbegreift 29 Transkriptionen stellen insofern ein Verfahren dar, das es erlaubt, Texturen, die, aus welchen Gründen auch immer, in bestimmten Hinsichten >unlesbar< geworden sind, jeweils in den Modus der > Lesbarkeit' zu versetzen. Dabei ist zu beachten, daß transkriptive Prozeduren den jeweils transkribierten bzw. transkribierenden symbolischen Mitteln >Unlesbarkeit< bzw. >Lesbarkeit< weder als feste Attribute zuweisen, noch zwischen denselben hierarchische Beziehungsverhältnisse stiften: Transkribierende Texturen können jederzeit ihrerseits wieder transkribiert werden, wie umgekehrt transkribierte Texturen erneut als Transkriptionen fungieren können. Lesbarkeit und Unlesbarkeit sind Eigenschaften, die nur relativ zu bestimmten kommunikativen Situationen zugeschrieben werden dürfen. Anders formuliert - in den Status des Transkribiertwerdens werden immer solche Symbol-

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Vgl. Richard Rorty: Der Spiegel der Natur. Eine Kritik der Philosophie. Frankfurt/M. 1987. S.321. Vgl. Niklas Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft. Frankfurt/M. 1992. S.75. Vgl. N. Luhmann: Die Wissenschaft (Anm.25). S.75. Vgl. Nelson Goodmann/Catherine Z. Elgin: Revisionen. Philosophie und andere Künste und Wissenschaften. Frankfurt/M. 1993. S.74. Vgl. hierzu näher L. Jäger: Transkriptivität (Anm. 19). Vgl. hierzu W. Raible: Arten des Kommentierens (Anm 22).

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systemausschnitte versetzt, die unter bestimmten kommunikativen Umständen entweder partiell oder vollständig unlesbar sind, während umgekehrt der Status des Transkribierens symbolischen Mitteln zukommt, denen ebenfalls relativ zu bestimmten Umständen >Lesbarkeit< unterstellt wird; schließlich kann der Status des Transkribiertwerdens zwischen symbolischen Texturen, die im Verhältnis der Transkriptivität zueinander stehen, oszillieren, wenn sich ihre >Lesbarkeit< nur im Zuge der wechselseitigen Bezugnahme einstellt. Dies ist etwa dann der Fall, wenn auf medialen Plattformen (Handschrift, Buch, Computer) intermediale Beziehungen zwischen kopräsenten Medien vorliegen, die sich erst dadurch semantisch öffnen, daß sie miteinander interagieren. Ein solcher Fall liegt bei vielen Formen der Wort-BildBeziehungen vor, etwa bei Vorspannen im Kinofilm, in denen - so Georg Stanitzek verschiedene Medien in »Transkriptionsaggregaten« integriert sind: »Plakat/Logo/ Film, Typographie/Grafik, Animationsfim/Realfim, Filmbild/Musik, Filmtitel/filmische Diegese/Enunziation« etc.30 - aber auch etwa im Bereich der Musik bei multimedialen Arrangements elektronischer Kompositionen mit Licht- oder Bildprojektionen, deren >Semantik< sich erst aus der transkriptiven Interaktion der verschiedenen medialen Formate erschließt. Wir können also zumindest zwei Typen31 intermedialer Transkriptivität unterscheiden: (1) einmal einen unidirektionalen Typus einseitig kommentierenden Transkribierens, in dem die transkribierende Textur den jeweiligen Ausschnitt des transkribierten Symbolsystems semantisch erschließt32 - ein Typus, für den etwa Übersetzungen, Kommentare etc. als paradigmatisch gelten dürfen und (2) einen oszillierenden Typus wechselseitigen Kommentierens, in dem sich der semantische Effekt dem iterativen Wechsel der Transkriptionsfunktion zwischen den symbolischen Texturen verdankt. In beiden Fällen hängt allerdings die Zuschreibarkeit der Prädikate »lesbar« bzw. »unlesbar« allein vom jeweiligen Pegelstand transkriptiver Operationen ab. Adressieren - Lokalisieren Die bislang skizzierte These über den Zusammenhang von Lesbarkeit und Transkription ist theoretisch eng mit einer Annahme verknüpft, die einen zweiten heuristischen Leitbegriff, den Begriff der Adressierung, ins Spiel bringt.33 Jürgen Fohrmann hat in einem Konzeptpapier zum Adressenbegriff darauf aufmerksam gemacht, daß sich die Gesellschaft seit dem 18. Jahrhundert zunehmend durch massenmediale Kommunikationsformen organisiert, die zum einen mit einem Prozeß

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Vgl. Georg Stanitzek: Transkribieren. Medien/Lektüre. Eine Einführung. In: L. Jäger/G. Stanitzek (Hg.): Transkribieren (Anm 19). S.7-18 (hier: S.15). Eine Typologie transkriptiver Verfahren stellt ein wichtiges Desiderat einer Theorie der Transkription dar. Allerdings stellt der durch die Transkription aus einem Prätext erschlossene und semantisch konstituierte >TextLesbarkeit< >unlesbar< gewordener Texte wieder herzustellen bzw. um spezifische >LektüreTextentextueller< und >paratextueller< Symbolformate, die Adressierungsprobleme aufwerfen und Transkriptionsbedarfe erzeugen. Der systematische Zusammenhang von Transkription und Adressierung läßt sich also so verstehen, daß transkriptive Verfahren als mediale Operatoren fungieren, die in Anspruch genommen werden müssen, wenn ein Interesse daran besteht, (unadressierte) Information in (adressierte) Mitteilung zu überführen. Lesbarkeit von Texturen ist immer nur dann gewährleistet, wenn in sie auf der paratextuellen oder - wenn man so will - auf der Interface-Ebene intakte (nicht erodierte) Adressenoptionen eingeschrieben sind. Tanskriptive Verfahren andererseits kommen immer dann ins Spiel, wenn >Informationen< mit Adressierungsdefekten vorliegen, wenn die eingeschriebenen Adressierungen auf Adressenordnungen stoßen, die erodiert sind. Transkriptionen lassen sich dann auf intermedialer Ebene gleichsam als Prozesse der Umadressierung bzw. auf dem intramedialen Feld als Nachjustierung von Adressierungen im Zuge etwa der Bearbeitung von Kommunikationsstörungen beschreiben. 47 Geht man von einer solchen Hypothese aus, so bestünde eine wesentliche Funktion von Transkription darin, daß sie ein Verfahren bereitstellt, die in >Texten< (im Hinblick auf bestimmte Adressenordnungen) eingeschriebene Unlesbarkeit jeweils in den Modus der Lesbarkeit zu versetzen oder - wie man noch einmal mit Luhmann formulieren könnte - die Gelingens-Unwahrscheinlichkeit von Kommunikation zu minimieren. Durch den skizzierten Zusammenhang von Transkription und Adressierung sind bereits avant la lettre wesentliche Bestimmungsmonente eines dritten heuristischen Leitbegriffes des hier skizzierten Programms entfaltet, des Begriffes der Lokalisierung. Lokalisierungsprobleme lassen sich nämlich in der Tat als ein - wenn auch paradigmatischer - Spezialfall des Problems der Adressierung unter den Bedingungen globalisierter Kommunikation auffassen. Wenn - wie Stichweh formuliert hat »die Logik medial vermittelter Kommunikation darin [besteht], daß sie über die Mittelbarkeit der körperlichen Koordination weniger Beteiligter hinauszugehen erlaubt und Zusammenhänge einrichtet, die die Globalisierung der Kommunikation vorantreiben«, 48 so setzt diese Entwicklungslogik - wie sich bereits gezeigt hat - zugleich mit der Komplexitätszunahme globalisierter Kommunikation eine Dynamik wachsender Unübersichtlichkeit der Kommunikationsverhältnisse frei: Es entsteht - so noch einmal Stichweh - »gleichzeitig mit der Entstehung von Kommuni-

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erlauben durch ihre »illokutorische Wirkung« (S. 17) Lektüresteuerung und damit die Adressierung des jeweiligen Textes (S. 10). Vgl. etwa N. Goodman: Sprachen der Kunst (Anm. 16). S.44ff. Vgl. L. Manovich: Language (Anm. 15). S.66ff. Vgl. hierzu etwa Luise Springer: Störung und Repair. Transkriptive Verfahren bei der Verständnissicherung. In: Erhard Schüttpelz/Albert Kümmel (Hg.): Signale der Störung. Köln 2003. S.43-57; ebenso Ludwig Jäger: Vom Eigensinn des Mediums Sprache (Anm.21). Vgl. R. Stichweh: Adresse (Anm. 35). S.25.

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kationsmedien [...] der Bedarf für Adressen als Mechanismen der Lokalisierung in einem globalen Kommunikationssystem.«49 Adressierung und Lokalisierung sind also insofern eng verwoben, als sich Adressen vor dem Hintergrund ausdifferenzierter und globaler Adressenordnungen als Operatoren der Lokalisierung und damit als Mittel der Verwandlung unwahrscheinlicher in wahrscheinliche Kommunikation verstehen lassen. Gleichwohl wäre es verkürzt, das Verfahren der Lokalisierung auf kommunikationstechnische Adressierung im skizzierten Sinn zu reduzieren. Wenn etwa die von Heike Berend und Tobias Wendl50 am Beispiel von Horrorvideos in Nigeria untersuchte Kassettenkultur das weltgesellschaftlich verfügbare Medienformat Video dazu nutzt, um den in den globalen Medien zirkulierenden Fremdbildern lokale Eigenbilder entgegenzusetzen und so kreative Neuartikulationen des Lokalen hervorzubringen, so haben wir es hier mit Transkriptions- und Adressierungsformen zu tun, die über die Adressierungsprobleme in globalen Kommunikationsnetzen hinausgehen.

III. Weisen der Welterzeugung Transkriptive Verfahren sind mithin Verfahren der Rahmung, der Re-Adressierung, Verfahren, die - unter je spezifischen historischen und kulturellen Kontexten - die in bestimmten Medien vermuteten Adressenoptionen für die Generierung und Lesbarmachung von unlesbarem oder unlesbar gewordenem Sinn nutzen. Transkribieren ist insofern wesentlich dadurch geprägt, daß für die Wieder-Lesbarmachung von symbolischen Texturen, deren Adressenoptionen erodiert sind, die illokutionäre Kraft solcher paratextueller Symbolformate genutzt wird, deren Adressierungspotential intakt zu sein scheint. Anders formuliert: transkriptive Verfahren setzen unterschiedliche symbolische >Weisen der Welterzeugung< so zueinander in Beziehung, daß sie für die Generierung, Fortschreibung, aber auch - was ich hier nicht diskutieren konnte - für die Arkanisierung und Kryptographisierung von Sinn genutzt werden können. Sie sind - so meine These - prinzipiell medienimmanent und intermedial, wobei ersteres heißt, daß es kein prämediales Jenseits einer externen Welt gibt und letzteres, daß Sinn sich nur der Kopplung verschiedener - etwa verbaler, visueller und musikalischer Texturen verdankt. Goodman hat aus der Medienimmanenz kultureller Sinnerzeugung die Konsequenz gezogen, daß wir in so vielen verschiedenen (unter Umständen konfligierenden aber gleichermaßen wahren) Welten leben, wie uns unterschiedliche symbolische - etwa bildliche und sprachliche >Weisen der Welterzeugung< zur Verfügung stünden. Die in der Geschichte der Erkenntnistheorie durchlaufene Bewegung »von der einen und einzigen Wahrheit und einer fertig vorgefundenen Welt zum Er-

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Vgl. R. Stichweh: Adresse (Anm.35). S.25. Vgl. T. Wendl: La retour de l'homme-serpent. Films d'épouvante réalisés au Ghana. In : Revue Noire 32,1999. S.58-67; ders.: Le miracle vidéo du Ghana. In: CinemAction 100 (Les cinémas d'Afrique en transit) Paris 2001.

Die Verfahren der Medien: Transkribieren - Adressieren

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zeugungsprozeß einer Vielfalt von richtigen und sogar konfligierenden Versionen oder Welten«,51 ist für ihn irreversibel. Die Antwort auf die Frage: »Wenn es so etwas wie die Welt nicht gibt, worin leben wir dann?« kann deshalb nur lauten: in »mehreren Welten«.52 Man könnte dieser Argumentation Goodmans die Position Manovichs hinzufügen, der im Kontext seiner Analyse der >Sprachen der neuen Medien< ebenfalls von einer Multiple-Welten-Theorie ausgeht, wenn er hervorhebt, daß die Mensch-Computer-Schnittstelle, die er für den »key semiotic code«, für das »metatool« 53 der Informationsgesellschaft hält, unterschiedliche und sich ζ. T. widersprechende Welmodelle zur Verfügung stellt54 - wobei sein Befund sich noch dadurch verschärft, daß es sich bei diesem >metatool< schon längst nicht mehr lediglich um die Schnittstelle zum Computer, sondern um das Interface zur einer Kultur als Ganzer handelt, die in wachsendem Maße digital kodiert ist.55 Goodmans symbolische Weisen der Welterzeugung generieren also verschiedene Welten, die in den unterschiedlichsten Beziehungen zueinander stehen mögen: ihre Generierung verdankt sich jedoch in keiner wesentlichen Hinsicht ihrer intermedialen Kopplung. Goodmans Untersuchung der jeweiligen Eigenschaften etwa verbaler und visueller Semantiken, wird nicht für die Frage der spezifischen semantischen Effekte intermedialer Beziehungen fruchtbar gemacht, die mir aber für die Medientheorie essentiell zu sein scheinen. Insofern ist Goodmans symboltheoretischer, von Cassirer inspirierter, Ansatz - trotz der grundlegenden Aufklärung etwa der Eigenschaften sprachlicher und musikalischer Notationssysteme, bzw. der Unterschiede zwischen autographischen und allographischen Künsten - an medientheoretischen Fragestellungen nicht wirklich interessiert. Eine Theorie der Transkriptivität kann deshalb m. E. - auch wenn sie mit Goodman das Theorem der Medienimmanenz kultureller Sinngenerierung teilen kann, sein Ignorieren des semantischen Intermedialitäts-Prinzips nicht akzeptieren. Wenn sich kulturelle Sinneffekte erst durch die interagierenden, transkriptiven Bezugnahmen verschiedener symbolischer Weisen der Welterzeugung< aufeinander einstellen, leben wir, wenn auch nicht mehr in der, so doch in einer Welt und nicht in einem Ensemble multipler, konfligierender und wahrer Welten, einer Welt, in der es transkriptiv sehr komplex und inhomogen zugeht. Das Phantasma von uns bewohnbarer, multipler und in sich semantisch autonomer Welten, das sich - wie mir scheint - nicht unwesentlich der insbesondere durch die digitalen Medien eröffneten Möglichkeit der unbegrenzten Generierbarkeit >realer< virtueller Welten verdankt, bleibt trotz der ganz neuen Qualität der technischen Machbarkeit von »visueller Simulation und Illusionisbildung«56 ein postmoderner Traum.

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Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.

N. Goodman: Welterzeugung (Anm. 1). S. 10. N. Goodman/C. Z. Elgin: Revisionen (Anm. 27). S.71. L. Manovich: Language (Anm. 15). S.66. L. Manovich: Language (Anm. 15). S. 16 u. 65. L. Manovich: Language (Anm. 15). S.69f. W. J. T. Mitchell: Picture Theory (Anm. 13). S. 15.

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(Köln)

Resistenz und Transparenz der Zeichen Der verdeckte Mentalismus in der Sprach- und Medientheorie

Nicht nur im medientheoretischen, sondern auch im kognitionswissenschaftlichen Diskurs läßt sich ein vermehrtes Interesse an den materialen Aspekten kommunikativer Prozesse beobachten. Nachdem die Materialität von Kommunikation und Kognition unter der Dominanz mentalistischer und strukturalistischer Modellbildung ausgeblendet wurde, erlebt sie im Zuge der u. a. von Koch und Krämer diagnostizierten »medienkritischen Wende« eine neue Aufwertung. 1 Genauso wie die Vielzahl konkurrierender Medienbegriffe unterscheiden sich aber auch die Antworten auf die Frage, in welchem Bezug die Materialität der Kommunikation zu den kommunizierten Informationen steht. Insbesondere in den Sprach- und Kognitionswissenschaften überwiegt bis heute die Tendenz, Medien als externe Übermittlungsinstrumente zu betrachten. Medien fungieren aus dieser Perspektive primär als materielle Träger zur Übertragung, Verbreitung und Speicherung von Informationen. Obwohl die Materialität damit zu einem wesentlichen Konstituens von Medien wird, ist sie hier dennoch insofern von untergeordneter Bedeutung für den Kommunikationsprozeß, als sie ohne größere Auswirkungen auf die übermittelten Informationen bleibt. Aufgrund der Unabhängigkeit von Übertragungskanal und Übertragungsinhalt reduziert sich der Einfluß des Mediums weitgehend auf selektive Einschränkungen in Bezug auf Art und Menge der übermittelbaren Information. Bei einem solchen Medienverständnis konzentriert sich die Untersuchung medialer Effekte vor allem auf Veränderungen der Archivierungs-, Distributions- und Kommunikationsformen sowie auf die dadurch ausgelösten Veränderungen kultureller Praktiken. Im medien- und kulturwissenschaftlichen Kontext mehren sich demgegenüber medientheoretische Ansätze, die weniger auf den Aspekt der Übermittlung als vielmehr auf den Aspekt der Vermittlung abheben. Mit der Perspektivenverschiebung auf die Funktion des Mediums als »Mitte und Mittleres, Vermittlung und Vermittler«,2 wie sie etwa Engeil und Vogl in ihrer Einführung in die Medienkulturtheorie vornehmen, rücken die Formierungsleistungen von Medien in den

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Vgl. Peter Koch/Sybille Krämer: Einleitung. In: Dies. (Hg.): Schrift, Medien, Kognition. Über die Exteriorität des Geistes. Tübingen 1997. S.9-28 (hier: S. 11). Vgl. Lorenz Engell/Joseph Vogl: Vorwort. In: Claus Pias/Joseph Vogl/Lorenz Engell/Oliver Fahle/Britta Neitzel (Hg.): Kursbuch Medienkultur. Die maßgeblichen Theorien von Brecht bis Baudrillard. Stuttgart 1999. S.8-11 (hier: S.9). Vgl. etwa auch Régis Debray: Media Manifestos. On the technological transmissions of cultural forms. New York 1996.

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Vordergrund. Neben medieninduzierten Veränderungen kultureller Praktiken gerät damit auch die kognitive Dimension von Medien verstärkt in den Blick. Die Fragerichtung zielt hier vor allem darauf, in welcher Weise Medien Wahrnehmung und Kommunikation transformieren, strukturieren, ja allererst ermöglichen. Im Zuge der funktionalen und epistemischen Aufwertung, die den Medien in ihrer Rolle als vermittelndes >Dazwischen< zuteil wird, läßt sich aber zugleich die Bestrebung beobachten, den Aspekt der Materialität von Medien in den Hintergrund zu drängen. Eine solche Tendenz zeigt sich beispielsweise in differenztheoretischen Ansätzen, in denen Materialität und Medialität vollständig entkoppelt sind und - wie etwa bei Luhmann - auch Sinn, Wahrheit etc. unter den Medienbegriff fallen können. 3 Sie kommt aber auch in der verbreiteten Annahme von der Transparenz des Mediums zum Ausdruck, derzufolge eine operative Besonderheit von Medien darin besteht, daß sie sich in der Anwendung selber zum Verschwinden bringen. Schon bei Heider findet sich in seinem medientheoretisch einflußreichen Text »Ding und Medium« von 1926 die Bestimmung vom »echten Medium« als dem Medium, »durch das man ungehemmt hindurch sieht«.4 Obwohl Medien geradezu dadurch definiert zu sein scheinen, daß sie etwas erst wahrnehmbar, erst kommunikabel machen, neigen sie zugleich dazu - so wird immer wieder hervorgehoben -, »sich selbst und ihre konstitutive Beteiligung an diesen Sinnlichkeiten zu löschen und also gleichsam unwahrnehmbar, anästhetisch zu werden.« 5 In dieser häufig anzutreffenden Kopplung von Vermittlungsfunktion und Durchlässigkeit der Medien könnte zugleich ein Indiz dafür gesehen werden, daß die Heraushebung der »Unsichtbarkeit« des Mediums nicht nur einer systemtheoretisch orientierten Beobachtungslogik geschuldet ist, sondern teilweise auf jene mentalistischen und ontologisierenden Positionen zurückweist, die die Medientheorie eigentlich hinter sich gelassen zu haben glaubte. Denn die Transparenz-These eröffnet prinzipiell die Möglichkeit, auch unter einem Medienbegriff, der auf den Aspekt der Vermittlung hin ausgerichtet ist, an der Idee eines mediationsunabhängigen Vermittelten festzuhalten. Aus solch einer Perspektive fungiert das Medium in dem

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Vgl. etwa Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft. 2 Bde. Frankfurt/M. 1998. S.44ff. Zur Aussparung des Verhältnisses von Sinn und Sinnlichkeit in Luhmanns Theorie vgl. Sybille Krämer: Form als Vollzug oder: Was gewinnen wir mit Niklas Luhmanns Unterscheidung von Medium und Form? In: Rechtshistorisches Journal 10.1991. S. 558-573 (hier: 572 f.). Ein aufschlußreicher Beleg für die Marginalisierung der Materialität bei Luhmann ist auch dessen Beitrag in dem von Hans Ulrich Gumbrecht und Ludwig Pfeiffer herausgegebenen einschlägigen Band mit dem programmatisch gewordenen Titel »Materialität der Kommunikation«, in dem Luhmann Kommunikation eben nicht unter dem Gesichtspunkt der Materialität betrachtet; vgl. Niklas Luhmann: Wie ist Bewußtsein an Kommunikation beteiligt? In: Hans Ulrich Gumbrecht/Karl Ludwig Pfeiffer (Hg.): Materialität der Kommunikation. Frankfurt/M. 2 1995 [1988]. S.884-905. Fritz Heider: Ding und Medium [1926]. In: C. Pias: Medienkultur (Anm.2). S. 319-333 (hier: S.323). L. Engell/L. Vogl: Vorwort (Anm.2). S. 10.

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Maße als idealer Mittler, in dem es den ungehinderten Durchlaß auf ein Dahinterliegendes, sei es die Welt der Dinge oder die Welt des Geistes, gewährt. 6 Zu fragen wäre also, inwieweit sich hinter der Betonung der Unsichtbarkeit des Mediums mehr Gemeinsamkeiten mit Medienbegriffen der Informationsübertragung verbergen könnten, als dies zunächst den Eindruck erwecken mag. Es scheint so, als ob letztlich in beiden Sichtweisen auf Medien - Medien als Übermittler und Medien als Vermittler - die langlebigen Spuren einer Tradition fortwirkten, die den Einfluß der Medialität immer dann zu minimieren versucht, wenn es um das klassische Territorium des Geistes geht. Angesichts dieser in den Sprach- und Kulturwissenschaften gleichermaßen zu beobachtenden Tendenz, den Bereich des Medialen vor den Grenzen eines >mentalen Innenraumes< enden zu lassen, soll im folgenden das Bedingungsverhältnis zwischen der Materialität der Kommunikation und den kommunizierten Inhalten gerade in seiner kognitiven Dimension fokussiert werden. Der Beitrag konzentriert sich also auf die Frage, in welcher Weise die Medialität auch in die Sphäre des >Mentalen< eingreift und sich auf kognitive Sinnbildungsprozesse auswirkt. Er versucht dabei, sich dem Problem anhand eines Untersuchungsgegenstandes zu nähern, an dem die Frage nach der kognitiven Dimension medialer Prozesse bereits auf einer basalen Ebene virulent wird: dem Zeichen. Den Ansatzpunkt der Überlegungen bildet die Annahme, daß Medien nicht erst mit der Technologisierung kommunikativer Praxen entstehen, sondern bereits mit dem Zeichen ihren Ausgang genommen haben. Nicht nur - um mit Mitchell zu sprechen - »[a]lte und archaische Medien wie Malerei, Skulptur und Architektur« liefern einen Rahmen für das Verständnis neuer Medien.7 Vielmehr lassen sich bereits auf der elementaren Ebene des Zeichens und insbesondere des Sprachzeichens gerade in epistemologischer Hinsicht prismatisch einige der Bestimmungsmomente von Medialität exemplifizieren, deren Relevanz auch für die Verbreitungsmedien zu überprüfen wäre. Das Zeichen bietet sich für eine medientheoretische Betrachtung auch insofern an, als im semiotischen Diskurs viele der zentralen Theoreme der Medientheorie bereits vorweggenommen sind. Die weitreichenden Parallelen, die sich zwischen den oben skizzierten Medienkonzepten und entsprechenden Zeichenbegriffen finden lassen, deuten darauf hin, daß sich die Medientheorie einflußreicher, gleichwohl kaum beachteter Anleihen aus der Semiotik bedient. Wie zu zeigen ist, könnten in den häufig unreflektierten Übernahmen traditioneller Zeichenkonzepte auch

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Das zeigt sich etwa auch bei Heider, für den die Vermittlung dort »am vollkommensten« ist, wo Medien »in ihrer Vermittlung ausgehen]«; vgl. Fritz Heider: Ding und Medium (1926). In: C. Pias: Medienkultur (Anm.2). S.319-333 (hier: S.320). Vgl. zur Problematik dieser Medienbestimmung auch Friedrich Balke: »Mediumvorgänge sind unwichtig.« Zur Affektökonomie des Medialen bei Fritz Heider. In: Annette Keck/Nicolas Pethes (Hg.): Mediale Anatomien. Menschenbilder als Medienprojektionen. Bielefeld 2001. S. 401-412. Vgl. W. J.T. Mitchell: Der Mehrwert von Bildern. In: Stefan Andriopoulos/Gabriele Schabacher/Eckhard Schumacher (Hg.): Die Adresse des Mediums. Köln 2001. S. 158-184 (hier: S. 158).

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wesentliche Gründe für eine Ausgrenzung des Medialen aus dem Bereich der Kognition zu suchen sein. Folgt man dem medientheoretischen Mainstream, so scheint zwar weitgehender Konsens über die konstitutive Funktion von Medien für Wahrnehmungs- und Sinnbildungsprozesse zu bestehen: »Wir denken nicht nur über Medien nach, wir denken in ihnen [...]« - so etwa die plakative Formulierung Mitchells - »Unsere Beziehung zu Medien ist eine der gegen- und wechselseitigen Konstitution: Wir erschaffen sie und sie erschaffen uns.«8 Erstaunlicherweise verliert die Einsicht in dieses wechselseitige Konstitutionsverhältnis aber allzu häufig dann an Geltung, wenn das Zeichen selbst jenseits seiner technologischen Prozessierung betroffen ist. Sobald es um den Reflexionsgegenstand des Zeichens und insbesondere des Sprachzeichens geht, scheint die von Jäger diagnostizierte »Medialitätsvergessenheit der Sprachtheorie« 9 ebenso fortzuwirken wie umgekehrt eine Sprach- und Zeichenvergessenheit der Medientheorie. Denn wenn auch Medien- und Zeichentheorie gegenseitig kaum Bezug aufeinander nehmen, lassen sie zumindest darin Übereinstimmung erkennen, das Zeichen selbst nicht zum Objekt medialer Fragestellungen zu erheben. 10 Mit Blick auf die Sprach- und Zeichentheorie liegen die Wurzeln einer mangelnden Fokussierung der Zeichenmedialität sicherlich auch darin, daß die Medialität traditionell allein auf der Ebene der Performanz verortet wird. Die sprachtheoretische Wirkmächtigkeit einer dichotomischen Gegenüberstellung von Kompetenz und Performanz, bei der die Performanz allein auf den Aspekt einer nachträglichen Ausführung kognitiver Programme reduziert wird, und die damit einhergehende Kompetenzzentrierung der Sprachtheorie haben zu einer type-orientierten Sprachbetrachtung geführt. Der Zeichen-Type aber wurde im strukturalistischen Paradigma unter Absehung der Materialität des Signifikanten auf die reine Form reduziert. Möglich wurde solch eine Perspektivenverengung auf den abstrakten Zeichen-Type nicht zuletzt durch das Fortwirken einer semiotischen Tradition, die die Besonderheit des Sprachzeichens eng an seine Arbitrarität knüpft. Sprachzeichen zeichnen sich demnach gegenüber anderen Zeichenformen wie etwa bildlichen Symbolen oder (natürlichen) Indices primär durch die Arbitrarität des Signifikanten aus. Arbitrarität meint dabei in der gängigen Lesart die willkürliche, d. h. die konventionelle und vor allem unmotivierte Zuordnung von Signifikant und Signifikat. Eben diese Auffassung von der Arbitrarität des Sprachzeichens, in der das Zeichen im wesentlichen auf eine Übermittlungsfunktion präexistenter kognitiver Bedeutungsgehalte reduziert wird, scheint nun auch in mehrfacher Hinsicht Eingang in den medientheoretischen Diskurs gefunden zu haben. Zum einen bestimmt sie

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W. J.T. Mitchell: Der Mehrwert von Bildern (Anm.7). S. 159. Ludwig Jäger: Die Sprachvergessenheit der Medientheorie. Ein Plädoyer für das Medium Sprache. In: Werner Kallmeyer (Hg.): Sprache und neue Medien. Berlin-New York 2000. S. 10-30. (hier: S.26). Inwiefern dies mit Einschränkungen auch für die performanztheoretisch orientierten Arbeiten gilt, wird unter dem Ordnungspunkt I »Medialität als reines Performanzphänomen« diskutiert.

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hier vielfach noch die Sprachkonzeption - etwa in der verbreiteten Sprachdefinition als Code - und wirkt, wie gezeigt werden soll, selbst in jenen Ansätzen fort, die gerade für eine medientheoretische Wendung der Sprachtheorie eintreten. Zum anderen scheint sie teilweise auch zur Grundlage für einen allgemeinen Medienbegriff avanciert zu sein. Solch eine Ausweitung der sprachlichen Arbitraritätsannahme auf den Bereich des Medialen läßt sich beispielsweise hinter der bekannten These von der Arbitrarität des Mediums vermuten - wie sie etwa in Wendls Zusammenfassung zu finden ist - , derzufolge »im Grunde [...] alle Dinge zu Medien werden [können], wenn wir uns denn nur darauf verständigen, sie als solche zu verwenden (ein Stein, eine Maske, ein technischer Apparat usw.)«.11 Auch für ein auf den Aspekt der Mediation hin ausgerichtetes Medienverständnis, das primär auf die Vermittlungsfunktion von Medien abzielt, lassen sich zeichentheoretische Vorbilder finden. Daß, um mit Engell zu sprechen, bereits »Wahrnehmung stets Vermittlung impliziert«,12 eine solche mediale Vermittlung aber nicht erst auf der Ebene »apparativerfr] und institutionelle[r] Auskristallisierungen« 13 greift, hat schon Peirce hervorgehoben, indem er die unhintergehbare Zeichenmediiertheit von Wahrnehmung verdeutlicht hat. Die strukturalistisch verkürzte Lesart, der Token bilde den Type in (letztlich defizitären) Äußerungsprozessen lediglich ab, i. e. die gegliederte Wahrnehmung von Äußerungen basiere auf einer medialitätsunabhängigen Ordnungsstruktur (Type), wird dem Peirceschen Postulat einer unhintergehbar an Zeichenvermittlung gebundenen Wahrnehmung nicht gerecht. Unter Rückgriff auf Saussures Zeichentheorie soll im folgenden diskutiert werden, inwieweit diese auch in medien- und performanztheoretischen Ansätzen noch auffindbare traditionelle Type/Token-Konzeption einer Neureflexion bedarf.

I. Medialität als reines P e r f o r m a n z p h ä n o m e n Bei der Lektüre aktueller Positionen der Medien- und Kulturdebatte fällt auf, daß der Beschreibung und Analyse des Ereignishaften zunehmend Aufmerksamkeit geschenkt wird. Die Perspektivierung prozeduraler Kommunikationsfaktoren führt

11

Tobias Wendl (in diesem Band). [S.40] Vgl. dazu auch R. Debray: Media Manifestos (Anm.2). 12 Lorenz Engell: Zur Einführung. In: C. Pias: Medienkultur (Anm.2). S.301-307 (hier: S. 303). 13 L. Engell: Zur Einführung (Anm. 12). S. 301: »Daß es sich bei den meisten Medien um Apparaturen und Anordnungen handelt, die in unsere sinnliche Wahrnehmung eingreifen, sie verändern, sie strukturieren, ist offenkundig. Medien können geradezu definiert werden als apparative und institutionelle Auskristallisierungen, in denen sich das Wahrnehmungsvermögen und die Wahrnehmungsverhältnisse organisieren.« Bezeichnenderweise fehlt sowohl in der Einführung als auch unter den Texten, die hier zum Problem der Mediation der Wahrnehmung versammelt sind, ein Hinweis auf semiotische Arbeiten wie die von Peirce.

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auch in der theoretischen Modellbildung zur Aufwertung des Performativen und läßt die Einengung des Untersuchungsgegenstandes auf den - vom >Defizitären< der konkreten Verwendung befreiten - Informations- bzw. Zeichentype unzureichend erscheinen. Die Fokussierung kommunikativer Prozesse legt im Gegenteil nahe, Zeichen in ihrer konkreten Verwendung und das heißt auch in ihrer Ereignishaftigkeit und Kontextualität als Token in den Blick zu nehmen. Mit dieser paradigmatischen Rehabilitierung des Performativen verbindet sich soll der Ausgangspunkt theoretischer Modellbildung nicht bloß substituiert werden - notwendig auch eine methodologisch veränderte Sichtweise. Hierauf macht insbesondere Jacques Derrida aufmerksam, wenn er formuliert: »Es ist weniger nötig, das Zitieren oder die Iteration der Nicht-Iteration eines Ereignisses entgegenzusetzen, als vielmehr eine différentielle Typologie von Iterationsformen zu konstruieren [...]«.14 Die Dekonstruktion der antipodischen Gegenüberstellung von Type und Token legt die Iterierbarkeit von Zeichen als doppeltes Phänomen frei, in dem Zeichen erstens durch ihre allgemeine Zitathaftigkeit und zweitens durch ihre nicht zitierbare kontextuelle Spezifik bestimmt sind. Sie bleiben also, betrachtet man sie in diesen beiden Dimensionen, je unterbestimmt: Einerseits kommen Zeichen nur in je spezifischen Kontexten, d. h. in ereignishaften Äußerungen zur Erscheinung. Insofern Zeichen jedoch aus einem spezifischen Kontext herauslösbar und in einen anderen einsetzbar sind, gewinnen sie andererseits jene Qualität der Dekontextualisierung, die sie iterierbar werden läßt und ein Äußerungsvorkommnis allererst zum zitierbaren Zeichen - zum Opponenten anderer Zeichen - macht. Der allgemeinen Iterierbarkeit von Zeichen korrespondiert also generell die Singularität eines einzelnen Zeichen-Ereignisses.15 Im Anschluß an diese These läßt sich im aktuellen medientheoretischen Diskurs eine von der strukturalistischen Sprachbetrachtung grundsätzlich verschiedene Annäherung an das Problem der (Nicht-)Iterabilität von Zeichen beobachten. Die medientheoretische Betrachtung konzentriert sich allerdings weniger auf den Aspekt der Iterabilität als grundlegendes Bestimmungsmoment von Zeichen, als vielmehr auf die Unmöglichkeit einer identischen Wiederholbarkeit des einzelnen Zeichenereignisses. Dabei wird das semiotische Problem der allgemeinen, »konventionellen« Zeichenbedeutung mit dem performativen Problem der Ereignishaftigkeit von Zeichenvorkommnissen konfrontiert. Die medientheoretische Ausrichtung neuerer Performanztheorien zielt - in der Ausfaltung etwa durch Sybille Krämer - so

14

Jacques Derrida: Signatur Ereignis Kontext. In: Ders.: Randgänge der Philosophie. Wien 1999. S. 325-353 (hier: S.346). 15 Aber auch die je aktuelle, spezifische Äußerung ist in gewissem Sinne unvollständig: Insoweit »die Intention, welche die Äußerung beseelt, sich selbst und ihrem Inhalt nie vollkommen gegenwärtig sein« kann, »verbietet diese wesentliche Abwesenheit der Intention in der Aktualität der Äußerung, diese strukturelle Unbewusstheit, wenn Sie so wollen, jede Sättigung des Kontextes.« J. Derrida: Signatur Ereignis Kontext ( Anm. 14). S. 347. Das aktuelle Bedeutungsmoment sprachlicher Äußerungen ist weder unter Bezug auf die >konventionelle< Zeichenbedeutung noch auf die Intention einholbar.

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auch auf die Analyse einer vermeintlich non-semiotischen Bedeutungsdimension, die einem Zeichen in seiner Verwendung zukommt. Medialität wird als eine performanzabhängige Dimension von Zeichen entworfen, die den Token auszeichnet. Im Spannungsfeld von Iterierbarem und Nicht-Iterierbarem, von abstraktem Type und spezifisch inszeniertem Token wird die Kategorie der Medialität durch eine Reflexion des >Nicht-Prognostizierbaren< und >Vorprädikativen< bestimmt: Indem einem Zeichen (Token) nicht nur eine konventionelle Bedeutung, sondern hiervon systematisch unterschieden auch ein mediales Bedeutungsmoment zugewiesen wird, ist der konventionellen Zeichenbedeutung nun ein >nicht berechenbares< Moment gegenübergestellt. Wo nicht konventionelle Bedeutung, sondern ein semantisches sur plus beobachtet wird, kommen Nicht-Intentionalität und Unvorhersagbarkeit ins Spiel: Die Prägekraft eines Mediums [...] entfaltet sich in der Dimension einer Bedeutsamkeit jenseits der Strukturen einer konventionalisierten Semantik. Und es ist die Materialität des Mediums, welche die Grundlage abgibt für diesen >Überschuß< an Sinn, für diesen >Mehrwert< an Bedeutung, der von den Zeichenbenutzern keineswegs intendiert und ihrer Kontrolle auch gar nicht unterworfen ist. Kraft ihrer medialen Materialität sagen die Zeichen mehr, als ihre Benutzer damit jeweils meinen. 1 6

Im Horizont der Performanztheorie stiftet eben diese mediale Dimension in iterativen Prozessen der Zitation und Kontextualisierung jene >Eigen-Sinnigkeitnicht beabsichtigten semantischer »Mehrwert« hinzuzurechnen ist,17 der der Analyse des konventionellen Zeichens unzugänglich ist. In diesem Sinne versucht die aktuelle sprachphilosophisch orientierte Medientheorie das Verhältnis von Kompetenz und Performanz, also von abstrakten Wissenszuständen und konkreten Handlungen, von Type und Token über den Aspekt der Medialität zu differenzieren. 18 Varianzstiftende und bedeutungsanreichernde Prozesse werden - und das ist die Errungenschaft performanzorientierter Theorieansätze - konkurrierend zur semiotischen Dimension als Normalfall der kommunikativen Verwendung von Zeichen begriffen und über die Kategorie der Medialität theoretisch verortet. Der nicht kontrollierbare Deutungsüberschusses von Zeichen wird als Resultat seiner »medialen Materialität« in der performativen Verwendung rekonstruiert. 19 Mit der Dimension des Medialen eröffnet sich also eine heuristisch unterschiedene Analyseebene zur Dif-

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17 18

19

Sybille Krämer: Das Medium als Spur und als Apparat. In: Dies. (Hg.): Medien, Computer, Realität. Wirklichkeitsvorstellungen und neue Medien. Frankfurt/M. 1998. S. 73-94 (hier: S.78f.). S. Krämer: Das Medium als Spur und als Apparat (Anm. 16). S.79. Vgl. Sybille Krämer: Sprache - Stimme - Schrift. Sieben Gedanken über Performativität als Medialität. In: Uwe Wirth (Hg.): Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften. Frankfurt/M. 2002. S.323-346 (hier bes. 324ff. und 329ff.). S. Krämer: Das Medium als Spur und als Apparat (Anm. 16). S.79.

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ferenzierung einer systematisch konventionellen Bedeutung von einem an die spezifische Performierung gebundenen, ereignishaften Mehrwert von Zeichen. Erst im konkreten Vollzug erfahren Zeichen diesen materialgespeisten Eigensinn, der der systematischen Zeichenfigur enteignet ist. Folglich wird der konventionellen Zeichenbedeutung in performativen Situationen ihrer medialen Verwendung - in beinah ontologisch anmutender Direktheit der Erfahrung - eine semantische Dimension parallel geführt, die sich der medialen Inszenierung des Äußerungsereignisses verdankt: in medialen Äußerungsprozeduren symbolisieren Zeichen konventionelle Bedeutungen und erleben gleichzeitig jene semantische Aufladung, die das Ereignis vom Zitat trennt. Dieser in der Performanztheorie verbreiteten Unterscheidung liegt die implizite Annahme zugrunde, die äußerliche Zeichengestalt sei in einer systematischen Hinsicht arbiträr und bedeutungstransparent - also von jeglicher Einflussnahme auf die konventionelle Bedeutung eines Zeichens befreit, in einer anderen Hinsicht jedoch ein mediales Dispositiv mit Eigen-Sinn, das - simultan zur semiotischen Bedeutung eines arbiträren Zeichens - erst in der aktuellen Verwendung semantisiert wird. So mag Medialität als Präzisierungsversuch der Inszenierungsweisen von Signifikanten begriffen werden und jene konventions-transzendente Zeichendimension benennen, der sich die nicht kalkulierbare Semantisierung von Zeichenvorkommnissen verdankt. Der Kategorie der »Materialität des Mediums«20 entspricht im Rahmen der performativen Theorie auf systematischer Zeichenebene folglich kein Analogon, sie bleibt notwendig eine Figur des Performativen und verantwortet hier lediglich den nicht voraussagbaren >MehrwertZeichen< verdient. Types geraten auf performativer Ebene nicht in den Blick und sind für die Modellbildung der Performanztheoretiker auch kein zu reflektierender Untersuchungsgegenstand. Im Blickpunkt theoretischer Reflexion steht allein die mediale Inszenierung von Zeichen, die die nicht-iterierbare Semantik von singulären Ereignissen auszeichnet. Mit der Reduktion des Zeichens auf den Token wird es aber seiner virtuellen und kognitiven Dimension beraubt. Kognitive (Zeichen-) Operationen mit distinkten Einheiten werden aus der Analyse medialer (Zeichen-) Prozesse ausgeschlossen. Bei Krämer etwa führt dann auch die performative Begrenzung des Sprachzeichenbegriffs zur Negation einer »Sprache hinter dem Sprechen«.23 Die performanzzentrierte Bestimmung von Zeichen mündet so in die Konzeption einer neuen Innerlichkeit des Geistes, die stark an das behavioristische Modell der >black box< erinnert. Hinter einer solchen Modellierung muß eine mentalistische Semantikkonzeption vermutet werden, die die Bedeutung eines Zeichens als amediale und mentale Wissenskonstruktion begreift und lediglich zum Zwecke der Kommunikation und Konventionalisierung auf ein darstellendes Mediums verwiesen ist: Die (konventionelle) Bedeutung eines Zeichens wird hierbei zur mentalen Entität, die es in kom-

22 23

S. Krämer: Das Medium als Spur und als Apparat (Anm. 16). S.78. Vgl. Sybille Krämer: Sprache und Sprechen oder: Wie sinnvoll ist die Unterscheidung zwischen einem Schema und seinem Gebrauch? Ein Überblick. In: Dies./Ekkehard König (Hg.): Gibt es eine Sprache hinter dem Sprechen? Frankfurt/M. 2002. S. 97-125.

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munikativen Handlungen durch arbiträre Zeichen zu veräußern und zu konventionalisieren gilt. Der Signifikant hingegen wird als selbst-identische Größe entworfen, die sich auch in variierenden Kontexten iterieren läßt, genuin aber keinen formenden Einfluß auf den Gehalt eines Zeichens ausübt. In dieser Konzeption liegt die >eigentliche< Bedeutung eines Zeichens der medialen Zeichenhandlung logisch voraus. Sie gilt es in diskursiven Handlungen lediglich zu veräußern und zu konventionalisieren - was für Krämer noch 1998 heißt, daß die konventionelle Zeichenbedeutung »vereinbart« wird.24 Die strukturalistische Fiktion, der bedeutungsvolle Gehalt eines Zeichens existiere als gegliederte Struktur bereits vor seiner Performierung und werde durch Signifikantenanbindung lediglich äußerlich, ist also augenscheinlich auch in performanztheoretischen Ansätzen weitgehend unangefochten. Hier scheint erneut die Idee eines von der Mediation unabhängigen semantischen Wissens durch, das durch das Medium Sprache Ausdruck und Intersubjektivität erfährt. Wie eingangs erwähnt, wurzelt diese Annahme in einem traditionellen Arbitraritätsverständnis, das nach wie vor unhinterfragte Aktualität beanspruchen kann und den Prozess der Zeichenkonstitution auf einen reinen Zuordnungsakt reduziert. Der genuin semiotische Akt wird in dieser klassischen Lesart des Arbitraritätsbegriffs in der Konventionalisierung einer Applikationsfunktion gesehen: einem beliebigen medialen Signifikanten χ wird in stabiler Weise eine amediale mentale Vorstellung x' zugeordnet. Der Zuordnungsakt setzt also logisch die Existenz beider Figuren, nämlich die im Zeichenvollzug mitzuteilende Bedeutung wie auch die materiale Zeichengestalt als vorsynthetische voraus. In solch einer Verkürzung des Arbitraritätstheorems auf die willkürliche Zuordnung einer material gestalteten Lautfolge zu einem zeichenunabhängig gegebenen Gehalt wird der Signifikant zwar zur notwendigen Materialisierungsbedingung für die kommunikative Veräußerung von kognitiven Bedeutungsvorstellungen. Für die Generierung der kognitiven Bedeutung scheint er aber nicht notwendig zu sein.

III. Der semiologische Gegenentwurf: Die mediale Wendung des Arbitraritätstheorems Gegen diese traditionelle Arbitraritätsauffassung hat sich neben Vertretern der idealistischen Philosophie bereits Ferdinand de Saussure gewendet. Zur Skizzierung der Grundzüge einer allgemeinen Sprachtheorie stellt er das Sprachzeichen, genauer, die logische Figur der sprachlichen Semiosis, in den Fokus seiner Erörterung und entwickelt hieran seine Idee einer differenzlogischen und systemischen Sprachbetrachtung. Saussure nimmt insbesondere das Verhältnis zwischen Signifikant und Signifikat, also zwischen materieller und semantischer Strukturbildung

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Vgl. S. Krämer: Das Medium als Spur und als Apparat (Anm. 16). S.79.

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und damit auch zwischen kognitiver und performativer Zeichenebene aus einer nicht-repräsentationalen Perspektive in den Blick. Die theoretische Aktualität der Saussureschen Grundideen für die aktuelle Mediendebatte leitet sich aus der - bislang eher seltenen - Rezeption seiner Notes ab, in denen gerade die materialen und semantischen Zeichenqualitäten zugleich als Effekte der prozessual zu denkenden Semiosis wie auch als Bedingungen für die epistemische und kommunikative Funktion von Zeichen ausgewiesen sind.25 Bei Saussure erfährt das Arbitraritätstheorem insofern eine Radikalisierung, als hier nicht nur die Relation zwischen den beiden Zeichenaspekten als willkürliche und potentiell freie Bindung identifiziert wird, sondern - und dies macht die entscheidende Differenz zu traditionellen Ansätzen aus - beide Aspekte in ihrer Genese dialektisch aufeinander bezogen sind; es gibt nichts der Semiosis identisch Vorausliegendes. Die materiale Zeichenform ist ebenso wie die Erzeugung distinkter Bedeutung ein Produkt der sprachlichen Semiosis. So, wie der vorsprachlich ungegliederte Tonfluß sich erst im Akt der Zeichensynthesis zum Lautbild systematisiert, differenziert sich die Bedeutung erst durch die Semiosis aus. 26 Saussure entwirft das sprachliche Zeichen deshalb als bipolare aber nichtsdestotrotz synthetische Einheit (»Sème«), in der sich eine materiale Seite (»Aposème«) und eine bedeutsame Seite (»Parasème«) nicht nur untrennbar vereinen, sondern allererst konstituieren. 27 Die epistemischen Implikationen seiner Zeichenkonzeption versucht er durch die Einführung einer neuen Terminologie begrifflich zu manifestieren: S è m e referiert hierbei auf den synthetisch gebundenen Gesamtcharakter des Zeichens, dessen zwei Aspekte A p o s è m e und P a r a s è m e zwar heuristisch separierbar sind. Im Schatten jeder selektiven Fokussierung einer der beiden Aspekte steht allerdings immer wieder das ganze Zeichen: »Entre autres, le mot de sème

25

Die hier vorgestellte Entfaltung der zeichentheoretischen Grundannahmen Ferdinand de Saussures folgt nicht der Tradition einer strukturalistischen Cours-Rezeption, sondern orientiert sich an der von Ludwig Jäger auf der Lektürebasis der Notes und weiterer unveröffentlichter Quellen geleisteten Rekonstruktion »authentischer« Grundgedanken Saussures. Insbesondere die Neudeutung des Arbitraritätspostulats läßt Jäger zu der für den hier diskutierten Zusammenhang wesentlichen Erkenntnis kommen, daß Saussure in seinen Skizzen zu einer - allerdings unvollständig gebliebenen - Theorie »die Einsicht in die erkenntniskonstitutive Funktion des Sprachzeichens zu ihrer zentralen Voraussetzung gemacht hat.« Ludwig Jäger: Der saussuresche Begriff des Aposème als Grundlagenbegriff einer hermeneutischen Semiologie. In: Ludwig Jäger/Christian Stetter (Hg.): Zeichen und Verstehen. Akten des Aachener Saussure-Kolloquiums 1983. Aachen 1986, S.7-33 (hier: S. 12). Vgl. auch ders.: Zu einer historischen Rekonstruktion der authentischen Sprachidee Ferdinand de Saussures. Diss. Düsseldorf 1975. Ders.: Zeichen/Spuren. Skizze zum Problem der Sprachzeichenmedialität. In: Georg Stanitzek/Wilhelm Voßkamp (Hg.): Schnittstelle: Medien und kulturelle Kommunikation. Köln 2001. S. 17-31.

26

Vgl. Ferdinand de Saussure: Cours de linguistique générale. Edition critique par Rudolf Engler. Tome 1. Reproduction de l'édition originale. Wiesbaden 1989 2 [1968]. S.232, III C 286,1692 und S.253, II R 37,1831. Vgl. F. de Saussure: Cours. Édition critique. Tome 1 (Anm.26). S. 231, III C 2 8 7 , 1 6 9 0 und S.233, III C 289,1699, S.253, II R 37,1828.

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ecarte, ou voudrait écarter toute prépondérance et toute séparation initiale entre le côté vocal et le côté idéologique du signe. Il représente le tout du signe, c'est-à-dire signe et signification unis en une sorte de personnalité.« 28 Hierbei stellt bereits das einem Aposème korrespondierende virtuelle Lautbild, bleibt man in der - die Prozessierung von sprachlichen Zeichen binnendifferenzierenden - Terminologie Saussures, das »image acoustique«, 29 auf kognitiver Ebene eine synthetische Verbindung dar, die sich untrennbar aus motorisch-produktivem Bewegungsbild, dem »Mécanème«, 30 und akustisch-rezeptivem Klangbild, dem »Acoustème«, 31 zusammensetzt. Sowohl die motorisch-produktive als auch die akustisch-rezeptive Dimension des artikulierten Zeichens sind ebenso wie die semantische Dimension in das kognitive Zeichendispositiv eingeschrieben. Die (virtuellen) Lautbilder stellen jenes mediale Format bereit, dessen ein Parasème auch als Element der Langue bedarf, um in kognitiven Vorstellungs- Imaginations- und Erinnerungsprozessen erfahrbar zu sein. Es ist deshalb keineswegs so, daß sich die Medialität von Zeichen in der performativen Dimension der Signifikanten erschöpfte. Die bereits bei Humboldt zu findende Hypothese, der Geist bedürfe einer medialen Spur seiner Tätigkeit, um sich dieser Tätigkeit bewußt werden zu können, 32 findet ihr Pendant also genau in der Saussureschen Zeichenkonzeption: Saussure post-

28

Ferdinand de Saussure: Cours de linguistique générale. Notes de F. de Saussure sur la linguistique générale. Édition critique par Rudolf Engler. Tome 2: Appendice. Reproduction de l'édition originale. Wiesbaden 19892[1968]. S. 36, Ν 15, 3310.12. Dt. Übersetzung nach Johannes Fehr: »Unter anderem beseitigt oder möchte das Wort sème beseitigen jede Vorherrschaft und jede anfängliche Trennung zwischen der stimmlichen Seite und der ideologischen Seite des Zeichens. Es stellt das Ganze des Zeichens dar, das heißt Zeichen und Bedeutung in einer Art Persönlichkeit vereint.« Ferdinand de Saussure: Linguistik und Semiologie. Notizen aus dem Nachlaß. Texte, Briefe und Dokumente. Gesammelt, übersetzt und eingeleitet von Johannes Fehr. Frankfurt/M. 1997. S.358f. 29 Vgl. F. de Saussure: Cours. Édition critique. Tome 2 (Anm.28). S. 32, Ν 14c, 3305.7. Vgl. auch F. de Saussure: Cours. Édition critique. Tome 1 (Anm.26). S. 149, III C 278,1095 f.; S. 150, III C 279,1105; S. 155, III C 281,1138; S. 157, III C 284,1167. 30 F. de Saussure: Cours. Édition critique. Tome 2 (Anm.28) S.32 Ν 14c, 3305.9 sowie F. de Saussure: Cours. Édition critique. Tome 1 (Anm.26). S. 144, Ν 14b, 1063; S. 129, Ν Phonologie 930 f. 31 F. de Saussure: Cours. Édition critique. Tome 2 (Anm.28). S.32 Ν 14c, 3305.9 sowie F. de Saussure: Édition critique. Tome 1 (Anm 26). S. 144, Ν 14b 1063. 32 Wilhelm von Humboldt: Gesammelte Schriften. Hg. ν. Albert Leitzmann. Preußische Akademie der Wissenschaften. 17 Bde. Berlin 1903-1936 (hier: Bd. VII. S. 602): »Der Mensch [...] muß den flüchtigen Geist in Worte fassen, um ihn zu heften.« Die »intellectuelle Thätigkeit« bleibt - so etwa die Grundthese Humboldts - »gewissermassen spurlos vorübergehend«, solange sie nicht in sprachlicher Entäußerungshandlung für das Subjekt auch sinnlich wahrnehmbar ist. (W. v. Humboldt: Gesammelte Schriften. Bd. VI. S. 152). Vgl. auch L. Jäger: Zeichen/Spuren (Anm. 25). Erika Linz: Die Reflexivität der Stimme. In: Cornelia Epping-Jäger/Erika Linz (Hg.): Medien/Stimmen. Studien zur medialen Inszenierung der Stimme. Köln 2003 (im Druck). Dies.: Sprache des Geistes - Zeichentheoretische Bemerkungen zur kognitivistischen Symboltheorie. In: Ludwig Jäger/Erika Linz (Hg.): Medialität und Mentalität. Theoretische und empirische Studien zum Verhältnis von Sprache, Subjektivität und Kognition. München 2003 (im Druck).

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uliert auch für die virtuelle Ebene der kognitiven Zeichenoperation eine synthetisch-bipolare Figur, in der senso-motorisches Lautbild und historische Bedeutungserfahrungen nicht nur miteinander verschmelzen, sondern bereits in ihrer Genese aufeinander verwiesen sind. Aposème und Parasème sind beide, um als kognitives Vorstellungsbild ins Bewusstsein zu gelangen, auf die ihnen je korrespondierende >andere< Seite des holistischen Zeichens verwiesen. Das heißt, das Aposème kann nur als semantisierte Form, das Parasème wiederum nur als mediatisierte Struktur Gegenstand von kognitiven Prozessen wie Wahrnehmung, Erinnerung und Imagination werden. Ebensowenig, wie solche kognitiven Operationen mit distinkten Bedeutungsstrukturen, also Parasèmes, ohne eine mediale Konturierung möglich sind, können medial performierte Zeichen, i. e. Aposèmes, unter Verzicht auf ihre parasèmische Semantisierung verarbeitet werden. Damit ist die Medialität von Zeichen gleichermaßen notwendiges Konstituens performativer Zeichenvollzüge wie kognitiver Zeichenoperationen. Kognitive Operationen mit distinkten Bedeutungsstrukturen sind ohne eine zeichengeleitete Mediatisierung nicht vorstellbar. La langue est encore comparable à une feuille de papier: la pensée est le recto et le son le verso; on ne peut découper le recto sans découper en même temps le verso; de même dans la langue, on ne saurait isoler ni le son de la pensée, ni la pensée du son; on n'y arriverait que par une abstraction dont le résultat serait de faire ou de la psychologie pure ou de la phonologie pure. 33

Ausbildung, Imaginierung und Erinnerung von kognitiven Zeichenstrukturen in der Langue sind ebenso auf die mediale Dimension der artikulierten Parole verwiesen, wie die Semantisierung artikulierter Zeichen der Parole auf Wissensstrukturen beruht, die die Langue als mediatisiertes Archiv senso-motorischer und semantischer Erfahrung bereitstellt. Die Konzeption einer durch und durch synthetischen Zeichennatur fordert vor allem zwei Konsequenzen: Einerseits gibt es innerhalb des kognitiven Systems keine semiotischen bzw. semantischen Einheiten, die losgelöst von den medialen Eigenschaften ihrer Prozessierung sind. Andererseits kommt keiner der beiden Zeichendimensionen eine der Rede vorausliegende Realität zu; sowohl die ihrerseits synthetische Lautgestalt als auch die je historisch erfahrene und mediatisiert archivierte Bedeutung verdanken ihre Existenz dem synthetischen Sprachzeichen. Die operational geformte Einheit der distinkten Bedeutung findet außerhalb des medialen Zeichens kein Analogon; sie ist nirgends verortet als im Zeichen. 34 33

F. de Saussure: Cours. Édition critique. Tome 1 (Anm.26). S. 253 f., 2IV § 1 al. 6,1833 ff. Dt. Übersetzung (G. F.): »Die langue ist auch mit einem Blatt Papier vergleichbar: Das Denken ist die Vorder- und der Laut die Rückseite; man kann nicht die Vorderseite abschneiden, ohne gleichzeitig auch die Rückseite abzuschneiden; das gleiche gilt für die langue: man kann weder den Laut vom Denken trennen, noch das Denken vom Laut; man würde dies nur durch eine Abstraktion erreichen, deren Resultat darin bestände, daß man entweder reine Psychologie oder reine Phonologie betreibt.« Vgl. auch F. de Saussure: Cours. Édition critique. Tome 1 (Anm.26). S.254, G 1.4a. und F. de Saussure: Cours. Édition critique. Tome 2 (Anm.28). S. 36 Ν 15,3310.6.

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F. de Saussure: Cours. Édition critique. Tome 1 (Anm. 26). S. 252, III C 397,1821 f.

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Das sprachliche Zeichen ist mithin nicht nur auf materialer Ebene frei von zeichenunabhängigen Kategorien, die die >phonologische Form< motivieren.35 Es ist auch auf inhaltlicher Seite keiner zeichenvorgängigen Kategorie geschuldet, da sich die parasèmisch strukturierte Bedeutung erst im Akt der Zeichensynthesis konfiguriert. Durch das arbiträre »Verknüpfungsband« 36 sind die beiden Seiten des sprachlichen Zeichens derart zur synthetischen Entität verbunden, daß sie nur post actu als unterscheidbare Größen konstituiert werden; die vorsemiologische Qualität der dem Syntheseprozeß vorausliegenden Elemente läßt sich aus der synthetischen Zeichenfigur nicht mehr rekonstruieren. Eine >Trennung< von genuin vor-sprachlich gewonnener Information und sprachlicher Wissensstruktur ist unmöglich; sprachlich geformten Strukturen liegt nichts Identisches voraus. »Non seulement ces deux domaines entre lesquels se passe le fait linguistique sont amorphes, le mariage qui créera la valeur est parfaitement arbitraire.«37 Sprachzeichen bilden also keine unabhängig von ihrer Verwendung existierenden Strukturen ab, sondern differenzieren den Gegenstand semiologischer Referenz im performativen Akt der Semiosis erst aus.38 »Le rôle du langage vis-à-vis de la pensée, ce n'est pas [d'être] un moyen phonique, un moyen matériel d'expliquer des pensées, comme déjà toute claire, définie. Faut qu'elle aboutisse à des unités.«39 Ein solchermaßen auf Sprache verwiesenes Bedeutungskonzept ist mit abbildtheoretischen Sprachvorstellungen nicht zu vereinbaren. Die Konturierung des Form-Substanzproblems im Horizont der neuen Terminologie zeigt darüber hinaus an, daß die Bedeutung eines Zeichens nicht positiv oder gar selektiv, sondern immer nur relativ in Abgrenzung eines Sèmes zu prinzipiell al-

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Saussures Ausführungen zur - immer nur sprachlichen - Motiviertheit von Zeichen (beispielsweise Zahlwörter wie dix-neuf) machen deutlich, daß hier keine konzeptuellen, sondern sprachliche Relationsformate wirken; vgl. F. de Saussure: Cours. Édition critique. Tome 1 (Anm.26). S. 297 f., UIC 300,2094 f. Vgl. F. de Saussure: Cours. Édition critique. Tome 1 (Anm.26). S. 152, IIIC 309,1122 und III C 280,1123 f.; vgl. auch S. 252, III C 397,1821. F. de Saussure: Cours. Édition critique. Tome 1 (Anm.26). S.254, III C 399, 1839. Engl. Übersetzung nach Roy Harris: »Not only are these two domains between which the linguistic fact is situated amorphous, the marriage which will create value is perfectly arbitrary.« Ferdinand de Saussure: Troisième cours de linguistique générale (1910-1911) d'après les cahiers d'Emile Constantin. Saussure's third course of lectures on general linguistics (1910-1911) from the notebooks of Emile Constantin. French text edited by Eisuke Komatsu. English translation by Roy Harris. Oxford-New York-Seoul-Tokyo 1993. S. 138. Hieraus folgt nicht, daß sämtliche konzeptuelle Wissensstrukturen aus logischer Sicht zwingend an Sprache gebunden wären, sondern daß die distinkte Bedeutung und das heißt die Kondensierung begrifflicher Strukturen unter ein bestimmtes Format an die synthetische Zeichennatur gebunden ist. F. de Saussure: Cours. Édition critique. Tome 1 (Anm.26). S.253, II C 31,1828. Dt. Übersetzung (G. F.): »Die Rolle der langage gegenüber dem Denken besteht nicht darin, ein lautliches Mittel zu sein, ein materielles Mittel, um das Denken - als schon völlig klares, definiertes - zu entäußern. Es muß in ihm zu Einheiten kommen.«

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len anderen Elementen (Parasèmen) des Systems bestimmt ist. Damit ist ein Gedanke aktueller neurologisch orientierter Netzwerktheorie vorweggenommen, wonach Bedeutung keine positiv bestimmbare Größe ist, sondern immer nur relational und augenblicklich ermittelt werden kann. 40 Einem Zeichen kommt nur im Verhältnis zu den anderen Elementen des kognitiven Netzwerks eine dispositionelle Position zu, die seinen aktuellen Wert definiert. Zum Beispiel markiert ein neuer sprachlicher Term jene Position im System, die, bislang unspezifiziert, von den anderen Elementen eines Systems mitgetragen und abgedeckt, nicht aber identifiziert wurde. Vereinfacht formuliert, differenziert das Einzelzeichen das bestehende Koordinatennetzwerk weiter aus und etabliert allererst die Position, der nun ein bestimmter Wert zugerechnet werden kann. So wird bestimmt, was vorher nicht in den Fokus zeichengeleiteter Wahrnehmung gelangen konnte. Insoweit ein Zeichen in Abgrenzung zu potentiell allen anderen Elementen des Systems definiert ist, sind es die relationalen Bindungen anderer Netzwerkelemente, die ein Zeichen ex negativo verkörpert: Ajverhält sich als Negation der anderen Elementen zu eben diesen Elementen des Systems, definiert also jene relationale Position, die A 2 . n nicht besetzen. Der semantische Wert eines Zeichens läßt sich deshalb nur über ein Ausschlußverfahren, i. e. in Abgrenzung zu den alternierenden Termen des Systems ermitteln: Pour un mot quelconque la langue, un mot, même n'ayant avec le aucune >parenté, Transparenz der BedeutungTransparenz< für die Bedeutung«, also eigentlich, um in dem metaphorischen Bild zu bleiben, eine Transparenz des Zeichenmediums in seiner kommunikativen Verwendung.49 Die Bedeutungstransparenz von Sprachzeichen ist damit geradezu ein Paradefall jener vielbeschworenen Paradoxic, daß Medien zwar konstitutiv an jeder Wahrnehmung beteiligt sind, selbst aber der Wahrnehmung entzogen bleiben. Um so erstaunlicher ist es, daß die Bedeutungstransparenz im linguistischen Diskurs nicht als mediales Bestimmungsmoment, sondern als zentrales Spezifikum sprachlicher Zeichen behandelt wird. Die »Transparenz« des Sprachzeichenmediums wird bei Schaff - und nicht nur bei ihm - zum zentralen Differenzkriterium zu anderen Zeichentypen. Schaffs Argumentation, warum allein dem Sprachzeichen die Eigenschaft der Transparenz zukommt, ist dabei auch über den sprachlichen Kontext hinaus aufschlußreich, weil sie einmal mehr auf die mentalistischen Wurzeln der Transparenzthese hindeutet. Bedingung für die Transparenz des Signifikanten ist zunächst die Arbitrarität sprachlicher Zeichen ganz im Saussureschen Sinne. Transparent kann der sprachliche Signifikant nämlich nur deshalb sein, weil er keine autonome Existenz unabhängig vom Signifikat besitzt, sondern beide gleichermaßen erst das Produkt der Zeichensynthesis bilden. Allein unter der Voraussetzung, daß Signifikant und Signifikat im Sprachzeichen bzw. im »Wortzeichen«, wie Schaff es nennt, untrennbar miteinander verbunden sind, kann die materielle Zeichengestalt der Bedeutung weichen und muß nicht mehr als selbständige Einheit wahrgenommen werden: »Es gibt nicht den Begriff und das Wortzeichen gesondert für sich, es gibt nur ein BegriffWortzeichens [...] Aus eben dieser spezifischen Einheit von Denken und Sprache resultiert die >Bedeutungstransparenz< der Wortzeichen.«50 Bei nicht-sprachlichen Zeichentypen aber - so Schaff - ist eine solche wechselseitige Abhängigkeit zwischen Signifikat und Signifikant nicht gegeben. Im Gegensatz zu Sprachzeichen ba-

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rung in die Semantik. Hg. u. mit einem Nachwort versehen v. Georg Klaus. Reinbek 1973. S. 182. A. Schaff: Einführung in die Semantik (Anm.47). S. 182. A. Schaff: Einführung in die Semantik (Anm. 47). S. 189. Damit unterscheidet sich der hier diskutierte Gebrauch von der insbesondere im psychologischen Diskurs zu findenden terminologischen Verwendungsweise im Sinne einer selbstevidenten, ikonisch motivierten Semantik von Zeichen. A. Schaff: Einführung in die Semantik (Anm.47). S.183f.

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sieren nicht-sprachliche Zeichen vielmehr auf einer nachträglichen Verbindung »fertiger«,51 d. h. den Zeichen vorausliegendenden Bedeutungen mit einer materiellen Zeichengestalt. Die Autonomie von Signifikant und Signifikat zeigt sich bei solchen Zeichen insbesondere darin, daß die Signifikanten - wie etwa beim Verkehrszeichen - grundsätzlich austauschbar bleiben, ohne Auswirkungen auf die Bedeutung zu nehmen. 52 Es ist diese auch nach der Zeichenbildung fortwirkende Autonomie des Signifikanten, die nach Schaff die Möglichkeit einer Transparenz der materiellen Zeichengestalt verhindert. Nur im Sprachzeichen, in dem »nicht der Laut allein Zeichen [...] ist, sondern das untrennbare Ganze von Laut und Bedeutung«,53 erlaubt es die Unselbständigkeit des Signifikanten, die materielle, physische Zeichengestalt »transparent für die Bedeutung« 54 werden zu lassen und nicht länger als eigenständige Einheit wahrzunehmen, ja sogar »überhaupt auf[zu]hören, die materielle Gestalt des Zeichens zu perzipieren«.55 Die Eingrenzung der Transparenzthese auf die Klasse der sprachlichen Zeichen verdankt sich also nicht spezifischen materiellen Qualitäten sprachlicher Zeichen, sondern allein dem Umstand, daß Schaff für die Klasse der nicht-sprachlichen Zeichen immer noch einem repräsentationalen Zeichenbegriff im Sinne des klassischen Arbitraritätsverständnisses folgt, die Transparenzthese aber an einen synthetischen Zeichenbegriff knüpft. Analog zu medientheoretischen Verortungen der Transparenzthese ist die Annahme von der Durchlässigkeit des Mediums somit auch in Bezug auf das Zeichen an ein Medialitätsverständnis gekoppelt, das nicht am Modell der Übermittlung, sondern am Modell der Mediation orientiert ist. Daß die Transparenzthese dabei in der Tat zugleich die Funktion erfüllt, die »Ebene des begrifflichen Denkens« 56 möglichst von Zeichenmedialität freizuhalten, illustriert die weiterführende Argumentation Schaffs, in der er die Fähigkeit zu höheren Abstraktionsleistungen an die Bedeutungstransparenz der Sprachzeichen koppelt. Denn wenngleich das begriffliche Denken< notwendig auf die Sprachzeichenmedialität verwiesen ist, führt die für das Sprachzeichen charakteristische Bedeutungstransparenz nach Schaff zugleich dazu, daß »wir im Bewußtsein lediglich seinen Bedeutungsaspekt bewahren«. 57 Gerade diese Ausblendung des materiellen Zeichenträgers aus dem Bewußtsein erlaubt es nun, »das sinnliche Konkretum in einem Grade zu verlassen, der die Möglichkeiten anderer Zeichen übertrifft« und »die höchsten Stufen der Abstraktion zu erklimmen gestattet«. 58

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A. A. A. A. A. A. A. A.

Schaff: Einführung in die Semantik Schaff: Einführung in die Semantik Schaff: Einführung in die Semantik Schaff: Einführung in die Semantik Schaff: Einführung in die Semantik Schaff: Einführung in die Semantik Schaff: Einführung in die Semantik Schaff: Einführung in die Semantik

(Anm.47). (Anm.47). (Anm.47). (Anm.47). (Anm.47). (Anm.47). (Anm.47). (Anm.47).

S. 183. S. 183 und 271 f. S. 183. S.271. S. 189. S.273. S. 189. S.193.

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V. Transparenz als Effekt der Zeichenprozessierung Die an einen synthetischen Zeichenbegriff gebundene Transparenzthese kann insofern als ein Versuch gelesen werden, den determinierenden Einfluß der Zeichenmedialität besonders dort zu begrenzen, wo das Terrain des abstrakten Denkens tangiert wird. Wie schon in der idealistischen Tradition, in der die Eigenschaft der Selbstnegativität des Tons eine analoge Funktion übernimmt,59 gewinnt der Signifikant zwar eine konstitutive Funktion im Prozeß der Bedeutungsgenese, läßt aber zugleich eine von der Materialität des Signifikanten befreite Bedeutung zurück die allerdings, das sei hinzugefügt, in jedem Akt der Aktualisierung einer erneuten Zeichenmediatisierung bedarf. Nach wie vor gilt es, die Sphäre des abstrakten Denkens möglichst weitgehend vor der Kontaminierung durch die »Tyrannei der Sinne«,60 und das heißt, vor der Gefahr einer Eigenbedeutsamkeit materialer Erscheinungsformen zu bewahren. Daß die Relevanz, die der Tilgung des Signifikanten im Semantisierungsprozeß beigemessen wird, wesentlich durch diesen Verdacht einer Selbstbedeutsamkeit materieller Zeichengestalten motiviert sein könnte, läßt auch der Blick auf die traditionsreiche Debatte um die Differenzen zwischen sprachlichen und nicht-sprachlichen Zeichen vermuten. Exemplarisch ist hier die dichotomische Gegenüberstellung zwischen sprachlich-arbiträren und ikonischen Zeichen, in der mit der unterstellten Eigensemantik ikonischer Signifikanten zugleich eine Einengung des Bezeichnungspotentials verbunden wird. D. h. es wird angenommen, daß der Signifikant über eine zeichenunabhängige Semantik verfügt, die die Möglichkeiten der Bedeutungszuweisung stark einschränkt. In dieser Entgegensetzung von sprachlichen und ikonischen Zeichen schafft erst die Transparenz bzw. die Selbstnegativität des sprachlichen Signifikanten jene Befreiung von den Restriktionen der Zeichenmaterialität, die es erlaubt, die Grenzen der sinnlichen Wahrnehmung zu verlassen. Nun hat aber schon Peirce gezeigt, daß die Annahme einer Autonomie von Signifikant und Signifikat in Bezug auf ikonische Zeichen in vergleichbare Aporien führt wie in Bezug auf sprachliche Zeichen. Mit seinem dynamischen Zeichenbegriff wendet er sich sowohl gegen die Vorstellung einer unmittelbaren Bedeutsamkeit materialer Zeichengestalten als auch gegen die mit der Autonomiethese implizierte Möglichkeit einer Stillstellung von Semantisierungsprozessen. Gegen die Vorstellung einer Unmittelbarkeit und Selbstevidenz der Wahrnehmung setzt er die Annahme ihrer unhintergehbaren Zeichengebundenheit. Wahrnehmung als Zeichenprozeß zu verstehen, bedeutet im Kontext der Peireschen Semiotik zunächst, daß Wahrnehmungen wie jede Form der Erkenntnis immer den Bezug auf vorherige Wahrnehmungen voraussetzen, insofern jedes Gewahrwerden einer Sinnesempfin-

59 60

Vgl. dazu näher E. Linz: Die Reflexivität der Stimme (Anm.32). H.-L. Teuber: Lacunae and research approaches to Them. In: C. H. Millikan/F. L. Darley (Hg.): Brain mechanisms underlying speech and language. New York-London 1967. S. 204216. Zitiert nach Karl R. Popper/John C. Eccles: Das Ich und sein Gehirn. München 1989. S.372.

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dung immer schon ein reflexiver Prozeß ist, der aufgrund seiner zeitlichen Versetzung die Gegenwärtigkeit des Unmittelbaren notwendig getilgt hat.61 Jedes Zeichen, und das meint, jede Wahrnehmung, jedes Gefühl, jede Äußerung kann erst in Relation zu anderen Wahrnehmungen, Gefühlen, Gedanken, also zu anderen Zeichen, Bedeutung gewinnen. 62 Die relationale Definition des Zeichens bezieht sich bei Peirce allerdings weniger auf systemische Differenzen, sondern vornehmlich auf zeitliche, kontextuelle Differenzen, wie auch seine rekursive Definition der Semiosis verdeutlicht: Ein Zeichen ist irgendein Ding, das auf ein zweites Ding, sein Objekt, in Hinsicht auf eine Qualität in der Weise bezogen ist, daß es ein drittes Ding, seinen Interpretanten, in eine Relation zu demselben Objekt bringt, und zwar in der Weise, daß dieses dritte ein viertes Ding in derselben Form auf das Objekt bezieht, ad infinitum. Wird die Abfolge unterbrochen, bleibt die signifikante Eigenschaft des Zeichens unvollkommen. Es ist nicht notwendig, daß der Interprétant tatsächlich existiert. Ein Sein in futuro wird ausreichen.63 Wahrnehmungen sind somit wie alle Zeichenhandlungen in einen infiniten Prozeß von Zeichenverwendungen eingebunden; sie bilden also keine autonomen, singulären Akte, sondern enthalten immer schon die Geschichte vorheriger ebenso wie den Verweis auf zukünftige Wahrnehmungen. Zugleich hebt Peirce mit seiner Bestimmung der Wahrnehmung als Zeichenprozeß die grundsätzliche Mediation von Wahrnehmungsleistungen hervor. Analytisch lassen sich unter Rekurs auf seinen triadischen Zeichenbegriff folgende Momente im Wahrnehmungsprozeß unterscheiden: (a) die wahrgenommenen materiellen bzw. perzeptuellen Qualitäten, (b) das wahrgenommene Objekt sowie (c) die Wahrnehmungsinterpretation als abduktiver Schluß. 64 Die Pointe des Peirceschen Zeichenbegriffs besteht dabei darin, daß keiner der drei Zeichenaspekte logisch vor-

61

Vgl. The Essential Peirce, Selected philosophical writings, Vol. 1 hg. v. Nathan Houser und Christian Kloesel, Vol.2 hg. v. The Peirce Edition Project. Bloomington-Indianapolis: Indiana University Press 1992/1998, hier: Vol.1, S.40 (CP 5.289): »for, on the one hand, we can never think, >This is present to me,< since, before we have time to make a reflection, the sensation is past, and one the other hand, when once past, we can never bring back the quality of the feeling as it was in and for itself, or know what it was like in itself«. 62 Vgl. etwa The Essential Peirce (Anm. 61), Vol. 1, S. 42 (CP 5.289) und S. 30 (CP 5.267): »At no instant in my state of mind is there cognition or representation, but in the relation of my states of mind at different instants there is« sowie »every cognition is determined logically by previous cognitions. [...] there is no absolutely first cognition of any object, but cognition arises by a continuous process.« S. auch Helmut Pape: Einleitung. In: Charles S. Peirce: Semiotische Schriften. Hg. u. übersetzt v. Christian Kloesel und Helmut Pape, 3 Bde. Frankfurt/M. 1986-1993, Bd. 2, S. 7-79 (hier: S. 25). 63 Charles S. Peirce: Semiotische Schriften (Anm.62). Bd.l, S.390. Vgl. dazu auch Gerhard Schönrich: Zeichenhandeln. Untersuchungen zum Begriff einer semiotischen Vernunft im Ausgang von Ch.S. Peirce. Frankfurt/M. 1990. S.75,107 ff. und 201 ff. 64 Vgl. zur Wahrnehmung als »abduktives Schlußfolgern in Zeichen« Alexander Roesler: Vermittelte Unmittelbarkeit. Aspekte einer Semiotik der Wahrnehmung bei Charles S. Peirce. In: Uwe Wirth (Hg.): Die Welt als Zeichen und Hypothese. Perspektiven des semiotischen Pragmatismus von Charles S. Peirce. Frankfurt/M. 2000. S. 112-129.

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gängig ist, vielmehr konstituieren sich alle drei gleichermaßen erst in ihrem triadischen Wechselverhältnis zueinander. Kognitionstheoretisch gesprochen folgt aus dieser Interdependenz der Zeichenmomente, daß die Wahrnehmung keinen rein bottom-up gerichteten Akt der Repräsentation externer Strukturen darstellen kann, 65 sondern als rekursiver, wesentlich top-down geleiteter Prozeß zu verstehen ist, in dem das, was wahrgenommen wird und wie es wahrgenommen wird, immer durch Zeicheniterationen mediiert ist. Hinsichtlich der Frage nach der semantischen Determiniertheit ikonischer Zeichen läßt sich aus der von Peirce postulierten Interdependenz der Zeichenaspekte schließen, daß auch hier die Semantik erst über die Zeichenverwendung konstituiert wird. Die Nicht-Arbitrarität ikonischer Zeichen resultiert nicht aus einer Spezifik der materiellen Zeichengestalt, sie ist vielmehr erst das Produkt einer Zeichensynthese, mittels derer die motivierende Beziehung - um in der bislang gebrauchten Terminologie zu bleiben - zwischen Signifikant, Signifikat und Referenzobjekt des Zeichens erst als signifizierungsrelevante Relation generiert wird.66 Die vermeintliche Nicht-Transparenz des ikonischen Signifikanten wäre dementsprechend das Resultat des ikonischen Zeichengebrauchs, durch den der Fokus allererst auf eine Ähnlichkeitsbeziehung zwischen materieller Zeichengestalt und Referenzobjekt gerichtet wird. Nur weil im ikonischen Zeichen die semantische Interpretation über die Etablierung einer solchen Ähnlichkeitsrelation erfolgt und diese Ähnlichkeitsrelation damit in der Zeichenverwendung eine semantische Funktion gewinnt, gerät der Signifikant in der Zeichenprozessierung überhaupt in den Blick. Ikonizität und Arbitrarität von Zeichen sind nicht an spezifische materielle Zeichenqualitäten sondern an spezifische Zeichenverwendungen gebunden. Vergessen wird von Schaff ebenso wie von vielen medientheoretischen Ansätzen, daß es sich bei der Transparenz des Mediums - wenn man sie nicht in beobachtungslogischer, sondern in kognitiver Hinsicht betrachtet - um eine Prozessierungseigenschaft handelt, die primär die Frage der Aufmerksamkeitsfokussierung betrifft und nicht um eine mediale Eigenschaft. Transparenz ist - so unsere These - keine sprachliche Qualität, die einem isolierten Zeichen als Objekt der Beobachtung zukäme, sondern eher ein Effekt, der sich dem iterierten Gebrauch von Zeichen verdankt. Aus einer prozessualen Perspektive läßt sich die >Transparenz< von Sprachzeichen so als Resultat einer an die Frequenz der Zeichenverwendung gebundenen

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So wird er etwa in der philosophisch einflußreichen Position von Jerry Fodor konzipiert. Vgl. insbesondere Jerry A. Fodor: The modularity of mind. A n essay on faculty psychology. Cambridge/Mass.-London 1983. Auf die Differenzen zwischen Saussures binärem und Peirces triadischen Zeichenbegriff kann hier nicht näher eingegangen werden. Vgl. dazu näher etwa Christian Stetter: Peirce und Saussure. In: Kodikas/Code 1,1979, S. 124-149. Zum Problem der Ikonizität vs. Arbitrarität von Zeichen im Kontext der Peirceschen Semiotik vgl. näher Erika Linz/Klaudia Grote: Sprechende Hände. Ikonizität in der Gebärdensprache und ihre Auswirkungen auf semantische Strukturen. In: Matthias Bickenbach/Annina Klappert/Hedwig Pompe (Hg.): Manus loquens. Medium der Geste - Gesten der Medien. Köln 2003. S. 318-337.

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Automatisierung der Verarbeitung begreifen. 67 Solch eine prozessierungsorientierte Herleitung der Kategorie der Transparenz ermöglicht es insbesondere, Zeichen von einer materiallogisch motivierten Zuweisung funktionaler Eigenschaften zu befreien. Folglich wäre die seit Hegel immer wieder als Selbstnegativität des Tones bzw. als »Fluxus der Sprache im Sprechen« 68 betonte materiale Beschaffenheit von Signifikanten zwar durchaus Charakteristikum der Medialität vokal-sprachlicher Zeichensysteme. Sie fungierte aber vor dem Hintergrund einer die Prozessierung von Zeichen fokussierenden Argumentation nicht länger als Bedingung für die Ausdifferenzierung arbiträrer Zeichensysteme. 69 Indem Transparenz an die Automatisierung der Verarbeitung von Zeichen gebunden und nicht mehr als intrinsische Qualität einzelner Zeichen begriffen wird, gerät die Zeichenprozessierung zentral in den Blick. Indirekt hat schon Saussure in seinen semiologischen Studien darauf hingewiesen, dass die Beobachtung stillgestellter, der unmittelbaren Prozessierung beraubter Zeichen eine sprachwissenschaftlich notwendige, keineswegs aber der Natur des Zeichens gerecht werdende Heuristik darstellt. Denn bereits die Betrachtung eines einzelnen Zeichens bedarf der besonderen Ausrichtung der Aufmerksamkeit: Dans la langue prise face à face, sans intermédiaires, il n'y a ni unités ni entités données. Il faut un effort pour saisir ce qui forme les diverses entités contenues dans la langue ou pour éviter de prendre comme entités linguistiques ce qui sont des entités d'un autre ordre. Nous ne somme pas en face d'êtres organisés ou de choses matérielles.70

67

Neurowissenschaftliche Erkenntnisse zur automatisierten Prozessierung bestätigen diese Hypothese, insofern sie belegen, dass die automatisierte Wissensprozessierung in der Regel der bewussten Wahrnehmung entbehrt und nur zu Bewusstsein gelangt, wenn Störungen des >normalen< Verarbeitungsprogramms den automatisierten Ablauf - etwa von motorischen Handlungsprogrammen - unterbrechen und eine >anormale< Prozessierung erforderlich machen. Vgl. für einen Überblick Christof Koch/Francis Crick: Some Thoughts on Consciousness and Neuroscience. In: Michael S. Gazzaniga (Hg.): The New Cognitive Neuroscience.Cambridge/Mass.-London 22000. S. 89-99. Philip M. Merikle/ Meredyth Daneman: Conscious vs. Unconscious Perception. In: M. S. Gazzaniga: The New Cognitive Neuroscience. S. 90-91. Michael I. Posner/Gregory J. DiGirolamo: Attention in Cognitve Neuroscience: An Overview. In: M.S. Gazzaniga: The New Cognitive Neuroscience. S. 623-633. 68 Sybille Krämer: Gibt es eine Sprache hinter dem Sprechen? In: Herbert E. Wiegand (Hg.): Sprache und Sprachen in den Wissenschaften: Geschichte und Gegenwart. Festschrift für Walter de Gruyter & Co. anlässlich einer 250jährigen Verlagstradition. Berlin-New York 1999. S. 381. Zur Selbstnegativität des Tones vgl. L. Jäger: Linearität und Zeichensynthesis (Anm.45). 69 Eben diese Bedingung wird von Gebärdensprachen, die sich alternativ im räumlich-visuellen Modus artikulieren, so nicht erfüllt. Sehr wohl erfüllen sie aber den linguistischen Anspruch an ein reichhaltig differenziertes und >transparentes< Zeichensystem, das in performativen Zeichenvollzügen semantisiert wird. 70 F. de Saussure: Cours. Édition critique. Tome 1 (Anm. 26). S. 235, III C 285,1710. Dt. Übersetzung (G. F.): »Entität bedeutet für uns auch: das, was gegenwärtig wird. In der langue gibt es, für sich genommen und unmittelbar, keine gegebenen Einheiten oder Entitäten. Es bedarf einer Anstrengung, um das zu erfassen, was die verschiedenen in der langue enthaltenen Entitäten ausmacht oder um zu vermeiden, Entitäten anderer Ordnung als linguisti-

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Die Prozessierung ist als Definiens so stark in die Grundfigur des Zeichens, genauer der semiologischen Synthesis, eingeschrieben, dass auch die Langue bei Saussure als dynamisches Dispositiv entworfen wird. Insoweit jede performative Zeichenhandlung als singuläres Ereignis von vorausliegendenden Zeichenhandlungen unterschieden ist, jede spezifische Zitation von Zeichen in der Parole aber ihrerseits Eingang in die Langue findet, greifen Zeichenhandlungen kontinuierlich und veränderlich in das Archiv Langue ein. Jeder Zeichenvollzug verändert so latent die Folie, vor der zurückliegende und folgende Zeichenhandlungen bewertet werden. Die einem Zeichen in Opposition zu anderen Zeichen zuzuschreibenden Werte spiegeln mithin keine stabile Netzwerkposition, sondern lassen sich nur für einen heuristischen Zeitpunkt η und in konkreter Mediatisierung des Zeichens ermitteln. Ein solchermaßen an die Performanz gekoppeltes Netzwerk kognitiver Zeichenarchive widerspricht der Vorstellung eines statischen Reservoirs und dem Entwurf einer der Performanz vorausliegenden Type-Ebene. Vielmehr ist der Type unseparierbar an seine zweite Existenz, den Token gebunden. In absentia, als Type, sind Zeichen archivierte Erfahrungen vorausliegender Zeichenvollzüge, in die logisch aber auch die Figur des Zukünftigen, Veränderlichen eingeschrieben ist. In presentía, als Token, sind Zeichen inszenierte Zitationen des Vorgängigen, die als spezifisch kontextualisierte weder durch Vorheriges vorhersagbar noch durch Vorausliegendes einholbar sind. Für Saussure gilt gleichermaßen wie für Peirce, daß der Type nicht nur nicht unabhängig vom Token, sondern - und das wird bezeichnenderweise häufig vergessen - auch nicht unabhängig vom Tone, als dem sinnlich Rezipierbaren eines Zeichens, zu denken ist.71 Zugleich ist aber der Tone ebenso wie der Type auf seine Realisierung im Token verwiesen. Eine token- bzw. tone-vergessene TypeKonstruktion, die sich als Abstraktion von medialen Prozessierungen versteht, ist der triadischen Grundidee Peirce entgegengesetzt. Als Grunddimensionen des Zei-

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sche Entitäten aufzufassen. Wir befinden uns nicht gegenüber von organisierten Wesen oder materiellen Dingen. Wir sind schlecht bedient mit der langue, um reale Entitäten zu beobachten, da das Phänomen langue ein innerliches und grundlegend komplexes ist. Es setzt die Assoziation zweier Dinge voraus: das concept und das image acoustique.« Vgl. auch F. de Saussure: Cours. Édition critique. Tome 1 (Anm.26). S. 254, II R 22,1835 und S. 253 f., G 1.4a, 1835. Bei Peirce, auf den die Type-Token-Unterscheidung zurückgeht, handelt es sich nicht um eine dichotomische, sondern um eine triadische Unterteilung in Type, Token und Tone. Wichtig ist dabei auch, daß Peirce mit dem Begriff des Tone nicht auf die materialen Qualitäten des Zeichens als solche, sondern immer schon spezifiziert im Hinblick auf ihre potentielle Zeichenfunktion verweist. Die materialen Zeichenqualitäten sind mithin immer schon bestimmt in Hinsicht auf ihr differenzerzeugendes Potential, d. h. auf die möglichen bedeutungsrelevanten Eigenschaften des Zeichenmaterials. Vgl. dazu The Essential Peirce (Anm.60). Bd. 2. S.480 und 488 (CP 2.244 und 4.537) sowie Anne Freadman: Peirce's second classification of signs. In: Vincent M. Colapietro/Thomas M. Olshewsky (Hg.): Peirce's doctrine of signs. Theory, applications, and connections. Berlin-New York 1996. S. 143-159; Helmut Pape: Erfahrung und Wirklichkeit als Zeichenprozeß. Frankfurt/M. 1989. S.285ff. und Gerhard Schönrich: Zeichenhandeln (Anm.62). S.12ff.

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chens verweisen Bewegung und Veränderlichkeit darauf, dass Zeichen und damit auch Bedeutung und Form nur in der Mediation erfahren werden können. Erst in dem [...] Zeichen, in dem das Lautbild die Form einer bestimmten Bedeutung ist, zugleich aber nur als Gestalt dieser Bedeutung Form hat, hat sich das zeichenschaffende Vermögen jene virtuell-psychische Form geschaffen, vermittels der allein sie sich im konkreten Sprechakt - als Aktualisierung dieser Form - zu realisieren vermag; eine Form allerdings, die nicht als >fixe< und >unbewegliche< aufgefaßt werden darf, sondern die gleichsam als eine Vollzugsform gedacht werden muß, in der das artikulatorische Vermögen als ein energetisches Moment aufbewahrt bleibt.72

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L. Jäger: Linearität und Zeichensynthesis (Anm.45). S.203.

Axel Fliethmann

(Melbourne)

Die Medialität der Intertextualität Die Textualität der Intermedialität - Das Bild der Seife

Anfang der 70er Jahre, die Medienfrage stand bereits im Raum, konnte sich noch einmal erfolgreich die »philologische Gesellschaft als Text denken. Heute sind es die Medien, die die »ökonomische Welt< informieren. Der Text steht im Raum, normal. Das Buch ist nicht mehr das »Archiv des Weltwissens« 1 - aber die Welt ist wieder geworden, was sie im Barock einmal gewesen ist: eine Bilderwelt, nur schneller und heterogener. 2 Das ist große Welt, alles: die Welt kostet, was der Fall ist. Man muß lernen, »daß wir in einer unbekannten und unerkennbaren Welt dank unserer Fähigkeit überleben können, Beschreibungen zu erzeugen; wir erkennen nicht Dinge, aber wir erkennen (von uns hergestellte) Beziehungen zwischen Dingen.« 3 Wir erkennen keine Texte oder Medien, keine Walnuß, kein Gehirn, nur Beziehungen zwischen >DingenKlasse< von Dingen und zwischen gleichen >Klassen< von Dingen: Intertextualität und Intermedialität. So hätte ich kürzlich die Kritik einer Symphonie gelesen, worin nur von der Wärme des Kolorites, Verteilung des Lichtes, von dem tiefen Schlagschatten der Bässe, vom verschwimmenden Horizonte der begleitenden Stimmen, vom durchsichtigen Helldunkel der Mittelpartien, von den gewagten Konturen des Schlußsatzes und dergleichen die Rede sei, so daß man durchaus die Rezension eines Bildes zu lesen glaube; gleich darauf hätte ich den rhetorischen Vortrag eines Naturforschers, der den tierischen Verdauungsprozeß beschrieb, mit einer gewaltigen Symphonie, ja mit einem Gesänge der Göttlichen Komödie vergleichen hören, während an einem anderen Tische des öffentlichen Lokals einige Maler die neue historische Komposition des berühmten Akademiedirektors besprochen und von der logischen Anordnung, der schneidenden Sprache, der dialektischen Auseinanderhaltung der begrifflichen Gegensätze, der polemischen Technik bei einem dennoch harmonischen Ausklingen der Skepsis in der bejahenden Tendenz des Gesamttones zu reden gewußt hätten, kurz, es scheine keiner Zunft mehr wohl in ihrer Haut zu sein und jede im Habitus der anderen einherziehen zu wollen.5

1

Norbert Bolz: Das kontrollierte Chaos. Vom Humanismus zur Medienwirklichkeit. Düsseldorf 1994. S.237. Wann war das Buch ein Archiv? 2 Vgl. Barbara Maria Stafford: Kunstvolle Wissenschaft. Aufklärung, Unterhaltung und Niedergang der visuellen Bildung. Amsterdam-Dresden 1998. S.310. 3 Ranulph Glanville: Objekte. Herausgegeben und aus dem Englischen übersetzt von Dirk Baecker. Berlin 1988. S.140. 4 Die ganze Aesthetik in einer Nuss oder neologisches Wörterbuch von Christian Otto Frh. v. Schönaich [1754], Mit Einleitung und Anmerkungen herausgegeben von Albert Köster. Berlin 1900. 5 Gottfried Keller: Der grüne Heinrich. In: Kellers Werke in Fünf Bänden. Hg. von den Na-

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Die Literatur, die eine Vertauschung von Fachsprachen und ihren Gegenständen kritisiert, bleibt unentscheidbar. Handelt sie über >IntertextualitätIntermedialitätinter< sind die Begriffe mehr Wort geworden, scheinbar näher zu sich selbst gekommen, aber sie haben sich vom Namen, Gesetz, Reinheit gelöst. Sie scheinen nur noch sich selbst bedeuten zu wollen, Inter-pretation. Das Dilemma der Inter-Composita ist keines der zeitlichen Abfolge: erst das Subjekt, dann die Intersubjektivität, erst das Paradies, Adam und dann! Das Dilemma liegt zwischen dem Klaren und dem Unklaren, dem Reinen und dem Unreinen. Wenn es sich um Linguistik handelt, wird dies für mich durch die Tatsache verschärft, daß jede klare Theorie, und zwar je klarer sie ist, sich in der Linguistik nicht ausdrücken läßt; denn ich betrachte es als Tatsache, daß es in dieser Wissenschaft keinen einzigen Begriff gibt, der jemals auf einer klaren Vorstellung beruht hätte, sodaß man zwischen dem Anfang und dem Ende eines Satzes fünf- oder sechsmal versucht ist, ihn zu ändern. 7

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tionalen Forschungs- und Gedenkstätten der Klassischen Deutschen Literatur in Weimar. Bd. V. Berlin-Weimar 1988. S.122f. Francis Ponge: Die Seife. Frankfurt/M. 1993. S. 15. Die Zitate aus dem Text Die Seife werden im folgenden kursiv gesetzt, da sie als durchgehender Kommentar zur vorgestellten Programmatik eingesetzt sind und typographisch hervorgehoben werden sollen, um aus leseökonomischen Gründen leichter erkennbar zu sein. Ferdinand de Saussure zit. nach Jean Starobinski: Wörter unter Wörtern. Die Anagramme von Ferdinand de Saussure. Frankfurt/M. 1980. S. 8.

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Saussures Bekenntnis zu klarer Theorie, klarer Vorstellung und dem Abfall der Begriffe, dem irdischen Erliegen der Versuchung, es in Sätzen recht machen zu wollen, Saussures Theologie der Theorie und ihre linguistischen Verfehlung beschreibt das Dilemma von Gott und Mensch, Theorie und Text, Idee (Urbild) und Abbild. Das Dilemma hat kein Datum. Es ist da. Wir haben uns auf langem Weg daran gewöhnt, methodisch. Das Dilemma ist auch kein spezielles der Linguistik, es gilt für alle Wissenschaften, die Texte schreiben. Sie sage es mit Begeisterung, lasse ihre Suada hervorsprudeln. Wenn sie aufgehört hat zu sprechen, existiert sie nicht mehr.8 Wer zum Beispiel an reine Medien glaubt, schreibt dann »Klartext«, der Unreine, der nicht an die Reinheit der Medien glaubt, schreibt »Intertextualität und Intermedialität«. 9 Damit der Unreine rein wird, braucht er ein Medium: Wasser zum Beispiel. Damit der Reine unrein wird genügt der direkte Kontakt mit dem Unreinen. Wer nur irgend einen toten Menschen anrührt, der wird sieben Tage unrein sein. Der soll sich hiermit entsündigen am dritten Tage und am siebenten Tage, so wird er rein; und wo er sich nicht am dritten Tage und am siebenten Tage entsündigt, so wird er nicht rein werden. Wenn aber irgend jemand einen toten Menschen anrührt und sich nicht entsündigen wollte, der verunreinigt die Wohnung des Herrn, und solche Seele soll ausgerottet werden aus Israel. Darum daß das Sprengwasser nicht über ihn gesprenget ist, so ist er unrein; seine Unreinigkeit bleibt an ihm. [...] Und alles, was der Unreine anrührt, wird unrein werden; und welche Seele ihn anrühren wird, soll unrein sein bis an den Abend. 1 0

Gott berührt das Wasser nicht. Sein Geist ist rein. Nachdem er Himmel und Erde teilte, schwebte sein Geist »auf dem Wasser.« 11 Der unsaubere Geist, der besessene Geraneser, den Jesus nach dem Namen fragt und der antwortet: »Legion heiße ich; denn wir sind viele.« - entgeht der Taufe, aber nicht dem Wasser. Die unsauberen Geister fahren in eine Herde Säue und ertrinken im Meer. 12 Das gleiche Wasser, das die Unreinen aufnimmt und langsam verdünnt, sie unsichtbar werden läßt, kann als »Sprengwasser« die Unreinen reinigen. Das Wasser, das Medium, ist ein Problem. Es ist unrein und reinigt zugleich. Es gibt Leben und Tod. Kein Zufall, daß Friedrich A. Kittler mit dieser Geschichte des Geranesers einleitet, als es darum geht, sich einen Namen zu machen/zu geben: »Friedrich A. Kittler (Hrsg.): Die Austreibung des Geistes aus den Geisteswissenschaften.« 13 Ursprünglich und ambivalent: die Macht der Benennung, der Text, das Wasser, der Name, das M e d i u m . . . . ein kleines Stück wahrer Seife. Denn in der Tat kann der Mensch sich nicht in reinem Wasser säubern,

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F. Ponge: Die Seite (Anm.6). S. 15. Vgl. Friedrich A. Kittler: Die Welt des Symbolischen - eine Welt der Maschine. In: Ders.: Draculas Vermächtnis. Technische Schriften. Leipzig 1993. S.64, S.75; vgl. Jürgen E. Müller: Intermedialität als Provokation der Medienwissenschaft. In: Eikon 4, 1992. S. 13-21 (hier S. 15). Ders.: Intermedialität. Formen moderner kultureller Kommunikation. Münster 1996. S.96ff. Die Bibel, 4. Buch Mose, Kap. 19,11-13,22. Die Bibel, 1. Buch Mose, Kap. 1,2. Die Bibel, Das Evangelium des Markus, Kap. 5. Die Austreibung des Geistes aus den Geisteswissenschaften. Programme des Poststrukturalismus. Hg. von Friedrich A. Kittler. Paderborn 1980, vgl. in der Einleitung S.7.

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käme es auch herab in Sturzbächen, in denen man sich ertränken könnte; er kann sich weder im frischen Wind säubern, sei er auch noch so parfiimiert, noch durch das Schweigen, noch durch Gebet (nicht einmal mitten im Jordan, bis zum Gürtel im Wasser), noch durch Selbstmord in der schwärzesten Quelle (trotz allerlei gängigen Vorurteilen darüber).1* Saussures Darstellung des Dilemmas hat zwei Modelle der Macht >anagrammatisch< benannt: Jerusalem und Rom. »Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort.«15 Eine klare Vorstellung, ein absolutes Gesetz, ein tautologisches Programm. Aus dieser Reinheit hilft nur die Verbreitung von Gottes Wort. So entstehen die (,mündlichen') Versionen. Aus dem besessenen Geraneser, dem einen unreinen Geist in der Schilderung des Markus, werden zwei Unreine in der Darstellung des Matthäus, die ins Wasser fahren (oder vice versa).16 Aber die Versionen gehorchen dem Gesetz. Das Modell Rom baut dagegen auf die Unterscheidung von Macht (potestas) und Autorität (auctoritas). 17 Das nicht strikt kontrollierbare Zusammenspiel von direkter und indirekter Macht führt zur Proliferation der Gesetze. Die Gesetze bleiben unrein. Und etwas »ins Wasser schreiben« steht in Rom sprichwörtlich für Unbeständigkeit und Vergänglichkeit.18 Saussures Anagrammstudien tendieren zum Modell Jerusalem. Starobinskis Interpretation der Saussurschen Studien zum Modell Rom. Während Saussures Studien griechischer und römischer Poesie und Prosa auf der Suche nach dem einen anagrammatischen Gesetz sind, das den singulären latenten Namen - zum Beispiel der Name Hektor in der Äneis - unter den manifesten Wörtern des Textes entdeckt, der den gesamten poetischen Text organisiert, bezweifelt die Interpretation Starobinskis den Sinn des Unternehmens. Er bezweifelt nicht die Reinheit der phonetischen Regeln, er bewundert die Hartnäckigkeit, mit der Saussure diese zu entdekken sucht, aber er bezweifelt, daß sich jemand die Mühe gemacht haben könnte, ein Epos nur aus der Motivation zur Befolgung des phonetischen Gesetzes heraus geschrieben zu haben. »Hat Saussure sich getäuscht? Hat er sich von einer Luftspiegelung täuschen lassen? Ähneln die Anagramme jenen Gesichtern, die man in Tintenflecken lesen kann?« 19 Das Dilemma, daß Saussure zwischen Klarheit und Unklarheit, zwischen Theorie und Satz ausgemacht hat, wiederholt sich zwischen Saussures innersprachlichen

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F. Ponge: Die Seife (Anm.6). S.23f. Die Bibel, Das Evangelium des Johannes, Kap. 1,1. Vgl. Die Bibel, Das Evangelium des Matthäus, Kap. 8 , 2 8 ff. Vgl. dazu Theodor Eschenburg: Über Autorität. Erw. und überarbeitete Fassung. Frankfurt/M. 1965. S. 16. Zur Ausdifferenzierung des auctoritas Begriffs zwischen institutioneller und privater auctoritas, zwischen politischer, juristischer und philosophischer auctoritas vgl. ebd., S. 17 f. Vgl. Ernst Robert Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. Neunte Auflage. Bern-München 1978. S.308. J. Starobinski: Wörter unter Wörtern (Anm.7). S. 127. D a ß die Anagrammstudien eigentlich Aphoniestudien seien, vgl. ebd., S.20.

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Analysen der antiken Poesie und deren Interpretation durch Starobinski, die außersprachliche >Ereignisse< imaginiert (die Motivation der Autoren, Tintenflecke), um die innersprachliche Imagination zu trüben. Die Kritik ist berechtigt. Der Einsatz der lntertextualität markiert: das Referenzproblem, die Unreinheit. Gott sei Dank ist eine gewisse Faselei angebracht, wenn es sich um Seife handelt, die Seife betrifft. Über die Seife gibt es mehr zu faseln als zu sagen. Doch das sollte einen nicht beunruhigen, wie es einen auch nicht beunruhigen sollte, daß immer dasselbe gesagt wird. Man darf, man muß faseln. Faseln - was bedeutet das eigentlich? Sich selbst ein wenig lächerlich machen, die Wörter ein bißchen lächerlich machen. Doch immer die Seife in Händen halten.20 Das doppelte Spiel des Referenzproblems, die Referenz von Texten auf Texte und die Referenz von Texten auf >Weltdie Intertextualität< aus der Taufe hob, hebt der Vatikan den Index (seit 1557, zuletzt 1948 aufgelegt) der für Katholiken verboten Bücher auf; Willy Brandt wird von Papst Paul VI. in Privataudienz empfangen; die Universität Konstanz wird eröffnet, England wird Weltmeister; die 23 Gebote der großen proletarischen Kulturrevolution in Peking veröffentlicht; Albert Speer und Baidur von Schirach aus der Haft entlassen; am 12. November erschießt ein 18jähriger in Arizona fünf Frauen und Mädchen mit der Begründung, er habe bekannt werden wollen; Fahrenheit 451 läuft im deutschen Kino. 1966 sterben Ludwig Binswanger, Walt Disney, Richard Benz, Buster Keaton. 1966 erscheint Kristevas Bachtin, das Wort, der Dialog und der Roman und 1974 Kristevas Revolutionierung der poetischen Sprache. Mit Bachtin, der die Dialogizität in den Roman einführt, führt Kristeva das Konzept der lntertextualität in den Text ein. Kristeva liest Bachtin und ersetzt zunächst Bachtins Begriff der Intersubjektivität durch lntertextualität, dann den Begriff der Dialogizität durch lntertextualität. 21 Das Konzept »lntertextualität« ist intertextuell eingeführt. Was ist passiert? Wie transformiert Kristevas Text den Bachtinschen? Bachtins Projekt, Literaturtheorie und Ideologiekritik kritisch aufeinander zu beziehen, geht von >allgemeinen< (von der Literaturkritik kanonisierten) Fixpunkten aus. Die Ästhetik des Wortes setzt auf die auktoriale Verantwortung in der Kunst, deren Nicht-Einhaltung auch nicht durch »Inspiration« entschuldigt werden könne. 22 Diese ethische Verpflichtung gelte gegenüber jeder Kunst. Zweitens gelte die Einbindung von Einzelkünsten in eine allgemeine Ästhetik. Für die Literatur bestimmt die Ästhetik des Wortes: »Eine systematisch bestimmte Poetik muß eine Ästhetik des Wortkunstschaffens sein. Diese Bestimmung unterstreicht ihre Ab-

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F. Ponge: Die Seife (Anm.6). S.26. Julia Kristeva: Bachtin, das Wort, der Dialog und der Roman. In: Literaturwissenschaft und Linguistik. Ergebnisse und Perspektiven. Bd. III. Hg. von Jens Ihwe. Frankfurt/M. 1974. S. 345-375 (hier S.348, S.351). Michail M. Bachtin: D i e Ästhetik des Wortes. Hg. von Rainer Griibel. Frankfurt/M. 1979. S.94.

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hängigkeit von der allgemeinen Ästhetik.« 23 Für die Literaturanalyse bedeutet die Verknüpfung von Ethik und Ästhetik die Überwindung der Trennung von abstraktem Formalismus und abstraktem Ideologismus, deren Isolation Bachtin für die zeitgenössische Literaturkritik der 30er Jahre konstatiert. 24 Objekt der neuen Ausrichtung wird die Gattung des Romans,25 Name der Strategie die »soziologische Stilistik« und Gesetz der Literaturkritik die Dialogizität (als Rede-, Sprachen- und Stimmenvielfalt). In den Worten der Ästhetik des Wortes: »Die >Innenpolitik< des Stils (die Kombination der Elemente) ist von der >Außenpolitik< des Stils (das Verhältnis zum fremden Wort) bestimmt.«26 Entscheidend für die von Kristeva vorgenommenen Transformationen ist Bachtins Verfahren, wie eine Poetik oder Literaturkritik des Romans vorzugehen hat. Unterschieden werden zwei Klassen von Objekten: stilistische Einheiten und semantische Einheiten. Erstere ist unterteilt in »das direkte literarisch-künstlerische Erzählen des Autors«; »die Stilisierung des mündlichen, alltäglichen Redens«; halbliterarische schriftliche Formen (Briefe etc); »literarische, nicht-künstlerische Autorrede« (moralische, philosophische Erörterungen etc); »individualisierte Reden der Helden.«27 Die zweite klassifiziert das Wort in drei Kategorien: das direkte Wort, das auf sein Objekt referiert, das objekthafte Wort, das die direkte Rede der Personen bezeichnet und das »zweistimmige Wort«, das als ein Wort zwei Sprechern unterschiedliche Intentionen auszudrücken erlaubt. 28 Das analytische Verfahren macht aus der Sozialgeschichte der Literatur ein scheinbar reines Textereignis: »Der Text lebt nur, indem er sich mit einem andern Text (dem Kontext) berührt.« 29 Kristevas Projekt der Intertextualität nimmt nun in ihrer Lektüre des Bachtinschen Projektes über die Ersetzung der Begriffe Intersubjektivität und Dialogizität hinausgehend weitere Transformationen vor. Aber das Wunderbarste ist, daß man aus diesen Übungen mit reinen Händen hervorgeht. Das ist der tiefere Sinn.30 Aus der handlungs- und sprechakttheoretischen Ambivalenz der Stimmenvielfalt wird die diskurstheoretische Ambivalenz der »Schreibweise«.31 Aus der Ästhetik, der Philosophie der Kunst als übergeordneten Instanz der Poetik, wird der Text als übergeordnete Kategorie jedes >WortschaffensDiskurs< gibt, der nicht bloß Niederschlag, sprachlicher Film oder Archiv für Strukturen ist, auch nicht die Zeugenaussage eines zurückgezogenen Körpers, sondern im Gegenteil ein Element einer Praxis, die die Gesamtheit der unbewußten, subjektiven, gesellschaftlichen Beziehungen enthält in der Form von Angriff, Aneignung, Zerstörung und Aufbau, in der Eigenschaft positiver Gewalt also, so ist es die > Literature wir werden, spezifischer, Text sagen, und mit diesem so vorgezeichneten Begriff (auf den wir noch zurückkommen werden) entfernen wir uns schon um etliches vom >DiskursKunstInter< nicht umgehen kann. Paradoxerweise waren und sind es die Versuche, Intermedialität im Rückgriff auf das Konzept der Intertextualität zu einem tragfähigen Konzept der Medienwissenschaften zu machen, die die Frage der Medialität von Texten, wie sie hier gestellt wird, im positiven Sinne provoziert haben. Ich komme darauf zurück. Zunächst ist die Intertextualitätsdebatte eine >rein< philologische Angelegenheit gewesen. Es kann vorkommen, daß man sie mißbraucht. Ästhetische Perfektion, Seifenblasen ,.. 38 Und man kann darüber streiten, ob die Arbeiten von Gérard Genette oder Renate Lachmann schon zur Rezeptionsgeschichte gehören oder selbst noch zu Klassikern der Intertextualitätsdebatte zu rechnen sind, da sie einerseits intertextuell an die Klassiker angebunden sind, andererseits jeweils eigene Konzepte vorschlagen. So bezieht sich »Palimpseste« explizit auf Kristevas Begriff der Intertextualität, beschränkt aber drastisch die Reichweite des Konzeptes: Intertextualität meint hier ausschließlich die »effektive Präsenz eines Textes in einem anderen Text«, angezeigt durch Zitat, Plagiat oder Anspielung.39 Intertextualität gilt dabei als ein Typus »transtextueller Beziehungen« neben »Paratext, Metatextualität, Architextualität und Hypertextualität«. Das Unternehmen »Palimpseste« läßt sich auch als Gipfel- oder Wendepunkt der Debatte verstehen. Kein Projekt hat so exzessiv und bescheiden die unterschiedlichen Formen von Textualität aufgearbeitet, wie »Palimpseste«. Und zugleich scheint es nach »Palimpseste« unmöglich geworden zu sein, die Welt als Text zu denken. Genette hat das, was Bachtin die Innenpolitik des Stils genannt hat, zur obersten Textangelegenheit gemacht. Endlos? Nein, das nicht. Es läßt sich natürlich viel über die Seife sagen. [...] Allerdings bleibt das Wasser, nachdem sie verschwunden ist, noch lange getrübt, die Blasen zerplatzt, die Hände des Autors schrumpelig. Aber sehr sauber.40 Auf der anderen Seite hat das Projekt »Gedächtnis und Literatur« von Renate Lachmann im Rekurs auf Bachtin und Kristeva den gesellschaftlichen Auftrag des Textes noch einmal anders akzentuiert: »Das Gedächtnis des Textes ist seine Intertextualität.« 41 Und die Literatur als Text ist das Gedächtnis der Kultur. Die Literatur ist noch einmal der erste politische Ort, der die »abwesenden Primärzeichen« der Ereignisse notiert. 42 Für die Verhält-

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F. Ponge: Die Seife (Anm.6). S.36. F. Ponge: Die Seife (Anm.6). S.43. Gérard Genette: Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe. Frankfurt/M. 1993. S. 10. Wenn man bohrend die Frage nach den Klassikern der Intertextualität stellte, müßten auch die Arbeiten M. Riffaterres, L. Jennys, H. Blooms oder anderer berücksichtigt werden. Hier geht es dagegen um die Konstruktion einer typischen biblischen Situation, die den Status von Texten betrifft. F. Ponge: Die Seife (Anm.6). S.53. Renate Lachmann: Gedächtnis und Literatur. Intertextualität in der russischen Moderne. Frankfurt/M. 1990. S.35. Vgl. R. Lachmann: Gedächtnis und Literatur (Anm.41). S.26. Als Urszene, aus deren Interpretation Lachmann dieses Fazit zieht, dient die Simonides-Erzählung Ciceros. Von nun an erinnert nicht mehr der Dichter qua Einbildungskraft, sondern der Text.

Die Medialität der

Intertextualität

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nisse von Texten untereinander beschreibt Lachmann drei Verfahren des intertextuellen (politischen) Bezugs: Partizipation (als dialogische Teilhabe an den Texten der Kultur), Tropik (als Überbietung und Löschung des Vorläufertextes) und Transformation (als souveräne und distanzierte Aneignung des fremden Textes).43 Lachmann begreift dabei die Dimensionen der Intertextualität explizit als neue Qualität gegenüber bereits in den Philologien bekannten Formen von Textbezügen (etwa explizite Referenzsignale durch typographische Hervorhebung oder Nennung von Eigennamen u. ä.). Auf der Suche nach der verlorenen Seife.. ,44 Zwischen diesen beiden Modellen einer textintrinsischen und textpolitischen Konzeption von Literatur hat sich die Rezeption eingenistet. Auf der einen Seite steht eine Vielzahl von konservativen Versuchen, Intertextualität methodisch kontrollierbar für die Literaturinterpretation zu nutzen. Sie stehen dem Anspruch einer Neupositionierung der Literatur skeptisch gegenüber. Auf der anderen Seite stehen Versuche, die Neuorientierung der Literatur vom Werk zum Text zu forcieren. 45 Beide Seiten haben die Frage nach der Medialität von Texten nicht gestellt. Das Medium war so lange unwichtig, wie der Text keine anderen Götter neben sich duldete. Erst die Diskussion um Intermedialität hat neue Götter aus der alten Taufe gehoben. Denn im Wasser, wird man einwenden, welche Unterlegenheit! Da schmilzt sie zusehends, verliert sich fast augenblicklich. In diesem Medium scheint sie in der Tat eine offensichtliche Unterlegenheit zu beweisen... Aber schauen wir genauer hin,46

II. Intermedialität Seit die Medien die Welt informieren, sind die Krisen merkwürdig geworden, das Gedächtnis geteilt. Es gibt nicht mehr nur das eine Gedächtnis und den Text der Kultur. Es gibt eine Kulturkritik der Medien 47 und keine Kritik der Medientheorie.

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Vgl. R. Lachmann: Gedächtnis und Literatur (Anm.41). S.38f. F. Ponge: Die Seife (Anm.6). S.54. Zu anwendungspragmatischen Positionen vgl. ζ. B. Ulrich Broich: Formen der Markierung von Intertextualität. In: Intertextualität. Formen, Funktionen. Anglistische Fallstudien. Hg. von Ulrich Broich/Manfred Pfister. Tübingen 1985. S. 31-47. Jörg Heibig: Intertextualität und Markierung. Untersuchungen zur Systematik und Funktion der Signalisierung von Intertextualität. Heidelberg 1996. Karlheinz Stierle: Werk und Intertextualität. In: Das Gespräch. Hg. von Karlheinz Stierle/Rainer Warning. München 1984. S. 139-150. Zu kritisch affirmativen Versuchen vgl. Susanne Holthuis: Intertextualität. Aspekte einer rezeptionsorientierten Konzeption. Tübingen 1993. Vermittelnde Positionen: Heinrich Plett: Intertextuality. Berlin-New York 1991; Manfred Pfister: Konzepte der Intertextualität. In: Intertextualität. Formen, Funktionen. Anglistische Fallstudien. Hg. von Manfred Pfister/ Ulrich Broich. Tübingen 1985. S . l - 3 0 . F. Ponge: Die Seife (Anm.6). S.77. Neil Postman: Wir amüsieren uns zu Tode. Urteilsbildung im Zeitalter der Unterhaltungsindustrie. Frankfurt/M. 1988; Vilém Flusser: Kommunikologie. In: Ders.: Schriften. Hg. von Stefan Bollmann/Edith Flusser. Bd. IV. Mannheim 1996. Klaus Kreimeier: Lob des Fernsehens. München-Wien 1995. N. Bolz: Das kontrollierte Chaos (Anm. 1).

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Alles ist noch am Anfang, wenn auch mit langem Schatten. Endgültig vorbei aber scheint der Text als Maßstab der Gesellschaft, und mit ihm die großen politischen Systeme und ihre Manifeste. Die Krisen und Hoffnungen des Medienparadigmas sind größer, global oder kleiner, universitär. »Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien.« 48 Die Emphase ist nicht gut oder schlecht, sie ist rhetorisch. Das Interessante an der gegenwärtigen Medienemphase im Vergleich zur Intertextualitätsdebatte scheint darin zu liegen, daß der Gegenstand >Medien< scheinbar keiner Legitimation bedarf. Er ist rein zur Welt gekommen. So rein, daß der Kontakt mit Texten den Gegenstand wieder bis zur Unkenntlichkeit in die Texte eintaucht. Und wie es einmal kein jenseits der Texte gab, gibt es heute »kein jenseits der Medien.«49 Die Entwürfe seit McLuhans »global village« sind nicht bescheidener geworden: »Wir müssen uns mit dem Chaos versöhnen. Wir müssen uns vom humanistischen Menschenbild befreien. Wir müssen die neuen Medien als Spielraum unserer Existenz begreifen.« 50 Auf der Rückseite der Welt, in den Universitäten, wird dann doch das Legitimationsproblem ausgetragen: ist das Medienparadigma ein Paradigma? 51 Unter dem Titel »Intermedialität als Provokation der Medienwissenschaft« - ein Intertext 52 wird die Situation der Medienwissenschaft noch 1992 kritisch beurteilt: Schlimmstenfalls definierte sie [die Medienwissenschaft] sich über einen weit gefaßten Text-Begriff als kommunikationstheoretisch ausgerichteter Appendix der Literaturwissenschaften, der gerade noch Literatur-Verfilmungen in die Liste von Forschungsinteressen und -gegenständen aufnahm, wobei dann jedoch nicht Fragen medialer Transformationen, sondern Fragen ästhetischer Wertigkeiten im Vordergrund standen. 53

Sechs Jahre später haben sich die Vorzeichen verkehrt: »Intermedialität ist dabei, zu einem Marktplatz für Anschluß suchende geisteswissenschaftliche Disziplinen zu werden, die in die Jahre gekommen sind und beginnen, sich in ihrer selbstgewählten und eifersüchtig verteidigten splendid isolation unbehaglich zu fühlen.« 54 Die Aussagen zur beginnenden und vollendeten Unabhängigkeit und Identitätsbildung einer Disziplin laufen beide unter dem Titel »Intermedialität«. Das Theorieproblem bleibt. Mit Müller und Paech stehen zwei entgegengesetzte Versuche auf dem Plan, das Problem anzugehen. Und zunächst, da es prinzipiell in zwei Formen auftritt: als 48 49 50 51 52

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Niklas Luhmann: Die Realität der Massenmedien. Opladen 1995. S.5. N. Bolz: Das kontrollierte Chaos (Anm.l). S.16. N. Bolz: Das kontrollierte Chaos (Anm. 1). S. 16. Vgl. dazu den Beitrag von Jürgen Fohrmann (in diesem Band). Der Titel spielt an auf Hans Robert Jauß: Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft. In: Ders.: Literaturgeschichte als Provokation. Frankfurt/M. 1970. S. 144-207. J.E. Müller: Intermedialität als Provokation der Medienwissenschaft (Anm. 9). S. 13; vgl. Ders.: Intermedialität. Formen moderner kultureller Kommunikation (Anm. 9). Joachim Paech: Intermedialität. Mediales Differenzial und transformative Figurationen. In: Intermedialität. Theorie und Praxis eines interdisziplinären Forschungsgebiets. Hg. von Jörg Heibig. Berlin 1998. S.14.

Die Medialität der Intertextualität

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Kubus (oder Parallelepiped) und als Oval, können wir hinsichtlich dieser beiden Formen festhalten, daß die eine zur andren tendiert,.. ,55 Erster Vorschlag: Mein Vorschlag einer Theorie der Intermedialität besitzt gewiß nicht den Status eines g e schlossenen wissenschaftlichen ParadigmasTextenMedium< Strukturen und Möglichkeiten eines anderen oder anderer Medien in sich birgt, dann impliziert dies, daß sich die Vorstellung von isolierten Medien-Monaden oder Medien-Sorten nicht mehr aufrecht erhalten läßt.« Die Anmerkung zu dem Begriff Medientext erläutert weiter: »Um Mißverständnissen vorzubeugen sei hier nochmals darauf verwiesen, daß ich den Neologismus Medientexte in metaphorischer Weise verwende.«62 Und typographisch zweifach hervorgehoben, aber scheinbar unmetaphorisch, ist der Begriff Medium. Ein Erfinder von Medien-Monaden ist sich sicher: »[...] niemand ahmet unsern Herrn beßer nach als ein Erfinder von einem schönen Roman.« 63 Die Beschreibung von Intermedialität kommt nicht ohne intertextuelle Bezüge aus. Das Wasser verfolgt den Kiesel, ohne ihn recht zu beachten, ohne sich für ihn zu interessieren, ohne sich um ihn zu kümmern, gleichsam automatisch. [...] Viel schwerer fällt es dem Wasser, sich der Seife zu entledigen und der Spuren.. ,64 Zweiter Vorschlag: Paechs Konzept der Intermedialität beruft sich im Gegensatz zu Müller auf eine etablierte und selbstbewußte Disziplin: Medienwissenschaft. Die Abgrenzung zu den Philologien wie zur Kunst ist strikt. Die Ablehnung der Intertextualität wird intertextuell eingeführt: »Hess-Lüttichs Forderung nach einer >medienkomparatistischen Forschung< verdankt sich ebenfalls der Einsicht, daß Intertextualität nicht mehr greift, wo >alles zum Text geworden istwo alles zum Text geworden istspezifisch< unterscheidet.« 67 Auf der anderen Seite scheint die Übertragung des Beobachterkalküls neue Probleme zu stellen. »Die Schwierigkeit einer Medien-Definition, wie sie hier zugrundegelegt wird, ist, daß das Medium nicht als >etwasMediumDazwischenetwasMediumDazwischenMedium selbst< ist unsichtbar, wenn die Sichtbarkeit der Form in der Spur des Dagewesenen verschwindet und ein anderes >Dasein< der Fotografie hinterläßt, in der fotografischen Beobachtung (dem f o t o grafischen Blickintermedialer Konfigurationen (Hansen-Löve) eine historisch begründete Systematik der Figurationen der Intermedialität, zum Beispiel im Film, aber auch in anderen medialen Konstellationen herauszuarbeiten.« 73 Analog zu den Figuren der Intertextualität! Die Vorzeichen haben sich erneut verkehrt. Wenn man im Anschluß an die Klassiker der Intertextualität nach der Medialität von Texten fragen muß, muß man nun auch die Frage nach der Textualität der Intermedialität stellen. Auf jeden Fall scheint es, als sei das Wasser dadurch viel mitteilsamer geworden. Mag es sich ruhig mitteilen! In inniger Verbindung mit der Seife wird es zugleich auch diese mitteilen,74 Die beiden theoretischen Programme »Medientext« und »Medium/Form-Unterscheidung« stecken in der aktuellen Debatte das Feld ab. Da es hier weder um die Historisierung dieser Debatte noch um ihre Darstellung in Form eines Forschungsberichts geht, nur kurz einige Stichworte zum Feld. Die frühen Arbeiten zur Intermedialität haben eine Orientierung für das Konzept Medientext vorgegeben. Hansen-Löve hat verschiedene Formen des intertextuellen und intermedialen Bezugs von Wort- und Bildkunst in der russischen Moderne untersucht. Seine theoretischen Vorschläge zur formalen Unterscheidung der Relationen (Transposition, Transformation, Projektion) werden im Kontext von Kunsttheorie verhandelt. 75 Hansen-Löves Ausrichtung der Literatur- und Kunstinterpretation auf Intermedialität ist

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J. Paech: Intermedialität (Anm.54). S.18f. J. Paech: Intermedialität (Anm.54). S.26f. F. Ponge: Die Seife (Anm.6). S.83. Aage A. Hansen-Löve: Intermedialität und Intertextualität. Probleme der Korrelation von Wort- und Bildkunst - A m Beispiel der russischen Moderne. In: Dialog der Texte. Hamburger Kolloquium zur Intertextualität. Hg. von Wolf Schmid/Wolf-Dieter Stempel. Wien 1983 (= Wiener Slawistischer Almanach, B d . l l ) . S.291-360 (hier S.304).

Die Medialität der Intertextualität

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schnell aufgenommen und für medienkomparatistische Fragen allgemein umakzentuiert worden. Rezeptions-, kommunikations- und zeichentheoretische Bestimmungen von Intermedialität bilden zumeist den Rahmen dieser Arbeiten. Hier ließe sich eine Vielzahl von Forschungsarbeiten anführen, die eine enge Verbindung von intermedialer Fragestellung und dem Konzept der Intertextualität kennzeichnen. Allgemeiner Nenner dieser Arbeiten ist die Handhabung des Verständnisses der Kategorie Intertextualität als konkrete, kontrollierbare - >erkennbare< - TextText-Bezüge. 76 Auf der anderen Seite des Feldes hat sich eine Vielzahl von Einzelforschungen zur Intermedialität etabliert, die weniger auf Theorieentwurf als auf die Evidenz »medialer Gegenstände< setzen. 77 Wie immer bei schwarz-weiß Zeichnungen gibt es Zwischenpositionen. 78 Zukünftig entscheidend bei allen Arbeiten zur Intermedialität wird die Auseinandersetzung mit dem Textbegriff sein, auch dort, wo sie nicht stattfindet Es kann passieren, daß wir im Verlauf dieses Abenteuers das Stück Seife verloren haben und es tastend wieder herausfinden müssen: viel kleiner geworden, halb geschmolzen, aufgeweicht, Schatten unter den Augen, kaum zu erkennen, wie jemand, der >sein Leben gelebt< hat.19 Zwischenfazit: Intertextualität bezeichnet einerseits die Beziehungen zwischen Texten und Texten. Andererseits die Beziehungen zwischen Texten und Kultur, zwischen Texten und Gedächtnis, zwischen Texten und Politik, zwischen Texten und Zeichensystemen. Welche Relationen jeweils beschrieben werden, hängt von dem zugrundeliegenden Textbegriff ab. Zwei Varianten sind hier zentral. Ein weiter semiologischer Textbegriff und ein enger Textbegriff, der als Äquivalent zum traditionellen Werkbegriff zu verstehen ist. Intertextualitätsanalysen im Vertrauen auf einen weiten Textbegriff suchen den Zugriff auf Grundlagen der philologischen Arbeit, indem sie eine Neuorientierung einfordern. Analysen, denen ein enger Textbegriff zugrunde liegt, versuchen pragmatisch bekannte Text-Text-Bezüge (etwa aus der Literaturgeschichte) zu reformulieren und zu erweitern. Aus Sicht der Philologien hat man die erste Variante als unmöglich operationalisierbar kritisiert, die zweite als verkappte Hermeneutik im schlechten Sinne. Die hier vorgeschlagene Kritik setzt an einem anderen Punkt an. Es ist auffallend, daß Texte, die >über< In-

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Ζ. B. Ernest W. B. Hess-Lüttich: Intertextualität und Medienvergleich. In: Text, Transfers: Probleme intermedialer Übersetzung. Hg. von Ernest W.B. Hess-Lüttich. Münster 1987. S.9-20. Ders.: Text, Intertext, Hypertext - Zur Texttheorie der Hypermedialität. In: Textbeziehungen. Linguistische und literaturwissenschaftliche Beiträge zur Intertextualität. Hg. von Josef Klein/Ulla Fix. Tübingen 1997. S. 125-148. Peter Wagner: Introduction: Ekphrasis, Iconotexts, and Intermediality - the State(s) of the Art(s). In: Icons, Texts, Iconotexts: Essays on Ekphrasis and Intermediality. Hg. von Peter Wagner. New York 1996. S. 1^40. Thomas Eicher: Was heißt (hier) Intermedialität? In: Intermedialität/Vom Bild zum Text. Hg. von Thomas Eicher. Bielefeld 1994. S. 11-28.

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Stellvertretend hier die meisten Aufsätze in dem Sammelband Intermedialität, hg. von Jörg Heibig (Anm.54). Z.B. Yvonne Spielmann: Intermedialität. Das System Peter Greenaway. München 1998. F. Ponge: Die Seife (Anm.6). S.83.

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tertextualität schreiben (über die Intertextualität anderer Texte), ihre eigene Intertextualität nicht reflektieren. Darin liegt m. E. das Problem der Intertextualiätskonzepte: sie sind notwendig blind für die Unterscheidung der beobachteten Operation (der Beziehung zwischen einem Text A und einem Text B) und der beobachtenden Operation (die Beziehung des eigenen Textes C zu dieser Beziehung zwischen zwei anderen Texten A und B). Ich bezeichne deshalb diese Blindheit als Medialität der Intertextualität. Die gelungensten unserer Seifenblasen, die einzigen gelungenen, sind zweifellos die am wenigsten ausgearbeiteten.80 Unter dem Stichwort Intermedialität ist seit einigen Jahren eine zu den Anfängen der Intertextualitätsdebatte vergleichsweise euphorische Diskussion bemerkbar. Auch in dieser Debatte kann man eine vergleichbare Opposition feststellen. Die eine Seite optiert für einen weiten Begriff von Intermedialität. Sie mag versprechen, eine fundierte komparatistische Medienwissenschaft zu institutionalisieren, die gegen eine traditionelle Trennung in Einzelmedien Medienanalyse quer zur technischen >Evidenz< von Einzelmedien in Gang bringt. Die andere Seite optiert für einen engen Begriff von Intermedialität und denkt dabei an empirische, konkrete Formen in der Medienanalyse. Auch in Bezug auf diese Opposition läßt sich ein vergleichbar notwendig blinder Fleck ausmachen: (wissenschaftliche) Intermedialitätsanalysen unterscheiden verschiedene Medien (= beobachtete Operation), haben aber keine Einsicht in die eigene Medialität, den Text (= beobachtende Operation), die diese Unterscheidungen mitorganisiert. Auch hier fehlt es m.E. nach an der (An)Erkennung der Selbstreferenzproblematik. Ich bezeichne deshalb diese Blindheit als Textualität der Intermedialität. Das Hervorbringen seines eigenen Zeichens wird somit die Bedingung, irgend etwas zu vollenden.. .Doch! So muß man sich die Schrift nicht denken: nicht als Transkription einer (äußeren oder vorgefaßten) Idee, nach einem konventionellen Kode, sondern wirklich wie einen Orgasmus: wie den Orgasmus eines Wesens, oder sagen wir einer Struktur, die als solche natürlich durchaus konventionell ist - die aber, um sich zu vollenden, sich jubelnd als solche geben muß: mit einem Wort, sich selbst bezeichnend.81 Erst das Konzept der Intermedialität - die Debatte um unreine Medienverhältnisse - hat im Rückgriff auf die Diskussion um unreine Textverhältnisse die Frage nach der Medialität von Intertextualität hervorbringen können. Heute kann man sich wundern, wie noch 1966 eine erregte Debatte über den Textbegriff geführt wurde, die von dem Anspruch gesellschaftstheoretischer Relevanz getragen war. Wenn der Text noch unbestritten das Wissenschaftsdesign von 1966 war, erübrigte sich damals die Frage nach der Konkurrenz etwa durch Bilder, Rede - oder kurz: durch >MedienSags mit Worten< macht keinen Unterschied. Es folgt nichts, wenn man ihn befolgt. Deshalb versucht der Text dem Wort zu entkommen: »[...], die Ablösung des Wortes von der Wirklichkeit ist gerade für das Wort selbst schädlich: es verkümmert, verliert an Sinn und Beweglichkeit, büßt sie Fähigkeit ein, einen Sinn in neuen lebendigen Kontexten zu erweitern und zu erneuern, ja, es stirbt als Wort, denn das bedeutende Wort lebt außerhalb von sich, dadurch, das es nach außen gerichtet ist.«85 Aber das Entkommen des Wortes in die Wirklichkeit wird nicht wirklich: Asche zu Asche. So wie der Text nicht wirklich dem Wort entkommt. Wort zu Wort. Passagen - aus der »Ästhetik des Wortes« - , die anzeigen, daß die medientheoretische Frage an die »Ästhetik des Wortes« bei der Rhetorik anzusetzen hätte. Was eine Lektüre, die nach der Medialität von Intertextualität fragt, programmatisch ausrichtet, wäre demnach weniger der Nachweis, daß das mediale Dilemma der »Ästhetik des Wortes« einerseits in dem Insistieren auf das Text-Wort, andererseits in den stilisierten Formen von Mündlichkeit läge, die der Text in der Metaphorik des Sprechens, der Figurenrede oder des lebendigen Wortes verbirgt/offenbart. Sondern, wenn Bachtins Arbeiten eine implizite und kaum beachtete Intermedialitätstheorie (mit)entworfen hätten, wie man aus Sicht der Intermedialitätsdebatte behaupten kann (s. o.), läge der Nachweis einer solchen Theorie in der Darstellung medialer Differenz als rhetorischer Strategie. Wie in den Vorübungen (Progymnasmata) der antiken Rhetorik gelernt werden sollte, in der Rede darüber hinwegzutäuschen, daß sie Worte benutzte, so wäre an dem Text der »Ästhetik des Wortes« zu lernen, wie der Text über das Leben hinwegtäuscht. Eine Lektion, die an die medientheoretische Frage rückzubinden wäre, denn gerade hier scheint in erregter Weise das Medium näher am Leben zu sein als der Text. Und es versteht sich von selbst, daß die extreme Form dieses Spiels die Poesie ist, das rein verbale Spiel, ohne Nachahmung oder Darstellung des >Lebens< selbst, also nicht der Roman, die Geschichte, das Drama, sondern das Gedicht. Ich meine nicht das subjektive Stimmungsgedicht, sondern das ausdrucksstarke, engagierte Gedicht, das überdies so strukturiert, distanziert, transponiert, so >kalt< wie möglich ist,86

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M. M. Bachtin: Die M.M. Bachtin: Die M. M. Bachtin: Die F. Ponge: Die Seife

Ästhetik des Wortes (Anm.22). S.239. Ästhetik des Wortes (Anm.22). S.238. Ästhetik des Wortes (Anm.22). S.239 f. (Anm.6). S. 105.

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Axel Fliethmann

Kristevas Textmedien: Der medientheoretische Rekurs auf das Kristevasche Programm der Intertextualität (s. o.) scheint auf den ersten Blick vielversprechender zu sein. Die Revolutionierung der poetischen Sprache hatte mit einem vermeintlichen Blick auf mediale Differenzen vorgeschlagen, den Terminus Intertextualität durch Transposition zu ersetzen: »Der Terminus Intertextualität bezeichnet eine solche Transposition eines Zeichensystems (oder mehrerer) in eine anderes; doch wurde der Terminus häufig in dem banalen Sinne von >Quellenkritik< verstanden, weswegen wir ihm den der Transposition vorziehen; er hat den Vorteil, daß er die Dringlichkeit einer Neuartikulation des Thetischen beim Übergang von einem Zeichensystem zu einem anderen unterstreicht.« 87 Unterstreichung des Thetischen beim Übergang oder rhetorisch reformuliert: Emphase des Thetischen scheint die Stelle der Intermedialität im Text anzuzeigen. Denn das Thetische ist nach Kristeva selbst ein Grenzphänomen, das die Grenze zwischen Semiotischem und Symbolischem auch jenseits differenter Zeichensysteme markiert. Vergleichbar zu Bachtin böte sich nun aus medientheoretischer Fragestellung eine Relektüre der Revolutionierung an, die nach der rhetorischen Fingierung der Zeichensysteme (des Karnevals, der Poesie, des scholastischen Diskurses) fragt. Vergleichbar wäre damit auch zu Bachtin der prekäre Status des Rhetorischen im Kristevaschen Modell: Das Rhetorische in der Literatur - der »Umgang mit einer konturlosen Rhetorik« - ist eine »Poesie als Fetischismus«.88 Und Fetischismus sei Verdrängung des Thetischen in den Triebbereich, die Projektion des Thetischen auf ein Objekt. 89 Auch hier also stellt sich eher die Frage, was mit Darstellung medialer Differenz überspielt wird? Die Differenz von Literatur und Text! Warum ist wohl das Händereiben in unseren Bereichen ein bevorzugtes Zeichen der Zufriedenheit, ja des innerlichen Jubels?90 In dem Medientext Müllers und Paechs der scheinbar eine Projektion des Schreibmaschinenblattes darstellt, läuft der Text des Gedichts parallel zum Vortrag filmisch ab. Dann also beginnt die Deklamation des eigentlichen Gedichts ...91 Programmatisch stellt sich hier die Frage nach der Lektüre wissenschaftlicher Texte, nach den ritualisierten Modi der Selbstbeobachtung: Methodisch lesen, Kontrolle des vermittelten Wissens, Information, Wahrheit, Reinheit - aber nie rhetorisch lesen. Sie dürfen überzeugt sein, die Seife ist nur ein Vorwand. Oder haben sie sich das anders vorgestellt?91 Wer ist nun der Sieger? Usw...93

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J. Kristeva: Die Revolutionierung der poetischen Sprache (Anm.32). S.69. J. Kristeva: Die Revolutionierung der poetischen Sprache (Anm. 32). S. 91 ff. J. Kristeva: Die Revolutionierung der poetischen Sprache (Anm.32). S.73. F. Ponge: Die Seife (Anm. 6). S. 107. F. Ponge: Die Seife (Anm. 6). S.36. F. Ponge: Die Seife (Anm. 6). S.51. F. Ponge: Die Seife (Anm. 6). S.80.

Matthias

Bickenbach

(Köln)

Die Intermedialität des Photographischen* Ich entschied mich dafür, daß ich das PHOTO gegen das Kino liebte, auch wenn es mir nicht gelang, beides voneinander zu trennen. Diese Frage ließ mich nicht los. Roland Barthes: Die helle Kammer

I. Zwischen Medien: Das Jenseits der Ästhetik Erweist sich »Intermedialität« als Paradigmenwechsel im Diskurs der Medientheorie? Ein konsequenter Ansatz verschiebt, wie zu zeigen sein wird, den Medienbegriff entscheidend und faßt ihn differenztheoretisch neu. Doch dieser Gewinn führt zu Folgeproblemen der theoretischen Ausrichtung. Die Öffnung des Medienbegriffs drängt die Beobachtungen über das Feld ästhetischer Phänomene hinaus. Was für die Literaturwissenschaften als potentielle Kultur- und Medienwissenschaften die »Ausweitung des Gegenstandsbereichs« durch Medien bedeutet, wiederholt sich im intermedialen Paradigma, insofern es als basale Relation aller Medien und nicht nur als künstlerische Praxis relevant ist. Es wiederholt sich mithin das Problem Marshall McLuhans Bestimmung des Mediums durch ein anderes. 1 Diese nachgerade intermediale Fundierung einer »Tatsache« jenseits ästhetischer Leitmodelle - des Paragone, der »wechselseitigen Erhellung der Künste« und auch Coleridges Wort vom »intermedium« - fordert paradoxerweise ebenso den Paradigmenwechsel als »neuen Maßstab« der Beobachtung von Medien jenseits aller Verwendungskontexte ein, 2 wie sie zugleich den Ausweg über den Künstler nahe legte. 3 Gerät das Mediale auf der einen Seite zur »Um·

* Der Entwurf dieses Beitrags geht auf einen Vortrag im Siegener Graduiertenkolleg »Intermedialität« im November 1999 zurück. In erweiterter Form wurde er in der Ringvorlesung »Bewegte Bilder II« des Kölner SFB/FK 427 »Medien und kulturelle Kommunikation« im Oktober 2000 zur Diskussion gestellt. Die hier vorliegende Schriftform will und kann die mündliche Form nicht gänzlich tilgen. 1 »Diese für alle Medien charakteristische Tatsache bedeutet, daß der >Inhalt< eines Mediums immer ein anderes Medium ist.« Marshall McLuhan: Das Medium ist die Botschaft. In: Ders.: Die magischen Kanäle. Understanding Media. Frankfurt/M. 1970. S. 17-30 (hier S. 17). Ungreifbar und unsichtbar bleibt das Medium als message und fordert daher die »neuen Maßstäbe« einer Theorie, welche Medien als Systeme und als Umwelten sozialer oder psychischer Systeme auffassen lassen. Bei McLuhan springt dabei die »Ausweitung« der Sinne als Modell struktureller Kopplung ein. Die Technik ist damit »ein Teil unseres Körpers«: »Solange wir die narzißtische Haltung einnehmen und die Ausweitungen unseres eigenen Körpers als in Wirklichkeit draußen befindlich und von uns unabhängig betrachten, werden wir bei allen Herausforderungen der Technik immer wieder die gleiche Bananenschalenpirouette drehen und dann zusammenbrechen.« Ebd., S.74, vgl. auch S.53. 2 M. McLuhan: Die magischen Kanäle (Anm. 1). S. 17. 3 Vgl. M. McLuhan: Die magischen Kanäle (Anm. 1). S.70ff. Vgl. auch: »Nur der Künstler hat die Macht, es ins Bewußtsein zu heben.« »Es« bezieht sich hier auf die unsichtbare Dif-

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weit« - so die entscheidende Neudefiniton des Medienbegriffs durch McLuhan - , bietet auf der anderen Seite das Künstlerindividuum als privilegierter Beobachter qua unterstelltem Bewußtsein eine schöpferische, da selbstreflexive Spezialkompetenz im Umgang mit Medienmischungen an. 4 D e r Künstler ist damit selbst ein »intermedium« zwischen den Medien und der Gesellschaft, die diese unmerklich verändern. McLuhan notiert darüber hinaus das »Prinzip der Kreuzung als M e t h o d e zur schöpferischen Entdeckung« und stellt diese (bewußte, schöpferische) Rekursion eines - stets schon intermedialen - Mediums auf andere Medien als >Erwachen< aus der - unterstellten - narkotischen Wirkung der Medien heraus: Der Bastard oder die Verbindung zweier Medien ist ein Moment der Wahrheit und Erkenntnis, aus dem neue Form entsteht. Denn die Parallele zwischen zwei Medien läßt uns an der Grenze zwischen Formen verweilen, die uns plötzlich aus der narzißtischen Narkose herausreißen. Der Augenblick der Verbindung von Medien ist ein Augenblick des Freiseins und der Erlösung vom üblichen Trancezustand und der Betäubung, die sie sonst unseren Sinnen aufzwingen.5

In der Form des schöpferischen Umgangs hat sich die »Funktion Autorschaft« in die Theorie der Intermedialität ebenso wieder eingeschrieben 6 , wie sie in der Intertextualitätstheorie wiederkehrte. Die einstige Ö f f n u n g zum vielschichtigen, intersubjektiven dialogischen Text, die der Ansatz Bachtins bot, den der Tel Quel-Kreis gegen die »bürgerliche Ideologie« aufnahm, wird unter der H a n d an die Instanz der Intention eines Individuums rückgebunden, um die Form des »Inter« genauer beobachten zu können. D e r Ausweg über den Künstler als Spezialagent liegt in beiden Theoriebildungen nahe. Doch Intermedialität als Theoriebildung der Medien muß notwendig auch jenseits dessen ansetzen können. U n d wenn Medien a priori intermedial strukturiert sind, wie es die Theorie und McLuhan behaupten, dann ist der »Augenblick der Verbindung von Medien«, der »Bastard« nicht nur eine Angelegenheit schöpferischen Umgangs mit ihnen, sondern eine Struktur, die ihn ermöglicht. Mehr noch: D e r »Augenblick des Freiseins« wäre, streng genommen, innerhalb eines jeden Mediums zu beobachten, insofern es jenseits seines summarischen oder metonymischen Namens intermedial strukturiert ist. D e r Paradigmenwechsel liegt dann womöglich eher in der Beobachtung oder Kritik der intermedialen Di-

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ferenz von Wahrnehmung und Nachbild. Marshall McLuhan: Formen der Wahrnehmung (1968). In: Medien verstehen. Der McLuhan-Reader. Mannheim 1997. S. 174-194 (hier S. 178). Vgl. M. McLuhan: Die magischen Kanäle (Anm. 1). S.71: Der Künstler »ist ein Mensch mit vollem und ganzem Bewußtsein«. An anderer Stelle, in einem Satz, der die Beziehung stiftet: »Umwelten sind keine passiven Hüllen, sondern eher aktive Vorgänge, die unsichtbar bleiben. [...] Von Künstlern geschaffene Gegen-Umwelten oder Gegen-Situationen liefern Mittel, die unmittelbar unsere Aufmerksamkeit erregen und es uns ermöglichen, klarzusehen und zu verstehen.« Marshall McLuhan: Das Medium ist Massage. In: Medien verstehen. Der McLuhan-Reader. Mannheim 1997. S. 158 f. M. McLuhan: Die magischen Kanäle (Anm. 1). S.63. Vgl. Yvonne Spielmann: Intermedialität. Das System Peter Greenaway. München 1998.

Die Intermedialität

des

Photographischen

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mension der Evolution von Medien, als in der Werkinterpretation schöpferischen Umgangs mit ihnen. »Intermedialität ist >inin< ist, Forschungsprojekte tauft, aber sich in die Theorien und Theoriekombinationen, aus denen sie besteht (Semiotik, Intertextualität, Systemtheorie usf.), wieder auflösen wird? Aus verschiedenen Gründen erscheint - im Gegenzug zum inthronisierten Filmischen als empirischem und diskursivem Ort der Intermedialität - das Photographische als Prüfstein der Theorie, als Probe auf das Exempel. Der Begriff bezeichnet nicht einzelne Photographien, noch singularisierend >die Photographieüber< Photographie zu schreiben, »gegen eine bestimmte Art, über sie und, vor allem, über ihre Geschichte zu schreiben.«9 Was >die Photographie< >istIst-Zustand< besonders wertvoller oder künstlerischer Reflexivität zeigen, sondern als Evolution der Medien, als differenzierten Prozeß der Konstitution dessen, was als im Nachhinein als ein (Einzel-)Medium in der kulturellen Kommunikation gilt. Diskursive Bestimmung, semantische wie metaphorische Adressierung und Zuschreibungen von (neuen) Medien auf (alte) Medien verhandeln in Spannung zu den dispositiven technischen Vorgängen den Namen und den Status des Mediums intermedial, sie vergleichen, unterscheiden und grenzen es ab, schreiben Funktionen zu.10 Dieser intermedíale Text< kultureller Kommunikation, 11 der bildliche,

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Joachim Paech: Intermedialität. Mediales Differenzial und transformative Figuration. In: Intermedialität. Theorie und Praxis eines interdisziplinären Forschungsgebiets. Hg. von Jörg Heibig. Berlin 1998. S. 14-30. Zur Intermedialitätsforschung vgl.: Intermedialität. Vom Bild zum Text. Hg. von Thomas Eichner/Ulf Bleckmann. Bielefeld 1994. Literatur Intermedial. Musik-Malerei-Photographie-Film. Hg. von Peter V. Zima. Darmstadt 1995. Jürgen E. Müller: Intermedialität. Formen moderner kultureller Kommunikation. München 1996, zur Photographie vgl. ebd., S.40ff. »Das Photographische bezieht sich nicht auf die Photographie als Forschungsgegenstand, sondern postuliert ein theoretisches Objekt.« Rosalind Krauss: Das Photographische. Theorie der Avantgarde. München 1998. S. 15. Hubert Damisch: Vorwort: Ausgehend von der Photographie. In: Rosalind Krauss: Das Photographische. Theorie der Avantgarde. München 1998. S.7. Zum Kriterium der Medienkonstitution durch Vergleich vgl. den Beitrag von Jürgen Fohrmann in diesem Band. Dies ist hier als kultureller Kontext der Medientechnik abweichend vom Begriff des »in-

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textuelle und akustische Medien übergreift, fordert eine Reflexion der Korrelation von Technik und Semantik als evolutionärer >Ursprungsbedingung< von Medien. Sichtbar wird dabei, so die These, daß Intermedialität konstitutiv eine dreistellige Relation zwischen Medien darstellt, deren Gewichtung historisch variiert. Der >Ursprung< eines Mediums geht daher nicht in seiner technischen Erfindung oder in der Chronologie der Technik auf, sondern resultiert aus einem anachronen Prozeß kultureller Transkription, Um- wie Einschreibung in das kulturelle Gedächtnis. 12 2. Die zweite Hypothese zielt auf das Verhältnis von Intermedialität und Kritik. Wenn die genuine Operation von Kritik das Unterscheiden selbst ist (krinein), dann ist die Beobachtung von Intermedialität per se kritisch. Sie tut zunächst nichts anderes, als zu unterscheiden, als Selbst- und Fremdreferenz der Medien in einem Medium zu differenzieren. Doch die entscheidende Frage gilt der Haltung zu dieser, die eigene Beobachtung bestimmende Operation. Kann Intermedialität die eigene Unterscheidung zwischen Medien kontrollieren oder ergibt sich hier nicht vielmehr die Notwendigkeit, die diskursiven Prozesse kultureller Kommunikation - im Sinne der ersten Hypothese - als eigene Beobachtung einzubeziehen? Anders gefragt: Wie wäre unter intermedialen Vorzeichen Medienkritik neu zu bestimmen? Ich setze mit einer außergewöhnlichen Medienkritik an, die zunächst dem kulturkritischen Modell der Wertung zu folgen scheint. Doch diese scheinbar eindeutige Form von Kritik wird sich am photographischen Widerstand differenzieren und eine Lektüre des photographischen Mediums eröffnen, die jenseits von Inhalt und Gegenstand des Bildes eine intermediale Performanz des Mediums zur Sprache bringt und als Form der Kritik eher der Bestimmung Foucaults als einer (hier auf Medien bezogenen) Haltung folgt: »die Kunst nicht dermaßen regieren zu werden«.13 In Thomas Bernhards Roman Auslöschung wird das Photographische zum

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termedialen Textes« als Gegenstand doppelter Zeichensysteme gesetzt, wie ihn Müller vom Begriff der Multimedia abgrenzt. Vgl. Jürgen E. Müller: Intermedialität als poetologisches und medientheoretisches Konzept. In: Intermedialität. Theorie und Praxis eines interdisziplinären Forschungsgebiets. Hg. von Jörg Heibig. Berlin 1998. S.38. Ein wichtiger Hintergrund dieser evolutionstheoretischen (nicht: evolutionistischen!) Perspektive bildet Benjamins Begriffs des »Ursprungs« als »Strudel« und »Fluß des Werdens« heterogener Bedingungen, statt Annahme einer »Quelle«. Vgl. Walter Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels. Frankfurt/M. 1978. S.28. D i e Thematisierung dieser Ursprungsbedingungen verbindet sich dabei notwendig mit einem anachronen Standpunkt, der das Zeitmodell von Geschichte als Ordnung von Vergangenheit - Gegenwart Zukunft zugunsten der Verschränkung von Vergangenem und Aktualisierung als »Konstellation« eines »Sprungs« neu denkt, die Benjamin im Begriff des »dialektischen Bildes« thematisiert. Vgl. dazu ausführlich Georges Didi-Hubermann: Was wir sehen blickt uns an. Zur Metapsychologie des Bildes. München 1999. S. 125-152. Ders.: Ähnlichkeit und Berührung. Archäologie, Anachronismus und Modernität des Abdrucks. Köln 1999. S.6-13. Vgl. Walter Benjamin: Das Passagen-Werk. Frankfurt/M. 1982. S. 576-578, zum »dialektischen Bild«. Zum Thema siehe auch Sigrid Weigel: Entstellte Ähnlichkeit. Walter Benjamins theoretische Schreibweise. Frankfurt/M. 1997 (hier insbes. S.17ff. und S.52ff.). Michel Foucault: Was ist Kritik? Berlin 1992 (hier S. 11 ff.).

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Gegenstand einer Auseinandersetzung des Textes mit der photographischen Heimsuchung. Auf diesem U m w e g zeigt sich, daß das Photographische eine entscheidende Veränderung im Haushalt des traditionellen Verhältnisses von Text und Bild bedeutet. Die H a r m o n i e einer »wechselseitigen Erhellung«, die das Paradigma des Gemäldes noch vielfach bestätigen konnte, weicht einer medialen Differenz autonomer Medien. Das Bild, das die Photographie ist, impliziert nicht mehr den Text, der Text ist kein integrales Element des Bildes mehr, der explizit gemacht werden könnte, sondern umkreist und rahmt es. Roland Barthes spricht von einer Katastrophe oder U m k e h r u n g eines traditionellen Verhältnisses, die das Verhältnis von Text und Bild als (wechselseitige) Illustration traditionell regulierte und die aufgrund der medialen Spezifik des Photographischen aufgebrochen oder gestört wird. E n d e der Ekphrasis. Das photographische Bild läßt sich aufgrund seines Eigenwerts einer »>denotierten< Botschaft« nicht beschreiben. Es besitzt eine »Originalstruktur« oder »strukturale Autonomie«, die jede Beschreibung des Bildes »genaugenommen unmöglich« macht bzw. deutlich werden läßt, daß Photographien beschreiben bedeutet, »ein Relais oder eine zweite Botschaft hinzuzufügen, die d e m Code der Sprache e n t n o m m e n ist.« Was resultiert ist keine Verabschiedung des Textes, sondern eine inter- wie intramediale Positionsveränderung in der Relation von Text und Bild unter den Zeichen von Strukturwechsel und Hinzufügung und im Zeichen medialer Differenz: »Beschreiben heißt also nicht bloß ungenau oder unvollständig sein, sondern die Struktur wechseln, etwas anderes bedeuten, als das Gezeigte.« 1 4 Anders als bei traditionellen Bildern, so Barthes, »illustriert das Bild nicht mehr das Wort; struktural gesehen parasitiert vielmehr das Wort das Bild.« 15 D e r Text fügt sich dem Bild hinzu und bildet ein Supplement, das in seiner R a h m u n g und durch seine andere Struktur das Medium des Bildes reglementiert, einschränkt oder zurichtet f ü r eine Lesbarkeit, die bestimmte Sinnpotentiale des Bildes auswählt und hervorhebt. Diese Differenz der Sprache zum Bild kann zwar in den Funktionen von Ekphrasis und Kommentar oder unter den Vorzeichen ästhetischer Autonomie der Bilder jederzeit, für alle Bilder, angeführt werden, doch setzt sie sich mit dem Medium des Photographischen konstitutiv in Szene und verläßt den traditionell gesetzten gemeinsamen R a u m , in d e m die Bilder durch ein Netz vorgängiger Texte organisiert waren. Barthes stellt diese »Umkehrung« durch das neue Medium heraus: Diese Umkehrung hat ihren Preis: Bei den traditionellen Weisen der >Illustration< funktionierte das Bild als episodische Rückkehr zur Denotation, und zwar von einer Hauptbotschaft (dem Text aus), die als konnotiert empfunden wurde, da sie eben einer Illustration bedurfte; in der neuen Beziehung tritt nicht das Bild zur Erhellung oder >Realisierung< des

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Roland Barthes: Die Fotografie als Botschaft (1961). In: Ders.: Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn. Kritische Essays III. Frankfurt/M. 1990. S. 11-27 (hier S. 14). R. Barthes: Die Fotografie als Botschaft (Anm. 14). S. 21. Für eine Fallstudie der impliziten Abhängigkeit »narrativer« Bilder von einem vorausgesetzten Text vgl. Luca Giuliani: Bilder nach Homer. Vom Nutzen und Nachteil der Lektüre für die Malerei. Freiburg/Br. 1998.

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Wortes hinzu; das Wort tritt zur Sublimierung, Pathetisierung oder Rationalisierung des Bildes hinzu.16 Das bedeutet auch, daß das Photographische den Text als Anderes des Bildes in immer erneuten Versuchen, es zu lesen, wiederkehren läßt. Der Text entsteht so am Widerstand der Photographie in ihm aufzugehen oder sie zu fundieren, »früher gab es eine Reduktion auf dem Weg vom Text zum Bild, heute gibt es eine Erweiterung vom einem zum andern.« 17 Die Intermedialität des Photographischen sprengt das Text/Bild-Verhältnis in ein neues Spannungsverhältnis auf. Die Photographie wird damit und zwar exakt aufgrund ihrer medialen Spezifik einer vermeintlich objektiven Wiedergabe zu einem problematischen Medium der Erinnerung. »Seltsam, daß man nicht an die kulturelle Störung gedacht hat, die dieser neue Vorgang bewirkt.« 18

II. Muraus Medienkritik oder die Heimsuchung Thomas Bernhards Auslöschung enthält keine einzige Abbildung. Doch der erste Teil des Romans kreist um drei Photographien, die zum Anlaß nicht nur der ausführlichen Beschreibung, sondern der gesamten Auseinandersetzung des Erzählers mit seiner Erinnerung und seiner Familiengeschichte werden. Der Text, der sich als nachträglicher Bericht gibt und damit in gewisser Weise die anachrone Verschränkung von Vergangenheit und Gegenwart der Bilder wiederholt, beschreibt dabei nicht nur den unheimlichen Status der photographischen Porträts als Erinnerungsmedien, sondern er unterstellt sie einer Stimme, die sie liest, ohne sie zu entziffern. Vielmehr produziert diese Lektüre der Bilder unterschiedliche und paradoxale Umschriften der Bilder. Die >Erzählstimme< des Textes mit ihren Interjektionen des »sagte er«, »dachte er« entwickelt in der Begegnung mit dem Photographischen die

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R. Barthes: Die Fotografie als Botschaft (Anm. 14). S. 21. Diese Logik der Hinzufügung reglementiert auch und gerade die Bilder des Fernsehens. Vgl. dazu Michael Rutschky: Massenmedien. Kein Bild ohne Text. In: Merkur 55. Jg. H. 1, Januar 2001. S. 79-84. Auch Vilém Flusser spricht vom Ende der »inneren Dialektik«, die Texte und Bilder miteinander traditionell verknüpft haben, durch das technische Bild der Photographie. Der Text bezieht sich dann nicht mehr auf den Inhalt der (neuen) Bilder, sondern auf deren medientechnische Struktur. Vgl. Vilém Flusser: Text und Bild (1984). In: Ders.: Standpunkte. Texte zur Fotografie. Edition Flusser Bd. VIII. Göttingen 1998. S. 73-96. 17 R. Barthes: Die Fotografie als Botschaft (Anm. 14). S.21. 18 Roland Barthes: Die helle Kammer. Bemerkung zur Photographie. Frankfurt/M. 1989. S. 21, zur Differenz von gemalten und photographierten Porträt. Im folgenden konzentrieren sich meine Ausführungen auf die »kulturelle Störung« im Fall der Bildbeschreibung resp. der Bildumschreibung als einem Fall der literarischen Transkription photographischer Bilder. Auf das Verhältnis zum Text ist von Seiten der Photographie (Schrift im Bild, Beschriftung von Bildern) eigens aber an anderem Ort zurückzukommen. Vgl. Matthias Bickenbach: Schrift/Bild: Der Chiasmus des Chiasmus oder Text und Bild im Angesicht der Photographie. In: Korrespondenzen. Visuelle Kultur in der frühen Neuzeit und in der Gegenwart. Hg. von Matthias Bickenbach/Axel Fliethmann. Köln 2002. S. 164-197.

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textuelle Struktur des ersten Teils der Auslöschung selbst. Das >stumme< Medium des photographischen Bildes bringt in Murau etwas »zum >KlingelnKlingeln< bringt«. Zum punctum ebd., S.35f. Was besticht, ist dabei die anachrone, die »zermalmte Zeit« des Photographischen, das gleichzeitige »es wird sein« und »es ist gewesen« (vgl. ebd., S. 105 f.), welches Bernhards Auslöschung in der Lektüre der Photographien erzählt. 20 »Aber diese Bemerkungen brächten ebenfalls die Gefahr mit sich, uns zu täuschen, wenn sie aus der Lektüre eine Aufräumungsarbeit machen würden«. Maurice Blanchot: Das Werk und die Kommunikation (1955). In: Ders.: Das Unzerstörbare (Teilübersetzung aus: L'espace littéraire). München 1991. S. 9-30 (hier S. 15). Zum literarischen Lesen als einem besonderen »Machen« vgl. ebd., S. 12ff. Zu einem analogen Ansatz, Lektüre und Intermedialität in einem dreistelligen Medienmodell - in der Situation um 1800 - aufeinander zu beziehen vgl. Nicolas Pethes: Intermedialitätsphilologie. Lichtenbergs Textmodell und der implizite Mediendiskurs der Literatur. In: DVjs. 76,2002. S. 86-104. 21 Thomas Bernhard: Auslöschung. Frankfurt/M. 1986. S.29.

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Diese entschiedene Haltung des »Übertreibungskünstlers« Murau bringt eine Form von Medienkritik auf die Spitze und fixiert so eine wiederkehrende Figur, ein Gespenst, das allen neuen Medien erschienen sein wird: Nichts ist wie zuvor, das Eintreten des neuen Mediums bewirkt eine Katastrophe oder Umkehrung, eine Zäsur oder epoché, in der vormalige Werte dem Kulturverfall geopfert werden. Katastrophe der Umwertung aller Werte. Zumal unter dem Titel »Natur« ist die stereotype Gegenseite des Medialen ausgemacht und im photographischen Bild der Landschaft wie des Porträts ist eine denkbar direkte Konfrontation gefunden. Die Konkurrenz von Vor- und Abbild, die alle alteuropäischen Bilder beherrschte, wird hier noch einmal enggeführt und gespalten.22 Das ästhetische Unding der photographischen Abbildung als vermeintlichem Abdruck 23 nimmt die Gestalt der Verzerrung des Gesichts von »Antlitz« zu »Fratze« an. Was ist geschehen? Murau klittert einen ganzen Diskurs um den Status der Photographie zwischen Kunst und Massenmedium, der sich um die Performanz des Photographischen rankt. Die Provokation des Photographischen - zugleich visuelles Dokument, aber nicht verläßlich zu sein formt sich zu einem Verdikt, das sich auf die paradoxalen Strukturen der photographischen Kategorien zurückbezieht, auf die mediale Spezifik von >AufnahmeEntwicklung< und >Wiedergabe< dieser Bilder, die zugleich objektiv und verzerrt, treu und entstellt sind. Die vermeintlich natürliche Abbildung des technischen Bildes zerstört nichts weniger als das Modell natürlicher Abbildung. Anders gesagt: Die Zäsur des Photographischen stört und verstört das vermeintlich natürliche Realismuskonzept, das in Alltagswahrnehmung sowie im Kunstdiskurs der Bilder wie der Literatur des 19. Jahrhunderts verpflichtend war. Es kommt zu einer paradoxen Situation. Das Gelingen des photographischen Abbilds setzt die Frage nach dem Zeichen des Bildes, also auch die Relation von Bild und Text, erneut frei. Gerade das realistische, »ähnliche« Abbild wird verdächtig als künstliche, entstellte Wahrnehmung und führt zu Fragen der Wahrnehmung von Bildern selbst.24 Das Verdikt lautet bündig: »Endgültige Verzerrung«. Muraus Medienkritik scheint zunächst ganz einem verbreiteten kultur- und medienkritischen Klischee zu entsprechen, auf dessen Logik zurückzukommen ist. Ich habe noch auf keiner Fotografie einen natürlichen und das heißt, einen wahren und wirklichen Menschen gesehen, wie ich noch auf keiner Fotografie eine wahre und wirkliche Natur gesehen habe. 25

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Zum Diskurs der Nachahmung der Wirklichkeit und dem Medium der Idee, die zwischen Ur- und Abbild auf verschiedenste Weise vermittelte, vgl. Erwin Panofsky: Idea. Ein Beitrag zur Begriffsgeschichte der älteren Kunsttheorie. 7. unveränderte Auflage Berlin 1993 (orig. 1924). Vgl. G. Didi-Hubermann: Ähnlichkeit und Berührung (Anm. 12). Zum Realismusmodell als Problem der Bildtheorie wie der Kunstgeschichte siehe Norman Bryson: Vision and painting. The Logic of the Gaze. New Haven 1983. Jetzt übersetzt: Ders.: Das Sehen und die Malerei. Die Logik des Blicks. München 2001. T. Bernhard: Auslöschung (Anm. 21). S.30.

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Das könnte auch heißen: Geht mal in die Natur. Es könnte ein Plädoyer für eine medienunvermittelte, natürliche Wahrnehmung sein, die Abstinenz vom Surrogat verlangt. Doch die Abwendung vom Vermittelten, die Hinwendung zum >Wirklichenechtenunverfälschten< bleibt aus.26 Weder Murau noch Bernhard rufen diese Natur jenseits des Medialen an. Die photographische Zäsur habe eine endgültige Verzerrung bewirkt, die sich auch des >freien< Blicks, der Wahrnehmung insgesamt, bemächtigt hat. Es gibt keine Natur mehr, es sei denn, man rezipiere sie photographisch. Das Photographische ist, nach seiner >Erfindung< immer schon da, es kehrt wieder als Heimsuchung, als Gespenst, das uns schon anblickt, bevor wie es sehen.27 Die >Zurichtung< des Blicks durch das Photographische ist eine Kritik, die sich als historischer Intertext Bernhards zu lesen gibt.28 Denn diese Medienkritik - und dieser Medienkritiker! - ist zugleich oder vor allem Literatur. Was heißt das? Es ist eine Beobachtung zweiter Ordnung, die Muraus Worte diktiert. Was vorgeführt wird ist Darstellung von Medienkritik. Ein konkreter historischer Intertext, der hier die Folie Muraus Verdikt gegen das Photographische abgibt, ist Baudelaires berühmte Einlassung im Salon von 1859. Die Photographie verstärke, so Baudelaire, die Tendenz von Malerei und Kunstdoktrin nach realistischer Wiedergabe der Natur. Mit einer paradoxen Folge: »demnach wäre die Industrie [der Photographie], die uns ein mit der Natur identisches Ergebnis lieferte, die absolute Kunst«. So paraphrasiert Baudelaire die naive Haltung des Publikums und setzt hinzu: Ein rächender Gott hat die Wünsche dieser Menge erhört. Daguerre war sein Messias. Und nun sag sie sich: >Da die Photographie uns alle wünschenswerten Garantien der Genauigkeit liefert (das glauben sie, die Wahnwitzigen!), so ist die Kunst die Photographien Von diesem Augenblick an, kam die schmutzige Gesellschaft herbeigelaufen, um, wie ein einziger Narziß, ihr triviales Abbild auf der Metallplatte zu betrachten. Eine Narrheit, ein unerhörter Fanatismus bemächtigte sich all dieser neuen Sonnenanbeter. Seltsame Greuel ereigneten sich. 29

Wie Murau bezeichnet Baudelaire die Photographie als eine »Krankheit«, der sich niemand entziehen kann: »die Katastrophe ist bereits eingetreten.« 30

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Daher handelt es sich hier nicht um traditionelle Repräsentationskritik. Zur Figur des »Gespenstigen« Jacques Derrida: Marx' Gespenster. Frankfurt/M. 1995 (hier S.22ff.), zur »Logik der Heimsuchung« ebd., S.27ff. und S.87ff. Sie erscheint in der zeitgleichen Theoriebildung u. a. unter dem Signum der Vorwegnahme des Bildes durch die Pose, etwa bei R. Barthes: Die helle Kammer (Anm. 18). S. 18 f. Zum Thema der photographischen Entstellung im Porträt vgl. Sigrid Schade: Posen der Ähnlichkeit. Zur wiederholten Entstellung der Fotografie. In: Mimesis. Bild und Schrift. Hg. von Birgit Erdle/Sigrid Weigel. Weimar-Köln 1996. S. 65-82. Charles Baudelaire: Das moderne Publikum und die Photographie. In: Ders.: Der Salon von 1859. In: Ders.: Sämtliche Werke und Briefe in acht Bänden. Hg. von Friedhelm Kemp/Claude Pichois. Bd.V. München 1989. S. 133-140 (hier S.137). C. Baudelaire: Das moderne Publikum und die Photographie (Anm. 29). S. 139.

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1986 publiziert, zieht Muraus Medienkritik die Wurzel aus rund 150 Jahren Verhandlungen über das Photographische.31 Der unsichere Status der Photographie braucht und wird nicht eigens belegt, nicht einmal erwähnt. Er wird vorausgesetzt, zumindest als Hörensagen im kulturellen Gedächtnis. Ganz auf die »Leidenschaft« der Massen ausgerichtet, kassiert Murau das Fragliche (den Status der Photographie) durch ein Ausgemachtsein. Indem der Text die Verbreitung der Photographie in Rechnung stellt, indem er die »Knipser« nicht nennt, aber anspricht (»niederträchtige Leidenschaft«), verweist er auf den zentripetalen Kontext der Debatte um Kunst oder Nicht-Kunst der Photographie, die Massenproduktion, die gerade am Porträt, am Bild des »wirklichen Menschen« ansetzte.32 Die Reproduzierbarkeit als Ursprungsbedingung des Mediums führt den ästhetischen Diskurs in eine Sackgasse, man bemühe sich lediglich, so schon Walter Benjamins Summe der Debatte, den Photographen mit einem »Banausenbegriff von der >Kunst< [...] vor eben jenem Richterstuhl zu beglaubigen, den er umwarf«, und das »natürlich ohne zu dem geringsten Ergebnis zu kommen«. 33 Murau radikalisiert den unsicheren Status des Mediums zur Differenz von Lüge und Wahrheit, der beliebtesten Figur im kritischen Diskurs, der ihn mit dem wissenschaftlichen Diskurs verbindet. Während jedoch Roman oder Theater im fiktionalen Modus unter dem Begriff des Wahrscheinlichen zwischen Wahrheit und Lüge, als Fiktion, kulturgeschichtlich etabliert werden konnten, provoziert das Photographische den paradoxen Zusammenfall von Lüge und Wahrheit, der erst über Paratexte (Titel, Untertitel, Kommentar) entparadoxiert und beglaubigt werden muß.34 »Alles Wahrheit! Alles Lüge!«, so bringt eine heutige Ausstellung das Paradox der photográphischen Diskurses auf den Nenner.35 Diese Aporie ist die Heimsuchung der Photographie, die Murau als Erinnerung an seine Familie ereilt. »Der Erfinder der fotografischen Kunst ist der Erfinder der menschenfeindlichsten aller Künste. Ihm verdanken wir die endgültige Verzerrung der Natur«. Was für ein Kryptoporträt. »Der Erfinder«, wer es auch sei (Wedgewood, Nièpce, Daguerre,

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Der Intertext Baudelaires wäre für Bernhard etwa auch in der Quellenanthologie: Theorie der Fotografie 1.1839-1912. Hg. von Wolfgang Kemp. München 1980. S. llOff. rezipierbar gewesen. Zur Topik der kulturkritischen Bewertung des Mediums vgl. Wolfgang Kemp: Vorwort, ebd., S.36ff. Zu diesem Diskurs vgl. Gerhard Plumpe: Der tote Blick. Zum Diskurs der Photographie in der Zeit des Realismus. München 1990. Zur Typologie der »Knipser« siehe Timm Stari: Knipser. Die Bildgeschichte der privaten Fotografie in Deutschland und Österreich von 1880 bis 1980. München 1995. Zur Ausbreitung der Porträtphotographie vgl. Gisèle Freund: Photographie und Gesellschaft. Reinbek 1979. Walter Benjamin: Kleine Geschichte der Photographie (1931). In: Ders.: Gesammelte Schriften 11,1. Hg. von Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser (Werkausgabe Bd. IV). Frankfurt/M. 1980. S. 368-385 (hier S.369). Zum Kriterium des Indexikalischen der Photographie siehe Philippe Dubois: Der photographische Akt. Versuch über ein theoretisches Dispositiv. Amsterdam-Dresden 1998. Vgl. Alles Wahrheit! Alles Lüge! Photographie und Wirklichkeit im 19. Jahrhundert. Hg. von Bodo v. Dewitz/Roland Scotti. Ausstellungskatalog Museum Ludwig, Köln. Amsterdam-Dresden 1996.

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Talbot, aber warum nicht auch Disdéri oder George Eastman), wird umgeschrieben auf die Seite des Negativs, auf die Seite einer üblen Gabe als Erfindung, >wir verdanken ihmc eine Ansteckung, die »Krankheit zum Tode«. Das Medium figuriert auch hier als Pharmakon: Gift und/oder Heilmittel.36 Bernhard inszeniert eine prominente Figur der Paradoxie im Diskurs über Medien. Stets lassen sich beide Seiten der Wertung finden. Buchdruck: Geschenk Gottes oder Verderben. 37 Roman: Verfall der Sitten oder Bildungsmedium. Über die Jahrhunderte wiederholen sich selbstähnliche Figurationen der Verhandlungen um jeweils neue Medien. Comics, Fernsehen, Computerspiele: Stets wird es die Position des »wir amüsieren uns zu Tode« (Neil Postman) geben und die Differenz von Sein und Schein, von eigentlichen Werten und ihrem Verfall durch supplementäre Werte erneut thematisieren. Diese traditionelle Kritik verfährt selbst mittels Medien, nämlich symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien und ihren diabolisch generalisierten Gegenentwürfen. 38 Dieser Kontext der Wertungsklischees von Medien ermöglicht Murau den Erfinder der Photographie auf die Seite der schwarzen Künste zu stellen. Was einst als Lob des Erfinders galt, weil er einem »Bedürfnis« des Menschen das Mittel gab, ist nun Mittel einer »niederträchtigen Leidenschaft«. Es geht um nichts weniger als um den Wert photographischer Porträts. Die »Fratze«, die Murau nennt, verweist auf das physiognomische Feld und die Bildnisfunktion, die das Photographische als Erfolgsmedium auswies.39 Arthur Schopenhauer gibt eine Mikrogeschichte dieser Bildnisfunktion, die Daguerre als Endpunkt einer Vervollkommnung ansieht. Die »niederträchtige Leidenschaft« ist hier noch »allgemeine Begier«, sich im Bild erfaßt zu sehen: Daß das Aeußere das Innere darstellend wiedergebe und das Antlitz das ganze Wesen des Menschen ausspreche und offenbare ist eine Voraussetzung, deren Apriorität, und mithin Sicherheit, sich kundgiebt in der, bei jeder Gelegenheit hervortretenden allgemeinen Begier, einen Menschen, der sich durch irgend etwas, im Guten oder Schlimmen, hervorgethan, oder auch ein außerordentliches Werk geliefert hat, zu sehn, oder falls Dieses versagt bleibt, wenigstens von Andern zu erfahren, wie er aussieht; daher dann einerseits der Zu-

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Zu dieser grundlegenden Figur und der Schriftkritik Piatons siehe Jacques Derrida: Plato's Pharmacy. In: Ders.: Dissemination. Translated, with an Introduction and additional Notes by Barbara Johnson. Chicago 1981. S.61-172. Vgl. Michael Giesecke: Der Buchdruck in der frühen Neuzeit. Frankfurt/M. 1991. S. 124191. Zum Buchdruck als Folie dieser Wertungsoptionen bei der Beurteilung jeweils neuer Medien vgl. den Beitrag von Leander Scholz, Hedwig Pompe, Albert Kümmel und Eckhard Schumacher in diesem Band. Zu diesem Medienbegriff vgl. Niklas Luhmann: Einführende Bemerkungen zu einer Theorie symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien. In: Ders.: Soziologische Aufklärung 2. Opladen 1975. S. 170-193. Vgl. Ders.: Die Wissenschaft der Gesellschaft. Frankfurt/M. 1990. S. 193 f. Für eine Anwendung auf das Internet vgl. Matthias Bickenbach/Harun Maye: Zwischen fest und flüssig. Das Medium Internet und die Entdeckung seiner Metaphern. In: Soziologie des Internet. Hg. von Lorenz Graf/Markus Krajewski. Frankfurt/M.-New York 1997. S. 80-98. Vgl. G. Freund: Photographie und Gesellschaft (Anm. 32).

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drang zu den Orten, wo man seine Anwesenheit vermuthet, und andrerseits die Bemühungen der Tageblätter, zumal der englischen, ihn minutiös und treffend zu beschreiben, bis bald darauf Maler und Kupferstecher ihn uns anschaulich darstellen und endlich Daguerre's Erfindung, eben deswegen so hoch geschätzt, diesem Bedtirfniß auf das Vollkommenste entspricht. 40

Nach Murau ist dieses Bedürfnis nichts als eben die »niederträchtige Leidenschaft« der Massen. Der Erfinder der menschenfeindlichen Kunst reiht sich nicht in die Serie der Künstler ein, die Schopenhauer konstruiert, sondern in eine mythologische Reihe von entmachteten Autoren, Erfinder der Medien und Künste.41 Muraus Haltung scheint entschieden. Nichts scheint der Magie des einst neuen Mediums geblieben. Die Wahrheit in der Photographie ist eine andere als die der Photographie. Weder in der Abbildrelation oder in ihrem indexikalischen Wert liegt diese Wahrheit, sondern in einer Figuralität der Entstellung, die nicht nur das Abgebildete oder die Abgebildeten erfaßt und betrifft, sondern auch Photograph und Betrachter, ja die Kategorien von Natur und Kunst, Bild und Wahrnehmung selbst. Das Medium übersetzt nicht Natur ins Bild, sondern die ihm eigene Künstlichkeit der Wahrnehmung, die funktional simpel ist, weil sie jedem »Knipser« das Auslösen der komplexen optischen, physikalischen und chemischen Prozesse ermöglicht. Was Murau anprangert, ist der Skandal eines Mediums, das sich nicht als Mittel, sondern als Selbstzweck offenbart und die Verkehrung von Zweck und Mittel zelebriert: Die Welt interessiere den Knipser nur als Vorwand zur Photographie, so heißt es, aber: Diese Bilder zeigen die Welt weder, wie sie wirklich ist, noch, wie sie sein könnte oder sollte. Anders gesagt, diese Bilder sind keine Fiktionen. Eine radikale Kritik, die dennoch ihren Gegenstand nicht erledigt, sondern ihn vielmehr beschwört, ihn umkreist, ohne sich seiner entledigen zu können. Das Medium leistet Widerstand gegen jeden Ansatz an einer wie auch immer gefaßten natürlichen Wahrnehmung, ein Widerstand, der sich als Realität des Massenmediums entgegenstellt, ohne daß es als Fiktion abzutun wäre. Murau befindet sich inmitten dieser Auseinandersetzung, seine radikale Kritik ist nicht das Schlußwort, sondern eher ein Auftakt, der die Heimsuchung durch das Photographische begleitet, während sie sich schon eingestellt hat.

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Arthur Schopenhauer: Zur Physiognomik. In: Ders.: Parerga und Paralipomena II. Hg. von Ludger Lüttgehaus. Zürich 1988. S.543. Zum physiognomischen Feld, das durch Semantiken wie »Antlitz«, »Gesicht«, »Visage« auch jenseits von Physiognomik als vermeintlicher Decodierung von Charakteren bestimmt wird, vgl. Claudia Schmölders: Das Vorurteil im Leibe. Eine Einführung in die Physiognomik. Berlin 1995. Zur Physiognomik als Supplement hermeneutischer Krise vgl. Heiko Christians: Gesicht, Gestalt, Ornament: Überlegungen zum epistemologischen Ort der Physiognomik zwischen Hermeneutik und Mediengeschichte. In: DVjs. 74,2000. S. 84-110. Prototypisch dafür ist Theut als Erfinder der Schrift, der nach Piatons Phaidros das Mittel der Schrift als Heilmittel des Gedächtnisses bringt. Doch ihm, dem Halbgott, wird vom menschlichen König beschieden, er bringe genau das Gegenteil, das Verderben des Gedächtnisses.

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Mit den Bildern stellt sich eine Spannung von Vorbild, Photographie und Erinnerungsbild ein. Bernhard erzählt seine Familiengeschichte nicht nur entlang der Betrachtung der Bilder, sondern ihre Bildlichkeit interferiert sein Erinnerungsbild. Die Verzerrung ist eine produktive Störung. 42 Doch es gibt kein Außen. Wie Murau das Zimmer nicht verlassen wird, in dem er um die drei Photographien seiner jetzt toten Angehörigen schleicht, sie immer wieder »eindringlich« betrachtet, neu ordnet, neu betrachtet, so referiert sein Bericht keine Realität >hinter< den Bildern, sondern eine andauernde Auseinandersetzung mit ihnen in Differenz zu seiner Erinnerung, die den Text der Erinnerung erst hervorbringt, indem er das Bild umkreist. Der gesamte erste Teil der Auslöschung inszeniert die Konkurrenz mehrerer Familiengedächtnisse. Ein Familienalbum aus nur drei Bildern nährt und stört sowohl auf der narrativen wie auf der thematischen Ebene des Textes die Erinnerung; die Bilder sind schon, im Kontext des Romans gesprochen, das Erbe, das auf Murau zugekommen ist. Und es ist keinesfalls zufällig, daß dies im Medium des Photographischen geschieht, denn seine Intermedialität bestimmt das photographische Bild als »Flugblatt« (Flusser) und »Fundsache« (Belting), 43 als etwas, das heimsucht. Die Heimsuchung resultiert nicht einfach nur aus dem Visuellen des Bildes, sondern vielmehr aus dessen Kopplung mit dem kleinem Format und dem Papier als Träger, also jenem Dispositiv des Photographischen, das seine mediale Evolution ausmacht. Das photographische Bild bedingt damit eine andere Präsenz des Bildes als etwa das Gemälde an der Wand oder noch die Unikate der Daguerreotypien. Diese Präsenz steht unter dem Zeichen des Unheimlichen, der Wiederholung und seiner Entstellung durch die Zeit.

II.2. Die unheimliche Performanz der Bilder ... interessant, die Wirkung zu erfahren, wenn uns einmal das Bild der eigenen Persönlichkeit ungerufen und unvermutet entgegentritt. Sigmund Freud: Das Unheimliche

Muraus Medienkritik steht in einer Tradition der Photographiekritik, die das Medium gerade am Bild des Menschen in Frage stellt. Das ist kein Zufall. Läßt sich die Photographiegeschichte als Erfolg des Massenmediums durch die nach 1850 unge-

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Terminologisch bedeutet »Verzerrung« in der Medientheorie Shannons/Weavers eine lokalisierbare und daher zurückrechenbare Störung. Es geht hier jedoch nicht um optische Verzerrung, die berechenbar wäre. Zu den Figuren der Störung vgl. Erhard Schüttpelz: Eine Umschrift der Störung. In: Transkribieren - Medien/Lektüre. Hg. von Ludwig Jäger/ Georg Stanitzek. München 2002. S. 233-280. »Das photographische Bild ist nicht Erfindung, sondern eine Fundsache, welche einen Körper in jener Wahrheit ablichtet, wie sie nur die Technik garantieren kann.« Hans Belting: Bild und Tod. In: Ders.: Bild-Anthropologie. München 2001. S. 143-188 (hier S. 184). Zu Flussers Definition des Photos als Flugblatt siehe unten Anm.62.

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heure Nachfrage und Verbreitung von Porträtphotographien erzählen, 44 so kann die Perspektive der intermedialen Evolution nicht das Unbehagen dem Photographischen gegenüber ignorieren. Dieses Unbehagen produziert Texte, die das Unheimliche der Reproduktion des eigenen Körpers umkreisen. Beginnend mit Balzacs Furcht und »Spektraltheorie« von der Ablösung auratischer Schichten seines Körpers durch das neue Bild, die Nadar erzählt, umkreisen Autoren immer wieder erneut vor allem die Entstellung des eigenen Körpers durch das photographische Porträt. 45 Die Photographie generiert dabei nicht nur eine Transformation vom Subjekt zum leicht verfügbaren Objekt, sondern eine doppelte Zeitversetzung. Einerseits >friert< sie den Augenblick ein (wie die Performanz der Aufnahme gern bezeichnet wird) und hält damit nur einen kontingenten Augenblick fest. Andererseits serialisiert das Photographische diese > Augenblicke^ die keine mehr sind, so daß nicht nur zwischen Moment und Aufnahme eine entstellte Ähnlichkeit, die später, nach der Entwicklung zurückkehrt, produziert wird, sondern zudem das Bewußtsein veränderlichen Aussehens in der Zeit. Das photographische Porträt serialisiert die Zeitlosigkeit des Porträts zu differenten Bildern >desselbenEisenbergrichtungAuslöschungAndererseitsSpiel< des Mediums kommt auch durch die Zeitlichkeit des Photographischen zustande, durch die Versetzung (Synkope) der photographischen Aufnahme, die eine Situation ausschneidet und fortan in der vorweggenommenen Zukunft der Vergangenheit als Sachverhalt im Bild sehen läßt. Die Disposition des Textes löst sich nicht mehr von der Beschwörung des medialen Status photographischer Bilder zwischen wahr und falsch, weder noch und sowohl als auch. Sie inszeniert daher keine Kulturkritik, die den Verfall der Zeiten beschwört, als vielmehr eine Medienkritik im weiteren Sinn, als »Kunst, nicht dermaßen regiert zu werden«. 58 Bernhard inszeniert eine Medienkritik, die in dem Erscheinen der Photographie eine Zäsur, eine Epochenschwelle der Medienevolution sieht. Das Photographische

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T. Bernhard: Auslöschung (Anm.21). S.27. Zur Kategorie vgl. Sigmund Freud: Das Unheimliche. In: Ders.: Gesammelte Werke Bd. XII. Frankfurt/M. 1999. S. 229-268. »Es handelt sich hier also rein um eine Angelegenheit der Realitätsprüfung, um eine Frage der materiellen Realität.« Mit der Fußnote: »Da auch das Unheimliche des Doppelgängers von dieser Gattung ist, wird es interessant, die Wirkung zu erfahren, wenn uns einmal das Bild der eigenen Persönlichkeit ungerufen und unvermutet entgegentritt.« Ebd., S.262. M. Foucault: Was ist Kritik? (Anm. 13). S. 12.

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wird nicht als altes Medium in die Chronologie einer >Entwickhing< integriert, sondern als epoché verstanden, aufgrund der nichts so bleibt wie es ist.59 Der Widerstand gegen die Reduktion und Klassifikation - wie Gerhard Plumpe für den ästhetischen und den juristischen Diskurs ausführlich aufzeigte - , diese Inkommensurabilität, macht das Photographische zu einem Exempel der intermedialen Medienevolution. 60 Als Theorie der Medien hätte Intermedialität nicht nur die technischen und ästhetischen Möglichkeiten des Wiederauftauchens von Medien in Medien zu thematisieren, sondern auch die historischen sprachlichen und symbolischen Kopplungen, die einem Medium durch den Vergleich oder Bezug zu anderen zugeschrieben werden. Das ist auch etwas anderes, als der semiotische Zug oder die Reaktualisierung der Intertextualität im Feld der Medien. In diese Richtung - so meine Hypothese - kann sich Intermedialität dem Entwurf einer Medienevolution öffnen. Intermedialität hätte damit auch die Spannung von technischen und kulturellen Diskurs, ja diese Unterscheidung selbst, zum Thema.

III. Medienkritik und Intermedialität Kann man Intermedialität sehen? Eine Aufnahme aus dem Album Street Life (London 1870). Unter dem Titel »Advertising« sind zwei Plakatierer bei der Arbeit zu sehen. Sie stehen unter einem Plakat mit dem Text »World Wide Circulation«.61 Das bringt eine zentrale Intermedialität des Photographischen ins Motiv und zwar als Echo von Text und Bild. Der Text auf dem Plakat, das auf der Photographie zu sehen ist, läßt lesen, was das Bild nicht zeigen kann, seine eigene Zirkulation, die auf der papiernen Materialität des Photographischen beruht, die sie zu »Flugblättern«

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Das ist etwa bei McLuhan und der ihm folgenden Forschung nicht der Fall. Programmatisch dagegen bei Vilèm Flusser: Für eine Philosophie der Fotografie (1983). 4. überarbeite Auflage. Göttingen 1989. Vgl. auch Ders.: Text und Bild (Anm. 16). S.78, wo ebenfalls genau zwei Medien als Epochen gesetzt werden: Das phonetische Alphabet und die Photographie. Was heißt hier Widerstand? Es ist ja nicht so, daß sich das Photographische Diskursen verschlösse und nicht selbst Diskurse erzeugte. Der Widerstand der Photographie ist nicht in ihrer Wechselbeziehung zu den ästhetischen und juristischen Diskursen zu sehen. Doch wie G. Plumpe: Der tote Blick (Anm. 32) gezeigt hat, verläuft der ästhetische Diskurs innerhalb von Leitunterscheidungen der Ästhetik, die das neue Medium keineswegs erfassen. Der Widerstand der Photographie liegt in der Unentscheidbarkeit ihrer >Zugehörigkeitc Sie prozessiert ihr Paradox in die Serie der Argumente für und wider. Widerstand also im Sinne eines Knotens, der nicht platzen will. Ein Paradox, das nicht gelöst, sondern nur erzählt werden kann. Zu dieser Erzählung gehört zweifelsohne der Bezug zu anderen Medien, zu allen anderen, vor allem aber immer zu zwei anderen. John Thomson: Street Advertising. London 1876. Woodburytypie, 11,3x8,6 cm. Aus: Street Life in London, 1877. In: Alles Wahrheit! Alles Lüge! (Anm.35). S.195.

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werden läßt und ihre Verbreitung wie Verwendung charakterisiert. 62 Das ist Photographie intermedia^, aber (noch) keine Medientheorie. Zweifellos lassen sich unzählige Medien in Medien zeigen und als Relation von Selbst- und Fremdreferenz des Medialen thematisieren. Doch genau diese Sichtbarkeit, die Intermedialität für das Mediale verspricht - Intermedialität als »Ort«, an dem Medien in Medien sichtbar werden - soll zum Gegenstand einer kritischen Befragung des Paradigmas werden. 63 In Frage steht der Status der Beobachtung. Ist sie theoriefähig oder nur ein pragmatischer Ansatz, Medien zu narrativieren, zum Gegenstand wissenschaftlicher Beschreibungen und Erzählungen zu machen? Was stellt diese Sichtbarkeit her? Die Inhalte der Bild-Medien? Oder nicht vielmehr die sprachliche Bezeichnung, das implizite semantische Vorwissen als unsichtbare Relation von Text und Bild, die den Radioapparat als Radio, das gemalte Bild als Bild erkennt und benennt? Als Medien kommen dann jedoch nur Apparate und Gegenstände vor, die als Rahmen von Rahmen reflexive Strukturen, also das mise en abyme darstellen lassen. Das ist eine wichtige Beobachtung, aber kann Intermedialität damit zum Paradigma werden, das Medientheorie selbst neu begründet? Die Konjunktur des Begriffs in aktuellen Forschungsprojekten scheint zunächst dafür zu sprechen. Trifft Thomas Kuhns Paradigmenbegriff hier zu? Ist Intermedialität Beispiel von unzähligen Beispielen oder ist sie - wie Kuhn differenziert - paradigmatisch als eine »Entscheidung«, hier für die Form der Beobachtung von Medien? 64 Zunächst wird noch einmal festzuhalten sein, daß Intermedialität die Relation von Medien in Medien, also Figuren der Selbst- und Fremdreferenz zu anderen Medien als Paradigma ansetzt. Anders gesagt: Intermedialität ist nicht nur dort der Fall, wo sie in per se multimedial organisierten Verhältnissen offensichtlich ist, sondern bei allen Medien. Aber was heißt das? Ansätze zur Theoriebildung greifen weitgehend auf andere Theorien zurück, auf die Herkunft von der Intertextualität, auf Luhmanns Medium/Form Unterscheidung, auf Cassirers symbolische Formen, auf

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»Das Foto ist vorläufig noch ein Flugblatt, obwohl es gerade daran ist, von der elektromagnetischen Technologie vereinnahmt zu werden. Solange es jedoch noch archaisch am Papier haftet, kann es auch archaisch distribuiert werden, das heißt unabhängig von Filmprojektoren oder Fernsehbildschirmen.« Vilém Flusser: Für eine Philosophie der Fotografie (Anm.59). S.47, vgl. S.54. Ein »Bordell ohne Wände« war McLuhans Wertung dieser Zirkularität des Photographischen, vgl. M. McLuhan: Die magischen Kanäle (Anm. 1). S. 185198. 63 Und vielleicht eignet sich das >stille< Bild des Photographischen eher noch dazu als die filmische Bewegung, welche die Figur des Erscheinens/Verschwindens selbst darstellt. Vgl. dazu Joachim Paech: Der Bewegung einer Linie folgen. In: Bild - Medium - Kunst. Hg. von Yvonne Spielmann/Gundolf Winter. München 1999. S. 35-44. 64 Thomas S. Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. Frankfurt/M. 1973. S.44. Anzumerken ist, daß Paradigmen nicht in dem Erfolg einer »Lösung« des Problems zu sehen sind, sondern »am Anfang weitgehend eine Verheißung von Erfolg« versprechen. Nur wenige erkennen, so Kuhn, »wieviel >AufräumarbeitenQuelle< entsteht. Autorschaft im weitesten Sinne bedeutet die Zuschreibung einer Kontrolle über Medien. Da diese unwahrscheinlich ist, kommt es, mindestens seit Piatos Schriftkritik, zu wiederkehrenden Figuren, die Gefahr, Gewalt und Ohnmacht thematisieren. Intermedialität findet so im Prinzip der Autorschaft ein Antidoton, ein Gegenmittel gegen die zerstreuende Macht der Medien, eine Figur zur Umschrift der medialen Zerstreuung in die Funktion von Kommunikationsmedien, die übermitteln und ankommen lassen, was auch immer >gemeint< gewesen sei. Das Paradigma Intermedialität läßt nach der Intermedialität der Photographie fragen, nach einem Medium, das vor allem nur als Bild gilt. Ein Bild ohne Stimme, ein »stummes« oder auch »taubes« Bild. 69 These: Dieser missing link zwischen Stimme und Bild disponiert das Medium Photographie zur textuellen Kommentierung, zur Beschriftung und also zur Schrift, die ihrerseits die Stimme zur ihrer Intermedialität zählt. Symbolischer Austausch: Der Text verleiht dem stummen Bild die Stimme, die es nicht hat. Auf diese Dreiecksbeziehung von Medien und die Stellung des Dritten als einem Modell für Intermedialität ist noch einzugehen. Der Entwurf einer Kritik der Intermedialität folgt hier einer Vermutung, die zu der Frage führt, inwieweit das Paradigma Intermedialität theoriefähig ist oder ob nicht eine Ausrichtung auf eine genauer zu bestimmende Medienkritik einzufordern wäre - um den Preis des Theoriestatus. Denn »schließlich existiert die Kritik nur im Verhältnis zu etwas anderem als sie selbst: sie ist Instrument, Mittel zu einer Zukunft oder zu einer Wahrheit, die sie weder kennen noch sein wird, sie ist ein Blick auf einen Bereich, in dem sie als Polizei auftreten will, nicht aber ihr Gesetz durchsetzen kann.« 70 Insofern Intermedialität genuin die Unterscheidung (krinein) von Medien (in Medien) zur Aufgabe hat, stellt sich die Frage nach den Maßstäben der Kennzeichnung und Zuschreibung medialer Differenzen wie nach der Form der eigenen Beobachtung. Die Entscheidung zur Unterscheidung rechtfertigt die Notwendigkeit einer Differenzierung, die mediale Spezifika markiert, die nicht ineinander aufgehen.

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ist«. Jacques Derrida: Die Fotografie als Kopie, Archiv und Signatur. Im Gespräch mit Hubertus von Amelunxen und Michael Wetzel (1992). In: Theorie der Fotografie IV (Anm.66). S. 280-296 (hier: S.284). Vom »stumme[n] Zeugnis des Bildes« spricht schon Talbot. Vgl. William Henry Fox Talbot: Der Stift der Natur (1844). In: Theorie der Fotografie I (Anm.31). S. 61. Das Paradox der Metapher »stumm« liegt darin, daß diese stummen Bilder die ebenso stumme Natur zum Sprechen bringen. Das photographische Bild ist eine Antwort der Natur: »Das ist also die erste Antwort dieser bis dato [!] stummen Natur, die so oft befragt wurde und die auf so viele Vermutungen nie reagiert hat. D i e Heliographie hat ihr eine Stimme gegeben, sie mit einer Sprache begabt und sie eingeladen, ihre Memoiren zu verfassen.« Francis Wey: Über den Einfluss der Heliographie auf die schönen Künste (1851). In: Theorie der Fotografie I (Anm.31). S. 86. M. Foucault: Was ist Kritik? (Anm. 13). S.8f. [Herv. MB],

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Das hat Konsequenzen für den Medienbegriff. Anstatt etwa unter dem Begriff der >Kommunikationsmedien< Medien zu subsumieren und ihnen (implizit) eine homogene und funktional äquivalente Funktionen zuzuschreiben, liegt die kritische Pointe intermedialer Unterscheidung nicht nur in der Differenzierung verschiedener Einzelmedien und ihrer wechselseitigen Bezugnahme, sondern in einer veränderten Perspektive, die das Medium als mediale Differenz bestimmt.71 Die Einheit des Begriffs wird als relationale Heteronomie bestimmt. Der Erfolg von Medien resultiert daher nicht einfach aus ihrer technischen Funktionalität, sondern aus ihrem Erfolg im Anschluß an die kulturelle Kommunikation, der sich auf Vergleiche und sprachliche Zuschreibungen von Eigenschaften eingeführter und neuer Medien stützt, während doch das Medium seine und nur seine Formbildung generieren kann.72

IV. Widerstände: Medientechnik und kulturelle Kommunikation Die Fotografie ist in gewisser Hinsicht ein Bindestrich ... Francis Wey 1851

Was aber ist das Mediale, das Medium, das man nicht sehen kann, weil es nicht einfach das Objekt, Ding, Werkzeug oder der Apparat ist? Zunächst, so eine erste Antwort, ist das Mediale ein Widerstand - ein Widerstand gegen Bezeichnung und Benennung - und dies ist am Photographischen historisch gut nachzuweisen. Es wird schon am Namen »Photographie« deutlich, in dem ganze Archive alternativer Bezeichnungen, all die -graphien und -typien, die verschwunden sind und die nicht einfach nur Bezeichnungen für dasselbe waren, sondern unterschiedliche Haltungen, Perspektiven und Techniken betreffen. Die Frage stellt sich um so mehr angesichts der Zukunft im Namen der sogenannten digitalen Photographie. Sollte man nicht einen neuen Namen erfinden? Denn das, was Medien >sindFotografie< und seinen Bezug auf einen Begriff der Fotografie. [...] Gehört es [digitales Bild, MB] zur gleichen Ordnung wie das, was mit der vorhergehenden Technik möglich war und mit einem Träger aus Papier? [...] Geht das nun aus dem hervor, was man einstmals Fotografie oder Kinematographie nannte, oder wird dadurch eine neue Kunst eingeführt, für die ein neuer Name erfunden werden sollte? Diese Frage kann für uns insofern interessant werden, als sie dieser Novität Rechnung trägt, aber auch uns darüber unterrichten kann, was die Struktur der alten Technik bereits war.« J. Derrida: D i e Fotografie als Kopie, Archiv und Signatur (Anm.68). S.282.

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das Feld der kulturellen Kommunikation führen und 2. zu einem dreistelligen intermedialen Relationsmodell, das die Simulations- und Dissimulationsleistungen der Medien auf sie selbst bezieht. Die Frage der Kritik stellt sich dabei nicht im Sinn der moralischen Wertung, sondern zum einen genuin als krinein, als das Unterscheiden von Medien, sowie zum anderen als »Haltung« im Sinn einer »Kunst, nicht dermaßen regiert zu werden«, wie Foucaults Definition der Kritik lautet. Wie nicht, von Medien regiert werden? IV. 1. Doppelte Buchführung der Medienevolution Anhand des Photographischen kann deutlich werden, daß ein doppeltes Register notwendig ist, ohne das Intermedialität nur eine Form der Beschreibung, gewissermaßen eine Erzähltheorie der Medien bliebe. 1. Zum einen steht das Dispositiv der Technik in Frage. Es geht dabei um die technische oder materialiter ermöglichte Formbildung als Struktur der Elemente, die es einem Medium erlaubt, andere zu implementieren oder zu simulieren. Dieses Reentry der Medien in Medien - so der renommierte Ansatz Joachim Paechs mit der Luhmannschen Unterscheidungsformel - erlaubt es, den Moment der Rekursion als Selbstreflexivität des Medialen zu begreifen, als Ort, an dem die Bedingung der Möglichkeit des Mediums greifbar werden, die Möglichkeiten seiner selektiven Formbildung, gilt doch das Medium selbst - mit Luhmann - als schlechthin unbeobachtbar.74 Zwei Stärken intermedialer Beobachtung können hervorgehoben werden. Intermedialität schärft die Aufmerksamkeit für die Beobachtung von Unterscheidungen medialer Modi und Genres. Darüber hinaus aber verweist die Fokussierung intermedialer Über-Setzungen die Aufmerksamkeit auf Medienbrüche, und das bedeutet: auf die Grenzen der Formbildung von Medien. Insofern ist Nietzsche ein Vordenker der Intermedialität (siehe unten). Intermedialität wäre nicht Theorie, sondern Kritik der Medien im umfassenden Sinne, sie hätte Unterscheidung und Grenze der Medien aufzuzeigen. Aber nicht nur. Ein problematischer Punkt muß erwähnt werden. Trotz Paechs Implementierung der Luhmannschen Unterscheidungslogik und dem Plädoyer, als Intermedial das »Dazwischen« selbst anzusehen, 75 neigen Arbeiten zur Intermedialität dazu, das Visuelle zu privilegieren. Das >Auftauchen< oder >Wiedererscheinen< der Form eines Mediums in der Form eines anderen darf nicht mit der Sichtbarkeit, wie sie im Film so evident scheint, verwechselt werden. Die Differenz von Form und visueller Form

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J. Paech: Intermedialität. Mediales Differenzial und transformative Figuration (Anm.7). S. 19; Ν. Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft (Anm.72). J. Paech: Intermedialität. Mediales Differenzial und transformative Figuration (Anm.7). S. 22. Intermedial ist also nicht das Wiedererscheinen etwa eines photographischen Bildes im Film, sondern die Differenz des Photographischen als Medium in der Formbildung des Mediums Film, die diesem etwas >Neues< hinzufügt, das eben nicht auf der Ebene des Inhalts zu verorten ist.

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führt jedoch zu einem Hiat in der Intermedialitätstheoriebildung. Auf der Seite der technischen Bedingungen erscheinen reduktive Festlegungen: Film ist Licht und Bewegung, 24 Bilder in der Sekunde, sagt Godard, das ist die Wahrheit des Films. Das Malteserkreuz erzeugt die Form des Mediums Film, der aus Tonspur und Bildfolge besteht. 76 Photographie dagegen ist die Stillstellung jeder Bewegung, der Zeitausschnitt, den Blende und Lichtempfindlichkeit speichern. Das offene Feld intermedialer Bezüge wird reduktiv auf rein technische features zugespitzt, und nur dann kommt das Intermediale in den Blick, wenn das technische Dispositiv als Selbstreflexion des analysierten Materials einstehen kann. Nur wenn diese Selbstreflexivität des Medialen zentrales Moment der Aussage eines Mediums ist, kommt Intermedialität hier zu ihrem Recht - und nicht umsonst wird die Reduktion auf technische Grundlagen - etwa von Stanley Cavell - als Allgemeinplatz abgelehnt. 77 Das intermediale Dispositiv des Photographischen zeigt sich dagegen als heterogene Reihe, es ist nicht rückführbar auf eine einzelne Technik, etwa die apparative Optik der Camera obscura, sondern vielmehr ein »Kreuzweg« verschiedener Techniken (Chemie und Optik), 78 die weitere materiale und immaterielle Medien an sich koppelt und in seinem Dispositiv bündelt. Dieses heterogene Register wird weiter unten ausgeführt. 2. Der Bezug zur Sprache kommt intermedial zum Tragen, wenn Medien diskursiv mit anderen Medien verglichen, beschrieben und präzisiert werden. In der Kommunikation werden Medien entworfen und bewertet durch Anwendung und Bezugnahme auf andere Medien und ich möchte voraussetzen, daß diese Formen keineswegs zufällig, noch willkürlich sind und in einer komplexen Spannung zu ihrer Technizität stehen. Es geht hierbei, wie gesagt, nicht um die Applikation der Semiotik zwecks Analyse von Zeichentypen, sondern um die Analyse der Relation von kultureller Semantik zu technischen Dispositiven als »Ursprungsbedingungen«

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»Vor etwa zwanzig Jahren definierte Godard das Kino folgendermaßen: >Bilder und TöneUrsprungsbedingung< vgl. oben Anm. 12. »Die Photographie wurde und wird immer noch vom Gespenst der Malerei heimgesucht [...]. Gleichwohl berührt die Photographie sich (wie mir scheint) nicht über die Malerei mit der Kunst, sondern über das Theater.« R. Barthes: Die helle Kammer (Anm. 18). S. 40; vgl. dazu Freddi Rokem: Auge und Apparatur. Die Wahrnehmung der Fotografie. Vortrag auf Konferenz des SFB »Literatur und Anthropologie«: »Die Unvermeidlichkeit der Bilder«, Konstanz 1999. »Und heute ist die Photographie in mehr als einer Hinsicht der Literatur näher als den anderen Bildkünsten. [...] Die abschließende Moral heißt: Photographie sollte >literarisch< sein.« Clement Greenberg: Das Glasauge der Kamera (1946). In: Ders.: Die Essenz der Moderne. Ausgewählte Essays und Kritiken. Hg. von Karlheinz Lüdeking. AmsterdamDresden 1997. S. 107-113 (hier S. 113). Vgl. H. Belting: Bild-Anthropologie (Anm. 43). S. 107 mit Bezug auf Julius v. Schlosser: Tote Blicke. Geschichte der Porträtbildnerei in Wachs. Hg. von Thomas Medicus. Berlin 1993 (orig. 1911).

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können, ab. So ist denn eher an eine Rhetorik der Bezugnahme innerhalb der kulturellen Kommunikation über Medien zu denken, die insgesamt die - intermediale Grundsatzfrage aufwirft: Über welche Form eines (anderen) Mediums wird - kommunikativ - das Medium konzeptualisiert? Sagen wir: Über das Radio? Photographie als Mono-Medium des nur Bildhaften ohne Ton stünde in Relation zum MonoMedium des Tons ohne Bild.83 Jede dieser diskursiven intermedialen Bezugnahmen wäre ausführlich in ihrer Relevanz, ihrer Strategie und ihrer Rhetorik darzustellen. Dazu ist hier nicht der Ort. Der Verweis gilt nur der Tatsache, daß Medien mittels anderer Medien unter verschiedenen Gesichtspunkten verschieden konzeptualisiert werden und wurden. Die Rede vom >Medium< und seiner technischen Fundierung verdeckt dabei, daß die Rhetorik kultureller Kommunikation Konzeptualisierungen technische Entwürfe prägen.

IV.2. Der Name des Mediums [E]ine Gesellschaft [wird] durch ihre Vermischungen, nicht durch ihre Werkzeuge definiert [...) diese existieren nur im Hinblick auf Mischungen, die sie möglich machen oder durch die sie möglich sind. Deleuze/Guattari: Tausend Plateaus

Der Widerstand des Photographischen generiert, wie jedes neue Medium, Metaphern und Semantiken, die sich der Fremdheit oder Eigenartigkeit seiner medienspezifischen Verfahren nähern, sie ausdeuten, modifizieren, illustrieren und in bekannte Modelle rückführen und so erst in der Kommunikation anschluß- und unterscheidungsfähig machen. Prominentestes und zentrales Beispiel ist zweifellos die Schreib- oder ZeichenMetapher, die den Namen des Mediums prägt: Photo-Graphie als »Schreiben mit Licht«, »Lichtschrift«. Das Photographische wird an das Feld des Skripturalen bzw. der Druckgraphik gekoppelt, um das Kriterium der automatischen Einschreibung der Spur zu bezeichnen: das Fotogramm. Die mediale Differenz zur Malerei wird in den Komposita der -typie (Daguerreotypie, Talbotypie, Kalotypie usw.) nahe gelegt. Die Genealogie aus der Druckgraphik ist äußerst plausibel, doch vordergründig. Die Benennungen und Namen der Photographie, sei es »Heliogravüre« (Nièpce), sei es »photogenic drawing« (Talbot) sowie die Register der Graphie (später: Rayografie, Schadografie) zeigen sich als historischer Diskurs kultureller Kommunikation, um die mediale Spezifik der »words of light« (Talbot) zu bezeichnen. Der »Pencil of Nature« ist dabei eher ein metaphorischer Anschluß der »sun pictures« (Talbot) an renommierte und schon etablierte Diskurse als eine Bezeichnungen für das, was Photographie als Medium ausmache. Nièpce und Daguerre haben darüber gestritten. 84

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Oder ganz anders: »Das ganze System wird aber verändert. Die Wirkung des Radios ist visuell, die Wirkung des Fotos auditiv.« M. McLuhan: Die magischen Kanäle (Anm. 1). S. 70. »Man berief sich auf die Herkunft der Fotografie aus der Graphik, um deren Effekte aus-

Die Intermedialität des Photographischen

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Angesichts der Belichtung auf lichtempfindlichen Material, zumal angesichts des sich unsichtbar bildenden erzeugten Bildes (später des »latenten Bilds«), schreibt sich das Licht keineswegs ein, sondern aktiviert chemische Prozesse, die das Bild erscheinen lassen, es »hervorbringen« (Daguerre). Die »wenn man so sagen kann, chemische[n] Enthüllung« 85 ist damit different zu der Spur der Schrift, da sie abhängig ist von der Reaktion der Silbernitrate und den komplexen Vorgängen der Negativ-Positiv-Kopie während Entwicklung und Fixierung. 86 So hartnäckig die Vorstellung von der »Einschreibung« und der - indexikalischen - Spur der aufgenommenen Objekte ist, 87 figuriert das Register der Graphie nur als eine metaphorische Übersetzung und genauer gesagt als eine Transkription - verstanden als Übertrag von einem zu einem anderem Medium, im Unterschied zur Übersetzung, die innerhalb eines Mediums überträgt. Sie transkribiert das schwer faßbare des Mediums namens »Photographie«, das in der Produktion und Aktion des »Films« als Beschichtung eines Träger besteht, dessen >Natur< die chemische Umwandlung oder Performanz, aber nicht die Einschreibung ist. Liest man die historischen Texte zur »Entdeckung« der Verfahren genau, so zeigt sich ein Schwergewicht, terminologisch wie in der praktischen Ausrichtung der Anweisungen, auf die komplexe Beschichtung, das Häutchen, den »Film«, der durch die diversen chemischen Substan-

zubeuten, nicht um ihren medialen Eigenschaften zu folgen.« Wolfgang Kemp: Foto-Essays zur Geschichte und Theorie der Fotografie. München 1978. S.23. Zu den Schwierigkeiten, das Neue der »grenzenlosen Kräfte der Chemie« (Talbot) einzuordnen, das insbesondere Nièpce in die Sackgasse einer zu engen Kopplung an das Paradigma des Drucks führte, und Daguerres Ablehnung des Modells der Gravur vgl. ebd., S. 16ff. Vgl. auch Wolfgang Kemp: Fotografie als Fotografie. In: Theorie der Fotografie I (Anm. 31). S. 25-31 (hier S.26ff.). Zu Talbots Verfahren und Bezeichnungen vgl. Hubertus von Amelunxen: Die aufgehobene Zeit. Die Erfindung der Photographie durch William Henry Fox Talbot. Berlin 1988 (hier S.26, S.33 und S.60). 85 R. Barthes: Die helle Kammer (Anm. 18). S. 18, »révélation«: Enthüllung, aber auch Entwicklung des Films. Entscheidend ist hier die Differenz des Mediums zu sich selbst je nach Position von Specator und Operator: »In technischer Hinsicht steht die PHOTOGRAPHIE am Kreuzweg zweier vollkommen verschiedenen Prozesse; der eine ist chemischer Natur: die Einwirkung des Lichts auf bestimmte Substanzen; der andere ist physikalischer Art: die Entstehung des Bildes mittels einer optischen Vorrichtung. Mir schien, daß die PHOTOGRAPHIE des spectator ihrem Wesen nach auf die, wenn man so sagen kann, chemische Enthüllung des Gegenstands zurückging (dessen Strahlen mit Verzögerung zu mir gelangen), und daß die PHOTOGRAPHIE des operator im Gegensatz dazu durch das von der Verschlußöffnung der camera obscura ausgeschnittene Bild bedingt war.« 86 Die Differenz läßt sich lesen etwa in Daguerres »praktischer Anweisung« zur Dageurreotypie. Dort ist von »Hervorbringung« und »Erzeugung« die Rede, von der chemischen Veränderung durch die Wirkung des Lichts - über deren genauen Vorgang man noch im unklaren war. Vgl. Louis Jacq. Mandé Daguerre: Das Daguerreotyp und das Diorama oder genaue und authentische Beschreibung meines Verfahrens und meiner Apparate zu Fixierung der Bilder der Camera obscura (1839). Faksimile Reprint der deutschen Ausgabe. Stuttgart 1839. Hannover 1988 (hier S.23, S.24, S.26). Zur Spekulation über den Vorgang vgl. die »Bemerkung« ebd., S.33 ff. 87 Zur Spur des Indexikalischen als »Abbildung durch Berührung«, die den Bezug zur Einschreibung unterhält vgl. P. Dubois: Der fotografische Akt (Anm. 34). S.73f.

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zen als »Firniß« mühsam und sorgfältig vorbereitet werden mußte. 88 Noch zum Jubiläum der Taufe des Mediums hebt Paul Valéry »jenes geheimnisvolle latente Bild« hervor, »über dessen Natur die Wissenschaft sich noch nicht endgültig hat einigen können.« 89 Die prominente Metapher vom »Schreiben mit Licht« zeigt sich als historische Semantik der intermedialen Attribution, als Transkription des komplexen Mediums durch Anschluß an die kulturelle Kommunikation. 90 Liest man heute die Differenz von Photographie und Photogramm noch einmal, liest man »Photo« statt »Graphie« erneut, so ergibt sich eine weitere Differenz, die aus der »Lichtschrift« eine »Scheinschrift« werden lassen. 91 Doch ist der Begriff der Schrift, seit Derridas Grammatologie, in sich selbst geteilt, insofern er sich nicht mehr nur auf das empirische Medium der Buchstaben bezieht, sondern auf die Differenz der Einschreibung. Diese Ausweitung des Graphematischen reappliziert den Schriftbegriff damit rückwirkend auf das Graphische der Photographie, und gibt es damit erneut zu denken. 92 Der Name des Mediums, Photographie, bezeichnet eine Kreuzung optischer und chemischer Diskurse, den prominenten, altbekannten - die Camera obscura - und andere, unbekannte Versuche, Spekulationen und Entwürfe mit Trägermaterialien

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Vgl. L. J.M. Daguerre: Das Daguerreotyp (Anm.86) sowie der von ihm ebd. wiedergegebene Bericht Nièpces. Von »Spur« etwa ist in Daguerres Handlungsanweisung nur die Rede als störender Einfluß von außerhalb. Vgl. etwa ebd., S.21 und S.31. 89 Paul Valéry: Hundert Jahre Photographie. In: Ders.: Werke. Frankfurter Ausgabe. Hg. von Jürgen Schmidt-Radefeldt. Bd. VII. Frankfurt/M. 1995. S. 495-504 (hier S.503). 90 Der soziologische Legitimationsdruck darf dabei nicht unterschätzt werden. Vgl. W. Kemp: Vorwort. Theorie der Fotografie I (Anm. 31). S. 16ff. »Die Fotografie und ihre Vertreter waren Parvenus; sie hatten den gleichen Kampf um soziale Anerkennung auszufechten, wie im 14. bis 16. Jahrhundert die Bildkünste der Malerei und der Bildhauerei. Und sie verhielten sich nicht anders als die Künstler damals. Diese nahmen, was Theorie, Inhalt und Habitus anbelangt, die bereits eingeführten und legitimierten Künste zum Vorbild.« 91 Zu diesem Spiel der Etymologien zwischen Latein und Griechisch vgl. Vilém Flusser: Was meint buchstäblich >Fotografie