Fiktion im Vergleich der Künste und Medien 9783110496420, 9783110498646, 9783110497786

Fiction research has traditionally developed its theories from narrative texts. While narratology has engaged in media c

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German Pages 253 [254] Year 2016

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Table of contents :
Inhalt
Einleitung
Ein institutionelles Konzept der Fiktion – aus einer transmedialen Perspektive. Überlegungen zur Fiktionalität von literarischer Erzählung und theatraler Darstellung
Randbereiche und Grenzüberschreitungen. Zu einer Theorie der Fiktion im Vergleich der Künste
Fiktionen als Medien möglicher Kommunikationen. Überlegungen zu einer neuen Fiktionstheorie, mit einigen Beispielen aus Literatur, Malerei und Musik
Überlegungen zu Medientheorie und Fiktionalität
Bilder erfinden. Fiktion als Reduktion und Redifferenzierung in graphischen Erzählungen
Fiktionalität in hybriden Gattungen. Tatsachenroman und Dokudrama versus Reportage und Dokumentarfilm
Fiktionale Geometrie. Die vierte Dimension im literarischen Gedankenexperiment
Inception: Medienmetapher und Fiktionsspiel
Einbruch der Wirklichkeit: Metaleptische Enden transmedial
Fiktion: Eine relevante Kategorie der Metareferenz in Literatur und anderen Medien?
Autorinnen und Autoren
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Fiktion im Vergleich der Künste und Medien
 9783110496420, 9783110498646, 9783110497786

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Fiktion im Vergleich der Künste und Medien

WeltLiteraturen/ World Literatures

Schriftenreihe der Friedrich Schlegel Graduiertenschule für literaturwissenschaftliche Studien Herausgegeben von Jutta Müller-Tamm, Andrew James Johnston, Anne Eusterschulte, Susanne Frank, Stefan Keppler-Tasaki und Georg Witte Wissenschaftlicher Beirat Nicholas Boyle (University of Cambridge), Elisabeth Bronfen (Universität Zürich), Hans Ulrich Gumbrecht (Stanford University), Renate Lachmann (Universität Konstanz), Ken’ichi Mishima (Osaka University), Glenn W. Most (Scuola Normale Superiore Pisa), Jean-Marie Schaeffer (EHESS Paris), Janet A. Walker (Rutgers University), David Wellbery (University of Chicago), Christopher Young (University of Cambridge)

Band 13

Fiktion im Vergleich der Künste und Medien

Herausgegeben von Anne Enderwitz und Irina O. Rajewsky

Die Tagung „Fiktion im Vergleich der Künste und Medien“ sowie der Druck des vorliegenden Bandes wurden durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft im Rahmen der Friedrich Schlegel Graduiertenschule für literaturwissenschaftliche Studien an der Freien Universität Berlin gefördert. Lektorat und Drucklegung des Bandes wurden zusätzlich durch Gelder der leistungsorientierten Mittel­vergabe für Gleichstellung des Fachbereichs Philosophie und Geisteswissenschaften der FU Berlin unterstützt.

ISBN 978-3-11-049642-0 e-ISBN (PDF) 978-3-11-049864-6 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-049778-6 ISSN 2198-9370 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National­ bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2016 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: Katharina Bantleon Einbandabbildung: Gestaltet von Jürgen Brinckmann, Berlin, unter Verwendung einer Graphik von Anne Eusterschulte Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Inhalt Irina O. Rajewsky und Anne Enderwitz   Einleitung | 1  Frank Zipfel   Ein institutionelles Konzept der Fiktion – aus einer transmedialen Perspektive Überlegungen zur Fiktionalität von literarischer Erzählung und theatraler Darstellung | 19  J. Alexander Bareis   Randbereiche und Grenzüberschreitungen Zu einer Theorie der Fiktion im Vergleich der Künste | 45  Barbara Ventarola   Fiktionen als Medien möglicher Kommunikationen Überlegungen zu einer neuen Fiktionstheorie, mit einigen Beispielen aus Literatur, Malerei und Musik | 63  Jens Schröter   Überlegungen zu Medientheorie und Fiktionalität | 97  Stephan Packard   Bilder erfinden Fiktion als Reduktion und Redifferenzierung in graphischen Erzählungen  | 125  Helmut Galle   Fiktionalität in hybriden Gattungen Tatsachenroman und Dokudrama versus Reportage und Dokumentarfilm | 145  Anne Enderwitz   Fiktionale Geometrie Die vierte Dimension im literarischen Gedankenexperiment | 167  Oliver Jahraus   Inception: Medienmetapher und Fiktionsspiel | 187  Jeff Thoss   Einbruch der Wirklichkeit: Metaleptische Enden transmedial | 209 

VI | Inhalt

Werner Wolf   Fiktion: Eine relevante Kategorie der Metareferenz in Literatur und anderen Medien? | 227  Autorinnen und Autoren | 245

Irina O. Rajewsky und Anne Enderwitz

Einleitung Aufbauend auf Ansätzen der 1970er und 1980er Jahre1 hat die Fiktionsforschung in den letzten 25 Jahren diverse Schritte unternommen, um die vielfältigen Phänomene, die unter ‚Fiktion‘ gefasst werden, besser zu beschreiben. In der Gesamtschau hat dies zwar kaum zu einer Vereinfachung der Begriffs- und Forschungslage geführt: Resultat der anhaltenden Debatten ist vielmehr ein weit gefächertes Spektrum unterschiedlich gelagerter Ansätze und Theoriebildungen, die sich dem Problemkomplex ‚Fiktion/alität‘ aus verschiedenen Perspektiven nähern, mit z.T. ähnlichen, z.T. aber auch deutlich voneinander abweichenden Zielrichtungen und Begriffsauffassungen.2 Gleichzeitig hat die neuere Entwicklung der Fiktionstheorie jedoch auch maßgeblich dazu beigetragen, ein grundlegendes Problembewusstsein für die Komplexität der hier relevanten Fragestellungen wie auch für die Mehrdimensionalität und für heterogene Verwendungsweisen des Fiktionsbegriffs selbst, seiner Derivate (Fiktivität, Fiktionalität) und Gegenbegriffe zu befördern. Zumindest im deutschsprachigen Raum hat sich in diesem Zusammenhang in weiten Teilen der Debatte eine Differenzierung zwischen ‚Fiktivität‘ und ‚Fiktionalität‘ durchgesetzt, auf die sich (z.T. in kritischer Auseinandersetzung) auch die Beiträge dieses Bandes beziehen. Konsens besteht dabei im Großen und Ganzen darüber, dass mit ‚fiktiv/Fiktivität‘ eine Eigenschaft des Dargestellten (Figuren, Orte usw.) gemeint ist, während ‚fiktional/Fiktionalität‘ auf eine Eigenschaft der Darstellung zielt. In diesem Sinne lässt sich also z.B. von fiktionaler Rede, von einem fiktionalen

|| 1 Die 1970er und 1980er Jahre lassen sich als eine erste Hochphase der Fiktionstheorie betrachten, in der, mit Klaus W. Hempfer gesprochen, „die Anzahl der Publikationen zum Fiktionsproblem […] geradezu explodiert“ ist („Zu einigen Problemen einer Fiktionstheorie“, in: Zeitschrift für französische Sprache und Literatur 100 [1990], 109–137, hier: 109). Vgl. ebd. für eine prägnante Bestandsaufnahme und kritische Auseinandersetzung mit Arbeiten der 1970er/1980er Jahre; vgl. ausführlicher und unter Einbeziehung auch der einschlägigen Forschung der 1990er Jahre Frank Zipfel, Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität. Analysen zur Fiktion in der Literatur und zum Fiktionsbegriff in der Literaturwissenschaft, Berlin: Schmidt 2001. 2 Um dem gerecht zu werden und zugleich die Begriffsproblematik präsent zu halten, die die Fiktionsdebatte wie ein roter Faden durchzieht, wird in dieser Einleitung z.T. mit Schrägstrich(‚Fiktion/alität‘) oder auch Klammerkonstruktionen gearbeitet. In anderen Fällen setzen wir ganz bewusst den in sich mehrdeutigen, vage bleibenden Oberbegriff ‚Fiktion‘, der es – positiv gewendet – erlaubt, sämtliche Bedeutungsdimensionen aufzufangen, die in der Debatte unter ‚Fiktion‘ oder auch ‚Fiktionalität‘ gefasst werden. Dabei sind auch englischsprachige Verwendungsweisen von ‚fiction‘, ‚fictional‘, ‚fictionality‘ zu berücksichtigen, mit denen sich die Begriffsproblematik weiter zuspitzt. Einen konzisen Überblick zur „long history of shifting uses of the term ‘fiction’“ gibt JeanMarie Schaeffer, „Fictional vs. Factual Narration“ [2012, überarb. 2013], in: Peter Hühn et al. (Hg.), The Living Handbook of Narratology, Hamburg: Hamburg University (www.lhn.uni-hamburg.de), hier: § 7.

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Diskurs, von fiktionalen Texten, Filmen usw. sprechen, während sich ‚fiktiv‘ auf Gegenstände, auf fiktive Entitäten bezieht. Hiermit ist allerdings noch keine Aussage über die genaue Konzeption und Verwendungsweise dieser Begriffe gemacht; an dieser Stelle driften die Auffassungen vielmehr auseinander. So wird der Begriff des Fiktiven mal im Sinne von ‚Erfundenheit‘ (‚fiktiv‘ vs. ‚faktisch‘ bzw. ‚real‘), mal im Sinne ‚fiktiver‘ (oder auch ‚möglicher‘) Welten verstanden, womit sich etwa schon in Bezug auf Romane unterschiedliche Verwendungsweisen ergeben: Die eine Position unterscheidet zwischen fiktiven und realen Entitäten, also z.B. zwischen erfundenen und historisch verbürgten Figuren in einem historischen Roman; der anderen Position folgend wird dagegen jegliche Entität innerhalb eines fiktionalen Textes als eine ‚fiktive‘ bezeichnet, da sie – bei allen Ähnlichkeiten, die sie zu Figuren, Orten usw. der außertextuellen Realität aufweisen mag – ihrerseits Teil einer ‚geschlossenen‘, ‚fiktiven Welt‘ ist. Die Weltsemantik verfährt mit dem sog. „Napoleonproblem“3 also – schon rein begriffslogisch – in signifikant anderer Weise als Ansätze, die im Radius der ersten Position zu verorten sind (ggf. mit zusätzlichen Differenzierungen, etwa zwischen realen, nicht-realen und pseudo-realen Entitäten, wie dies Frank Zipfel vorgeschlagen hat)4. Darüber hinaus (und z.T. damit einhergehend) sind auch hinsichtlich der Gegenbegriffe von ‚Fiktivität‘ einerseits und von ‚Fiktionalität‘ andererseits unterschiedliche Positionen zu verzeichnen. Dies lässt sich beispielhaft anhand des umstrittenen Begriffs des Faktualen (‚faktual‘/‚Faktualität‘) nachzeichnen. Aufbauend auf Gérard Genette, der in seinem Fiction et diction von 1991 ‚factuel‘ synonym mit ‚non-fictionnel‘ setzt, um dem gängigen ‚negativen‘ Gegenbegriff zu ‚fiktional‘ einen ‚positiven‘ an die Seite zu stellen,5 hat sich der Faktualitätsbegriff in weiten Teilen vor allem der deutschsprachigen Debatte durchgesetzt. Letzteres ist kein Zufall. Denn im Unterschied zum Französischen (‚factuel‘/‚qui s’en tient aux faits‘ od. ‚qui est de l’ordre du fait‘ ) und Englischen (‚factual‘/‚based on or containing facts‘) kennt das Deutsche laut Duden zwar ‚faktisch‘, nicht aber ‚faktual‘. Gerade dem Deutschen hat sich hier also die Option einer begrifflichen Neubildung (‚faktual‘ im Unterschied zu ‚faktisch‘) und folglich die Möglichkeit eröffnet, die bis dahin gängigen Begriffspaare (‚fiktiv‘ vs. ‚real‘/‚fiktional‘ vs. ‚nicht-fiktional‘) durch begriffslogisch komplementäre zu ersetzen oder zu ergänzen, d.h. durch ‚fiktiv‘ vs. ‚faktisch‘ resp. ‚fiktional‘ vs. ‚faktual‘ (woran heute z.B. auch der inzwischen recht verbreitete Begriff des ‚Faktualitätssignals‘ anschließt).6 Dies wird freilich nicht durchgängig so || 3 Remigius Bunia, Faltungen. Fiktion, Erzählen, Medien, Berlin: Schmidt 2007, 35; siehe auch JeanMarie Schaeffer, „Fictional vs. Factual“ (Anm. 2). 4 Vgl. Frank Zipfel, Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität (Anm. 1). 5 Vgl. Gérard Genette, Fiction et diction, Paris: Seuil 2004 [1991], 141f., insb. Fn. 2; s. genauer unten, Anm. 6. 6 Zum Vergleich: Genette setzt ‚factuel‘ dagegen trotz der im Französischen gängigen Verwendungsweise dieses Adjektivs im Sinne von ‚non-fictionnel‘, wobei er in einer Anmerkung auch selbst auf

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gehandhabt. Einige Ansätze lehnen den Faktualitätsbegriff dezidiert ab; ihnen gilt allein ‚Nicht-Fiktionalität‘ als akzeptabler Gegenbegriff zu ‚Fiktionalität‘. So etwa J. Alexander Bareis (hier in Bezug auf den Ansatz Kendall L. Waltons): „Fiktion im Sinne Waltons [wird] nicht in Opposition zu Wirklichkeit/Realität und/oder Wahrheit definiert. Das Gegenteil von Fiktion ist Nicht-Fiktion. Infolgedessen ist das Gegenteil fiktionalen Erzählens nicht etwa faktuales Erzählen, sondern nichtfiktionales Erzählen.“7 || ein hieraus entstehendes Begriffsproblem und ein gewisses ‚Unbehagen‘ bezüglich der Wortwahl hinweist. Mitzudenken ist hierbei, dass Genette in Fiction et diction (selbstkritisch) das spezifische Anliegen verfolgt, die Narratologie aus ihrem zuvor so gut wie ausschließlichen Fokus auf fiktionale Erzähltexte herauszulösen. Letztere seien fälschlicherweise und „kraft eines impliziten Privilegs […] zur Erzählung par excellence oder zum Modell einer jeden Erzählung hypostasiert“ worden (zit. wird die dt. Übersetzung: Gérard Genette, Fiktion und Diktion, übers. v. Heinz Jatho, München: Fink 1992, 65 [für die frz. Fassung s. Anm. 5, 141]). Vor diesem Hintergrund merkt er zu seiner Wendung ‚le récit factuel‘ an: „Ich bediene mich notgedrungen dieses nicht ganz zutreffenden Adjektivs […], um den systematischen Rekurs auf negative Ausdrücke zu vermeiden, die das Privileg, gegen das ich angehen möchte, gerade spiegeln und perpetuieren“ (ebd., 66, Fn. 2). Angemerkt sei, dass Genette die Begriffsproblematik dabei interessanterweise an ganz anderer Stelle verortet, als es in aktuellen Ansätzen der Fall ist, die gegen den Faktualitätsbegriff optieren (s.u.). Vervollständigt heißt es bei Genette: „Ich bediene mich notgedrungen dieses nicht ganz zutreffenden Adjektivs (denn auch die Fiktion besteht aus Verkettungen von Fakten) […]“ (ebd.). 7 J. Alexander Bareis, „Fiktionen als Make-Believe“, in: Tobias Klauk/Tilmann Köppe (Hg.), Fiktionalität. Ein interdisziplinäres Handbuch, Berlin/Boston: De Gruyter 2014, 50–67, hier: 61 (siehe auch ders. im vorliegenden Band). — Mit diesen gegenläufigen Positionen begibt man sich erneut mitten in die für die Fiktion(alität)sdebatte charakteristische Begriffsproblematik. So dürfte aus Sicht vieler Vertreter des Faktualitätsbegriffs kaum nachvollziehbar sein, worin das von anderer Seite aufgeworfene ‚Problem‘ überhaupt besteht, verstehen sie ‚faktual‘ doch schlicht im Sinne von ‚nicht-fiktional‘, behandeln ‚faktual‘ und ‚nicht-fiktional‘ also als austauschbare Begriffe. Die Ablehnung des Faktualitätsbegriffs, wie sie in anderen Ansätzen vertreten wird, gründet dagegen in der Auffassung, dass sich mit diesem mehr verbinde als ‚nur‘ eine Kennzeichnung von ‚Nicht-Fiktionalität‘, mit ‚Faktualität‘ vielmehr immer auch schon ‚Faktizität‘ angezeigt sei. Damit sei umgekehrt zugleich die Annahme aufgerufen, dass ‚Fiktionalität‘ mit ‚Fiktivität‘ zusammenfalle oder wenigstens ein „Mindestmaß an Fiktivität“ voraussetze (J. Alexander Bareis, Fiktionales Erzählen. Zur Theorie der literarischen Fiktion als Make-Believe, Göteborg: Acta Universitatis Gothoburgensis 2008, 106) – und eben gegen diese Annahme treten Ansätze der letztgenannten Art an. Mit diesen rücken folglich Ansätze in den Vordergrund, die ‚Fiktionalität‘ wie auch ‚Nicht-Fiktionalität‘ ganz dezidiert von Fragen der Erfundenheit (Fiktivität) oder Nicht-Erfundenheit (Nicht-Fiktivität) der dargestellten Gegenstände entkoppelt verstanden wissen möchten. Genau diese Zielrichtung verfolgt nun freilich auch eine ganze Reihe, wenn nicht die Mehrzahl der Befürworter des Faktualitätsbegriffs. Damit tritt zugleich die Tatsache in den Vordergrund, dass auch in diesem Begriffsrahmen (‚fiktional‘ vs. ‚faktual‘/‚fiktiv vs. faktisch‘) unterschiedlich gelagerte Ansätze vertreten werden: 1) Ansätze, die die Definition von ‚Fiktionalität‘ in der Tat (auch) an Fragen des Fiktiven gekoppelt wissen möchten (so z.B. die Position Frank Zipfels); 2) Ansätze, die just das vertreten, worauf auch Kritiker des Faktualitätsbegriffs (wie z.B. Bareis) hinauswollen. In Ansätzen der zweiten Art wird ‚Faktualität‘ also nicht nur (wie auch bei Zipfel) gleichbedeutend mit (und de facto zumeist neben) dem Begriff der Nicht-Fiktionalität verwendet, sondern zugleich explizit von Fragen nach Faktizität oder Fiktivität losgelöst. So werden etwa bei

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Gerade in den letzten Jahren sind zahlreiche Grundlagen- und Überblicksbeiträge zum Thema ‚Fiktion/alität‘ und verwandten Problemstellungen (etwa zu faktualem und fiktionalem Erzählen) erschienen, die die komplizierte Begriffslage und die Vielschichtigkeit der hier relevanten Fragestellungen dokumentieren; in besonders umfassender Weise das 2014 publizierte, von Tobias Klauk und Tilmann Köppe herausgegebene interdisziplinäre Handbuch Fiktionalität (De Gruyter).8 Letzteres erweist sich in zweifacher Hinsicht als repräsentativ für den derzeitigen Stand der Forschung: zum einen in Anbetracht der Breite der Themenstellungen und Ansätze, die hier unter ‚Fiktionalität‘ verhandelt werden, zum anderen aber auch – und diesem Aspekt kommt im Kontext des vorliegenden Bandes besonderes Gewicht zu – aufgrund der spezifischen Anlage seiner inter- bzw. transdisziplinären Ausrichtung. ‚Fiktion/alität‘ und Fiktion(alität)stheorien werden hier nicht nur mit Blick auf die diesbezüglich seit Langem einschlägigen Disziplinen diskutiert (Literaturwissenschaft, Linguistik, Philosophie und spätestens seit Hayden White auch die Geschichtswissenschaft), sondern ebenso mit Blick auf die Film- und Medien- sowie die Kunstund Bildwissenschaft. Mit dieser Erweiterung des disziplinären Feldes und Gegenstandsbereichs trägt das Handbuch einer neueren Tendenz der Fiktionsforschung Rechnung, die – aufbauend auf einigen richtungsweisenden Publikationen der frühen

|| Andreas Kablitz ‚Fiktionalität‘ und ‚Faktualität‘ definitorisch allein an eine bestimmte Qualität ‚der Rede‘ oder Darstellungsweise, d.h. an einen bestimmten ‚Aussagemodus‘ gebunden und mithin von Fragen der Fiktivität bzw. Faktizität entkoppelt. „Fiktionalität“, so Kablitz, „ist eine Struktur zur Ermächtigung des Fiktiven, indessen verlangt sie nicht danach. Denkbar ist durchaus auch ein fiktionaler Text, der ohne jede Fiktion auskommt“. Hieraus leitet sich ab, dass das Dargestellte „mehr oder minder fiktiv sein [kann]“, eine Möglichkeit, die „für den fiktionalen Text nicht anders als für den ‚faktualen‘ [existiert]“ („Literatur, Fiktion und Erzählung – nebst einem Nachruf auf den Erzähler“, in: Irina O. Rajewsky/Ulrike Schneider (Hg.), Im Zeichen der Fiktion. Aspekte fiktionaler Rede aus historischer und systematischer Sicht. Festschrift für Klaus W. Hempfer zum 65. Geburtstag, Stuttgart: Steiner 2008, 13–44, hier: 16 u. 17). Vor diesem Gesamthintergrund erschließt sich, warum sich in rezenten Überblicksartikeln Hinweise wie der folgende finden: „Sollen fiktionale Texte von nicht fiktionalen Texten abgegrenzt werden, so wird für letztere manchmal der Ausdruck ‚faktual‘ verwendet. Damit ist dann allerdings eben nur die Tatsache gemeint, dass der fragliche Text nicht fiktional ist – und nicht etwa, dass der Text Fakten beschreibt oder wiedergibt“ (Tobias Klauk/ Tilmann Köppe, „Bausteine einer Theorie der Fiktionalität“, in: ders./ders. (Hg.), Fiktionalität. Ein interdisziplinäres Handbuch [Anm. 7], 3–31, hier: 5f.). 8 Vgl. neben bereits genannten Beiträgen z.B. auch Jan Gertken/Tilmann Köppe, „Fiktionalität“, in: ders./ders. (Hg.), Grenzen der Literatur. Zum Begriff und Phänomen des Literarischen, Berlin/New York: De Gruyter 2009, 228–266; zum Problemkomplex ‚faktuales vs. fiktionales Erzählen‘ (neben Jean-Marie Schaeffer, „Fictional vs. Factual“ [Anm. 2]) z.B. Monika Fludernik/Nicole Falkenhayer/ Julia Steiner (Hg.), Faktuales und fiktionales Erzählen. Interdisziplinäre Perspektiven, Würzburg: Ergon, 2015; siehe auch Christian Klein/Matías Martínez (Hg.), Wirklichkeitserzählungen. Felder, Formen und Funktionen nicht-literarischen Erzählens, Stuttgart: Metzler 2009.

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1990er Jahre9 – erst in den letzten Jahren breitere Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat und deren Implikationen für die Fiktionstheorie erst allmählich in umfassenderer Weise reflektiert und diskutiert werden. Wie schon der Hinweis auf die Film- und Medien- bzw. die Kunst- und Bildwissenschaft verdeutlicht, sind mit dieser Tendenz Ansätze gemeint, die eine Öffnung der Theoriebildung in Richtung auf andere Künste und Medien vorantreiben und mit denen sich insofern der Versuch verbindet, die Fiktionstheorie aus ihrer traditionellen (und nach wie vor vorherrschenden) Sprach- bzw. Literaturzentriertheit herauszulösen. Hier zeichnet sich eine Aufmerksamkeitsverlagerung innerhalb des fiktionalitätstheoretischen Diskurses ab, die deutliche Parallelen zu einer vergleichbaren Entwicklung in der Erzählforschung aufweist. Letztere fällt mit der Herausbildung eines spezifischen Zweigs der sog. post-klassischen Narratologie zusammen, für den sich inzwischen in weiten Teilen der Debatte die Bezeichnung ‚transmediale‘ oder auch ‚transgenerische und transmediale Narratologie‘ durchgesetzt hat.10 Als aussagekräftig erweist sich in diesem Zusammenhang zum einen, dass auch die fragliche Ausrichtung der Fiktionsforschung in rezenten Beiträgen unter dem Heading einer „transmediale[n] Fiktionstheorie“ bzw. eines „Transmedial Concept of Fictionality“ diskutiert wird.11 Auf eine analoge Entwicklung verweist aber vor allem auch das || 9 Hier sind neben Kendall L. Waltons Mimesis as Make-Believe von 1990 (s. hierzu genauer unten) vor allem auch Publikationen von Gregory Currie und Marie-Laure Ryan zu nennen; vgl. Gregory Currie, The Nature of Fiction, New York: Cambridge UP 1990 und Marie-Laure Ryan, Possible Worlds, Artificial Intelligence, and Narrative Theory, Bloomington: Indiana UP 1991, sowie nachfolgende Publikationen dieser Autoren. Siehe in diesem Kontext auch Jean-Marie Schaeffer, Pourquoi la fiction?, Paris: Seuil 1999. 10 Dies gilt sowohl für den deutschsprachigen als auch für den anglo-amerikanischen Raum. Die Rede von einer transmedialen Narratologie hat sich tatsächlich ungefähr zeitgleich und weitestgehend unabhängig voneinander im deutschsprachigen und im anglo-amerikanischen Diskurs durchgesetzt. Im Englischen greift hier der Begriff transmedial narratology (nicht zu verwechseln mit dem Konzept des transmedia storytelling im Sinne Henry Jenkins’). Siehe für frühe wegweisende Beiträge Marie-Laure Ryan (Hg.), Narrative across Media. The Languages of Storytelling, Lincoln/ London: U of Nebraska P 2004 (hierin auch David Herman, „Toward a Transmedial Narratology“, 47–75); Marie-Laure Ryan, „On the Theoretical Foundations of Transmedial Narratology“, in: Jan Christoph Meister (Hg.), in Zusammenarbeit mit Tom Kindt u. Wilhelm Schernus), Narratology beyond Literary Criticism. Mediality, Disciplinarity, Berlin/New York: De Gruyter 2005, 1–23. Im deutschsprachigen Raum schließt die Debatte mehrheitlich an den von Rajewsky 2002 eingeführten Begriff der ‚Transmedialität‘ an; vgl. Irina O. Rajewsky, Intermedialität, Tübingen/Basel: Francke 2002, insb. 13; s. auch dies., „Von Erzählern die (nichts) vermitteln. Überlegungen zu grundlegenden Annahmen der Dramentheorie im Kontext einer transmedialen Narratologie“, in: Zeitschrift für Französische Sprache und Literatur 117.1 (2007), 25–68; dies., Medialität – Transmedialität – Narration. Perspektiven einer transgenerischen und transmedialen Narratologie (Habilitationsschrift, Freie Universität Berlin 2015; Drucklegung in Vorbereitung). 11 Erstes Zitat: Jan-Noël Thon, „Fiktionalität in Film- und Medienwissenschaft“, in: Tobias Klauk/ Tilmann Köppe (Hg.), Fiktionalität. Ein interdisziplinäres Handbuch (Anm. 7), 443–466, hier: 445. Das zweite Zitat greift einen Beitrag Frank Zipfels aus dem Jahr 2014 auf, der die Parallele zur narra-

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Anliegen, das sich hiermit verbindet: eben eine kritische Reflexion der herkömmlichen Theoriebildung in ihrer mehr oder weniger alleinigen Konzentration auf (schrift-) sprachliche Äußerungen und genauer auf das, was im anglo-amerikanischen Raum (hier nun in anderem Sinne) als ‚fiction‘ bezeichnet wird, d.h. auf Romane, Kurzgeschichten usw., auf fiktionale Erzähltexte. „During the past forty years“, so bringt Frank Zipfel dies 2014 auf den Punkt, the question of the nature of fiction or fictionality and of the importance of this concept for the theory of art have been hotly debated. A huge part of this discussion has been and still is focused on narrative literature. But by now fictionality has become an important notion not only in literary theory but also in other disciplines, such as film studies, theater studies, computer games studies, and more generally the philosophy of art. The theoretical question of whether and how the concept of fictionality can be applied to nonliterary art forms and to nonverbal or not exclusively verbal phenomena in different media has become more and more pressing.12

Bei allen Parallelen, die sich hier zwischen neueren Tendenzen der Fiktions- und der Erzähltheorie ergeben, ist allerdings bemerkenswert, dass die Fiktionsforschung schon vergleichsweise früh auch nicht oder nur bedingt erzählende künstlerische bzw. mediale Praktiken, wie etwa Malerei oder Fotografie, einbezogen hat. Damit sind schon früh Weichen für eine Erweiterung des Gegenstandsbereichs fiktionalitätstheoretischer Überlegungen gestellt worden, die nicht nur über die traditionelle Sprach- bzw. Literaturzentriertheit der Fiktionsforschung, sondern auch über deren ebenso traditionelle Engführung von fiktionalitätstheoretischen Fragestellungen mit Praktiken des Erzählens hinausweisen. Mit Zipfel gesprochen, mag „the usefulness of some of these investigations“ zu hinterfragen sein.13 Festzuhalten ist gleichwohl, dass das Verhältnis von Erzählen und Fiktionalität keineswegs evident ist und auch beim heutigen Stand der Debatte Fragen aufwirft. Einen entscheidenden Grundstein für diese Art fiktionstheoretischen Denkens hat bekanntlich Kendall L. Walton mit Mimesis as Make-Believe. On the Foundations of the Representational Arts von 1990 gelegt.14 Mit dieser Studie überführt er sein bereits Anfang der 1970er Jahre entwickeltes,15 dezidiert rezeptionsorientiertes Kon-

|| tologischen Debatte bereits in seiner Titelformulierung deutlich werden lässt: „Fiction across Media. Toward a Transmedial Concept of Fictionality“ (in: Marie-Laure Ryan/Jan-Noël Thon [Hg.], Storyworlds across Media. Toward a Media-Conscious Narratology, Lincoln/London: U of Nebraska P 2014, 103–125). 12 Frank Zipfel, „Fiction across Media“ (Anm. 11), 103. 13 Ebd. 14 Kendall L. Walton, Mimesis as Make-Believe. On the Foundations of the Representational Arts, Cambridge/London: Harvard UP 1990. 15 So schon in einem 1973 publizierten Aufsatz zum Thema in Auseinandersetzung mit Literatur und Malerei. Vgl. hierzu und ganz allgemein „[z]ur Geschichte des Make-Believe-Konzepts“ wie auch für eine genauere Darstellung der Make-Believe-Theorie Waltons: J. Alexander Bareis, „Fiktionen als

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zept des game of make-believe in eine umfassende, künste- und medienübergreifende Theorie.16 Wie bereits der Titel seiner Monographie andeutet, geht es Walton selbst weniger darum, einen Beitrag speziell zu fiktion(alität)stheoretischen Fragestellungen zu leisten – wenngleich die Begriffe fiction und fictional in seinen Ausführungen eine zentrale Rolle spielen –, sondern in erster Linie um eine allgemeine Darstellungstheorie bzw. eine Theorie der Repräsentation. Dabei werden ‚Repräsentation‘ und ‚Fiktion/alität‘ im Konzept des game of make-believe enggeführt und somit letztlich zu austauschbaren Begriffen.17 Nichtsdestotrotz haben sein Konzept des make-believe wie auch der künste- und medienübergreifende Anspruch seiner Überlegungen gerade im Rahmen fiktionalitätstheoretischer Ansätze (mit gewisser zeitlicher Verzögerung) breite internationale Resonanz gefunden und sind in Bezug auf die neueren Entwicklungen der Debatte in der Tat als ein Initialzündungsfaktor zu sehen.18 || Make-Believe“ (Anm. 7), 51, sowie bereits ders., Fiktionales Erzählen (Anm. 7). – Wie Bareis (vgl. „Fiktionen als Make-Believe“, 51) aufgezeigt hat, ist der Begriff des make-believe keine Erfindung Waltons. Zu nennen ist im Kontext der analytischen Philosophie Gilbert Ryle, der den Begriff schon 1933 verwendet, dabei (im Unterschied zu Walton) allerdings „keinen systematischen Zusammenhang zwischen einem Konzept des Make-Believe-Spiels und einer Theorie der Fiktion her[stellt]“ (ebd.). Gleichwohl wird der Begriff bereits von Ryle „nicht allein auf eine Kunstform angewendet […], sondern als Gemeinsamkeit verschiedener Kunstarten betrachtet“ (ebd., 52). – Mit Blick auf Vorläufer des Konzepts des game of make-believe ist des Weiteren Ernst H. Gombrichs Aufsatz „Meditations on a Hobby Horse“ von 1963 in Erinnerung zu rufen, auf den auch Walton selbst verweist (vgl. bereits Kendall L. Walton, Mimesis as Make-Believe [Anm. 14], 4 passim; für eine ausführlichere, kritische Auseinandersetzung vgl. ders., „Make-Believe and Its Role in Pictorial Representation and the Acquisition of Knowledge“, in: Philosophic Exchange 23.1 [1992], 81–95). 16 Vgl. auch Kendall L. Walton, „Précis of Mimesis as Make-Believe: On the Foundations of the Representational Arts“, in: Philosophy and Phenomenological Research, 51.2 (1991), 379–382. Siehe in diesem Zusammenhang zudem J. Alexander Bareis/Lene Nordrum (Hg.), How to Make Believe. The Fictional Truths of the Representational Arts, Berlin/Boston: De Gruyter 2015. 17 Vgl. Regina Wenninger, „Fiktionalität in Kunst- und Bildwissenschaften“, in: Tobias Klauk/ Tilmann Köppe (Hg.), Fiktionalität. Ein interdisziplinäres Handbuch (Anm. 7), 467–495, hier: 469; siehe auch Jan-Noël Thon, „Fiktionalität“ (Anm. 11) sowie z.B. Remigius Bunia, Faltungen (Anm. 3), insb. 30, oder Frank Zipfel, Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität (Anm. 1), insb. 23. 18 Bezüglich seiner Relevanz und Wirkkraft für die Fiktionstheorie wird Waltons Mimesis as MakeBelieve inzwischen in eine Reihe mit dem bekannten und für die Debatte nach wie vor prägenden Aufsatz John R. Searles von 1974/1975, „The Logical Status of Fictional Discourse“, gestellt (dieser Wirkkraft haben auch die vielfach benannten Probleme sowohl der pretense theory Searles als auch des Theoriegerüsts Waltons keinen Abbruch getan). „Walton[’s] contribution to a pragmatics of fiction“, so etwa Jean-Marie Schaeffer, „is as important as Searle’s“ („Fictional vs. Factual“ [Anm. 2], § 24). Ein ähnlicher Verbreitungsgrad kommt im Rahmen der neueren Fiktionsdebatte so genannten ‚institutionellen‘ Ansätzen zu, die ihrerseits an Walton anschließen und für die Peter Lamarques und Stein Haugom Olsens Truth, Fiction, and Literature. A Philosophical Perspective (Oxford: Clarendon 1994) Pate steht. Siehe hierzu auch Jan Gertken/Tilmann Köppe, „Fiktionalität“ (Anm. 8); Tilman Köppe, „Die Institution Fiktionalität“, in: Tobias Klauk/Tilmann Köppe (Hg.), Fiktionalität. Ein interdisziplinäres Handbuch (Anm. 7), 35–49.

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Für den vorliegenden Zusammenhang ist dabei vor allem von Interesse, dass sich Walton mit Mimesis as Make-Believe bereits 1990 dezidiert von der traditionellen Sprach- und Literaturzentriertheit fiktionstheoretischer Überlegungen abwendet. Mit Walton laufen die alleinige Berücksichtigung und selbstverständliche Privilegierung des einen Gegenstands, namentlich der Literatur, und die damit einhergehende mediale Eindimensionalität einer adäquaten Theoretisierung von ‚fiction‘/‚fictionality‘ zuwider: Most attempts to separate works of fiction from works of nonfiction focus on fictional usages of language. The home of the distinction lies in literature. Partly because of this, no doubt, theories of language have played prominent roles in attempts to explain it. But herein lies a danger. Not all fiction is linguistic. Any adequate theory of fiction must accommodate pictorial fictions, for instance, as well as literary ones. A theory that does not will not be adequate to explain even literary fiction. If our aim is to understand novels, stories, tales, and yarns, we need to know what it is about them that makes them works of fiction, and that requires knowing what fictionality in general is – what literary works of fiction have in common with works of fiction of other kinds. Distortions arise from concentration on literary fictions and too exclusive reliance on theories of language […].19

Walton verfolgt demnach einen Ansatz, der ‚fiction‘/‚fictionality‘ in Absehung von den Eigenheiten einzelner Künste und damit zugleich ihrer je spezifischen Medialität20 zu definieren sucht. Ziel ist es zu erfassen, ‚what fictionality in general is‘, und somit einen Fiktions-/Fiktionalitätsbegriff zu entwickeln, der über Gattungs-, Künsteund Mediengrenzen hinweg Gültigkeit beansprucht.21

|| 19 Kendall L. Walton, Mimesis as Make-Believe (Anm. 14), 75. – In ganz ähnlicher Weise beginnt sich etwa zur gleichen Zeit, der Ruf nach einer Theorie des Erzählens Gehör zu verschaffen, die nicht nur Texte, sondern auch andere Medien zu erfassen bestrebt und in der Lage ist, in diesem Fall zuvorderst mit Blick auf die (Omnipräsenz der) audiovisuellen Medien: „It is through cinema, television and video, and not through novels“, so etwa Celestino Deleyto 1991, „that most stories are ‘told’ nowadays. For a narrative theory to be consistent and complete, it must work when applied to the study of film narrative“ („Focalisation in Film Narrative“, in: Atlantis 13.1 [1991], 159–177). 20 Hiermit sind auch Fragen nach deren Materialität aufgerufen. Der Begriff der Medialität schließt in unserem Verständnis also die Materialität der jeweiligen medialen Konfiguration (Text, Film etc.) mit ein. 21 Gerade hier zeigt sich freilich erneut auch die für die Fiktionsdebatte charakteristische Begriffsproblematik; denn Waltons Gebrauch von ‚fictional‘ bzw. ‚fictionality‘ ist nicht mit der Verwendungsweise von ‚fiktional‘/‚Fiktionalität‘ deckungsgleich, wie sie sich – in Spezifizierung des Fiktionsbegriffs und in Abgrenzung zu ‚fiktiv‘/‚Fiktivität‘ – in weiten Teilen der deutschsprachigen Debatte durchgesetzt hat (s.o., 1f.). Einem innerhalb der englischsprachigen Debatte gängigen Procedere gemäß leitet sich das Adjektiv ‚fictional‘ bei Walton vielmehr schlicht aus ‚fiction‘ ab, und die Substantivierung, ‚fictionality‘, meint zunächst einmal nichts weiter als die Eigenschaft, fictional, d.h. fiction ‚zu sein‘. Selbstverständlich bleibt sodann der spezifischen Konzeption des Fiktionsbegriffs bei Walton Rechnung zu tragen, also seiner Konzeption von fiction im Sinne von games of make-believe, womit sich u.a. auch verbindet, dass er seinen Fiktionsbegriff „erklärtermaßen unabhängig von der Frage nach dem Wirklichkeitsgehalt einer Darstellung“ verstanden wissen will

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Walton legt also gewissermaßen eine mediale ‚Draufsicht‘ an: Der Fiktionsbegriff wird nicht ausgehend von einer einzelnen Kunstform entwickelt und konzipiert, um ihn dann ggf. auf andere zu übertragen, wie dies in (bzw. ausgehend von) literaturzentrierten Ansätzen in aller Regel der Fall war (und ist). Versucht wird vielmehr zunächst einmal, dem „Gemeinsame[n] des Phänomens in all seinen medialen Formen“22 habhaft zu werden: „[I]t is essential“, so Walton, „to see what […] all varieties have in common.“23 In eben diesem Sinne wird bei Walton das Spiel des makebelieve zum entscheidenden Element, über das sich jegliche Praxis der Fiktion/alität bestimmt.24 Sehen wir an dieser Stelle davon ab, dass sich Waltons Begriff der Fiktion (fiction, fictional, fictionality) letztlich mit seinem Verständnis von ‚Darstellung‘ bzw. ‚Repräsentation‘ deckt, womit der Begriff aus einer (im engeren Sinne) fiktionalitätstheoretischen Sicht an Kontur verliert. Dieser Aspekt wie auch einige der Ergebnisse, zu denen Walton auf dieser Grundlage gelangt, sind in der Debatte bereits vielfach (und zu Recht) kritisiert worden.25 Entscheidend ist im vorliegenden Zusammenhang, dass der Entwurf Waltons, bei aller Kritik, mit seiner künste- und medienübergreifenden Herangehensweise eine aus heutiger Sicht tatsächlich überfällige Öffnung der Fiktionstheorie in Richtung auf andere Künste und Medien vorweggenommen hat, die innerhalb der fiktionalitätstheoretischen Debatte erst seit einigen Jahren in umfassenderer Weise produktiv gemacht wird.26

|| (Regina Wenninger, „Fiktionalität“ [Anm. 17], 471). Dies ändert freilich nichts daran, dass eine Gleichsetzung von Waltons ‚fictional‘ mit dem deutschen ‚fiktional‘ – soweit im o.g. Sinne verstanden (‚fiktional‘ vs. ‚fiktiv‘) – konzeptionell und begriffslogisch auf einer schiefen Ebene liegt. 22 J. Alexander Bareis, „Fiktionen als Make-Believe“ (Anm. 7), 53. 23 Kendall L. Walton, Mimesis as Make-Believe (Anm. 14), 4. 24 Dabei dienen Walton (wie im Kontext der Mimesis bekanntlich auch schon Aristoteles) „children’s games“ und deren „make-belive activities“ (ebd.) als Ausgangspunkt seiner Überlegungen. 25 So etwa die Annahme, „[p]ictures“, also z.B. auch Pressefotografien, seien „fiction by definition“ (Kendall L. Walton, Mimesis as Make-Believe [Anm. 14], 351). 26 Hiermit will nicht in Abrede gestellt sein, dass Fragen nach der „fact/fiction distinction“ (JeanMarie Schaeffer, „Fictional vs. Factual“ [Anm. 2], § 5 passim) nicht schon seit Längerem auch in anderen Disziplinen diskutiert werden, so etwa (und in besonderem Maße) im Bereich der Film- und Fernsehwissenschaft, aber z.B. auch im Kontext von Comics und Graphic Novels. Festzuhalten ist ebenso, dass der Ansatz Waltons nicht erst in den letzten Jahren, sondern spätestens seit Anfang der 2000er Jahre international breitere Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat. Mit Ersterem ist in den entsprechenden Bereichen allerdings nur ansatzweise eine Debatte einhergegangen, die Überlegungen dieser Art in einem engeren Sinne fiktionalitätstheoretisch verankert hat (siehe hierzu auch Jan-Noël Thon, „Fiktionalität“ [Anm. 11]). Andersherum hat der Ansatz Waltons zwar schon seit Längerem breitere Aufmerksamkeit auf sich gezogen; er ist zunächst aber vorrangig mit Blick auf eine literaturzentrierte Fiktion(alität)stheorie diskutiert worden (vgl. etwa Frank Zipfel, Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität [Anm. 1]; Remigius Bunia, Faltungen [Anm. 3]; J. Alexander Bareis, Fiktionales Erzählen [Anm. 7]).

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In diesem Zusammenhang ist zum einen auf die deutlich erhöhte Aufmerksamkeit zu verweisen, die fiktionalitätstheoretischen Fragestellungen in den letzten Jahren von Seiten der Kunstgeschichte und hier speziell von Seiten der FotografieForschung zukommt. Hierfür steht paradigmatisch der von Lars Blunck herausgegebene Sammelband Die fotografische Wirklichkeit: Inszenierung – Fiktion – Narration von 2010, der auch über die in diesem Band vertretenen Disziplinen (v.a. Kunstund Medienwissenschaft) hinaus rezipiert worden ist. Zum anderen sind Beiträge zu nennen, die den Fiktion(alität)sbegriff ganz dezidiert aus einer künste- bzw. medienübergreifenden Perspektive heraus diskutieren, wie z.B. Marie-Laure Ryans „Fiction, Cognition, and Non-Verbal Media“ von 2010 oder Frank Zipfels „Fiction across Media. Toward a Transmedial Concept of Fictionality“ von 2014.27 Hervorzuheben sind des Weiteren Publikationen, die das Phänomen „fiktionale[r] Welten“ und den „ontologischen Status fiktionaler Existenzen“ im Dialog mit angestammten Disziplinen der Fiktionsforschung für andere Bereiche zu erschließen suchen, so etwa der von Gertrud Koch und Christiane Voss herausgegebene, filmwissenschaftlich verankerte Sammelband ‚Es ist, als ob‘. Fiktionalität in Philosophie, Film- und Medienwissenschaft von 2009.28 Der Ansatz Waltons wird in Beiträgen, die ihrerseits auf eine Öffnung der Fiktionalitätstheorie in Richtung auf andere Künste und Medien zielen, in aller Regel gerade bezüglich seines künste- und medienübergreifenden Anspruchs aufgegriffen. Dem steht zunächst einmal auch nichts entgegen: Die Make-Believe-Theorie Waltons liefert ganz fraglos Ansatzpunkte für eine transmedial und transdisziplinär konzipierte Fiktionalitätstheorie, die darauf aus ist, den Fiktionsbegriff across media und mithin künste- und medienübergreifend in den Blick zu nehmen. So sieht z.B. auch Regina Wenninger gerade in der gattungs-, künste- und medienübergreifenden Anlage des Waltonschen Ansatzes den entscheidenden Punkt seiner (auch von ihr durchaus kritisch diskutierten) Herangehensweise: Waltons Theorie beansprucht nicht nur, auf alle Künste, insbesondere auch die bildende Kunst anwendbar zu sein; es soll auch keine Gattung – namentlich nicht die Literatur – als paradigmatisch ausgezeichnet oder ihr Priorität zugeschrieben werden. In dieser Allgemeinheit sieht Walton zugleich das entscheidende Adäquatheitskriterium für jede Fiktionalitätstheorie. Gerade die Anwendung auf bildhafte Repräsentationen wird dabei zum Testfall [und hier greift auch Wenninger die bereits weiter oben zitierte Äußerung Waltons auf]: „Any adequate theory

|| 27 Aufgegriffen werden hier: Lars Blunck (Hg.), Die fotografische Wirklichkeit. Inszenierung, Fiktion, Narration, Bielefeld: transcript 2010; Marie-Laure Ryan, „Fiction, Cognition, and Non-Verbal Media“, in: Marina Grishakova/Marie-Laure Ryan (Hg.), Intermediality and Storytelling, Berlin/New York: De Gruyter 2010, 8–26; Frank Zipfel, „Fiction across Media“ (Anm. 11). 28 Zitiert wird der Klappentext des 2009 bei Fink (München) erschienen Bandes. – Mit der Wendung ‚fiktionale Existenzen‘ ist einmal mehr die Begriffsproblematik der fiktionstheoretischen Debatte aufgerufen; in anderen Zusammenhängen wäre gerade hier von ‚fiktiv‘ die Rede.

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of fiction must accommodate pictorial fictions […]. A theory that does not will not be adequate to explain even literary fiction.“ An dieser Herausforderung scheitern seines Erachtens all jene Fiktionalitätstheorien, die auf das Medium Sprache zugeschnitten sind, etwa indem sie Fiktionalität in Analogie zu Sprechakten explizieren […].29

Und in diesem Sinne formuliert auch Marie-Laure Ryan (erneut unter Rekurs auf das bereits angeführte Walton-Zitat): For Kendall Walton […] all make-believe is in essence fiction, and all fiction is make-believe. This postulate enables him to propose a truly medium-free theory of fiction. As Walton declares, „not all fiction is linguistic. Any adequate theory of fiction must be able to accommodate pictorial fictions, for instance, as well as literary ones.“30

Die Annahme, dass es Walton insgesamt um eine ‚truly medium-free theory of fiction‘ gehe, dass er also darauf aus sei, das Phänomen der ‚Fiktion/alität‘ jenseits medialer Spezifika (und einzelner Kunstformen) zu erfassen, geht nun allerdings in gewisser Hinsicht schon an Waltons eigenen Ausführungen vorbei. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich, dass er bereits in seiner „Introduction“ eine nicht unerhebliche Präzisierung seines Vorhabens vornimmt: There is enormous diversity among even the initial examples [sc. die Beispiele, die er schon auf den ersten Seiten der „Introduction“ angeführt hatte]. I note now that they include both literary works and works of the visual arts, as well as hybrids such as theater, film, and opera. We will examine this and other differences among them in due course, but it is essential first to see what representations of all varieties have in common.31

Schon bei Walton selbst ist somit eine doppelte Zielrichtung formuliert, die deutlich werden lässt, dass es ihm durchaus auch um Differenzen zwischen einzelnen, medial unterschiedlichen Manifestationsformen des Fiktionalen (bzw. der Repräsentation) geht. Differenzen zwischen diesen sollen keineswegs marginalisiert oder gar gänzlich ausgeblendet werden; es geht vielmehr darum, „first to see what representations [sc. Fiktionen] of all varieties have in common“,32 um auf dieser Basis zu einem künste- und medienübergreifenden Begriff der Repräsentation bzw. Fiktion zu gelangen, der sodann aber gleichwohl hinsichtlich gegebener Differenzen zu spezifizieren sei. Hervorzuheben ist ferner, dass Walton in diesem Zusammenhang gerade auch die Relevanz eines künste- und medienvergleichenden Ansatzes betont (wobei auch hier seine Gleichsetzung von ‚Repräsentation‘ und ‚Fiktion‘ mitzudenken ist): „Concentrating just on literature, or just on the visual arts has sometimes led to serious misconceptions that are best corrected by placing representations of one

|| 29 Regina Wenninger, „Fiktionalität“ (Anm. 17), 469. 30 Marie-Laure Ryan, „Fiction, Cognition, and Non-Verbal Media“ (Anm. 27), 12. 31 Kendall L. Walton, Mimesis as Make-Believe (Anm. 14), 4. 32 Ebd. (unsere Hervorh.).

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sort alongside ones of the other.“33 An diese Formulierung schließt er erneut den Hinweis an, dass er sich in einem ersten Schritt darauf konzentrieren werde, „what can be said about representations generally“, um sich in „Part Three“ seiner Ausführungen „differences among them“ zuzuwenden und „systematically“ zwischen „literary and depictive representations“ zu unterscheiden.34 Lassen wir dahingestellt, inwiefern Walton diesen Anspruch seines Vorhabens tatsächlich einlöst. Festzuhalten ist, dass er in seiner Einleitung Grundzüge einer Fiktions- und Darstellungstheorie across media formuliert, denen die Rezeption seines Ansatzes nur in Teilen gerecht geworden ist, und zwar gerade auch im Rahmen von Beiträgen, die in kritischer Auseinandersetzung mit Waltons weitem, darstellungstheoretisch verankerten Konzept ganz dezidiert auf eine transmedial ausgerichtete Fiktionalitätstheorie zielen (oder auch einen Überblick zu diesbezüglichen Entwicklungen innerhalb der Fiktionsforschung geben wollen). Vor diesem Hintergrund sind der Titel und das Selbstverständnis des vorliegenden Bandes zu sehen, der ganz bewusst den Aspekt des Künste- und Medienvergleichs in den Mittelpunkt stellt und auf dieser Basis einen Beitrag zu einer ‚transmedialen Fiktionalitätstheorie‘ zu leisten sucht. Der Band nutzt mithin – in dieser Hinsicht durchaus im Sinne der Ausführungen Waltons – eine doppelte Ziel- und Blickrichtung für die transmediale Arbeit am Begriff der Fiktion. Dabei nimmt er allerdings eine Umgewichtung vor. Sicherlich geht es transmedial konzipierten Ansätzen zunächst einmal um Gemeinsamkeiten unterschiedlicher Medien, die es – ausgehend von einem gewissen Abstraktionsniveau – überhaupt erst erlauben, eine transmediale Relevanz der je einschlägigen Phänomene, Kategorien oder Konzepte zu konstruieren.35 Gleichzeitig aber erlaubt es eine transmedial ausgerichtete Forschungsper-

|| 33 Ebd. 34 Ebd. 35 Der Begriff des Konstruierens ist hier mit Bedacht gewählt: Das transmediale Moment bestimmter Phänomene, Kategorien und Konzepte liegt in erheblichem Maße im Auge des Betrachters, ist insofern an ein gewisses Abstraktionsniveau gebunden und wird von hier aus konstruiert. Dies ergibt sich aus der Sache selbst: Für die Annahme bestimmter Phänomene als transmedial relevante – und hierin liegt eine Verbindungslinie zur Prototypentheorie – erweist sich „the notion of similarity“ (Taylor) und d.h. ein „skalierbarer und notwendig subjektiver Begriff“ (Hempfer) als zentral: „Things can be more similar, or less similar“, so John R. Taylor schon 1989 im Kontext der Prototypentheorie, wobei es hier nun vor allem auf Taylors Präzisierung dieses Gedankens ankommt: „Things are similar to the extent that a human being, in some context and for some purpose, chooses to regard them as similar“ (zit. werden John R. Taylor, Linguistic Categorization, Oxford: Oxford UP 32003 [1989], 65, sowie Klaus W. Hempfer, Lyrik. Skizze einer systematischen Theorie, Stuttgart: Steiner 2014, 47). Damit ist der Konstruktcharakter der Angelegenheit benannt: Die Dinge sind eben nicht per se mehr oder weniger ähnlich, sondern werden als mehr oder weniger ähnlich wahrgenommen, beobachtet, konstruiert; dies freilich nicht beliebig, sondern auf der Grundlage je gegebener konkreter Phänomene und abhängig vom jeweiligen (u.a. historischen) Kontext und der

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spektive gerade auch, mediale Spezifika und Differenzen in den Blick zu bekommen, meint also nicht einfach eine übergreifende ‚Anwendbarkeit‘, sondern auch ein Ausloten von Differenzen. Die Leistung einer solchen Perspektive liegt mithin gerade darin, dass im Künste- und Medienvergleich Möglichkeiten und Grenzen einzelner Künste und Medien besonders deutlich hervortreten bzw. besonders prägnant herausgearbeitet werden können (nicht zuletzt auch in ihrer Historizität und Wandelbarkeit).36 In diesem Sinne tragen die Beiträge in diesem Band der grundlegenden Funktionslogik transmedial ansetzbarer Phänomene Rechnung, kurz der ‚doppelten Eigenlogik‘ des Transmedialen.37 Werden für transmedial ausgerichtete Forschungsansätze Phänomene relevant, die in verschiedenen Medien und insofern notwendigerweise mit den je eigenen Mitteln des jeweiligen Mediums ausgetragen werden, so deutet dies bereits auf eine Scharnierstelle zwischen medienübergreifenden Fragestellungen und medialer Spezifik hin. Transmedial relevante Phänomene manifestieren sich zwar in verschiedenen medialen Kontexten, sind also nicht für ein bestimmtes Medium spezifisch, wie sich dies in Bezug auf die Kategorie der Fiktionalität – konsensfähig – mindestens in Bezug auf narrative Praktiken ansetzen lässt (fiktionale Erzähltexte, Filme, Graphic Novels usw.). Ihre jeweilige Konkretisierung und Artikulation sind aber gleichwohl stets und notwendigerweise je medienspezifische: Sie sind zwangsläufig an die Medialität und mithin an die Materialität der je gegebenen medialen Konfiguration gebunden, sei diese ein Text, ein Film, eine Theateraufführung, ein Gemälde oder jedwede andere mediale Praxis.38 Wenn von

|| jeweiligen, ihrerseits durch zahlreiche Parameter bestimmten Beobachterdisposition. In diesem Sinne lässt sich ein Konzept transmedialer Phänomene und Konzepte vertreten, das diese ganz dezidiert an je zu spezifizierende sozio-kulturelle Programme und Praxen bindet (vgl. in diesem Kontext auch den Beitrag von Stephan Packard im vorliegenden Band). 36 Im Zuge dessen lassen sich des Weiteren Unterschiede zwischen (je historisch zu verankernden) medialen Spezifika und Differenzen einerseits und generischen Konventionen andererseits schärfen (vgl. diesbezüglich bereits Marie-Laure Ryan, „On the Theoretical Foundations“ [Anm. 10]; in Ausweitung des Gedankens Irina Rajewsky, „Von Erzählern“ [Anm. 10], insb. 37f., sowie dies., Medialität [Anm. 10]). Dabei ist selbstverständlich auch sich wandelnden medialen und generischen Relationsgefügen Rechnung zu tragen. 37 Vgl. zur ‚doppelten Eigenlogik‘ des Transmedialen Irina Rajewsky, Medialität (Anm. 10). 38 Hervorzuheben ist, dass die je konkrete Erscheinungsform transmedial relevanter Phänomene zwar immer auch, aber natürlich nicht allein an die Medialität des jeweiligen Textes, Films usw. gebunden ist. Ins Spiel kommen zahlreiche weitere Faktoren, die von der Historizität und Kontextgebundenheit der konkreten medialen Konfiguration über generische und allgemein kulturelle Konventionen (oder auch normativ gesetzte Regeln) und Darstellungsmuster bis hin zu institutionellen Parametern und unterschiedlichen ökonomisch-politischen bzw. im weitesten Sinne marktoder auch diskursstrategischen Rahmenbedingungen und Distributionsstrukturen reichen. Hinzu kommen individuelle Besonderheiten der medialen Konfiguration, deren je spezifische Verfasstheit immer nur bis zu einem gewissen Grad, und zudem in unterschiedlicher Weise, durch die genannten Faktoren (mit)bestimmt ist.

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transmedial relevanten Phänomenen oder Kategorien die Rede ist, ist also immer mitzubedenken, dass so etwas wie eine ‚Medium-freie‘ Form der Darstellung (oder ganz allgemein der Aisthetisierung) nicht existiert: Wann immer etwas dargestellt bzw. ‚wahrnehmbar gemacht‘ wird, vollzieht sich dies medial und ist mithin an eine jeweilige Medienspezifik gebunden. Gerade hieran knüpft sich die Eigenlogik des Transmedialen, die sich eben insofern als eine doppelte erweist: Transmedial relevante Phänomene treten in vergleichbarer Weise in verschiedenen Medien und insofern gewissermaßen ‚durch Mediengrenzen hindurch‘ in Erscheinung, sind also transmedial verfüg- und realisierbar bzw. beobachtbar; ausgetragen aber werden sie stets und notwendigerweise mit je medienspezifischen Mitteln und Instrumenten und an je spezifische mediale (wie auch generische, sozio-kulturelle usw.) Kontexte gebunden. Eben dies ist der Grund, warum transmedial beobachtbare Phänomene sich Fragen der Medienspezifik nicht verschließen, sondern sich, im Gegenteil, in besonderer Weise dazu eignen, unser Verständnis medialer Spezifika und Differenzen zu schärfen. Sie rufen damit zugleich die herkömmliche – im Kontext der Fiktionalitätsdebatte also die sprach- bzw. literatur- und genauer fiction-zentrierte – Theoriebildung auf den Plan und lassen diese in ihrer eigenen medialen und generischen ‚Verankertheit‘ erkennbar werden; und sie werfen ganz allgemein Fragen nach der (medialen) Reichweite je gegebener fiktionalitätstheoretischer Kategorien und Konzepte auf. Hieran schließen sich weitere Fragen an: Welche Konsequenzen ergeben sich aus narrativ orientierten fiktionalitätstheoretischen Ansätzen für nicht oder nur bedingt als ‚narrativ‘ einzustufende mediale Praktiken, wie etwa die Fotografie und Malerei, soweit diese überhaupt – zumindest in bestimmten Fällen – als fiktional zu beschreiben sind? Und welchen Beitrag können diese und andere Künste oder Medien wiederum zu einer Theorie des Fiktionalen leisten? – Auf Fragen dieser Art versucht der vorliegende Band Antworten zu geben, wirft mit seinen Antworten freilich auch wieder neue Fragen auf. Dabei kristallisieren sich trotz unterschiedlicher Ansätze und Schwerpunktsetzungen der einzelnen Beiträge wichtige Schnittstellen heraus. Die Frage nach dem transmedialen Status des Fiktionsbegriffs lässt sich in die Frage nach medienspezifischen Besonderheiten fiktionaler Praktiken übersetzen. Sie verlangt zugleich nach einem Theoretisierungsversuch, der nicht auf Sprache und Literatur beschränkt bleibt; nicht zufällig wird der Ansatz Waltons in mehreren Beiträgen detailliert diskutiert. Wo Fiktion in den Fokus wissenschaftlicher Betrachtung rückt, ist zudem die Frage nach der Realität nicht weit: Die Differenz von Fakt und Fiktion, die Virulenz dieser Unterscheidung und die Frage nach der Gradierbarkeit von Fiktion/alität beschäftigen gleich mehrere Autorinnen und Autoren. Andere Beiträge fragen nach dem Verhältnis und der wechselseitigen Relevanz von Medialität, Fiktion/alität und Verfahren der Metaisierung. Dabei kommen auch Letztere gerade in ihrer (eigenen) transmedialen Qualität in den Blick, womit die künste- und medienvergleichende Perspektive auf Fiktionalität um eine weitere transmediale Dimension ergänzt wird.

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FRANK ZIPFEL widmet sich in seinem Beitrag der Frage, ob sich Fiktionalität als literaturtheoretisch konnotiertes Konzept auch für nicht-literarische Kunstformen produktiv machen lässt. Er diskutiert insbesondere die Ansätze Kendall L. Waltons und Marie-Laure Ryans. Die Frage nach dem Erkenntnisgewinn, den ein transmediales Konzept von Fiktion bietet, erörtert Zipfel anhand der Kunstform Theater. In etwas anderer Weise nimmt auch J. ALEXANDER BAREIS die fiktionstheoretische Bestimmung Waltons als Ausgangspunkt und stellt sie in einem transmedialen Vergleich auf den Prüfstein. Dabei geht Bareis davon aus, dass sich „[e]ine theoretische Bestimmung der Fiktion […] daran messen lassen“ muss, „wie gut es ihr gelingt, umstrittene Grenzfälle zu handhaben“,39 und diskutiert insofern ganz bewusst randständige Beispiele aus bildender Kunst und Film. BARBARA VENTAROLA kritisiert theoretische Konventionen, die ‚Fiktionalität‘, so ihre These, historisch, kulturell und konzeptuell allzu stark anhand von Phänomenen der europäischen Moderne modellieren. Dem setzt Ventarola ein Fiktionskonzept entgegen, das dezidiert nicht monokulturell oder monosystematisch sein will, sondern darauf angelegt ist, verschiedene Faktoren fiktionaler Kommunikation zu erfassen und im Sinne eines multidimensionalen, prototypentheoretisch fundierten Modells aufeinander zu beziehen. Vorgeschlagen wird von Ventarola „ein flexibles Mehrkomponentenmodell der Fiktion“,40 das ‚Fiktionalität‘ als eine skalierbare Größe verankert. Sie entwickelt ihr Modell vor allem an Beispielen aus Malerei, Grafik und Musik. Setzt sich Ventarola vor allem mit herkömmlichen, sprach- bzw. fiction-basierten Ansätzen auseinander, rückt mit dem Beitrag von JENS SCHRÖTER die medienwissenschaftliche Debatte in den Vordergrund. Ausgehend von Ansätzen Hartmut Winklers und Friedrich Kittlers diskutiert Schröter den Stellenwert, der der Kategorie der Fiktionalität in der Medientheorie zukommt, und spitzt die Fragestellung auf dieser Basis sodann mit Blick auf das Fiktionspotential spezifisch medientechnischer Eigenschaften zu. Er konzentriert sich auf analoge und digitale Bilder und wirft im Zuge seiner Überlegungen damit zugleich grundlegende Fragen im Kontext der analog/ digital-Differenz auf. Die Frage nach der fiktionalen Qualität von Bildern diskutiert auch STEPHAN PACKARD. Am Beispiel des Comics beschäftigt er sich mit Möglichkeiten und Funktionen von Fiktion in ‚erzählenden Bildern‘ und überführt dies in allgemeine fiktionstheoretische Überlegungen im Vergleich der Künste und Medien. Fiktion wird hier als kulturelles Programm verstanden, das Packard, in Anlehnung an Remigius Bunias Konzept der ‚Faltung‘, mit den Begriffen von Reduktion und Redifferenzierung fasst. Ähnlich wie Ventarola, wenngleich in anderer Herleitung, setzt dabei auch Packard die Möglichkeit einer ‚gradierten Fiktionalität‘ an.

|| 39 Zitiert wird der Beitrag von J. Alexander Bareis im vorliegenden Band (S. 45). 40 Zitiert wird der Beitrag von Barbara Ventarola im vorliegenden Band (S. 73).

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Auf Letzteres zielt in wiederum anderer Weise auch HELMUT GALLE. Er nimmt Hybridformen wie Dokudrama und Tatsachenroman, die sich zwischen Fakt und Fiktion positionieren, in den Fokus und diskutiert Fiktionalität vor diesem Hintergrund mit Blick auf Differenzen, die aus der je spezifischen Medialität von Film und (literarischem) Text resultieren. Vor diesem Hintergrund plädiert auch er für ein Instrumentarium, das der „Diversifizierung und Differenzierung der Fiktionalitätsgrade und -formen“ gerecht wird.41 Der Beitrag von ANNE ENDERWITZ widmet sich der Differenz von Fakt und Fiktion und dem Überschuss des Fiktionalen gegenüber der bloßen Analogie. Über die Analyse der ‚geometrischen‘ Erzählung Flatland, erschienen 1884 unter dem Pseudonym ‚A. Square‘, wird gezeigt, inwiefern sich die Virulenz der Unterscheidung von Fakt und Fiktion aus dem Phänomen des Fiktionalen selbst speist. Damit kommt eine Denkfigur zum Tragen, die etwas anders gewendet auch im Zentrum des Aufsatzes von OLIVER JAHRAUS steht. Am Beispiel von Christopher Nolans Inception (USA/UK 2010) zeigt Jahraus seinerseits, wie Spielfilme ihren eigenen fiktionalen Status zum Thema und Fiktion/alität selbst zu einer Funktion der erzählten Geschichte machen können. Das Spiel mit der Fiktion, wie es dieser und andere Filme betreiben, identifiziert Jahraus „als Generalmetapher für das Funktionieren von Film als Medium schlechthin“.42 Das filmische Spiel mit der Fiktion leitet zum Beitrag von JEFF THOSS über, der sich, ausgehend von Mel Brooks’ Blazing Saddles (USA 1974) und sodann in transmedialer Perspektive, bestimmten Formen der Metalepse zuwendet. Die Metalepse wird hier als ‚paradoxes Fiktionssignal‘ gefasst, das vor allem in der Verletzung der Grenze von Fiktion und Wirklichkeit die Fiktion als solche ausstellt. Dabei konzentriert sich Thoss auf Metalepsen, die mit dem jeweiligen Werkende zusammenfallen und dadurch den Rezeptionsrahmen elementar verwirren. Geht es Thoss um ein spezifisches Verfahren der Metaisierung, eben eine bestimmte Variante der Metalepse, überführt WERNER WOLF Überlegungen zum Verhältnis von Fiktion und Metaisierung im abschließenden Beitrag dieses Bandes in ein umfassendes Modell, das verschiedene Spielarten ‚metareferentieller‘ Verfahren – so der einschlägige Begriff Wolfs – berücksichtigt und diesen anhand von Beispielen aus Alltagssprache, Literatur, Malerei und Musik nachgeht. Im Mittelpunkt steht dabei die Frage nach der Relevanz, die der Kategorie ‚Fiktion‘ für das Phänomen der Metareferenz zuzusprechen ist, etwa mit Blick auf die Klassifizierbarkeit bestimmter Verfahren als metareferentielle oder auf eine Binnendifferenzierung metareferentieller Formen. Dies wird ergänzt durch die Frage danach, ob metareferentielle Verfahren ihrerseits als Indikator für das Vorliegen von Fiktion fungieren oder fungieren können. Auf dieser Grundlage gelangt Wolf zu Ergebnissen, die nicht nur das

|| 41 Zitiert wird der Beitrag von Helmut Galle im vorliegenden Band (S. 166). 42 Zitiert wird der Beitrag von Oliver Jahraus im vorliegenden Band (S. 204).

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Verhältnis von ‚Fiktion‘ und ‚Metareferenz‘ schärfen, sondern auch gängige fiktionstheoretische Überlegungen hinterfragen. Die Beiträge dieses Bandes gehen in der Mehrzahl auf eine internationale Tagung zurück, die wir gemeinsam mit Remigius Bunia im Oktober 2011 als „3. Jahrestagung der Friedrich Schlegel Graduiertenschule für Literaturwissenschaftliche Studien“ an der Freien Universität Berlin ausgerichtet haben. Unser Dank gilt in diesem Zusammenhang Susanne Kaiser, Tatiana Korneeva, Andree Michaelis und Anne-Marie Wachs, die maßgeblich zum Gelingen dieser Tagung beigetragen haben. Der durch die Tagung ausgelöste Diskussionsprozess wurde weitergeführt und mündet nun in diesen Band. Danken möchten wir Katharina Bantleon für ihr hervorragendes Endlektorat.

Frank Zipfel

Ein institutionelles Konzept der Fiktion – aus einer transmedialen Perspektive Überlegungen zur Fiktionalität von literarischer Erzählung und theatraler Darstellung Seit Beginn der theoretischen Überlegungen über Literatur spielt das Konzept der Fiktion eine nicht zu unterschätzende Rolle. So lässt sich das literaturtheoretische Nachdenken über Fiktion bis in die Poetik des Aristoteles (Kap. 9) zurückverfolgen. Insbesondere jedoch in der Literaturtheorie der letzten 50 Jahre wird über Fiktion als allgemeines Kennzeichen von Literatur bzw. als spezifisches Merkmal einzelner Literaturgattungen diskutiert. Hinzu kommt, dass Fiktionalität in den letzten Jahrzehnten auch in der allgemeinen Ästhetik als Bestimmungsgröße ästhetischer Darstellung generell sowie in verschiedenen kunsttheoretischen Einzeldisziplinen als besonderes Merkmal bestimmter Kunstformen oder Kunstarten verwendet wird. Unterschiedliche Theorieansätze erläutern dabei auf zum Teil recht divergente Weise, was unter Fiktion oder Fiktionalität1 in Bezug auf Literatur und Kunst verstanden werden soll bzw. welche Funktionen der Fiktionsbegriff in der Literatur- oder Kunsttheorie erfüllen kann. Allerdings bleiben die meisten Überlegungen zur Fiktionalität, auch wenn sie als allgemein kunsttheoretisches Konzept verstanden wird, vorwiegend auf narrative

|| 1 Zum Sprachgebrauch und zur Terminologie: Man spricht in der Literatur- bzw. Kunsttheorie allgemein von Fiktion und meint damit wohl in der Regel das Phänomen der fiktionalen Darstellung in der Literatur und in anderen Künsten. Die betreffenden einzelnen Kunstwerke werden als fiktional bezeichnet, bzw. man spricht von deren Fiktionalität, wenn man sich auf die spezifische Qualität bezieht, eine Fiktion zu sein, unabhängig davon wie diese Qualität theoretisch konzipiert wird. Zudem hat sich im deutschsprachigen Bereich die Unterscheidung zwischen ‚fiktiv‘ und ‚fiktional‘ eingebürgert. ‚Fiktiv‘ ist dabei quasi synonym für ‚erfunden‘, ‚nicht-wirklich‘, und deshalb wird von fiktiven Geschichten, fiktiven Ereignisse oder fiktiven Figuren gesprochen. ‚Fiktional‘ bedeutet so viel wie ‚auf einer Fiktion beruhend‘; als ‚fiktional‘ werden also in der Regel Darstellungen bezeichnet, die sich nicht unmittelbar auf die Realität beziehen. So wird von fiktionalen Erzählungen, fiktionalen Texten oder fiktionalen Kunstwerken gesprochen. Vgl. auch die entsprechenden terminologischen Festlegungen bei Gottfried Gabriel, Zwischen Logik und Literatur. Erkenntnisformen von Dichtung, Philosophie und Wissenschaft, Stuttgart: Metzler 1991, 136; Lutz Rühling, „Fiktionalität und Poetizität“, in: Heinz Ludwig Arnold/Heinrich Detering (Hg.), Grundzüge der Literaturwissenschaft, München: dtv 1996, 25–51, hier: 29; Frank Zipfel, Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität. Analysen zur Fiktion in der Literatur und zum Fiktionsbegriff in der Literaturwissenschaft, Berlin: Schmidt 2001, 19; Andreas Kablitz, „Kunst des Möglichen. Prolegomena zu einer Theorie der Fiktion“, in: Poetica 35 (2003), 251–273, hier: 262. Anzumerken ist, dass Theorien, in welchen die Fiktivität des Dargestellten keine essentielle Rolle spielt, ‚fiktional‘ in einer anderen Weise erläutern müssen.

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Literatur bezogen oder sie nehmen zumindest ihren Ausgangspunkt in diesem Bereich – und dafür gibt es sicherlich auch gute Gründe.2 Da jedoch Fiktionalität inzwischen nicht mehr ausschließlich als literaturtheoretisches Konzept diskutiert wird, sondern zunehmend in anderen Wissenschaftsdisziplinen (wie z.B. in der Filmtheorie3) und in allgemeinen Überlegungen zu einer medienübergreifenden Ästhetik an Bedeutung gewinnt, wird die Frage nach der Anwendbarkeit des Konzeptes auf nicht-literarische Kunstformen bzw. die nach einer adäquaten Bestimmung des Konzepts für nicht (ausschließlich) verbale künstlerische Phänomene immer drängender. Es stellen sich grundsätzliche Fragen wie: Ist es möglich, Fiktion als transmedialen Begriff zu konzeptualisieren? Und wenn ja, wie? Aber auch und vielleicht zuerst: Ist ein transmediales Konzept von Fiktion sinnvoll? Ist ein solches Konzept hilfreich und phänomenadäquat zur Beschreibung und Erläuterung unterschiedlichster künstlerischer Werke, Gattungen oder Darstellungsweisen? Und schließlich: Welcher Erkenntnisgewinn ist mit einem transmedialen Konzept von Fiktion verbunden? Obwohl Fiktion bis dato vordringlich im Kontext literarischer Narration verhandelt wurde, gibt es bereits einige theoretische Überlegungen, die versuchen, Antworten auf die genannten Fragen zu formulieren. Bei einer Durchsicht der verschiedenen Herangehensweisen kann man zwischen zwei grundsätzlich verschiedenen, auf den ersten Blick sogar antagonistischen Ansätzen unterscheiden. Ich werde im Folgenden zuerst versuchen, diese beiden Vorgehensweisen im Hinblick auf ihre Voraussetzungen und Konsequenzen theoretisch zu beschreiben. Vor diesem Hintergrund werde ich dann am konkreten Beispiel der Kunstform Theater untersuchen, ob und inwiefern eine so genannte institutionelle Theorie der Fiktion, so wie sie für literarische Narration formuliert wurde, als Grundlage für ein transmediales Konzept der Fiktionalität dienen kann.

1 Grundsätzliche Überlegungen zu Fiktion als transmedialem Konzept Bevor geklärt werden kann, wie Fiktionalität als transmediales Konzept entwickelt werden könnte, gilt es zwei grundlegendere Fragestellung in den Blick zu nehmen: zum einen die Frage, ob und inwiefern eine solche Konzeptualisierung überhaupt

|| 2 Vgl. Frank Zipfel, Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität (Anm. 1), 56–58; Marie-Laure Ryan, „Fiction, Cognition and Non-Verbal Media“, in: Marina Grishakova/Marie-Laure Ryan (Hg.), Intermediality and Storytelling, Berlin: De Gruyter 2010, 8–26, hier: 23f. 3 Vgl. Jan-Noël Thon, „Fiktionalität in Film- und Medienwissenschaft“, in: Tobias Klauk/Tilmann Köppe (Hg.), Fiktionalität: Ein interdisziplinäres Handbuch, Berlin/Boston: De Gruyter 2014, 443–466.

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sinnvoll ist, und zum anderen die Frage, was ein solches Konzept leisten soll. Denn die Antworten auf die Fragen nach dem Sinn und dem Zweck haben offenbar unmittelbare Auswirkungen auf die Beantwortung der Frage nach dem Wie. Aus den bisherigen Versuchen, ein transmediales Fiktionskonzept zu etablieren, lassen sich zwei grundlegend unterschiedliche Vorgehensweisen herauskristallisieren. Um diese beiden Ansätze auch terminologisch voneinander abzugrenzen, bezeichne ich den einen Ansatz als den optimistischen, den zweiten als den skeptischen. Die optimistische Sichtweise geht von der Annahme aus, dass Fiktionalität grundsätzlich ein transmediales Phänomen darstellt. Dieser Annahme liegt die These zugrunde, dass verschiedene Arten von Kunst- und Medienphänomenen Gemeinsamkeiten aufweisen, die grundlegend für ihr Verständnis sind, und dass eine dieser Gemeinsamkeiten mit dem Begriff der Fiktionalität sinnvoll bezeichnet und mit Hilfe dieses Konzepts adäquat erläutert werden kann. Nach dieser Ansicht sind nichttransmediale Konzepte von Fiktion verfehlt oder zumindest unzureichend und unvollständig. Einen der meist beachteten Versuche, Fiktion als transmediales Konzept zu etablieren, hat Kendall Walton in seinem einflussreichen Buch Mimesis as MakeBelieve bereits 1990 vorgelegt. Walton stellt sich die Aufgabe, die Grundlagen der darstellenden Künste (im weitesten Sinn)4 zu untersuchen: „One cannot help reflecting on and wondering about what they are made of and how they work, the purpose they serve and the means by which they do so, the various ways in which people understand and appreciate them.“5 Die Liste der Phänomene, die Walton unter dem Begriff der representational arts zusammenfasst, entspricht nun dem, was man gemeinhin an dieser Stelle erwarten würde: Romane, Gemälde, Filme, Dramen, Opern, Skulpturen, Fotografien usw. Die allgemeine Bestimmung jedoch, die Walton als grundlegend für all diese Phänomene anbietet, ist durchaus unerwartet und überraschend: Das besondere Merkmal oder Potenzial von darstellenden Kunstwerken besteht nach Walton darin, dass sie als props in games of make-believe6 funktionieren (können). Die Tatsache, dass es die Funktion von bestimmten Kunstwerken ist, als Requisiten in So-Tun-Als-Ob-Spielen zu dienen, bedeutet nach Walton auch, dass diese Kunstwerke den Rezipienten zur Bildung von Vorstellungen (imaginings) einladen, anregen oder auffordern. Diese Vorstellungen werden nach bestimmten Generierungsprinzipien (principles of generation) erzeugt, die ihrerseits als die mit dem Spiel verbundenen Konventionen angesehen werden.7 || 4 Vgl. den Untertitel: „On the Foundations of the Representational Arts“. 5 Kendall L. Walton, Mimesis as Make-Believe. On the Foundations of the Representational Arts, Cambridge: Harvard UP 1990, 2. 6 Vgl. ebd., 11. 7 Vgl. ebd., Kap. 4. Zu Waltons Fiktionstheorie vgl. auch J. Alexander Bareis, „Fiktionen als MakeBelieve“, in: Tobias Klauk/Tilmann Köppe (Hg.), Fiktionalität (Anm. 3), 50–67 und seinen Beitrag im vorliegenden Band.

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Was Walton so als allgemeine und charakterisierende Bestimmung für alle darstellenden Kunstwerke ansetzt – function as props in games of make-believe oder prompt imaginings – würde man wohl eher in einer allgemeinen Bestimmung von Fiktionalität erwarten. Das ist aber für Walton selbst unproblematisch, da er stipuliert, dass Fiktion, Mimesis und Darstellung synonyme und damit extensionsgleiche Begriffe sind; Darstellungen sind grundsätzlich Fiktionen, „only fiction will qualify as ‚representational‘“.8 Konsequenterweise werden nicht-fiktionale Kunstwerke nicht als Darstellungen angesehen. Diese Begriffsfestlegungen haben zur Folge, dass nichtfiktionale Texte wie Biografien, Reportagen oder historiografische Berichte aus dem Bereich der Darstellungen herausfallen, während Gemälde und Fotografien per Definition zur Fiktion erklärt werden. Natürlich wäre einiges über Waltons eigensinnige Begriffsfestlegung und deren Auswirkungen auf seine transmediale Konzeptualisierung von Fiktion zu sagen, aber das würde den Rahmen dieses Artikels sprengen.9 Ich werde jedoch auf einige Aspekte von Waltons Theorie bei der Erläuterung meines eigenen Ansatzes zurückkommen. Für den Moment beschränke ich mich darauf, kurz einige allgemeine Vor- und Nachteile der optimistischen Sichtweise, für die der Waltonsche Ansatz hier als paradigmatisches Beispiel stehen soll, zu erläutern. Der Vorteil eines transmedialen Konzepts von Fiktion ist, dass es einen weiten Bereich von Phänomenen umfasst. Ein solches Konzept könnte uns helfen, Kunstwerke, die sich unterschiedlicher Medien bedienen, in gut begründeter Weise miteinander zu vergleichen und sie durch ihre fiktionsspezifischen Gemeinsamkeiten besser zu verstehen. Erwartbar wären neue Einsichten über die den unterschiedlichen Kunstarten gemeinsamen Kompositions- und/oder Funktionsweisen, die sich aus ihrer Fiktionalität ergeben. Zudem könnte ein solches Konzept dazu führen, mehr über die Funktionen zu erfahren, die Fiktionalität in der Kunst, aber auch im menschlichen Leben allgemein, zu erfüllen vermag. Der Nachteil einer transmedialen Herangehensweise kann darin bestehen, dass ein solches Konzept der Fiktionalität notwendigerweise relativ abstrakt und damit vage bleiben muss. Hier liegt m. E. auch eine Schwäche der Waltonschen Theorie. Walton expliziert Fiktionen als Werke, die Vorstellungen hervorrufen bzw. zu solchen einladen, anregen oder auffordern. Allerdings weigert er sich, genau zu definieren, was er unter imaginings versteht und behauptet, dass der Begriff der Imagination nicht näher erläutert werden müsse und ein intuitives Verständnis ausreiche.10 So bleibt die fiktionsspezifische Gemeinsamkeit von Fotografie und Roman – um willkürlich zwei Phänomene aus Waltons Liste herauszugreifen – weitestgehend im

|| 8 Kendall L. Walton, Mimesis as Make-Believe (Anm. 5), 3. 9 Vgl. z.B. Christopher New, Philosophy of Literature. An Introduction, London: Routledge 1999, Kap. 3; Frank Zipfel, Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität (Anm. 1), 23f.; Marie-Laure Ryan, „Fiction, Cognition and Non-Verbal Media“ (Anm. 2). 10 Vgl. Kendall L. Walton, Mimesis as Make-Believe (Anm. 5), 19.

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Dunkeln. Was es genau heißt, dass Fotografien und Romane zu Vorstellungen einladen, wird nicht erklärt, sondern vorausgesetzt. Das mag nun ein besonderes Problem von Waltons Ausführungen sein, allerdings steht eine transmediale Fiktionstheorie, die als Ausgangspunkt ein transmediales Konzept wählt, immer in der Gefahr, wesentliche medienspezifische Aspekte dessen zu vernachlässigen, was es für ein Kunstwerk bedeutet, in einem bestimmten Medium fiktional zu sein oder als fiktional zu gelten. Die zweite Herangehensweise, die ich als die skeptische bezeichne, unterstreicht nun gerade die Tatsache, dass Kunstwerke, die aus verschiedenen Kunstarten hervorgehen und/oder in verschiedenen Medien beheimatet sind, in aller Regel recht unterschiedliche Merkmale und recht divergente Produktions- und Rezeptionsbedingungen aufweisen. Eine solche Vorgehensweise hinterfragt, ob die in verschiedenen Medienkontexten als fiktional bezeichneten Kunstwerke tatsächlich vergleichbar sind. Dass Phänomene mit derselben Kennzeichnung versehen werden, kann auf vagen Ähnlichkeiten beruhen, wie z.B. einer Familienähnlichkeit – und es gibt bekanntermaßen keine zwei Phänomene, die bei großzügiger Auslegung nicht durch das Konzept der Familienähnlichkeit miteinander verbunden werden können.11 Eine skeptische Herangehensweise wird deshalb erst einmal jede Kunstart für sich betrachten und ermitteln, was Fiktionalität im Rahmen einer spezifischen Kunstform oder eines spezifischen Mediums bedeutet, um dann zu fragen, ob und, wenn ja, was die in unterschiedlichen Bereichen als fiktional bezeichneten Phänomene gemeinsam haben. Beispielhaft für diese skeptische Herangehensweise ist der Artikel „Fiction, Cognition and Non-Verbal Media“12 von Marie-Laure Ryan. Sie geht davon aus, dass der Bereich der sprachlichen Narration als Wiege der inzwischen recht differenzierten Fiktionstheorie anzusehen ist13 und dass wir deren Anwendungsbereich nicht unbedacht ausweiten sollten: Once a theory has been elaborated, there is a strong tendency to expand its domain of application. If narrativity could become an optional feature of fiction, if language could become optional, why not go all the way and look for manifestations of fictionality in non-verbal media of very limited narrativity, such as painting, or even architecture and music? But these applications of the concept of fiction no longer correspond to culturally recognized modes of classifications. The general public cares about fictionality in film and verbal texts; but it is only the theorists who ponder fictionality in painting, architecture and music. The further the notion of

|| 11 Vgl. Harald Fricke, Norm und Abweichung. Eine Philosophie der Literatur, München: Beck 1981, 145f. 12 Marie-Laure Ryan, „Fiction, Cognition and Non-Verbal Media“ (Anm. 2). Siehe auch die deutsche Version „Fiktion, Kognition und nicht verbale Medien“, in: Gertrud Koch/Christiane Voss (Hg.), ‚Es ist, als ob‘. Fiktionalität in Philosophie, Film- und Medienwissenschaft, München: Fink 2009, 69–86. 13 „There is no doubt“, so Ryan, „that language-based narrative is the cradle of the theory of fictionality“ („Fiction, Cognition and Non-Verbal Media“ [Anm. 2], 23).

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fiction is stretched from its original domain of language-based narrative, the more this stretching becomes a purely theoretical game, and the less it corresponds to cognitively meaningful judgments. This is why the zone of undecidability grows, as we extend the notion of fictionality to more and more art forms and to more and more media.14

Ryans Ausführungen machen deutlich, dass nicht nur theoretische, sondern auch praktische Bedenken bei einer Ausweitung des Anwendungsgebiets der Fiktionstheorie zu berücksichtigen sind. Eine solche Ausweitung kann nicht nur zu unfruchtbaren theoretischen Verallgemeinerungen führen, sondern auch zu sinnlosen, weil nicht phänomenadäquaten Bestimmungen. Vielleicht ist Ryan etwas zu skeptisch, was die Abhängigkeit der Fiktionstheorie von sprachlichen und erzählenden Phänomenen betrifft. Es mag historisch gesehen zutreffend sein, dass Fiktionstheorien mit Bezug auf nicht-sprachliche Künste als Erweiterung von sprach- und narrationsbezogenen Fiktionskonzepten entstanden sind, das bedeutet allerdings nicht, dass alle fiktionstheoretischen Ansätze notwendigerweise Ausweitungen einer sprachbezogenen Fiktionstheorie sein müssen. Allerdings machen Ryans Überlegungen uns auf drei wichtige Aspekte aufmerksam, die bei der Konzeption einer transmedialen Fiktionstheorie zu bedenken sind. 1) Jede Art der Fiktionstheorie sollte die spezifische Natur der Kunstform und des Mediums berücksichtigen, für die sie formuliert wird. Eine transmediale Fiktionstheorie müsste deshalb so konzipiert sein, dass sie den Unterschieden zwischen den Kunstformen und Medien, für die sie gelten soll, Rechnung tragen kann, ohne diese Unterschiede in inadäquater Weise zu nivellieren. 2) Es ist möglich, dass es Kunstformen gibt, für deren praktisches und theoretisches Verständnis das Konzept der Fiktion irrelevant, ja irreführend ist. Allgemeine Überlegungen zu mehr oder weniger abstrakten Konzepten, wie dem der Fiktion/Fiktionalität, sollten allerdings m. E. Antworten auf konkrete ästhetische Fragestellungen ermöglichen, z.B. das Verständnis von kulturellen und künstlerischen Phänomenen vertiefen oder eine dieses Verständnis befördernde Einordnung oder Gruppenbildung hervorbringen. Eine Theorie der Fiktion sollte deshalb als heuristisches Hilfsmittel gesehen werden, das uns erlaubt, komplexe kulturelle und künstlerische Interaktionen besser zu verstehen, bzw. das uns Werkzeuge und Kategorien an die Hand gibt, um solche Interaktionen zu analysieren und zu beschreiben.15 Insofern kann es

|| 14 Ebd., 24f. 15 Vgl. hierzu auch die im Ansatz ähnlichen Aussagen von Ryan: „A truly meaningful theory of fiction should be more than an instrument by which to sort out all texts into fiction and non-fiction: it should also tell us something about how we experience these texts, what we do with them, why we consume them, and why it is important to make a distinction between fiction and non-fiction. It should, in other words, have a phenomenological and a cognitive dimension“ (ebd., 8).

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durchaus sein, dass das Konzept der Fiktionalität nicht für alle Kunstformen theoretisch gleichermaßen fruchtbar zu machen ist. Ryan z.B. ist der Ansicht, dass Fiktionalität für Lyrik und Malerei von geringer Bedeutung sei, da ein großer Teil der Gedichte und der Gemälde im Hinblick auf Fiktionalität unbestimmt blieben.16 Es stellt sich in diesem Zusammenhang nicht nur die Frage, ob eine Ausweitung des Fiktionskonzeptes auf solche Bereiche sinnvoll ist, sondern auch ob die Konzeption eines transmedialen Fiktionskonzeptes, das solche Phänomene umfassen will, nicht zu undifferenzierten oder gar verzerrenden Bestimmungen führt. 3) Aufgrund der relativ langen und intensiven internationalen Diskussion über Fiktionalität in Bezug auf sprachlich-narrative Phänomene verfügen wir heute über recht komplexe, detailreiche und differenzierte Theorien zur literarischen Fiktion. Im Gegensatz zu Walton und in Übereinstimmung mit Ryan halte ich es deshalb durchaus für vertretbar und vielversprechend, von den Ergebnissen der sprachlichnarrativen Fiktionstheorie auszugehen und diese nach Bedarf anzupassen und zu verändern, wenn wir ein transmediales Konzept von Fiktion ausarbeiten wollen. Es wird deutlich geworden sein, dass ich persönlich mehr Sympathien für Ryans skeptische Herangehensweise als für Waltons optimistische Sicht hege. Dennoch bin ich davon überzeugt, dass wir Elemente aus beiden Ansätzen brauchen, wenn wir uns um ein transmediales Konzept von Fiktionalität bemühen. So erscheint es mir wenig sinnvoll, beide Herangehensweisen gegeneinander auszuspielen. Vielmehr sollte man überlegen, wie sich die skeptische und die optimistische Sichtweise gegenseitig befruchten, aber auch begrenzen können. Die optimistische Herangehensweise kann uns helfen, aufgeschlossen zu bleiben für die Frage, inwiefern und in welcher Weise ein transmediales Konzept der Fiktion aufschlussreich sein kann für das grundlegende Verständnis unterschiedlicher Kunstformen und für die Analyse von Kunstwerken aus unterschiedlichen Medien im Hinblick auf ihre fiktionsspezifischen Besonderheiten. Die skeptische Sicht wird uns helfen, die Unterschiedlichkeit der verschiedenen Kunstformen und Medien im Blick zu behalten und diese nicht zu übergehen, wenn wir versuchen, eine allgemeine transmediale Theorie der Fiktion zu formulieren. Im Folgenden werde ich aus den in diesem Abschnitt unter Punkt 3 angeführten Gründen von einer elaborierten Theorie der sprachlich-fiktionalen Narration ausgehen, um dann exemplarisch zu untersuchen, wie sich eine solche Theorie auf andere Kunstformen übertragen lässt. Als Beispiel habe ich die Kunstform des Theaters ausgewählt – eine nähere Begründung hierzu erfolgt am Beginn von Abschnitt 3.

|| 16 Zum Verhältnis von Lyrik und Fiktion s. Frank Zipfel, „Lyrik und Fiktion“, in: Dieter Lamping (Hg.), Handbuch Lyrik, Stuttgart: Metzler 2011, 162–166.

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2 Zur Fiktionalität literarischer Narration Unter den verschiedenen Versuchen, zu beschreiben, was Fiktionalität im Hinblick auf literarische Narration bedeutet bzw. wie fiktional-narrative Texte funktionieren, erscheinen mir solche, die man als institutionelle Bestimmung von Fiktion bezeichnen kann, als die vielversprechendsten.17 Eine institutionelle Erklärung literarischer Fiktion geht davon aus, dass die Produktion, Verbreitung und Rezeption von fiktionalen Erzähltexten durch die soziale, kulturelle Praxis Fiktion ermöglicht und geregelt wird. Eine der einflussreichsten Bestimmungen von Fiktion als Institution haben Peter Lamarque und Stein Haugom Olsen in ihrem grundlegenden Buch Truth, Fiction and Literature vorgestellt. Sie beschreiben fiktionale Narration als institutionalisierte Praxis. Das Konzept der institutionalisierten kulturellen Praxis wird dabei wie folgt bestimmt: An institutional practice, as we understand it, is constituted by a set of conventions and concepts which both regulate and define the actions and products involved in the practice. [...] An institution, in the relevant sense, is a rule-governed practice which makes possible certain (institutional) actions which are defined by the rules of the practice and which could not exist as such without those rules.18

Eine solche institutionalisierte Praxis umfasst spezifische Konventionen, die in gewisser Weise als Regeln des fiktionalen Erzählens zu verstehen sind und deren mehr oder weniger bewusste Kenntnis einen adäquaten Umgang mit den entsprechenden Texten ermöglicht. Any attempt to explain how fictive stories are told and enjoyed in a community, without deceit, without mistaken inference, and without inappropriate response, seems inevitably to require reference to co-operative, mutually recognized, conventions.19

|| 17 Vgl. hierzu auch Frank Zipfel, Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität (Anm. 1), Kap. 7; Jan Gertken/ Tilmann Köppe, „Fiktionalität“, in: Simone Winko/Fotis Jannidis/Gerhard Lauer (Hg.), Grenzen der Literatur. Zu Begriff und Phänomen des Literarischen, Berlin: De Gruyter 2009, 228–266; David Gorman, „Theories of Fiction“, in: David Herman/Manfred Jahn/Marie-Laure Ryan (Hg.), Routledge Encyclopedia of Narrative Theory, London: Routledge 2005, 163–167; Tilman Köppe, „Die Institution Fiktionalität“, in: Tobias Klauk/Tilmann Köppe (Hg.), Fiktionalität (Anm. 3), 35–49. Auch der rhetorische Ansatz von Walsh lässt sich wohl auf eine institutionelle Theorie zurückführen (vgl. Richard Walsh, Rhetoric of Fictionality. Narrative Theory and the Idea of Fiction, Columbus: Ohio State UP 2007). Einen anderen Ansatz verfolgt z.B. Remigius Bunia (vgl. Faltungen. Fiktion – Erzählen – Medien, Berlin: Schmidt 2007). 18 Peter Lamarque/Stein H. Olsen, Truth, Fiction, and Literature. A Philosophical Perspective, Oxford: Clarendon 1994, 256. 19 Ebd., 37.

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Fiktionale Narration wird demgemäß als regel- oder konventionsgeleitete Praxis bestimmt, in deren Zentrum bestimmte Arten der Textproduktion (fictive utterance) und bestimmte Formen der Textrezeption (fictive stance) stehen.20 Konkret bedeutet das: Eine Erzählung, die den Konventionen der institutionalisierten Praxis Fiktion entspricht, wird in der Regel von einem Autor mit der spezifischen Intention produziert und veröffentlicht, dass die Leser eine fiktionsspezifische Haltung dazu einnehmen sollen, und zwar aus dem Grund, weil sie diese Absicht des Autors erkennen und sie aufgrund ihrer Kenntnis der Institution Fiktion akzeptieren und umsetzen. Eine solche institutionelle Bestimmung von Fiktion hebt hervor, dass Fiktionalität weder einfach nur mit Hilfe von Autorintentionen erklärbar ist, wie es z.B. Searle in seinem einflussreichen Artikel von 1975 vorschlägt,21 noch ausschließlich als Rezeptionshandlung verstanden werden kann, wie Waltons Theorie nahelegt,22 sondern dass eine umfassende Bestimmung von Fiktionalität sowohl Autorintentionen wie auch Rezeptionshaltungen umfasst und dass beide durch ein komplexes Zusammenspiel von spezifischen Interaktionskonventionen verbunden sind. Die angeführte Bestimmung von Fiktion drückt erst einmal nur den institutionellen Charakter des Fiktionsbegriffs aus. Sie ist insofern unterbestimmt, als fiktionales Erzählen mehr oder weniger zirkulär durch eine fiktionsspezifische Produktionsintention und durch eine fiktionsspezifische Rezeptionshaltung erläutert wird. Da die Produktionsintention beinhaltet, die entsprechende Rezeptionshaltung einzunehmen, gilt es vor allem Letztere zu erklären.23 Die meisten Fiktionstheorien der letzten 30 Jahre erläutern die fiktionsspezifische Rezeptionshaltung als make-believe bzw. unter Bezug auf ein sogenanntes Als-ob-Spiel.24 Aber in den verschiedenen Theorien gibt es recht unterschiedliche Ansichten darüber, was es heißt, dass die Rezipientin dazu eingeladen ist, den Text im Modus des make-believe zu rezipieren bzw. sich auf ein Als-ob-Spiel einzulassen. Ich möchte hier kurz die drei am meisten verbreiteten Ansichten skizzieren.

|| 20 Vgl. ebd., 32. Im englischen Sprachgebrauch werden fictive und fictional quasi synonym verwendet, sodass die Verwendung von fictive hier nichts mit der deutschsprachigen Unterscheidung zwischen ‚fiktiv‘ und ‚fiktional‘ zu tun hat. 21 Vgl. John R. Searle, „The Logical Status of Fictional Discourse“, in: New Literary History 6.2 (1975), 319–332. 22 Vgl. Kendall L. Walton, Mimesis as Make-Believe (Anm. 5). 23 In der dargestellten Fiktionserläuterung steckt zwar auch noch drin, dass es sich bei der Autorintention um eine sogenannte Gricesche Intention handeln soll, aber das ist für den vorliegenden Zusammenhang nicht weiter relevant. 24 Vgl. z.B. Gertrud Koch/Christiane Voss (Hg.), ‚Es ist, als ob‘ (Anm. 12).

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1) Als Walton das Konzept des make-believe als Rezeptionshaltung, zu welcher der Leser fiktionaler Narrationen aufgefordert wird, einführte bzw. populär machte,25 lieferte er zwei verschiedene Erklärungsansätze. Als erstes entwickelte er eine Analogie zwischen Kinderspielen und fiktionalen Werken: Wie Kinder in einem Cowboyund-Indianer-Spiel für die Zeit des Spiels sich so verhalten, als seien einige von ihnen Cowboys und die anderen Indianer, als sei ein entsprechend geformter Ast eine Pistole und als werde, wer sich in der Schusslinie dieser Pistole befindet, bei deren ‚Abfeuern‘ getötet usw., so glauben die Rezipienten in gewisser Weise für die Zeit der Lektüre (an) das, was im Text dargestellt wird. Fiktionale Erzählungen werden so als Requisiten in einem Make-Believe-Spiel angesehen. Wichtig ist hierbei, dass Walton sich nicht nur auf das Konzept des make-believe stützt, sondern dass er zudem das Konzept des Spiels in die Fiktionstheorie einführt. Ein spezifisches Merkmal von Spielen ist in diesem Zusammenhang besonders erwähnenswert, und zwar die Tatsache, dass die Teilnehmer am Spiel dieses insofern ernst nehmen, als sie nach den Spielregeln handeln, sich aber anderseits dessen bewusst sind, dass es sich nur um ein Spiel handelt und dass die Spiel-Welt nicht die wirkliche Welt ist. Waltons zweite Erklärung des make-believe, die er parallel zur KinderspielAnalogie entwickelt, stützt sich auf das Konzept der Vorstellung (imaginings). Fiktionale Narrationen laden die Rezipientin zum Erzeugen bestimmter Vorstellungen ein. Wie bereits erwähnt, hält Walton ein intuitives Verständnis von Vorstellung dabei für ausreichend. Allerdings benutzt er eine spezifische Interpretation von imagining, wenn er davon ausgeht, dass es sich um De-Se-Vorstellungen handelt, um Vorstellungen also, an denen die Rezipientin selbst beteiligt ist.26 So unterstreicht er die Analogie zu Kinderspielen, weil auch dort die Spielteilnehmer nicht nur etwas, sondern etwas über sich selbst imaginieren. In gewisser Weise vertritt Walton die Ansicht, dass der Rezipient qua Imagination in die fiktionale Welt des Textes eintritt.27 2) Die zweite Konzeption der fiktionsspezifischen Rezeptionshaltung benutzt ebenfalls das Konzept des make-believe, aber in einem anderen Verständnis. Beispielhaft hierfür ist die Art und Weise, wie Gregory Currie das Konzept in seinen frühen Schriften zur fiktionalen Narration verwendet hat.28 Currie geht davon aus, dass sich

|| 25 Vgl. zu früheren Verwendungen des Konzepts z.B.: Carlos G. Prado, Making Believe. Philosophical Reflections on Fiction, Westport u.a.: Greenwood Press 1984. 26 Zu den vielen möglichen Interpretationen von Imagination siehe z.B. Leslie Stevenson, „Twelve Conceptions of Imagination“, in: British Journal of Aesthetics 43.3 (2003), 238–259. 27 Zur Kritik zu diesem Aspekt von Waltons Theorie vgl. z.B.: Peter Alward, „Leave Me out of It. De Re, but not De Se. Imaginative Engagement with Fiction“, in: The Journal of Aesthetics and Art Criticism 64.4 (2006), 451–459. 28 Ich beziehe mich hier insbesondere auf Gregory Currie, The Nature of Fiction, Cambridge: Cambridge UP 1990. Currie hat inzwischen seine Ansichten über fiktionales Erzählen geändert; vgl. hierzu ders., Narratives and Narrators. A Philosophy of Stories, Oxford: Oxford UP 2010.

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das make-believe nicht nur auf die dargestellten Ereignisse bezieht, sondern auch auf den Akt des Darstellens. Leserinnen tun nicht nur so, als ob das Dargestellte sich ereignet hätte, sondern ihr So-Tun-Als-Ob beinhaltet auch, dass ihnen die Ereignisse von jemandem berichtet werden, der Kenntnis von den dargestellten Sachverhalten hat. Curries Theorie kann somit als eine Art Bindeglied zwischen analytischer Fiktionstheorie und klassischer Narratologie aufgefasst werden, denn er eröffnet die Möglichkeit eines narratologischen Verständnisses der fiktionsspezifischen Rezeptionshaltung. In der klassischen Narratologie (z.B. bei Gérard Genette und Dorrit Cohn) gilt bekanntlich die Aufspaltung der Produktionsinstanz in den realen Autor einerseits und einen fiktiven Erzähler andererseits als ein essentielles Merkmal fiktionalen Erzählens.29 Das Heranziehen der Autor/Erzähler-Unterscheidung zur Erläuterung von Fiktionalität wird zwar inzwischen von einigen Theoretikern bestritten, besonders von solchen, die davon ausgehen, dass nicht in jeder fiktionalen Erzählung ein fiktiver Erzähler vorhanden ist bzw. dass es nicht in jedem Fall sinnvoll ist, einen fiktiven Erzähler vorauszusetzen.30 Die Frage jedoch, ob und inwiefern es vernünftig ist, von erzählerlosem Erzählen (im Sinne eines fiktionalen Erzählens ohne fiktiven Erzähler) zu sprechen, wird wohl kaum jemals abschließend beantwortet werden können; vieles hängt wohl vom jeweils zugrunde gelegten Konzept des Erzählens und des Erzählers ab.31 Wie dem auch sei, die Dissoziation zwischen realem Autor und fiktivem Erzähler wurde und wird in narratologischen Zusammenhängen als Kennzeichen von Fiktionalität angesehen, und eine solche Bestimmung kann mit Curries Theorie in Einklang gebracht werden.

|| 29 Vgl. Dorrit Cohn, „Signposts of Fictionality. A Narratological Perspective“, in: Poetics Today 11 (1990), 775–804; Gérard Genette, Fiction et diction, Paris: Seuil 1991. 30 Vgl. z.B. Berys Gaut, „The Philosophy of the Movies: Cinematic Narration“, in: Peter Kivy (Hg.), The Blackwell Guide to Aesthetics, Malden: Blackwell 2004, 230–253; Andrew Kania, „Against the Ubiquity of Fictional Narrators“, in: The Journal of Aesthetics and Art Criticism 63.1 (2005), 47–54; Katherine Thomson-Jones, „The Literary Origins of the Cinematic Narrator“, in: British Journal of Aesthetics 47.1 (2007), 76–94; Gregory Currie, Narratives and Narrators (Anm. 28); Tilmann Köppe/ Jan Stühring, „Against Pan-narrator Theories“, in: Journal of Literary Semantics 40.1 (2011), 59–80; Richard Walsh, The Rhetoric of Fictionality. Narrative Theory and the Idea of Fiction, Columbus: Ohio State UP 2007, Kap. 4; Frank Zipfel, „Narratorless Narration? Some Reflections on the Arguments For and Against the Ubiquity of Narrators in Fictional Narration“, in: Dorothee Birke/Tilmann Köppe (Hg.), Author and Narrator: Transdisciplinary Contributions to a Narratological Debate, Berlin/Boston: De Gruyter 2015, 45–80, siehe auch diesen Band insgesamt. 31 Vgl. z.B. George M. Wilson, „Elusive Narrators in Literature and Film“, in: Philosophical Studies 135.1 (2007), 73–88; J. Alexander Bareis, Fiktionales Erzählen. Zur Theorie literarischer Fiktion als Make-Believe, Göteborg: Acta Universitatis Gothoburgensis 2008, Kap. 3.3; Jan-Noël Thon, „Towards a Transmedial Narratology. On Narrators in Contemporary Graphic Novels, Feature Films and Computer Games“, in: Jan Alber/Per Krogh Hansen (Hg.), Beyond Classical Narration. Transmedial and Unnatural Challenges, Berlin/Boston: De Gruyter 2014, 25–56.

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3) Eine dritte Konzeption der fiktionsspezifischen Rezeptionshaltung wurde insbesondere von Theoretikern entwickelt, die das Konzept des make-believe grundsätzlich infrage stellen. Manche Kritiker von Walton behaupten, dass make-believe im Sinne von ‚so tun, als ob man glaube, das Erzählte sei wirklich geschehen‘,32 keine adäquate Beschreibung der fiktionsspezifischen Rezeptionshaltung sei. Das Konzept des make-believe überbetone das Vorgeben von Glauben an die Fiktion im Sinne von Für-Wahr-Halten. Solche Theoretiker beschränken die Erklärung der fiktionsspezifischen Rezeptionshaltung auf den Begriff des Sich-Etwas-Vorstellens und gehen zudem von einem relativ schwachen Begriff von Vorstellen aus. Carroll z.B. spricht von hypothetischen Vorstellungen („suppositional imagination“33). Er und andere umschreiben die fiktionsspezifische Rezeptionshaltung mit Formulierungen wie ‚sich einen Sachverhalt ins Bewusstsein rufen, ohne ihn als behauptet anzusehen‘ oder ‚eine (als nicht behauptet aufgefasste) Proposition erwägen‘ oder einfach mit ‚einen Sachverhalt in Betracht ziehen‘ oder ‚über einen Sachverhalt nachdenken‘.34 Ich lasse die drei unterschiedlichen Interpretationen der fiktionsspezifischen Rezeptionshaltung nebeneinanderstehen und werde nicht versuchen, für die eine oder gegen die andere zu argumentieren.35 In gewisser Weise thematisiert jeder der Ansätze relevante Aspekte und nachvollziehbare Intuitionen, welche einer rezeptionsästhetischen Fiktionstheorie im Hinblick auf verbale Narrationen nützlich sein können. In der angeführten Definition literarisch-fiktionaler Narration werden keine expliziten Voraussetzungen im Hinblick auf die dargestellte Geschichte formuliert. Implizit jedoch werden solche Einschränkungen sehr wohl gemacht, und sei es nur durch die einfache Überlegung, dass es wenig Sinn macht, Leser aufzufordern, so zu tun, als ob eine Erzählung wahr sei, wenn die Erzählung in Bezug auf die reale Welt

|| 32 Vgl. z.B. Umberto Eco, Im Wald der Fiktionen. Sechs Streifzüge durch die Literatur. HarvardVorlesungen (Norton Lectures 1992–1993). Aus dem Italienischen v. Burkhart Kroeber, München/ Wien: Hanser 1994, 103. 33 Noël Carroll, „Fiction, Non-Fiction, and the Film of Presumptive Assertion. A Conceptual Analysis“, in: Richard Allen/Murry Smith (Hg.), Film Theory and Philosophy, Oxford: Clarendon 1997, 173–202, hier: 184. 34 Vgl. u.a. Roger Scruton, Art and Imagination. A Study in the Philosophy of Mind, London: Methuen 1974, sowie ders., „Feeling Fictions“, in: Garry L. Hagberg/Walter Jost (Hg.), A Companion to the Philosophy of Literature. Malden: Wiley-Blackwell 2010, 93–105; Noël Carroll, The Philosophy of Horror or Paradoxes of the Heart, New York: Routledge 1990; Stephen Davies, „Responding Emotionally to Fictions“, in: The Journal of Aesthetics and Art Criticism 67 (2009), 269–284; vgl. John Gibson, Fiction and the Wave of Life, Oxford: Oxford UP 2007, Kap. 5. 35 Zum Dargestellten und einer vierten Möglichkeit vgl. meinen ursprünglich nach diesem Beitrag entstandenen Artikel: „Imagination, fiktive Welten und fiktionale Wahrheit. Zu Theorien fiktionsspezifischer Rezeption von literarischen Texten“, in: Eva-Maria Konrad et al. (Hg.), Fiktion, Wahrheit, Interpretation. Philologische und philosophische Perspektiven, Münster: Mentis 2013, 38–64.

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tatsächlich wahr ist.36 Die daraus ableitbare einfache Einsicht lautet: Fiktionale Texte erzählen in der Regel fiktive Geschichten, und mit fiktiv meine ich erfunden, nichtreal; oder, um es vorsichtiger zu sagen: Fiktionale Texte handeln, wenn auch nur zum Teil, so doch in wesentlicher Weise von etwas, das nicht zu der Welt gehört, die wir als real betrachten. Mir ist durchaus bewusst, dass es in der Literaturwissenschaft und in der Ästhetik allgemein eine starke Tendenz gibt, Fiktivität im Sinne von Erfundensein aus der Konzeptualisierung von Fiktion bzw. Fiktionalität zu eliminieren.37 Allerdings bin ich der Ansicht, dass eine umfassende Fiktionstheorie nicht umhin kann, anzuerkennen, dass einen Text als ‚fiktional‘ zu bezeichnen grundsätzlich auch bedeutet, dass die darin dargestellten Sachverhalte nicht (alle) real sind: „Invented entities and actions are the common stuff of fiction, and for this reason the idea of the nonreferential status of the universe portrayed is part of our standard understanding of fiction.“38 Darüber hinaus glaube ich, dass wir es uns in der Literaturtheorie erlauben sollten, über fiktive Figuren oder fiktive Objekte zu sprechen, da wir uns damit weder auf ein bestimmtes Konzept der Referenz festlegen noch einer bestimmten Ontologie fiktiver Gegenstände verpflichten und wir deshalb den damit verbundenen metaphysischen Treibsand gar nicht erst betreten müssen.39 Aber allen, denen die Rede von fiktiven Objekten ontologisch zu naiv erscheint, seien natürlich kompliziertere Arten der Rede über fiktiven Inhalt zugestanden: z.B. indem man fiktionale Text als nicht-referenziell oder ihre referenzialisierbaren Ausdrücke als nicht erfüllt bezeichnet,40 oder indem man sagt, dass in fiktionalen Texten die Referenzregel außer Kraft oder schlicht irrelevant ist.41 Eine der elegantesten Formulierungen findet sich wohl bei Lamarque/Olsen: „content is fictional just in case what || 36 Vgl. John Gibson, Fiction and the Wave of Life (Anm. 34), 166. 37 Einer der leidenschaftlichsten Vertreter einer solche Fiktionstheorie ist wiederum Walton, z.B. wenn er schreibt: „there is no reason why a work of fiction could not be exclusively about people and things (particulars) that actually exist“ (Mimesis as Make-Believe [Anm. 5], 74). Ähnliche Aussagen finden sich bei anderen Fiktionstheoretikern, vgl. z.B. John Gibson, Fiction and the Wave of Life (Anm. 34), 160; David Davies, Literature & Aesthetics, London: Continuum 2007, 44–48; Jan Gertken/Tilmann Koeppe, „Fiktionalität“ (Anm. 17); Remigius Bunia, Faltungen (Anm. 17), 138; J. Alexander Bareis, Fiktionales Erzählen (Anm. 17), 55–63. Siehe in diesem Zusammenhang auch den Beitrag von J. Alexander Bareis im vorliegenden Band. 38 Jean-Marie Schaeffer, „Fictional vs. Factual Narration“, in: Peter Hühn et al. (Hg.), Handbook of Narratology, Berlin: De Gruyter 2009, 98–114, hier: 105f.; vgl. auch z.B. Peter Lamarque/Stein H. Olsen, Truth, Fiction and Literature (Anm. 18), 51, und Wolf Schmid, Elemente der Narratologie, Berlin: De Gruyter 2008 [2005], 27. 39 Vgl. Frank Zipfel, Fiktion, Fiktivität und Fiktionalität (Anm. 1.), Kap. 3.5; zu einer gegenteiligen Position vgl. z.B. Jan Gertken/Tilmann Köppe, „Fiktionalität“ (Anm. 17), 235f. 40 Vgl. Gottfried Gabriel, Fiktion und Wahrheit. Eine semantische Theorie der Literatur, StuttgartBad Cannstatt: Frommann-Holzboog 1975, Kap. 1 u. 2. 41 Dorrit Cohn, „Narratologische Kennzeichen der Fiktionalität“, in: Sprachkunst 26 (1995), 105–112, hier: 106.

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is true of those objects, events, etc. is dependent on the fictive descriptions which characterize them in the first place“.42 Im Hinblick auf die Ausformulierung einer institutionellen Theorie der Fiktion vertrete ich also die Ansicht, dass es zu den spezifischen Konventionen der institutionalisierten Praxis Fiktion gehört, dass die erzählten Ereignisse (zumindest teilweise) keine realen Geschehnisse denotieren (sollen).43 Die Rede von der Fiktivität des Erzählten erscheint mir allein schon deshalb notwendig, um die fiktiven Aspekte einer Erzählung von den nicht-fiktiven unterscheiden zu können. Denn natürlich ist nicht alles, was in einer fiktionalen Erzählung dargestellt wird, frei erfunden. Fiktive Welten sind, mit Eco gesprochen, „Parasiten“44 der realen Welt. Das Verhältnis zwischen der fiktiven Welt einer Erzählung und der realen Welt gewinnt besonders für die Frage Bedeutung, was in der fiktiven Welt überhaupt der Fall ist. Neben den Sachverhalten, die ausdrücklich in der Erzählung erwähnt werden (explizite fiktionale Wahrheiten), gehören zur fiktiven Welt einer Erzählung auch eine Reihe von Sachverhalten, die aus dem Erzähl-Text nur erschlossen werden können (implizite fiktionale Wahrheiten).45 Die Frage, nach welchen Konventionen implizite fiktionale Wahrheiten ermittelt werden können, ist eine der grundlegenden Fragen jeder Interpretation einer fiktionalen Erzählung und damit auch eines der meist diskutierten Probleme der neueren Fiktionstheorie.46 Grundsätzlich scheint man sich einig darüber zu sein, dass fiktive Welten so nah wie möglich an der realen Welt angesiedelt werden, d.h. dass Leser nicht mehr Abweichungen von der realen Welt annehmen, als der Text ausdrücklich vorschreibt. Diese Konvention der Fiktionsrezeption wird in den Relationsprinzipien ausgedrückt, die in den Werken von Lewis, Ryan, Walton, Lamarque u.a. unter verschiedenen Bezeichnungen (principle of minimal departure, reality principle, mutual belief principle, principle of verisimilitude usw.) festgehalten werden.47 Die Diskussion über eine adäquate Anwendung dieser Prinzipien kann hier nicht im Einzelnen aufgerollt werden. Angemerkt sei jedoch, dass einige kritische Einwände vernachlässigt werden können, wenn man diese Prinzipien nicht als Konventionen zum Import realer Sachverhalte in fiktive Welten betrachtet, sondern als Ausdruck der Konvention, die

|| 42 Vgl. Peter Lamarques/Stein Haugom Olsens, Truth, Fiction and Literature (Anm. 18), 51. 43 Zum Konzept der Denotation vgl. Nelson Goodman/Catherine Z. Elgin, Reconceptions in Philosophy and Other Arts and Sciences, Indianapolis: Hackett 1988, 124. 44 Umberto Eco, Im Wald der Fiktionen (Anm. 32), 112. 45 Vgl. Kendall L. Walton, Mimesis as Make-Believe (Anm. 5), 144–169. 46 Vgl. u.a. Frank Zipfel, Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität (Anm. 1), 84–90 und Tilmann Köppe, „Fiktive Tatsachen“, in: Tobias Klauk/Tilmann Köppe (Hg.), Fiktionalität (Anm. 3), 190–208. 47 Vgl. David Lewis, „Truth in Fiction“, in: American Philosophical Quarterly 15 (1978), 37–46; Marie-Laure Ryan, „Fiction, Non-Factuals, and the Principal of Minimal Departure“, in: Poetics 9 (1980), 403–422; Peter Lamarque, „Reasoning to What is True in Fiction“, in: Argumentation 4 (1990), 333–346; Kendall L. Walton, Mimesis as Make-Believe (Anm. 5), Kap. 4.4.

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Annahme unsinniger Abweichungen der fiktiven Welt von der realen Welt zu vermeiden. Nichtsdestotrotz bleibt die Frage, nach den Konventionen, welche die Inferenz impliziter fiktionaler Wahrheiten steuern, eine äußerst komplexe und schwer beantwortbare. Die konkrete Anwendung der erwähnten Prinzipien wird wohl durch Kriterien der Relevanz48 sowie Normen der Rationalität von Interpretationen49 geleitet. Zudem spielen Fragen der literatur- bzw. gattungsspezifischen Kohärenzerwartungen und Toleranzkonventionen eine wichtige Rolle.50 Zusammenfassend kann man sagen, dass literarisch-fiktionale Narration als institutionalisierte Praxis verstanden werden kann, deren Konventionen auf der Ebene der Autorintention und der Rezeptionshaltung durch eine Art make-believe oder Alsob-Spiel geprägt sind und auf der Ebene des erzählten Inhalts durch die Fiktivität der dargestellten Welt. Anzumerken ist noch, dass eine solche Bestimmung literarisch-fiktionalen Erzählens als eine prototypische Explikation zu verstehen ist. Das bedeutet, dass die Erläuterung fiktionalen Erzählens als institutionalisierte Praxis mit spezifischen Konventionen als Explikation dessen verstanden werden soll, was in der Regel und typischerweise als fiktionales Erzählen angesehen wird. Dieses Konzept bestimmt keine Klasse mit klar definierten Grenzen, sondern berücksichtigt auch Grenzfälle, allerdings nicht als Infragestellungen oder Gegenbeispiele der theoretischen Kernbestimmung, sondern als Phänomene, die in der einen oder anderen Form die Konventionen der institutionalisierten Praxis verletzten oder uminterpretieren und dann eben auch als solche Abweichungen vom Regelfall beschrieben werden können.51

|| 48 Vgl. z.B. Uri Margolin, „The Nature and Functioning of Fiction: Some Recent Views“, in: Canadian Review of Comparative Literature 19 (1992), 101–117, hier: 110; Peter Lamarque, Fictional Points of View, London: Ithaca 1996, 61. 49 Vgl. Tilmann Köppe, „Prinzipien der Interpretation – Prinzipien der Rationalität. Oder: Wie erkundet man fiktionale Welten?“, in: Scientia Poetica 9 (2005), 310–329, hier: 323–326; ders., Literatur und Erkenntnis. Studien zur kognitiven Signifikanz fiktionaler literarischer Werke, Paderborn: Mentis 2008, 70–81. 50 Vgl. zu diesem ganzen Komplex Frank Zipfel, „Fictional Truth and Unreliable Narration“, in: Journal of Literary Theory 5.1 (2011), 109–130, insb. 113–117. 51 Vgl. hierzu auch die Aussage von Peter Lamarques/Stein Haugom Olsens: „We are taking as paradigmatic ‚works of fiction‘ a large class of familiar cases: these include Aesop’s Fables, the Parabole of the Vineyard, The Decameron, The Tempest, Lord of the Rings, Dynasty, ‘The Owl and the Pussy-Cat’, Carry On, Jeeves, King Kong, and so on, and so on. The list of works that are indisputably fictional is enormous and could be added to with little difficulty by those who have given the matter no theoretical consideration. It is worth bearing this in mind because theorists of the subject often begin to worry too early on about cases like In Cold Blood, Dead Certainties, Plato’s Dialogues, Richard III, the Book of Genesis, and so on, which are – and in some cases are deliberately meant to be – problematic. On the whole if you get right about the first list the second list will look after itself (albeit requiring that different things be said about different items of the second list).“ (Truth, Fiction and Literature [Anm. 18], 29f.)

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3 Zur Fiktionalität theatraler Darstellung Es stellt sich nun die Frage, ob und inwiefern, man die für Erzählliteratur erarbeitete Bestimmung von Fiktionalität auf andere Kunstformen übertragen kann. Beispielhaft soll deshalb im Folgenden untersucht werden, ob die Theorie der literarischen Fiktion sich auf die Kunstform des Theaters ausweiten lässt bzw. wie diese Theorie im Hinblick auf die theatrale Darstellung adaptiert werden müsste. Für die Wahl des Beispiels gibt es zwei Gründe: 1) im Gegensatz zum Bereich des Films ist die Fiktionalität der Kunstform Theater bisher in der Fiktionstheorie wenig thematisiert bzw. diskutiert worden;52 2) das Theater scheint in einer gewissen Nähe zur literarischen Fiktion zu stehen, weil Theateraufführungen in der Regel literarische dramatische Texte präsentieren. So könnte man annehmen, die Fiktionalität des Theaters sei mit der Fiktionalität der literarischen Narration vergleichbar oder vielleicht sogar identisch.53 Ganz offensichtlich ist es so, dass die Kunstform Theater auf einer Reihe von spezifischen Konventionen beruht und dass Theater sich wie fiktionales Erzählen als institutionalisierte Praxis bestimmen lässt.54 Was die Frage der Fiktion betrifft, so wird zuweilen von der „doppelten Fiktionalität der theatralen Aufführung“55 gesprochen und zwischen dramatischer Fiktion und theatraler Fiktion unterschieden. Das Konzept der dramatischen Fiktion56 verweist dabei auf den Dramen-Text. Es bezeichnet die Tatsache, dass die dargestellte Geschichte fiktiv ist. Auch hier bedeutet das in aller Regel, dass die dargestellte Geschichte nicht real ist, d.h. dass die im Theatertext und damit auch die auf der Bühne dargestellten Sachverhalte sich nicht tatsächlich ereignet haben. Auch in Gattungen wie dem Historienstück oder dem Geschichtsdrama ist gemeinhin nicht beabsichtigt, Ereignisse zu schildern, die tatsächlich stattgefunden haben, bzw. es ist nicht beabsichtigt, dass sich alle einzel-

|| 52 Vgl. als Vorstufe zu den vorliegenden Überlegungen Frank Zipfel, „Fictionality across Media: Transmedial Concepts of Fictionality“, in: Marie-Laure Ryan/Jan-Noël Thon (Hg.), Storyworlds across Media. Toward a Media-Conscious Narratology. Lincoln/London: U of Nebraska P 2014, 103–124, hier: 111–114. 53 Pfister z.B. spricht von einer Fiktions-Kompetenz, die offensichtlich undifferenziert sowohl auf Texte wie auch auf Theatervorstellungen bezogen ist (vgl. Manfred Pfister, Das Drama, München: Fink 81994 [1977], 61). 54 Vgl. Theresia Birkenhauer, „Zwischen Rede und Sprache, Drama und Text: Überlegungen zur gegenwärtigen Diskussion“, in: Hans-Peter Bayerdörfer (Hg.), Vom Drama zum Theatertext? Tübingen: Niemeyer 2007, 15–23, hier: 22. 55 Theresia Birkenhauer, „Fiktion“, in: Erika Fischer-Lichte/Doris Kolesch/Matthias Warstat (Hg.), Metzler Lexikon Theatertheorie, Stuttgart: Metzler 2005, 107–109, hier: 107. 56 Vgl. zum Konzept der dramatischen Fiktion den Abschnitt 2 in Frank Zipfel, „Fictionality and MakeBelieve in Drama, Theatre and Opera“, in: J. Alexander Bareis/Lene Nordrum (Hg.), How to MakeBelieve. The Fictional Truths of the Representational Arts, Berlin/Boston: De Gruyter 2015, 245–268.

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nen dargestellten Sachverhalte im Sinne einer wahrheitsgetreuen historiografischen Rekonstruktion wie geschildert abgespielt haben. Noch nicht einmal die dezidiert wirklichkeitsorientierten Dokumentardramen wie Die Ermittlung (1965) von Peter Weiss oder In Sachen J. Robert Oppenheimer (1964) von Heinar Kipphardt bilden da eine ernstzunehmende Ausnahme. Das Konzept der theatralen Fiktion hingegen verweist darauf, dass die Darstellung einer Geschichte auf der Bühne eine spezifische Bühnen- oder Inszenierungswelt hervorbringt. Um zu untersuchen, was mit der Rede von der theatralen Fiktion genau gemeint ist, ist es jedoch notwendig die Bedingungen, Möglichkeiten und Konventionen der Kunstform Theater etwas näher zu beleuchten. Eine oft zitierte Minimaldefinition der theatralen Darstellung ist die von Eric Bentley in seinem 1964 zuerst erschienenen The Life of Drama: „A impersonates B while C looks on.“57 Dieser kurze Satz enthält die zwei wichtigsten Bestimmungsmerkmale der Kunstform Theater: erstens die Kopräsenz der Produzenten (bzw. einiger der Produzenten58) und der Rezipienten während der Aufführung des Kunstwerks59 und zweitens die Tatsache, dass Theater in der Regel auf Rollenspiel im weitesten Sinne basiert. So ist die Bestimmung des Theaters von Osipovich von 2006 nicht viel mehr als eine Ausformulierung der Aspekte, die bereits in Bentleys Kurzdefinition enthalten sind. 1) at least one performer and at least one observer in the same room and at the same time, 2) a pretense on the part of the performer that the interaction between performer and observer is somehow other than it actually is, and 3) an awareness on the part of the observer that the pretense is occurring.60

Es gibt natürlich eine ganze Reihe anderer Versuche, die essentiellen Merkmale der institutionalisierten kulturellen Praxis Theater zu bestimmen, z.B. auf der Basis von semiotischen Unterscheidungen,61 als Zusammenspiel von referentieller Abweichung und materieller Ähnlichkeit,62 auf der Grundlage von zeitlicher Verschiebung und

|| 57 Eric Bentley, The Life of Drama, New York: Atheneum 1964, 150; vgl. auch Erika Fischer-Lichte, Semiotik des Theaters. Bd. 1, Tübingen: Narr 1983, 16. 58 Natürlich sind nicht alle Mitglieder des Produktionsteams einer Theaterinszenierung bei der Vorstellung auf der Bühne; in der Regel unsichtbar bleiben Regisseure, Bühnen- und Kostümbildner, Lichtregie, Maskenbildner u.v.a. 59 Vgl. Erika Fischer-Lichte, Theaterwissenschaft. Eine Einführung in die Grundlagen des Faches, Tübingen/Basel: Fracke 2010, 25–32. 60 David Osipovich, „What is a Theatrical Performance?“, in: The Journal of Aesthetics and Art Criticism 64.4 (2006), 461–470, hier: 465. 61 Vgl. Keir Elam, The Semiotics of Theatre and Drama, London: Routledge 2002 [1980]; Erika Fischer-Lichte, Semiotik des Theaters, Bd. 3, Tübingen: Narr 1983. 62 Vgl. Eli Rozik, „Theatrical Conventions: A Semiotic Approach“, in: Semiotica 89.1 (1992), 1–12; ders., „The Homogeneous Nature of the Theatre Medium“, in: Semiotica 168.1 (2008), 169–190;

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dualer Zeitstruktur63 oder als Verbindung von Darstellungshandlungen mit verstehender Teilnahme.64 Es würde im vorliegenden Zusammenhang zu weit führen, diese verschiedenen Ansätze zu diskutieren, es lässt sich jedoch nachweisen, dass Schauspielen bzw. Verkörperung ähnlich wie bei Bentley und Osipovich in der einen oder anderen Art und Weise grundlegend für alle diese Definitionsversuche ist. Deshalb werde ich im Folgenden auf einige Aspekte von Osipovichs Bestimmung näher eingehen, insbesondere da das Zentralelement seiner Definition, nämlich pretense, einen natürlichen Anknüpfungspunkt zum Konzept der Fiktionalität bietet. Osipovich benutzt das Konzept des Vorgebens (pretense) zur Beschreibung dessen, was Schauspieler auf der Bühne tun. Seine Bestimmung hat gegenüber derjenigen Bentleys den Vorteil, das konventionalisierte Verhältnis zwischen Schauspieler und Zuschauer etwas detaillierter zu beschreiben. Zudem versteht Osipovich unter Vorgeben wohl etwas mehr als das einfache Vorgeben des Schauspielers, eine Figur zu verkörpern, auch wenn letzteres offensichtlich im Zentrum der abendländischen Theatertradition steht. So dreht sich die zwischen Theoretikern wie z.B. David Saltz, Noël Carroll oder Joseph Hamilton – im Anschluss an Searles einflussreichen Artikel über fiktionale Rede65 – geführte Diskussion über die Natur theatraler Darstellung um die Frage, ob Schauspieler auf der Bühne vorgeben, illokutionäre Akte zu vollziehen, bzw. darum, inwieweit Schauspieler auf einer Bühne überhaupt etwas vorgeben. Leider werden dabei pretense oder Vorgeben in recht unterschiedlicher Art und Weise verstanden. Konzeptionelle Differenzen ergeben sich z.B. aus der Frage, ob und inwiefern Vorgeben mit Nachahmung (im Sinne der Darbietung von Handlungen, die realweltlichen Vollzügen ähneln) verbunden ist. So kann man die Ansicht vertreten, dass Vorgeben wesentlich ist, für das, was Schauspieler auf der Bühne tun, da sie nicht nur vorgeben, Sprechakte auszuführen, sondern auch andere Handlungen. Allerdings kann man auch sagen, dass es irreführend sei zu behaupten, grundsätzlich gebe der Schauspieler von Othello (in nachahmender Weise) vor, einen Mord zu begehen, weil er letztlich nur irgendeine Handlung vollziehe, die im Rahmen der Konventionen des Spiels als Ermorden gilt – und diese Handlung kann die konkrete Nachahmung von Handlungen wie Erwürgen oder Erstechen umfassen, sie kann jedoch auch aus einem einfachen In-die-HändeKlatschen bestehen, wenn dies das konventionalisierte Zeichen für Mord in einer bestimmten Theater-Produktion ist. Es würde im Rahmen dieses Artikels jedoch zu weit führen, diese Kontroverse aufzuarbeiten.66

|| ders., Fictional Thinking. A Poetic and Rhetoric of Fictional Creativity in Theatre, Brighton: Sussex Academic P 2009. 63 Vgl. Jerzy Limon, „Theatre’s Fifth Dimension. Time and Fictionality“, in: Poetica 41 (2009), 33–54. 64 Vgl. James R. Hamilton, The Art of Theater, Malden: Blackwell 2007. 65 John R. Searle, „The Logical Status of Fictional Discourse“ (Anm. 21). 66 Vgl. u.a. David Saltz, „How to Do Things on Stage“, in: The Journal of Aesthetics and Art Criticism 49.1 (1991); James R. Hamilton, The Art of Theater (Anm. 64); ders., „Replies to Criticism“, in: The

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Festgehalten werden kann allerdings, dass die Intuition, die hinter der Rede vom schauspielerischen Vorgeben steht, etwas Grundlegendes im Hinblick auf theatrale Darstellung einfängt. Zudem kann sie mit einem Konzept verbunden werden, das Walton und andere als zentral für Fiktionalität ansehen: make-believe oder So-TunAls-Ob. So kommt Saltz zu der Behauptung: „To a large extent, actors usurp the role that Walton carves for audiences of artworks.“67 Tatsächlich kann man einen Zusammenhang zwischen Schauspielen und der fiktionsspezifischen Rezeptionshaltung herstellen, allerdings stellt Saltz nach meiner Ansicht mit seiner Aussage den tatsächlichen Sachverhalt auf den Kopf. Um Saltz’ Verdrehung genauer zu beschreiben, müssen wir noch einmal die Vorgehensweise von Walton genauer untersuchen. Walton erläutert die fiktionsspezifische Rezeptionshaltung anhand des Konzepts des make-believe, d.h. mit Hilfe einer Parallelisierung dieser Haltung mit Kinderspielen. Das ist insofern erhellend, als die Aufmerksamkeit darauf gelenkt wird, dass die fiktionsspezifische Haltung wie Spiele von Kindern eine regelgeleitete Praxis darstellt und das Sich-Einlassen auf eine Spielwelt, die nicht die reale Welt ist, umfasst. Allerdings gibt es mindestens zwei grundlegende Unterschiede zwischen Kinderspielen und Fiktionsrezeption: 1) Im Gegensatz zu Rezipienten fiktionaler Werke sind Kinder selbst die Erfinder ihrer Spiele; 2) die Teilnahme an Kinderspielen ist ein aktive, insofern die Kinder physisch die Figuren ihres Spiels verkörpern, während die Fiktionsrezeption ein rein mentaler Vorgang ist und zum Bereich der Imagination gehört.68 Insofern ist Waltons metaphorische Erläuterung der fiktionsspezifischen Rezeptionshaltung dafür verantwortlich, dass ein Zusammenhang zwischen dieser und dem Schauspielen hergestellt wird. Nur weil die fiktionsspezifische Rezeption mit Hilfe von Kinderspielen erklärt wird, die wie Schauspielen ein So-Tun-Als-Ob umfassen, wird eine Ähnlichkeit zwischen der theatralen Darstellung von Figuren und der Fiktionsrezeption wahrgenommen. Allerdings gibt es auch zwischen Kinderspielen und der theatralen Darstellung von Figuren nicht nur Gemeinsamkeiten, sondern auch erhebliche Unterschiede, wie u.a. Hamilton herausgearbeitet hat:69 Kinder erfinden die Inhalte nach und nach während des Spiels, Schauspieler stellen in der Regel vorgefertigte Geschichten dar; die Rollen in Kinderspielen sind im allgemeinen als Figurentypen angelegt (Indianer, Cowboy, Räuber usw., allenfalls noch differenziert als Häuptling, Sheriff, Gangster-

|| Journal of Aesthetic Education 43.3 (2009), 80–106; Aaron Meskin, „Scrutinizing the Art of Theater“, in: The Journal of Aesthetic Education 43.3 (2009), 51–66. Alward liefert eine gute Zusammenfassung der Diskussion in Peter Alward, „Onstage Illocution“, in: The Journal of Aesthetics and Art Criticism 67 (2009), 321–331. 67 David Z. Saltz, „Inficiton and Outfiction. The Role of Fiction in Theatrical Performance“, in: ders./David Krasnern (Hg.), Staging Philosophy. Intersections of Theater, Performance and Philosophy, Ann Arbor: Michigan UP 2006, 203–218, hier: 212. 68 Vgl. R. Mark Sainsbury, Fiction and Fictionalism, London/New York: Routledge 2010, 15. 69 Vgl. James R. Hamilton, The Art of Theater (Anm. 64), 51.

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boss), die Rollen im Theater stellen in der Regel Individuen dar (auch Figuren wir Harpagnon in Molières L’Avare [1668] sind individualisierte Figuren, auch wenn diese Charaktertypen darstellen sollen);70 Kinder spielen für sich selbst, während theatrale Darstellung auf Publikum ausgerichtet ist: „there is no non-audience practice of theatre.“71 Man kann also sagen, dass Schauspieler in eine Art So-TunAls-Ob-Spiel einsteigen, das in der Regel auf vorgefertigten Texten basiert und die Verkörperung von Individuen vor Zuschauern umfasst. Diese Art von So-Tun-Als-Ob ist ein fundamentales Element der kulturellen Praxis Theater, so wie sie sich in der abendländischen Tradition herausgebildet hat, auch wenn es sicherlich Formen von Theater gibt, die nicht in dieser Art und Weise darstellend sind.72 Nach dem, was über die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Kinderspielen und Fiktions-Rezeption einerseits und zwischen Kinderspielen und Schauspielen andererseits gesagt wurde, wird offensichtlich, dass das Konzept des SoTun-Als-Ob, das mit schauspielerischer Darstellung in Verbindung gebracht wird, mit dem Konzept, das zur Erläuterung von fiktionsspezifischer Rezeptionshaltung verwendet wird, nicht identisch ist. Insbesondere kann das So-Tun-Als-Ob von Schauspielern nicht einfach mit ‚Sich-Etwas-Vorstellen‘ erklärt werden (s. die dritte Interpretation der fiktionsspezifischen Rezeptionshaltung in Abschnitt 2). Vorstellungen mögen eine wichtige Komponente des Schauspielens sein, aber Schauspieler müssen in der Regel tatsächliche Handlungen vollziehen, sowohl sprachliche als auch nicht-sprachliche.73 Deshalb sind Aspekte wie Technik, Verkörperung, Präsenz usw. wichtige Elemente des So-Tun-Als-Ob auf dem Theater.74 Interessanter ist im vorliegenden Zusammenhang jedoch die Frage: Was lässt sich fiktionstheoretisch zu den Rezipienten im Theater sagen? Es erscheint durchaus legitim, das Verhalten von Zuschauerinnen während einer Theateraufführung als eine fiktionsspezifische Rezeptionshaltung zu beschreiben, die der gegenüber fiktionalen Erzählungen ähnlich ist. Mutatis mutandis kann man sogar die drei unterschiedlichen Interpretationen des fiktionsspezifischen So-Tun-Als-Ob, die für fiktionale Narration diskutiert werden, auf die Rezeption theatraler Darstellungen übertragen.

|| 70 Ich lasse hier die Theatertraditionen, die allegorische Figuren ausgebildet haben, unberücksichtigt. 71 James R. Hamilton, The Art of Theater (Anm. 64), 51; vgl. hierzu: ders., „Replies to Criticism“ (Anm. 66), 100f. 72 Vgl. hierzu die Diskussion zwischen Aaron Meskin („Scrutinizing the Art of Theatre“ [Anm. 66]) und James R. Hamilton („Replies to Criticism“ [Anm. 66]) über Schauspielen als Darstellungsverhalten. 73 Vgl. Aaron Meskin, „Scrutinizing the Art of Theatre“ (Anm. 66), 55f. 74 Vgl. folgende Beiträge in David Krasner/David Z. Saltz (Hg.), Staging Philosophy. Intersections of Theater, Performance and Philosophy, Ann Arbor: Michigan UP 2006: Robert L. Crease/John Lutterbie, „Technique“, 160–179; Suzanne M. Jaeger, „Embodiment and Presence. The Ontology of Presence Reconsidered“, 122–141; Jon Erickson, „Presence“, 142–159; sowie Eli Rozik, „Acting. The Quintessence of Theatralicality“, in: SubStance 31.2/3 (2002), 110–124.

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Dass die Rezeptionshaltung von Theaterzuschauern mit einem Waltonschen make-believe einhergeht (erste Interpretation), erscheint wohl unmittelbar einsichtig. Sainsbury formuliert diesen Sachverhalt wie folgt: „[…], what we are to makebelieve is not that the things the characters say are true, but that it’s true that they said them (and likewise that they moved and gestured as presented).“75 Zudem wird ähnlich wie im Hinblick auf Erzählungen diskutiert, welche Art von Vorstellungstätigkeit konkret mit der Inszenierungs-Rezeption verbunden ist: Walton wäre sicherlich der Ansicht, dass auch in der Theaterrezeption De-Se-Vorstellungen beteiligt sind, Currie hingegen vertritt die These, dass De-Se-Vorstellungen keine Rolle spielen, weil wir nicht tatsächlich so tun, als ob wir Othello sähen, sondern einen Schauspieler auf der Bühne sehen und eingeladen werden, so zu tun, als ob der Schauspieler Othello sei.76 Die zweite Interpretation der fiktionsspezifischen Haltung, nämlich dass Rezipientinnen so tun, als ob die Geschichte von einem (kenntnisreichen) Erzähler dargestellt wird, erscheint auf den ersten Blick für theatrale Darstellungen wenig brauchbar. Man kann jedoch die These vertreten, dass auch für Theaterinszenierungen theoretisch eine theatrale Darstellungsinstanz postuliert werden kann. Diese Produktionsinstanz würde als verantwortlich für die Art der Darstellung der Geschichte und die Inszenierungswelt konzipiert.77 Allerdings ist eine solche Annahme derselben Kritik ausgesetzt, wie die These, dass für alle literarisch-fiktionalen Erzähltexte ein fiktiver Erzähler anzusetzen sei – und das wohl noch in verschärftem Maße. Schließlich lässt sich auch die dritte Interpretation (hypothetische Vorstellung) auf die Rezeption theatraler Darstellungen anwenden. Der Unterschied zwischen Theater und textueller Narration liegt natürlich darin, dass Text-Rezipientinnen sich das vorstellen sollen, was sie lesen, während Theater-Rezipientinnen eingeladen sind, sich das vorzustellen, was ihnen visuell und akustisch präsentiert wird. Vorstellen, verstanden als einen Sachverhalt in Betracht zu ziehen, kann insofern für Theaterzuschauer gelten, als sie angehalten sind, das, was ihnen auf der Bühne präsentiert wird, als das zu nehmen, als was es präsentiert wird, nämlich in der Regel als Darstellung einer bestimmten Geschichte und der damit verbundenen fiktiven Inszenierungswelt.78 Die Rede von der Inszenierungswelt weist darauf hin, dass, obwohl alle Inszenierungen eines Theaterstücks auf derselben dramatischen Fiktion bzw. fiktiven

|| 75 R. Mark Sainsbury, Fiction and Fictionalism (Anm. 68), 20. 76 Vgl. Gregory Currie, „Visual Fictions“, in: Philosophical Quarterly 41.136 (1991), 129–143, hier: 138f. 77 Vgl. Jan Alber/Monika Fludernik, „Mediacy and Narrative Mediation“, in: Peter Hühn et al. (Hg.), The Living Handbook of Narratology, Hamburg: http://www.lhn.uni-hamburg.de/article/mediacy-andnarrative-mediation, § 25 [Zugriff am 25.07.2016]. 78 Vgl. Frank Zipfel, „Fictionality across Media“ (Anm. 52). Für einen davon abweichenden Ansatz vgl. James R. Hamilton, The Art of Theater (Anm. 64), Kap. 4.

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Dramenwelt beruhen, jede Inszenierung ihre eigene fiktive Welt erschafft.79 Die Inszenierungswelt ist gekennzeichnet durch die zahlreichen Entscheidungen, die getroffen werden müssen, um ein Drama auf die Bühne zu bringen, z.B. die Auswahl der Schauspieler/innen, die Kostüme, das Bühnenbild, das Licht usw. Diese Entscheidungen führen dazu, dass die Inszenierungswelten unterschiedlicher Inszenierungen notwendigerweise nicht miteinander identisch sind. Zudem ist im Prinzip zwischen der Inszenierungswelt und den einzelnen Aufführungswelten einer Inszenierung zu unterscheiden. Da eine Aufführung eine Live-Darbietung ist, ergeben sich zwangsweise Unterschiede zwischen den einzelnen Aufführungen, in dem Sinne, dass die Festlegungen der Inszenierung in verschiedenen Aufführungen unterschiedlich realisiert werden (können).80 Zwar ist die Einzigartigkeit der einzelnen Aufführung ein äußerst interessantes Merkmal der Kunstform Theater – ein Merkmal allerdings da im vorliegenden Zusammenhang nur bedingt relevant erscheint. Eminent relevant ist hingegen die Frage nach den Konventionen, welche die Interpretation der Inszenierungswelt durch den Zuschauer leiten. So wie bei der Interpretation von literarisch-fiktionalen Erzähltexten die Antwort auf die Frage, welche Sachverhalte zu der dargestellten fiktiven Welt gehören oder was als fiktional wahr anzusehen ist, von einem komplexen Zusammenspiel unterschiedlicher Konventionen abhängig ist, wird auch die Beantwortung der Frage danach, was als Sachverhalt in einer Inszenierungswelt anzusehen ist, durch spezifische Konventionen geleitet. Hamilton hat die besonderen Konventionen der Kunstform Theater in seinem so genannten feature-salience-Modell thematisiert.81 Dieses Modell versucht zu erklären, wie unterschiedliche Zuschauerinnen darin übereinstimmen, was in einer Aufführung als fiktiver Sachverhalt gilt. Insofern verstehe ich Hamiltons Überlegungen als Modell, das die spezifischen Konventionen der Inferenz von fiktionalen Wahrheiten für Theaterproduktionen erläutern soll. Das theaterspezifische Problem,

|| 79 Hamilton geht davon, dass unterschiedliche Inszenierungen eines Dramas (im Sinne eines schriftlich fixierten Theatertextes) nicht als theatrale Darstellungen ein und desselben Textes angesehen werden sollen, weil jede Inszenierung wie auch jede Aufführung als ein eigenes und selbstständiges Kunstwerk anzusehen sei (vgl. James R. Hamilton, The Art of Theater [Anm. 64], Kap. 2). Es würde zu weit führen in die Diskussion, die diese These ausgelöst hat, einzusteigen, aber ich würde wie Carroll, Davies, Irving und Thom eher dafür plädieren, dass wir die Idee, dass eine Theaterinszenierung eben eine Inszenierung eines bestimmten Textes ist, nicht über Bord werfen müssen, um Theater als selbstständige Kunstform zu etablieren (vgl. folgende Beiträge in The Journal of Aesthetic Education 43.3 [2009]: Noël Carroll, „Basic Theatrical Understanding. Considerations for James R. Hamilton“, 15–22; David Davies, „Rehearsal and Hamilton’s ‘Ingredients Model’ of Theatrical Performance“, 23–36; Sherri Irving, „Theatrical Perfomance and the Works Performed“, 37–50, sowie Paul Thom, „Works, Pieces, and Objects Performed“, 67–79). 80 Vgl. Erika Fischer-Lichte, Theaterwissenschaft (Anm. 59), 27. Insofern kann man das Verhältnis zwischen Inszenierungswelt und den einzelnen Aufführungswelten als eine type-token-Beziehung ansehen. 81 Vgl. James R. Hamilton, The Art of Theater (Anm. 64), Kap. 6.

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herauszufinden, welche Merkmale einer Inszenierung als relevant für die Inszenierungswelt anzusehen sind und welche nicht, entspringt aus der Tatsache, dass in einer Theaterproduktion ikonische und nicht-ikonischen Elementen miteinander verbunden werden.82 Deshalb hängt die Antwort auf die Frage, was in welcher Weise als relevantes Merkmal einer bestimmten Inszenierung angesehen wird, von Konventionen auf unterschiedlichen Abstraktionsebenen ab: die (kulturell und historisch variablen) Konventionen der allgemeinen Theaterpraxis, die spezifischen Konventionen einer konkreten Theaterform oder eines bestimmten Inszenierungsstils und schließlich die Regeln, die innerhalb einer einzelnen Inszenierung aufgestellt werden. So werden Darstellungstechniken, die nur dazu da sind, visuelle oder akustische Grenzen zu überwinden (besondere Sprechweise, besonderes Make-up) bei der Interpretation der Inszenierungswelt in aller Regel ignoriert. Ebenso ist die Tatsache, dass Figuren in Versen (z.B. in Alexandrinern) sprechen, in der Regel keine fiktionale Wahrheit in der fiktiven Welt. Und Monologe werden nicht als psychologisch sonderbares Verhalten interpretiert, das Selbstgespräche in der Realität in aller Regel darstellen.83

4 Schlussbemerkungen Durch die fiktionsbezogene Untersuchung der Kunstform Theater im vorigen Abschnitt haben sich eine Reihe von Gemeinsamkeiten zwischen literarisch-fiktionalem Erzählen und theatraler Darstellung herausarbeiten lassen. Diese Gemeinsamkeiten beruhen hauptsächlich darauf, dass beide Phänomene sich in sinnvoller Weise als institutionalisierte kulturelle Praxis beschreiben lassen. Diese Praxis umfasst in beiden Fällen die folgenden Konventionen: die entsprechenden Kunstwerke werden mit der Intention produziert, dass sie in der Haltung des So-Tun-Als-Ob rezipiert werden sollen, Rezipienten nehmen in der Regel aus diesem Grund diese fiktionsspezifische Haltung ein, es wird eine fiktive Geschichte dargestellt und damit eine fiktive Welt impliziert. Auf dieser eher abstrakten Ebene sind literarisch-fiktionales Erzählen und theatrales Darstellen durchaus vergleichbar, und insofern macht es Sinn, von der Institution der literarisch-narrativen Fiktion einerseits und von der Institution der theatralen Fiktion andererseits zu sprechen. Man kann sogar so weit gehen, zu sagen, dass eine Besonderheit der theatralen Darstellung darin besteht, dass das Objekt, dem der Rezipient mit einer Haltung des So-Tun-Als-Ob begegnet,

|| 82 Vgl. Eli Rozik, „Acting. The Quintessence of Theatralicality“ (Anm. 74), 116. 83 Vgl zu diesen und weiteren Beispielen: Eli Rozik, „Theatrical Conventions: A Semiotic Approach“ (Anm. 62), 11; ders., „Acting. The Quintessence of Theatricality“ (Anm. 74), 116; James R. Hamilton, The Art of Theater (Anm. 64), Teil 3.

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selbst durch ein So-Tun-Als-Ob-Spiel generiert wird.84 Die Konventionen der institutionalisierten Praxis Theater wären dann sowohl auf der Rezeptions- als auch auf der Produktionsseite durch ein Make-Believe-Spiel gekennzeichnet. In dieser Art und Weise könnte man die optimistische Sichtweise auf die Bedeutung des (transmedialen) Konzepts des Fiktionalen für die Darstellungsform Theater formulieren. Aus einer skeptischeren Perspektive müssen wir jedoch die Unterschiede zwischen den beiden institutionalisierten Praktiken und die Probleme, die mit ihrer Parallelisierung einhergehen, hervorheben. Bedeutende Unterschiede zeigen sich in der konkreten Ausformung der einzelnen Aspekte der Fiktionalität. Die Konventionen für die Interpretation bestimmter Darstellungen als fiktive Sachverhalte sind teilweise unterschiedlich und das in erheblichem Maße. Auch die konkrete Ausformung dessen, was in der Theorie der Fiktion als Vorstellungsbildung im Zusammenhang mit dem So-Tun-Als-Ob bezeichnet wird, ist wohl verschieden. Die Frage, wie Sich-Etwas-Vorstellen, während man einen Text liest, von Sich-Etwas-Vorstellen, während man sieht und hört, was auf einer Bühne passiert, unterscheidet, wäre wohl genauer zu untersuchen. Was die Parallelisierung der allgemeinen fiktionsspezifischen Rezeptionshaltung mit Aspekten des theatralen Produktionsprozesses, insbesondere der Darstellung von Figuren durch Schauspieler betrifft, muss das Fazit wohl noch etwas kritischer ausfallen. Das Konzept des make-believe, das verwendet wird, um die theatrale Darstellung zu beschreiben, ist von dem Konzept des make-believe, das die fiktionsspezifische Rezeptionshaltung erläutern soll, recht verschieden. Die Verbindung, die zwischen der fiktionsspezifischen Rezeptionshaltung und dem Schauspielen hergestellt wird, leitet sich aus der Tatsache ab, dass erstere als Make-Believe-Spiel beschrieben wird. Da dieses So-Tun-Als-Ob aber ein rein mentales ist, wird der Begriff Make-Believe-Spiel in Hinblick auf Rezeptionshaltungen in gewisser Weise metaphorisch verwendet wird. Das So-Tun-Als-Ob auf der Bühne umfasst hingegen nicht nur mentale, sondern auch physische Handlungen, und insofern ist die Bezeichnung make-believe hier durchaus wörtlich zu verstehen. Die benannten Unterschiede zwischen literarisch-narrativer und theatraler Fiktion sind jedoch nicht überraschend; sie entstehen aus den medienspezifischen Produktions- und Rezeptionsbedingungen der in ihren medialen Möglichkeiten eben grundlegend verschiedenen Darstellungsarten: der auf Sprache beschränkten Literatur einerseits und der plurimedialen Theaterkunst andererseits. So kann es auch nicht verwundern, dass die theoretische Diskussion über die wesentlichen Aspekte der Kunstform Theater sich bezeichnenderweise weniger um den Begriff der Fiktionalität kristallisieren als um den der Inszenierung im Sinne von schauspielerischer bzw. allgemein theatraler Darstellung (performance).

|| 84 Vgl. die Aussage von David Z. Saltz: „the object the audience uses as a prop in its game of makebelieve is itself a game of make-believe“ („Infiction and Outfiction“ [Anm. 67], 212).

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In diesem Zusammenhang erscheint mir noch eine andere Beobachtung relevant. Interessanterweise hat sich in der abendländischen Tradition keine Institution des faktualen Theaters herausgebildet, eines Theaters also, das Realitätsdarstellung im engeren Sinne intendiert und von den Zuschauerinnen erwartet und verlangt, dass sie das auf der Bühne Dargestellte als Vermittlung von tatsächlichen Sachverhalten ansehen sollen. Es gibt zwar unterschiedliche Formen des Dokumentartheaters, aber sie führen eher eine Randexistenz. Theoretisch lässt sich durchaus eine Institution Theater konzipieren, die sich zur Aufgabe setzt, reale Ereignisse darzustellen. Praktisch jedoch hat sich keine institutionalisierte Praxis herausgebildet, die reale Ereignisse mit den Mitteln theatraler Darstellung präsentiert. Über die Gründe, warum es eine solche Institution nicht gibt, lässt sich nur spekulieren. Vielleicht ist die theatrale Darstellung einfach eine zu unökonomische Art, Rezipienten über ihnen bisher unbekannte reale Ereignisse zu informieren, was ja in der Regel die Aufgabe und das Ziel faktualer Darstellungen ist. Die Tatsache jedoch, dass es kein faktuales Theater im Sinne einer Institution gibt, mag dazu geführt haben, dass eine Auseinandersetzung mit der Fiktionalität theatraler Darstellungen sich nicht als notwendig erwiesen hat, da das Konzept der Fiktionalität in aller Regel dazu verwendet wird, die grundlegenden Unterschiede zwischen faktualer und fiktionaler Darstellung in einem bestimmten Medium zu erläutern.

J. Alexander Bareis

Randbereiche und Grenzüberschreitungen Zu einer Theorie der Fiktion im Vergleich der Künste Die Fiktionstheorie Kendall L. Waltons ist eines der wenigen aktuell diskutierten theoretischen Modelle, das ausdrücklich alle Formen darstellender Künste (im Sinne des Begriffs der representational arts) mit einbezieht und nicht einer bestimmten Kunstform, einer Gattung, einem Medium, einem Genre oder einer sonstigen Klassifikation von Artefakten bei der theoretischen Bestimmung eine paradigmatische Vormachtstellung einräumt.1 Für eine Diskussion der theoretischen Bestimmung der Fiktion im Vergleich der Künste ist Waltons Theorie deshalb besonders interessant. Walton betrachtet Fiktion als ein Phänomen, das am besten als Familienähnlichkeit von Artefakten beschrieben wird, die sich in ihrer Funktionsweise gleichen. Waltons breiter Ansatz schließt deshalb Bereiche ein, die gemeinhin nicht der Domäne der Fiktion zugerechnet werden, wie z.B. Musik, aber auch Malerei und Fotografie. Walton geht in seinem Modell sogar so weit, dass er Pressefotografien in ihrer grundlegenden Funktionsweise anderen fiktionalen Darstellungsweisen gleichstellt. Eine derart weite Definition ist für Verfechter einer – wie auch immer im Detail ausdifferenzierten – eher ‚traditionellen‘ Begriffsbestimmung problematisch. Die Trennschärfe eines Begriffs zeigt sich am deutlichsten in seinen Randbereichen. Dies gilt auch für theoretische Modelle: Eine theoretische Bestimmung der Fiktion muss sich daran messen lassen, wie gut es ihr gelingt, umstrittene Grenzfälle zu handhaben. In meinem Beitrag möchte ich deshalb einige potentielle Grenzbereiche im Modell Waltons genauer untersuchen: Ist ein Foto im Museum aus fiktionstheoretischer Sicht anders zu beschreiben als ein Foto in der Zeitung? Kann eine Fotografie mehr oder weniger fiktional sein? Gibt es hier im Unterschied zu anderen Kunstobjekten Grade der Fiktionalität, oder beschränkt man sich vielleicht sinnvollerweise besser auf Grade der Fiktivität für Fiktion in allen Medien? Damit verbunden sind eine Reihe terminologischer Fragen, insbesondere die bereits angeklungene Unterscheidung zwischen Fiktionalität und Fiktivität. Was genau ist mit dieser Differenzierung gemeint? Wie lassen sich die Adjektive ‚fiktiv‘ und ‚fiktional‘ sinnvoll zueinander in Beziehung setzen?

|| 1 Vgl. Kendall L. Walton, Mimesis as Make-Believe. On The Foundations of the Representational Arts, Cambridge/London: Harvard UP 1990. Für eine umfassende deutschsprachige Auseinandersetzung mit dem theoretischen Modell in Bezug auf literarisches Erzählen vgl. J. Alexander Bareis, Fiktionales Erzählen. Zur Theorie der literarischen Fiktion als Make-Believe, Göteborg: Acta Univ. Gothoburgensis 2008. Für einen Überblick vgl. ders., „Fiktionen als Make-Believe“, in: Tobias Klauk/Tilmann Köppe (Hg.), Fiktionalität. Ein interdisziplinäres Handbuch, Berlin/Boston: De Gruyter 2014, 50–67. Ich verwende ‚Genre‘, ‚Gattung‘ und ‚Medium‘, ohne eine spezifische Verwendungsweise zu implizieren.

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Um Missverständnissen vorzubeugen, seien deshalb folgende begriffliche Setzungen der weiteren Argumentation vorausgeschickt. Mit den Begriffen ‚fiktiv‘ bzw. ‚Fiktivität‘ ist die Nicht-Wirklichkeit eines (dargestellten) Objekts oder einer Figur bezeichnet; die Begriffe ‚fiktional‘ bzw. ‚Fiktionalität‘ sind davon unabhängig nur für die Zugehörigkeit zu einer als fiktional bezeichneten Kategorie vorgesehen.2 Kurz exemplifiziert bedeutet dies, dass Sherlock Holmes eine fiktive Figur ist, weil es Sherlock Holmes nicht gibt bzw. nicht gegeben hat. Holmes ist Teil einer (aus welchen theoretischen Gründen auch immer) als fiktional klassifizierten Darstellung, und zudem fiktiv. Man kann über den fiktiven Holmes aber auch in nicht-fiktionalen Zusammenhängen sprechen, wie es bspw. in diesem Artikel gerade geschieht. Fiktive Figuren können, müssen aber nicht Teil einer fiktionalen Darstellung sein. Diese Option besteht auch für nicht-fiktive Figuren oder Objekte: Der Mathematiker Carl Friedrich Gauß ist eine historische Persönlichkeit und demzufolge nicht-fiktiv, kann aber Teil einer fiktionalen Darstellung sein. Möglicherweise kann die fiktionale Darstellung von Gauß mehr oder weniger fiktive Elemente enthalten, muss dies aber nicht. Es ist grundsätzlich denkbar, dass eine fiktionale Darstellung von Gauß gänzlich auf eine Fiktivisierung der Figur verzichtet. Das gleiche gilt auch für andere nicht-fiktive Objekte. Eine fiktionale Darstellung von Berlin, Dublin oder Danzig kann, muss aber nicht fiktivisieren: Es kann sich um eine vollständig auf Reales referenzialisierbare Darstellung handeln, oder es kann Erfundenes in die Darstellung des Objekts integriert werden, wie bspw. die Adresse ‚221B Baker Street‘, die es zumindest zur Entstehungszeit der Sherlock-Holmes-Geschichten von Conan Doyle nicht gegeben hat. In dem hier vorgeschlagenen Verständnis ist das Gegenteil von ‚fiktional‘ deshalb nicht ‚faktual‘, sondern ‚nicht-fiktional‘, und das Gegenteil von ‚fiktiv‘ ist ‚nicht-fiktiv‘.3

|| 2 Zur begrifflichen Unterscheidung von ‚fiktiv‘/‚fiktional‘ bzw. ‚Fiktivität‘/‚Fiktionalität‘ vgl. ausf. Frank Zipfel (Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität. Analysen zur Fiktion in der Literatur und zum Fiktionsbegriff in der Literaturwissenschaft, Berlin: Schmidt 2001, 19), der diesbezüglich u.a. bereits auf die Arbeiten Gottfried Gabriels und Lutz Rühlings hinweist; vgl. auch meine eigenen Beiträge zum Thema, in denen ich die terminologische Unterscheidung ebenfalls übernehme, insb. J. Alexander Bareis, „Mimesis der Stimme. Fiktionstheoretische Aspekte einer narratologischen Kategorie“, in: Andreas Blödorn/Daniela Langer/Michael Scheffel (Hg.), Stimme(n) im Text. Narratologische Positionsbestimmungen, Berlin/New York: De Gruyter 2006, 101–122, hier: 110; ders., Fiktionales Erzählen (Anm. 1), insb. 19; ders.: „The Role of Fictionality for Narrative Theory“, in: Lars-Åke Skalin (Hg.), Narrativity, Fictionality, and Literariness. The Narrative Turn and the Study of Literary Fiction. Örebro: Örebro Univ. Library 2008, 155–175, hier: 156. Es ist deshalb unverständlich, dass Andreas Kablitz gerade der deutschsprachigen Debatte „mangelnde Berücksichtigung dieser Differenzierung in der Fiktionstheorie“ vorwirft („Literatur, Fiktion und Erzählung – nebst einem Nachruf auf den Erzähler“, in Irina O. Rajewsky/Ulrike Schneider [Hg.]), Im Zeichen der Fiktion. Aspekte fiktionaler Rede aus historischer und systematischer Sicht. Festschrift für Klaus W. Hempfer zum 65. Geburtstag, Stuttgart: Steiner 2008, 13–44, hier: 15). 3 Damit wende ich mich gegen Ansätze wie denjenigen Andreas Kablitz’ („Literatur, Fiktion und Erzählung“ [Anm. 2], 14), der trotz der von ihm thematisierten Unterscheidung zwischen ‚fiktiv‘ und

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Soviel zur Terminologie. Zunächst noch einige Worte zu den gewählten Beispielen, anhand derer der Frage nachgegangen werden soll, wo genau in unterschiedlichen Medien und Kunstformen die Grenze zwischen Fiktion und Nicht-Fiktion zu verorten ist. Ich habe bewusst eine Reihe von Beispielen aus unterschiedlichen Darstellungsformen gewählt, die auf die eine oder andere Weise Fragen nach der (Nicht-)Fiktivität und (Nicht-)Fiktionalität aktualisieren: Sind die Filme des österreichischen Regisseurs Ulrich Seidl, in denen gewöhnliche Menschen (also keine Schauspieler) sich selbst darstellen, d.h. die gleiche Rolle spielen wie in ihrem wirklichen Leben, Spielfilme oder Dokumentarfilme? Ist Marcel Duchamps Fountain eine Skulptur und damit ein Artefakt, das nicht nur dem Bereich der Kunst, sondern auch dem Bereich der Fiktion zuzurechnen ist, oder ist ein Urinal stets nicht mehr und nicht weniger als ein Urinal – egal ob es im Museum oder auf der Toilette zu finden ist? Haben nur jene Brillo Boxes, die aus der Warhol Factory stammen, Kunstwerkstatus, oder gilt dies auch für die Schachteln, die, wie noch näher auszuführen sein wird, 1968 und 1990 für Ausstellungen in Stockholm und Malmö in Auftrag gegeben, aber nicht von der Warhol Factory ausgeführt wurden? Hängt die Frage nach ihrem Status als Kunstwerk damit zusammen, ob man sie auch berechtigterweise als fiktionale Werke bezeichnen kann? Und hängt ihr Status als (potentielle) fiktionale Werke seinerseits davon ab, ob es sich um die Schachteln handelt, die von Warhol benutzt wurden, oder ob sie z.B. von der Firma Brillo selbst stammen? Hieran anschließend stellen sich übrigens auch Fragen ganz handfester Natur: Sind die nachgebauten Schachteln, die in Stockholm 1968 gezeigt wurden, Originale? Und was gilt für die Schachteln, die in 1990 in Malmö hergestellt wurden? Insbesondere wenn es um den Verkaufswert dieser Varianten der Schachteln geht, rückt die Frage nach dem Status der Objekte in den Vordergrund – und entscheidet über beträchtliche Summen.4 Anhand der angesprochenen Kunstwerke, mittels umstrittener Randbereiche und bewusster Grenzüberschreitungen in unterschiedlichen Kunstgattungen werde ich im Folgenden versuchen, einige grundlegende Fragestellungen einer Fiktionstheorie im Vergleich der Künste aus Sichtweise des Make-Believe-Modells Kendall Waltons zu beantworten. Zu diesem Zweck werde ich zunächst eine Einführung in das theoretische Modell Waltons voranstellen. Im Anschluss daran wende ich mich dem Bereich der Fotografie und der Bildkunst zu, danach dem Bereich der sog. Readymades und abschließend dem Bereich des Spiel- und Dokumentarfilms.

|| ‚fiktional‘ (mit den entsprechenden Gegensätzen ‚faktisch‘ und ‚faktual‘), dennoch ‚faktual‘ als Gegenteil von ‚fiktional‘ verwendet. Hiermit ist dann ex negativo wiederum Erfundenheit als Voraussetzung für Fiktionalität impliziert. Sehr viel sinnvoller scheint mir deshalb der Begriff ‚nicht-fiktional‘ als Gegensatz von ‚fiktional‘. 4 Darüber hinaus spielt hierbei die Frage nach dem Werkstatus eine entscheidende Rolle, die hier allerdings nicht berücksichtigt werden kann.

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1 Fiktion als Make-Believe Kendall Waltons Theorie der Fiktion ist, vereinfacht ausgedrückt, funktional und nicht objektbezogen. Es ist in erster Linie die Funktion eines Objektes, und nicht dessen spezifische Beschaffenheit, die für das Zustandekommen des Phänomens Fiktion in der Sichtweise Waltons entscheidend ist. Dieser Umstand ist von größerer Bedeutung als der erste Augenschein vermuten lässt, und meines Erachtens wiederholter Anlass für Fehlinterpretationen des theoretischen Modells. Aufgrund seines funktionalen Charakters steht Waltons Modell nämlich einem intuitiven Verständnis des Fiktionsbegriffs, wie er sich im momentanen umgangssprachlichen, aber auch in vielen wissenschaftlichen Verständnisweisen manifestiert, diametral entgegen. Oftmals wird die Frage nach der Fiktionalität einer Darstellung kausal damit verbunden, ob einem dargestellten Objekt die Eigenschaft ‚Fiktivität‘ zugesprochen wird oder nicht. Fiktionalität wird also über den Umweg der Fiktivität als eine Objekteigenschaft betrachtet, die der Darstellung insgesamt anhaftet. Vereinfacht ausgedrückt ist der Gedankengang der Folgende: Die Fiktivität der Gegenstände, die dargestellt werden, ist ursächlich dafür verantwortlich, dass die Darstellung insgesamt als ‚fiktional‘ eingestuft wird, während Darstellungen ohne fiktive Gegenstände als nicht-fiktional kategorisiert werden.5 Darstellungen, die nur von fiktiven Gegenständen handeln, sind in dieser Sichtweise notwendigerweise als fiktional zu kategorisieren, und zwar aufgrund der Fiktivität der dargestellten Gegenstände. Gleichwohl stößt eine solche Sichtweise relativ rasch an ihre Grenzen. Was als wirklich bzw. nicht erfunden gilt, ist keinesfalls eine absolute und konstante Größe. Wirklichkeit, oder genauer gesagt das, was in einem bestimmten Kulturkreis zu einer bestimmten Zeit als Wirklichkeit gilt, ist nicht stabil, sondern unterliegt sowohl diachronen als auch asynchronen (oftmals soziokulturellen) Veränderungen. Demzufolge kann ein identisches Artefakt einmal als fiktional eingestuft werden, weil in der aktuellen soziokulturellen Situation das Dargestellte als fiktiv bewertet wird, jedoch in einer historisch und soziokulturell andersartigen Situation als nichtfiktional bewertet werden, weil das Dargestellte mit der geltenden Sichtweise von Wirklichkeit übereinstimmt. Konkrete Beispiele wären religiöse und mythologische Texte, aber auch mittelalterliche oder frühneuzeitliche Texte, in denen bspw. Hexen vorkommen. Liest man einen solchen Text ohne Wissen über den Entstehungszeitpunkt, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass man dem Text Fiktionalität zuschreibt.

|| 5 Für einen Vergleich des Theoriemodells Waltons mit aktuellen konkurrierenden Modellen vgl. J. Alexander Bareis, Fiktionales Erzählen (Anm. 1). Insb. Frank Zipfel, dessen Monographie von 2001 als Standardwerk der deutschsprachigen Fiktionstheorie gilt, betrachtet die Fiktivität als notwendige Voraussetzung für Fiktion (vgl. Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität [Anm. 2], 167). Fiktivität wird hier als „nicht hintergehbares Faktum für jegliche Theorie der literarischen Fiktion“ bezeichnet (s. in diesem Zusammenhang auch den Beitrag von Frank Zipfel im vorliegenden Band).

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Gleichzeitig ist nicht allein die Vorstellung von Wirklichkeit diachron variabel, sondern auch die Vorstellung davon, welche Technik Wirklichkeit abzubilden vermag. Klassische fotografische Methoden mit Belichtung eines Filmes wurden wahrscheinlich zu gewissen Zeiten eher als eine legitime mechanische Abbildungstechnik von Wirklichkeit betrachtet als moderne digitale Verfahrensweisen, bei denen die Manipulation durch das Bildbearbeitungsprogramm am Computer mittlerweile ein Kinderspiel ist. Damit sei keineswegs impliziert, die klassische mechanische Fotografie sei vor Manipulationen sicher gewesen. Mir geht es hier allein um eine vorherrschende Sichtweise einer potentiellen historischen Rezeptionsgruppe. Die Fiktionstheorie Kendall Waltons ist in dieser Hinsicht den meisten aktuellen Bestimmungen von Fiktionalität diametral entgegengesetzt. Für Walton ist keine Form von Fiktivität, weder das Erfundensein noch die Darstellung von Nicht-Wirklichem, eine notwendige und/oder hinreichende Voraussetzung für Fiktionalität. An dieser Stelle möchte ich auf die oben ausgeführte terminologische Unterscheidung zurückkommen. In Anschluss an Frank Zipfel und Lutz Danneberg verwende ich durchgehend ‚fiktional‘ als kategorische Eigenschaft, die nicht gradierbar ist.6 Entweder ein Text gilt als fiktional oder nicht. Grade von Fiktionalität sind in dieser Sichtweise ausgeschlossen. Davon zu unterscheiden ist die Fiktivität, die sehr wohl graduell unterscheidbar ist. Mit dem Begriff Fiktivität wird die ontologische Eigenschaft von Elementen des Dargestellten beschrieben. Noch einmal am Beispiel Gauß: Eine Romanfigur mit Namen Carl Friedrich Gauß ist stets ‚fiktional‘, weil sie Teil eines als fiktional gekennzeichneten Romans ist; die Ausgestaltung der Figur kann aber unterschiedliche Grade von Fiktivität aufweisen, je nachdem wie sehr der Autor sich an das historische Vorbild gehalten hat. Im Falle der Vermessung der Welt hat Daniel Kehlmann sich in vielerlei Hinsicht an das gehalten, was zu Gauß bekannt ist, jedoch nicht in jeglicher Hinsicht.7 Wie sehr oder wie wenig ein Autor in Bezug auf eine Romanfigur erfindet, ist gradierbar. Eine Figur ‚Gauß‘ in einem Roman ist möglicherweise in unterschiedlichem Maße fiktiv, jedoch als Romanfigur stets Teil einer fiktionalen Darstellung. Die Figur einer fiktionalen Darstellung kann, muss eben aber nicht fiktive Züge aufweisen. Der in einem historiographischen Werk in Erscheinung

|| 6 Vgl. Frank Zipfel (Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität [Anm. 2], 19) und Lutz Danneberg, der Semifiktionalität und Grade der Fiktionalität zurückweist, gleichzeitig aber betont, dass man durchaus mehr oder weniger realistische Darstellungen vergleichen kann, nur eben nicht beim Begriff der Fiktionalität, der kein komparativer Begriff sein kann („Weder Tränen noch Logik: Über die Zugänglichkeit fiktionaler Welten“, in Uta Klein/Katja Mellmann/Steffanie Metzger (Hg.), Heuristiken der Literaturwissenschaft. Einladung zu disziplinexternen Perspektiven auf Literatur. Paderborn: Mentis 2006, 35–83). Vgl. auch Andreas Kablitz, „Literatur, Fiktion und Erzählung“ (Anm. 2), 17f.: „Skalieren lässt sich also das Fiktive, nicht aber das Fiktionale.“ Vgl. dagegen die Beiträge von Barbara Ventarola, Stephan Packard und Helmut Galle im vorliegenden Band. 7 Vgl. die Dokumentationen in Gunther Nickel (Hg.), Daniel Kehlmanns ‚Die Vermessung der Welt‘. Materialien, Dokumente, Interpretationen, Reinbek: Rowohlt 2008.

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tretende Gauß hingegen ist nicht Teil einer fiktionalen Darstellung. Er kann eben nicht fiktive Züge aufweisen, sondern allenfalls Fehler. Wenn ein Autor historiographischer Literatur den Anspruch erhebt, die Wirklichkeit (oder die wirkliche Vergangenheit) zu beschreiben, dann fällt im Gegensatz zur fiktionalen Darstellung die Möglichkeit der Fiktivität weg. Versucht man aber aus diesem Unterschied heraus das Spezifische der Fiktionalität abzuleiten, erreicht man bestenfalls eine Bestimmung ex negativo – man bestimmt, was Fiktion nicht ist, und nicht, was Fiktion ist. In Waltons theoretischem Modell ist Fiktivität weder hinreichende noch notwendige Voraussetzung für Fiktion, sondern lediglich eine Option. Für Walton ist ein Roman auch dann ein fiktionales Werk, wenn alle darin enthaltenen Propositionen wahr sind und alles darin Dargestellte auf die Wirklichkeit referiert: „But there is no reason why a work of fiction could not be exclusively about people and things (particulars) that actually exist.“8 Grundsätzlich stellt es in Waltons Modell demnach keinen Widerspruch dar, wenn ein als fiktional kategorisiertes Artefakt keinerlei Fiktivität aufweist. Die Funktionsweise eines solchen Artefakts kann dennoch eine fiktionale sein. Das für Walton entscheidende Merkmal von Fiktion liegt also nicht im Objekt selbst, sondern im Umgang mit diesem begründet. Wenn es die Funktion einer Darstellung ist, Vorstellungen vorzuschreiben und mit der Darstellung auf entsprechende Weise umgegangen wird, dann entsteht dabei das Phänomen der Fiktion. Die Objekte selbst sind lediglich Requisiten (props) für diesen speziellen Umgang mit den Artefakten, und der ontologische Status des Dargestellten ist hierbei optional. Artefakte, deren Umgang das Phänomen Fiktion hervorrufen, können Fiktives darstellen, müssen dies aber nicht. An dieser Stelle sollte darauf hingewiesen werden, dass das theoretische Modell Waltons aus Sichtweise spezifischer Einzeldisziplinen durchaus ergänzungsbedürftig ist. Aus literaturwissenschaftlicher Perspektive habe ich vorgeschlagen, die Make-

|| 8 Kendall L. Walton, Mimesis as Make-Believe (Anm. 1), 74. Eine gegenteilige Position vertritt Frank Zipfel (Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität [Anm. 2]). Vgl. auch Lutz Danneberg („Weder Tränen noch Logik“ [Anm. 6], 49f.), der als Gedankenexperiment einen „800 Seiten dicken Roman mit zahllosen Einzelheiten“ mit Entsprechungen in der „von ihnen ausgezeichneten realen Welt“ heranzieht und folgert, dass „doch keine Übereinstimmung der Darstellungsgesamtheit mit der als real ausgezeichneten Welt […] für die Klassifikation als nicht-fiktional hinreichend [ist]. A fortiori kann das auch nicht für irgendeinen sinnvollen Bestandteil einer als fiktional klassifizierten Darstellungsgesamtheit gelten“. Deutlich wird hier meines Erachtens einmal mehr, dass die Bestimmung ex negativo zu kurz greift, denn wenn es zumindest hypothetisch Romane geben kann, in denen nichts Erfundenes vorkommt und in denen alle Propositionen auch in Bezug auf die Wirklichkeit als wahr gelten können, dann kann eine Definition, die Fiktionalität durch Fiktivität bestimmt, für diesen Fall keinen Erklärungsanspruch erheben. Ob es nun einen oder mehrere solcher Romane tatsächlich gibt, sei dahingestellt. Zumindest hypothetisch ist dieser Fall denkbar. Wichtiger ist jedoch, dass wir bei sehr vielen als Roman gekennzeichneten Erzählungen überhaupt nicht wissen können, ob das darin Dargestellte auf Wirkliches referiert und auch außerhalb der Fiktion Wahrheitsanspruch erheben kann.

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Believe-Theorie Waltons als Grundlage für die Definition von literarischer und insbesondere erzählender literarischer Fiktion zu nutzen, sie aber auch zu erweitern, denn Waltons Theorie beantwortet in erster Linie die Frage, wie Fiktion funktioniert. Wann Fiktion zustande kommt, beantwortet Waltons Modell nicht auf eine für einen Literaturwissenschaftler komplett zufriedenstellende Weise. Dies, so scheint mir, dürfte ebenso für eine Reihe anderer Disziplinen gelten. Die theoretische Bestimmung von Fiktion in einer spezifischen Kunstform geht im Rahmen von Waltons Modell vom stets gleichen Ausgangspunkt aus: Fiktion entsteht dadurch, dass ein Objekt Vorstellungen vorschreibt (prescribes imaginings) und dadurch die ‚Mechanik des Generierens‘ (mechanics of generation) ‚fiktionaler Wahrheiten‘ (fictional truths) in Gang gesetzt wird.9 Diese Definition sagt allerdings nichts darüber aus, wann in Zusammenhang mit einer spezifischen Kunstform eine solche Funktionsweise gewöhnlich stattfindet und sinnvollerweise stattfinden soll. Für die übergreifende, philosophische Definition Waltons sind diese Fragen vielleicht weniger interessant. Waltons Absicht ist offensichtlich, diese Möglichkeit auch für ad hoc stattfindende Spiele (z.B. mit Wolkenformationen) offenzuhalten. Aus literatur- oder kunstwissenschaftlicher Perspektive hingegen sind damit die Ansprüche an eine zufriedenstellende Fiktionstheorie noch nicht erreicht. Als Literaturwissenschaftler will man bspw. genau wissen, unter welchen Umständen es zu dieser Teilnahme an einem Make-Believe-Spiel kommt. Die Theorie Waltons muss also um eine pragmatische Komponente erweitert werden. Eine Lösung hierfür bietet folgende Differenzierung: Die Definition von Fiktion als Make-Believe-Spiel im Sinne Waltons ist die Grundlage für die Unterscheidung zwischen Fiktion und Nicht-Fiktion, während die Entscheidung für die Einnahme der fiktionsproduzierenden Make-Believe-Haltung im Rahmen einer institutionellen Fiktionalitätstheorie beschrieben werden kann.10 Im Falle der Literatur wird die Entscheidung im Normalfall über den Paratext gelenkt. Durch diese Sichtweise wird zudem der Intention von Produzenten Rechnung getragen, die im Modell Waltons explizit keine Rolle spielt. Waltons Verzicht auf die Intentionalität als Voraussetzung von Fiktion ist vielfach kritisiert worden.11 Doch wie bei dem Verzicht darauf, Fiktivität als notwendiges und hinreichendes Fiktionskriterium anzuerkennen, schließt Walton Intentionalität ebenso wenig grundsätzlich aus wie Fiktivität – sie kann im Modell Waltons aber eben

|| 9 Für eine lange deutschsprachige Explikation der Mechanik des Generierens, vgl. J. Alexander Bareis, Fiktionales Erzählen (Anm. 1), für eine kurze Version vgl. ders., „Fiktionen als Make-Believe“ (Anm. 1). 10 Als Vertreter einer institutionellen Fiktionalitätstheorie werden häufig Peter Lamarque und Stein Haugom Olsen genannt. Vgl. hierzu Jan Gertken/Tilmann Köppe: „Fiktionalität“, in: Simone Winko/ Fotis Jannis/Gerhard Lauer (Hg.), Grenzen der Literatur. Zu Begriff und Phänomen des Literarischen. Berlin/New York: De Gruyter 2009, 228–266; sowie Tilmann Köppe, „Die Institution Fiktionalität“, in: Tobias Klauk/Tilmann Köppe (Hg.), Fiktionalität. Ein interdisziplinäres Handbuch (Anm. 1), 35–49. 11 Ich habe an anderer Stelle Waltons Motive für das Ausblenden von Intentionalität und die Kritik daran ausführlich diskutiert, vgl. J. Alexander Bareis, Fiktionales Erzählen (Anm. 1), 92.

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nicht als Voraussetzung für Fiktion in allen denkbaren Fällen gelten, sondern ist optional. Betrachtet man hingegen spezifische Fälle, lässt sich durchaus einiges zur Rolle von Intentionalität sagen. Dies gilt für Grenzbereiche der fiktionalen Literatur ebenso wie für die noch zu diskutierenden Fälle in der Kunst, in denen, wie bei den Readymades, Objekte als Requisiten in Make-Believe-Spielen dienen, die gerade nicht für diesen Zweck hergestellt worden sind. Besonders kompliziert wird die Diskussion von Intentionalität in unterschiedlichen Formen der Konzeptkunst, worauf ich aus Platzgründen leider nicht eingehen kann.12 Zusammenfassend lässt sich im Hinblick auf die folgende Diskussion der Grenzbereiche in unterschiedlichen Kunstarten und Darstellungsformen sagen, dass es die Breite des theoretischen Modells von Fiktion als make-believe ermöglicht, auf einer gemeinsamen Grundlage das Phänomen der Fiktion transmedial und im Vergleich der Künste zu betrachten, dass aber die jeweiligen Darstellungsformen – die unterschiedlichen Medien und Kunstformen – eine jeweils spezifische Weiterentwicklung und Spezialisierung des Modells erfordern. Hierzu können im vorliegenden Aufsatz bestenfalls einige erste Überlegungen angestellt werden. Es geht mir allein darum, die grundlegende Möglichkeit der Verwendung eines übergreifenden Ansatzes anhand einiger ausgewählter Kunstwerke beispielhaft zu prüfen. Eine spezifische Weiterentwicklung und Spezialisierung ist Aufgabe der jeweiligen Forschungsdisziplin bzw. der Transmedialitätsforschung.

2 Fotografie, Malerei und Fiktion Als Ausgangspunkt für die folgende Diskussion zur Fotografie als Fiktion dient zunächst ein Kunstwerk, das gerade keine Fotografie ist: das Big Self-Portrait von Chuck Close (vgl. Abb. 1). Dieses Gemälde ist dem amerikanischen Fotorealismus zuzurechnen, der in den 1960er und 1970er Jahren mit Künstlern wie Richard Estes, Ralph Goings oder Tom Blackwell hohe Popularität erreicht hat. Gegenstand der extrem realistischen Gemälde sind oftmals alltägliche Objekte und Interieurs, wie bspw. spiegelnde Schaufensterscheiben (Estes), die Inneneinrichtung amerikanischer Diners (Goings) oder Motorräder (Blackwell). Chuck Close ist bekannt für seine überdimensionalen Portraits. Das Big Self-Portrait hat die Originalmaße von 2,73m Länge und 2,12m Breite.

|| 12 Ein besonders intrikater Fall scheint die Konzeptkunst Dirk Dietrich Hennings zu sein, dessen fiktive Künstlerfiguren faktische Werke ‚geschaffen‘ haben, die letztendlich in der Tate Modern ausgestellt wurden. Weitere hochkomplexe Beispiele diskutiert Regina Wenninger („Fiktionalität in Kunst- und Bildwissenschaften“, in: Tobias Klauk/Tilmann Köppe (Hg.), Fiktionalität. Ein interdisziplinäres Handbuch [Anm. 1], 467–495).

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Abb. 1: Chuck Close, Big Self-Portrait (1967–1968), Walker Art Center, Minneapolis

Walton diskutiert eben dieses Beispiel in seinem grundlegenden Artikel zur Fotografie aus dem Jahre 1984.13 Zunächst einmal stellt er fest, dass eine rein optische Unterscheidung zwischen Werken der Fotografie und der Malerei nicht notwendigerweise stets durchführbar ist. Dies gilt natürlich insbesondere für Gemälde des Fotorealismus. Wie Walton in Bezug auf das Selbstportrait von Close konstatiert, „paintings can be virtually indistinguishable from photographs“.14 Was sich aber sehr wohl un-

|| 13 Vgl. Kendall L. Walton, „Transparent Pictures. On the Nature of Photographic Realism“, in: Critical Inquiry 11 (1984), 246–277 (wiederabgedruckt in: ders., Marvelous Images. On Values and the Arts, Oxford: Oxford UP 2008, 79–109, inkl. eines „Postscript to ‚Transparent Pictures‘ – Clarifications and To Do’s“, 110–116). Zu Waltons These, Fotografien seien transparent, ließe sich einiges sagen, und vieles ist bereits in einschlägigen Publikationen gesagt worden. An dieser Stelle ist eine vertiefte Diskussion jedoch nicht möglich. Wichtige Einwände wurden vorgebracht von Gregory Currie (Image and Mind. Film, Philosophy and Cognitive Science, Cambridge: Cambridge UP 1995) und Noëll Carroll („Critical Study: Kendall L. Walton, Mimesis as Make-Believe“, in: Philosophical Quarterly 45 [1995], 93–99), auf die Walton ausführlich im Anschluss an das „Postscript“ in einer Replik eingeht: „On Pictures and Photographs. Objections Answered“, in: ders., Marvelous Images (Anm. 13), 117–132. 14 Kendall L. Walton, Marvelous Images (Anm. 13), 90.

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terscheiden könne, sei die Reaktion auf die Unterscheidung, wenn man fälschlicherweise davon ausgegangen ist, es handele sich bei einem Gemälde um eine Fotografie: „Our experience of the picture and our attitudes toward it undergo a profound transformation [...].“15 Ohne an dieser Stelle ausreichend auf Waltons zahlreiche Veröffentlichungen zur Fotografie (und auf die umfassende Sekundärliteratur im Anschluss daran) eingehen zu können, sei hier nur festgestellt, dass alle Arten von Bildern, Fotografien ebenso wie Gemälde, für Walton per definitionem Fiktion (in seinem Sinne) sind: „Pictures are fiction by definition (works of fiction, when they are works).“16 Dies bedeutet aber nicht, dass Walton damit den Unterschied zwischen einer Fotografie und einem Gemälde einebnet. Einer der grundlegenden Gedanken seines ursprünglichen Artikels „Transparent Pictures“17 besteht gerade darin, diesen Unterschied herauszuarbeiten und für ein Verständnis unseres Umgangs mit Fotografien zu funktionalisieren. Der Unterschied zwischen Fotografie und Malerei liegt für Walton aber, und dies ist für den hier vorliegenden Zusammenhang entscheidend, gerade nicht in ihrer Fiktionalität begründet. Beide können als Requisit in einem Make-Believe-Spiel fungieren und damit das Phänomen der Fiktion hervorrufen, aber nur fotografische Abbildungen haben darüber hinaus das Vermögen uns ‚mit einer neuen Art des Sehens‘ auszustatten, die es Betrachtern ermöglicht, das abgebildete Objekt tatsächlich zu sehen: „My claim is that we see, quite literally, our dead relatives themselves when we look at photographs of them.“18 Es sei an dieser Stelle noch einmal daran erinnert, dass Waltons Verständnis der Fiktion nicht impliziert, dass das Dargestellte fiktiv ist. Es besteht also kein Widerspruch darin, dass eine Fotografie einerseits im Rahmen eines fiktionsevozierenden Make-Believe-Spiels rezipiert wird und gleichzeitig ein nicht-fiktives Objekt darstellt, welches der Betrachter laut Walton tatsächlich sieht. Zudem wird hier deutlich, dass die Position Waltons nicht eine panfiktionalistische Einebnung jeglicher Unterschiede zwischen Pressefotografie und Kunstfotografie darstellt. Vielmehr handelt es sich um eine Position, die den Zusammenhang von Wirklichkeit mit fotografischer Abbildung stärkt. Wenig ist damit gewonnen, wenn man, wie Lars Blunck, die Position Waltons, Bilder seien Fiktion per definitionem als „gern wiederholten Unsinn“ abtut, ohne sich mit den Prämissen der Theorie auseinanderzusetzen.19 Letztendlich ist es zu kurz ge-

|| 15 Ebd. 16 Kendall L. Walton, Mimesis as Make-Believe (Anm. 1), 351. 17 Vgl. Kendall L. Walton, Transparent Pictures (Anm. 13). 18 Der Unterschied liegt für Walton in der Transparenz von Fotografien, da man ‚durch sie hindurchsehen‘ könne: „Photographs are transparent. We see the world through them“ (Kendall L. Walton, Transparent Pictures [Anm. 13], 86 [alle Hervorhebungen im Original]). 19 Lars Blunck, „Fotografische Wirklichkeiten“, in: ders. (Hg.), Die fotografische Wirklichkeit. Inszenierung – Fiktion – Narration. Bielefeld: transcript 2010, 9–36, hier: 27.

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griffen, wenn man schlichtweg proklamiert‚ wer Bilder per Definition als Fiktion bezeichne, sei von vorne herein disqualifiziert. Will man der Aussage Waltons, dass alle Fotografien im Rahmen seiner Theorie stets Fiktionen seien, und dabei den zugrundeliegenden Prämissen gerecht werden, dann muss man die dahinterliegenden theoretischen Erwägungen ernsthaft untersuchen. Gleichzeitig sollte man sich aber auch der eigenen Prämissen bewusst sein. Das grundlegende Problem dieser und ähnlicher Kritik an der Position Waltons scheint mir, dass man einmal mehr von der Kategorisierung als Fiktion eine notwendige Nicht-Wirklichkeit des Dargestellten ableitet. Dies wird besonders dann deutlich, wenn Blunck anschließend erläutert, eine Sichtweise der Fotografie als Fiktion gehe damit einher, dass somit auch die allabendliche Nachrichtensendung Fiktion sei.20 Entscheidend für Walton ist allein, welche Funktion ein Artefakt erfüllt, also der Umgang mit dem Artefakt. Funktion und Umgang werden jedoch nachhaltig durch die para- und kontextuelle Markierung gesteuert, d.h. wer sich im Museum befindet, geht anders mit (möglicherweise identischen) Objekten um als in anderen Zusammenhängen, die gerade nicht einen Umgang mit dem Objekt nahelegen, der Vorstellungen im Sinne eines Make-Believe-Spiels vorschreibt. In dieser Hinsicht gibt es eine Parallele zu der zuvor geführten Diskussion bezüglich der Anwendbarkeit des Theoriemodells für die Literaturwissenschaft und der Frage, unter welchen Umständen es gewöhnlich dazu kommt, dass einem Artefakt oder Objekt die Funktion zufällt, als Requisit in einem Make-Believe-Spiel verwendet zu werden. Auch im Fall von Bildern, seien es Gemälde oder Fotografien, spielt die paratextuelle Rahmung eine entscheidende Rolle. Ein Beispiel: Bei der Unterscheidung zwischen einer Fotografie, die die Funktion einer ästhetischen Darstellung erfüllt, also bspw. in einem Museum zu sehen ist, und einer Fotografie, die auf dem Titelblatt der Frankfurter Allgemeinen Zeitung abgedruckt ist, kommt – ähnlich wie bei der Unterscheidung zwischen historiographischen Darstellungen und Romanen – einer anderen Dimension eine grundlegende Bedeutung zu: der para- und kontextuellen Rahmung. Möglicherweise bieten beide Formen, sowohl die Pressefotografie als auch die Kunstfotografie, die Möglichkeit, Vorstellungen im Sinne Waltons vorzuschreiben (prescribe imaginings) und müssen deshalb im Rahmen der Theorie Waltons beide als Fiktion eingestuft werden.21 Dies ist aber, wie im vorigen

|| 20 Ebd. 21 Waltons Theorie baut im wesentlichen auf folgende Grundannahme auf: „A proposition is fictional, I said, just in case there is a prescription to the effect that it is to be imagined. More precisely, a proposition is fictional in (the world of) a particular work, W, just in case appreciators of that work are to imagine it, just in case full appreciation of W requires imagining it.“ Diese Definition hat Walton in jüngeren Publikationen eingeschränkt: „I have come to realize, belatedly, that this is only half right. Prescriptions to imagine are necessary but not sufficient for fictionality“ (Kendall L. Walton, In Other Shoes. Music, Metaphor, Empathy, Existence, Oxford: Oxford UP 2015, 17). Die Einschränkung beruht vor allem auf Vorstellungen metafiktionaler Art („iconic meta-representations“, ebd.

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Abschnitt dargelegt, allein die theoretische Unterscheidung zwischen Fiktion und Nicht-Fiktion. Waltons Definition, auf der die Unterscheidung basiert, hat eine Unterteilung des Feldes zur Folge, die nicht mit tradierten Einteilungen in Fiktion und deren Anderes übereinstimmt. Der Unterscheidung vorgeordnet ist die Entscheidung für oder gegen eine fiktionale Rezeptionsweise. Habe ich mich als Rezipient aufgrund paratextueller Markierung oder anderer Gründe für eine nicht-fiktionale Rezeptionsweise entschieden, dann verwende ich das Objekt nicht als Requisit in einem MakeBelieve-Spiel. Die Mechanik des Generierens fiktionaler Wahrheit kommt nicht in Gang, ich glaube nicht an Dinge, an die ich sonst auch nicht glauben würde, sondern behandle das Artefakt wie eine Darstellung, die Anspruch auf propositionale Wahrheit und Referenzialisierbarkeit erhebt. Im konkreten Fall der Fotografie bedeutet dies, dass man der Pressefotografie in einer Zeitung oder auch dem Familienbild im Fotoalbum eben jenen Status einer nicht-fiktionalen Darstellung zuschreibt, die der Gegenstand in einem anderen Zusammenhang gerade nicht hätte.22 Um es an einem handfesten Beispiel zu exemplifizieren: Das Selbstportrait von Chuck Close in einem Museum oder einer Kunstgalerie hat eine andere Funktion als das Portrait im Familienalbum oder das Pressebild eines Künstlers in einer Tageszeitung. Wenn ich das Bild in einer Galerie hängen sehe, dann habe ich die Möglichkeit, das Artefakt als Requisit zu benutzen. Ich kann das Bild als Ausgangspunkt für Vorstellungen nehmen, die ich in meinem Umgang mit dem Bild generiere, und diese Vorstellungen, die das Bild in diesem Fall vorschreibt, sind freier und anders geartet als diejenigen, die das gleiche Bild als Pressefotografie in einer Tageszeitung generieren würde. Besonders deutlich wird dies bei Readymades, auf die im nächsten Abschnitt eingegangen wird. Gestärkt wird eine solche Differenzierung auch durch eine diachrone Sichtweise. Die Funktionsweise von Gemälden, insbesondere von Portraits, aber auch von Landschaftsmalerei, hat sich im Laufe der Kunstgeschichte fundamental verändert. Es lässt sich bspw. argumentieren, dass ein gemaltes Portrait in der Renaissance in seiner Funktionsweise als Charakterbild die gleiche Funktion erfüllt wie ein Autorenbild auf dem Schutzumschlag eines aktuellen Romans, und eine ägyptische Totenmaske in ihrer ursprünglichen Funktionsweise durchaus mit einer auf einem Begräbnis ausgestellten Fotografie des Verstorbenen gleichstellbar ist. Nicht nur, was als Fiktion gilt, ist diachron veränderlich, sondern auch, was als legitime Darstellungstechnik von Wirklichkeit Geltung beanspruchen kann.

|| 20) und einer Reihe weiterer Spezialfälle. Da die Einschränkung sich jedoch nur darauf bezieht, ob das Vorschreiben von Vorstellungen eine hinreichende Bedingung für Fiktion im Sinne Waltons ist und die diskutierten Beispiele im vorliegenden Beitrag nicht zu aus dieser Perspektive problematischen Fällen gehören, kann sie hier vernachlässigt werden. Für weiterführende Hinweise, vgl. Kap. 2 in Kendall L. Walton, In Other Shoes (Anm. 21). 22 Ein Beispiel hierfür wären die verschiedenartigen Funktionsweisen von Fotografien im Werk W. G. Sebalds.

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3 Kunst und Fiktion Ist Marcel Duchamps berühmtes Kunstwerk Fountain aus dem Jahre 1917 ein Requisit für einen fiktionserzeugenden Umgang oder ist ein Urinal stets nichts weiter als ein Urinal? Sind Warhols Brillo Boxes nichts weiter als kommerzielle Verpackungen von Putzschwämmen, oder erfahren die Gegenstände durch ihre Erhöhung zum künstlerischen Werk eine Erweiterung, die sich vielleicht sogar am Objekt selbst manifestiert? Und in welcher Weise ist die Kategorisierung dieser Objekte unter einen Begriff wie Fiktion überhaupt sinnvoll?

Abb. 2: Marcel Duchamp, Fountain (1917, Fotografie von Alfred Stieglitz)

Sieht man einmal von den tatsächlichen Umständen im Falle Duchamps und Warhols ab, lässt sich zumindest als Gedankenexperiment der Fall eines Readymades vorstellen, das sich in keiner Weise vom Alltagsprodukt unterscheidet. Sowohl für Fountain als auch für die Originalversion der Brillo Boxes gilt dies jedoch nicht. Duchamps Original-Urinal gilt als verschollen, eine endgültige Aussage über den Originalzustand ist also nicht mehr möglich. Auf der von Alfred Stieglitz aufgenommen Fotografie aus dem Jahre 1917 (s. Abb. 2) ist jedoch zu sehen, dass das Original (im Unterschied zu gewöhnlichen Urinalen) mit einer Signatur versehen war („R. Mutt 1917“).

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Ansonsten scheint das Urinal allerdings gänzlich einem handelsüblichen Produkt zu entsprechen. Auch die Reinigungsmittelverpackungen Warhols unterscheiden sich – teilweise – vom Alltagsgegenstand, denn sie wurden auf unterschiedliche Weisen hergestellt.23 Während die Originalschachteln der ersten Ausstellung 1964 in der New Yorker Stable Gallery aus Sperrholz hergestellt wurden und im Siebdruckverfahren bedruckt waren, hat man für die Ausstellung 1968 in Stockholm im Moderna Museet schlicht und einfach bei der Firma Brillo 500 Kartons bestellt, die im zusammengefalteten Zustand nach Schweden geschickt und dann dort aufgeklappt und ausgestellt wurden. Diese Exemplare sind also identisch mit den handelsüblichen Verpackungen. Darüber hinaus ließ der Direktor des Stockholmer Museums, Pontus Hultén, nach vermeintlicher Autorisierung durch Warhol selbst, weitere 100 Holzkisten anfertigen, die im Eingangsbereich des Museums, gemeinsam mit den Pappkartons der Firma Brillo, ausgestellt wurden: „‚Why don’t you make them there?‘, habe Warhol ihn [Hultén] gefragt und damit sein Einverständnis zur Produktion in Schweden erklärt“, so Lisa Zeitz.24 Laut Hultén, wie Zeitz weiter ausführt, habe Warhol ihm diese Holzschachteln dann anschließend geschenkt. Folgerichtig weise das Werkverzeichnis Warhols 94 Kisten Stockholmer Ursprungs auf: Das Warhol-Werkverzeichnis von 2004 führt 94 Holzkisten von 1968 als „Stockholm Typ[e]“ auf. Sie unterscheiden sich von den Boxen des Jahres 1964 dadurch, dass sie nicht aus Sperrholz, wie die aus der Warhol-Factory, sondern aus Holzfaserplatten sind, und dass der weiße Untergrund nicht gemalt, sondern aufgedruckt ist.25

Gleichzeitig befinden sich seit 1990 eine Reihe weiterer Boxen in Umlauf, die auf Anweisung von Hultén für eine Ausstellung im dänischen Museum Louisiana und eine Ausstellung in St. Petersburg in Malmö produziert wurden. Für diese Schachteln stellte Hultén ein Echtheitszeugnis in Bezug auf die Ausstellung von 1968 aus – einige Schachteln aus der Produktion von 1990 wurden also fälschlicherweise als ‚Stockholm Type‘ weiterverkauft. Mit beträchtlichem Gewinn, lässt sich hinzufügen. Auch wenn dieser Schwindel mittlerweile aufgeflogen ist und als ein Resultat davon auch die ursprünglichen Schachteln des Stockholmer Typus mittlerweile nicht mehr im offiziellen Werkverzeichnis Warhols geführt werden, so ist aus der Perspektive der Fiktionstheorie mancherlei Einsicht zu gewinnen. Die Gemachtheit – die tatsächliche Ausführung eines Objekts und, wenn man so will, die Fingiertheit – hat nur bedingt

|| 23 Vgl. Lisa Zeitz, „Was Andy Warhol widerfuhr“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 02.09.2007, abrufbar unter http://www.faz.net/aktuell/2.1995/kommentar-was-warhol-widerfuhr-1459997.html [Zugriff am 13.07.2016]. 24 Ebd. 25 Ebd.

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Einfluss auf die Form des Umgangs mit diesem. Die 500 Originalkartons im Moderna Museet erfüllten in Stockholm die gleiche Funktion wie die ursprünglichen Originale in der Stable Gallery, die aus Sperrholz gefertigt waren.

4 Film und Fiktion In Ulrich Seidls Dokumentarfilm Mit Verlust ist zu rechnen (A 1992) sucht der österreichische Witwer Sepp Paur, der nahe an der tschechischen Grenze lebt, eine neue Frau. Die eingefrorenen Essensvorräte, die ihm seine verstorbene Frau hinterlassen hat, gehen langsam zu Ende. Zeit für eine pragmatische Brautschau: Mit dem Fernglas späht Sepp Paur hinüber auf die andere Seite der Grenze, wo er die Rentnerin Paula Hutterová sehnsüchtig beobachtet. Es handelt sich hierbei um einen paratextuell als Dokumentarfilm gekennzeichneten Kinofilm, in dem Sepp Paur und Paula Hutterová in ihren eigenen vier Wänden gefilmt werden. Auch in späteren, ebenfalls dokumentarischen Filmen Seidls, wie Tierische Liebe (A 1996), Models (A 1999) oder Der Busenfreund (TV-Produktion, A 1997) spielen die Hauptdarsteller sich selbst – René Rupnik ist der wirkliche Mathematiklehrer René Rupnik, der den Busen Senta Bergers für den perfektesten Busen dieser Welt hält, und auch die Tierliebhaber und Models in den vorangegangenen Dokumentarfilmen sind stets die wirklichen Personen. Diese Arbeitsweise ändert sich nur teilweise in den paratextuell als Spielfilmen markierten Filmen Hundstage (A 2001) und Import, Export (A/F/G 2007). Auch in diesen Spielfilmen sind es nicht unbedingt professionelle Schauspieler, sondern oftmals Menschen, die als sie selbst gecastet wurden und in den Filmen sich selbst ‚spielen‘. Die Hauptfigur Paul in Import, Export heißt auch in Wirklichkeit Paul Hofmann (was allerdings für die Hauptdarstellerin Olga nicht gilt, die in Wirklichkeit Ekateryna heißt), und die Patienten des Altenheims, in dem Olga arbeitet, sind die wirklichen Patienten dieses Altenheims. Auch beim Casting für Hundstage überwog der Anteil nicht-professioneller Schauspieler. In einem Interview mit dem Fernsehsender Arte charakterisiert Seidl seine Arbeit wie folgt: Ich mache keinen Unterschied zwischen Schauspielern und Nichtschauspielern. Die Kriterien sind für mich authentische Milieuwiedergabe. Ich habe bei meinen früheren Filmen mit Nichtschauspielern in dieser Hinsicht beste Erfahrungen gemacht. Bei Hundstage ging es darum, noch extremer zu sein und authentische Milieuwiedergabe mit reiner Fiktion zu verbinden. Der Anspruch war, dass man im fertigen Film zwischen Schauspielern und Nichtschauspielern nicht unterscheiden könne.26

|| 26 Thomas Maurer, „Neun Fragen an Ulrich Seidl“, 31.07.2002, Interview für Arte, publiziert unter www.alamodefilm.de/download/77/pm/presseheft.pdf [Zugriff am 13.07.2016].

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Worin genau liegt also die Fiktion, die Seidl für Hundstage im Zitat und im Paratext beansprucht? Sind es die inszenierten Einstellungen? Ist es der erfundene Handlungsverlauf? Ist es der Einsatz von Schauspielern? Auf seiner Website gibt Seidl zu diesem Film folgendes Statement ab: Hundstage markiert ein Ende und einen Anfang in meiner filmischer [sic] Arbeit. Hundstage ist ein sogenannter richtiger Spielfilm mit einem richtigen Drehbuch, richtigen Geschichten und richtigen Schauspielern. Und doch ist vieles anders. Es gab ein Drehbuch, aber keine geschriebenen Dialoge, es gab Schauspieler, aber mehr NichtSchauspieler, und es gab eine dokumentarische Arbeitsmethode.27

Vergleicht man die beiden obigen Zitate, erhält man leicht den Eindruck, Seidl flüchte sich jeweils von der Fiktion ins Dokumentarische und vom Dokumentarischen in die Fiktion. Was genau versteht Seidl unter einer „dokumentarischen Arbeitsmethode“, und was ist in seiner Sichtweise die „reine[] Fiktion“? Eine explizite Antwort bleibt Seidl uns schuldig. Anhand der Formulierungen in den beiden Zitaten wird meines Erachtens allerdings deutlich, dass die Verwendung der Kriterien von Fiktionalität und Fiktivität durchaus der Verwendung ähneln, die zuvor im Bereich der Literatur und anderer Künste diskutiert wurde. Ebenso wie in der Kunst und Literatur kann ein Spielfilm von erfundenen Sachverhalten und Personen (oder Ereignissen und Ereignisträgern im Sprachgebrauch Zipfels) handeln, muss es aber nicht. Auch im Film ist Fiktivität lediglich eine Option, aber keine Notwendigkeit für Fiktion. Ein Spielfilm kann an Originalschauplätzen gefilmt werden, muss aber nicht, und die Darsteller in einem Spielfilm können, müssen aber nicht sich selbst darstellen. Der Unterschied zwischen Laien und professionellen Schauspielern ist dabei für den Zuschauer nicht offensichtlich, was von Seidl ja explizit als ästhetische Zielsetzung genannt wird. Das heißt, einmal mehr ist es der Paratext, der für die Entscheidung ausschlaggebend ist: Im Fall von Mit Verlust ist zu rechnen, der paratextuell als Dokumentarfilm gekennzeichnet ist, weiß der Zuschauer, dass grundsätzlich der Anspruch auf Referenzialisierbarkeit und Wahrheit gestellt werden kann. Gleichzeitig ist das Generieren fiktionaler Wahrheit gemäß den diversen Prinzipien (mutual believe principle, reality principle oder des principle of minimal departure)28 nicht lizensiert. Wer dies dennoch tut, also mit dem Dokumentarfilm als Requisit ein Make-Believe-

|| 27 Ulrich Seidl, „Statement zum Film [Hundstage]“, offizielle Website, http://www.ulrichseidl. com/de/03KinoFilme/05Hundstage/02Statement.shtml [Zugriff am 13.07.2016]. 28 Für eine Diskussion dieser Prinzipien im Modell Waltons vgl. J. Alexander Bareis, Fiktionales Erzählen (Anm. 1); sowie ders., „Was ist wahr in der Fiktion? Zum Prinzip der Genrekonvention und die Unzuverlässigkeit des Erzählers in Patrick Süskinds Die Geschichte von Herrn Sommer“, in: Scientia Poetica 13 (2009), 230–254. Vgl. darüber hinaus, mit Vorschlag eines Prinzips der Genre- und Medienkonvention, J. Alexander Bareis, „Fictional Truth, Principles of Generation, and Interpretation. Or why it is fictionally true that Tony Soprano was shot dead“, in: ders./Lene Nordrum (Hg.), How to Make Believe. The Fictional Truths of the Representational Arts, Berlin/Boston: De Gruyter 2015, 165–183.

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Spiel spielt, verwendet dieses Artefakt auf eine Art und Weise, für die es nicht bestimmt war. Das gleiche gilt bspw. für Fernsehnachrichten. Die vorgeschlagene Differenzierung zwischen Ent- und Unterscheidung anhand des Paratextes spiegelt sich in den beiden Zitaten wider. Seidl bezeichnet seinen Wechsel vom Dokumentarfilm zum Spielfilm, von der Darstellung von Wirklichkeit zur Darstellung von Fiktion, als ‚Anfang und Ende‘ zugleich: Natürlich spielt die Existenz eines Drehbuchs, der Gebrauch von Kulissen, der Einsatz professioneller Schauspieler nicht nur eine wichtige Rolle für die Definition der Arbeitsweise, sondern auch für die Klassifikation als Fiktion oder Nicht-Fiktion. Was für den Roman gilt, gilt auch für den Spielfilm. Anhand dieser den fiktiven Figuren, Orten und Ereignisträgern im Roman vergleichbaren Elemente lässt sich Fiktivität gradieren: je mehr erfunden, desto fiktiver. Die Arbeitsweise an sich kann allerdings nach wie vor Gemeinsamkeiten mit dem Dokumentarfilm aufweisen, wie Seidl ausdrücklich für den Spielfilm Hundstage schreibt. Es gilt also einmal mehr, dass es in erster Linie die paratextuelle Markierung ist, die ausschlaggebend für die Entscheidung von Rezipienten ist, da in ihr gewöhnlich eine Fiktionsintention seitens des Urhebers signalisiert wird. Daraus folgt ein bestimmter Umgang mit dem Artefakt, der entweder in das Generieren fiktionaler Wahrheiten mündet im Rahmen eines Make-Believe-Spiels, oder in die Annahme von Wahrheitsanspruch (mit der Möglichkeit potentieller Fehler) und Referenzialisierbarkeit im Falle einer Entscheidung zur Nicht-Fiktion.

5 Fazit Es gibt eine Gemeinsamkeit zwischen den diskutierten Beispielen – sei es das Selbstportrait von Chuck Close, das Urinal Duchamps, die Filme Seidls oder die Brillo Schachteln Warhols. Die Gemeinsamkeit besteht darin, dass wirkliche Objekte und/ oder Personen, also nicht-fiktive Artefakte und Ereignisträger dargestellt werden. Erweitert werden könnte die Liste durch entsprechende literarische Beispiele, wie etwa die ‚Non-Fiction Novel‘ In Cold Blood (1965) Truman Capotes oder ein DokuTheaterstück wie Peter Weiss’ Die Ermittlung (1965). Andere Beispiele sind der bekannte Stierschädel Picassos, der das Titelbild der Taschenbuchausgabe von Waltons Mimesis as Make-Believe ziert, oder die mittlerweile zu den teuersten Fotografien der Welt zählenden Werke Andreas Gurskys. Allen gemeinsam ist die Darstellung des Nicht-Fiktiven im Rahmen der Fiktion. Diese Gemeinsamkeit zeigt vor allem eines: Fiktionalität hängt, auch und gerade im Vergleich der Künste, weder notwendig noch hinreichend von der Fiktivität des Dargestellten ab. Zur Fiktion wird eine Darstellung aufgrund ihres Umgangs damit. Auch wenn man nicht in jederlei Hinsicht dem theoretischen Modell Waltons zustimmen möchte, auch wenn die jeweiligen Kunstformen eine eingehende Beschäftigung mit ihren inhärenten Eigenheiten und Merkmalen verdienen, die im Modell Waltons notwendigerweise zu kurz kommen,

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auch wenn man also aus guten Gründen kritisch zu diversen Aspekten in Waltons Modell steht, so bildet der breite Ansatz Waltons über Kunst- und Mediengrenzen hinweg eine Perspektive, die insbesondere die Frage der Fiktivität in den Vordergrund rückt und dabei aufzeigt, dass Fiktivität eben gerade nicht das allentscheidende und grundlegende Merkmal der Fiktion sein kann. Dies wird meines Erachtens durch Waltons Modell besonders deutlich und zeigt sich bereits in der hier diskutierten Auswahl einiger weniger Beispiele. Bislang ist es allerdings noch ein Desiderat der Forschung, das integrative Fiktionsmodell Waltons in Hinblick auf die spezifischen Erfordernisse unterschiedlicher Darstellungsweisen zu überprüfen, auch wenn es diesbezüglich erste Versuche gibt.29 Gleichzeitig bietet das Modell Waltons die Möglichkeit, eine Reihe von Gemeinsamkeiten im Vergleich der Künste und Medien zu diskutieren. Der Fokus auf die Funktionsweise in Waltons Theorie öffnet für ein Verständnis darstellender Kunst (im Sinne von representational arts) jenseits einer Fixierung auf Fiktivität und stellt stattdessen die Funktion der Imagination in den Vordergrund. Damit ist meines Erachtens der kleinste gemeinsame Nenner der Fiktion im Vergleich der Künste und Medien erreicht.

|| 29 Einer der ersten Versuche, diese Forschungslücke zumindest in Ansätzen zu füllen, ist J. Alexander Bareis/Lene Nordrum (Hg.), How to Make Believe (Anm. 28), ein Band, der eine Reihe von Beiträgen zu unterschiedlichsten Kunstformen aus Sicht einer Make-Believe-Theorie enthält. Neben Beiträgen zur Literatur finden sich darunter Artikel zum Theater, zur Musik, zum Computerspiel, zum Rollenspiel, zu Memoiren, zu Poesie, zu Fernsehserien und zum Film aus fiktionstheoretischer Sicht.

Barbara Ventarola

Fiktionen als Medien möglicher Kommunikationen Überlegungen zu einer neuen Fiktionstheorie, mit einigen Beispielen aus Literatur, Malerei und Musik

1 Einleitung: Für eine Ausweitung des Fiktionalitätsbegriffs Mit den aktuellen Entgrenzungsdynamiken (Globalisierung, Entgrenzung der Künste, Medienkonvergenzen etc.) geraten herkömmliche (literatur-)theoretische Konzepte oft an ihre Grenzen. Wenngleich sie sich häufig als universell verstehen, zeigt sich doch mehr und mehr, dass sie nicht selten historisch, kulturell und konzeptuell allzu sehr auf Phänomene der europäischen Moderne eingegrenzt bleiben. Je mehr das Globale als eine multivektoriale1 Vernetzung pluraler Partikularrealitäten erkannt wird – mithin als eine Welt aus sich überlappenden und interagierenden Welten –, desto mehr zeigt sich, dass es nicht genügt, die eigenen Theoriekonventionen mithilfe der schlichten Denkfigur der Extrapolation global zu generalisieren. Bestehende Differenzen werden hierdurch allzu simplifizierend unsichtbar gemacht.2 Dies gilt in nicht geringem Maße auch für das Konzeptinventar zahlreicher Fiktionstheorien: Nicht nur haben sich diese lange Zeit so gut wie ausschließlich auf literarische, ja narrative Phänomene beschränkt,3 sondern sie operieren mit einem Fikti-

|| 1 Der Begriff ‚multivektorial‘ leitet sich von dem mathematischen Begriff des (Bewegungs-)Vektors ab. Gemeint ist also das gleichzeitige Wirken mehrerer Bewegungsvektoren, die in unterschiedliche Richtungen weisen. 2 Vgl. dazu auch Barbara Ventarola, „Weltliteratur(en) im Dialog – Zu einer möglichen Osmose zwischen Systemtheorie und postkolonialer Theorie“, in: Mario Grizelj/Daniela Kirschstein (Hg.), Differenz(theorien). (Wie) können sich Postkoloniale Theorie und Systemtheorie beobachten?, Berlin: Kadmos 2014, 161–193 (verfasst 2009); dies., Transkategoriale Philologie. Liminales und poly-systematisches Denken bei Gottfried Wilhelm Leibniz und Marcel Proust, Berlin: Schmidt 2015, Kap. 1–3. 3 Vgl. dazu etwa Richard Routley, „The Semantical Structure of Fictional Discourse“, in: Poetics 8 (1979), 3–30; Frank Zipfel, Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität. Analysen zur Fiktion in der Literatur und zum Fiktionsbegriff in der Literaturwissenschaft, Berlin: Schmidt 2001, 56–61. In jüngster Zeit werden mehr und mehr Fiktionstheorien transmedialen Zuschnitts entwickelt. Vgl. dazu etwa die folgenden Arbeiten, die nach der Abfassung dieses Beitrags erschienen sind: Tobias Klauk/Tilmann Köppe (Hg.), Fiktionalität. Ein interdisziplinäres Handbuch, Berlin: De Gruyter 2014; Frank Zipfel, „Fiction across Media. Toward a Transmedial Concept of Fictionality“, in: Marie-Laure Ryan/Jan-Noël Thon (Hg.),

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onsbegriff, der implizit sehr stark der Autonomieästhetik (und damit der europäischen Moderne) verhaftet bleibt: Fiktionalität wird nicht selten mit der (zumeist propositionalen, also sprachlichen) Erzeugung einer autonomen, in ihrem ontologischen Status gleichsam eingeklammerten Aussage- bzw. Vorstellungswelt gleichgesetzt.4 Dahinter steht ein Denken, das binäre Oppositionsbildungen und strenge Kategorialisierungen verabsolutiert. Zwischen dem Realen und dem Fiktiven, dem Fiktionalen und dem Faktualen, dem ‚Wahren‘ und dem in seinem Wahrheitswert Eingeklammerten werden häufig strikte kategoriale Gräben konstruiert, die in den komplex gefalteten Strukturen des Wirklichen so nicht existieren.5 Wenn auf dieser Denkgrundlage sodann erst der (europäischen) Moderne ein Fiktionalitätsbewusstsein zugesprochen wird, wie in verschiedenen systemtheoretischen Ansätzen, so entsteht ein Zirkelschluss, der alle anderen Möglichkeiten, Fiktionalität zu denken und zu erleben, von vornherein ausschließt. Vor allem Zwischenformen und Abschattierungen des Fiktionalen sind auf diese Weise nicht theoretisch einholbar. Hinzu kommt, dass häufig monosystematisch argumentiert wird, indem je nur ein Aspekt der ‚fiktionalen‘ Kommunikation fokussiert wird: Die Produktionsinstanz (Intentionalität, make-believe), die Darstellungsstruktur (Sprachhandlungen, Darstellungsakte, Semantik) oder die Rezeptionswirkungen (Fiktionspakt, willing suspension of disbelief).6 Für einen systematischen Medienvergleich, aber auch für eine logisch schlüssige Berücksichtigung der Fiktionsbegriffe anderer Kulturen und älterer europäischer Epochen greift dieses Verfahren allerdings zu kurz: Jede Betrachtung von Einzeldimensionen, jede allzu strikte kategoriale Einzäunung des Konzepts verstrickt sich schnell in Aporien und ist alleine nicht hinreichend, um die heterogene Vielfalt fiktionaler Phänomene und die komplexen Verflechtungen zwischen Kunst und Wirklichkeit sowie zwischen den verschiedenen Kunstformen zu erfassen. Deshalb soll im Folgenden ein neues Fiktionskonzept vorgeschlagen werden, das die verschiedenen Aspekte und ‚Etappen‘ der fiktionalen Kommunikation in einem

|| Storyworlds across Media. Toward a Media-Conscious Narratology, Lincoln/London: U of Nebraska P 2014, 103–125. 4 Vgl. etwa Wolfgang Iser, „Akte des Fingierens. Oder: Was ist das Fiktive im fiktionalen Text“, in: Dieter Henrich/Wolfgang Iser (Hg.), Funktionen des Fiktiven, München: Fink 1983, 121–151, hier: 139; sowie ders., Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung, München: Fink 31990 [1976], 101–109. 5 Zu diesen Begriffspaaren vgl. etwa Frank Zipfel, Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität (Anm. 3), bes. 14–19. Das Fiktive wird hierbei als das Erfundene definiert, während das Fiktionale sich auf die Darstellungsweise bezieht. Die folgenden Überlegungen werden diese strikte Grenzziehung systematisch verschieben und durchkreuzen, um die Aufmerksamkeit auf die Zwischen- und Überlappungszonen zu lenken, die zwischen diesen Kategorien bestehen. Vgl. dazu auch Barbara Ventarola, Transkategoriale Philologie (Anm. 2), Kap. 3.1. 6 Für einen Überblick über die entsprechenden Theorien vgl. etwa Remigius Bunia, Faltungen. Fiktion, Erzählen, Medien, Berlin: Schmidt 2007, Kap. I.2; Irmgard Nickel-Bacon/Norbert Groeben/ Margrit Schreier, „Fiktionssignale pragmatisch. Ein medienübergreifendes Modell zur Untersuchung von Fiktion(en) und Realität(en)“, in: Poetica 32 (2000), 267–299.

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multidimensionalen, multivektorialen Modell flexibel relationiert und damit transmedial, transhistorisch und transkulturell anwendbar wird. Zu diesem Zweck werde ich auf Denkfiguren der Prototypentheorie zurückgreifen und ihre Erkenntnisse fiktionstheoretisch fruchtbar machen. Ich werde ein prototypentheoretisches Mehrkomponentenmodell des Fiktionalen vorstellen, das nicht die (ontologisierende) Frage stellt, was Fiktion ist, sondern das sich vielmehr darauf konzentriert, welche Aspekte und Komponenten in der (künstlerischen) Kommunikation die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass diese von verschiedenen Standpunkten aus und auf unterschiedliche Weise als fiktional wahrgenommen und erlebt werden kann. Das ontologische, identitätstheoretische und wesentlich kognitivistische Fiktionsmodell soll also durch ein prozessuales, pluralistisches Modell ersetzt werden, das Fiktionalität als eine probabilistische Größe auffasst, in der Kognition und Erleben eng verflochten sind und deren Grenze zur Nicht-Fiktionalität fließend ist.7 Diverse historisch und kulturell gestreute Anschauungsbeispiele aus Literatur, Malerei und Musik werden die Notwendigkeit und Erklärungsleistung des neuen Modells vorführen. Doch zuvor sind einige allgemeine Überlegungen zum Wirklichkeitskonzept und zur anthropologischen Verankerung von Fiktion nötig. Zum einen, weil Fiktionskonzepte wesentlich vom zugrundeliegenden Wirklichkeitsverständnis abhängen8 und meines Erachtens bereits hier wichtige Neu-Perspektivierungen vorzunehmen sind; zum anderen, weil mit der Anthropologie ein gemeinsamer Nenner vorliegt, mit dem die Heterogenität der Phänomene auf eine einheitliche Basis zurückführbar ist, ohne deshalb ihrer Vielfältigkeit verlustig zu gehen.9

|| 7 Mein Neuansatz knüpft durchaus an bereits bestehende Versuche einer Re-Definition der Fiktion an, geht allerdings zugleich über sie hinaus. Vgl. dazu etwa Siegfried J. Schmidt, „Fictionality in Literary and Non-Literary Discourse“, in: Poetics 9 (1980), 525–546; Irmgard Nickel-Bacon/Norbert Groeben/ Margrit Schreier, „Fiktionssignale pragmatisch“ (Anm. 6). Neu sind bei mir vor allem die Berücksichtigung der Verflechtung von Kognition und Erleben, die Hinzunahme auch unbewusster Minimalprozesse sowie der prototypentheoretische Mehrkomponentenansatz. Zur fließenden Grenze zwischen Fiktion und Nicht-Fiktion vgl. auch Jan-Dirk Müller, „Literarische und andere Spiele. Zum Fiktionalitätsproblem in vormoderner Literatur“, in: ders. (Hg.), Mediävistische Kulturwissenschaft. Ausgewählte Studien, Berlin/New York: De Gruyter 2010, 83–109. 8 Vgl. dazu bereits Siegfried J. Schmidt, „Fictionality in Literary and Non-Literary Discourse“ (Anm. 7), 527. 9 Zu dieser paradoxen anthropologischen Zuordnung von Einheitlichkeit und Vielfalt vgl. Barbara Ventarola, Transkategoriale Philologie (Anm. 2), Kap. 3.3.3.2.

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2 Fiktionalisierungsprozesse als anthropologische Ermöglichungsstrukturen Dass die „Wirklichkeiten, in denen wir leben“,10 konstruiert sind und in vielerlei Hinsicht nur mögliche ‚Realitätssysteme‘ darstellen,11 die wesentlich von jeweils vorherrschenden Konventionen abhängen, ist eine Einsicht, die nach den Denkleistungen des Konstruktivismus als Gemeinplatz gelten kann und auch schon Eingang in die Fiktionstheorie gefunden hat.12 Hier wird ihr Differenzierungspotential allerdings häufig wieder zurückgebrochen, und zwar in zweierlei Hinsicht. Zunächst, indem erneut binäre Denkfiguren angewandt werden. Aus der traditionellen Gegenüberstellung von Wirklichkeit vs. Fiktion wird nicht selten eine undifferenzierte Gleichsetzung.13 Indem der Begriff der Fiktion dergestalt inflationär aufgebläht wird, gibt es keine Möglichkeit mehr, eine hinreichend trennscharfe Theorie speziell ästhetischer Fiktionalität zu entwickeln. In vielen Fiktionstheorien wird außerdem die Pluralität all dieser möglichen Wirklichkeiten nicht berücksichtigt, etwa, wenn beim Rückgriff auf das pragmatische Konzept des „Fiktionsvertrags“14 nicht (genügend) darüber nachgedacht wird, wie es sich damit verhält, wenn Autor und Leser verschiedenen Kulturen oder Zeiten, also ‚Wirklichkeiten‘ angehören. Um die Erkenntnis des Konstrukt-Charakters des ‚Wirklichen‘ also für die Fiktionstheorie produktiv zu machen, sind bereits hier Komplexionen vorzunehmen. Zunächst ist zu beachten, dass bereits die rein materielle ‚Wirklichkeit‘ nicht so sehr binär organisiert ist, sondern ein hochkomplexes, mehrfach rückgekoppeltes Geschehen darstellt, bei dem sich stets mehrere Kontexturen überlappen und in dem Interferenzen, Unbestimmtheitsstellen und zwischenräumliche, trans-klassische Logiken eine eminent wichtige Rolle spielen.15 Bereits mit Blick hierauf ist also von binären Monosystematiken Abstand zu nehmen. Dies betrifft auch die Verhältnissetzung des ‚Realen‘ und des ‚Möglichen‘ – in Fiktionstheorien ein zentraler Punkt. Aufgrund der komplexen dynamischen Struktur der materiellen Wirklichkeit stellt die Emergenz immer neuer Möglichkeiten einen konstitutiven Bestandteil des ‚Realen‘ selbst dar. Man könnte auch sagen, bereits das existierende Reale übersteigt sich gleich-

|| 10 Vgl. Hans Blumenberg, Wirklichkeiten in denen wir leben. Aufsätze und eine Rede, Stuttgart: Reclam 1996. 11 Vgl. dazu Uwe Durst, Theorie der phantastischen Literatur, aktual. Neuausgabe, Berlin 2007 [2001], 92–103. 12 Vgl. dazu v.a. Siegfried J. Schmidt, „Fictionality in Literary and Non-Literary Discourse“ (Anm. 7). 13 Vgl. dazu auch die Kritik in Frank Zipfel, Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität (Anm. 3), 50–56. 14 Vgl. Umberto Eco, Im Wald der Fiktionen. Sechs Streifzüge durch die Literatur, übers. v. Burkhart Kroeber, München/Wien: dtv 1994, 103. 15 Vgl. dazu auch Barbara Ventarola, Transkategoriale Philologie (Anm. 2), Kap. 3.3.3.1.

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sam ständig selbst und ist somit – anders als die possible worlds theory dies darstellt – stets von möglichen Welten durchsetzt.16 Hieran anknüpfend ist eine wichtige Abwandlung in der Sichtweise auf ‚kulturelle‘ Wirklichkeiten nötig, die sich ja grundsätzlich aus materiellen und imaginären Strukturen zusammensetzen. Als Welten, in denen wir leben und imaginierend immer wieder mit Als-ob-Strukturen umgehen und lebensweltliche „Akte des Fingierens“ vollziehen,17 sind Kulturen immer schon mit Möglichkeitshorizonten und Fiktionen durchsetzt, allerdings in skalierter Form.18 Bereits viele lebensweltliche Handlungen weisen einen quasi-fiktionalen Inszenierungscharakter auf. Was wir als Realität definieren, ist stets nicht nur von fiktiven Elementen durchsetzt, sondern auch von spielerischen Als-ob-Akten bzw. -Darstellungen (= Fiktionalität). Es gibt somit bereits hier unzählige Zwischen- und Ausprägungsformen des Fiktionalen, intrikate Verflechtungen zwischen ‚real‘, ‚möglich‘, ‚fiktiv‘ und ‚fiktional‘, die sich durch die Emergenz immer neuer medialer und ästhetischer Mischformen der Wirklichkeitsaufbereitung auch immer weiter vervielfältigen. Weder eine oppositive Gegenüberstellung noch die postmoderne Gleichsetzung der verschiedenen Terme werden dieser Komplexität also gerecht. Diese Einsicht ist vor allem dann wichtig, wenn man nach den anthropologischen Grundlagen von Fiktion fragt. Denn damit ist auch hier eine Neu-Perspektivierung nötig. Dass es eine anthropologische Disposition zur Fiktionalisierung gibt, ja ein dem Menschen gleichsam eingeborenes Fiktionsbedürfnis, wurde bereits in diversen Fiktionstheorien hervorgehoben.19 Allerdings lässt sich auch hier eine proble-

|| 16 Die possible worlds theory konstruiert hier zumeist eine zu starke Kluft zwischen wirklich und möglich, indem sie vom Postulat ausgeht, dass die eine wirkliche Welt gleichsam von unzähligen möglichen umkreist wird und damit die oben genannten Verflechtungen nicht berücksichtigt. Vgl. zu dieser Denkoperation etwa die Darstellung in Carola Surkamp, „Narratologie und possible-worlds theory: Narrative Texte als alternative Welten“, in: Ansgar Nünning/Vera Nünning (Hg.), Neue Ansätze in der Erzähltheorie, Trier: WVT 2002, 153–183, hier: 155. 17 Zum Konzept der „Akte des Fingierens“ vgl. Wolfgang Iser, „Akte des Fingierens“ (Anm. 4). (Iser vernachlässigt dabei allerdings just diese lebensweltliche Dimension). Wie sehr auch unsere Lebenswirklichkeit von Fiktionen durchsetzt ist, macht erstmals Hans Vaihinger sichtbar. Vgl. dazu ders., Die Philosophie des Als Ob. System der theoretischen, praktischen und religiösen Fiktionen der Menschheit, Leipzig: Meiner 31918 [1911]. 18 Diese Skalierbarkeit berücksichtigt auch Vaihinger nicht. Sie zeigt sich aber z.B., wenn man verschiedene Formen der Selbstwahrnehmung miteinander vergleicht. So beruht das bewusste selfshaping, wie es etwa die Philosophie der Selbstsorge empfiehlt, unabweislich auf einer gewissen Selbstfiktionalisierung, die sich von den Selbsttäuschungen des amour-propre letztlich nur graduell unterscheidet. Und auch jede Selbstdarstellung mithilfe der Kleidung weist fiktionale Anteile auf, die durchaus skalierbar sind, ja ihren Fiktionsgrad sogar ändern können. Verschiedene Studien belegen, dass man mehr und mehr zu dem werden kann, was man mit Hilfe der Kleidungswahl zunächst nur vorspielt. 19 Vgl. etwa Wolfgang Iser, Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1991; Karl Eibl, „Fiktionalität – bioanthropologisch“, in: Simone Winko/

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matische Tendenz zur übermäßigen Vereinfachung und konzeptuellen Einzäunung feststellen. Die anthropologische Disposition zur Fiktionalisierung wird entweder allzu stark mit einem Bedürfnis nach Repräsentation oder mit einem Bedürfnis nach Abkoppelung gleichgesetzt. Nicht genügend berücksichtigt wird die Tatsache, dass der Mensch, wenn er sich durch die Evolution an die Strukturen der Welt angepasst hat, vor allem auch ‚Organe‘ ausgebildet haben muss, um die vorangehend skizzierten Emergenzen und Staffelungen des Wirklichen zu erfassen und damit (kognitiv, emotional und sozial) zu hantieren. Und genau hierin scheint mir die anthropologische Grundlage für eine adäquanzsteigernde Re-Definition der Fiktion zu liegen. Unter ‚Fiktionalisierung‘ verstehe ich im Folgenden also alle (mehr oder weniger bewusst angewendeten) Verfahren, ambivalente Referenzen zu erzeugen, um etwas im Modus des Als-ob wahrnehmen zu können (= Fiktionalität). Das Fiktionsbedürfnis stellt die motivationale Grundlage für die Anwendung dieser Strategien dar. Die neuere anthropologische Forschung (Neurologie, Emotionspsychologie, Motivationstheorie etc.) liefert hierfür mehr und mehr Nachweise. Für gewöhnlich wird die Besonderheit des Menschen in seiner Fähigkeit zu einer Repräsentation von Wirklichkeit gesehen, die auch die Selbstreflexion mit einschließt (Bewusstsein). Bereits hier ist allerdings eine Blickverschiebung nötig. Neuere kognitionstheoretische Modelle des blending und der spreading activity zeigen nämlich nicht nur, dass der Mensch die Welt kognitiv in Netzen von sogenannten Skripten oder frames (also narrativ) repräsentiert, sondern dass die neuronalen Netzwerke so organisiert sind, dass diese Skripte immer wieder neu verknüpft und re-kombiniert werden können – kurz, dass ‚nicht-referentielle‘ (und damit fiktive und fiktionale) Referenzen und Vorstellungen erzeugt werden können (u.a. durch blending).20 Die (Selbst-)Repräsentation schließt die Überschreitung also strukturell mit ein. Auch die erst kürzlich entdeckten Spiegelneuronen stellen letztlich die Basis für (emergente) Als-ob-Handlungen dar, also für Operationen, in denen man die Grundlage für Fiktionalität sehen kann. Zum einen sind hierdurch Als-ob-Emotionen möglich, nämlich Emphase und

|| Fotis Jannidis/Gerhard Lauer (Hg.), Grenzen der Literatur. Zu Begriff und Phänomen des Literarischen, Berlin/New York: De Gruyter 2009, 268–284. 20 Vgl. etwa Allen M. Collins/Elizabeth F. Loftus, „A Spreading-Activation Theory of Semantic Processing“, in: Psychological Review 82 (1975), 407–428; Adele Goldberg (Hg.), Conceptual Structure, Discourse, and Language, Stanford: CSLI Publications 1996; Todd Oakley, „Conceptual Blending, Narrative Discourse, and Rhetoric“, in: Cognitive Linguistics 9 (1998), 321–360; Gilles Fauconnier, Mappings in Thought and Language, Cambridge: Cambridge UP 1997; ders./Mark Turner, „Conceptual Integration Networks“, in: Cognitive Science 22.2 (1998), 133–187; Gilles Fauconnier/Mark Turner, „The Origin of Language as a Product of the Evolution of Modern Cognition“, in: Bernhard Laks et al. (Hg.), Origin and Evolution of Languages: Approaches, Models, Paradigms, London: Equinox 2008; Sandra Handl/Hans-Jürgen Schmid (Hg.), Windows to the Mind: Metaphor, Metonymy and Conceptual Blending, Berlin/New York: De Gruyter 2011.

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Mimikry.21 Zum anderen werden damit neuronale Aktivierungsprozesse begründet, die die Rezeption und die tätige Ausübung von Kunst in eine enge Nähe rücken. So konnte nachgewiesen werden, dass bei Musikern dieselben Neuronennetzwerke aktiviert werden, wenn sie Musik hören und wenn sie diese selbst spielen.22 Vor diesem Hintergrund könnte man das Musikhören als eine Form der Als-ob-Körperlichkeit beschreiben, als einen auf neuronaler Ebene fiktionalen Prozess. Ähnliches gilt für Tänzer und Sportler. Zuletzt sei noch darauf hingewiesen, dass man aufgrund der Komplexität neuronaler Netzwerke Bewusstsein und Wahrnehmung ebenfalls als gestaffelte Größen auffassen muss. Sie entstehen durch die Zusammensetzung unzähliger unbewusster Minimalprozesse, wobei eine Wirkung oft auch schon vor dem Überschreiten der Bewusstseinsschwelle nachweisbar ist.23 Auf dieser Grundlage ist auch das motivationstheoretische Konzept des Fiktionsbedürfnisses auszuweiten. Neben der Lust an der Repräsentation, am Spiel und/oder an der Wirklichkeitsabkoppelung (den üblicherweise angeführten Motiven für Fiktionalität) ist in einer umfassenden Fiktionstheorie auch der menschliche Drang zu berücksichtigen, bestehende Wirklichkeiten gleichsam in sich selbst zu übersteigen. Das antizipatorische Bewusstsein Blochs,24 der Möglichkeitssinn Musils,25 der Drang zum Darüber-Hinausgehen Bhabhas26 sind nur verschiedene Abschattierungen dieses grundlegenden anthropologischen Bedürfnisses nach Emergenz und nach ‚Als-obHandlungen‘ – gleichsam nach einer im Realen selbst verankerten, temporären Fiktionalität.27 Aus alledem folgt, dass bereits unser Umgang mit der ‚Realität‘, in der wir leben, offenbar wesentlich und konstitutiv auch durch Fiktionalisierungsprozesse mit einem je verschiedenen Realitätsindex und Bewusstseinsgrad mitgeprägt wird.

|| 21 Emphase und Mimikry können insofern als Als-ob-Emotionen aufgefasst werden, als man sich – im Wissen um den Als-ob-Status – vorübergehend mit fremden Vorstellungs- und Erlebniswelten identifiziert: Man fühlt (Emphase) oder verhält sich (Mimikry) so, als wäre man selbst in der Situation des anderen, und ist sich dieser vorübergehenden Selbstspaltung durchaus bewusst. 22 Vgl. dazu etwa Manfred Spitzer, Musik im Kopf: Hören, Musizieren, Verstehen und Erleben im neuronalen Netzwerk, Stuttgart: Schattauer 2005. 23 Hierauf weist bereits Leibniz hin, der die moderne Psychophysiologie der Wahrnehmung viel mehr beeinflusst hat, als bisher gedacht. Vgl. dazu Barbara Ventarola, Transkategoriale Philologie (Anm. 2), Kap. 4.4.2. 24 Vgl. Ernst Bloch, „Antizipierte Realität – Wie geschieht und was leistet utopisches Denken?“, in: Rudolf Villgradter/Friedrich Krey (Hg.), Der utopische Roman, Darmstadt: WBG 1973, 18–29. 25 Vgl. etwa Barbara Neymeyr, Utopie und Experiment. Zur Literaturtheorie, Anthropologie und Kulturkritik in Musils Essays, Heidelberg: Winter 2009. 26 Vgl. Homi Bhabha, The Location of Culture, London/New York: Routledge 1994, Kap. 1. 27 Zur Trans-Historizität dieses Bedürfnisses s. Barbara Ventarola, „Einleitung: Literarische Stadtutopien als Anschauungsobjekte und Experimentierfelder sozialer Phantasie. Für eine Re-Definition des Utopischen als liminaler Diskurs“, in: dies. (Hg.), Literarische Stadtutopien zwischen totalitärer Gewalt und Ästhetisierung, München: Meidenbauer 2011, 7–49.

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Damit ist nun auch unser Medien- und Zeichengebrauch neu perspektivierbar. Auch dieser ist durch ein Zusammenspiel von repräsentierender ‚Wiederholung‘ bzw. ‚Doppelung‘ der Welt und re-kombinierendem Überstieg gekennzeichnet. So ermöglicht nicht nur die Sprache durch ihre speziellen Strukturen (Abstraktion, Kombinatorik, Metaphorik etc.) sowohl die Repräsentation als auch die Referenz auf Nicht-Existierendes oder Noch-Nicht-Existierendes, kurz: auf Mögliches (und damit allererst die Erzeugung von Welt und von Fiktionen).28 Dasselbe gilt durchaus auch für ikonische und auditive Medien. Auch Bilder können, wie die beiden folgenden Abbildungen zeigen, auf Nicht-Seiendes (vgl. Abb. 1) oder Noch-Nicht-Seiendes (vgl. Abb. 2) referieren und dieses damit allererst erzeugen.

Abb. 1 (links): Giuseppe Arcimboldo, Der Gemüsegärtner oder Gemüse in einer Schale (ca. 1590), Museo Civico „Ala Ponzone“, Cremona Abb. 2 (rechts): Leonardo da Vinci, Luftschraube (ca. 1487–1490), Detail aus dem Pariser Manuskript B, Folio 83v, Institute de France, Paris

Bei Arcimboldo wird diese Möglichkeit gar meta-fiktional vorgeführt. Sein berühmter Gemüsegärtner stellt ein nicht existierendes Phantasiewesen dar, das allerdings aus realen Elementen (dem Gemüse) zusammengesetzt ist. Dreht man das Bild auf den Kopf, verwandelt sich das Dargestellte in ein ganz normales Gemüsestillleben. Deshalb ist das Bild nicht nur als Beispiel für eine Abbildung von etwas Nicht-Seiendem relevant; vielmehr ist es auch für die speziellere Frage nach der malerischen Fiktionalität von Interesse. Man kann hier nämlich durchaus von einer ambivalenten Referenz sprechen, die in vielen Fiktionstheorien als Voraussetzung für Fiktionalität an-

|| 28 Vgl. dazu bereits Ernst Cassirer, Versuch über den Menschen. Einführung in eine Philosophie der Kultur, Hamburg: Meiner 22007 [1944], 207f.

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gesehen wird.29 Arcimboldo zieht hier eine meta-fiktionale Reflexionsebene in das Bild hinein, indem er mit dem inszenierten Kippspiel darauf aufmerksam macht, wie perspektivenabhängig die Wahrnehmung eines Bildes als Fiktion ist, also als Darstellung eines fingierten Gegenstandes im Modus der Als-ob-Existenz. Doch zu diesem Fragenkomplex später mehr. Bei da Vincis Flugapparat liegen die Dinge etwas anders. Es handelt sich hierbei um die Projektskizze einer seiner technischen Erfindungen, die zu seiner Zeit zwar ebenfalls nicht existiert, deren Bau aber geplant ist. Die ‚Abbildung‘ von etwas Nicht-Seiendem zielt also darauf ab, dieses Wirklichkeit werden zu lassen. Damit liegt hier ein eindrückliches Beispiel für die Geschichtlichkeit von Fiktionalität vor. Für da Vinci handelt es sich bei der Skizze um die Darstellung einer Fiktion: Da es den Gegenstand (noch) nicht gibt, weist die Skizze eine ‚Null-Denotation‘ im Modus des Als-ob auf.30 Für den heutigen Betrachter allerdings ist die Skizze nicht mehr fiktional, weil der dargestellte Gegenstand inzwischen nachgebaut und damit Realität geworden ist. Ja selbst die Musik, die a-mimetischste aller Künste, kann als eine lautliche ‚Verdichtung‘ und Re-Kombination von Wirklichkeitsstrukturen begriffen werden, die eine eigene Sphäre in die Wirklichkeit einzieht. Besonders deutlich wird dies beim Rhythmus, der bereits in antiken Musiktheorien als Fiktionalisierung ‚realer‘ Schrittfolgen begriffen wird.31 Letztlich stellt also unsere gesamte kulturelle ‚Realität‘ eine Ineinanderfaltung von Realem und Fiktionalem, Aktualem und Potentiellem dar, wobei aktual und potentiell, real und fiktional, nur graduell voneinander abgestuft und intrikat verflochten sind.32 Dies geht so weit, dass die genannten Elemente – vor allem im Prozess des historischen Wandels – oft sogar ihren Status wechseln können: Die Fiktionen, Phantasmen und Utopien von heute können die Realität von morgen werden (und umgekehrt). Auf dieser Basis ist nun auch die Kunst neu perspektivierbar, nämlich als ein Kommunikationsgeschehen mit je verschiedenen Medien (zunächst begriffen als || 29 Vgl. dazu etwa Joachim Küpper, „Mimesis und Fiktion in Literatur, Bildender Kunst und Musik“, in: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft, 53.2 (2008), 169–190, etwa 186f. 30 Zur These der Null-Denotation von Fiktion vgl. etwa Ada Wildekamp/Ineke van Montfoort/Willem van Ruiswijk, „Fictionality and Convention“, in: Poetics 9 (1980), 547–567; Siegfried J. Schmidt, „Fictionality in Literary and Non-Literary Discourse“ (Anm. 7), 528, 535; s. auch Nickel-Bacon/Norbert Groeben/Margrit Schreier, „Fiktionssignale pragmatisch“ (Anm. 6), 275–278, insb. 281. 31 Ich kann diese These hier nicht ausführlich diskutieren und belegen. Vgl. dazu etwa Barbara Ventarola, „Rhythmen des Textes – Rhythmen des Begehrens. Zur Polyrhythmik in Francesco Petrarcas Canzoniere“ (in Vorb.). 32 Mit den oben angeführten Begriffspaaren setze ich mich (teilweise) von gängigen Fiktionstheorien ab, die für gewöhnlich eine Opposition zwischen ‚real‘ und ‚fiktiv‘ bzw. zwischen ‚faktual‘ und ‚fiktional‘ herstellen. Vgl. dazu etwa Frank Zipfel, Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität (Anm. 3), bes. 14– 19. Siehe hierzu auch oben Anm. 5. Im Folgenden dazu mehr.

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Zeichenträger im Sinne Marshall McLuhans33), das sich (auch in seiner Fiktionalität) letztlich nur graduell von der ‚Realität‘ und dem real-pragmatischen Mediengebrauch unterscheidet. Oder genauer: das besondere Separationsstrategien benötigt, wenn es sich kategorial davon absetzen möchte. Wenn Niklas Luhmann die Kunst also als ein eigenes geschlossenes System der Gesellschaft definiert, das sich durch die Kappung aller „kosmologischen und gesellschaftlichen Abhängigkeiten“ konstituiert,34 so gerät ihm die Trennung hier allzu scharf. Kunst wird zu ausschließlich aus der Perspektive moderner europäischer Autonomieästhetik perspektiviert.35 Sinnvoller scheint es mir deshalb, an eine andere Definition von ihm anzuknüpfen, jene des Proto-Systems nämlich.36 Kunst kommt damit als ein systematisch partiell offenes Geschehen in den Blick, das die Wirklichkeit nicht nur in eine ‚reale‘ und eine ‚imaginäre‘ spaltet,37 sondern das prinzipiell Möglichkeiten und Systematiken übereinander lagert und so auch neue erzeugen kann. Führt man diesen Gedanken fort, so könnte man sagen, Kunst ist ein Diskurs in der Schwebe, zwar eingesenkt in Realitäten, zugleich aber – aufgrund seiner diskursiven Lizenzen – ein bevorzugter Ort der Verdichtung bzw. Akkumulation von Fiktionen und des Anstoßens von Fiktionalisierungsprozessen aller Art. Oder genauer: es ist jener Ort, in dem Fremdreferenz, Selbstreferenz, Nicht-Referenz und Als-obReferenz in besonders dichter Weise verschlungen sind und sich nicht selten auch überlagern. Mit Luhmanns Medienbegriff könnte man – diesen zugleich übersteigend – auch sagen, in der Kunst ist die Opposition zwischen Medium (als lose Koppelung von Elementen) und Form (als feste Koppelung von Elementen) immer schon aufgehoben.38 Indem Kunst durch die Darstellung selbst (die Form also) neue Möglichkeitshorizonte eröffnen und die Grenzen des Für-Möglich-Haltbaren beständig verschieben kann, indem sie also feste Koppelungen zu lockeren verflüssigt, ist sie Form und Medium zugleich.39 Hierdurch werden aber auch die ästhetisch ‚transpor-

|| 33 Vgl. dazu Marshall McLuhan, Understanding Media: The Extensions of Man, New York: McGraw Hill 1964. 34 Niklas Luhmann, „Weltkunst“, in: ders., Schriften zu Kunst und Literatur, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2008, 189–245, hier: 220. 35 Eine detaillierte Kritik an dieser Kunstkonzeption findet sich in Barbara Ventarola, „Weltliteratur(en) im Dialog“ (Anm. 2). 36 Zu Luhmanns Begriff des Proto-Systems vgl. Jan D. Reinhardt, Luhmanns Systemtheorie interkulturell gelesen, Nordhausen: Bautz 2005, 34, 91f. 37 Vgl. Niklas Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997, 229f. 38 Zu dieser Definition von Medium und Form vgl. Niklas Luhmann, „Das Medium der Kunst“, in: ders., Aufsätze und Reden, hg. v. Oliver Jahraus, Stuttgart: Reclam 2007, 198–217. 39 Mit der obigen Definition von Kunst als Medium knüpfe ich in freier Fortführung und Abwandlung auch an Überlegungen von Oliver Jahraus an. Vgl. Oliver Jahraus, Literatur als Medium. Sinnkonstitution und Subjekterfahrung zwischen Bewußtsein und Kommunikation, Weilerswist: Velbrück 2003. S. dazu auch Christoph Reinfandt, „Literatur als Medium“, in: Simone Winko/Fotis Janndis/ Gerhard Lauer (Hg.), Grenzen der Literatur (Anm. 19), 162–187.

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tierten‘ Fiktionen als Medien re-formulierbar, als lose Koppelungen von fiktiven und ‚realen‘ Elementen, die durch ihre besondere Form für (Re-)Strukturierungen durch die Rezipienten zugänglich sind – und damit weitere (ästhetische und nicht-ästhetische) Kommunikations- und Fiktionalisierungsprozesse ermöglichen können. Damit ist eine sehr abstrakte medien- und kulturübergreifende Basis für die allgemeine Erfassung der Fiktion gelegt. Fiktionen geraten als Medien möglicher Kommunikationen in den Blick, die quer zu konkreten medialen Differenzen operieren können. Wie lässt sich dies nun für einen Medien- und Kulturvergleich präzisieren, vor allem mit Blick auf die Frage, wie diese Re-Definition genutzt werden kann, um fiktionale Einzelphänomene möglichst differenziert zu analysieren und im Feld der Möglichkeiten der Fiktion zu verorten? Hierfür scheint es mir sinnvoll, auf die Prototypentheorie zurückzugreifen und ein flexibles Mehrkomponentenmodell der Fiktion zu entwickeln.

3 Für ein prototypentheoretisches Mehrkomponentenmodell der Fiktion Eine wesentliche Leistung der Prototypentheorie besteht im Nachweis, dass die Zuordnung von Phänomenen zu Kategorien in der Regel nicht anhand eines einzigen Definitionsmerkmals vorgenommen wird, das als notwendige Bedingung gleichsam normative Geltung besitzt. Stattdessen wird nun das flexible Zusammenspiel mehrerer Faktoren bzw. Merkmale berücksichtigt, die in je verschiedenem Grad realisiert sein und die auf verschiedene Weise zusammenspielen können, um die Voraussetzung zu schaffen, etwas als mehr oder weniger prototypisch für die Kategorie einzustufen.40 Für die Fiktionstheorie bietet diese Sichtweise zahlreiche Möglichkeiten. Denn auf dieser Grundlage lässt sich nun ein Mehrkomponentenmodell entwickeln, das ‚alle‘ relevanten Etappen der fiktionalen Kommunikation berücksichtigt, wie dies etwa Frank Zipfel fordert (also die Produktionsinstanz, die Artefaktebene und die Rezeptionsinstanz)41 – allerdings in flexibler Weise. Nun können sie nämlich genau als solche Faktoren berücksichtigt werden, die erst in ihrem dynamischen und veränderbaren Zusammenspiel Fiktionalität erzeugen. Die Denkfigur einer je verschieden kombinierbaren Interaktion von Faktoren, die zudem nicht immer alle realisiert werden müssen, erlaubt somit mehrere Differenzierungen. Zunächst können auf diese Weise die soeben aufgewiesenen fließenden Übergänge zwischen Fiktion und Nicht-

|| 40 Für eine konzise Darstellung der Prototypentheorie vgl. Andreas Blank, Einführung in die lexikalische Semantik für Romanisten, Tübingen: Niemeyer 2001, Kap. III. 41 Vgl. Frank Zipfel, Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität (Anm. 3), 277f.

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Fiktion berücksichtigt und scharf gestellt werden: Je mehr Faktoren realisiert werden und je stärker sie ausgeprägt sind, desto größer ist die fiktionalisierende Wirkung eines Artefakts. Darüber hinaus kann die Kategorie des Fiktionalen auch selbst intern ausdifferenziert werden, und zwar trans-medial, diachron und diatop: Über die Gewichtung und je verschiedene Kombination der Komponenten wird sich – wenn diese hinreichend allgemein sind – die Fiktionalität der verschiedenen Künste (und künstlerischen Medienkombinationen)42 skalieren lassen, wobei zugleich auch die Unterschiede zwischen verschiedenen Kulturen und historischen Zeiten in gestaffelter Form berücksichtigt werden können.43 Im Folgenden werde ich ein mögliches Setting an Komponenten vorstellen, die sich meines Erachtens für ein solches Modell der Fiktion eignen. Nach einer eingehenden Durchsicht von ästhetischen Primärphänomenen und theoretischer Literatur scheinen mir sechs Komponenten relevant zu sein. Es handelt sich dabei um Faktoren, die die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass ein Werk als fiktional wahrgenommen wird bzw. Fiktionalisierungsprozesse anstößt. Fiktionalisierungsprozesse begreife ich als minimale neuronale u.a. Prozesse im oben genannten Sinne, die fiktionales Erleben erzeugen, und zwar mit einem staffelbaren Bewusstseinsgrad: a) b) c) d) e) f)

Die Erzeugung einer diegetischen Vorstellungswelt Narrativität Rahmung und Rahmen-Sprengung Meta-Fiktionalität Intentionalität bei der Erzeugung von Fiktionalität Bewusstes Erkennen des make-believe bei der Rezeption

Es dürfte deutlich geworden sein, dass die ersten vier Komponenten der Werkebene zugehören und die restlichen zwei der äußeren Kommunikationssituation. Da letztere nur indirekt erschließbar sind, beginne ich mit der ‚Werkebene‘. a) Erzeugung einer diegetischen Vorstellungswelt: In zahlreichen Fiktionstheorien gilt die Erzeugung einer diegetischen Vorstellungswelt geradezu als notwendige Bedingung von Fiktionalität, weshalb ich diesen Punkt am ausführlichsten behandeln werde.44 Die possible worlds theory etwa argumentiert, dass erst dann, wenn in der || 42 Gemeint sind etwa der Film, die Oper, der Comic und andere mediale ‚Mischformen‘. 43 Ich wende mich damit gegen Andreas Kablitz, der davon ausgeht, dass zwar Fiktivität, nicht aber Fiktionalität skalierbar sei. Außerdem vernachlässigt er die Staffelbarkeit der Unterschiede zwischen verschiedenen Kulturen und historischen Zeiten. Vgl. Andreas Kablitz, „Literatur und Fiktion – nebst einem Nachruf auf den Erzähler“, in: Irina O. Rajewsky/Ulrike Schneider (Hg.), Im Zeichen der Fiktion. Aspekte fiktionaler Rede aus historischer und systematischer Sicht. Festschrift für Klaus W. Hempfer zum 65. Geburtstag, Stuttgart: Steiner, 2008, 13–44. 44 Für gewöhnlich wird in diesem Zusammenhang von einer ‚fiktiven Welt‘ gesprochen. Um deutlich zu machen, dass ich die Fiktivität als eine skalierbare Größe begreife, wähle ich den allgemeineren Begriff der diegetischen Vorstellungswelt. Ich orientiere mich hierbei an Gérard Genette, Die

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Vorstellung des Rezipienten eine ‚aktual mögliche Welt‘ entsteht, diese auch als fiktional wahrgenommen werden kann.45 Erst dann seien jene Prozesse des re-centering bzw. der Immersion möglich, auf deren wichtige Bedeutung etwa Marie-Laure Ryan und Christiane Voss aufmerksam gemacht haben.46 Mir scheint diese Annahme durchaus bedenkenswert. In einer beeindruckenden Bilderserie führt Udo L. Figge vor, dass man rein abstrakte Kunst nicht als fiktional wahrnehmen kann und sich entsprechende Effekte erst einstellen, wenn man auf den jeweiligen Bildern konkrete Wirklichkeitselemente zumindest erahnen kann.47 Allerdings scheint mir zugleich eine kleine Abwandlung nötig zu sein. Für die Frage der Fiktion scheint mir nämlich eher ein bestimmtes Spiel von Mimesis und Abweichung bzw. Verfremdung relevant: gleichsam eine skalierbare, bipolare Achse der ‚Nähe‘ zu jeweils als real erachteten „Realitätssystemen“.48 Ich knüpfe damit durchaus an eine lange Tradition an. Bereits Aristoteles bringt mimesis und poiesis in einen engen Zusammenhang, indem er die Mimesis als Darstellung des Möglichen definiert (also dessen, wie es sein könnte).49 Auch Wolfgang Iser charakterisiert die Fiktion als ein Ergebnis der Selektion und Kombination von Wirklichkeitsmerkmalen, was unweigerlich eine gewisse Abweichung mit sich bringt.50 Offenbar darf das ästhetische Gebilde, wenn es als fiktional wahrgenommen werden soll, weder zu nah noch zu fern von der ‚Realität‘ sein. In der Theorie des Theaters (das man mit einigem Recht als die mimetischste aller Künste ansehen kann), findet sich dieser Gedanke bereits formuliert. So betont Nicolai Hartmann in seiner Ästhetik, dass das Theater immer schon Strategien der „Begrenzung des Realismus“ verfolge,

|| Erzählung, hg. v. Jochen Vogt, München: Fink 1998. Genette zufolge ist die Diegese „eher ein ganzes Universum als eine Verknüpfung von Handlungen. Sie ist mithin nicht die Geschichte, sondern das Universum, in dem sie spielt“ (201f.). Hieran anknüpfend begreife ich die diegetische Vorstellungswelt als eine ‚Welt‘, die aus je mehr oder weniger fiktiven Elementen bestehen kann und nicht auf die histoire der Erzähltheorie eingeschränkt ist. Damit ist, wie ich im Folgenden ausführen werde, die Grundlage gegeben, um (in allen hier behandelten Medien) Artefakte zu berücksichtigen und zugleich präzise voneinander zu unterscheiden, die einen unterschiedlichen Grad an Fiktivität aufweisen, wie etwa ein Märchen und einen historischen Roman. 45 Bezogen auf Texte spricht die possible worlds theory von einer textual actual world. Vgl. dazu Carola Surkamp, „Narratologie und possible-worlds theory“ (Anm. 16), 157f. 46 Vgl. Marie-Laure Ryan, „Fiktion, Kognition und nichtverbale Medien“, in: Gertrud Koch/Christiane Voss (Hg.), ‚Es ist, als ob‘. Fiktionalität in Philosophie, Film- und Medienwissenschaft, München 2009, 69–86, und im selben Band: Christiane Voss, „Fiktionale Immersion“, 127–138. 47 Vgl. Udo L. Figge, „Semiotisches vs. Nicht-Semiotisches“ (unveröffentlichtes Manuskript). Zur engen Verflechtung von Mimesis und Fiktion vgl. auch Joachim Küpper, „Mimesis und Fiktion“ (Anm. 29), 190. Hierbei werden die einzelnen Kategorien m.E. allerdings etwas allzu scharf voneinander abgegrenzt. 48 Vgl. dazu Uwe Durst, Theorie der phantastischen Literatur (Anm. 11). 49 Vgl. Aristoteles, Poetik, 1451a. 50 Vgl. Wolfgang Iser, Das Fiktive und das Imaginäre (Anm. 19), Kap. I.3.

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um den Spielcharakter der theatralen Mimesis sichtbar zu machen.51 Diese fiktionskonstitutiven Abweichungen können sowohl auf der diegetischen ‚Inhaltsebene‘ als auch auf der Darstellungsebene realisiert werden: inhaltlich als je verschieden offensive Fiktivität, darstellungsstrategisch als Verfremdung. Beides erhöht die Wahrscheinlichkeit einer fiktionalisierenden Wirkung des Kunstwerks. Von daher kann man durchaus sagen, dass Fiktivität und Fiktionalität zusammenhängen und Ersteres zu einer Skalierung des Letzteren beiträgt.52 Mir scheint nun bedenkenswert, dass dieses Spiel für alle drei (von mir behandelten) Künste (also Literatur, Malerei und Musik) konstitutiv ist, wenngleich es je verschieden realisiert wird.53 Für die Literatur ist dies schon vielfach erforscht. Phantastische Literatur wird leichter als fiktional wahrgenommen als realistische. Und auch den verschiedenen Darstellungskonventionen (wie z.B. Groteske, Satire, onirische Literatur etc.) ließen sich wohl unterschiedlich hohe ‚Fiktionalisierungskoeffizienten‘ zuweisen, wie ich es nennen würde. Dass dies auch für die Malerei gilt, lässt sich an den folgenden beiden Abbildungen nachvollziehen. Sowohl der ‚eindeutig‘ fiktive Gegenstand (vgl. Abb. 3) als auch die verfremdende Malweise (vgl. Abb. 4) stoßen unweigerlich Fiktionalisierungsprozesse an. Auch bei diesen beiden Bildern kann man durchaus von einer ambivalenten Referenz sprechen. Goyas Koloss (Abb. 3) wird aufgrund seiner irrealen Größe unweigerlich als fiktiv erkannt, wodurch der referentielle Aussagewert des Bildes eingeklammert wird; es entsteht eine Wahrnehmung des Als-ob, die auch bei der Berücksichtigung der allegorischen Bedeutungsschicht des Bildes nicht ganz verschwindet. In Franz Marcs Bild (Abb. 4) wiederum ist es vor allem die verfremdende Malweise selbst, die fiktionalisierend wirkt. Obwohl es für die dargestellten ‚Gegenstände‘ (also die Pferde) weitgehende Entsprechungen in der Realität gibt, stellt sich beim Betrachter zugleich die Ahnung einer möglichen anderen Welt ein, in der Pferde blau und in der dargestellten Weise gedrungen sein könnten. Indem Marc seine Malweise also zwischen Mimesis und Verfremdung ansiedelt, erzeugt er bildlich eine Als-obWelt. Bei beiden Bildern überlagern sich folglich unterschiedliche Rezeptionsprozesse, die dennoch gleichzeitig ablaufen können.54

|| 51 Vgl. Nicolai Hartmann, „Das Schauspiel und die Kunst des Schauspielers“, in: ders., Ästhetik, Berlin: De Gruyter 21966 [1953], 108–113, Zitat auf 112. 52 Vgl. dazu bereits Jan-Dirk Müller, „Literarische und andere Spiele“ (Anm. 7). 53 Mit den folgenden Überlegungen setze ich mich teilweise von Küpper ab, der nur der Literatur Mimesis und Fiktionalität zuspricht, während die Malerei ihm zufolge nur durch Mimesis und die Musik durch keine der beiden Kategorien charakterisiert wird. Vgl. Joachim Küpper, „Mimesis und Fiktion“ (Anm. 29), 178, 186f., 189. 54 Zum Konzept der ‚mehrkanaligen‘ Rezeption vgl. Barbara Ventarola, Transkategoriale Philologie (Anm. 2), Kap. 3.3.3.4.

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Abb. 3 (links): Francisco de Goya, Der Koloss (um 1808–1812), Museo del Prado, Madrid Abb. 4 (rechts): Franz Marc, Die kleinen blauen Pferde (1911), Walker Art Center, Minneapolis

Interessant ist, dass dieses Spiel zwischen Mimesis und Verfremdung durchaus trans-historisch und trans-kulturell auffindbar ist, nur in verschiedenen Abstufungen.55 So spielt die fiktionalisierende Verfremdung durchaus auch im RenaissancePorträt eine große Rolle, und dies obwohl es besonders stark der Mimesis-Norm verpflichtet ist. Nur die Verfahren und der Grad der ‚Fiktionalisierung‘ sind andere. Die berühmte Hand im Zentrum von Leonardo da Vincis Dame mit dem Hermelin (vgl. Abb. 11, S. 91) ist hierfür ein besonders eindrückliches Beispiel. Obwohl sich da Vinci insgesamt weitgehend an die rinascimentale Norm der Mimesis hält, verleiht er der Hand durch die verfremdende Prononcierung der Finger etwas Tierhaftes. Sie scheint geradezu ein Eigenleben zu entwickeln, und zwar sehr viel mehr als das daneben abgebildete Hermelin. Auf diese Weise hebt Leonardo den Als-ob-Charakter des Porträts hervor und erzeugt ebenfalls eine referentielle Ambivalenz. Im interkulturellen Vergleich zeigt sich zudem, dass die Kunst außer-europäischer (nicht in der platonisch-aristotelischen Tradition stehender) Länder offenbar sehr viel offensiver bzw. freier mit verfremdenden Durchkreuzungen mimetischer Abbildlichkeit spielen kann. Die Gegenüberstellung eines französischen und eines japanischen Bildes aus dem achtzehnten/neunzehnten Jahrhundert (s. Abb. 5 u. 6) macht dies sinnfällig.

|| 55 Zu erwähnen ist freilich, dass die jeweiligen Epochen und Kulturen sich auch intern ausstaffeln lassen. Um der Übersichtlichkeit willen lasse ich diesen Punkt hier jedoch weg. Zur Skalierung kultureller Zugehörigkeit vgl. auch Barbara Ventarola, Transkategoriale Philologie (Anm. 2), Kap. 3.3.3.

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Abb. 5 (links): François Boucher, Pastorale (1768), The Metropolitan Museum of Art, New York Abb. 6 (rechts): Hokusai, Ôji (1801–1804), Katsushika Hokusai Museum of Art, Nagano

Obwohl die beiden Bilder auffällige Ähnlichkeiten im Sujet und in der Bildkomposition aufweisen, ist die Verfremdung des Wirklichen bei Hokusai viel ausgeprägter. Relevant ist hierbei nicht nur die stilisierende Ausführung des Farbholzschnitts, die der dargestellten Welt etwas Unwirkliches, Entrücktes verleiht. Hokusai reißt vielmehr ausgeprägte Leerstellen, ja Löcher in das Bilduniversum ein, die den Untergrund des Bildträgers sichtbar machen. Allerdings wird dieser hierdurch selbst zu einem Faktor, der die fiktionalisierende Ambivalenz des Bildes erzeugt: Im Bilduniversum kann der durchscheinende Bildträger zugleich als Wolkenband dekodiert werden. Auf diese Weise wirkt das Bild nicht nur durch die Verfremdung fiktionalisierend, sondern auch durch seine besondere, ambivalente Nutzung des Rahmens.56 Bereits hier deutet sich also an, wie eng die verschiedenen Komponenten miteinander verflochten sind und dass es starke kulturelle Unterschiede bei der Behandlung bildkünstlerischer Fiktionalität sowie der diesbezüglichen Nutzung von Rahmungen gibt. Doch zur Rahmung später mehr. Meines Erachtens gilt diese Achse nun durchaus auch für die Musik, wenngleich freilich in besonderer Weise, nämlich abstrakter und konkret-unmittelbarer zugleich. Dies liegt an der spezifischen Art der musikalischen ‚Zeichen‘, die im selben

|| 56 Unter Rahmen verstehe ich hier und im Folgenden alle direkt an das Kunstwerk ‚angrenzenden‘ Elemente, die es als Kunstwerk konstituieren, indem sie es (durchaus auch rein materiell) eingrenzen und auf diese Weise zugleich von der Wirklichkeit separieren und mit ihr verbinden. Im Folgenden dazu mehr. Wenngleich natürlich zu bedenken gilt, dass Holzschnitte schon aufgrund der Technik per se stilisierter sind als Ölgemälde, wirkt Hokusais Bild mit den erwähnten Ambivalenzen aus unserer ex post-Perspektive dennoch viel avancierter als Bouchers Gemälde, und kaum zufällig hat Hokusai die europäische Avantgardemalerei, die dieses Spiel meta-fiktional ausagiert, sehr stark geprägt. Die Frage, ob Hokusai die obengenannte Ambivalenz bewusst inszeniert, steht noch zu erforschen. Bei seinem bekannten Hang zum abgründigen Spiel ist dies aber sehr wahrscheinlich.

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Moment abstrakt und sinnlich, die also nicht-referentiell bzw. nicht-semantisch im engen Sinne sind und dennoch gewisse (semantische) ‚Abbildungsqualitäten‘ aufweisen.57 Die räumliche Ausbreitung der Schallwellen führt dazu, dass beim Hören von Musik unweigerlich der Eindruck aufgefalteter Räume und vergehender Zeit entsteht, beides Basiseigenschaften fiktional-diegetischer Universen. Durch Rhythmus, Harmonik und Melodik werden diese zudem mit Ordnungen und Strukturen durchzogen bzw. überformt, die weit mehr als nur quasi-syntaktischen Charakter haben.58 Denn mit diesen abstrakten diegetischen Qualitäten siedelt sich auch die Musik zwischen der ‚Abbildung‘ realer Ordnungsstrukturen (vor allem beim Rhythmus) und deren Verfremdung (Rhythmus, Melodik und Harmonik) an und erzeugt so durchaus eine fiktionalisierende Wirkung.59 Kaum zufällig wird die Musik bereits seit der Antike als bevorzugter Ort der Repräsentation (transzendenter und immanenter) Ordnungen theoretisiert (etwa von Platon, Augustinus u.a.), wodurch vor allem ihre quasi-mimetischen Eigenschaften hervorgehoben werden.60 Offenbar wird das Hörerlebnis genau dieses Changierens direkt in eine Theorie musikalischer Ordnungsrepräsentation überführt, die man, wenn man nicht religiös ist, durchaus als fiktional lesen kann: Aus dieser Perspektive wird hier so getan, als ob es eine transzendente Ordnung gäbe, auf die die Musik verweise. Verstärkt wird diese Wirkung durch die stark sinnliche Erlebniskomponente von Musik. So sind klangliche Zeichen meines Erachtens aufgrund ihrer unmittelbaren Sinnlichkeit gerade nicht arbiträr, wie zuweilen postuliert wird,61 sondern evozieren (durch Klangfarbe, Timbre, Lautstärke etc.) unweigerlich Stimmungsqualitäten, die durch die ‚verfremdende‘ Strukturierung (also durch Melodie, Harmonik und Rhythmus) noch verstärkt werden. Wie groß die atmosphärischen Differenzen zwischen verschiedenen Musikstücken sein können, kann man eindrücklich nachvollziehen, wenn man sich nacheinander z.B. den Anfang von Rammsteins Feuer frei und sodann von Vivaldis La notte anhört. Der Eindruck, dass Ersteres hochgradig aggressiv und Letzteres dagegen sehr sanft und beruhigend ist, stellt sich auf eine so unmittelbar physische Weise ein, dass er ohne Weiteres als transkulturell postulierbar ist.62 Man || 57 Zur Semiotik der Musik vgl. Winfried Nöth, Handbuch der Semiotik, Stuttgart/Weimar: Metzler 2 2000 [1985], Kap. VIII.2. 58 Vgl. dazu auch schon Peter Faltin, „Musikalische Syntax. Ein Beitrag zum Problem des musikalischen Sinngehalts“, in: Archiv für Musikwissenschaft 34.1 (1977), 1–19. 59 Vgl. dazu auch Barbara Ventarola, „Rhythmen des Textes – Rhythmen des Begehrens: Zur Polyrhythmik in Francesco Petrarcas Canzoniere“ (in Vorb.). 60 Vgl. ebd. 61 Vgl. dazu etwa Joachim Küpper, „Mimesis und Fiktion“ (Anm. 29), 179f. 62 Neuere musikethnologische Studien deuten mehr und mehr auf transkulturelle und damit von kulturellen Codierungen unabhängige emotionale Wirkungen von Musik hin. So wurden Eskimos, die noch nie mit der europäischen Musik in Kontakt gekommen waren, unterschiedliche europäische Musikstücke vorgespielt, denen sie Bilder mit Gesichtern zuordnen sollten, die verschiedene Stimmungen ausdrückten. Die Ergebnisse stimmten auffallend mit jenen europäischer Probanden

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könnte hier von ‚Als-ob-Emotionen‘ sprechen, die durch die Musik erzeugt und moduliert werden. So handelt es sich erlebnismäßig zwar sicherlich um ‚echte‘ Emotionen, allerdings entstehen diese losgelöst von sozio-pragmatischen Interaktionszusammenhängen, in denen Emotionen für gewöhnlich eine Rolle spielen. Das Hören eines Musikstücks wird gewissermaßen zum Eintauchen in stark verfremdete fiktionale Klangwelten und zugleich zum ‚Bad‘ in fiktionalen Emotionen. Ich schlage vor, in diesem Fall von nicht-propositionalen Als-ob-Strukturen zu sprechen, die – zumal in ihrer Skalierbarkeit – von einer umfassenden Fiktionstheorie durchaus mitberücksichtigt werden müssten.63 In allen drei Künsten stellt das Spiel zwischen mimetischen Qualitäten und Verfremdung also einen wesentlichen Faktor für ihre fiktionalisierende Wirkung dar. Allerdings weist er eine deutliche Skalierung auf, und zwar sowohl untereinander als auch je kulturell und historisch. Die weitere Forschung wäre nun angehalten, die einzelnen Elemente, die (in den jeweiligen Medien) für diese Skalierung und die dahinterstehenden Prozesse verantwortlich sind, genauer zu bestimmen und (auch historisch und kulturell) zu untersuchen. Es ließen sich so für die verschiedenen Künste, Epochen und Kulturen Achsen aufspannen, mit denen komplexe Relationen zwischen ihnen differenziert erfassbar werden. Dies könnte auch die Basis für eine komplexe Theorie von Medienkombinationen und deren Fiktionalität sein. Einzelne ästhetische Artefakte ließen sich so präziser und differenzierter erfassen. b) Narrativität: Die Narrativität stellt letztlich eine Unterform der Mimesis dar – bereits Aristoteles definiert Mimesis bekanntlich als Nachahmung von Handlungen.64 Ich möchte sie gleichwohl gesondert behandeln, weil durch die Fokussierung auf die dynamische Zeitlichkeit ein besonderer Aspekt hinzukommt. Viele bisherige Fiktionstheorien sehen hierin das wichtigste Ausschlusskriterium für Malerei und Musik. Nur die Literatur (und hier gar nur die narrative Literatur) könne als fiktional bezeichnet werden, da nur diese Als-ob-Welten und -Handlungen in dynamischer Ausdehnung vorführen könne.65 Wenn ich auch in diesem Punkt demgegenüber dafür optiere, von einer probabilistischen Skalierung auszugehen und auch der Malerei und der Musik eine gewisse (fiktionalisierende) Narrativität zuzuschreiben, so kann ich damit an entsprechende Nachweise von Werner Wolf anknüpfen. In einer grund-

|| überein, was stark auf eine (zumindest partielle) Nicht-Arbitrarität musikalisch erzeugter Stimmungsqualitäten hinweist. 63 Ich wende mich damit gegen Theorien, die das Fiktionale auf propositionale Als-ob-Strukturen einengen. Vgl. dazu etwa Klaus W. Hempfer, „Zu einigen Problemen einer Fiktionstheorie“, in: Zeitschrift für französische Sprache und Literatur 100 (1990), 109–137. 64 Vgl. Aristoteles, Poetik 1448a. 65 Vgl. dazu nochmals Richard Routley, „The Semantical Structure of Fictional Discourse“ (Anm. 3); Frank Zipfel, Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität (Anm. 3).

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legenden Studie hat bereits er die Prototypentheorie fruchtbar gemacht, um das narrative Potential dieser drei Künste zu vergleichen und zu skalieren.66 Mir scheint, man kann hier durchaus noch weiter gehen und ähnliche Staffelungen auch für die Fiktionalität der entsprechenden Gebilde postulieren. Hierfür kann die obige Re-Definition von Kunst und Fiktionen als Medien möglicher Kommunikationen fruchtbar gemacht werden. Bereits Diderot sieht eine wesentliche Leistung von Kunst in ihrem Potential, beim Rezipienten fiktionale narrative Skripte anzustoßen – also dessen oben skizzierte kognitive Fähigkeit der kreativen Re-Kombination von zunächst repräsentierenden Skripten oder frames zu aktivieren. Hierbei berücksichtigt er auch, dass dieser rezeptive „Verarbeitungsmodus“ durchaus durch die speziellen „Artefakteigenschaften“ beeinflusst wird.67 Oder anders gesagt: Er führt vor, dass es sich dabei gerade nicht um voneinander unabhängige Aspekte oder gar um ein Entweder-Oder handelt. In seinem fiktionstheoretisch höchst ambitionierten (Anti-)Roman Jacques le Fataliste spielt er dies vor allem für die Erzählliteratur durch. Die zahlreichen Gattungsmischungen, die Diderot dort inszeniert, zeigen zunächst, wie fiktionale Narrativität in allen möglichen (literarischen) Gattungen realisiert werden kann und hierdurch zugleich moduliert wird. Durch beständige metaleptische Unterbrechungen des narrativen Stroms macht Diderot überdies sichtbar, dass (entgegen einer monolithischen konzeptuellen ‚Verblockung‘ von Fiktionalität) oft winzige narrative Versatzstücke ausreichen, um den Fiktionsmodus des Lesers am Leben zu erhalten. Und innerhalb des diegetischen Universums inszeniert er mit den Gesprächen zwischen Jacques und seinem Herrn eine Verkettung von Erzählungen, die beim jeweiligen fiktionsinternen Zuhörer immer neue generieren. Interessant ist, dass Diderot diesen Gedanken auch auf die Malerei appliziert. An einer Stelle des Buches ersetzt Jacques die Erzählung einer Ehebruchsgeschichte durch die Schilderung eines imaginären Bildes, das gleichsam wie ein Film-Still den zentralen Moment festhält: Un moine et deux filles en sont sortis. Le moine s’enfuit à toutes jambes. Le cocher se hâte de descendre de son siège. Un caniche du fiacre s’est mis à la poursuite du moine, et l’a saisi par sa jaquette; le moine fait tous ses efforts pour se débarrasser du chien. Une des filles, débrail-

|| 66 Vgl. Werner Wolf, „Das Problem der Narrativität in Literatur, Bildender Kunst und Musik: Ein Beitrag zu einer intermedialen Erzähltheorie“, in: Ansgar Nünning/Vera Nünning (Hg.), Erzähltheorie transgenerisch, intermedial, interdisziplinär, Trier: WVT 2002, 23–104; s. auch ders., „Narratology and Media(lity): The Transmedial Expansion of a Literary Discipline and Possible Consequences“, in: Greta Olson (Hg.), Current Trends in Narratology, Berlin/New York: De Gruyter 2011, 145–180. 67 Die Begriffe stammen von Renate von Heydebrand/Simone Winko, Einführung in die Wertung von Literatur. Systematik – Geschichte – Legitimation, Paderborn: Schöningh 1996, 30. Dort werden sie allerdings in eine wechselseitige Ausschlussopposition gebracht.

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lée, la gorge découverte, se tient les côtés à force de rire. L’autre fille, qui s’est fait une bosse au front, est appuyée contre la portière, et se presse la tête à deux mains.68

Jacques entscheidet sich für dieses Darstellungsverfahren, damit sich sein Herr, ausgehend von diesem Vorstellungsbild, die Geschichte gleichsam selbst erzählen kann; und explizit rühmt jener die „Komposition“ des Bildes, weil es den gesamten Handlungsverlauf perfekt evoziere, weil es also die leserseitige Erzeugung narrativer Skripte anstoße.69 Wenn Diderot damit implizit deutlich macht, dass durchaus auch Einzelbilder und nicht nur Bildserien narrativ sein können,70 so wird dieser Gedanke zu einem Grundprinzip seines berühmten Salon von 1765. Viele der dortigen Bildkritiken sind weniger Ekphrasen i.e.S. als vielmehr von den jeweiligen Bildern angestoßene fiktionale Erzählungen, die sich um das Bildpersonal ranken und sich oft auch stark davon entfernen.71 Diderot inszeniert hier also Fiktionalisierungsprozesse bei der Betrachtung von bildender Kunst, bei denen rezeptive und produktive Anteile intrikat verflochten sind. Implizit liefert er damit die Parameter einer Theorie bildkünstlerischer Fiktionalität, die die Bilder im oben skizzierten Sinne als Medien möglicher Kommunikationen (in diesem Fall: Erzählungen) begreift. Dass diese evokative, fiktionalisierende Narrativität von Bildern durchaus skalierbar ist, veranschaulicht ein Vergleich der folgenden drei Bilder, die bewusst verschiedenen Epochen und Kulturen entnommen sind (vgl. Abb. 7 bis 9). Obwohl alle Darstellungen aufgrund der Simultanlogik von Bildlichkeit grundsätzlich statisch

|| 68 Denis Diderot, Jacques le Fataliste et son maître, hg. v. Barbara K.-Toumarkine, Paris: Flammarion 1997, 217f. — „Ein Mönch und zwei Huren sind ausgestiegen. Der Mönch läuft davon, so schnell ihn seine Beine tragen. Der Kutscher hat es eilig, vom Bock herunterzukommen. Ein Pudel aus der Droschke hat sich an die Verfolgung des Mönchs gemacht und ihn an seiner Kutte gepackt; der Mönch bemüht sich aus Leibeskräften, den Hund abzuschütteln. Eine der halbnackten Huren, deren Brust entblößt ist, hält sich die Seiten vor Lachen. Die andere Hure, die sich eine Beule an der Stirn gestoßen hat, lehnt am Droschkenschlag und drückt sich mit beiden Händen den Kopf“ (Denis Diderot, Jacques der Fatalist und sein Herr, übers. v. Ernst Sander, Stuttgart: Reclam 2008, 224). 69 Denis Diderot, Jacques le Fataliste et son maître (Anm. 68), 218: „Jacques, ta composition est bien ordonnée, riche, plaisante, variée, et pleine de mouvement.“ 70 Zu einer umfassenderen Diskussion dieser Frage vgl. auch Werner Wolf, „Das Problem der Narrativität in Literatur, Bildender Kunst und Musik“ (Anm. 66), 53–75; ders., „Pictorial Narrativity“, in: David Herman/Manfred Jahn/Marie-Laure Ryan (Hg.), Routledge Encyclopedia of Narrative Theory, London/New York: Routledge 2005, 431–435. Mit der obigen Aussage setze ich mich teilweise von Wolf ab, der malerische Narrativität zwar konzediert, allerdings nur für Bilderserien. 71 Besonders ausgiebig inszeniert Diderot dies bei Greuzes Bild Jeune fille pleurant son oiseau mort, das ihm zum Anlass einer ganzen Erzählung wird. Vgl. dazu Denis Diderot, Salons, Bd. 2, 1765, hg. v. Jean Seznec/Jean Adhémar, Oxford: Oxford UP 1960, 145–149. Auch dort bewertet er das Bild sodann genau deshalb als perfekt, weil es einen Ausschnitt aus einem narrativen Skript wählt, der auf den Zuschauer besonders fiktionalisierend (im eben skizzierten Sinne) wirkt (vgl. ebd., 145).

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sind,72 kann man zwischen den Abbildungen einen Anstieg des jeweiligen narrativen Fiktionspotentials ausmachen. Dieser ergibt sich aus der anwachsenden Zahl solcher Bildelemente, die entsprechende kognitive Skripte anstoßen, wie etwa die dargestellte Bewegtheit der Agenten und der Objekte etc.

Abb. 7 (links): Jan Vermeer, Ansicht von Delft (1660/1661), Mauritshuis, Stockholm Abb. 8 (rechts): Pieter Brueghel d.Ä., Die Jäger im Winter (1565), Kunsthistorisches Museum, Wien

Abb. 9: Hokusai, Plötzlicher Windstoß (1831–1833), Staatliche Kunstsammlung, Dresden

|| 72 Vgl. dazu vor allem die Bildtheorie in Lessings Laokoon. Mit seinem Konzept des ‚fruchtbaren Augenblicks‘, das große Ähnlichkeiten zu Diderots oben erwähnten Überlegungen aufweist, legt Lessing allerdings selbst die Grundlagen, um die Opposition zwischen der Malerei als ‚Raumkunst‘ und der Literatur als ‚Zeitkunst‘ zu flexibilisieren.

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Vermeers Ansicht von Delft (Abb. 7) weist ein sehr geringes narratives Evokationspotential auf, weil es nahezu keine Ereignisse darstellt und somit eher als deskriptiv einzustufen ist.73 Die (sehr wenigen) Figuren stehen bewegungslos am Ufer. Ihre einzige Tätigkeit besteht in den Gesprächen, in die sie offenbar vertieft sind.74 Auch die Fortbewegungsmittel werden nicht in Bewegung dargestellt, sondern liegen offenbar vor Anker. Die gesamte Szenerie wirkt fast wie ein Stillleben, was zumal bei einer Stadtansicht höchst bemerkenswert ist. Im Vergleich zu Vermeers Stadtansicht weist Breughels Bild (Abb. 8) eine deutlich höhere Ereignishaftigkeit und damit mögliche Narrativität auf. Nicht nur ist die Anzahl an dargestellten Figuren stark erhöht, diese befinden sich auch alle in Bewegung bzw. sind in unterschiedliche Ereignissequenzen eingespannt (Wanderung, Vogelflug, Schlittschuhlaufen etc.). Dem Betrachter wird dadurch eine Unzahl möglicher Narrationen angeboten, die er eigentätig ergänzen kann. Dies wird bei Hokusai (Abb. 9) noch potenziert, indem er selbst den Wind als einen Akteur darstellt und damit die Ereignishaftigkeit der atmosphärischen Bedingungen hervorhebt. Auf diese Weise werden auch nicht eigenbewegte Objekte, wie die Bäume und die fliegenden Hüte, in die umfassende Ereignishaftigkeit hineingezogen.75 Die weitere Forschung könnte sich nun daranmachen, den evokativen ‚Narrativitätsgrad‘ von Einzelbildern zu skalieren, indem man präzise jene Bildelemente bestimmt und in Beziehung zueinander setzt, die entsprechende Fiktionalisierungsprozesse anstoßen – und dies auch in einer epochen- und kulturvergleichenden Perspektive. Ich möchte mich hiermit jedoch nicht weiter aufhalten und stattdessen noch einen Seitenblick auf die Musik werfen.

|| 73 In der literaturwissenschaftlichen Erzähltheorie, die man hier – mutatis mutandis – durchaus anwenden kann, wird als kleinste Einheit des Erzählens (= Narrem) das Ereignis definiert. Wenn keine Ereignisse, sondern Sachverhalte bzw. statische Gegebenheiten dargestellt werden, spricht man von Beschreibung bzw. Deskription. 74 Damit könnte man freilich auch hier ein gewisses Narrationspotential dingfest machen, das nun gleichsam intradiegetisch realisiert wird. Die Figuren werden durch ihre bildnerisch suggerierten Gesprächshandlungen wie intradiegetische Erzähler dargestellt (Alltagsgespräche bestehen fast überwiegend aus Erzählungen), wobei sich der Betrachter den Inhalt der suggerierten Erzählungen selbst denken muss. Zum Konzept des intradiegetischen Erzählers vgl. Genette, Die Erzählung (Anm. 44), 147–150. Die Tatsache, dass Vermeer in sein sonst sehr statisches Setting die erwähnten komplexen Kommunikationsstrukturen einfügt, lässt vermuten, dass er genau das Verhältnis zwischen malerischer Narrativität und Deskriptivität selbstreferentiell auslotet. 75 Die obige These ließe sich durchaus empirisch überprüfen. Hierfür könnte man z.B. Versuchspersonen schriftliche Ekphrasen der einzelnen Bilder anfertigen lassen und die jeweiligen Texte sodann auf den Anteil solcher sprachlichen Strukturen hin untersuchen, die zeitliche Dynamik und Narrativität zum Ausdruck bringen.

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Wolf spricht von der Musik als einer Hohlform von Narrativität.76 Zwar arbeite sie mit Narremen, allerdings seien diese so abstrakt, dass sie nicht auf ein konkretes Geschehen referieren könne (er nennt etwa Aufstieg, Abfall, Konflikt, Verflechtung, Spannung, Lösung etc.).77 Genau dies scheint mir nun aber eine besonders gute Basis für den Anstoß von Fiktionalisierungsprozessen zu sein: Genau die Offenheit und semantische Leere der ‚narrativen‘ Strukturen von Musik ermöglicht zahlreiche kreative Füllungen durch die Rezipienten.78 Dabei wird eine eher semantisierende Musik wie die Programmmusik sicherlich mehr evokatives und somit fiktionalisierendes Potential entfalten als die absolute Musik; allerdings ist auch Letztere keineswegs frei davon. Wenn also etwa Gustav Mahler (einer der Hauptvertreter der Programmmusik) in seinen Symphonien durch Lautmalereien u.Ä. unüberhörbar fiktionale Als-ob-Klangwelten erschafft,79 so muss man sich nur einmal Richard Strauss’ berühmten „Sonnenaufgang“ anhören, um festzustellen, dass dies auch in der absoluten Musik der Fall ist. Niemand wird sich beim Anhören des entsprechenden Motivs der Vorstellung erwehren können, als ob just in jenem Augenblick irgendetwas Großes aufsteige, wobei jeder für sich diese Idee vermutlich anders konkretisieren wird.80 Ich würde für die Musik deshalb den Begriff der Syn-Fiktionalität einführen:81 Zwar kann man aufgrund des fehlenden propositionalen Gehalts und der geringen mimetischen Qualitäten bei Musik nicht unbedingt von Fiktionalität im strengen, herkömmlichen Sinne des Wortes sprechen;82 aufgrund ihrer besonderen Mischung von Abstraktheit und Sinnlichkeit kann sie jedoch – vor allem im Medienverbund – durchaus eine fiktionalisierende Wirkung entfalten, weil sie Fiktionalisierungsprozesse besonders gut unterstützt. Genau deshalb bietet sie sich für Medien-

|| 76 Vgl. Werner Wolf, „Das Problem der Narrativität in Literatur, Bildender Kunst und Musik“ (Anm. 66), 76–94. 77 Vgl. ebd., 93. 78 Vgl. dazu auch ebd., 82f. 79 Besonders sinnfällig wird dies in seiner 2. und 3. Symphonie. 80 Diese klanginduzierte Vorstellung hat durchaus etwas Fiktionales, weil man beim Rezipienten dabei (freilich in staffelbarer Form) von einem Illusionsbewusstsein ausgehen kann, vom Wissen also, dass die Idee des Aufsteigens im Modus des Als-ob durch den Kunstgenuss erzeugt wird. Aus dem obigen Satz geht hervor, dass der Titel keine notwendige Voraussetzung für diese implizite Narrativität darstellt. Sie ergibt sich aus der Tonfolge und dem Rhythmus selbst. Der Titel dient nur dazu, die musikalisch evozierte Narrativität zu konkretisieren. Aus diesem Grund würde ich hier auch nicht von Deskriptivität sprechen (vgl. dazu etwa Michael Walter, „Musical Sunrises: A Case Study of the Descriptive Potential of Instrumental Music“, in: Werner Wolf/Walter Bernhard (Hg.), Description in Literature and other Media, Amsterdam/New York: Rodopi 2007, 319–335). Durch die musikalische Gestaltung hebt Strauss nämlich genau den dynamischen, also ereignishaften Charakter des Sonnenaufgangs hervor. 81 Ich lehne mich hier an den linguistischen Begriff der Syn-Semantik an. Siehe hierzu auch Ernst Cassirers Unterscheidung zwischen connubium und commercium in: ders., Symbol, Technik, Sprache. Aufsätze 1927–33, hg. v. Ernst W. Orth, Hamburg: Meiner 1985, 161–164. 82 Vgl. dazu Joachim Küpper, „Mimesis und Fiktion“ (Anm. 29), 178f.

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wechsel und -kombinationen besonders an (siehe etwa die Filmmusik). Auch hier könnte sich also viel weitere Forschung anschließen, die dieses syn-fiktionale Potential (historisch und im Kulturvergleich) genauer skaliert und theoretisiert und damit auch die Fiktionalität von Medienkombinationen und -wechseln präziser durchleuchtet. c) Rahmung und Rahmen-Sprengung: Zur fiktionsunterstützenden Wirkung von Rahmungen gibt es ebenfalls bereits eine reiche Forschung.83 Zumeist wird davon ausgegangen, dass die Rahmung die Fiktionalität genau deshalb unterstütze, weil sie das Kunstwerk von der Wirklichkeit abkapsle.84 Auch hier stimme ich teilweise zu, schlage aber erneut zugleich eine Änderung vor, denn wie die Achse der ‚Mimesis‘ ist auch diese Achse meines Erachtens bipolar: Sowohl die Rahmung als auch deren Sprengung kann fiktionalisierend wirken. Oder genauer: Es handelt sich zumeist um ein intrikates, komplexes Zusammenspiel zwischen beiden Polen, wobei die Art der Wirkung je nach Gewichtung und Realisationsform eine andere ist. Als Anschauungsbeispiel bietet sich der Don Quijote von Cervantes an, der bereits eine tiefgründige implizite Fiktionstheorie vorstellt. In Kapitel 25 des ersten Teils führt Cervantes die benannte Paradoxie besonders eingängig vor, und dies bezeichnenderweise, indem er sie fiktionsintern inszeniert.85 Don Quijote nutzt die Natur dort nämlich selbst als Rahmen für ein privates Theaterstück, in dem er sich und Sancho Panza den rasenden Liebenden nach dem Vorbild des Orlando furioso vorspielt.86 Die einrahmenden Naturelemente unterstützen diesen (bewussten) Fiktionspakt mit sich selbst, indem sie das Spiel auratisierend einkapseln und überhöhen.87 Zugleich wird der Rahmen gesprengt, indem Don Qujiote Sancho am Schluss losschickt, um Dulcinea die Kunde von dem fingierten Liebeswahnsinn seines Herrn zu überbringen.88 Der Text inszeniert also zugleich die Fiktionswirkung der räumlichen Abgeschlossenheit als auch jene der lebensweltlichen Einbettung. Letztere wirkt freilich gleichsam umgekehrt: Das ‚Kunstwerk‘ fiktionalisiert hier die (fiktionsinterne) Wirklichkeit, indem Dulcinea von der Realität des Geschehens überzeugt werden soll, und inszeniert so die Ineinanderflechtung von wirklichen und möglichen Welten. Hierauf aufbauend würde ich einen weiteren theoretischen Begriff vor-

|| 83 Zu der hier zugrunde gelegten Definition des Rahmens s.o. Anm. 56. 84 Vgl. etwa Georg Simmel, „Der Bildrahmen – ein ästhetischer Versuch“, in: ders., Aufsätze und Abhandlungen 1901–1908, Bd. 1, hg. v. Rüdiger Kramme/Angela Rammstett/Ottheim Rammstett, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1995, 101–108. 85 Eine Besonderheit der Fiktion besteht ja darin, dass sie gleichsam alles in sich hineinspiegeln und dort doppeln kann. 86 Vgl. Miguel de Cervantes, Don Quijote de la Mancha, hg. v. Florencio Sevilla Arroyo, Madrid: Alianza 32008 [1605/1615], Bd. 1, 348. 87 Ebd., 351f. 88 Ebd., 352 u. 356–365.

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schlagen: Neben der Fiktion als Immersion89 wären auch die umgekehrten Effekte der Emersion bzw. Intrusion in die Wirklichkeit zu berücksichtigen, die fiktionale Artefakte erzeugen können. Als ein weiteres Beispiel könnte man Borges anführen, der im Epilog zu seiner Erzählung Tlön, Uqbar, Orbis Tertius (1940) genau eine solche Emersions- bzw. Intrusionswirkung der Fiktion inszeniert.90 Damit sind wir bereits bei einem weiteren Punkt: dem Paratext als Unterform der Rahmung – und auch hier, an den ‚Rändern‘ der Fiktion gleichsam, gilt das oben Genannte. Laut Genette führt der Paratext als Schwelle in die fiktionale Welt ein (oder aus ihr heraus), bleibt selbst jedoch noch weitgehend außerhalb.91 Bereits Foucault macht allerdings darauf aufmerksam, dass hier sehr viel intrikatere Verflechtungen zwischen innen und außen bestehen (können).92 Dies wirkt sich auch auf seine Fiktionalität aus. Anknüpfend an Foucault würde ich den Paratext als einen fiktionstheoretischen third space definieren, der ebenfalls bipolar wirken, ja sogar selbst eine skalierte Fiktionalität aufweisen kann. Am Prolog, und hier speziell anhand eines Vergleichs zwischen Cervantes und Borges, lässt sich dies gut vorführen. Bereits im Prolog zum Don Quijote wird der Paratext in das fiktionale Universum hineingezogen, indem der Autor selbst als fiktionalisierte Figur auftaucht. Durch diese Art der Rahmung wird der folgende Roman zugleich von der Wirklichkeit abgekapselt und mit ihr verflochten. Borges nun intensiviert die Fiktionalität des Prologs, indem er ihn zu einer eigenständigen fiktionalen Gattung macht: Zwischen den Prologen zu seinen Erzählungen und den Erzählungen selbst gibt es keinen Unterschied mehr, was die Ambivalenz der referentiellen Struktur angeht. Der Prolog wird selbst zum Ort der Fiktion. Was nun die Rahmungen von Malerei und Musik angeht, so lassen sich dort durchaus ähnliche Gratwanderungen und Verflechtungen feststellen. Zunächst zur Malerei. Einerseits bewirkt der Rahmen (hier zunächst ganz materiell begriffen als Bilderrahmen i.e.S.), dass das Bild auratisierend abgekapselt wird.93 Indem das Bild durch den Rahmen wie ein Fenster zu einer anderen – aktual möglichen – Welt erscheint, weckt bereits die Rahmung (halb unbewusst) die Erwartung von Fiktionalität. Die durchaus transhistorisch vorfindliche Häufigkeit von gemalten Rahmensprengungen – bei genauer Betrachtung erkennt man entsprechende Tendenzen näm-

|| 89 Siehe dazu nochmals Christiane Voss, „Fiktionale Immersion“ (Anm. 46). 90 Vgl. dazu Barbara Ventarola, „‚fantástico pero no sobrenatural‘. Irrealisierung und Objektivität bei Jorge Luis Borges“, in: Niklas Bender/Steffen Schneider (Hg.), Objektivität und literarische Objektivierung seit 1750, Tübingen: Narr 2010, 181–206, bes. 199–201. 91 Vgl. Gérard Genette, Paratexte, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 52014 [2001/1987], 10. 92 Vgl. Michel Foucault, Raymond Roussel, Paris: Gallimard 1963, 9–11. 93 Vgl. dazu auch Georg Simmel, „Der Bildrahmen – ein ästhetischer Versuch“ (Anm. 84).

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lich bereits in der mittelalterlichen (gar religiösen) Malerei94 – zeigt allerdings, dass sich die ästhetische Fiktionalität mit dieser einkapselnden Abschottung nicht zufriedengibt. Auch in diesem Fall besteht immer schon zugleich die gegenläufige Tendenz der Verflechtung von Kunst und Wirklichkeit, von fiktional und faktual – die Tendenz zur Emersion bzw. zur Intrusion von Fiktionen mithin. Erneut haben wir es also mit einer trans-historischen Bipolarität zu tun, die historisch und kulturell ausgestaffelt und auf die unterschiedlichste Weise realisiert und funktionalisiert werden kann. Bereits bei Ghirlandaio etwa (vgl. Abb. 10) wird die komplexe Wirkung von Rahmen fiktionsintern inszeniert.

Abb. 10: Domenico Ghirlandaio, Alter Mann mit Enkel (ca. 1490), Louvre, Paris

|| 94 Ein Durchgang durch die Mittelalter-Abteilung des Wallraff-Richartz-Museums in Köln belegt eindrucksvoll, wie häufig bereits die mittelalterliche (auch religiöse) Kunst mit dem Rahmen und (freilich sehr vorsichtigen) Rahmenübertretungen spielt.

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Neben der grotesk verformten Nase des alten Mannes erfüllt der bildinterne Rahmen die Funktion eines behutsamen Fiktionssignals. Beide Bildinhalte sind mehrfach codiert. Die auffällige Nase könnte man zunächst als Zugeständnis an die zeitgenössische Mimesisnorm lesen. Durch den damit suggerierten individuellen Charakter des alten Mannes wird die allegorische Lesart (alter Mann und Kind als Allegorien der Lebensalter und damit der Vergänglichkeit des Lebens) durch eine realistische ergänzt. Ähnlich wie die Hand in da Vincis Die Dame mit dem Hermelin weist die (ebenfalls sehr zentral situierte) Nase allerdings eine groteske Verformung auf und ist damit ebenfalls als ein Fiktionssignal zu deuten, mit dem Ghirlandaio auf den Als-ob-Charakter des Porträts hinweist.95 Zur Renaissance-spezifischen Übereinanderlagerung von Allegorie und konkreter Mimesis kommt also eine weitere, metafiktionale Deutungsebene hinzu. Diese Plurivalenz wird durch die geschickte Einfügung eines bildinternen Rahmens durch weitere Sinndimensionen ergänzt. Auch der Rahmen ist mehrfach codiert, insofern er sowohl als Bilder- als auch als Fensterrahmen lesbar ist. Als Bilderrahmen spiegelt er die einkapselnde Wirkung von Rahmungen in die bildnerische Fiktion hinein: Die ferne Landschaft im Hintergrund wird hierdurch gleichsam doppelt eingeklammert; sie erscheint – metafiktional – als Bild im Bild. Indem Ghirlandaio den bildinternen Rahmen jedoch nur zur Hälfte ‚zeigt‘, wird zugleich die Möglichkeit der Emersion zumindest angedeutet. Der Rahmen kann hierdurch nämlich auch als ein bildinternes Fenster dechiffriert werden, das möglicherweise wieder in die Wirklichkeit des Betrachters zurückführt. Die damit eingerahmte Außenwelt erscheint wie die Rückseite hinter jenem Innenraum, den man als Betrachter wie durch ein Vorderfenster sieht. Der Barock, der dieses Spiel bekanntlich besonders intensiv betreibt, stellt also nur eine Zuspitzung dieser transhistorischen Bipolarität dar. Ein Blick auf Tiepolos Deckenfresko der Würzburger Residenz veranschaulicht dies eindrucksvoll. Tiepolo lässt die abgebildeten Figuren durch die Verwendung von Stuck geradezu materiell über ihren Rahmen hinaustreten und in die Wirklichkeit des Betrachters hineinragen. Er erzeugt die fiktionalisierende Wirkung der Rahmensprengung also genau durch die besonders mimetische Darstellung. Erneut haben wir es mit einem komplexen Zusammenspiel mehrerer Komponenten zu tun. Und auch kulturell sind Abstufungen erkennbar. Auf Hokusais Bild Ôji bin ich bereits kurz eingegangen (s. nochmals Abb. 6). Indem der Untergrund, dessen Zugehörigkeit zum Konzept des Rahmens ich weiter oben bereits erläutert habe, konstitutiv zum Bildaufbau beiträgt, ist die Grenze zwischen Rahmen und Bild letztlich ganz aufgelöst. Die leeren Stellen können sowohl als Wolken im Bilduniversum als auch als Durchscheinen des Bildträgers dekodiert werden. Hier ist also selbst der leere Bilduntergrund ambivalent codiert und trägt so zur Fiktionswirkung des Bildes

|| 95 Wie da Vinci hebt Ghirlandaio diese Als-ob-Struktur seines ‚Porträts‘ auch dadurch hervor, dass er auf eine genaue Namensnennung verzichtet.

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bei. Und rechts oben im Bild verschwimmen die Grenzen noch mehr, denn durch das Fehlen eines äußeren Rahmens wird suggeriert, dass die bildinternen Wolken in die bildexterne Wirklichkeit diffundieren (oder auch umgekehrt). Die Fiktionalität drängt so über das Bild hinaus und fiktionalisiert die Realität gleich mit. Hier ist es nun die Auflösung der Unterscheidung zwischen Bild und Rahmung, die die fiktionalisierende Emersionswirkung des Bildes unterstützt. Damit deutet sich eine enge Verflechtung von Kunst und Lebenswelt an, die letztlich für die gesamte japanische (und chinesische) Kunst gilt. Diese wird nämlich insgesamt gar nicht gerahmt, ja ist häufig nicht einmal zum Aufhängen gedacht, sondern wird auf portablen Rollen aus geschöpftem Papier oder gar auf Gebrauchsgegenständen rezipiert. Dahinter steht offensichtlich eine Vorstellung von Fiktionalität, die doch recht stark von unserer westlichen abweicht: Indem man die Bilder mit sich herumtragen und je nach Belieben ansehen kann, ist eine momentane Fiktionalisierung der Wirklichkeit, ein Fiktionspakt mit sich selbst gleichsam immer und überall möglich. Die Fiktion wird gerade nicht über ihre abkapselnde Wirkung definiert, sondern als integraler Bestandteil des täglichen Lebens begriffen. Nun stellt sich natürlich auch hier die Frage nach dem Paratext, in diesem Fall dem Bildtitel. Ich kann darauf nicht mehr ausführlich eingehen, würde aber dafür optieren, ihn zur Betrachtung des Bildes hinzuzunehmen, und dies nicht zuletzt deshalb, weil auch hier sehr verschiedene Funktionalisierungen und fiktionstheoretisch höchst interessante Relationen zwischen Titel und Bild auffindbar sind. Der Titel von da Vincis Die Dame mit dem Hermelin (Dama con l’ermellino) etwa spielt geschickt mit den Erwartungen der Rezipienten und bricht sie, indem auf dem Bild (Abb. 11) sodann ein lebendes Hermelin und kein Pelz zu sehen ist. Um diese Interpretation des umstrittenen Gemäldes nachvollziehbar zu machen, muss man sich den zeitgenössischen Kontext bewusstmachen: Ende des 15. Jahrhunderts kam die Mode der sog. Flohpelze auf, die in zahlreichen Gemälden ‚dokumentiert‘ ist. Es handelt sich hierbei um kleine Pelze aus Hermelinfell, Zobelfell, Iltisfell oder Marderfell, die meistens über die Schulter gehängt wurden und die Gestalt des Tieres beibehielten: Kopf, Schwanz und Pfoten blieben sichtbar, wurden aber häufig mit Edelsteinen verziert. Ein aussagekräftiges künstlerisches Zeugnis dieser seit 1467 belegten Mode stellt Parmigianinos Junge Frau mit dem Flohpelz (Ritratto di una giovane donna, gen. Antea, ca. 1535) dar.96

|| 96 Der erste Nachweis eines edelsteinverzierten zibellino stammt aus dem Jahr 1467 und findet sich im Inventar der Besitztümer Karls des Kühnen, des Herzogs von Burgund. Vgl. hierzu und allgemein zur ‚Flohpelz-Mode‘ Gretel Wagner, „Flohpelz“, in: Zentralinstitut für Kunstgeschichte (Hg.), Reallexikon zur Deutschen Kunstgeschichte, Bd. 9, München: Beck 2003, Sp. 1288–1293; s. auch „Das ‚Flohpelzchen‘“, in: Der Rauchwarenmarkt, Leipzig 3. Dezember 1937, S. 3 (ohne Autorenangabe).

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Abb. 11: Leonardo da Vinci, Die Dame mit dem Hermelin (1483–1490), Czartoryski-Museum, Krakau

Der Titel von da Vincis Gemälde, der das Tier explizit nennt, spielt offenbar auf diese Mode an und bricht die dadurch entstehenden Erwartungen, indem er die Ambivalenz der Tierbezeichnung (als Pelz oder als lebendes Tier) nutzt. Auch wenn man berücksichtigt, dass da Vinci das Bild im Auftrag des Herzogs von Mailand Ludovico Sforza gemalt hat, einem Anhänger des Hermelinordens, ändert sich nichts am Irritationspotential des lebenden Tieres. Zwar spielt das Hermelin (unter anderem) auf diesen Orden an, allerdings auf eine doch sehr eigentümliche Weise. Das Erkennungszeichen des Hermelinordens war nämlich kein lebendes Hermelin, sondern eine Goldkette mit einem Hermelinanhänger, also ein gleichsam ‚sublimiertes‘, seiner konkreten Animalität entledigtes Tier. Auch vor diesem Hintergrund irritiert die Darstellung einer adligen Dame, die ein lebendes Hermelin auf dem Arm trägt.97

|| 97 Man trifft hier, ähnlich wie bei Ghirlandaio, auf ein bildkünstlerisches Spiel mit pluralen Sinndimensionen, das in der Renaissance- (und auch Barock-)Malerei im Übrigen sehr verbreitet war und noch nicht genügend erforscht ist. Ein Gang durch die Berliner Gemäldegalerie (inklusive der dort aktuell gezeigten Ausstellung zum Siglo de Oro) belegt dies eindrücklich. Der aktuellen Forschung

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Mit Blick auf die Fiktionalität des Bildes ist das skizzierte Spiel mit dem Bildtitel natürlich höchst relevant, weil die referentielle Ambivalenz dadurch noch erhöht wird. Die Tatsache, dass die Werktitel im sprachlichen Medium verfasst sind, scheint mir somit kein Hinderungsgrund zu sein, um sie bei der Frage nach der Fiktionalität von Malerei hinzuzunehmen. Aus diesem Blickwinkel müsste die Malerei als eine genuin hybride Kunst re-definiert werden – und Ähnliches gilt meines Erachtens auch für die Musik.98 Diese nimmt nun freilich erneut eine partielle Sonderstellung ein. Man könnte hier die Aufführungssituation selbst als Rahmen ansehen. Im abgeschlossenen Raum des Konzertsaals (oder bei religiöser Musik: der Kirche) kann die Wirklichkeit klanglich so verformt und re-strukturiert werden, dass beim Hören durchaus der Eindruck entsteht, als werde man in eine andere (mögliche) Welt ‚entrückt‘. Die Abkapselung kann also durchaus eine fiktionalisierende Wirkung haben.99 Im Überblick über die Musikgeschichte zeigt sich jedoch, dass die Musik viel häufiger in rituelle und soziale Interaktionen eingebunden ist (seien dies religiöse Riten, Prozessionen, Open-AirFestivals o.Ä.). Diese Tatsache sowie die Durchschlagskraft portabler Musikträger (Walkman, Discman, mp3-Player etc.) weist somit auch hier darauf hin, wie groß das Bedürfnis ist, den Rahmen zu sprengen und die fiktionalisierende Wirkung von

|| zufolge spielten die Bildtitel in der Malerei der Renaissance keine herausgehobene Rolle und wurden deshalb häufig erst nachträglich geprägt (oder vorsichtiger: schriftlich fixiert). So werden viele Bildtitel da Vincis Giorgio Vasaris Ekphrasen in seinen Lebensbeschreibungen zugeschrieben. Angesichts der Berühmtheit, die da Vinci bereits zu Lebzeiten genoss, ist es allerdings fast undenkbar, dass er nicht selbst zumindest mündlich Titel für seine Bilder geprägt hat, um auf sie referieren zu können. Dass der obige Titel also von ihm selbst stammt, ist zumindest wahrscheinlich. Die Tatsache, dass hier, anders als bei anderen Renaissance-Porträts, der Name der Porträtierten nicht mit überliefert wurde, erhöht die Wahrscheinlichkeit. Neueren Studien zufolge handelt es sich dabei um Cecilia Gallerani, die Geliebte des Auftraggebers. Damit ergibt sich eine weitere Bedeutungsfacette des Hermelins: Auf Griechisch heißt das Tier galḗ (γαλή), sodass sich in dessen Abbildung ein Bezug auf den Nachnamen der Mätresse verbirgt (vgl. dazu etwa Janice Shell/Grazioso Sironi, „Cecilia Gallerani: Leonardo’s Lady with an Ermine“, in: Artibus et Historiae 25 (1992), 47–66). Das abgebildete und im Titel genannte Tier verweist damit auf gleichermaßen indirekte Weise auf den Referenten des Bildes (die Mätresse), der explizit nicht genannt wird. Die Erforschung des Verhältnisses zwischen Bildern und ihren Titeln ist insgesamt noch nicht sehr reichhaltig und stellt ein wichtiges Desiderat für die Zukunft dar. 98 Freilich gibt es auch hier Abstufungen, und zwar selbst noch innerhalb der reinen Instrumentalmusik. Bei Titeln wie La notte (Vivaldi) und Pastorale (Mahler) ist die fiktionalisierende Wirkung sicherlich größer als bei abstrakten Titeln wie „Symphonie“ oder „Streichquartett“. Gleichwohl erzeugen auch Letztere die Erwartung je unterschiedlicher Klangwelten und Als-ob-Emotionen. 99 Der Gedanke der Sphärenmusik kann selbst als ein Effekt dieser fiktionalisierenden Wirkung begriffen werden, wobei das erlebnishafte Entrücktsein in eine andere mögliche Welt hier freilich als Zugang zur einzig wahren re-ontologisiert wird. Die Musik wird von den entsprechenden Musiktheoretikern (Platon, Augustinus etc.) also gleichsam als Abglanz oder Vorbote einer anderen Welt fiktionalisiert.

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Musik in die Lebenswelt einfließen zu lassen. Die Als-ob-Emotionen und die klanglichen Überformungen der Wirklichkeit können damit in allen möglichen Räumen und Situationen erzeugt werden. Im Zusammenspiel mit der Achse der Mimesis ergeben sich hier komplexe Gleichzeitigkeiten von musikalischer Fremd- und Selbstreferenz, die noch weitgehend einer Erforschung harren. d) Die Meta-Fiktionalität stellt eher ein Fiktionssignal als eine Fiktionskomponente dar.100 Schon allein deshalb muss sie nicht notwendig realisiert werden, wenngleich ihr Vorkommen natürlich die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass ein Kunstwerk als fiktional dekodiert wird. Bindet man Fiktionalität, wie vorangehend entwickelt, an ein (skalierbares) Bewusstsein des Als-ob, dann ergibt sich das interessante Paradox, dass gerade die Durchbrechung der Fiktionswirkung diese allererst sichtbar macht. Erneut haben wir es mit der Übereinanderlagerung höchst unterschiedlicher Rezeptionsprozesse zu tun. Zu berücksichtigen ist hierbei freilich, dass die Metaisierung selbst eine ganze Skala von Wirkungen entfalten kann, die von der Fiktionsdurchbrechung bis zur Unterstützung der Illusionswirkung reicht.101 Bei den vorangehenden Reflexionen über die Bipolarität der anderen Achsen ist implizit bereits deutlich geworden, inwiefern dies durchaus auch für die Malerei gilt. Speziell zur Meta-Fiktionalität der Musik findet sich in diesem Band auch ein eigener Beitrag.102 Deshalb möchte ich auf diesen Punkt nicht weiter eingehen und direkt zur externen Kommunikationssituation übergehen. Es empfiehlt sich, die beiden Punkte e) und f) gemeinsam zu behandeln, weil sie eng miteinander verflochten sind. e) Intentionalität bei der Erzeugung von Fiktionalität und f) Bewusstes Erkennen des make-believe bei der Rezeption: Nach dem vorangegangenen Durchlauf ergeben sich nun auch neue Perspektiven auf die äußere Kommunikationssituation. Auch in diesem Fall möchte ich gegen eine Absolutsetzung optieren, wie sie nicht selten gefordert wird. Besonders kategorisch äußern sich hierzu Jan Gertken und Tilmann Köppe. In ihrem Vorschlag einer Re-Definition des Fiktionalen weisen sie der autorseitigen Intentionalität und dem bewussten Erkennen des make-believe durch die

|| 100 Zum Konzept des Fiktionssignals vgl. Harald Weinrich, „Fiktionssignale“, in: ders. (Hg.), Positionen der Negativität, München: Fink 1975, 525–526. Vgl. auch Frank Zipfel, Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität (Anm. 3), Kap. 6.1. 101 Vgl. dazu Janine Hauthal et al., „Metaisierung in Literatur und anderen Medien: Begriffserklärungen, Typologien, Funktionspotentiale und Forschungsdesiderate“, in: Janine Hauthal et al. (Hg.), Metaisierung in Literatur und anderen Medien. Theoretische Grundlagen – historische Perspektiven – Metagattungen – Funktionen, Berlin/New York: De Gruyter 2007, 1–25, hier: 9. 102 Siehe den Beitrag Werner Wolfs in diesem Band.

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Rezipienten eine normative Bedeutung zu. Von Fiktionalität kann man ihnen zufolge nur dann sprechen, wenn beides gegeben ist.103 Mir scheint allerdings auch hier eine Flexibilisierung nötig zu sein, und dies nicht nur deshalb, weil über werkexterne Faktoren niemals vollkommen sichere Aussagen möglich sind. Zwar erhöht eine Akkumulation der vorangehend aufgeführten werkinternen und rahmenden Elemente die Wahrscheinlichkeit, eine künstlerseitige Intention zur Fiktionalität zu erkennen. Sicher kann man sich aber niemals sein. Und letztlich ist dies auch nicht unbedingt nötig. Vor allem über große zeitliche und räumliche Distanzen hinweg entwickeln rezeptive Fiktionalisierungsprozesse ein Eigenleben. Kunstwerken (bzw. deren Elementen) kann nachträglich Fiktionalität zu- oder abgesprochen werden; und definiert man Fiktionen als Medien möglicher Kommunikationen (und somit auch als Effekte möglicher Zuschreibungsprozesse), dann erkennt man, dass diese Wandelbarkeit genuin zur Fiktionalität selbst dazugehört. Es handelt sich hierbei also um eine systematisch grundsätzlich offene Kategorie. Bei da Vincis Flugapparat hat sich gezeigt, dass die Skizze von ihm zwar als fiktional intendiert wurde, indem er einen noch nicht existierenden Gegenstand im Modus der Als-ob-Existenz gezeichnet hat. Von heutigen Rezipienten wird das Bild in der Regel allerdings nicht mehr als Fiktion wahrgenommen, weil der skizzierte Gegenstand inzwischen in der Realität existiert. Aus der Als-ob-Referenz ist eine ‚echte‘ Referenz geworden. Und auch bei der Allegorie, dem Mythos und den Kunstwerken fremder, unbekannter Kulturen sind ähnliche Effekte zu verzeichnen. Allegorie und Mythos wurden zur Zeit ihrer Entstehung vermutlich nicht (oder zumindest nur tangential) als fiktional intendiert, weil sie einen ontologischen Wahrheitsanspruch erheben; in säkularen Kontexten werden sie gleichwohl vielfach als Fiktionen rezipiert.104 Wenn man überdies bei den Kunstwerken sehr ferner, unerforschter Kulturen, die häufig starke Verformungen menschlicher Gliedmaßen zeigen,105 selbstverständlich von deren ritueller Einbindung (und damit zumeist von Nicht-Fiktionalität) ausgeht, so lässt sich diese Annahme nicht mit Sicherheit verifizieren. Denn wer garantiert uns, dass hier nicht doch vordringlich oder zumindest zusätzlich mit der oben skizzierten Achse von Mimesis und Verfremdung gespielt wird? Dass hier also in genuiner Weise (und noch nicht durch Kunstnormen domes-

|| 103 Vgl. Jan Gertken/Tilmann Köppe, „Fiktionalität“, in: Simone Winko/Fotis Jannidis/Gerhard Lauer (Hg.), Grenzen der Literatur. Zu Begriff und Phänomen des Literarischen, Berlin/New York: De Gruyter 2009, 228–266. 104 Weiter oben hat sich freilich gezeigt, dass selbst in zeitgenössischen Kontexten über die orthodoxe allegorische Sinndimension von Kunstwerken häufig noch weitere gelegt werden, die zugleich genau den Fiktionscharakter thematisieren. Eine ausführliche Untersuchung dieser Frage muss ich aus Raumgründen auf eine spätere Studie verschieben. 105 Vgl. etwa die berühmte Venus von Willendorf (in: Hugh Honour/John Fleming, Weltgeschichte der Kunst, München: Prestel 51999 [1992], 19).

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tiziert) das menschliche Fiktions- und Verfremdungsbedürfnis befriedigt bzw. dessen Gestaltungsmöglichkeiten ausgelotet werden? Schon diese wenigen Beispiele veranschaulichen also, dass Fiktionalität offenbar eine sehr perspektivenabhängige Kategorie ist. Sie ist stets für standortabhängige Re-Kodierungen durch die Rezipienten offen, sodass eine produktionsseitige Intentionalität keine notwendige Bedingung für Fiktionalität darstellen kann. Damit ist bereits eine wichtige Aussage über den rezeptiven Verarbeitungsmodus gemacht, also über Punkt f). Das rezipientenseitige Bewusstsein des Als-ob stellt meines Erachtens ebenfalls keine notwendige Bedingung für Fiktionalität dar. Wenn Don Quijote die Ritterromane als faktual liest und damit den Fiktionspakt sichtlich aufkündigt, so ändert dies nichts an deren fiktionalem Status. Auch die anderen hier untersuchten Beispiele aus Malerei und Musik haben sichtbar gemacht, dass die fiktionalisierende Wirkung oft semi-bewusst funktioniert bzw. dass auch das Bewusstsein des Als-ob durchaus staffelbar ist. Von einer differenzierten Fiktionstheorie muss es also in dieser Staffelung mitberücksichtigt werden. Vielleicht könnte man hier mit Leibniz’ Konzept der minimalen Perzeptionen arbeiten: Offenbar stößt Kunst durch eine Vielzahl von interagierenden Faktoren zahllose winzige Fiktionalisierungsprozesse an, die sich akkumulieren und irgendwann die Bewusstseinsschwelle überschreiten. Allerdings verläuft diese Linie bei jedem anders und ist zudem kulturell, historisch und medial jeweils verschiebbar.

4 Fazit und Ausblick auf weitere mögliche Forschungen Der vorangehende Parcours durch die Künste verschiedener Zeiten und Kulturen hat aufgezeigt, wie vielfältig und heterogen fiktionale Phänomene sind und wie häufig man auf Skalierungen trifft, die sich durch Überlappungen und Verflechtungen mehrerer Komponenten ergeben. Ein prototypentheoretisches Mehrkomponentenmodell ist also unabdingbar. Auf dieser Grundlage würde ich Fiktionalität folgendermaßen re-definieren: Offenbar handelt es sich hierbei um ein Zusammenspiel verschiedener Größen, die jeweils skalierbar sind und nicht immer alle gleichermaßen realisiert sein müssen. Je nach Gewichtung, Kombination und Blickwinkel entstehen verschiedene Fiktionsarten, die jedoch alle über Familienähnlichkeiten (im Sinne Wittgensteins) miteinander verbunden sind. Man muss folglich von einem polyperspektivischen Netz zahlreicher Fiktionalitäten ausgehen, das sich in viele (interagierende und sich überlappende) Skalen und Achsen auffächern lässt. Nicht nur die Wirklichkeit ist komplex verflochten und gestaffelt, sondern auch die (ästhetische) Fiktionalität selbst. Die weitere Forschung müsste sich nun darum bemühen, zunächst die jeweils relevanten Achsen zu präzisieren, um sodann die jeweiligen (kulturellen, medialen

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und historischen) Merkmalskombinationen und Prototypen genauer zu bestimmen und in ein Verhältnis zueinander zu setzen. Um hierbei auch die Musik mitberücksichtigen zu können, ist der Fiktionsbegriff auch auf nicht-propositionale Als-obStrukturen auszuweiten. Denn damit ergibt sich auch die Möglichkeit, die Fiktionalität von Medienkombinationen präziser zu bestimmen und mediale Transferprozesse genauer nachzuverfolgen. Des Weiteren sind die mehrfachen Rückkoppelungen und die komplexen Interferenzen interessant, die sich vor allem in den medialen und kulturellen Zwischenund Überlappungsräumen ergeben. Um diese theoretisch in den Blick zu bekommen, scheint mir zusätzlich ein Rückgriff auf die Polykontexturalitätstheorie Gotthard Günthers besonders vielversprechend. Mit seiner transklassischen, mehrwertigen Logik liefert er zahlreiche Operatoren, die es ermöglichen, mehrere Bezugssysteme gleichzeitig zu betrachten und damit auch die Ortsabhängigkeit fiktionaler Produktionen und Rezeptionen auf differenzierte Weise zu berücksichtigen.106 Doch dies wäre die Sache weiterer Forschungen.

|| 106 Wie man die beiden Theorie-Settings produktiv verschränken kann, zeige ich in Barbara Ventarola, Transkategoriale Philologie (Anm. 2), Kap. 3.2.

Jens Schröter

Überlegungen zu Medientheorie und Fiktionalität Hartmut Winkler hat eine kumulative Definition von ‚Medium‘ vorgeschlagen, die sechs Basisdefinitionen verbindet. Eine davon betrifft den „symbolischen Charakter“ von Medien. Er schreibt zur Erläuterung: Die wohl plausibelste Definition der Medien ist, dass sie ein symbolisches Probehandeln erlauben. Medien etablieren innerhalb der Gesellschaft einen Raum, der die Besonderheit hat, von tatsächlichen Konsequenzen weitgehend entkoppelt zu sein. Handlungen in diesem Raum sind – im Gegensatz zu tatsächlichen Handlungen – reversibel; geschieht auf der Bühne ein Mord, steht der Ermordete danach auf und verneigt sich. Dies gilt, vermittelt, für symbolische Prozesse allgemein.1

Winkler bestimmt hier also als die ‚plausibelste‘ Definition von Medien, einen Raum zu eröffnen, der, wie er sagt, ‚symbolisches Probehandeln‘2 erlaubt. Das Beispiel, ein Mord auf der Bühne, ist eindeutig eine Fiktion.3 Mithin erscheint im Zentrum der medientheoretischen Reflexion – offenbar konstitutiv für die Medialität der Medien selbst – die Fiktionalität. Ausgehend von diesem Hinweis sollen im vorliegenden Beitrag verschiedene Aspekte und Facetten des Verhältnisses von Medien und Fiktio-

|| 1 Hartmut Winkler, „Mediendefinition“, in: Medienwissenschaft – Rezensionen 4.1 (2004), 9–27, hier: 13. Die anderen fünf von Winkler herangezogenen Kategorien sind: „Kommunikation“, „Technik“, „Form und Inhalt“, „Medien überwinden Raum und Zeit“ und „Medien sind unsichtbar“. 2 Es kann diskutiert werden, was ‚Probehandeln‘ in Bezug auf andere Medien als das Theater (vorausgesetzt, man versteht Theater überhaupt als Medium) bedeutet. Dass der Schauspieler im Theater probehandelt (also nur so tut, als ob er tot sei), kann man verstehen, aber inwiefern gilt das z.B. für Literatur, in der ja – anders als der Schauspieler – niemand handelt, sondern vielmehr nur Beschreibungen von Handlungen vorliegen? Ist dann die Handlung des Schreibenden eine Probehandlung? Aber der Autor schreibt doch tatsächlich und schafft einen wirklichen Gegenstand, nämlich einen Text? Oder geht es um das Handeln der fiktiven Charaktere? Das Beispiel der Literatur wird uns in Abschnitt 4 wiederbegegnen. 3 Vgl. zu den zahlreichen verschiedenen Ansätzen, Fiktion zu definieren, Frank Zipfel, Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität. Analysen zur Fiktion in der Literatur und zum Fiktionsbegriff in der Literaturwissenschaft, Berlin: Schmidt 2001; sowie Remigius Bunia, Faltungen. Fiktion, Erzählen, Medien, Berlin: Schmidt 2007. Grundsätzlich soll hier der konzisen Darstellung von Andreas Kablitz („Literatur, Fiktion und Erzählung – nebst einem Nachruf auf den Erzähler“, in: Irina O. Rajewsky/Ulrike Schneider [Hg.], Im Zeichen der Fiktion. Aspekte fiktionaler Rede aus historischer und systematischer Sicht, Stuttgart: Steiner 2008, 13–44) gefolgt werden, der zwischen ‚fiktiv‘/‚Fiktivität‘ als Eigenschaft des Dargestellten und ‚fiktional‘/‚Fiktionalität‘ als Eigenschaft der Darstellung unterscheidet. Aufgrund der medientheoretischen Fragestellung des Textes werden aber auch Blicke auf andere Fiktionstheorien, wie etwa den Ansatz von Kendall L. Walton, notwendig sein.

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nalität bzw. des Stellenwerts von Fiktionalität in der Medientheorie diskutiert werden.4 In Abschnitt 1 wird Winklers oben zitierte These aufgegriffen. Dabei geht es um die Frage, ob und, wenn ja, auf welche Weise Medien konstitutiv für Fiktionalität sind. Es wird der Vermutung nachgegangen, dass Sprache das zentrale Medium der Fiktionsbildung ist, was aber auch bedeuten würde, dass sich die in Analogie zur Trennung von Zuschauer- und Bühnenraum durchgeführte klare Abgrenzung eines ‚Raums der Medien‘, in dem Fiktionen möglich sind, und eines Raums außerhalb, in dem dies offenbar nicht der Fall ist, brüchig wird. Auf dieser Grundlage wird in Abschnitt 2 und 3 eine spezifisch medienwissenschaftliche Kontroverse aufgegriffen, in der ebenfalls ‚Fiktionalität‘ zur Differenzierung und Bestimmung benutzt wird, dieses Mal einerseits von analogen und andererseits von digitalen Bildern. Zunächst soll am Beispiel von Sean-Connery/James-Bond-Bildern5 die Behauptung, fotografische Bilder seien qua ihres indexikalischen, also über Kausalität mit dem Referenten des Bildes verbundenen Charakters nicht zu Fiktionalität fähig, kritisiert werden (Abschnitt 2). Anschließend wird es um die komplementäre These gehen, digitale Bilder seien qua ihrer Digitalität gleichsam immer fiktionale Darstellungen (Abschnitt 3). Es wurden diese, eigentlich etwas kurios anmutenden Thesen gewählt, weil sie Fiktionalität nicht mit Bildern überhaupt oder in anderen Fällen z.B. auch mit der Frage in Verbindung bringen, ob und, wenn ja, wie die ‚abstrakte Kunstform‘ Musik fiktional sein kann. Solche Fragen wurden in der philosophischen Ästhetik und anderen Theoriediskussionen schon mehrfach diskutiert.6 Vielmehr geht es den hier relevanten Debatten eben um die Frage, ob spezifisch medientechnische Eigenschaften, wie die analoge und digitale Aufzeichnung, etwas mit dem Fiktionalitätspotential zu tun haben. Es wird gezeigt werden, dass dem nicht so ist. Aber diese Erkenntnis macht die Frage nach der Rolle von ‚Fiktionalität‘ in der Medientheorie, wie sie sich im einleitenden Zitat Winklers andeutet, nur umso dringlicher. In Abschnitt 4 wird Winklers Argument mit Friedrich Kittlers Aufsatz „Fiktion und

|| 4 Es gibt zwar einige Publikationen zu diesem Themenfeld (siehe etwa Gertrud Koch/Christiane Voss (Hg.), „Es ist, als ob“. Fiktionalität in Philosophie, Film und Medienwissenschaft, München: Fink 2009), allerdings werden die hier angeschnittenen Fragen dort nicht behandelt. Angemerkt sei auch, dass es mir im Folgenden nicht im engeren Sinne um narratologische Überlegungen geht, z.B. wie in bestimmten Medien fiktive Figuren konstruiert werden (vgl. hierzu bspw. Jens Eder/Fotis Jannidis/Ralf Schneider (Hg.), Characters in Fictional Worlds, Berlin/New York: De Gruyter 2010). 5 ‚Bond-Bilder‘ und nicht ‚Bilder-von-Bond‘; vgl. dazu Catherine Z. Elgin, With Reference to Reference, Indianapolis: Hackett 1983, 43–50. 6 Um nur zwei Beispiele von sehr vielen mehr zu nennen: Marie-Laure Ryan, „Fiktion, Kognition und nichtverbale Medien“, in: Gertrud Koch/Christiane Voss (Hg.), „Es ist, als ob“ (Anm. 4), 69–86, untersucht das generelle Fiktionalitätspotential von Bildern überhaupt; zur Frage der Fiktionalität von Musik vgl. etwa Kendall L. Walton, „Listening with Imagination: Is Music Representational?“, in: The Journal of Aesthetics and Art Criticism, 52.1 (1994), 47–61.

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Simulation“ kontrastiert: Wie und warum wird hier auf Fiktion rekurriert? In Abschnitt 5 folgt ein Fazit.

1 Medien als Bedingung für Fiktionalität Winkler hebt in seinen einschlägigen Beiträgen mehrfach auf die Verbindung von Medien und Fiktionalität ab. So heißt es in seinem eingangs zitierten Artikel an anderer Stelle z.B.: Medien bilden Zeichensysteme aus. Zeichensysteme stellen das Spielmaterial bereit, mit dem symbolisches Probehandeln möglich wird. [...] Mit Zeichen sind auch Spiel, Fiktion und rein mechanische Operationen möglich.7

Winkler will sicher nicht sagen, Medien erzeugten nur Fiktionen, denn offensichtlich haben sie auch wichtige Funktionen in nicht-fiktionalen Kontexten. Das gilt nicht nur für faktuale Medienangebote, sondern man kann, um Winklers zuvor angeführtes Beispiel aufzugreifen, z.B. mit einem Handy einen Profikiller anrufen und (im Unterschied zum reversiblen Mord auf einer Bühne) einen wirklichen, irreversiblen Mord ausführen lassen.8 Das Argument scheint vielmehr zu sein: Fiktionen gibt es nur in und mit Medien – eine These, die durchaus plausibel ist, denn ‚James Bond‘ z.B. wurde außerhalb von Büchern, Filmen, Plakaten etc. noch nicht gesichtet. Allerdings drängt sich auch gleich ein Einwand auf: Kendall Walton hat in seiner Studie Mimesis as Make-Believe die Möglichkeit von Fiktion gleichsam anthropologisch an make-believe games gebunden.9 So können z.B. auch Kinder ‚James Bond‘ spielen, wobei ein Stöckchen zur Pistole wird etc. Gewiss: In diesem Beispiel haben die Kinder das Wissen um ‚James Bond‘ aller Wahrscheinlichkeit nach aus Medien. Man könnte mithin behaupten, Fiktionen entstehen in Medien und expandieren dann in die Welt. Aber das Beispiel könnte auch sein: ‚Die Kinder häufen einen Matschhaufen auf und sagen, es sei ein Kuchen‘. Die Fähigkeit, Dinge anders zu nennen, muss sich nicht auf Muster aus den (Massen-)Medien beziehen. Entscheidend ist offenbar,

|| 7 Hartmut Winkler, „Mediendefinition“ (Anm. 1), 13f.; vgl. auch Hartmut Winkler, „Zeichenmaschinen. Oder warum die semiotische Dimension für eine Definition der Medien unerlässlich ist“, in: Stefan Münker/Alexander Rösler (Hg.), Was ist ein Medium?, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2008, 211–221, hier: 212f. 8 Und sicher will Winkler auch nicht sagen, die Entkopplung von Fiktionen vom ‚Realen‘ sei vollständig – denn dann wären die Fiktionen nicht mehr intelligibel. Fiktionen stehen immer zwischen Realem und Imaginärem, vgl. Wolfgang Iser, Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1991. 9 Vgl. Kendall L. Walton, Mimesis as Make-Believe. On the Foundations of the Representational Arts, Cambridge: Harvard UP 1990.

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dass die Fähigkeit besteht, etwas umzubenennen, „etwas als etwas anderes [zu] betrachten“.10 Das gilt auch für – wie man mit Oliver Scholz sagen könnte11 – ‚Bildspiele‘ (s.u.). Winkler selbst hat in seinem Buch Basiswissen Medien von 2008 unter der programmatischen Überschrift „Medien-Definition“ wiederholt, die „plausibelste Definition“ von Medien sei, dass sie „symbolisches Probehandeln“ erlauben, woran sich eine Anmerkung anschließt, in der Krämer und Huizinga jeweils mit Arbeiten zum Spiel zitiert werden;12 eine Nähe zu Waltons bevorzugtem Beispiel, eben dem Kinderspiel, scheint auf der Hand zu liegen. Symbolisches Probehandeln scheint also implizit auch bei Winkler außerhalb von technischen Medien bzw. genau abgegrenzten medialen Räumen wie Theater- oder Kinoarchitekturen auftreten zu können und kann mithin nicht als spezifische Eigenschaft derselben angesehen werden. Die fiktionale Leistung von Medien scheint eher vom symbolischen Probehandeln in der Welt abgeleitet zu sein.13 Und wieder genauer: von der Sprache, vorausgesetzt man versteht diese als Medium, die noch jeden alltäglichen Vorgang mediatisiert. Insofern wäre es nicht überraschend, dass Winkler, in dessen (durchaus semiotisch geprägtem) medientheoretischem Ansatz die Sprache eine zentrale Rolle spielt,14 auch die Fiktion in den Kern seines Medienbegriffs rückt. Folgt man dieser Rekonstruktion von Winklers Ansatz, müsste auch eine mögliche Fiktionalität von Bildern als von der Sprache abgeleitet betrachtet werden, was im Zeitalter des iconic turn ohne Zweifel auf Widerspruch stoßen dürfte. Aber dennoch kann man argumentieren, dass kein Bild aus sich heraus sicherstellen kann, fiktional verstanden zu werden, und es in der Regel sprachliche Paratexte sind, die dies ermöglichen oder nahelegen – es sei denn, eine etablierte Ikonographie (die als Iko-

|| 10 Marie-Laure Ryan, „Fiktion, Kognition und nichtverbale Medien“ (Anm. 6), 73. 11 Vgl. Oliver Scholz, Bild, Darstellung, Zeichen. Philosophische Theorien bildhafter Darstellung, Freiburg/München: Alber 1991, 126f. 12 Hartmut Winkler, Basiswissen Medien, Frankfurt a.M.: Fischer 2008, 63, mit Anmerkungen auf S. 316. Auf S. 64 geht Winkler ausführlicher auf das Probehandeln ein. Dabei rangieren am reversiblen, symbolischen Pol „Spiel, Fiktion, Simulation“ ausdrücklich nebeneinander. Siehe Abschnitt 4 zur Simulation. 13 Vgl. Kendall L. Walton, Mimesis as Make-Believe (Anm. 9), 11: „In order to understand paintings, plays, films and novels, we must look first at dolls, hobbyhorses, toy trucks, and teddy bears.“ Zur fundamentalen und schon aus der Kindheit erwachsenden Rolle der ‚Phantasie‘ vgl. auch Sigmund Freud, „Formulierungen über die zwei Prinzipien des psychischen Geschehens“, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 8: Werke aus den Jahren 1909–1913, hg. v. Anna Freud, Frankfurt a.M.: Fischer 1969, 230–238. 14 Vgl. Hartmut Winkler, Docuverse. Zur Medientheorie der Computer, München: Boer 1997, 108: „Leroi-Gourhan zu folgen also heißt, die gesamte Technik nach dem Muster der Sprache zu denken“, und auf S. 366 unterstreicht er, „daß grundsätzlich alle Technik von der Sprache her gedacht werden muß“.

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nographie durchaus auch eine historisch-systematische Nähe zur Sprache hat)15 übernimmt diesen Part (siehe Abschnitt 2). Wie dem auch sei, es ist Winkler darin zuzustimmen, dass Medien – sofern man Sprache dazuzählt – die Bedingung für Fiktionalität sind. Man kann Fiktionalität aber nicht auf klar markierte mediale Räume eingrenzen, wie Winkler mit dem Beispiel des vom Zuschauerraum sorgsam abgegrenzten Bühnenraums nahelegt. Sie mag an bestimmten medialen Orten (und z.B. aus rituellen oder eskapistisch-kommerziellen Gründen etc.) gewissermaßen konzentrierter vorhanden sein als anderswo (im Theater z.B. kommen mehr fiktive Figuren vor als im Straßenverkehr). Dennoch ist es möglich, etwa im Zusammenhang mit einem Autounfall erleichtert über eine fiktive Figur wie z.B. einen ‚Schutzengel‘ zu sprechen. Zudem bieten mediale Orte wie Theater und Kino viel Material für Fiktionsbildung im Alltag, wie schon das obige Beispiel der Kinder, die James Bond nachspielen, verdeutlicht. Ebenso wäre, um nochmals auf den Autounfall Bezug zu nehmen, eine Aussage wie ‚Kein Wunder, du fährst ja auch wie James Bond‘ denkbar. Dies ist zwar kein fiktionaler Satz, nimmt aber Bezug auf eine fiktive Figur. Wenn man annimmt, dass die Bedingung der Möglichkeit des Fiktionalen mit Sprache gegeben ist und nicht erst mit Medien wie dem Theater und dann später den (im engeren Sinne) technologischen Medien wie dem Film, aber durch diese verstärkt und konzentriert wird, ergibt sich die Vermutung, dass kein Medium per se für Fiktionen ungeeignet ist: Da der sprachliche Vollzug jeden Matschhaufen in einen Kuchen verwandeln kann, ist es kaum vorstellbar, dass irgendetwas per se nicht fiktional verwendbar wäre.16

|| 15 Vgl. Thomas Hensel, „Text/Bild“, in: Stefan Jordan/Jürgen Müller (Hg.), Lexikon Kunstwissenschaft. Hundert Grundbegriffe, Stuttgart: Reclam 2012, 321–323, hier: insb. 322. — Kendall L. Walton (Mimesis as Make-Believe [Anm. 9], 75f.) insistiert darauf, dass es auch genuin nicht-sprachliche Fiktionalität gebe. Er behauptet: „Not all fiction is linguistic. Any adequate theory of fiction must accommodate pictorial fictions, for instance, as well as literary ones.“ Allerdings heißt das ja nicht, dass nicht auch der mögliche fiktionale Gebrauch von Bildern in der Sprache fundiert sein könnte: Wie in Abschnitt 2 zu zeigen sein wird, ist bildliche Fiktionalität ohne jeden sprachlichen Kontext (und sei er ikonographisch sedimentiert) schwer vorstellbar. 16 Dabei muss nicht zwingend eine Umbenennung im wörtlichen Sinne erfolgen. Selbstverständlich können auch Verweise auf ‚reale Vorkommnisse‘ neben fiktiven Entitäten stehen (die Handlungen fiktiver Figuren spielen an wirklichen Orten, wie z.B. Paris). Entscheidend ist, dass, wenn ein Verweisungszusammenhang (um nicht ‚Text‘ zu sagen) fiktional verstanden wird, alle vorkommenden Entitäten ‚als etwas anderes betrachtet‘ werden. Auch wenn die reale Stadt Paris vorkommt, ist sie doch eine andere Stadt als die reale, zumal die fiktive Figur nicht das reale Paris bevölkert.

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2 Operationen der Fiktionalisierung fotografischer Bilder Dennoch wurde verschiedentlich behauptet, es gebe Medien, die per se für Fiktionen ungeeignet seien. Roger Scruton z.B. vertritt explizit die These, dass die Fotografie von einer prinzipiellen „fictional incompetence“17 bestimmt sei. Diese Behauptung ist von gravierender Bedeutung, denn wäre sie richtig, bedeutete dies erstens, dass die Möglichkeit des (mutmaßlich in letzter Instanz sprachlich vermittelten) fiktionalen Gebrauchs der Fotografie bestimmten Begrenzungen unterliegt, dass es also prinzipielle Grenzen des Fiktionalisierbaren gibt. Es bedeutete zweitens, dass diese Grenzen in der Ontologie (zumindest) eines Mediums – nämlich der Fotografie – liegen. Dies wäre in der Tat eine fundamentale Erkenntnis der Fiktions- wie auch der Medientheorie. Überdies hätte die Bestätigung dieser Annahme den eigentümlichen Effekt, dass Fotografie – zumindest wenn man Winklers Definition folgt – kein Medium wäre (da Medien bei Winkler eben prinzipiell über Fiktionalitätsfähigkeit bestimmt sind). Im Falle der Fotografie entzündete sich diese Diskussion an dem ihr zugrunde liegenden bildgebenden Verfahren; es geht also um den indexikalischen und analogen Charakter der Fotografie.18 Dieses Beispiel ist für die Diskussion deswegen so interessant, da es dezidiert um eine medientechnische Eigenschaft der Fotografie geht, nämlich dass das von einstmals real existierenden Gegenständen ausgesendete oder reflektierte Licht mittels eines Linsensystems fokussiert und von einem fotoempfindlichen Sensor aufgezeichnet wird.19 Scrutons vernichtendes Urteil über die fiktionale Kompetenz rührt genau daher. Ausgehend von der Bestimmung „that the relation between a photograph and its subject is a causal relation“ schließt er: Of course I may take a photograph of a draped nude and call it Venus, but insofar as this can be understood as an exercise in fiction, it should not be thought of as a photographic representation of Venus but rather as the photograph of a representation of Venus. In other words, the

|| 17 Roger Scruton, „Photography and Representation“ [1983], in: Noël Carroll/Jinhee Choi (Hg.), Philosophy of Film and Motion Pictures: An Anthology, Malden: Blackwell 2006, 19–34, hier: 25. Scruton scheint allerdings nicht zwischen fiktiv und fiktional zu unterscheiden. 18 Vgl. klassisch: André Bazin, „Ontologie des fotografischen Bildes“ [1945], in: ders., Was ist Kino? Bausteine zu einer Theorie des Films, hg. v. Hartmut Bitomsky u.a., Köln: DuMont 1975, 21–27. 19 Obwohl Bazin das Argument der kausalen Aufzeichnung der Fotografie (er greift noch nicht auf die schon im neunzehnten Jahrhundert geprägte Terminologie des Index zurück, das wird die Fototheorie erst später tun) natürlich auf die chemische Fotografie bezieht (eine andere konnte er nicht kennen), gilt es auch (obwohl das bestritten worden ist) für die digitale Fotografie. Auch der digitale Sensor (das CCD) wird durch den Lichteinfall kausal verändert, auch wenn diese Veränderung – anders als jene lichtempfindlicher chemischer Emulsionen (z.B. aus Silberhalogeniden in der s/w-Fotografie) – reversibel ist.

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process of fictional representation occurs not in the photograph but in the subject: it is the subject which represents Venus; the photograph does no more than disseminate its visual character to other eyes.20

Diese These und die Erwiderungen auf sie wurden andernorts ausführlich diskutiert.21 Gezeigt werden konnte, dass auch Fotografien und näherhin Fotografien eines nicht bereits fiktionalen Szenarios (Verkleidungen etc.) entgegen dem, was Scruton behauptet, fiktional repräsentieren können. So kann man sich z.B. problemlos vorstellen, aus gefundenen, ursprünglich nicht fiktional intendierten bzw. inszenierten fotografischen Bildern zusammen mit einem entsprechenden Text eine Bildergeschichte zu konstruieren, die von fiktiven Charakteren handelt. Nun könnte Scruton einwenden, dass dieses Beispiel gar nichts beweise, da wieder nicht die Fotos fiktional seien, sondern der Text – und die Fotos illustrierten ihn ‚bloß‘. Doch stellen wir uns eine Geschichte über die Abenteuer des fiktiven ‚Mr. Jones‘ vor, und nehmen wir an, dass der Text nicht spezifiziert, ob Mr. Jones dick oder schlank ist. Nehmen wir weiter an, dass ein in dokumentarischer Absicht aufgenommenes Foto einer beliebigen männlichen Person (vielleicht im Netz gefunden, z.B. auf einer Website, die das Personal einer Firma vorstellt) die Einführung von Mr. Jones illustriert. Das Foto zeigt einen dicken Mann, d.h. es fügt der fiktiven Figur Mr. Jones die Eigenschaft hinzu, dick zu sein – es illustriert nicht ‚bloß‘ den Text, es fügt etwas Genuines zur Konstruktion der fiktiven Figur hinzu. In diesem, keineswegs exotischen Fall (s.u.) hat die Fotografie, obwohl nicht auf der prä-fotografischen Ebene fiktional inszeniert, einen irreduziblen Anteil an der Fiktionsbildung (oder genauer: an der Bereitstellung von Informationen, die fiktional verstanden werden können). Zum fiktionalen Gebrauch von Fotografien ein weiteres Beispiel (das vielleicht etwas unglücklich ist, aber extra so gewählt wurde, s.u.): Abbildung 1 zeigt Sean Connery, und sie zeigt James Bond. Sie wurde im Netz22 bei einer Suche nach ‚James Bond‘ gefunden. Was wir sehen, hängt allerdings von ihrer Kontextualisierung ab. Schreibe ich daneben: ‚007 besticht wie immer durch seine Eleganz‘, dann sehen wir den fiktiven Charakter James Bond.23

|| 20 Roger Scruton, „Photography and Representation“ (Anm. 17), 25, s. auch 29. Auch bei Scruton ist die Sprache für Fiktionalisierung zentral: „Of course I may take a photograph of a draped nude and call [!] it Venus […]“. 21 Vgl. Jens Schröter, „Fotografie und Fiktionalität“, in: Lars Blunck (Hg.), Die fotografische Wirklichkeit. Inszenierung, Fiktion, Narration, Bielefeld: transcript 2010, 143–158. 22 Siehe http://www.westlakelibrary.org/?q=node/5092 [Zugriff am 04.07.2016]. 23 Es ergibt jedenfalls keinen Sinn zu sagen: ‚Nein, das ist falsch, dies ist nicht Bond, sondern Sean Connery‘. Die Lage wird dadurch verkompliziert, dass Bond in verschiedenen Körperbildern erscheinen kann, auch ein Foto von Roger Moore oder Daniel Craig kann als Bond-Bild fungieren (aber auch Fotos von unbekannten Privatpersonen mit entsprechenden Attributen können zumindest als ironische Bezugnahme auf Bond-Bilder operieren). Das zeigt aber letztlich nur, dass die Fiktionalisierung sogar verschiedene fotografisch-indexikalische Aufzeichnungen (von Körpern) unter ein

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Abb. 1

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Schreibt man daneben: ‚Wie man sieht, war Sean Connery ein attraktiver Mann‘, dann tritt für uns der reale Schauspieler hervor (offenbar kann jede fiktionale auch als nicht-fiktionale Darstellung verstanden oder gebraucht werden, siehe hierzu auch unten S. 108). Hieraus lassen sich folgende Schlussfolgerungen ziehen: (i) Sprachlicher Kontext Offenkundig ist die Fähigkeit eines Fotos, eine fiktive Figur zu bezeichnen, abhängig von einem intermedialen, genauer: vom sprachlichen Kontext. Schon Roland Barthes hat die radikale Bedeutungsoffenheit und daher Kommentarbedürftigkeit von Fotografien (trotz ihrer Indexikalität) unterstrichen.25 Die Rolle der Sprache für die Fiktionalisierung könnte in der Fähigkeit der Sprache zur Negation liegen. Harald Weinrich bezeichnete die Negation als eines der wichtigsten Fiktionssignale:26‚Dies

|| und dasselbe fiktionale Label subsumieren kann (sonst könnte man nicht einmal diskutieren, wer von den verschiedenen Schauspielern, also z.B. Connery, Moore oder Craig, der ‚bessere Bond‘ ist). 24 Beilage zur Zeit 27/2009. 25 Vgl. Roland Barthes, „Fotografie als Botschaft“, in: ders., Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1990, 11–27, hier: 21f. 26 „Es ist nun sicher kein Zufall, daß unter den Signalen der Fiktion gerade die Negation [...] eine verhältnismäßig starke Signalwirkung hat. Denn in den meisten Situationen wird man beim hörenden oder lesenden Kommunikationspartner die allgemeine Erwartung einer gemeinsamen Realitätsbasis für Umwelt und Buchwelt als normal annehmen können. Es bedarf dann besonderer Signale,

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ist nicht (oder nicht nur) Connery, sondern (auch) Bond‘. Ein Foto zu fiktionalisieren, bedeutet, das gegeben Sichtbare in gewisser Hinsicht zu negieren, in gewisser Hinsicht den indexikalisch-referentiellen Bezug zu negieren. Bilder selbst können aber keine Negationen ausdrücken.27 (ii) Pragmatik Mehrfach wurde der Begriff Fiktionalisierung verwendet: Eine gegebene Darstellung ist an sich weder fiktional noch ist sie es nicht – Fiktionalität wird performativ und pragmatisch hergestellt. Es geht darum, was man mit etwas macht, nicht darum, was etwas ist. Auch das ist natürlich keine neue Erkenntnis, sondern u.a. schon Kendall Waltons Argument. Aber es ist eine, die gegen das medientheoretische Argument von Scruton, die Fotografie erlaube keinen fiktionalen Gebrauch, errungen werden muss. Allerdings ist es tautologisch und insofern nutzlos, einfach zu sagen: fiktional ist, was fiktional gebraucht wird. Man muss Bedingungen angeben können, wann von einem fiktionalen Gebrauch die Rede sein kann. Das ist eine schwierige Frage, die ich hier nicht diskutieren werde, zumal das andernorts in der Literatur viel ausführlicher geschehen ist. Festhalten lässt sich, dass der semiotische und kognitive Prozess28 der Fiktionalisierung durch konventionalisierte Markierungen ausgelöst werden kann (in der Literatur z.B. durch Wendungen wie ‚es war einmal‘ oder einfach durch die Deklaration eines gegebenen Buchs als ‚Roman‘).29 Auch erleichtert der Fund eines Bildes von Sean Connery bei der Suche nach ‚James Bond‘ im Netz die Klassifikation des Bildes als Bond-Bild.30 Die Fiktionalisierung kann nicht im leeren Raum stattfinden, wie das Beispiel der Kinder zeigt, die ‚James Bond‘ spielen und dabei z.B. ein Stöckchen als Pistole verwenden. Ein solches Spiel

|| um ihn aus dem Raum der Erwartung hinauszuführen in ein fernes und möglicherweise sehr fremdes Reich der Phantasie und Fiktion.“ Harald Weinrich, „Fiktionssignale“, in: ders. (Hg.), Positionen der Negativität, München: Fink 1975, 525f., hier: 526. Vgl. auch den auf einer ‚negative free logic‘ basierenden fiktionstheoretischen Ansatz von R. Mark Sainsbury, Reference without Referents, Oxford: Clarendon Press 2005, Kapitel 6. 27 Vgl. Edward Branigan, „‘Here is a Picture of no Revolver’. The Negation of Images, and Methods for Analyzing the Structure of Pictorial Statements“, in: Wide Angle 8.3 (1986), 8–17; Marie-Laure Ryan, „Fiktion, Kognition und nichtverbale Medien“ (Anm. 6), 76. 28 Vgl. in Bezug auf den Film etwa Edward Branigan, Narrative Comprehension and Film, London/ New York: Routledge 1992, Kapitel 7. 29 Vgl. Frank Zipfel, Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität (Anm. 3), 232–234 u. 243–247. Edward Branigan (Narrative Comprehension and Film, London/New York: Routledge 1992, 200f.) zählt verschiedene Beispiele für solche Markierungen im Film auf. In der Fotografie kann man etwa auf Beispiele wie die auffällige und der Bühnenbeleuchtung des Theaters entlehnte Lichtregie in den ansonsten wie ‚dokumentarische‘ Straßenfotos wirkenden Fotografien von Philip-Lorca diCorcia verweisen; vgl. Philip-Lorca diCorcia, Philip-Lorca diCorcia, New York: MoMA 2003. 30 Das Bild wird sozusagen fiktional ‚gelabelt‘; vgl. Catherine Z. Elgin, With Reference to Reference (Anm. 5), 43–50.

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setzt – ganz banal – voraus, dass es irgendwelche medialen Präsentationen von ‚James Bond‘ gibt. (iii) Transmedialität, historische Sedimentation und Aufhebbarkeit der Fiktionalität – Transmedialität: Fiktive Entitäten wie etwa James Bond können transmedial existieren und tun dies in der Regel auch. Sie existieren z.B. in Literatur, Film und Fotografie, ja James Bond kann sogar von dem Körperbild verschiedener Schauspieler repräsentiert werden. Die Frage, wie über eine solche transmediale Dispersion die Identität einer fiktiven Entität sichergestellt wird, ist ein u.a. im artefaktualistischen Diskurs diskutiertes Problem.31 Der u.a. von Amie L. Thomasson vertretene Artefaktualismus ist ein fiktionstheoretischer Ansatz, der der Medientheorie darin nahesteht, dass er Fiktionen zentral als etwas Gemachtes und in medialen Artefakten wie Büchern oder Filmen Realisiertes betrachtet (anders als beispielsweise meinongianische Ansätze32). Eine Frage, die medientheoretisch daran anschließt, ist, was die verschiedenen medialen Elemente zur Konstruktion z.B. einer fiktiven Figur und ihrer Instantiierung beitragen.33 Übri-

|| 31 Vgl. Amie L. Thomasson, Fiction and Metaphysics, Cambridge: Cambridge UP 1999, 55–69. 32 Vgl. ebd., 14–17. 33 Fiktive Charaktere zeichnen sich durch eine prinzipielle ‚incompleteness‘ aus (vgl. Charles Crittenden, „Fictional Characters and Logical Completeness“, in: Poetics, 11 [1982], 331–344). Wenn kein fiktionaler Text z.B. Informationen über Muttermale von James Bond gibt, kann prinzipiell nicht in Erfahrung gebracht werden, ob James Bond Muttermale hat, während bei realen Personen dies in Erfahrung zu bringen zumindest im Prinzip möglich ist, selbst wenn es empirisch nicht gelingt. In verschiedenen medialen Kontexten tauchen fiktive Figuren aber verschieden auf, d.h. durch verschiedene Informationen repräsentiert, und so wird durch Bilder und Töne ihre incompleteness ‚aufgefüllt‘ (wie bei dem obigen Beispiel von ‚Mr. Jones‘): Selbst wenn die einschlägigen Romane offenlassen, welches Timbre die Stimme von James Bond hat, so muss eine Verfilmung diese Leerstelle doch irgendwie ausfüllen. Dass Bond wie Connery (und Moore und Dalton und Brosnan etc.) aussieht bzw. eine spezifische Stimme hat, ist eine Leistung, die das Bild und der Ton zu der Konstruktion fiktiver Identität beisteuern. Bei diesen Konkretionsprozessen spielt die Materialität der Medien zumindest in gewisser Hinsicht eine Rolle: Die fotografische Aufzeichnung bindet die fiktive Entität an einen realen Körper, den Starkörper (und die akustische Aufzeichnung die fiktive Entität an eine Stimme, die dann z.B. wiederum in der Werbung genutzt werden kann) – und umgekehrt. So gesehen ist eine fiktive Figur, um bei diesem Beispiel zu bleiben, weniger eine transmediale Entität, ein „abstract artifact“ (Amie L. Thomasson, Fiction and Metaphysics [Anm. 31], 37f. u. 40–42), als eine Art historisch sedimentierte Assemblage verschiedener medialer Elemente. Von einer anderen, aber sowohl an medientheoretische wie artefaktualistische Perspektiven anschließbaren Position ausgehend, nämlich der der Akteur-Netzwerk-Theorie, schreibt Bruno Latour (Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2007, 246): „Mit Akteur-Netzwerk beschreibt man etwas, das überhaupt nicht wie ein Netzwerk aussieht – einen momentanen Geisteszustand, ein Stück Maschine, einen fiktionalen Charakter.“ Einen fiktiven Charakter als ein Akteur-Netzwerk zu beschreiben hieße also, ihn als historisch sich entfaltende Verkettung medialer Artefakte – aber auch menschlicher Performanzen (z.B. Fan Fiction, vgl. u.a. Rebecca W. Black, Adolescents and Online Fan Fiction, New York: Lang 2008, oder verkleidetes Auftreten auf Fan-Partys etc.) – zu

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gens kann ein solches Element auch der bloße mediale ‚Look‘ sein: Als der Film The Hobbit – An Unexpected Journey (R.: Peter Jackson, USA/NZL 2012) in dem so genannten ‚High-Frame-Rate-3D‘-Verfahren ins Kino kam, wurde in den Rezensionen unter anderem bemängelt, dass das extrem scharfe und klare Bild der Fiktionsbildung abträglich sei.34 Historische Sedimentation: Die transmediale Dispersion und Zirkulation von fiktiven Entitäten verweist auf die historische Sedimentation von Fiktionen. Insofern wird meine obige Diskussion des Bilds von ‚James Bond‘ (vgl. Abb. 1) einen ‚Hardcore-Scrutonianer‘ wohl nicht überzeugen (daher habe ich es zuvor ‚etwas unglücklich‘ genannt). Denn gerade das Sean-Connery/James-Bond-Bild erfüllt ja Scrutons Kriterium, dass die fiktionale Inszenierung auf der prä-fotografischen Ebene statthat. Der Anzug, die gegelten Haare, das selbstbewusste Lächeln und v.a. die Waffe, die zugleich ein bisschen Körperkontakt hat (und somit vielleicht auf das hübsche Bond-Girl vorausverweist), markieren dieses Bild als Bond-Bild und nicht als Bild-von-Connery (obwohl es natürlich auch als Bild-von-Conneryals-Bond lesbar ist). Historisch hat sich eine intermediale Ikonographie ausgebildet, die die Konstruktion fiktiver Identität massiv erleichtert. Ist eine solche Ikonographie etabliert, kann auch ohne weitere sprachliche Hinweise ein solches Bild als Bond-Bild erkannt werden: Man könnte Abbildung 1 einem Publikum vorlegen, und eine Mehrheit würde das Bild sicher als BondBild identifizieren. In Abbildung 2 sieht man ein Bild, das auf rein bildlicher Ebene auch ein Bild des Privatmanns Sean Connery sein könnte. Die Bildunterschrift macht das Bild aber mindestens auch als Bond-Bild lesbar (und knüpft daran die in James Bond-Filmen, soweit mir bekannt ist, in der Regel wenig beachtete Frage, was Bond lese). Connery war nicht immer Bond, aber wenn eine solche Verbindung einmal etabliert ist, wird es schwer, sie wieder aufzutrennen.35 Dass auf diese Weise fiktive Entitäten historisch entstehen, sich sedimentieren und so stabilisieren, aber auch wieder verschwinden können, wenn z.B. alle Aufzeichnungen und Erinnerungen an sie vernichtet würden, ist ein weiteres zentrales Argument des artefaktualistischen Ansatzes.36 Dass Connery-Bilder nicht immer auch Bond-Bilder gewesen sind, zeigt überdies, dass Scrutons Argument im Grunde tautologisch ist. Denn Scruton spricht gar nicht über die Rekontextualisierung eines nicht-fiktionalen Fotos: Er beschreibt, wie eine (über Kostüme, Dekor etc.) fiktionalisierte Szene fotografiert wird, um dann zu argu-

|| beschreiben, eben als ein, wie Latour sagen würde, Netzwerk menschlicher und nicht-menschlicher Akteure. 34 Vgl. www.newyorker.com/arts/critics/cinema/2012/12/17/121217crci_cinema_lane?currentPage=2, [Zugriff am 04.07.2016]. 35 Solche stabilisierten Identifikationen erklären, warum Leonard Nimoy 1977 ein fast verzweifeltes Buch mit dem Titel I am not Spock geschrieben hat. 36 Vgl. Amie L. Thomasson, Fiction and Metaphysics (Anm. 31), 10f.

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mentieren, dass die prä-fotografische Szene fiktionalisiert sei und ergo nicht das Foto selbst. Dies beweist nicht, dass es nicht möglich ist, auch ein Foto einer nicht-fiktionalisierten Szene kontextuell zu fiktionalisieren.

Abb. 3a37





Abb. 3b38

Grenzen der Sedimentation: Die historische Stabilisierung des Connery/BondClusters bedeutet nicht, dass jedes Connery-Bild nun (leicht) als Bond-Bild lesbar ist. Sucht man nach Abbildungen von Sean Connery bei Google, so findet man neben zahlreichen Bond-Bildern z.B. auch die folgenden. Eines ist ein Zedoder Zardoz-Bild (Abb. 3a), also eine fiktionale Darstellung, die Connery in der Rolle des Zed in dem ökotopischen Science-Fiction-Film Zardoz (R.: John Boorman, GB 1974) zeigt; das andere (Abb. 3b) ein Bild des mittlerweile gealterten Privatmanns Sean Connery. Beide würden kaum oder nur mit Mühe als BondBilder durchgehen, wenn man „007 besticht wie immer durch seine Eleganz“ daneben schriebe: das Zardoz-Bild nicht, da die Kostümierung mit dem Wissen über Bond-Repräsentationen kollidiert; das Connery-Bild nicht, da Bond-Repräsentationen in der Regel einen jüngeren Mann – sei es Bond, sei es Connery – zeigen. Beide könnten aber dennoch als ironische und/oder metaphorische Bezugnahme auf Bond gebraucht werden – wie es hier gerade vorgeführt wurde. Aufhebbarkeit des Fiktionalen: Schließlich gilt, dass auch die stabilisierten fiktionalen Zuschreibungen wieder aufgebrochen werden können. So kann jedes Bond-Bild z.B. nicht als Repräsentation von ‚James Bond‘ (also fiktional), son-

|| 37 http://www.metalsucks.net/wp-content/uploads/2015/10/Sean-Connery-Zardoz.jpg [Zugriff am 04.07.2016]. 38 http://trunkweed.com/22951-sean-connery.html [Zugriff am 04.07.2016].

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dern gerade dokumentarisch als Ausweis eines historisch spezifischen BondDarstellungsstils verstanden werden. Dies ist keineswegs abwegig, sondern kann die ganz alltägliche Beschäftigung von Film- und Medienwissenschaftlern sein. Wiederum sind hier (schriftliche/verbale) Kontextualisierungen maßgeblich, z.B. in Form von Bildunterschriften oder Kommentierungen in wissenschaftlichen Aufsätzen (wie hier). Dies gilt ebenso für Texte: Jeder noch so fiktional intendierte Text kann selbstverständlich auch nicht-fiktional behandelt werden, z.B. als ein historisches Dokument. Es sollte deutlich geworden sein, dass das Fiktionalitätspotential prinzipiell nicht durch die medientechnische Eigenschaft der indexikalischen Aufzeichnung limitiert ist.

3 Fiktionalität des Digitalen? Im Folgenden wird näher auf die bereits erwähnte Möglichkeit eingegangen, dass es Medien oder mediale Prozeduren geben könnte, die immer Fiktionen hervorbringen. Auch das wäre, wenngleich in umgekehrter Denkrichtung, ein Argument gegen den pragmatischen (und wenn man so will: performativen) und historischen Charakter des Fiktionalen. Wieder wäre es eine mediale Ontologie, die a priori zur Fiktionalität zwingen würde. Die Annahme, es gäbe eine solche a priori fiktionalisierende mediale Ontologie, war insbesondere im Zuge des Aufkommens der digitalen Medien zu beobachten. So hat z.B. Geoffrey Batchen bemerkt: „The main difference seems to be that, whereas photography still claims some sort of objectivity, digital imaging is an overtly fictional process.“39 Damit ist gemeint – ein zentraler Topos der Diskussion um digitale Fotografie der frühen 1990er Jahre –, dass man digitalen Bildern, anders als den analogen Fotografien, nicht trauen könne, da digitale Bilder so viel leichter zu manipulieren seien. Mit den nur fotografisch aussehenden digitalen Bildern – wobei oft digitalisierte und digital generierte Bilder vermischt wurden40 – schien eine Ära der ‚referenzlosen Simulation‘41 und ihrer Bilder zu beginnen. Daher schien sich offenbar die Frage nach Wahrheit oder Fiktion gar nicht mehr zu stellen – bzw.

|| 39 Geoffrey Batchen, „Ectoplasm. Photography in the Digital Age“, in: Carol Squiers (Hg.), Over Exposed. Essays on Contemporary Photography, New York: New York Press 2000, 9–23, hier: 15. 40 Vgl. zu diesem Unterschied Jens Schröter, „Das Ende der Welt. Analoge vs. digitale Bilder – mehr und weniger ‚Realität‘“? in: ders./Alexander Böhnke (Hg.), Analog/Digital – Opposition oder Kontinuum? Zur Theorie und Geschichte einer Unterscheidung, Bielefeld: transcript 2004, 335–354. 41 Kritisch dazu: Jochen Venus, Referenzlose Simulation?, Würzburg: Könighausen & Neumann 1997.

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im Sinne einer Fiktionalisierung der ganzen Welt vorentschieden zu sein.42 Diese Thesen sind gleich in mehrfacher Hinsicht problematisch: (i) Zunächst (und eigentlich wäre dies als Gegenargument schon ausreichend) unterstellte die Debatte der 1990er Jahre bezüglich digitaler Bilder oft, dass die Absicht (z.B. durch Bild-Manipulationen) zu täuschen, dasselbe sei wie fiktional zu repräsentieren. Doch Fiktionen werden bekanntlich nicht mit der Absicht zu täuschen hergestellt.43 Vielmehr situiert sich fiktionale Repräsentation eben jenseits der Unterscheidung wahr/falsch. Um in diesem Zusammenhang ein weiteres Beispiel aus der Diskussion zu digitalen Bildern anzuführen, sei hier auf Martina Heßler verwiesen, die (erneut unter Bezug auf den Begriff der ‚Simulation‘) schreibt: Die grundlegende Frage ist die nach der Geltung der Bilder sowie nach der Differenz zwischen Fiktionalität und Indexikalität. Allerdings scheinen auch hier Differenzierungen hilfreich. Die Spannbreite von Simulationen, ihr jeweiliges Verhältnis von Indexikalität und Fiktionalität, erweist sich als komplizierter. Nehmen wir das Beispiel der Archäologie oder der Kunstgeschichte, die Gebäude oder gar ganze Städte simulieren und damit wiedererstehen lassen, obgleich sie zuweilen nur auf einem rudimentären Datengerüst basieren. Diesen Simulationen liegen damit Daten und empirische Kenntnisse, beispielsweise aufgrund von Ausgrabungen, zugrunde, während Lücken des Nichtwissens visuell gefüllt werden. Imagination und Analogieschlüsse, Annahmen und Theorien sind dabei das Material, mit dem die visuellen Lücken gefüllt werden. [...] [D]ie entscheidende Frage ist [...], wie sich das Verhältnis von Indexikalischem, von den Bildern vorgängigen Daten und Fiktionalität darstellt. Auf der einen Seite implizieren Simulationen zwar empirische Daten, doch ist ihr fiktionaler Anteil zum Teil erheblich. Umgekehrt fließen gerade in den von Schröter genannten CCD-Bildern der Astronomie, die Licht in elektrische Ladung umwandeln und damit auf realen Daten basieren, also indexikalisch sind, gleichfalls zu einem nicht unerheblichen Teil abstrakte, theoretische Modelle der Astronomie ein. In einer populärwissenschaftlichen Astronomie-Zeitschrift wurde dies gewissermaßen implizit thematisiert, indem eine bearbeitete CCD-Aufnahme kommentiert wurde mit: ‚So könnte es aussehen‘.44

|| 42 In diesem Sinne schreibt Geoffrey Batchen: „[W]e are entering a time when it will no longer be possible to tell any original from its simulations“ („Ectoplasm“ [Anm. 39], 10). Hier steht der ‚irrealistische‘ Simulationsbegriff Jean Baudrillards (siehe Abschnitt 4) im Hintergrund. 43 Vgl. hierzu etwa John R. Searle, „The Logical Status of Fictional Discourse“, in: New Literary History 6 (1975), 319–332. 44 Martina Heßler, „Von der doppelten Unsichtbarkeit digitaler Bilder“, http://www.zeitenblicke. de/2006/3/Hessler [Zugriff am 04.07.2016]. Sie bezieht sich auf Jens Schröter, „Das Ende der Welt“ (Anm. 40); zum CCD (den ‚Charge Coupled Devices‘, den Sensoren, die im Prinzip allen heutigen digitalen Fotovorrichtungen zugrunde liegen) vgl. ebd., 343–345. — Im hier diskutierten Sinn müsste es, wo Heßler von ‚fiktionalem Anteil‘ spricht, wohl ‚fiktiver Anteil‘ heißen.

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Es wäre ein eigener Artikel notwendig, um das Verhältnis von Modellen und Fiktionen detaillierter zu diskutieren.45 Allerdings ist es, im Einklang mit manchen Positionen aus der Wissenschaftstheorie,46 problematisch, Modelle mit Fiktionen gleichzusetzen, und zwar schon aus dem einfachen Grund, dass eine Aussage wie ‚Was Arthur Conan Doyle zu Sherlock Holmes geschrieben hat, ist falsch‘ schlicht keinen Sinn ergibt (Sherlock Holmes ist eben eine fiktive Figur; es gibt ihn nicht). Eine Fiktion hat nicht den Anspruch eine (auch nur zeitlich vorübergehend) gültige Beschreibung der Wirklichkeit zu sein (auch wenn Fiktionen unter bestimmten Umständen so verstanden werden können) – ein Modell dagegen schon, weswegen z.B. die Vorhersagen von Modellen in der theoretischen Teilchenphysik durch Beschleunigertechnologien wie dem Large-Hadron-Collider am CERN (inkl. der Detektortechnologien Atlas, Alice, CMS und LHCb) am empirischen Datenmaterial geprüft und ggf. falsifiziert werden. Und auch der von Heßler erwähnte Astronom, der vermutet, dass ‚es so aussehen könnte‘, müsste diese Annahme ggf. im Lichte andersartiger Belege zurücknehmen, ja er würde sie gar nicht machen, wenn er nicht annähme, sie könnte nicht bestätigt oder widerlegt werden.47 Daher kann man nicht sagen, dass Modelle, die in der digitalen Bildgenerierung zum Einsatz kommen, die Bilder fiktionalisieren. Simulationen, sofern man sie als dynamische und ggf. interaktive Modelle (im Sinne J. C. R. Lickliders48) versteht, sind nicht per se fiktional (s. Abschnitt 4).

|| 45 Vgl. Mauricio Suárez (Hg.), Fictions in Science. Philosophical Essays on Modeling and Idealization, New York: Routledge 2009. 46 Vgl. v.a. Ronald N. Giere, „Why Scientific Models Should not be Regarded as Works of Fiction“, in: Mauricio Suárez (Hg.), Fictions in Science (Anm. 45), 248–258. Vgl. auch Bernd Mahr, „Cargo. Zum Verhältnis von Bild und Modell“, in: Ingeborg Reichle/Steffen Siegel/Achim Spelten (Hg.), Visuelle Modelle, München: Fink 2008, 17–40. 47 Martina Heßler spielt möglicherweise darauf an, dass Bilder in der Astronomie oft in beliebig gewählten Falschfarben koloriert werden, um erstens den Bildern eine deutlichere Binnenstruktur zu verleihen und/oder um sie zweitens für eine massenmediale Vermittlung attraktiver zu machen. Obwohl diese Kolorierungen sich nicht immer auf Modelle im engeren Sinne stützen, sind sie dennoch kaum als Fiktionen beschreibbar. Im ersten Fall dienen sie erneut der Verbesserung der referentiellen Vermittlung, im zweiten Fall sind sie zwar insofern fiktional, als sie Vorstellungen über die bunte Erscheinung von Planeten oder Ähnlichem verbreiten, die sich nicht mit der Wirklichkeit decken mögen (wiewohl die Falschfarben oft einfach farbige Repräsentationen real existierender, aber für menschliche Augen unsichtbarer Strahlung sind), aber auch ein unnatürlich buntes Bild des Planeten Jupiter bezeichnet ein real existierendes Objekt (nämlich den Planeten Jupiter) und nicht eine nicht existente, fiktive Entität – es gibt Bond nicht in dem Sinne, in dem es Jupiter gibt. 48 Vgl. J. C. R. Licklider, „Interactive Dynamic Modeling“, in: George Shapiro/Milton Rogers (Hg.), Prospects for Simulation and Simulators of Dynamic Systems, New York/London: Spartan Books 1967, 281–289. Der genaue epistemologische Status von Simulationen wird bis heute diskutiert, weswegen Lickliders Beschreibung von Simulationen als interaktive und dynamische Modelle etwa mit ihrer Beschreibung als eine Art von Experiment zu kontrastieren wäre. Eine Simulation ist aber besten-

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(ii) Unabhängig von der systematischen Beobachtung, dass Fiktionen und Unwahrheit nicht dasselbe sind, ist es sachlich und historisch falsch, dass digitale Bildbearbeitung wesentlich zur Produktion von Täuschungen verwendet worden sei. Ihr früher militärischer und wissenschaftlicher Einsatz war genau gegenteilig. Es sollte mehr – wenn man so will: nicht-fiktionale – Referenz produziert werden.49 (iii) Aber selbst wenn man die ersten beiden Einwände nicht berücksichtigt, haben die Überlegungen in Abschnitt 2 gezeigt, dass auch analoge und chemische Fotos je nach Kontext durchaus Verschiedenes bezeichnen können. Sie sind nicht qua ihres analogen und indexikalischen Charakters auf eine ‚objektive‘ Darstellung eines Sachverhaltes festgelegt, auch wenn sie z.B. in der Wissenschaft, in der Kriminalistik, in der Medizin, aber auch in der Familienfotografie so genutzt werden können. Man kann analoge Spuren ‚fiktional‘ oder dokumentarisch nutzen.50 Es ist in keiner Weise zu sehen, warum sich dies mit der Art der Aufzeichnung ändern sollte. Wie schon bemerkt, kann das auch nicht überraschen: Walton zumindest argumentiert ja, dass man die Funktionsweise von Fiktionen als

|| falls ‚eine Art‘ von Experiment, da sie allein nichts falsifizieren kann (jedenfalls in naturwissenschaftlichen Anwendungen). 49 Vgl. Jens Schröter, „Das Ende der Welt“ (Anm. 40) und ders., „Gestaltung und Referenz in analoger und digitaler Fotografie“, in: Claudia Mareis/Christof Windgätter (Hg.), Long Lost Friends. Wechselbeziehungen zwischen Design-, Medien- und Wissenschaftsforschung, Berlin: diaphanes 2013, 63–76. 50 Vgl. dazu, dass auch die Nutzung eines Fotos als Spur des Realen eine Nutzung, mithin nicht die unumgängliche Ontologie des fotografischen Bildes ist: „Yet indexicality only becomes important when a sign (a photograph) is interpreted in such a way that its epistemic value is understood to rely chiefly on its existential connection to what it stands for.“ (Martin Lefebvre, „The Art of Pointing: On Peirce, Indexicality, and Photographic Images“, in: James Elkins [Hg.], Photography Theory, New York: Routledge 2007, 220–244, hier: 222) Dies zu sagen bedeutet keineswegs den indexikalischen Aspekt der chemischen wie quantenelektronischen Fotografie in Frage zu stellen. Das Foto ist und bleibt (auch) eine Spur eines Objekts oder Ereignisses. Doch dass ein gegebenes Foto eine Spur ist, bedeutet noch nicht, dass Betrachter verstehen, was das Foto zeigt, ja nicht einmal, dass es als Spur verstanden wird. Oft sind Bildbeschriftungen oder andere Ergänzungen (z.B. der rote Kreis des investigativen Journalismus) vonnöten, um zu verstehen, auf was die fotografierte Spur verweist. Dies kann auch am Einsatz der Fotografie in den Naturwissenschaften gesehen werden. Das Foto wird dort verwendet, weil es tatsächlich eine Spur eines realen Objekts oder Ereignisses festhält, nichtsdestotrotz benötigt das Foto Interpretation, um verstanden werden zu können. Vgl. z.B. zu ‚Reading Regimes‘ von Fotografien in der Geschichte der Teilchenphysik Peter Galison, Image and Logic. A Material Culture of Microphysics, Chicago: Chicago UP 1997, 370–384. Walton behauptet, dass Bilder per se fiktional seien, auch und gerade, wenn sie in nicht-fiktionalen Praktiken eingesetzt würden (vgl. Mimesis as Make-Believe [Anm. 9], 351). Mir scheint die Behauptung, eine nichtfiktionale Verwendung von Bildern sei eine andere Form von Fiktionalität, eine unplausible Einebnung einer notwendigen Differenz zu sein. Vgl. kritisch dazu Marie-Laure Ryan, „Fiktion, Kognition und nichtverbale Medien“ (Anm. 6), 80.

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games of make-believe verstehen kann und illustriert dies (wie oben bereits erwähnt) u.a. mit Kinderspielen, in denen etwa Matschhaufen – fiktional – als Kuchen verstanden werden. Wenn dies möglich ist, wieso sollten technische Bilder, gleich ob analog oder digital, nicht als props in games of make-believe verwendet werden können?

4 ‚Fiktion‘ und ‚Simulation‘ im Diskurs der Medientheorie Wenn aber Fiktionalität eine Eigenschaft ist, die sich nicht auf mediale Ontologien zurückführen lässt,51 sondern von medialen Praktiken (wie z.B. games of makebelieve) produziert wird, welche Rolle kann Fiktionalität in einer Medientheorie dann überhaupt zukommen? Bei Winkler ist es Fiktionalität, die den Bereich der Medien von einem nicht- oder außermedialen Bereich abtrennt. Da das aber ohne sprachliche Vollzüge schwer denkbar ist, scheint die klare Separierung fiktionstauglicher von fiktionsfreien Bereichen, wie in Winklers Gegenüberstellung der Theaterbühne zu einem Außen, kaum möglich zu sein. Im Grunde scheint hier eine basalere Frage durch, nämlich die nach der wirklichkeitskonstitutiven Kraft von Medien. Eben weil Medien nicht einfach transparent etwas vermitteln (wären sie bloß transparent, würde eine Beschäftigung mit ihnen

|| 51 Dass Fiktionalität nicht von medialen Ontologien abhängt, heißt freilich nicht, dass mediale Differenzen für die Möglichkeit des Fiktionalen keine Rolle spielten. So bemerkt Monika Fludernik in Towards a ‚Natural‘ Narratology (London/New York: Routledge 1996, 39): „Fictionality typically surfaces in narrative form (including narrative poetry, drama and film); it is not generally employed to define poetry, sculpture or music, and in painting is restricted to specifically narrative representations.“ In der Regel ist Fiktion mit dem Prozess der Narration verbunden und zwar deswegen, weil in diesem Prozess Schritt für Schritt Annahmen über den referentiellen Status der präsentierten Objekte und ihre Eigenschaften gebildet, bestätigt oder verworfen werden können. Für ein selbst temporal nicht ausgedehntes Gebilde wie ein Gemälde oder eben ein Foto ist dieser Prozess schwieriger herstellbar. D.h. die bekanntlich schon von Lessing in etwas anderer Hinsicht eingeführte Differenz zwischen tendenziell sukzessiven oder sukzessiv wahrzunehmenden Darstellungen und solchen, die ihr Material eher simultan präsentieren – das kann nur eine graduelle Differenz sein – spielt hinsichtlich der zeitlichen Entfaltung der Fiktionalisierung, d.h. der Produktion eines fiktionalen Diskurses, eine Rolle. Das oben angeführte Bond-Beispiel zeigt allerdings, dass eine (z.B. durch Filme) sedimentierte fiktionale Semantik auch Einzelbilder leichter fiktionalisierbar macht. Edward Branigan (Narrative Comprehension and Film [Anm. 28], 1) bemerkt, dass es auch nichtnarrative Fiktionen wie „lyric poetry“ gibt. Ob ein Gedicht aber nicht-narrativ ist bzw. ob es überhaupt unter die Unterscheidung fiktional/nicht-fiktional fällt, ist eine schwierige Frage, die ich Spezialisten überlasse. Im Regelfall sind Fiktionen jedenfalls narrativ. Solche Narrationen können, wie weiter oben ausgeführt, jedoch ikonographisch sedimentieren und dann auch über Einzelbilder abgerufen werden.

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nicht lohnen), sondern dabei auch konstituieren,52 stellte und stellt sich immer wieder die Frage, wie man diese Konstitutionsleistung beschreiben soll. Mit dem Hinweis auf das Probehandeln hat Winkler unterstrichen, dass Medien einen Abstand zur Welt erzeugen, der aber u.a. auch eine Vorbereitung auf die Welt erlaubt (eben im Sinne des ‚Ausprobierens‘). Da das Probehandeln dem Handeln vorausgeht, ist es konstitutiv für letzteres. Das Handeln wäre ohne seine ‚fiktive‘ Antizipation nicht durchführbar. Das mag nicht für jedes Handeln gelten, für komplexere Vollzüge aber durchaus. Bemerkenswerterweise hat Dieter Wellershoff schon 1969 zur Literatur bemerkt: Literatur ist in meinem Verständnis eine Simulationstechnik. Der Begriff ist in letzter Zeit populär geworden durch die Raumfahrt, deren vollkommen neuartige Situationen, der praktischen Erfahrung vorauslaufend, zunächst künstlich erzeugt und durchgespielt werden. Die Astronauten [...] lernen an Geräten, die die realen Bedingungen fingieren, das heißt, ohne um den Preis von Leben und Tod schon zum Erfolg genötigt zu sein. Das ist, wie mir scheint, eine einleuchtende Analogie zur Literatur. Auch sie ist ein der Lebenspraxis beigeordneter Simulationsraum, Spielfeld für ein fiktives Handeln, in dem man als Autor und als Leser die Grenzen seiner praktischen Erfahrungen und Routinen überschreitet, ohne ein wirkliches Risiko einzugehen.53

Auch wenn dies Winklers Beschreibung des Probehandelns als zentraler Möglichkeit der Medien sehr nahe zu kommen scheint, benutzt Wellershoff neben ‚fingieren‘ und ‚fiktiv‘ noch einen anderen Begriff, der eben schon bei der Diskussion digitaler Medien auftauchte, nämlich den der Simulation. Wellershoffs Text heißt bereits „Fiktion und Praxis“, d.h. bei Wellershoff werden Fiktion und Simulation im Sinne eines Probehandelns parallelisiert. Der Begriff der ‚Simulation‘ hat in der im weiteren Sinne medienwissenschaftlichen Diskussion vor allem der 1990er Jahre eine bedeutende Rolle gespielt und

|| 52 Vgl. hierzu beispielhaft Sybille Krämer, die anmerkt, dass sich in der „Vielfalt medienbezogenen Forschens [...] ein gemeinsamer Nenner“ herauskristallisiert habe: „Es ist dies die Überzeugung, dass Medien nicht nur der Übermittlung der Botschaften dienen, vielmehr am Gehalt der Botschaften [...] selbst beteiligt sein müssen“ („Das Medium als Spur und als Apparat“, in: dies. (Hg.), Medien Computer Realität. Wirklichkeitsvorstellungen und Neue Medien, Frankfurt a.M. 1998, 73–94, hier: 73). Wie ist das gemeint? Es geht nicht allein darum, dass Medien etwas hervorbringen, was es ohne sie nicht gibt (z.B. eine fiktive Figur) – denn stets macht ein Medium etwas anderes und zugleich sich selbst vorstellig: Ein Foto des Großvaters zeigt den Großvater und zugleich, dass das Sichtbare des Großvaters ohne den leibhaftigen Großvater (verkleinert, s/w etc.) an einem anderen Ort erscheinen kann – also zeigt das Foto (auch) sich selbst. Allerdings kann in vielen Zusammenhängen das Medium soweit hinter dem Inhalt verschwinden, dass es praktisch unwahrnehmbar wird. 53 Dieter Wellershoff, „Fiktion und Praxis“, in: ders., Werke, Bd. 4, Köln: Kiepenheuer & Witsch 1997, 202–217, hier: 210. Mit Dank an Nicola Glaubitz.

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wird heute in veränderter Weise wieder aufgegriffen.54 Ganz knapp könnte man sagen, dass im Anschluss an die Verwendung des Simulationsbegriffs bei Baudrillard zunächst eine (sagen wir: ‚irrealistische‘) Bedeutung dominierte, in der Simulation als eine Art ‚referenzloses‘ Spiel von (z.B. massenmedialen) Zeichen verstanden wurde, das an die Stelle der ‚Realität‘ tritt. Diese Bestimmung des Simulationsbegriffs wurde rasch kritisiert, sowohl hinsichtlich seiner inneren Stimmigkeit als auch bezüglich der empirischen Validität.55 Dabei wäre ein solcher auf Referenzlosigkeit bezogener Begriff von Simulation noch vergleichsweise nah an der Bestimmung von Fiktionen, insofern man z.B. mit ‚James Bond‘ alle möglichen Zeichen- und Bildspiele spielen kann, obwohl ‚James Bond‘ strenggenommen auf keinen realweltlichen Referenten verweist – und immerhin gibt es Fiktionstheorien, die ausdrücklich eine ‚Reference without Referents‘ in den Mittelpunkt stellen.56 In diesem Sinne schienen sich hier Fiktion und Simulation sehr nahe zu kommen.57 Mit der Zeit setzte sich eine andere (sagen wir: ‚realistische‘) Version des Simulationsbegriffs durch, die mehr auf die tatsächlichen Anwendungen von Simulationen in den Wissenschaften, aber auch in Militär und Medizin abstellten, v.a. in Form der Computersimulation (womit wir wieder bei den digitalen Medien wären).58 Diese

|| 54 Vgl. zur langen und komplizierten Begriffsgeschichte von ‚Simulation‘ Bernhard Dotzler, „Simulation“, in: Karlheinz Barck (Hg.), Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Bd. 5, Stuttgart: Metzler 2003, 509–533. 55 Siehe, neben Jochen Venus (Referenzlose Simulation? [Anm. 41]) auch Lorenz Engell, Das Gespenst der Simulation. Ein Beitrag zur Überwindung der ‚Medientheorie‘ durch Analyse ihrer Logik und Ästhetik, Weimar: VDG 1994. 56 Vgl. R. M. Sainsbury, Reference without Referents (Anm. 26). 57 Vgl. Jean Baudrillard: „Dissimulieren heißt fingieren, etwas, das man hat, nicht zu haben. Simulieren heißt fingieren, etwas zu haben, was man nicht hat. Das eine verweist auf eine Präsenz, das andere auf eine Absenz. Doch die Sache ist noch komplizierter, denn simulieren ist nicht gleich fingieren: ‚Jemand, der eine Krankheit fingiert, kann sich einfach ins Bett legen und den Anschein erwecken, er sei krank. Jemand, der eine Krankheit simuliert, erzeugt an sich einige Symptome dieser Krankheit‘ (so das Wörterbuch von Littré). Beim Fingieren oder Dissimulieren wird also das Realitätsprinzip nicht angetastet: die Differenz ist stets klar, sie erhält lediglich eine Maske. Dagegen stellt die Simulation die Differenz zwischen ‚Wahrem‘ und ‚Falschem‘, ‚Realem‘ und ‚Imaginärem‘ immer wieder in Frage.“ („Die Präzession der Simulakra“, in: ders., Agonie des Realen, Berlin: Merve 1978, 7–69, hier: 10) Diese Passage suggeriert also zunächst eine Nähe von Simulieren und Fingieren, um sie dann zu widerrufen – mit dem merkwürdigen und wenig einleuchtenden Beispiel des Unterschieds der Vortäuschung einer Krankheit durch die ‚Erweckung des Anscheins‘ vs. ‚Erzeugung von Symptomen‘. 58 Zur Computersimulation vgl. Jens Schröter, „Computer/Simulation. Kopie ohne Original oder das Original kontrollierende Kopie“, in: Gisela Fehrmann et al. (Hg.), OriginalKopie – Praktiken des Sekundären, Köln: Dumont 2004, 139–155 und näherhin zur Bedeutung in den Naturwissenschaften Gabriele Gramelsberger (Hg.), From Science to Computational Sciences. Studies in the History of Computing and its Influence on Today’s Sciences, Zürich: diaphanes 2009. Aktuell wird die Computersimulation im DFG-Forscherkolleg „Medienkulturen der Computersimulation“ an der Universität Lüneburg erforscht, siehe: http://mecs.leuphana.de/ [Zugriff am 04.07.2016].

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Simulationen haben gerade nicht das Ziel, ein leeres Trugbild zu errichten, vielmehr sind es dynamische Modelle,59 die sich auf empirische Daten über die zu modellierenden Phänomene beziehen. Heßlers oben zitierte Wendung – „Auf der einen Seite implizieren Simulationen zwar empirische Daten, doch ist ihr fiktionaler Anteil zum Teil erheblich“ (Anm. 44) – geht genau in diese Richtung. Was sie hier mit ‚fiktionalem Anteil‘ meint, sind die unvermeidlichen Zusatzannahmen und Idealisierungen bzw. gezielten Filterungen bzw. Selektionen der Daten, die vorgenommen werden müssen, um das Modell zu konstruieren. Wie weiter oben schon bemerkt, sind solche Modellannahmen aber etwas anderes als Fiktionen, denn Modellannahmen sind per Definitionem einem Falsifizierbarkeitspostulat unterworfen (wenn das Modell Unsinniges vorhersagt – was sich durch empirische Prüfungen herausfinden lässt – dann könnten die Annahmen falsch sein); gerade das gilt jedoch für Fiktionen nicht. In diesem Sinne verstanden sind Simulationen etwas dezidiert anderes als Fiktionen (s.u.).60 Simulationen können wiederum in games of make-believe fiktional gebraucht werden (was eben zeigt, dass sie nicht immer fiktional sind): Das ist sogar ganz alltäglich im kommerziellen Kino, wenn ‚realistische‘ Simulationen fotografischer Bildlichkeit,61 die auf einem auf empirischen Daten basierten Modell der Fotografie basieren, genutzt werden, um fotorealistisch erscheinende fiktive Entitäten (Monster, Aliens, Raumschiffe, Architekturen, Landschaften usw.) zu erschaffen. Interessanterweise hat 1989 kein Geringerer als Friedrich Kittler einen Text mit dem Titel „Fiktion und Simulation“ veröffentlicht. Ziel des Textes ist es, „das Neue an der technischen Datenverarbeitung durch ihre Abgrenzung von hergebrachten Künsten zu umschreiben“.62 Dabei geht es nicht darum, in traditioneller Weise Kunst gegen Technik auszuspielen – alle vorherigen Künste waren auch schon Techniken63 –, sondern darum, „welche Techniken historisch und ästhetisch an der Stelle gestanden haben, die heute durch Elektronik besetzt wird“.64 Die Technik, die an der Stelle gestanden hat, die nun von der ‚Elektronik‘ besetzt wird, wird einen Satz später benannt: „Künste hießen mithin ein Maximum dessen, was unter Bedingungen || 59 Vgl. J. C. R. Licklider, „Interactive Dynamic Modeling“ (Anm. 48). 60 Die bedeutenden operativen Funktionen digitaler Medien und insbesondere digitaler Simulationen werden durch die Einschätzung digitaler Medien und Simulationen als ursprünglich fiktional sogar verdeckt und sind insofern ideologisch. Die eigentliche Macht digitaler Medien und Simulationen liegt weit weniger in ihrem Potential zur Täuschung als in dem der Kontrolle. 61 Vgl. z.B. zur Simulation von Kamera und Bewegungsunschärfe Michael Potmesil/Indranil Chakravarty, „Synthetic Image Generation with a Lens and Aperture Camera Model“, in: ACM Transactions on Graphics 1.2 (1982), 85–108; ders./ders., „Modeling Motion Blur in Computer-Generated Images“, in: Computer Graphics (SIGGRAPH 83 Proceedings) 17.3 (1983), 389–399. 62 Friedrich Kittler, „Fiktion und Simulation“, in: ARS ELECTRONICA (Hg.), Philosophien der neuen Technologie, Berlin: Merve 1989, 57–79, hier: 58. 63 Vgl. auch Friedrich Kittler, Kunst und Technik, Basel: Stroemfeld 1997. 64 Friedrich Kittler, „Fiktion und Simulation“ (Anm. 62), 58.

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eines alltagssprachlichen Codes machbar war.“ Die hergebrachten Künste scheinen also fundamental von einem ‚alltagssprachlichen Code‘ geprägt zu sein, und diese Bevorzugung der Sprache gegenüber dem Bild in Bezug auf die ‚hergebrachten Künste‘ (als ob es keine Malerei gegeben hätte)65 setzt sich auch im Rest des Textes fort. Die Differenz ‚neue technische Datenverarbeitung‘ vs. ‚hergebrachte Künste‘ entspricht Kittler zufolge der Differenz Simulation vs. Fiktion: Dann [wenn die Fiktion in Kraft ist, dass Buchstaben Zeichen für Laute und jene Zeichen für Widerfahrnisse einer Seele seien, wie Kittler dies formuliert, J.S.] schlagen Manipulationen an einem Code auf die Seele von Lesern und Hörern durch, dann ist das Maximum ästhetischer Machbarkeit erreicht. Es verdient den Titel Fiktion, wie umgekehrt das Maximum datenverarbeitender Manipulation (mit Baudrillard) den Titel Simulation verdient.66

Fiktion wird von Kittler also ganz eindeutig als „alphabetische[...] Fiktion[...]“67 verstanden. Es geht darum, dass fiktionale Literatur Leser anhalte, „Manipulationen im Symbolischen als sinnliche Daten zu halluzinieren“68 – sich beim Lesen also allerlei fiktive „Figuren“69 und Ähnliches vorzustellen, den Text als Tor zu einer fiktionalen Welt zu gebrauchen. Dies steht im Einklang mit einer zentralen These aus Kittlers 1985 erschienener Habilitationsschrift Aufschreibesysteme 1800/1900, in der als ein Effekt des Aufschreibesystems 1800 beschrieben wird, dass die „Alphabetisierung alle Möglichkeiten [versperrte], Zeichenbedeutungen zu negieren, bis die Fiktion eine wirkliche sichtbare Welt nach den Worten entließ“, wie es Kittler andernorts pointiert formuliert.70 Durch die Alphabetisierung wird es, so Kittler, also zunehmend unmöglich den Text nicht als transparenten Durchgang zu einer fiktionalen Welt zu verstehen. Das Aufschreibesystem 1900 wird hingegen durch die technischen Medien bestimmt, die am Verstand und Bewusstsein vorbei Daten aufzeichnen können (wie z.B. das Grammophon).71 Diese Opposition wird 1989 von Kittler in „Fiktion und Simulation“ auf das Begriffspaar eben von Fiktion und Simulation abgebildet. Daher kann Kittler die Simulation (obwohl das heute naheliegt) nicht auf die digitalen Medien beschränken: „Simulationen starteten bescheiden –

|| 65 Was auch Kittler selbst natürlich besser wusste; vgl. Friedrich Kittler, Optische Medien. Berliner Vorlesungen 1999, Berlin: Merve 2001. 66 Kittler, „Fiktion und Simulation“ (Anm. 62), 60. 67 Ebd., 76. 68 Ebd., 62f. 69 Ebd., 60. 70 Ebd., 63. Vgl. als nur ein Beispiel Friedrich Kittler, Aufschreibesysteme 1800/1900, 3., vollst. überarb. Neuaufl., München: Fink 1995 [1985], 157: „Im Überspringen des Lesens, das unter einer halluzinatorischen Medialität verschwindet, feiert die Universalpoesie ihren Endsieg.“ 71 Vgl. Friedrich Kittler unter Bezug auf das Aufschreibesystem 1900 (Film und Grammophon): „Zur symbolischen Fixierung von Symbolischem tritt die technische Aufzeichnung von Realem in Konkurrenz“ (Aufschreibesysteme 1800/1900 [Anm. 70], 289).

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in den Analogmedien der Jahrhundertwende.“72 Im Grunde will Kittler darauf hinaus, dass das, was er Simulation nennt, auf „Abtastungen“,73 also auf empirischen Daten beruht. Trotz der anfänglichen Referenz auf Baudrillard und einer zunächst eindeutig ‚irrealistischen‘ Bestimmung der Simulation („Unter Computerbedingungen wird es also machbar, maschinell zu affirmieren, was nicht ist: Siegeszug der Simulation“74), steht hier ein ‚realistisches‘ Modell der Simulation im Hintergrund; denn, wie Kittler weiß, kommen „auch Lehrbücher der reinen Mathematik beim Kapitel ‚Simulation‘ plötzlich auf eine Wirklichkeit und deren Gefahr zu sprechen“.75 Diese operative Funktion von Simulationen – und heute zumal Computersimulationen – verdeutlicht Kittler mit dem Beispiel der „Simulation des Krieges“76 im Schachspiel und dann in militärischen Sandkastenspielen.77 Dies bezeichne „sehr genau den Schritt von Künsten zu Analogmedien, von Fiktionen zu Simulationen“.78 Eine solche Funktion der Modellierung von Realem und den damit gegebenen Möglichkeiten der Kontrolle, die heute tatsächlich eine der bedeutenden Funktionen der Computersimulation ist, setzt Kittler also den gleichsam bloß imaginären Fiktionen entge-

|| 72 Friedrich Kittler, „Fiktion und Simulation“ (Anm. 62), 69. Auf S. 68 benennt Kittler (mit Arnheim) die ‚Selbstaufzeichnung‘ (etwa in Photographie und Grammophonie), die man mit dem, von Kittler nicht genutzten, Begriff der Indexikalität (s.o.) bezeichnen kann, als eine „notwendige [...] Unterscheidung [...] zwischen Medien und Künsten“. 73 Ebd., 70. 74 Ebd., 65. Dieser Satz spielt auf eine These Kittlers auf S. 64 an: „Während Affirmieren nur bejaht, was ist, und negieren nur verneint, was nicht ist, heißt simulieren, was nicht ist, zu bejahen und dissimulieren, was ist, zu verneinen.“ Diese These wurde u.a. von Lorenz Engell in Das Gespenst der Simulation (Anm. 55) detailliert kritisiert, u.a. mit dem Hinweis, dass zu bejahen, was nicht ist und zu verneinen, was ist, schlicht und ergreifend bedeutet, zu lügen. Außerdem sei Negieren nicht zu verneinen, was nicht ist, sondern zu verneinen, was ist – denn was nicht ist, kann man weder negieren noch affirmieren (weswegen Fiktionen ja jenseits von wahr/falsch stehen). Daher ist Kittlers Kommentar zu den Visualisierungen von Fraktalen so schwer zu verstehen: „Wenn simulieren besagt, zu bejahen, was nicht ist, und dissimulieren besagt, zu verneinen, was ist, dann hat die Computerdarstellung komplexer, zum Teil also imaginärer Zahlen eine sogenannte Wirklichkeit buchstäblich dissimuliert, nämlich auf Algorithmen gebracht“ („Fiktion und Simulation“ [Anm. 62], 67). Es ist schwer zu verstehen, inwiefern die Visualisierung mathematischer Funktionen, die z.B. wie „Wolken und Uferlinien“ (ebd.) aussehen, eben jene Wolken und Uferlinien ‚verneint‘. Interessanterweise steht Kittlers Symmetrie zwischen Simulieren und Dissimulieren gerade in Widerspruch zu Baudrillards Entgegensetzung zwischen beiden Begriffen, vgl. Jean Baudrillard, „Die Präzession der Simulakra“ (Anm. 57), 10. 75 Friedrich Kittler, „Fiktion und Simulation“ (Anm. 62), 73. Auf S. 79 spricht Kittler vorausschauend von einer „Welle“ (gemeint ist eine Welle des Meeres am Strand), die dereinst mit ihrem „Computeralgorithmus“ zusammenfalle. Eine solche Formulierung impliziert ein ‚realistisches‘ Modell von Simulation. 76 Ebd., 73. 77 Vgl. auch John Raser (Simulation and Society. An Exploration of Scientific Gaming, Boston: Allyn and Bacon 1972), der Simulationen ebenfalls in die Genealogie von Kriegsspielen einreiht. 78 Friedrich Kittler, „Fiktion und Simulation“ (Anm. 62), 73.

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gen.79 Auch wenn sein Text gewisse Ungereimtheiten aufweist,80 wird doch deutlich, dass Fiktion hier, ähnlich wie bei Winkler, letztlich an die Sprache gebunden ist: Anders als bei Winkler tritt mit den technischen Medien laut Kittler aber die Möglichkeit der Simulation hinzu. Zwar klingt es so, als zeichneten sich die technischen Medien ausschließlich durch ‚Simulation‘ aus – aber das kann Kittler angesichts der offenkundigen Fähigkeiten z.B. von Filmen, fiktionale Geschichten zu erzählen, nicht wirklich meinen. Er versucht zwar die Erfindung des fiktionalen Films bei Méliès zur Simulation zu erklären; dies deutet allerdings – wieder eher ‚irrealistisch‘ – darauf hin, dass Kittler gelegentlich (in der Spur Baudrillards) die bloße Tatsache, dass im Film z.B. fiktive Charaktere audio-visuell erscheinen, der ‚Halluzinierung‘ solcher Figuren durch Buchleser entgegensetzt. Das Argument wäre gleichsam: Der Film präsentiert die fiktionale Welt (Simulation), während sich der Leser jene vorstellen muss (Fiktion). Man muss dieser Konstruktion nicht folgen und könnte dennoch festhalten: Während die Schrift Leser zum Imaginieren fiktionaler Welten anhält, haben die technischen Medien darüber hinaus (und neben der Möglichkeit fiktionale Welten zu erzeugen) noch die Möglichkeit zum (nicht-symbolischen, son-

|| 79 Daher muss man auch Wellershoffs und Winklers Versuch, Fiktion (z.B. in der Literatur) und Simulation in eine Ecke zu rücken, problematisieren (vgl. Hartmut Winkler, Basiswissen Medien [Anm. 12], 64): Literatur wird in der Regel gerade nicht gelesen, um eine schwierige Situation vorzubereiten (selbst wenn sie ermöglicht, schwierige oder riskante Situationen aus der Distanz zu erleben), sondern zur (horribile dictu) Entspannung oder zur Stimulation ästhetischer Wahrnehmung, z.B. um die Form der Darstellung (etwa die Weise der narrativen Konstruktion fiktiver Objekte) selbst zu beobachten. Ein Abenteuerroman wird nicht gelesen, um dann an den abenteuerlichen Ort zu reisen, zumal diese Orte eben oft fiktiv sind, d.h. man kann dort gar nicht hinreisen, selbst wenn man wollte. Außerdem bleibt die Fiktion in der Regel – ein Punkt, auf den Kittler gerade insistiert – im Kopf (oder beginnt dort und mag dann auch Handeln anleiten). Zumindest in interaktiven Simulatoren, wie z.B. in den von Wellershoff genannten Flug- oder Raumfahrtsimulatoren, hingegen geht es oft um a) das Reagieren auf Situationen (was im Falle des von Winklers genannten Theaters gerade nicht der Fall ist, die Zuschauer sehen zu und reagieren beim ‚Mord‘ nicht bzw. bestenfalls mit Affekten), und b) z.B. um das Einüben von Körperbewegungen, von automatisierten Abläufen – ganz egal, was im Kopf vorgeht. Zur Frage der Erkenntnisleistung von Fiktionen vgl. folgende Beiträge in Alex Burri/Wolfgang Huemer (Hg.), Kunst denken, Paderborn: Mentis 2007: Maria E. Reicher, „Fiktion, Wahrheit und Erkenntnis“ (25–46) und Catherine Z. Elgin, „Die kognitiven Funktionen der Fiktion“ (77–90). 80 Bei Kittler heißt es etwa: „Fiktionen als analoges Medium verfügen über keine Negation“ („Fiktion und Simulation“ [Anm. 62], 61). Dieser Satz ist m. E. in mehrfacher Hinsicht schwer zu verstehen. Wieso sind Fiktionen, wenn sie von Kittler doch so sehr mit der Sprache verbunden werden, ein ‚analoges‘ Medium, schließlich sind Sprache und Schrift doch eher digitale Codes (insofern Sprache und Schrift auf einem diskreten und disjunkten Repertoire von Charakteren – eben dem Alphabet – basiert sind)? Wie können Fiktionen überhaupt als Medien verstanden werden? Wieso verfügen Fiktionen über keine Negation, was in deutlichem Widerspruch der Einschätzung bei Iser oder Weinrich steht? Oder ist damit gemeint, dass es keinen Sinn hat, auf Fiktionen die Wahrheitsfrage anzuwenden (bzw. man zwischen wahr/falsch innerhalb des fiktionalen Raums und wahr/falsch in Bezug auf die fiktionale Äußerung selbst unterscheiden muss)?

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dern indexikalischen) Zugriff auf reale Daten, um mit diesen (und entsprechenden Modellierungen) die Wirklichkeit beherrschbar, das „Unvorhersehbare vorhersehbar“81 zu machen. Welche Funktionen hat also der Rekurs auf Fiktion? Kittler schreibt seinen Text 1989, in einem Band zur Ars Electronica mit dem Titel Philosophien der neuen Technologie. Am Vorabend des anhebenden Wirbels um die Neuen Medien82 versucht Kittler seine Thesen aus Aufschreibesysteme 1800/1900 und unter Rückgriff auf den Begriff der Simulation,83 der zu dieser Zeit durch Baudrillard Konjunktur hatte, die Neuheit der Neuen Medien zu bestimmen (wie er zu Beginn des Textes ja auch ganz explizit sagt; s.o.). Die Neuen Medien sind die, die nicht mehr (oder jedenfalls: nicht mehr nur) Fiktionen, sondern Simulationen hervorbringen. Fiktion und Simulation dienen hier also als Differenzkriterien. Winkler verwendet Fiktionalität als Kriterium, um Medien überhaupt von außermedialen Vorkommnissen abzugrenzen (was freilich nur unter Voraussetzung der Sprache als Medium konsistent argumentiert werden kann). Kittler postuliert hingegen, dass Fiktionalität als Merkmal des Sprachlichen gerade dazu genutzt werden soll, die ‚hergebrachten Künste‘ (womit wesentlich die Literatur gemeint ist) von den neuen technischen Medien zu differenzieren (womit bei Kittler schon die analogen Medien des neunzehnten Jahrhunderts und nicht erst die digitalen ‚Neuen Medien‘ gemeint sind). Diese Denkfigur wiederholt sich auch bei weiteren Autorinnen, z.B. bei Elena Esposito, die unter Rückgriff auf ein systemtheoretisches Vokabular Fiktion, Virtualität und (eine realistisch gefasste) Simulation voneinander zu differenzieren sucht: Diese besondere Beziehung des Virtuellen zu der Unterscheidung Realität/Fiktion muss also berücksichtigt werden. Das ist die Basis z.B. der oft vernachlässigten Unterscheidung von Virtualität und Simulation. Man spricht von den möglichen Welten als simulierten Realitäten, und dadurch geht ihre Spezifität weitgehend verloren. Die Simulation erlaubt wie die Modellierung, fiktionale Objekte zu schaffen, die ‚so tun‘, als ob sie etwas anderes wären, doch dies innerhalb eines immer noch semiotischen Paradigmas. Das Modell ‚steht für‘ das reale Gebäude, die graphische Darstellung der Bewegungen der Wolken ‚steht für‘ die realen atmosphärischen Ereignisse. Die Simulation beabsichtigt, so treu wie möglich einige Eigenschaften dessen zu reproduzieren, was ein Referent bleibt. Die Virtualität im eigentlichen Sinne verfolgt eine viel

|| 81 Ebd., 71. 82 Vgl. Jens Schröter, „Medienästhetik, Simulation und ‚Neue Medien‘“, in: Zeitschrift für Medienwissenschaft 8 (2013), 88–100. ‚Neue Medien‘ wird hier mit großem ‚Neu‘ geschrieben, da es sich um einen stehenden Ausdruck handelt – jedenfalls der Mediendiskussion der 1990er Jahre. 83 Der Begriff der ‚Simulation‘ spielt bereits in Kittlers Aufschreibesysteme 1800/1900 (Anm. 70) eine gewisse Rolle, z.B. auf S. 289: „[E]rst experimentelle Zerlegungen der Wahrnehmung machen ihre analoge Synthese oder Simulation möglich“, oder auf S. 390, offenbar unter Bezugnahme auf Jean Baudrillard: „Die referenzlose Simulation löst die alte Verbindung von Wahnsinn und Krankheit auf, um eine ganz andere herzustellen: die Verbindung von Wahnsinn und Schreiben.“

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reichhaltigere Absicht; sie geht über die Eigenschaften der Simulation hinaus und kann nicht mehr auf die Unterscheidung von Zeichen und Referent bezogen werden.84

An späterer Stelle des Textes85 lässt sie keine Zweifel daran, dass sich die Fragestellung letztlich an den Neuen Medien entzündet hat, u.a. an dem, was 1995 noch als Virtual Reality mehr oder minder phantasmatisch in den Diskursen zu digitalen Medien herumgeisterte. Wieder soll durch eine Abgrenzung von der bisherigen Operationsweise von Fiktion, deren historische Entwicklung Esposito in ihrem Aufsatz skizziert, die Neuheit der Neuen Medien konturiert werden. Mir scheint, dass Esposito mit Virtualität fiktional gebrauchte und zudem interaktive Simulationen meint, und es ist ihr zuzustimmen, dass zumindest zu diskutieren wäre, was es für den Begriff der Fiktion (zumal wenn man ihn mit Kittler streng ‚halluzinatorisch‘ auffasste) bedeutet, mit fiktiven Szenarien interaktiv umzugehen.86 Entscheidend bleibt jedoch, dass immer wieder die Frage nach Fiktion und Fiktionalität bemüht wird, wenn es darum geht, Medien überhaupt oder Einschnitte in der Geschichte der Medien zu verstehen. Das kann seinen Grund nur darin haben, dass sich seit dem Zeitpunkt, an dem die Frage nach den Medien auftauchte, immer wieder auch die Frage stellt, ob und wie sie ‚Realität‘ wiedergeben, vermitteln, konstruieren, verfremden etc. Und dies ist auch naheliegend. Als Medien sind sie, zumindest im Wortsinne, etwas Vermittelndes, doch was wird vermittelt? Das oben angeführte Zitat von Geoffrey Batchen – „The main difference seems to be that, whereas photography still claims some sort of objectivity, digital imaging is an overtly fictional process“87 – taucht historisch genau zu dem Zeitpunkt auf, als die Einführung digitaler Neuer Medien (genauer: der digitalen Fotografie und generierter fotorealistischer Computerbilder) die Frage aufzuwerfen schien, ob man den Bildern noch trauen könne. Die Diskussion darum nahm teilweise absurde und hysterische Züge an.88 Können fotografisch aussehende Bilder noch ‚Realität‘ vermitteln – oder zeigen sie nur noch Fiktionen? Was wird dann aus dem Journalismus und aus den Massenmedien, aus denen wir, Niklas Luhmanns zufolge, doch alles über die Welt wissen? Espositos Text wurde zuerst in einem von Sybille Krämer herausgegebenen Band mit dem Titel Medien Computer Realität. Wirklichkeitsvorstellungen und Neue

|| 84 Elena Esposito, „Fiktion und Virtualität“, in: Sybille Krämer (Hg.), Medien Computer Realität. Wirklichkeitsvorstellungen und Neue Medien, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1998, 269–296, hier: 270. 85 Vgl. ebd., 286–289. 86 Eine Frage, die unter den Bedingungen der Popularität von Computerspielen viel von ihrer früheren ‚ontologischen‘ Brisanz verloren hat – aber nicht im negativen Sinne: Es ist heute selbstverständlich geworden, mit fiktiven Szenarien zu interagieren; man kann hierin insofern kaum noch einen radikalen Einschnitt sehen. 87 Geoffrey Batchen, „Ectoplasm. Photography in the Digital Age“ (Anm. 39), 15. 88 Vgl. Jens Schröter, „Das Ende der Welt“ (Anm. 40).

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Medien veröffentlicht. In dessen Vorwort wird der hier behauptete Zusammenhang mit aller wünschenswerten Klarheit formuliert: Digitalisierung, Virtualisierung und Interaktivität sind also diejenigen Phänomene, die wir zu untersuchen haben, wenn wir den Computer in der Perspektive betrachten, ein Medium zu sein. Der Medienbegriff, der eine solche Perspektive zu akzentuieren erlaubt, rückt ab von der Vorstellung, daß Medien der bloßen Übermittlung von Botschaften dienen. [...] Medien übertragen nicht einfach Botschaften, sondern entfalten eine Wirkkraft, welche die Modalitäten unseres Denkens, Wahrnehmens, Erfahrens, Erinnerns und Kommunizierens prägt. Damit aber erweitert sich die Frage nach der ‚Natur‘ von Medien zur Frage nach der Medialität unseres Weltverhältnisses. Denn wie wir denken, wahrnehmen und kommunizieren, hat immer auch Folgen für die Art und Weise, in der unsere Umwelt für uns zur Welt wird, in der sich die Vorstellung über das, was für uns wirklich ist und was ‚Wirklichkeit‘ heißt, ausbildet und verdichtet. Nun gibt es eine eingängige und weitverbreitete Auffassung, nach der die Techniken der Virtualisierung unser Konzept von Wirklichkeit verflüssigen und instabil machen. Überdies mehren sich Stimmen, die ausgehen von einer Komplizenschaft zwischen den realitätsauflösenden Wirkungen der Neuen Medien und den im Umkreis des Radikalen Konstruktivismus gebildeten Positionen, die Realität als bloße Konstruktion bzw. Interpretation verstehen. [...] Doch wo angenommen wird, daß die Differenz zwischen Wirklichkeit und Simulation, zwischen Realität und Fiktion verschwindet, da verlieren mit dem Wirklichkeits- und Realitätsbegriff zugleich auch die Begriffe ‚Simulation‘ und ‚Fiktion‘ ihren Sinn.89

Krämer wendet sich gegen den irrealistischen und allzu expansiven Begriff von Simulation, wie er von Baudrillard geprägt wurde; die Beiträge des Bandes streben differenziertere Betrachtungen an. Aber ganz unabhängig von der Frage, ob man sich dieser Kritik anschließen will oder nicht: Entscheidend ist, dass das Auftauchen ‚Neuer Medien‘ auch hier letztlich mit der Frage nach der Realität ihrer Vermittlung und folglich nach dem Status von Begriffen wie ‚Simulation‘ und eben auch ‚Fiktion‘ verbunden ist. Die Frage nach den Medien (oder nach ihrer Geschichte und ihren Wandlungen) wirft so gesehen unweigerlich die Frage nach der Fiktionalität auf.

5 Fazit Doch wie passen die Ergebnisse der Abschnitte 2 und 3 und die knappe diskurshistorische Rekonstruktion in Abschnitt 4 zusammen? In Abschnitt 2 und 3 schien doch deutlich zu werden, dass zumindest die Unterscheidung analog/digital, die bei so verschiedenen Autoren wie Batchen, Kittler, Esposito und Krämer im Hintergrund lauert, wenn es um die Verschiebungen hinsichtlich Realität, Fiktion und Simulation durch ‚Neue Medien‘ geht, gerade nichts mit der Möglichkeit von Fiktiona|| 89 Sybille Krämer, „Was haben die Medien, der Computer und die Realität miteinander zu tun? Zur Einleitung in diesen Band“, in: dies. (Hg.), Medien Computer Realität. Wirklichkeitsvorstellungen und Neue Medien, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1998, 9–26, hier: 14f.

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lität zu tun hat. Wie kann man diesen eigentümlichen Befund interpretieren? Auffällig ist, dass die Überlegungen, die die Frage nach den Medien oder dem Medienwandel angehen, stets theoretischer und bezüglich bestimmter (z.B. digitaler) Medien genereller Art sind, während die Beschreibungen in Teil 2 und 3 stärker konkrete Gebrauchsweisen von analogen und digitalen Fotografien/Bildern (und die Frage, was diese mit Fiktionalität zu tun haben oder nicht) in den Blick genommen haben. Vielleicht ist es einerseits so, dass die eher generellen Überlegungen, ohne den tatsächlichen Gebrauch neuer Technologien wirklich im Blick zu haben, allgemeine Verunsicherungen reflektieren, die mit dem Auftauchen Neuer Medien verbunden sind. Es ist in der Tat kein neuer Befund, dass neue Technologien und näherhin Neue Medien jedenfalls zunächst zu Verunsicherungen führen.90 Doch sind solche spekulativen Mutmaßungen meist stark übertrieben: So ist z.B. die von Esposito und zumindest indirekt auch von Krämer bemühte ‚Virtual Reality‘ inzwischen praktisch von der Bildfläche verschwunden und hat ‚alltagstauglicheren‘ und in diesem Sinne angepassteren Praktiken wie der ‚Augmented Reality‘ Platz gemacht.91 Medien wird zumeist, wenn sie noch neu und unbekannt sind, geradezu Revolutionäres zugetraut. Mit ihrer massenhaften Einführung werden viele ihrer radikalen Potentiale, wie Brian Winston schon vor langer Zeit argumentierte,92 gebremst. So hat auch die Einführung der digitalen Fotografie nicht dazu geführt, dass alle fotografisch erscheinenden Bilder jetzt als ‚bloße‘ Fiktionen, d.h. ohne Bezug auf real existierende Vorkommnisse, wahrgenommen werden. Es gibt z.B. immer noch (nun digitale) Familienfotografie, deren Funktion unbestreitbar dokumentarisch ist. So gesehen sind die Diskurse, die die grundlegenden ontologischen Fragen nach Realität, Fiktion und Simulation aufwerfen und an den Medienwandel knüpfen, eher Symptome dieses Wandels selbst als Reflexionen über die tatsächlichen Operationen Neuer Medien. Andererseits bedeutet die Tatsache, dass der Unterschied analog/digital nicht mit dem Unterschied dokumentarisch/fiktional gleichgesetzt werden kann, nicht, dass alle Praktiken mit analogen bzw. digitalen Medien gewissermaßen gleichverteilt dokumentarisch und fiktional waren und sind. Es kann durchaus sein, dass in unterschiedlichen historischen Epochen bestimmte Medien eher dokumentarische Aufgaben übernahmen als fiktionale, und evident ist, dass diese Frage von der diskur-

|| 90 Vgl. die Rekonstruktionen der euphorischen und apokalyptischen Erzählungen zu neuen Technologien bzw. Medien in Carolyn Marvin, When Old Technologies Were New. Thinking about Electric Communication in the Late Nineteenth Century, New York: Oxford UP 1990, und Albert Kümmel/ Leander Scholz/Eckhard Schumacher (Hg.), Einführung in die Geschichte der Medien, München: Fink 2004. 91 Vgl. Jens Schröter, „Echtzeit und Echtraum. Zur Medialität und Ästhetik von Augmented RealityApplikationen“, in: Augenblick. Marburger Hefte zur Medienwissenschaft 51 (2012), 104–120. 92 Vgl. Brian Winston, Media Technology and Society. A History: From the Telegraph to the Internet, New York: Routledge 1998, 11–13.

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siven Praxis abhängt: In den Naturwissenschaften werden analoge wie digitale Technologien eher benötigt, um Spuren, Daten etc. von Phänomenen ‚dokumentarisch‘ zu verzeichnen, während im Massenmedien- und im Kunstsystem (neben dokumentarischen) auch zahlreiche fiktionale Verwendungen vorkommen.93 Daher ist festzuhalten: Die (manchmal hypertrophen) Rhetoriken einer ‚Panfiktionalisierung‘94 geben in der Regel Aufschluss über Umbruchsituationen in der Medienlandschaft. Die tatsächlichen Operationen verschiedener Medien für dokumentarische oder fiktionale (oder gemischte) Praktiken lassen sich aber nicht generell aus den Eigenschaften von Medien deduzieren, sondern grundsätzlich nur historisch und/oder in teilnehmender Beobachtung nachvollziehen. So wären eine ‚Mediengeschichte der Fiktionalität‘ oder Studien zu ‚Medienethnographien fiktionaler Praktiken‘ denkbar, die kleinteiliger und näher am Material operieren. Dabei könnte Winklers große These – „Medien etablieren innerhalb der Gesellschaft einen Raum, der die Besonderheit hat, von tatsächlichen Konsequenzen weitgehend entkoppelt zu sein“95 – in die Analyse vieler kleiner Räume und Praktiken ausdifferenziert werden.

|| 93 Und es gibt Bereiche und Objekte, hinsichtlich derer es ohnehin fraglich ist, ob eine Unterscheidung wie ‚fiktional‘ und ‚nicht-fiktional‘ überhaupt angewendet werden kann. Vgl. Marie-Laure Ryan, die insbesondere das Beispiel der abstrakten Malerei heranzieht: „Abstrakte Werke, in welchem Medium auch immer, gehören zum unbestimmten Bereich, weil sowohl Fiktionalität als auch NichtFiktionalität eine mimetische Dimension voraussetzen.“ („Fiktion, Kognition und nichtverbale Medien“ [Anm. 6], 83f.) Kendall L. Walton bezeichnet allerdings auch abstrakte Kunst als fiktional (vgl. Mimesis as Make-Believe [Anm. 9], 54–57). 94 Eine konzise Darstellung der Debatte zum Fiktionsbegriff vor dem Hintergrund dieser in den 1980er und 1990er Jahren starken baudrillardschen Tendenz zur ‚Panfiktionalisierung‘ liefert K. Ludwig Pfeiffer, „Zum systematischen Stand der Fiktionstheorie“, in: ders., Von der Materialität der Kommunikation zur Medienanthropologie. Aufsätze zur Methodologie der Literatur- und Kulturwissenschaften 1977–2009, hg. v. Ingo Berensmeyer/Nicola Glaubitz, Heidelberg: Winter 2009, 87–108. Vgl. auch Aleida Assmann, „Fiktion als Differenz“, in: Poetica 21 (1989), 239–260. 95 Hartmut Winkler, „Mediendefinition“ (Anm. 1), 13.

Stephan Packard

Bilder erfinden Fiktion als Reduktion und Redifferenzierung in graphischen Erzählungen Die folgenden Überlegungen widmen sich der Frage nach der Fiktion in erzählenden Bildern. Hier begegnen sich ein Zweifel und ein Vorurteil: Zum einen bleibt narratologisch das Konzept einer medienunabhängigen oder aber medienübergreifenden, jedenfalls transmedialen Narrativität in vieler Hinsicht fraglich. Zum anderen liegt im einfachen Verständnis etwa von Comics mit der unter Rezipienten meist anerkannten erzählenden Qualität häufig die Annahme nahe, dass das Erzählte fiktiv sei. Diese beiden Fragen sind aufeinander zu beziehen, um die Möglichkeit und einige Funktionen von Fiktion im Bild1 als eine historisch spezifische Interaktion von intermedialen Transfers und transmedialen Verallgemeinerungen zu fassen. Ausgehend von einem möglichst typischen Einzelbild aus einem vermeintlich unproblematisch erzählenden Comic (I) konzipiert der hier erläuterte Vorschlag diese Gleichzeitigkeit als die zwischen der Reduktion eines Medienangebots auf einen semiotisch verfassten Kern, der weder fiktional noch faktual sein kann, und seiner Erweiterung um redifferenzierende Verfahren, die Fiktionalität konstruieren; und formuliert dies als eine allgemeine Charakteristik moderner Fiktion (II). Fiktion ist demnach als kulturelles Programm zu begreifen, das aus Reduktion und Redifferenzierung im Sinne von Remigius Bunias Konzept der ‚Faltung‘ besteht, das hier mit pragmatizistischer Semiotik spezifiziert wird.2 Auf dieser Basis lassen sich narrative und fiktionale Drift in der kulturellen Beschreibung von Comic-Konventionen im Vergleich von Künsten und Medien untersuchen (III). Schließlich sollen paradigmatische Verfahren die Möglichkeit einer gradierten Fiktionalität von Elementen und Referenzen im Comic demonstrieren (IV).

1 Erzählung und Fiktion in einem Bild Batman versetzt dem Joker einen Kinnhaken (s. Abb. 1): Die in späteren Batman-Erzählungen jedweder Medialität tausendfach wiederholte Szene wird hier, im ersten Heft der Comicserie Batman vom April 1940, zum ersten Mal gezeigt. Vergeblich beteuern

|| 1 Es wird unterschieden zwischen der Fiktionalität von Darstellungen, der Fiktivität von dargestellten Inhalten, und einem Überbegriff von Fiktion als dem Phänomen, das vorliegt, wenn Fiktionales in dieser Weise als Referenz auf Fiktives gelesen wird. 2 Vgl. Remigius Bunia, Faltungen. Fiktion, Erzählen, Medien, Berlin: Schmidt 2007.

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sowohl der Protagonist als auch die kommentierende Erzählerstimme im Textkasten,3 dass es das letzte Mal sei: „last hand“ – „final blow“; aber jedenfalls kommt diese Episode damit zu ihrer letzten Seite und zu ihrem Abschluss. Hier fällt es offenbar leicht zu entscheiden, dass das Bild an einer Erzählung beteiligt und das Erzählte erfunden ist: Von zwei Charakteren und ihrem Kampf erfahren wir, und jene gibt es in Wirklichkeit ebenso wenig, wie dieser stattgefunden hat.

Abb. 1: Batman Last Hand4

Dieses Comicbild wird narrativ und fiktional verwendet. Die Narrativität wird nicht erst durch die im Comic nicht verbindliche, also hier ausgestellte Erzählerstimme im Textkasten plausibel, sondern ist schon in der doppelten Zeitlichkeit zwischen discours und histoire deutlich, die Chatman als Minimaldefinition für transmediale Erzählbegriffe vorgeschlagen hat:5 Das Panel kann auf das Kontinuum bezogen werden,

|| 3 Die Frage nach dem Erzähler im Comic stellt vor eigene Herausforderungen, die hier nicht behandelt werden können. Vgl. dazu u.a. Jan-Noël Thon: „Who’s Telling the Tale? Authors and Narrators in Graphic Narrative“, in: ders./Daniel Stein (Hg.), From Comic Strips to Graphic Novels. Contributions to the Theory and History of Graphic Narrative, Berlin: De Gruyter 2013, 67–101; Martin Schüwer, Wie Comics erzählen. Grundriss einer intermedialen Erzähltheorie der grafischen Literatur, Trier: WVT 2008; Stephan Packard, „‘Yes. I’m Peter Parker.’ Überlegungen zur historischen Transmedialität von unzuverlässigem Erzählen und unzuverlässigem Erzähler in Amazing Spider-Man 698“, in: Felix Giesa (Hg.), Roundtable zum Unzuverlässigen Erzählen im Comic, www.comicgesellschaft.de/?p=3905, publ. 29.03.2013 [Zugriff am 30.07.2016]. 4 Finger, Bill/Bob Kane et al., Batman#1 [1940], in: The Joker. A Celebration of 75 Years, New York: DC Comics 2014, 21. 5 Vgl. Seymour Chatman, Coming to Terms. The Rhetoric of Narrative in Fiction and Film, New York: Cornell UP 1990.

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aus dem die Erzählzeit stammt – dies ist die letzte Heftseite, deren erstes Panel, und es werden viele weitere Episoden folgen; und in Konkurrenz dazu auf die erzählte Zeit – Batman hat den Joker gejagt, er besiegt ihn hier, er wird ihn der Polizei übergeben; in dem einen Panel holt er aus und trifft das Kinn und Jokers Kopf kippt zurück. Soweit zunächst6 die Erzählung. Was aber hat es mit der Fiktion auf sich? Man kann dies aus mindestens zwei verschiedenen Richtungen fragen, indem man von Comics als einem jederzeit möglichen Code oder als einer historischen Gattung spricht, die die abstrakte Kunstform in die Zeit setzt.7 Geht man von systematischen medialen Bestimmungen aus, könnte die Frage lauten: Wie kann überhaupt mit Bildern erzählt werden, und wie können Bilder überhaupt fiktional sein? Dass Comics wie selbstverständlich mit Bildern wie mit Aussageweisen verfahren, die Erzählungen vermitteln und auf ihren Weltbezug hin geprüft werden können, scheint dann erklärungsbedürftig und im Gegensatz zu stehen zu einem noch grundlegenderen Zweifel an der Propositionalität von Bildern. Eine historische Perspektive wird die Kunstform Comic dagegen von vornherein mit ihren kulturellen kontemporären, also vor allem: modernen Konventionen verbinden. Dann ist zu fragen: Welche Erwartungen und Routinen lesen diese Bilder – einzeln oder in Sequenz – als Erzählung, und zwar als fiktionale? Entsprechend fallen gängige Explikationen und Definitionsversuche der Kunstform in zwei Gruppen auseinander, deren eine Comics streng formal etwa als Kombination mehrerer Bilder in Sequenz bestimmt,8 während die andere von vornherein von Bilderzählungen spricht9 und teilweise mehr oder weniger explizit deren Festlegung auf Fiktionalität10 oder sogar auf bestimmte fiktionale Genres wie das Märchen11 folgen lässt. Mit der zunehmenden Ausdifferenzierung der Form und der zunehmenden akademischen Kenntnisnahme ihrer Vielfalt werden allzu enge Definitionen seltener.

|| 6 Die Frage, ob, wie und unter welchen Umständen Bilder überhaupt erzählen, wird hier nur als aktuelles Problem zitiert, dessen Unsicherheit Fiktion in Bildern mitbestimmt. Ihre mögliche Beantwortung kann nur gestreift werden. Als Setzung soll zunächst gelten, dass wenigstens bei einigen Bildern und jedenfalls den hier besprochenen von Erzählung die Rede sein muss. Zu den Problemen und Einwänden ausführlicher: Stephan Packard, „Erzählen Comics?“, in: Felix Giesa/Otto Brunken (Hg.), Erzählen im Comic, Essen: Bachmann 2013, 17–31. 7 Von dieser Gattung sind wiederum verschiedene gattungsspezifische oder -übergreifende Genres zu unterscheiden. Vgl. z.B. allgemein Harald Fricke, Norm und Abweichung: Eine Philosophie, München: Beck 1981, 133; differenziert zur Anwendung an Comics: Dietrich Grünewald, Vom Umgang mit Comics, Berlin: Volk und Wissen 1991, 14. 8 So prominent u.a. Scott McCloud, Understanding Comics, New York: Tundra 1993. 9 Vgl. u.a. Dietrich Grünewald, „Das Prinzip Bildgeschichte. Konstitutiva und Variablen einer Kunstform“, in: ders. (Hg.), Struktur und Geschichte der Comics. Beiträge zur Comicforschung, Bochum: Bachmann 2010, 11–32. 10 Explizit etwa noch August Stahl, „Comics und Mythenkritik“, in: Fabula 19 (1978), 241–251. 11 So etwa noch Heinz Ludwig, „Zur Handlungsstruktur von Comics und Märchen“, in: Fabula 19 (1978), 262–285.

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Deren bloße Korrektur reicht jedoch nicht aus: Es genügt nicht, festzuhalten, dass es Gegenbeispiele gibt, in denen Comics ganz sicher keine Kindermärchen, bisweilen auch nicht fiktional und vielleicht nicht einmal Erzählungen sind. Vielmehr muss im selben Atemzug überlegt werden, weshalb dann dennoch Narrativität, Fiktionalität und bevorzugtes Genre der Gattung des Comics zugeschrieben werden, so dass unerwartete Genres der Erwähnung wert, Sachcomics eine Besonderheit und nichtnarrative Comics umstritten scheinen. Die Frage gerade nach der Fiktionalität muss also dieser Konkurrenz gelten: Weshalb scheint es gleichzeitig plausibel, die Form des Comics ohne Verweis auf eine Fiktivität seiner Gegenstände zu bestimmen, und ihm als Gattung eine Tendenz zur Fiktionalität zuzuschreiben? Das Bild, das von einem fiktiven Kinnhaken erzählt, erscheint als Form eines bloßen ikonischen Zeichens reduziert auf die Darstellung der Möglichkeit, einen Kinnschlag überhaupt zu meinen – und wird im Gegenzug nach Gattungskonventionen redifferenziert als fiktionale Erzählung von einzelnen, konkret gedachten, aber fiktiven Personen, die den fiktiven Kinnschlag durchführen. Fiktion ist dann nicht nur eine bestimmte Devianz von der Norm der faktualen Behauptung, sondern die dadurch besonders motivierte Separation eines behauptungslosen Teils der Proposition von seiner behauptenden Kraft. Ebenso ist sie dann keine statische Eigenschaft von Medien oder auch nur von Rezeptionshaltungen, sondern ein konventionell wiederholbarer, in der Zeit ablaufender Prozess, in dessen Verlauf sich der Umgang mit seinem Gegenstand entwickelt und teils als unter-, teils als überbestimmt behandelt wird. Die Redifferenzierung eines reduziert unentschiedenen Angebots als fiktional macht also bestimmte prinzipiell unentscheidbare Fragen entscheidbar. Remigius Bunia hat solche Situationen mehrfacher möglicher Anschlüsse in seinem Konzept der ‚Faltung‘ expliziert, die „Unterscheidungen“ meint, „die das Unterschiedene gleichzeitig als Identisches kennzeichnen“ und daher keine deskriptive, sondern nur eine thetische Verwendung der Differenz erlauben, auf die der Begriff der Fiktion verweist.12 Die hier beabsichtigte Entfaltung interessiert sich für die pragmatizistische, also nach Peirce handlungsorientiert semiotische Beschreibung der darin enthaltenen gegenläufigen Bewegung von Abstraktion und Ergänzung,13 und die dadurch ermöglichte Fokussierung spezifischer Verfahren und Effekte in fiktionalen Bilderzählungen.

|| 12 Remigius Bunia, Faltungen (Anm. 2), hier: 98. 13 Vgl. Charles Sanders Peirce, „A New List of Categories“ [1867], in: Writings. Chronological Edition, Bd. 2, hg. v. Edward C. Moore, Bloomington: Indiana UP 1982, 49–59, hier: bes. 50.

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2 Medienübergreifend: Fiktionale Reduktion und Redifferenzierung „Now for the poet, he nothing affirmeth, and therefore never lieth.“14 Sidneys häufig zitierte – und dabei auf diesen Satz verkürzte – Apologie der Dichter gibt ein Muster der semiotischen Reduktion vor, auf das seit vier Jahrhunderten explizit und implizit immer wieder rekurriert wird. Dabei wird nach einfacher Lesart die behauptende Kraft von dem Rest einer propositionalen Form getrennt: Obwohl der Dichter Aussagen formuliert, bekräftigt er nie deren Wahrheit; und da er diesen zusätzlichen Schritt nicht tut und nicht auf Wahrheit abzielt, kann er sie auch nicht verfehlen und damit nicht lügen. Dabei spricht Sidney durchwegs von Handlungen des Dichters, nicht allein von Ansprüchen seiner Sätze auf Wahrheit, wie es etwa modern näherläge; sein Interesse enthält eine ernste ethische Komponente, die nicht erst erklären, sondern schon rechtfertigen will. Die Lüge zerfällt so in mindestens drei Teile: Unrichtigkeit ist eine Eigenschaft von Taten und setzt Behauptung voraus. Behauptung wiederum erweitert etwas (und setzt es vermutlich seinerseits voraus), das der Dichter sehr wohl tut, während er sich der Behauptung enthält. Das dabei produzierte und von Sidney nicht ausdrücklich benannte Residuum der Proposition wird als ein semiotischer Kern oder Stumpf präsentiert, ohne den Behauptung und Lüge nicht denkbar wären, der aber sehr wohl ohne Behauptung und Lüge gedacht, und zwar gedichtet werde. Falls die These transmedial Bestand haben soll, wäre für jenes Bild entsprechend etwa so anzusetzen: Wer für das Bild Verantwortung trägt, zeigt darauf zwar Batman, Joker und ihren Kampf, will sie aber nicht nach einem realen Vorbild abbilden, und kann daher nicht täuschen. Es entsteht für die moderne Rezeption Sidneys die Vorstellung von einem Bild ‚an sich‘, ohne das Abbild und bildlicher Weltbezug nicht denkbar wären, das aber sehr wohl ohne Anspruch auf die Abbildung der realen Welt gedacht und gezeichnet werden kann. Diese Konzeption, wonach in der Fiktion weniger getan wird, als im degré zéro der faktualen Behauptung, kehrt für die schriftsprachliche Erzählung sowie für die Bühne in unterschiedlichen Versionen wieder. Vielleicht entspricht ihre aktuell gängigste Variante jener Absage an Verbindlichkeit, mit der Gottfried Gabriel „diejenige nicht-behauptende Rede“ fasst, „die keinen Anspruch auf Referenzialisierbarkeit oder auf Erfülltheit erhebt“.15 Aber auch Theorien der Fiktion, nach denen fiktionale Äußerungen anderes oder mehr tun als faktuale Behauptungen, üben sich in ähnlichen Reduktionen, so dass das Andere an die Stelle einer faktualen Fortsetzung des semiotischen Kerns tritt und das Mehr erst verständlich wird, wenn schon das Wenige des

|| 14 Philip Sidney, The Defence of Poesie, London: Ponsonby 1595, 29. 15 Gottfried Gabriel, Fiktion und Wahrheit. Eine semantische Theorie der Literatur, Stuttgart: Frommann-Holzboog 1975, 28.

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Faktualen in Kern und Erweiterung auseinanderfällt. So kann Kendall L. Waltons und Curries Vorstellung vom Gegenstand (bzw. dessen Urheber), der zum Umgang mit ihm im make-believe Anweisungen gibt, nicht ohne die Differenz von Gegenstand und Anweisung und gerade im Umgang mit Bildern wie Fotografien nur durch die Differenz eines angewiesenen faktualen von einem angewiesenen fiktionalen Umgang gedacht werden – was bei Currie folgerichtig wiederum zur Isolierung des Kerns als eines propositionalen Stumpfes führt.16 Die hier zugrundegelegte These ist nun, dass die so gezogene Grenze zwischen dem semiotischen Kern und seiner faktualen oder fiktionalen Fortsetzung nur und gerade im Zuge der verschiedenen kulturellen Programme der Fiktion ihren Platz hat. Sie erscheint dort zwar oft als vermeintlich immer schon gegebene Differenz etwa zwischen Proposition und illokutionärer Kraft; diese Identifikation mit solchen abseits der Fiktion gegebenen Unterscheidungen wird jedoch erst im Programm der Fiktion konstruiert. Die Versuche, etwa die Unterscheidung der Sprechakttheorie hier wiederaufzunehmen und Fiktionalität als eine bestimmte illokutionäre Kraft zu fassen, die an die Stelle von befehlenden, fragenden, bittenden, versprechenden und anderen handlungsbezogenen Rollenperformanzen treten und mit einem separaten propositionalen Kern kombiniert werden kann, demonstrieren dies anschaulich: Austin und Searle lehnen diese Aufnahme der Fiktion in die Reihe der übrigen Sprechakte von vornherein ab. Genettes Versuch, dennoch fiktionale in Anlehnung an deklarative Sprechakte zu definieren, muss die Grenze zwischen Proposition und Illokution in mindestens zwei Hinsichten verschieben, indem gerade die zuvor der Proposition bereits in der Lokution zugeschriebene Referenz selbstreflexiv im Zusammenhang der Illokution problematisiert und im Kontrast dazu Faktualität verschiedenen anderen Illokutionen als gemeinsames Charakteristikum zugeschrieben wird, deren Gemeinsamkeit zuvor nicht sichtbar war.17 Es mag also durchaus in vielen Formen von Aussagen so etwas wie einen basalen, propositionalen Kern geben, auf den weitere Funktionen bauen; die spezifische Abstraktion eines solchen Kerns in der Fiktion lässt sich davon jedoch unterscheiden und muss davon unterschieden werden, wenn das Besondere der Fiktion verständlich bleiben soll. Als gradueller Prozess prozessiert die Fiktion gerade ihre eigene bestimmte Reduktion von Medienangeboten auf eine semiotische Nullstufe, die erst für den Umgang mit Medien als fiktionalen Angeboten benötigt und in dieser Redifferenzierung anschlussfähig wird.18

|| 16 Vgl. Kendall L. Walton, Mimesis as Make-Believe. On the Foundations of the Representational Art, Cambridge: Harvard UP 1990; Gregory Currie, The Nature of Fiction, Cambridge: Cambridge UP 1990; Frank Zipfel, Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität. Analysen zur Fiktion in der Literatur und zum Fiktionsbegriff in der Literaturwissenschaft, Berlin: Schmidt 2001, 214–224. 17 Vgl. Gérard Genette, „Les actes de fiction“, in: Fiction et diction, Paris: Seuil 1991, 41–63. 18 Vgl. Stephan Packard: „Gibt es eine Nullstufe der Fiktion? Praktiken der semiotischen Konstruktion des Fiktionalen und Faktualen“, in: Remigius Bunia (Hg.), Fiktion (AT), Drucklegung in Vorbereitung.

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Wird in diesem Sinne nicht Fiktionalität als gegebene Eigenschaft von Zeichen, sondern Fiktion als Zeichenhandeln beschrieben, so wird damit zum einen der Anschluss an Sidneys ursprüngliche Absicht wiederhergestellt, die mit der Differenzierung von Lüge und Dichtung erst ihren Ausgang nimmt und den pragmatischen Einsatz beider Möglichkeiten in unterschiedlichen Berufen und Lebenssituationen dann breit diskutiert. Methodisch und begrifflich schließe ich an Charles Sanders Peirces Vorstellung von Abstraktion und insbesondere ‚prescision‘ an, die die beschriebene Form der willkürlichen Reduktion eines Gedankeninhalts auf vermeintlich vorgängige Elemente meint: Sie ist not merely [a] mental separation, but […] that which arises from attention to one element and neglect of the other. […] Prescision is not a reciprocal process. […] Elementary conceptions only arise upon the occasion of experience; that is, they are produced for the first time according to a general law, the condition of which is the existence of certain impressions.19

Entscheidend ist die unbedingte Priorität, die dabei der Erfahrung bereits realisierter, kontinuierlich fortgesetzter Rezeption eines Medienangebots eingeräumt wird. Erst im Vorgang der Rezeption werden durch regelgeleitete Reduktion elementare Bestandteile abstrahiert, die weder zeitlich noch logisch zuvor existierten, sondern ihre Berechtigung allein im Kontext dieses Vorgangs und seiner wiederholt einsetzbaren Regeln gewinnen. (Universal ist dagegen nur die formale Möglichkeit der Abstraktion kontinuierlicher Semiosen auf deren ‚degenerations‘, Peirces Erst- und Zweitheiten, zu denken: etwa auf ikonische Qualitäten und indexikalische Konkretisierungen, wie im Folgenden zu zeigen sein wird.) Ist die Fiktionalität eines Bilds oder schriftlichen Texts zu beschreiben, genügt es daher nicht, einen semiotischen Kern gleichsam objektiviert zu erläutern und dann einen fiktionalen von einem faktualen oder anderen Umgang mit diesem Kern zu unterscheiden. Vielmehr ist die Weise, in der der Kern gegen andere Funktionen der Rezeption abgegrenzt wird, selbst ein entscheidender Aspekt eines fiktionalen Programms. An diesem Vorgang der Reduktion auf den konstruierten Kern setzt mein Beschreibungsinteresse zuerst an. Narration und Fiktion lassen sich als Bündel hochgradig verschiedener und scharf unterscheidbarer kultureller Reduktions- und Redifferenzierungsprogramme beschreiben, die Medienangebote in charakteristischer Weise in zugeschriebene narrative oder fiktionale Erweiterungen und semiotisch reduzierte Kerneigenschaften dividieren. – Diese Perspektive orientiert sich an Bunias Konzeption der Fiktion als einer „Faltung, insofern es aufgrund von Eigenschaften eines Texts keinerlei zwingende Gründe gibt, ihn als fiktionalen oder als nicht-fiktionalen Text einzuordnen“.20 Sie dreht jedoch die Richtung der Beschreibung um. Denn die Gründe für eine fiktionale Rezeption sind nach der hier vorausgesetzten Annahme zwar nicht zwingend; sie sind

|| 19 Charles Sanders Peirce, „New List“ (Anm. 13), 50f. 20 Remigius Bunia, Faltungen (Anm. 2), 99.

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jedoch in jedem einzelnen konkreten Fall bereits tatsächlich vorhanden, bevor logisch und zeitlich jenseits des immer schon (wie immer vorläufig) eingeordneten Medienangebots ein unentscheidbarer Kern sichtbar wird – ohne dass dies den Beschreibungen seiner Unentscheidbarkeit widerspräche. Diese beruhen im Gegenteil gerade auf der zukunftsgerichteten Anschlussfähigkeit dieser stets nachträglichen Abstraktionen. Einem Medienangebot ist also zwar „nicht anzusehen, ob sich an [es] am besten als Fiktion anschließen lässt oder ob [es] besser als Lüge, als falscher Bericht oder aber als Ausdruck einer Wahnvorstellung zu gelten hat“.21 Dem Bild von Batman und Joker wird seine Fiktionalität aber sehr wohl erst einmal – von seiner Gestalt nicht erzwungen und aus externen Gründen – angesehen. Dann erst kann an den schon erkannten Figuren in der schon als fiktiv eingeordneten erzählten Situation die semiotische Diskontinuität eines Bilds ‚an sich‘ imaginiert werden, an dem sich fragen ließe, ob Batmans und Jokers Existenz wohl böswillig vorgetäuscht, im Zuge einer Wahnvorstellung hervorgebracht oder eben als fiktionale Erzählung angeboten worden sein könnte. Die so begründete Entscheidung für die Fiktion ist immer schon22 eine zweite und wiederholte, eine Re-differenzierung der vorausgegangenen Reduktion; die Schleife von Einordung, Reduktion und Redifferenzierung ist für den Anschluss weiterer Überlegungen zentral, sie macht den Prozess des kulturellen Programms der Fiktion erst aus. Für den Vergleich der graphischen mit einer (für die Moderne) traditionellen, schriftsprachlichen Fiktion ist daher von den begleitenden Tendenzen zur narrativen und sogar zur genrespezifischen Rezeption nicht abzusehen. Soll die Betrachtung der Fiktion im Comicbild zu einer transmedialen Fiktionstheorie beitragen, so kann dies nur im Kontext der ebenso als Abstraktion aus verschiedenen Medien entnommenen Vorstellungen vom Erzählen und gegebenenfalls vom jeweiligen Genre gelingen. Ob Bilder überhaupt propositional verwendet, ob sie demnach erzählend oder behauptend und dann auf Grundlage der Behauptung und Erzählung faktual oder fiktional eingesetzt werden können, ist nämlich in dieser Reihenfolge kaum sinnvoll zu beantworten. Im konkreten Reichtum23 der vor ihrer zergliedernden Abstraktion bereits

|| 21 Ebd., 100; vgl. dazu auch die einschlägige Stelle unter den nicht ausformulierten Notizen von Charles Sanders Peirce, „Questions on Reality“, in: Writings, Bd. 2 (Anm. 13), 162f., hier: 162: „[w]hether we have the power of accurately distinguishing by simple contemplation [...] between what is seen and what is imagined, what is imagined and what is conceived, what is conceived and what is believed, and, in general, between what is known in one mode and what in another? – No.“ 22 Sicher gibt es auch Fälle, in denen die Entscheidung über Fiktionalität, Faktualität oder andere Modi des Aussagens tatsächlich zunächst offenbleibt (etwa in Gerichtsverfahren, in der Disambiguation historischer Quellen usw.). Ihre Untersuchung dürfte für die Funktionsweise von Fiktion als kulturellem Programm besonders aufschlussreich sein. Dies aber gerade umso mehr, als jene im Vollzug tatsächlich schwierigen und strittigen Fälle von eindeutigen Fällen wie dem vorliegenden klar zu unterscheiden sind. 23 Vgl. Helmut Pape, Der dramatische Reichtum der konkreten Welt. Der Ursprung des Pragmatismus im Denken von Charles S. Peirce und William James, Weilerswist: Velbrück 2002.

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vollzogenen Semiose wird auf die Propositionalität des Bilds vielmehr zurückgeschlossen, weil längst feststeht, dass mit dem Bild erzählt und dass fiktional erzählt wurde. Die Imagination des isolierten Bilds, das dann für sich eine Proposition enthält, wird aus der reicheren Lektüre erst begründet und haltbar; die immer mögliche Aktualisierung dieser Isolation ist für die Fiktionalität des Prozesses dennoch unabdingbar. Gerade dadurch wird die graphische Fiktion mit einer traditionellen, etwa schriftsprachlichen Fiktion vergleichbar und in ihren Ähnlichkeiten und Unterschieden im Detail analysierbar. Dem widmet sich der Rest dieses Beitrags. Man nehme etwa den Beginn des zweiten Kapitels von Kurt Vonneguts Slaughterhouse-Five als Gegenstück des Batman-Panels: Listen: Billy Pilgrim has come unstuck in time. Billy has gone to sleep a senile widower and awakened on his wedding day. He has walked through a door in 1955 and come out another one in 1941.24

Wie das Bild wird die Sprache erzählend und fiktional eingesetzt. Ein Charakter kommt vor; weder er noch die Situation, in der er sich befindet, existieren wirklich. Die doppelte Zeitdimension der Erzählung ist hier besonders ausgestellt: Es wird von Billys Witwerschaft und seiner Hochzeit, von 1955 und von 1941 gegen die Reihenfolge der histoire und in einem einzigen Satz erzählt. Den Satz als fiktional zu begreifen, heißt jene semiotische Reduktion durchzuführen, die erkennbar macht, dass an seiner bloßen Gestalt die Fiktionalität oder Faktualität an sich nicht entscheidbar gewesen wäre, und die Redifferenzierung seines Rezeptionsangebots als Fiktion dann neu zu begründen. Soweit die Erzählung und die Fiktion, wie sie in jenem isolierten Comicbild und in diesen wenigen Romansätzen gleichermaßen aufscheinen. Was ist verschieden?

3 Medienvergleichend: Narrative und fiktionale Drift Die Bildfolgen, aus denen Comics bestehen, werden gerne als Erzählungen, gerne als Fiktionen, gerne als Exemplare bestimmter Genres gelesen. Gleichzeitig sind jederzeit Comics möglich, die – sehr häufig – diese Genreerwartungen unterlaufen, die – manchmal – als Sachtexte fungieren, und die – womöglich – nicht einmal erzählen. Dadurch wird es auch möglich, an einer durchaus genretypischen, fiktionalen Comicerzählung wie der von Batman und Joker ihre reduzierte, isolierte Bilderfolge an sich zu betrachten, deren bloße Form jene narrative, fiktionale und genregemäße Rezeption nicht erzwingen könnte, die vielmehr erst als freie Redifferenzierung folgen muss. In der

|| 24 Kurt Vonnegut, Slaughterhouse-Five, New York: Delacorte 1969, Kap. II.

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Spannung zwischen diesen drei Beobachtungen ergibt sich die Wahrnehmung einer Tendenz, anstelle einer etwaigen objektiven semiotischen Notwendigkeit, Comics als Fiktionen zu nehmen. Insofern die Tendenz mit ihrer gegenläufigen Spannung in der Zeit abläuft, werde ich sie als ‚Drift‘ bezeichnen: In der Drift gleichen sich Bildbetrachtungen bestimmten Faltungen durch Erzähllektüren, Fiktionalisierungen und genregeleiteten Erwartungen an oder entfernen sich mit der Markierung der Ausnahme oder Besonderheit von ihnen. Quer dazu driften die rezipierten Bilder zwischen einer jeweils überbestimmten, fiktionalen oder faktualen, narrativen oder nichtnarrativen Verwendung und ihrer isolierenden semiotischen Reduktion. Ein medialer Vergleich gewinnt daraus seine besondere Legitimation: In der Reduktion wird häufig mit Vergleichsfolien gearbeitet, die die graphischen Erzählungen in Zitat, Anspielung oder Systemverweis bereits mitliefern: ‚Das Panel an sich könnte ja wie dieses oder jenes Gemälde auch gar nicht als Erzählung gelesen werden‘ – ist nicht erst ein explizites oder implizites Argument der medienwissenschaftlichen Analyse, sondern der entsprechend aspektierten Comiclektüre. Das gilt sowohl für den Vergleich des fiktional erzählenden Comicbilds – einzeln und in Sequenz – mit anderen Bildern wie mit anderen fiktionalen Erzählungen. Auf dieser Ebene wird dann die fragliche Propositionalität von Bildern anschlussfähig. Wenn man – wozu nichts zwingt – van Goghs Stillleben mit Zwiebeln und Zeichentisch, Munchs Schrei, oder Maffeis Judith nicht als Behauptung lesen möchte, so dass man nicht entscheiden muss, ob das jeweilige Bild faktual oder fiktional sei, so wie die ‚bloße‘ Darstellung Batmans und des Jokers als unentschieden vorgestellt werden kann: Wie kann man beide dazu von einem Comicpanel in der entschiedenen Lektüre unterscheiden? Der Begriff der Darstellung selbst bietet sich an. Man kann dann sagen: Es wird nur dargestellt, wie einige Gegenstände auf einer Tischfläche grundsätzlich aussehen können, aber es geht nicht um die Behauptung, dass sie jemals so nebeneinanderlagen. Es wird nicht dargestellt, wie ein Mann auf einer Brücke aussieht, aber wie eine bestimmte emotionale oder affektive Qualität beschaffen ist, unabhängig davon, wo und wann sie einmal eingetreten sein soll. Es wird das Aussehen einer Frau mit einem Messer und dem Kopf eines Manns in einer Schale dargestellt – kaum denkbar ohne die narrative Erklärung, wie es dazu kam, aber eben offen gegen diese Erklärung, die noch nicht entschieden ist, weshalb Panofsky in seiner berühmten Deutung von Maffeis Bild die Redifferenzierung als Judith gegen die als Salome abwägen kann.25 Panofsky diskutiert und unterscheidet Interpretationen des Bilds nicht zuletzt anhand der Frage, welche biblische Figur denn dargestellt sei. Dies gelingt, weil das Bild an sich es gerade nicht entscheidet. Er definiert anhand dieses Falls ‚vorikonographische‘ Beschreibung, ‚Ikonographie‘ und ‚Ikonologie‘ als voneinander getrennt vorgestellte, aufeinander folgende Schritte der zunehmenden Festlegung des Gesehenen. Dazu muss es zunächst auf einen nicht festgelegten Kern reduziert werden.

|| 25 Vgl. Erwin Panofsky, Sinn und Deutung in der bildenden Kunst, Köln: DuMont 1975 [1955], 36–40.

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Diese Reduktion kann mit Peirce rhematisch-ikonisches Qualizeichen heißen: Es zeigt ikonisch, nach Gesetzen der Ähnlichkeit, eine bloße Qualität an, die notwendigerweise nur rhematisch, also: als möglicher Gegenstand einer Aussage angesprochen wird.26 Diese reine Möglichkeit einer Qualität ist Voraussetzung der Behauptung, die die Qualität einem konkreten Gegenstand zuschreiben könnte und dann sagte, dieser sei so; aber diese Zuschreibung ist in dem Bild eben anders als die Darstellung einer ikonischen Qualität noch nicht durchgeführt. Es ist erst eine Interpretation, die gerade diese Durchführung und Ausführung sistiert. Ihr fehlt die Referenz auf ein Einzelding, von dem die gezeigte Qualität behauptet wird – auf den Raum, in dem die Szene des Stilllebens zu sehen gewesen sei, auf den Menschen, der die emotionale Erfahrung des Schreis gemacht, oder auf die biblische oder historische Figur mit ihrem Eigennamen, die den abgeschnittenen Kopf in einer Schale getragen habe. Die singuläre Referenz, nach Peirce eine Spielart der Indexikalität, die in dieser Reduktion zeitweilig verneint wird, ist andererseits eine weitere, andere Möglichkeit der Reduktion von Bildern auf etwas, das vermeintlich das ‚bloße Bild‘ sein könnte: Als rhematisch-indexikalisches Sinzeichen, das im Modus der bloßen Möglichkeit von der direkt verweisenden Spur, dem Index, eines singulären Dings spricht. Die forensisch verwendete Fotografie eines Unfallorts zeigt vielleicht zwei ineinander verkeilte Wagen. Insofern der optischen Apparatur vertraut wird, könnte man – nichts zwingt dazu – den bloßen Anblick, wie er sich bewiesenermaßen in diesem einzelnen Fall gemäß dem Bild bot, von der Deutung des Bilds als Zeichen für eine Qualität unterscheiden, was für eine Art von Unfall, mit welcher Geschwindigkeit, nach wessen Verschulden und mit welchen juristischen Konsequenzen vorgelegen habe. Barthes unterscheidet die ‚Punktierung‘ der Realität durch die Apparatur und ihre Deutung im ‚Studium‘ in diesem Sinne als eine logische, nicht unbedingt zeitliche, Abfolge eines vermeintlich sofortigen und eines unabschließbar fortgesetzten Teils.27 Die Erweiterung zur Behauptung geht dann umgekehrt vor: Sie fragt nicht, wem eine etwa beschriebene Qualität tatsächlich zukommt, sondern welche Qualität dem tatsächlich Abgebildeten zukommt. Die Spur eines Neutrinos in einer gasgefüllten Kammer scheint zunächst den Evidenzcharakter des unmittelbaren Abdrucks seiner Bahn im Raum zu besitzen: Dann erst wird diese Bahn mit anderen ähnlichen und unähnlichen verglichen und in die Beschreibung wiederholbarer Qualitäten des entdeckten Teilchens überführt. In der Beschreibung seiner Qualitäten wird das Teilchen typisch und wiederholbar; in der Spur kann diese Spur als bloße Referenz auf die einzelne durch die Kammer gegangene Welle vorgestellt werden. || 26 Sein Vokabular zu den Haupt- und Subzeichenklassen, das hier nur in dem Maße eingeführt wird, wie es auch für das Argument Verwendung findet, hat Peirce in Teilen und im Ganzen immer wieder neu erklärt. Eine hervorragende Zusammenfassung bietet Winfried Nöth, Handbuch der Semiotik, 2. vollst. neu bearb. u. erw. Aufl., Stuttgart: Metzler 22000, 66f. 27 Vgl. Roland Barthes, La chambre claire. Note sur la photographie, Paris: Gallimard 1980, exemplarisch 75 et passim.

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Schon die Konkurrenz dieser zwei gängigen Reduktionen zeigt deren Nachträglichkeit und Willkür an. Lägen sie in einem vorgängigen Zeichenkern ‚an sich‘ vor, müsste entweder die eine oder die andere vorliegen. In den Redifferenzierungen wird die Abhängigkeit von semiotisch arbiträren kulturellen Programmen offensichtlich, die nie zwingend gültig, aber immer schon tatsächlich vorhanden und für die Rezeption bestimmend sind. Das Netz aus kulturellen Konventionen, in denen Comics vorkommen, bietet eine Drift ikonischer Qualizeichen zur Graphik an, als wären Ähnlichkeiten für ähnliches Aussehen prädestiniert. Schon der Schrei macht deutlich, wie wenig das auch nur für Bilder gelten muss. Aber durch die Konvention kann das sistierte Panel gelesen werden, als zeige es eben, wie ein Batman und ein Joker im Kampf aussehen können, bevor es dies von zwei konkreten Individuen erzähle. Die gleiche kulturelle Konvention verbindet die Existenz von Einzeldingen nur in der Ausnahme – etwa in der Fotografie – mit dem Bild; die Tendenz gilt neben der Spur vielmehr dem Eigennamen und der sprachlichen Behauptung von Individualität. Dass Erzählungen von konkreten Individuen handeln müssen, von dem Kampf zweier bestimmter Personen eher als von der allgemeinen Möglichkeit, dass ein Kampf so und nicht anders verlaufen könnte, wird etwa von Monika Fludernik mit der Erfahrungsdimension als Gegenstand von erzählenden Darstellungen begründet.28 Für das zur Ikonizität tendierende Bild wie für die jede Referenz problematisierende Fiktion ist dies die erst zu begründende Drift: weshalb ein Bild von Einzeldingen statt ihrer bloßen Qualität, weshalb eine Aussage über Einzeldinge von diesen als fiktiven Gegenständen sprechen könne. Die Frage wird überhaupt erst in der Spannung zwischen Reduktion und Redifferenzierung sinnvoll: Weil Batmans und Jokers Abbildung zugleich als fiktionale Erzählung und als deren bloßer Bestandteil im Einzelnen, isolierten Bild gesehen werden können. Hier wird die Regularität des dann aufgerufenen Programms der Redifferenzierung sichtbar: die Verbindung von Qualität und Einzelreferenz zur Aussage, die Peirce an den verschiedenen Bestandteilen eines Satzes erklärt: ‚Hesekiel liebt Hulda‘, so sein Beispiel.29 Die Eigennamen verweisen demnach auf singuläre konkrete Dinge, hier Personen; das ‚liebt‘ auf die wiederholbare, von verschiedenen Personen behauptbare Qualität, dass jemand jemanden lieben könnte. Beide werden nach einer Regel verbunden; im Satz ist es die Regel der Grammatik. Fiktionalität bezieht sich in dieser regulären Verbindung auf die Frage, ob die reale Verbindung des Index zu einem Einzelding der Regel nach Bestand hat, also auf etwas Vorhandenes aufgrund der vorhandenen realen Beziehung referiert.

|| 28 Vgl. Monika Fludernik, Towards a ‘Natural’ Narratology, London/New York: Routledge 2002, 12f. et passim. 29 Vgl. Charles Sanders Peirce, „Short Logic“, in: The Essential Peirce, Bd. 2, hg. v. Nathan Houser et al., Bloomington: Indiana UP 1998, 11–26, hier: §8.

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Damit kann im Vergleich der Medien die Frage nach der Fiktion im grafischen Erzählen zugespitzt werden: Nach welcher Regel werden ikonische Qualität des Dargestellten und Verweis auf singuläre Existenz verbunden, und wird nach dieser Regel die singuläre Existenz behauptet? Wie kommt das Bild von dem möglichen Kampf zwischen Batman und Joker zum Verweis auf zwei Individuen, Batman und Joker, von denen erzählt wird – und was sistiert die volle behauptende Kraft für diesen Verweis, so dass das Bild nicht faktual gelesen wird? Weltwissen über Faustkämpfe, über die tatsächliche Abwesenheit von Superhelden, und über die vorausgesetzte narrative Fiktionalität von Comics beantwortet diese Frage abseits der für die Fiktion spezifischen Spannung zwischen Reduktion und Redifferenzierung, hat sie schon beantwortet, bevor das Bild auf die Darstellung bloßer Möglichkeiten oder den Verweis auf Individuen reduziert wurde. Diese Voraussetzungen reichen völlig aus, um diese Art der Fiktionalität zu begründen und zu verstehen. Vollzogen aber wird sie in Reduktion und Redifferenzierung, die einen logischen und zeitlichen Prozess zu imaginieren erlauben, indem die längst geschehene Einordnung des Bilds zur Tendenz und ihre Verwirklichung zur Drift in der Zeit wird. Obwohl es für das Verständnis des Bilds nach Code und Kunstform nicht nötig wäre, wird also zusätzlich gefragt: Was an diesem Bild rechtfertigt die Drift? Und erst auf diese Frage hin wird die Besonderheit der Kunstform, wie sie in diesem Panel inszeniert wird, verwirklicht.

Abb. 2: Panel aus Scott McCloud, Understanding Comics30

|| 30 Scott McCloud, Understanding Comics (Anm. 8), Kap. 2, Abb. auf S. 29; vgl. Stephan Packard, „Was ist ein Cartoon? Psychosemiotische Überlegungen im Anschluß an Scott McCloud“, in: Stephan Ditschke/

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Die konventionelle Regel des Comics legt in der Drift eine narrativ-fiktionale Lektüre nahe. Scott McCloud hat eine Beschreibung der Körperdarstellung im Comic durch den vereinfachenden und überzeichnenden karikierenden Stil des Cartoons vorgelegt. Diese Beschreibung wird aus der Perspektive der Frage nach der Besonderheit der Kunstform zu einer neuen Antwort: Die Körperimagination der Leserinnen und Leser werde durch diese Konzentration auf zentrale Eigenschaften des menschlichen Körpers und die Übertreibung der in der Situation und der Charaktervorstellung gemeinten Körpereigenschaften angesprochen. Die dargestellten Individuen werden so zum Objekt einer teilweisen Identifikation: Diese schreibt ihnen gerade jene Qualität der Dynamik und Handlungsfähigkeit zu, die die Protagonisten einer Erzählung benötigen – ihre Erfahrungsdimension, die ‚experientiality‘ der Erzählung. Quelle der Zuschreibung aber ist nicht etwa ein vermeintlich angenommener realer Batman, sondern der tatsächlich real vorhandene Leser, die tatsächlich real vorhandene Leserin (vgl. Abb. 2.). Um diesen Gedankengang noch einmal zusammenzufassen: Wenn nach der besonderen Fiktionalität graphischen Erzählens gefragt wird, ist demnach das nie zwingende, tatsächlich entscheidende Bündel an paratextuellen, generischen und anderen Vorbestimmungen der Rezeption zu unterscheiden von dem ebenso wenig zwingenden, aber im Vollzug der fiktionalen Reduktion und Redifferenzierung als spezifisch erfahrenen ästhetischen Format dieser Kunstform. – Dass man Batman und Joker auch als Tatsachenabbildung hätte verstehen können, stand in keiner je stattgefundenen Rezeption des Bilds jemals ernsthaft zur Debatte; unzählige Gründe sprachen dagegen, bevor das Bild auch nur betrachtet wurde. Dass man jedoch das Bild als Einladung verstehen könnte, sich in der Reduktion die bloße Möglichkeit des Kampfes vorzustellen und dann redifferenzierend neue, der Kunstform interne Gründe zu suchen, wie die Figuren zwar als erzählenswerte Individuen, aber nicht als reale Referenzen zu interpretieren seien: Das wird erst im kulturellen Programm der Fiktionalität erfahrbar. Es bedarf dazu des Dreischritts zwischen längst differenzierter Fiktionalisierung, Reduktion auf einen semiotischen Kern und Redifferenzierung als semiotisch plausibilisierte Fiktion. Das gleiche kulturelle Netzwerk aus Konventionen legt für die Vergleichsfolie der traditionellen, schriftsprachlichen Erzählung eine ganz andere Reduktion und Redifferenzierung nahe. Zwar könnte man auch hier – nichts zwingt – wie bei Hesekiel und Hulda Billy Pilgrim als Eigennamen nehmen. Seine Personalpronomina wären entsprechend Indizierung eines konkreten Individuums. Beides könnte man dann trennen von der dargestellten bloßen Möglichkeit des in der Zeit verlorenen Protagonisten: So wie eben jemand verloren gehen könnte. Dieses Verlorengehen, das ‚unstuck in time‘ würde dann als eine wiederholbare Qualität behandelt, die so selbstverständlich von

|| Katerina Kroucheva/Daniel Stein (Hg.), Comics. Zur Geschichte und Theorie eines populärkulturellen Mediums, Bielefeld: Transcript 2009, 29–51.

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einem Menschen gesagt werden könnte, wie dass er Hulda liebt. Nichts hindert, genau dies zu tun. Aber während der Umgang mit Eigennamen, zumal sprechenden wie diesem, tatsächlich mit einer konventionellen Drift dieser Art verbunden ist, stellt der zitierte Anfang des zweiten Kapitels von Slaughterhouse-Five eine ganz andere Art der Reduktion in den Vordergrund: „Listen“! Für schriftsprachliche Erzählungen kann Fiktion konventionell über die Isolierung der dargestellten von einer tatsächlichen Kommunikationssituation redifferenziert werden: Jemand lässt jemanden ‚listen!‘ sagen und über jemanden sprechen. Genette hat diese Redifferenzierung bekanntlich und präzise bezeichnet und debattiert: Die dann als Besonderheit für nur bestimmte Fälle angenommene Koinzidenz von Autor, Erzähler und Charakter sei dann dem gegenüber die formale Bestimmung autobiographischer Faktualität.31 Gegenüber dem tatsächlich autobiographischen ersten Kapitel von Slaughterhouse-Five nimmt Vonnegut im zitierten Anfang des zweiten Kapitels durch die klare Distinktion von Erzähler und Charakter die dritte Position des Autors aus der Verantwortung. Auch hier ist diese Argumentation freilich überdeutlich nachträglich. Niemand muss die drei Positionen auf ihre mögliche Identität prüfen, um dann zu entscheiden, ob an die Erzählung von dem Zeitreisenden faktual anzuschließen sei. Diese Entscheidung ist vielmehr längst gefallen. Das Programm der Fiktion reduziert jedoch die Sätze auf eine Isolation, in der sie an sich wieder geglaubt werden könnten, um dann durch die Differenzierung kommunikativer Ebenen den Anschluss zu redifferenzieren und sie nicht glauben zu lassen – und zugleich die Erfahrungsdimension einer konventionellen schriftsprachlichen Erzählung einzuführen, die die Staffelung von Stimmen und Fokalisierungen konstituiert.

4 Ein Verfahren in erfundenen Bildern: Gradierte Fiktionalität Bilder in graphischen Erzählungen sind damit also nicht mehr oder weniger fiktional oder zur Fiktionalität imstande als schriftsprachliche Erzähltexte. Der Prozess ihrer fiktionalen Verwirklichung orientiert sich jedoch an den Verfahren und Kunstgriffen dieser Kunstform und stellt damit unterschiedliche Effekte in den Mittelpunkt. Die Cartoonisierung erlaubt bei dem Kinnhaken, den Batman dem Joker versetzt, dem Genre des Superheldencomics eine spezifische Freiheit, die durch die eigenen Grenzen von semiotischem Kern und fiktionaler Erweiterung in eigener Weise Ereignisse plausibilisiert, die nicht nur nicht real, sondern in der Realität unmöglich sind. Der blanke Kinnhaken in der hier vorgestellten Geste sollte, wäre er real, Knochen brechen, mindestens in

|| 31 Vgl. Gérard Genette, „Récit fictionnel, récit factuel“, in: Fiction et diction (Anm. 17), 65–94; vgl. allgemeiner Frank Zipfel, Fiktion (Anm. 16), 34–38.

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der Hand des Angreifers. Aber zwei graphische Konventionen blenden dies aus: Zum einen die schon beschriebene cartoonisierte Körperimagination selbst, die den Schlag und seine Wirkung überzeichnet und den Moment des Aufpralls zurücknimmt. Noch mehr ist daran das Folienzeichen beteiligt, der kleine Stern in der Mitte des Panels, der das zentrale Handlungselement darstellt – und zugleich ersetzt: Eine symbolische Darstellung des Schlags erspart im graphischen Medium aus dessen Konventionen die graphische Darstellung des Körperkontakts. Die in der fiktionalen graphischen Erzählung konstruierten fiktiven Welten folgen damit den besonderen Möglichkeiten der Verfahren der Kunstform, die die fiktionale Redifferenzierung verwirklichen. Dadurch werden discours und histoire in dieser Beziehung für einander durchlässig: Was die Cartoons des Comics leicht plausibilisieren, wird nicht glaubhaft, aber leicht akzeptabel für den Gegenstand der Fiktion. In seiner umfassenden Comic-Narratologie hat Martin Schüwer gefragt: Soll man den karikaturhaften Stil […] einzig dem Diskurs zurechnen und sich vorstellen, dass [die Figuren] im Rahmen der erzählten Welt eigentlich ganz anders aussehen? […] Zu den Eigenarten des Comics als visuelle oder, in der etwas missverständlichen Terminologie Chatmans, ‚mimetische‘ Medien zählt eben, dass Darstellung und Dargestelltes intensiver noch als im Film Verbindungen eingehen können, die das Dargestellte untrennbar mit der Form der Darstellung verbinden.32

Da die Konsequenzen der semiotischen Reduktion nie zwingend sind, bleibt eine Lektüre jederzeit möglich, die Diskurs und erzählte Welt tatsächlich trennt, so dass die erzählten Charaktere keineswegs so cartoonisiert sein müssen wie ihre figuralen Darstellungen. Zugleich aber bleibt jedenfalls im Zuge der prozessierten Fiktionalität der graphischen Erzählung auch die Möglichkeit eines Übergriffs von Darstellungen auf das Dargestellte, die nicht prinzipiell, wohl aber ihrem spezifischen Vorgehen nach Kontraste zur Tradition der Erzählung mit Wörtern aufbauen können. Wie man die ikonische Reduktion auf bloße Qualitäten auf Vonneguts Sätze projizieren könnte, weil keine semiotische Regel daran hindert, obwohl keine Tendenz es wahrscheinlich macht, so könnte man auch die Redifferenzierung des fiktionalen Comicpanels durch Kommunikationsebenen wie im traditionellen Erzählen bewerkstelligen. Der transmedial der schriftsprachlichen Erzählung folgende, im Comic häufige extra- und heterodiegetische Erzähler legt dies sogar nahe: „A final blow…!“ Seine Stimme ist weder die des historischen Verfassers noch eine der Protagonisten: Schriftsprachliche Fiktionalität wäre damit plausibel. Aber dieser Erzähler ist eine Zutat zum Panel. Comics können sich seiner bedienen, und tun dies nicht selten in

|| 32 Martin Schüwer, Wie Comics erzählen. Grundriss einer intermedialen Erzähltheorie der grafischen Literatur, Trier: WVT 2006, 23.

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kunstreicher Weise; sie können aber ebenso kunstreich darauf verzichten33 oder die Identität von Autor, Erzähler und Charakter fiktionalisieren. Letzteres ist etwa im Sachcomic McClouds über Comic, Understanding Comics, der Fall (s. nochmals Abb. 2). Der Comicband ist insgesamt offensichtlich faktual intendiert und wird auch so rezipiert: Was er über die Kunstform des Comics sagt, hat Wahrheitsanspruch. Zunächst überrascht es also nicht, dass Autor, Erzähler und Charakter McCloud sind und offenbar miteinander identisch. Der Charakter McCloud jedoch verhält sich in den Darstellungen in den Panels des Comics in kontrafaktischer Weise: Er läuft durch die beschriebenen Bilder, redupliziert sich und debattiert mit sich selbst, wie es der historische McCloud nicht tut. Es handelt sich dabei selbstverständlich keineswegs um eine komplette Refiktionalisierung des ganzen Medienangebots, sondern um eine reine Auxiliarfiktion,34 eine Oberflächenfunktion der Darstellungsweise, keine Entscheidung über den Status der Dargestellten. Das Beispiel sollte jedoch noch einmal verdeutlichen, dass die verschiedenen aufgerufenen Konventionen des Erzählens, des Genres und eben auch der mit beiden verknüpften Formen der Fiktion im graphischen Erzählen frei gewählte und nicht zwingende, daher auch bisweilen miteinander in widersprüchlicher Weise konkurrierende Redifferenzierungsfunktionen erfüllen. Indem der Autor hier zur dynamisch agierenden Figur gemacht wird, gerät der Sachcomic über Comics zugleich zur Erzählung über die Aktionen von McClouds Avatar im virtuellen Raum der Panels, die er durchwandert. In der Folge der narrativen Drift der Comic-Konvention, die damit erfüllt wird, verwirklicht sich auch deren fiktionale Drift. Sie tut dies durch dasselbe Cartoonzeichen für McCloud, dessen Identität von Autor, Erzählstimme und Figur gleichzeitig die Faktualität des ganzen Texts verbürgt. Verwirrung kann daraus erst entstehen, wenn über die Beschaffenheit des Zeichens, dessen Medienangebot längst als faktual eingeordnet wurde, noch einmal neu in reduzierender Isolation nachgedacht wird, um über seine Redifferenzierung neu zu entscheiden. Das geschieht jedoch erst im Zuge eines Programms, dessen bloßer Ablauf bereits Fiktionalität bedeutet. So erlaubt nicht nur derselbe Comic, sondern dasselbe Zeichen unter denselben Voraussetzungen fiktionale ebenso wie faktuale Anschlüsse, und zwar zugleich und

|| 33 Vgl. dazu ausführlich Jan-Noël Thon, „Who’s Telling the Tale? Authors and Narrators in Graphic Narrative“, in: ders./Daniel Stein (Hg.), From Comic Strips to Graphic Novels. Contributions to the Theory and History of Graphic Narrative, Berlin: De Gruyter 2013, 57–82. Auf der Tagung des Nordic Network for Comics Research in Helsinki, 23–25. Mai 2013, hat Thierry Groensteen in einem noch unpublizierten Vortrag über die Selbstdarstellung von Künstlern im Comic zudem auf die konventionelle Selbstdistanzierung hingewiesen, die der Zeichnung des Erzählers im Comic zukomme und diese von der Verwendung einer autobiographischen ersten Person im schriftsprachlichen Erzählen tendenziell (!) unterscheide. 34 Vgl. Aleida Assmann, Die Legitimität der Fiktion. Ein Beitrag zur Geschichte der literarischen Kommunikation, München: Fink 1980, 108 et passim.

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im Zuge derselben kohärenten Rezeption. Dass faktuale Weltbezüge auch in dominant fiktionalen Texten vorkommen können, ist bekannt, von den Ähnlichkeiten zwischen Sherlock Holmes’ und Conan Doyles London bis zu dem bereits von Aristoteles beschworenen Anspruch der Fiktion, wahrheitsgemäß auf Gesetzmäßigkeiten hinzuweisen. Während solche Effekte in schriftsprachlich traditionellen Erzählungen oft mit Eigennamen verbunden sind, finden sich in Comics hier häufig detailliertere und strenger perspektivisch gezeichnete Gegenstände (ein Verfahren, das auch allgemeiner die Objektivierung dargestellter Elemente betonen kann).35

Abb. 3: Panels aus Don Rosa, „The Quest for Kalevala“36

Besonderes Interesse verdienen sie jedoch, wenn sie mit den spezifischen ästhetischen Charakteristika und Funktionen der Kunstform verbunden sind. Neben dem beschriebenen Einsatz in der Cartoonisierung ist dies auch dort der Fall, wo die Drift der gradierten Fiktionalität mit dem Fortschreiten der Sequenz verbunden wird. Ein abschließendes Beispiel aus Don Rosas Quest for Kalevala (Abb. 3) demonstriert dies mit routinierter Effektivität. Das reale finnische Literaturhaus in Helsinki ist mit den Details seiner Architektur und perspektivisch statt cartoonhaft verzerrt wiedergegeben. Wer mit den Rezeptionskonventionen um Don Rosas Comics vertraut ist, weiß, dass Bildern in diesem Zeichenstil als Abbildern zu trauen ist, und dass Rosa seine Leserinnen und Leser aus verschiedenen Ländern häufig um Fotografien bittet, nach denen er seine Abbilder akkurat zeichnet. Das Gebäude ist ein singulärer Gegenstand der wirklichen Welt, das Bild stellt als Besonderheit aus, dass diese Referenz dem Aussehen nach diesem realen Objekt gilt und dass kompetente Leserinnen und Leser genau dies bemerken sollen, so dass sie über das Gebäude faktuale Informationen erhalten. Sie müssen dafür anders als bei der Erwähnung Londons in einem fiktionalen Roman das Gebäude wie || 35 Vgl. McCloud, Understanding Comics (Anm. 8), 44. 36 Don Rosa, „The Quest for Kalevala“ [1999], engl. in: Uncle Scrooge 334 (2004), hier: 17.

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jenen Stadtnamen nicht etwa schon kennen; stattdessen muss ihnen die Absicht des Stilwechsels vertraut sein. Dafür aber erfahren sie etwas, während der Stadtname London nur insofern auf London verweist, als man London bereits kennt. In der Dichte dieser Konventionen kann nun tatsächlich dem Bild angesehen werden, ob es bloß fiktional ist: freilich erst im Zuge seiner Redifferenzierung. Während aber das Literaturhaus auch in der wirklichen Welt in den 1940er oder 1950er Jahren (etwa zu dieser Zeit spielen Rosas Duck-Erzählungen) einen Direktor hatte und hier der Direktor als Erzählgegenstand und damit als konkrete Einzelperson eingeführt wird, ist der in die Geschichte aufgenommene Direktor kein Abbild: Er übernimmt keinen Eigennamen, seine Darstellung ist cartoonisiert, der Weltverweis richtet sich auf die körperliche Imagination, die ihn als Akteur plausibel macht, nicht auf einen Menschen, der je gelebt hätte und etwa Gegenstand einer faktualen Darstellung wäre. Zwischen beide Bilder hat Don Rosa Dagoberts ikonischen Cartoon als Schattenriss gestellt. Er markiert gleichsam den Übergang von dem realen Ort, der für die Geschichte als Handlungsort aufgerufen wird, zu der fiktiven Handlung, als deren Bühne er dient. Die generische Bezeichnung der Person als ‚Director‘ steht auch sprachlich in Gegensatz zur kantelischen Harfe, die wie noch viele weitere Objekte im Umfeld der KalevalaTradition ihren Weltbezug aufrechterhalten, während die fiktive Geschichte weitergeht. Die im kulturellen Programm der Fiktionalität gezogene Grenze zwischen unentschiedenem Kern und entschieden fiktionalem oder faktualem Anschluss wird damit zur Grundlage der besonderen Erzählweise in diesem Comic: Sie ermöglicht einen Umgang mit faktualen Elementen, der nur in der Fiktion sinnvoll denkbar ist, und eine Fiktionalität, die bei aller Vergleichbarkeit mit traditionellem schriftsprachlichem Erzählen die besonderen Kennzeichen einer Kunstform aus erfundenen Bildern trägt.

Helmut Galle

Fiktionalität in hybriden Gattungen Tatsachenroman und Dokudrama versus Reportage und Dokumentarfilm Der Dokumentarfilm und die Reportage – auch die umfangreichere Buchreportage – gelten in der Alltagswelt und in vielen theoretischen Ansätzen als nicht fiktionale Gattungen,1 die sich von Spielfilm und Roman durch den referentiellen Bezug auf die Wirklichkeit unterscheiden. Neben Fiktion und Nicht-Fiktion haben sich jedoch in den vergangenen Jahrzehnten Mischformen wie der Tatsachenroman und das Dokudrama etabliert, deren spezifischer Status zwischen Fakt und Fiktion weitgehend ungeklärt ist: Einerseits erheben sie Anspruch darauf, den Leser bzw. Zuschauer mit tatsächlich Geschehenem zu konfrontieren, andererseits verwenden sie fiktionsanaloge Erzähl- und Produktionstechniken und nähern sich in ihrer Erscheinungsweise den fiktionalen Pendants in Literatur und Film. Oft werden diese Zwischenformen pauschal der Fiktion zugeschlagen oder der Fiktionsbegriff wird im Zuge des postmodernen Panfiktionalismus2 gleich auf sämtliche Darstellungsmodi, auch die faktualen, ausgeweitet. Zu fragen wäre jedoch, ob nicht in der Tat jeweils besondere Formen von Fiktionalität vorliegen, die sich nur durch eine eingehende Analyse genauer bestimmen und definieren lassen. Denkbar wäre etwa, dass der Tatsachenroman und

|| 1 „When a film is indexed as nonfiction, the audience is cued to receive the film as a vehicle for truth claims and a reliable photographic and aural account of its subject“ (Carl Plantinga, „Documentary“, in: Paisley Livingston/Carl Plantinga [Hg.], The Routledge Companion to Philosophy and Film, London/New York: Routledge 2009, 495–504, hier: 502). Ähnliche Positionen vertreten für den Film: Noël Carroll, „Fiction, Non-fiction, and the Film of Presumptive Assertion: A Conceptual Analysis“, in: ders./Jinhee Choi (Hg.), Philosophy of Film and Motion Pictures: An Anthology, Malden/ Oxford/Victoria: Wiley-Blackwell 2006, 154–171 (urspr. in: Richard Allen/Murray Smith (Hg.), Film Theory and Philosophy, Oxford: Clarendon 1997); Gregory Currie, Arts and Minds, Oxford: Oxford UP 2004. Für die Literatur: Kendall L. Walton, Mimesis as Make-Believe. On the Foundations of the Representational Arts, Cambridge: Harvard UP 1990; Gregory Currie, The Nature of Fiction, Cambridge: Cambridge UP 1990; Frank Zipfel, Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität. Analysen zur Fiktion in der Literatur und zum Fiktionsbegriff in der Literaturwissenschaft, Berlin: Schmidt 2001; Helmut Kreuzer, Biographie, Reportage, Sachbuch. Zu ihrer Geschichte seit den zwanziger Jahren (Sonderheft Arbeitsblätter für die Sachbuchforschung 8 [2006]), http://www.sachbuchforschung.uni-mainz.de/arbeitsblatter/ biographie-reportage-sachbuch/ [Zugriff am 20.07.2016]; Matias Martínez, „Erzählen im Journalismus“, in: Christian Klein/Matias Martínez (Hg.), Wirklichkeitserzählungen. Felder, Formen und Funktionen nichtliterarischen Erzählens, Stuttgart/Weimar: Metzler 2009, 179–191. 2 Zum Phänomen des Panfiktionalismus vgl. Marie-Laure Ryan, „Postmodernism and the Doctrine of Panfictionality“, in Narrative 5.2 (1997), 165–187; Eva M. Konrad, „Panfiktionalismus“, in: Tobias Klauk/Tilmann Köppe (Hg.), Fiktionalität. Ein interdisziplinäres Handbuch, Berlin/Boston: De Gruyter 2014, 235–254.

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das Dokudrama eine Position zwischen den Polen ‚Roman und Spielfilm‘ auf der einen und ‚Reportage und Dokumentarfilm‘ auf der anderen Seite einnehmen. In der aktuellen Debatte über die Fiktion gibt es unterschiedliche Positionen zur Frage, ob Fiktionalität ‚skalierbar‘ ist, ob sich also unterschiedliche Grade von Fiktionalität annehmen lassen. Unterschieden wird dabei – wie in der gegenwärtigen Fiktionstheorie überhaupt – zwischen dem ontologischen Status der Elemente der dargestellten Welt, der entweder real oder fiktiv sein kann, sowie der Modalität, unter der eine Darstellung produziert, kommuniziert und rezipiert wird, die als faktual oder fiktional bezeichnet wird.3 Die Frage nach möglichen Graden von Fiktion wird unterschiedlich beantwortet, und zwar sowohl, wenn der Blick sich auf den Rezeptionsmodus richtet, als auch wenn er dem Status der dargestellten Welt oder auch beidem gilt. Wolf Schmid z.B. schließt die Möglichkeit einer „mixed bag“ von realen und fiktiven Elementen in einer Fiktion kategorisch aus; für ihn hat Napoleon in Krieg und Frieden denselben fiktiven Charakter wie die erfundenen Figuren.4 Andreas Kablitz dagegen räumt ein, dass „das Dargestellte […] mehr oder weniger fiktiv sein“ kann, die Frage der Fiktionalität eines Textes – und damit die Entscheidung, ob er „von der Verpflichtung, wahre Sachverhalte zum Inhalt zu haben enthoben“ ist, könne aber nur kategorial, d.h. mit ja oder nein entschieden werden.5 Zumindest für die mittelalterliche Literatur geht Sonja Glauch dagegen davon aus, dass die zeitgenössische Rezeption von „schleichende[n] Übergänge[n]“ geprägt war, wenn es darum ging, bestimmten Texten eine „epistemische Verankerung zuzuweisen“.6 Maria Reicher schließlich glaubt, die Aussagen in fiktionalen Werken in ‚stark und schwach fiktionale Äußerungen‘ („strongly fictional utterances and weakly fictional utterances“) differenzieren zu können; die ersteren beziehen sich ausschließlich auf fiktive Sachverhalte, während die letzteren mit realen Sachverhalten koinzidieren. „The only difference between non-fictional utterances and weakly fictional utterances consists in the fact

|| 3 Grundlegend hierzu: Frank Zipfel, Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität (Anm. 1). 4 Vgl. Wolf Schmid, Elemente der Narratologie, Berlin: De Gruyter 2005, 275. Ähnlich Lubomír Doležel, „Fictional Reference. Mimesis and Possible Worlds“, in: Mario Valdés (Hg.), Toward a Theory of Comparative Literature, New York: Peter Lang 1990, 109–124. 5 Andreas Kablitz: „Literatur, Fiktion und Erzählung – nebst einem Nachruf auf den Erzähler“, in: Irina O. Rajewsky/Ulrike Schneider (Hg.), Im Zeichen der Fiktion. Aspekte fiktionaler Rede aus historischer und systematischer Sicht. Festschrift für Klaus W. Hempfer zum 65. Geburtstag, Stuttgart: Steiner 2008, 13–44, hier: 17. Zu ähnlichen Ergebnissen kommt die Diskussion bei Frank Zipfel, Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität (Anm. 1), 292–294. 6 Sonja Glauch, „Fiktionalität im Mittelalter“, in: Tobias Klauk/Tilmann Köppe (Hg.), Fiktionalität. Ein interdisziplinäres Handbuch (Anm. 2), 285–418, hier: 407. Für die Autofiktion der Gegenwart sieht Christina Schaefer ebenfalls Übergänge zwischen den beiden Polen (vgl. „Die Autofiktion zwischen Fakt und Fiktion“, in: Irina O. Rajewsky/Ulrike Schneider [Hg.], Im Zeichen der Fiktion [Anm. 5], 299–326).

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that the latter, but not the former, are used to devise a fictional world. Weakly fictional utterances are fact-stating. Strongly fictional utterances are not fact-stating.“7 Im Folgenden soll an konkreten Beispielen untersucht werden, inwiefern sich Dokudrama und Dokumentarfilm sowie Tatsachenroman und Reportage im Hinblick auf die Fiktionalität ihrer Darstellung und die Fiktivität ihres Inhalts unterscheiden, um daraus Schlüsse hinsichtlich des Status der jeweiligen Gattungen zu ziehen, aber auch hinsichtlich der Differenzen, die auf der spezifischen Medialität von Film einerseits und Literatur andererseits beruhen. Der Beitrag behandelt zwei Beispielpaare bestehend aus jeweils einem Buch und einem Film, die derselben Thematik gewidmet sind. Zur Untersuchung faktualen Darstellens dienen der Dokumentarfilm Restrepo (2010)8 und die Buchreportage War (2011)9, die den Krieg in Afghanistan anhand des 15-monatigen Einsatzes einer amerikanischen Kampfeinheit behandeln. Sebastian Junger, Autor des Buches und Koautor des Films, sowie Tim Hetherington, der Kameramann, waren von Mai 2007 bis Juli 2008 mehrmals als ‚eingebettete Reporter‘ für längere Zeit vor Ort und zeichnen für den Film gemeinsam verantwortlich. Beide Werke verstehen sich als radikale Beispiele von Dokumentarismus, sind aber zugleich massenwirksame und weltmarkttaugliche Unterhaltung. Der Roman In Cold Blood von Truman Capote (1965)10 kann als Paradebeispiel für den Tatsachenroman (non-fiction novel) gelten. Die zugrundeliegenden Ereignisse und der Entstehungsprozess des Buches wurden von Regisseur Bennett Miller im Film Capote (2005)11 dargestellt. Capote wird als ‚biographical film‘ bezeichnet, und kann als Spielart des Dokudramas angesehen werden, da das Biopic wie das Dokudrama ein historisches Geschehen ganz oder teilweise mit fiktionalen Mitteln darstellt. Da beim gegenwärtigen Stand der Fiktionstheorie vor allem pragmatische, semantische und syntaktische bzw. narratologische Aspekte zur Definition von Fiktion herangezogen werden,12 wird der folgende Vergleich den kommunikativen Rahmen (Pragmatik), den ontologischen Status des Dargestellten (Semantik) und die narrative Struktur der Darstellung berücksichtigen, um die Differenzen der Werke im Verhältnis zu faktualem und fiktionalem Diskurs herauszuarbeiten.

|| 7 Maria E. Reicher, „Knowledge from Fiction“, in: Jürgen Daiber et al. (Hg.), Understanding Fiction. Knowledge and Meaning in Literature, Paderborn: Mentis 2012, 114–132, hier: 124. 8 Restrepo. One Platoon, One Valley, One Year, R.: Tim Hetherington/Sebastian Junger, USA 2010. Juan Restrepo ist der gefallene GI, nach dem der in Film und Buch dokumentierte Außenposten benannt wurde; dieser befindet sich im Korengal Tal an der Grenze zu Pakistan. 9 Sebastian Junger, War, London: Fourth Estate 2010. 10 Truman Capote, In Cold Blood. A True Account of a Multiple Murder and its Consequences, New York: Vintage 1994 [1965]. 11 Capote, R.: Bennett Miller, CAN/USA 2005. 12 Vgl. Jean-Marie Schaeffer, „Fictional vs. Factual Narration“, in: Peter Hühn et al. (Hg.), Handbook of Narratology, 2. vollst. überarb. u. erw. Aufl., Berlin/München/Boston: De Gruyter 2014, 179–196.

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1 Der kommunikative Rahmen Frank Zipfel bestimmt als zentrales Unterscheidungskriterium von fiktionalen und faktualen Texten die durch Konvention bestimmten Bedingungen, unter denen sie als „Sprachhandlungen“ in der sozialen Praxis kommuniziert werden. Faktuale Erzählungen bestehen „in den das Erzählen bestimmenden Teilen aus assertiven Sprachhandlungen“, die als „Äußerungen eines Textproduzenten, eines Autors oder Erzählers, über ein dem Erzählen vorausliegendes Geschehen“ zu verstehen sind.13 Dagegen besteht die institutionalisierte Praxis bei fiktionalen Texten darin, dass der Autor eine Geschichte durch einen Erzähler präsentieren lässt, „die sich nicht wirklich zugetragen hat, mit der (Griceschen) Intention, daß der Rezipient diesen Text in der Haltung des make-believe aufnimmt“.14 Im Unterschied zum Normalfall der einfachen Sprachhandlung werden die Assertionen bezüglich der fiktiven vergangenen Wirklichkeit im Rahmen einer verdoppelten Sprachhandlungssituation von einem fiktiven Erzähler einem ebenso fiktiven Adressaten mitgeteilt und der Leser lässt sich aufgrund der von ihm akzeptierten Konvention darauf ein, im fiktionalen Spiel die Rolle dieses Adressaten einzunehmen. Im Anschluss an Philippe Lejeune15 und Gérard Genette16 werden die kommunikativen Rahmen, in denen fiktionale und faktuale Werke produziert und rezipiert werden, auch metaphorisch als ‚fiktionaler‘ bzw. ‚faktualer Pakt‘ oder ‚Vertrag‘ bezeichnet. Signale für den jeweils angebotenen Pakt ergeben sich aus den para- und peritextuellen Informationen (Gattungsangaben, Äußerungen über das Zustandekommen des Werks etc.) und der erkennbaren Differenz zwischen dem Autor und der Instanz, von der die Geschichte vermittelt wird. Aber auch die epistemische Plausibilität spielt eine Rolle: so kann der Rezipient einen fiktionalen Pakt annehmen, wenn die vom Erzähler getroffenen Aussagen eindeutig die Erkenntnismöglichkeiten des Autors übersteigen. Im Fall der Buchreportage War kann der Leser von einer übereinstimmenden Identität des Autors und des Erzählers ausgehen; hier liegt folglich keine Verdoppelung der Sprachhandlungssituation und damit ein faktualer Pakt vor. Der Autor erläutert in der „Author’s Note“ das Zustandekommen des Textes auf der Basis seiner Aufenthalte in Afghanistan und der Leser darf das ‚Ich‘ des Berichts zweifelsfrei auf den Autor beziehen. Die Geschichte wird also ohne erkennbare Vermittlung durch einen Erzähler mitgeteilt und die Assertionen des Textes lassen sich direkt dem Autor zurechnen. Der Paratext weist zudem eine Reihe von unzweideutigen Faktualitätsmarkierungen auf, so dass der Leser problemlos eine referentielle Lektüre der im Buch enthaltenen Propositionen vornehmen kann. Die Aussagen des Erzählers enthalten

|| 13 Frank Zipfel, Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität (Anm. 1), 115. 14 Ebd., 297. 15 Vgl. Philippe Lejeune, Der autobiographische Pakt, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1994. 16 Vgl. Gérard Genette, Fiktion und Diktion, München: Fink 1992 (franz. Orig. 1991).

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zudem keine Inhalte, die nicht von den Realitätsbereichen gedeckt wären, die dem Autor (nach dessen Bekunden) zugänglich waren: von ihm selbst beobachtete bzw. gefilmte Situationen im Korengal Valley, Gespräche mit Beteiligten und umfangreiche Recherchen zu den diversen Problemkomplexen. Insofern handelt es sich bei der Buchreportage um eine eindeutige kommunikative Rahmung. Im Fall von Restrepo gestaltet sich die Situation etwas komplizierter, allein schon, weil es sich um einen Film handelt. Auch hier wird das Werk im Rahmen eines nicht fiktionalen Pakts angeboten: „RESTREPO is a feature-length documentary that chronicles the deployment of a platoon of U.S. soldiers in Afghanistan’s Korengal Valley.“17 Der Zuschauer muss davon ausgehen, dass die Verantwortung für die vom Film gemachten Assertionen von den Autoren Junger und Hetherington übernommen wird. Worin aber wären diese Assertionen zu sehen? Da es keine Erzählerstimme aus dem ‚Off‘ gibt, lassen sich explizite Aussagen von Seiten der Autoren am ehesten in den Zwischentiteln finden, die auf Kurzinformationen zu Ort, Zeit und Handlung beschränkt sind: „In May 2007, the men of Second Platoon, Battle Company, began a 15-month deployment in the Korengal Valley of eastern Afghanistan.“ Mit diesen verbalen Elementen wird insinuiert, dass es sich um dokumentarische Aufnahmen handelt, die reale Personen und reales Geschehen in der genannten Region zeigen. Mit Noël Carroll ließe sich sagen, dass wir als Zuschauer „are to entertain the propositional content of the relevant structure as asserted thought“.18 Hinsichtlich des Bildmaterials könnte mit Carl Plantinga davon ausgegangen werden, dass die Autoren dieses als Repräsentation realer Sachverhalte präsentieren. „In nonfiction, the filmmaker takes the assertive stance, presenting states of affairs as occurring in the actual world.“19 Analog würden die Zuschauer die entsprechenden Markierungen zum Anlass nehmen, die Darstellung als faktuale aufzufassen. In diesem Sinne wäre es angemessen, den Film wie das Buch im Rahmen eines faktualen Paktes und einer einfachen Kommunikationshandlung zu rezipieren. Dies verhält sich im Fall von In Cold Blood und dem Film Capote anders. Truman Capote behauptet im Untertitel, sein Buch sei „a true account of a multiple murder and its consequences“. Andererseits wird das Buch seit seinem Erscheinen als ‚nonfiction novel‘, also als Tatsachenroman gehandelt,20 worin sich Capotes Ehrgeiz ausdrückt, eine neue literarische Form zu schaffen, die „all techniques of fictional art“ aufweise und dennoch „immaculately factual“ sei.21 Im Buch selbst wird der faktuale Anspruch durch die Autorinitialen T.C. unterstrichen, mit denen die Danksagungen || 17 Beschreibung der amerikanischen DVD sowohl auf www.amazon.com als auch auf der Homepage des Films: http://restrepothemovie.com/story/ [Zugriff am 20.07.2016]. 18 Noël Carroll, „Fiction“ (Anm. 1), 162. 19 Carl Plantinga, „Documentary“ (Anm. 1), 498. 20 George Plimpton, „The Story Behind a Nonfiction Novel“, in: The New York Times Review of Books, 16.01.1966, https://www.nytimes.com/books/97/12/28/home/capote-interview.html [Zugriff am 21.07.2016]. 21 Truman Capote zit. in ebd.

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(„acknowledgments“)22 gezeichnet sind, in denen er zudem versichert: „All material in this book not derived from my own observation is either taken from official records or is the result of interviews with the persons directly concerned, more often than not numerous interviews conducted over a considerable period of time.“ Trotz dieser Faktualitätsbehauptung unterscheidet sich die Aussagestruktur des Romans deutlich von der Buchreportage Jungers: Während Junger als empirischer Autor über das Pronomen der ersten Person Singular in den Propositionen des Textes identifizierbar ist, bleiben die Aussagesätze des Romans subjektlos. Gerade das ist vom Autor so beabsichtigt und soll zur Wirkung der neuen Form beitragen: My feeling is that for the nonfiction-novel form to be entirely successful, the author should not appear in the work. Ideally. Once the narrator does appear, he has to appear throughout, all the way down the line, and the I-I-I intrudes when it really shouldn’t. I think the single most difficult thing in my book, technically, was to write it without ever appearing myself, and yet, at the same time, create total credibility.23

Capotes Ideal vom Roman nähert sich damit Flauberts Auffassung, dass der Autor in seiner Schöpfung (wie Gott) schweigen solle. Aus der Sicht des Lesers nähert sich das Buch damit allerdings auch der Fiktion, denn die dargestellte Realität erscheint nun wie vom Autor geschaffen, nicht aber empirisch recherchiert und beobachtet. Der Immersionseffekt – die Illusion, ohne Vermittlungsinstanz der geschilderten Wirklichkeit beizuwohnen – dürfte dadurch tatsächlich stärker sein als bei einer Erzählung, in welcher der Erzähler/Autor das fiktionale Erleben des Lesers durch Kommentare und Reflexionen unterbricht, und man darf vermuten, dass dies einer der Gründe für Capotes Entscheidung, nicht als Autor präsent zu sein, gewesen ist.24 Das tatsächliche Zustandekommen der Erzählung aufgrund von Fakten wird durch die Erzählstruktur ausgeblendet und es wird stattdessen der Eindruck einer realistischen Fiktion – analog auch zum ‚klassischen‘ Film mit ‚unsichtbarem Beobachter‘ – erweckt. In einer Erzählung postmoderner Prägung – wie sie der Leser zu Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts seit langem gewohnt ist – hätte der Autor stattdessen seine Nachforschungen auf einer metanarrativen Ebene mitteilen und auf diese Weise beim Leser den Eindruck des Authentischen verstärken können. Capote informiert lediglich summarisch im Paratext über die Recherche, ohne dass die Masse der Details im Einzelfall wirklich plausibel als nachgeprüft erscheint. Die gewählte

|| 22 Ders., In Cold Blood (Anm. 10), ohne Paginierung. 23 Ders. zit. in George Plimpton (Anm. 20). 24 Imaginative Immersion des Lesers ist freilich nicht auf Fiktionen beschränkt; nach Kendall L. Walton kann sich das Make-Believe-Spiel ebenso an faktualen Texten realisieren (vgl. Mimesis as Make-Believe [Anm. 1], 71f.). Remigius Bunia hat für das Phänomen, das sowohl faktualen wie fiktionalen Texten in unterschiedlichem Maße eignen kann, den Begriff ‚Ästhetogenie‘ geprägt (vgl. „Poetische Sprache und Ästhetogenie. Zum semantischen Gehalt von Äußerungen jenseits ihres propositionalen Gehalts“, in: Sprache und Literatur 46.1 [2015], 54–73).

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Erzählstruktur stellt also den vorgeschlagenen Pakt und die vom Autor angestrebte ‚totale Glaubwürdigkeit‘ tendenziell in Frage. Konfrontiert mit einer scheinbar allwissenden Erzählinstanz, muss der Leser sich daher immer von Neuem daran erinnern, dass die Propositionen durch den vom Autor avisierten faktualen Pakt gedeckt sind, selbst solche, in denen Empfindungen und Wahrnehmungen des Mörders Perry Smith25 oder scheinbar nebensächliche Details geschildert werden, die kaum die Funktion des Dokumentarischen erfüllen, aber als effet de réel im Sinne Barthes’ wirken. Immerhin wäre denkbar, dass selbst solche Elemente auf Recherchen und Beobachtungen basieren und so von Capote nicht als erfunden angesehen werden. Die Herkunft intimer Kenntnisse über die Zeit in der Todeszelle wird etwa im Text selbst durch den Hinweis ‚erklärt‘, dass die Mörder im Gefängnis Besuche eines Journalisten erhielten,26 in dem der Leser den Autor selbst vermuten darf. Die Dissonanz zwischen dem vorgeschlagenen Pakt und der Erzählstruktur führt aber dennoch dazu, dass die einzelnen Assertionen nicht unbedingt dem Autor direkt zugeschrieben werden, sondern der ungreifbaren, scheinbar anonymen Erzählinstanz. Der Leser dürfte also geneigt sein, hier doch eher von einer doppelten Kommunikationssituation auszugehen, in der er die Aussagen über die Diegese unter Vorbehalt auffasst, da sie von einer epistemisch nicht völlig ausgewiesenen und kontrollierbaren Beobachterposition aus wahrgenommen und durch eine nicht identifizierbare Erzählerstimme vermittelt werden. Sollte der Leser sich dennoch auf einen faktualen Vertrag einlassen, müsste er den paratextuellen Aussagen des Autors grundsätzlich dahingehend vertrauen, dass dieser die Geschichte vom Mord an einer Farmerfamilie in Kansas nach bestem Wissen und Gewissen erzählt, ohne dem Geschehen etwas hinzuzufügen, was nicht auf Beobachtungen, Informationen und Deduktionen, sondern auf Phantasien beruht. Die durch die Erzählstruktur genährte Skepsis müsste für die Dauer der Lektüre gewissermaßen ignoriert werden. Wie die Beglaubigung durch den Autor von einer Position außerhalb des Textes vorgenommen wird, dieser selbst aber im Text abwesend ist, nimmt der Leser in der doppelten Kommunikationssituation die Rolle des fiktiven Adressaten ein und lässt sich auf die diegetische Welt als eine ‚Als-ob-Realität‘ ein. Die einzelne Aussage wird nicht direkt dem Autor angerechnet, sondern der von ihm eingeführten Erzähl-

|| 25 „As the black Chevrolet regained the highway and hurried on across a countryside imperceptibly ascending toward the colder, cracker-dry climate of the high wheat plains, Perry closed his eyes and dozed off into a food-dazed semi-slumber, from which he woke to hear a voice reading the eleven o’clock news. He rolled down a window and bathed his face in the flood of frosty air. […] Signs, their messages ignited by the car’s headlights, flared up, flew by: ‘See the Polar Bears’, ‘Burtis Motors’, ‘World’s Largest FREE Swimpool’. Wheat Lands Motel, and, finally, a bit before the street lamps began, ‘Howdy, Stranger! Welcome to Garden City. A Friendly Place’“ (Truman Capote, In Cold Blood [Anm. 10], 53). 26 Vgl. ebd., 331.

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instanz, die die Einheit und Kohärenz der erzählten Realität herstellt, während der Autor sich dem Leser gegenüber für den Wahrheitsgehalt dieser Realität verbürgt. Wie bei einem Roman bewertet der Leser einerseits den ästhetischen Anspruch und wie bei einem dokumentarischen Bericht integriert er die mitgeteilten Sachverhalte in sein Weltwissen. Der Film Capote beansprucht als Dokudrama oder Biopic, die Ereignisse um den historischen Autor Truman Capote, seine Recherche und die Entstehung des Romans darzustellen, wobei die gesamte Handlung mit Schauspielern zumeist nicht an Originalschauplätzen nachgestellt (reenacted) wird. Wenngleich sich die Kategorien der Erzählanalyse nicht ohne weiteres von literarischen Texten auf Filme übertragen lassen und es unter Theoretikern umstritten ist, ob und auf welcher Ebene im fiktionalen Film von Autoren27 und Erzählern28 zu sprechen ist, soll hier mit Seymour Chatman29 und Markus Kuhn30 angenommen werden, dass es notwendig und sinnvoll ist, die Erzählstruktur von Filmen mithilfe einer adaptierten narratologischen Terminologie zu beschreiben, um die produktionsseitigen Festlegungen angemessen zu analysieren. Markus Kuhn hat Chatmans Konzept des cinematic narrator im Sinne einer „filmischen Erzählinstanz“ aufgegriffen, für die der reale Regisseur und das Filmteam verantwortlich sind,31 diese differenziert Kuhn aber zugleich in eine ‚zeigende‘ (audio-)visuelle Erzählinstanz, und eine ‚erzählende‘ sprachliche Erzählinstanz.32 Beide wirken bei der Konstitution der diegetischen Welt zusammen und werden von einem impliziten Autor eingesetzt. Aus dieser Perspektive ließe sich auch Capote im Sinn einer verdoppelten Kommunikationssituation verstehen. Die visuelle Erzählinstanz zeigt die Welt Truman Capotes in der Zeit seiner Arbeit an dem Romanprojekt und lädt den Zuschauer dazu ein, in der Modalität des ‚Als-ob‘ die historische Figur und ihre Gesprächspartner zu beobachten. Der implizite Autor (ein kollektiver Agent, der von Regisseur, Kameramann, Drehbuchautor und Darstellern maßgeblich bestimmt wird) organisiert das komplexe ‚Material‘ auf eine Weise, die in ihrer

|| 27 Aaron Meskin diskutiert die verschiedenen Einwände gegen Autorschaft im Film und kommt insgesamt zu einer eher positiven Einschätzung: „That is, we can and should allow that there are both real empirical authors and authors as they are seen in their works (i.e., author constructs or implied authors)“ („Authorship“, in: Paisley Livingston/Carl Plantinga [Hg.], The Routledge Companion to Philosophy and Film, London/New York: Routledge 2009, 12–28, hier: 23). 28 Die einflussreiche Position von David Bordwell weist die Vorstellung einer Erzählstimme oder eines Filmerzählers prinzipiell zurück, da diese ‚anthropomorphe Fiktion‘ der Dynamik und Komplexität des filmischen Erzählprozesses nicht gerecht werde. Stattdessen sei die Funktionsweise der Filmerzählung aufgrund der Konstruktionsprozesse von Seiten des historischen Zuschauers her zu rekonstruieren (vgl. Narration in the Fiction Film, London: Methuen 1985, 62) 29 Seymour Chatman, Coming to Terms. The Rhetoric of Narrative in Fiction and Film, New York: Cornell UP 1990. 30 Markus Kuhn, Filmnarratologie. Ein erzähltheoretisches Analysemodell, Berlin: De Gruyter 2011. 31 Ebd., 84. 32 Vgl. ebd., 85.

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Gesamtheit ein möglichst wahrheitsgetreues Bild Truman Capotes und der mit seinem Schaffensprozess verbundenen ethischen Probleme vermitteln soll. Im bereits zitierten Artikel von Noël Carroll entwickelt dieser den Begriff der ‚mutmaßlichen Behauptung‘ (presumptive assertion) und vergleicht ihn mit der ‚einfachen‘ Assertion (non-defective assertion im Sinne John Searles) des Dokumentarfilms (im engen Sinn).33 Mutmaßliche Behauptungen gelten demnach für filmische Darstellungen, die mit Hilfe von reenactment zustande kommen, aber den Anspruch erheben, historische Fakten zu repräsentieren: That is, they [the spectators] are presumed to involve assertion even in cases where the filmmaker is intentionally dissimulating at the same time that he is signaling an assertoric intention. Moreover, in light of this presumption, the films in question are assessed in terms of the standard conditions for non-defective assertion, including: that the film-maker is committed to the truth (or plausibility, as the case may be) of the propositions the film expresses and that the propositions expressed in the film are beholden to the standards of evidence and reasoning appropriate to truth (or plausibility) claims that the film advances.34

Dass Filme, die sich als faktengetreu präsentieren, vom Publikum beim Wort genommen und Verstöße gegen die historische Treue dann zu Recht kritisiert werden, wird auch von einigen anderen Autoren als angemessene Praxis verteidigt.35 Die Nähe zur Realität soll bei Capote gesichert sein durch die enge Zusammenarbeit des Drehbuchautors Dan Futterman mit Kenneth Clarke, dessen über 13 Jahre recherchierte CapoteBiographie dem Film zugrunde liegt. Futterman erhielt von Clarke außerdem exklusiv Einblick in Briefe der Mörder an Capote, so dass die Dialoge sich meistens Wort für Wort an dokumentierte Aussagen halten.36 Capote geht also über die gängige Formel, ein Film ‚beruhe auf historischen Ereignissen‘ weit hinaus, indem er ungewöhnlich akribisch bis in Details hinein zu rekonstruieren vorgibt. Das betrifft vor allem auch die schauspielerische Leistung. Philip Seymour Hoffman studierte eingehend die von Clarke zur Verfügung gestellten Interviewaufzeichnungen, um Stimme und Tonfall Capotes für seine Rolle möglichst exakt zu imitieren. Es handelt sich also um ein reenactment mit ähnlich hohen Ansprüchen an die Faktentreue bei gleichzeitig beabsichtigter Fiktionalitätswirkung, wie das Buch In Cold Blood zugleich nonfiction und novel zu sein prätendiert. Und wie das Buch, enthält der Film einen ästhetischen ‚Überschuss‘, der einerseits stark die Immersion fördert und damit beim Leser/Zuschauer den Eindruck von Fiktionalität erweckt, auf der anderen Seite aber

|| 33 Vgl. Noël Carroll, Fiction (Anm. 1), 154f. 34 Ebd., 162. 35 Vgl. Gregory Currie, Arts and Minds (Anm. 1); Frank Kessler, „Fakt oder Fiktion? Zum pragmatischen Status dokumentarischer Bilder“, in: montage/av 7.2 (1998), 63–78; Murray Smith, „Double Trouble. On Film, Fiction, and Narrative“, in: Storyworlds 1 (2009), 1–23. 36 Vgl. Gerald Clarke, “Capote, the Movie. A Biographer’s Story”, http://www.geraldclarke.com/ comments.htm [Zugriff am 20.07.2016].

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den Anspruch erhebt, dass diese Immersion in eine diegetische Welt erfolgt, die der realen äußerst nahesteht, wenngleich zumindest der Film allein aufgrund seiner Herstellungsweise als Fiktion gelten muss. Aber möglicherweise schafft die Betrachtung des zweiten Aspekts hier zusätzliche Klarheit.

2 Der ontologische Status des Dargestellten Gemäß den geltenden Konventionen ist in der faktualen Darstellung das Dargestellte durchweg real, während in Fiktionen in der Regel Imaginiertes präsentiert wird. Nicht für alle Autoren sind jedoch die in einer Fiktion dargestellten Objekte und Personen gleichermaßen fiktiv. Zipfel unterscheidet (mit Pavel u.a.) drei Kategorien von Elementen fiktionaler Darstellungen: „native objects (originär fiktive Objekte), immigrant objects (aus der Realität übernommene Objekte) und surrogate objects (aus der Realität entlehnte, jedoch signifikant abgewandelte Objekte)“.37 Immigrant objects bilden den Hintergrund der Erzählung und sind lediglich durch ihre Relation zur fiktiven Handlung fiktionalisiert (die Stadt London in Sherlock Holmes); surrogate objects haben ebenfalls ein reales Pendant, sind aber durch die fiktionale Darstellung verändert (Napoleon in Krieg und Frieden); native objects schließlich sind genuine Erfindungen (die Figur Wilhelm Meister, die „Blaue Blume“ etc.). In faktualen Werken dagegen, dürfen keinerlei Ficta, sondern ausschließlich Facta vorkommen. Sowohl War als auch Restrepo lassen keinen Zweifel daran aufkommen, dass die zur Darstellung kommenden Personen und Situationen durchweg auf die Realität des Kriegs in Afghanistan referieren. Man kann wohl darauf vertrauen, dass das faktuale Paktangebot seitens der Autoren eingehalten ist, d.h., dass die beschriebenen bzw. gezeigten Personen und Sachverhalte tatsächlich verifizierbar sind. Das Internet ermöglicht es heute, die Faktentreue in einem dynamischen und interaktiven Prozess zu verifizieren und lässt den Autoren wenig Spielraum für Ungenauigkeiten oder gar Täuschungen, besonders bei Werken, die intensiv rezipiert werden und im Brennpunkt des Interesses von Beteiligten, Augenzeugen und Sachkundigen stehen, wie es bei Restrepo und War der Fall war. Ein entsprechender öffentlicher Korrekturprozess ereignete sich z.B. im Fall eines früheren nicht fiktionalen Buches von Junger über einen Mord, der sich 1963 in Boston ereignet hatte (A Death in Belmont, 2007). Zahlreiche Leser und Augenzeugen hatten vermeintliche Verzerrungen des Sachverhalts auf verschiedenen Plattformen reklamiert und so auch die Gültigkeit des Paktes bestätigt, auf dessen Grundlage sämtliche Sachverhalte als Facta mit der Realität abgeglichen werden können.38 || 37 Vgl. Frank Zipfel, Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität (Anm. 1), 97f. 38 Siehe die Kommentare von Käufern des Buchs auf amazon.com: „flirting with fiction“ von „Linda“, 10.07.2016; „Personal book, but flawed research“ von „Lisa J. Steele“, 04.05.2010; „Dishonest“ von

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Wenn für das Buch War gelten kann, dass die Darstellung durchwegs auf Reales referiert, so ist dies beim Film Restrepo ähnlich. In gewisser Weise realisiert er sogar Gregory Curries Konzept einer „ideal documentary“, da er – mit Ausnahme der eingeblendeten Textinserts – ausschließlich Aufzeichnungen verwendet, die nichts anderes darstellen als die gefilmten Personen und Handlungen: „An ideal documentary is a filmically sustained narrative the constitutive film images of which represent only photographically: they represent only what they are of.“39 Entscheidend ist für Currie, dass der Film – wie die Fotografie – auf mechanischen Spuren („traces“) beruht, die lediglich das aufgezeichnet haben, was sich physisch zum Zeitpunkt der Belichtung vor dem Kameraobjektiv befand und aufgrund der technischen Bedingungen erfasst werden konnte; diese Spuren unterscheiden sich grundsätzlich von Kunstwerken (Zeichnungen, Gemälden etc.), die ihren Gegenstand immer schon gefiltert durch menschliche Wahrnehmung und Interpretation darstellen und von Currie als Zeugnisse („testimony“) bezeichnet werden.40 Das Aufzeichnungsmaterial („trace content“)41 in Restrepo ist nicht einer zuvor von den Autoren formulierten Erzählung untergeordnet und konstituiert den Film fast durchgängig, in diesem Sinn entspricht es weitgehend den Forderungen an den idealen Dokumentarfilm, wie Currie sie später weiter ausgearbeitet hat: In an ideal documentary the only content the images have is trace content. This should not be taken to mean that documentaries lack narratives. What is meant is simply that, in a documentary, the images we see do not acquire content from the narrative. They have their trace content, and it is presumed that this trace content coheres, to a high degree, with the narrative of the film.42

Insofern der Film aus authentischen Aufzeichnungen von genau dem Kriegseinsatz – einschließlich der später entstandenen Interviews – und genau den Soldaten besteht, die er darzustellen behauptet, trifft die von Currie verlangte Kohärenz hier zu;

|| „Alexa“, 03.04.2007; „Response to Lila“ von „Friend of Leah Goldberg“, 09.05.2006, http://www. amazon.com/Death-Belmont-P-S-Sebastian-Junger/dp/0060742690/ref=sr_1_1?ie=UTF8&qid=1431194 346&sr=8-1&keywords=Junger+belmont. Außerdem: Joshua Marquis, „The Perfect Muddle: Sebastian Junger’s new book“, http://coastda.blogspot.com.br/2006/04/perfect-muddle-sebastian-junger-new. html; sowie die Rezensionen von Cullen und Dershovitz: Kevin Cullen, „In Belmont, an imperfect story. Junger tries to add one more murder to Strangler’s list“, in: The Boston Globe, 30.06.2006, http://archive.boston.com/ae/books/articles/2006/04/30/in_belmont_an_imperfect_story/?page=full; Alan M. Dershowitz, „The Belmont Strangler“, in: The New York Times, 16.04.2016. http://www. nytimes.com/2006/04/16/books/review/the-belmont-strangler.html?_r=0 [letzter Zugriff auf alle angegebenen Seiten am 20.07.2016]. 39 Gregory Currie, „Visible Traces: Documentary and the Contents of Photographs“, in: The Journal of Aesthetics and Art Criticism 57.3 (1999), 285–295, hier: 291. 40 Ebd., 286. 41 Gregory Currie, Arts and Minds (Anm. 1), 71. 42 Ebd.

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Noël Carroll bezeichnet diesen Typus als Dokumentarfilm im engeren Sinn.43 Im Unterschied zu Restrepo arbeiten in der Tat viele Dokumentarfilme mit einem von den Autoren formulierten Konzept, Skript oder Plot und illustrieren dies dann mit Archivmaterial, gestellten Szenen oder Animationen. Restrepo wurde zeitgleich mit den Ereignissen vor Ort gedreht und bietet daher nur authentischen trace content. Ziel war schließlich, eine amerikanische Einheit über einen gewissen Zeitraum an einem besonders brisanten Frontabschnitt zu begleiten, ohne dass vorher absehbar war, was sich im Einzelnen ereignen würde. Das Problem bestand am Ende eher darin, aus der großen Menge ‚abgefilmten Lebens‘ eine Art ‚Geschichte‘ zu formen, die den Krieg aus der Perspektive der GIs zeigt und gleichzeitig den Ansprüchen eines an aktionsreiche Kriegsfilme gewöhnten Publikums genügt. Dies wurde vor allem durch Selektion, Schnitt und die Kombination der Einsatzszenen mit entsprechenden Interviewausschnitten erreicht. Die sprachliche Erzählinstanz des Films besteht charakteristischerweise nicht aus einem von den Autoren produzierten Text, sondern aus den in nachträglichen Interviews getätigten Aussagen der Soldaten, die mit entsprechenden Filmaufnahmen der audiovisuellen Erzählinstanz montiert wurden. Zwar beziehen sich die Interviewten anscheinend nicht direkt kommentierend auf die gezeigten Filmabschnitte, und der Zusammenhang wurde nachträglich durch den Schnitt hergestellt; aber die Erzählung der visuellen Erzählinstanz bliebe ohne die ‚Kommentare‘ für den Zuschauer weitgehend unverständlich. Insofern besteht der Film für den Zuschauer nahezu ausschließlich aus den darzustellenden ‚Objekten‘ (mit Ausnahme der Textinserts). Was die Autoren durch Selektion und Schnitt beigetragen haben, bleibt ebenso unsichtbar wie der Kameramann und der Interviewer. Der Zuschauer bekommt auf diese Weise den Eindruck, den Szenen direkt (mit dem Auge der Kamera) beizuwohnen – ein Effekt, der dem subjektlosen Erzähler von In Cold Blood ähnelt und wohl auch hier der Spannungsintensivierung dienen soll. Dennoch sind die Wirkungen nicht gleichzusetzen, denn der Roman verzichtet bewusst darauf, die Vermitteltheit der Erzählung in den Fokus zu rücken, während der Dokumentarfilm seine Vermitteltheit durch die (Hand-)Kamera mit ihren ständig wechselnden Positionen gerade bewusst macht. Zweifellos bilden auch Auswahl und Schnitt Eingriffe, mit denen formend und konstruierend auf die Gestalt des Endprodukts Einfluss genommen wird. Dennoch soll hier der mit dem Begriff des trace content erfasste Aspekt hervorgehoben werden: dass der Zuschauer im Wesentlichen mit den authentischen Reden und Handlungen der Betroffenen konfrontiert wird und sich auf dieser Grundlage seine Meinung über deren Situation bildet. In der Terminologie von Carl Plantinga handelt es sich bei Restrepo um einen „observational film“, der – im Unterschied zum „expository film“ –

|| 43 Vgl. Noël Carroll, Fiction (Anm. 1), 163.

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gerade die Beobachtung am konkreten Objekt privilegiert.44 Im Buch betont Junger in der „Author’s Note“ zudem, dass von Seiten der Armee niemand versucht habe, seine Notizbücher oder Filme zu überprüfen, oder ihn zu irgendeiner Tendenz nötigen wollte. Man könnte einwenden, dass die Präsenz der Kamera und der Reporter das Verhalten der Kämpfer beeinflusst und insofern zu Abweichungen von der ‚normalen Realität‘ führt, dass also die Herstellung des Films die ‚Authentizität der Wirklichkeit‘ verzerrt. Das ändert aber nichts daran, dass die Soldaten sich vor der Kamera genauso verhalten haben, wie es der Film zeigt und wie es ihnen in der Situation (im Einsatz mit Kamerabegleitung) geboten schien. Insofern ist die Identität von historischer und dargestellter Welt im Falle dieses Dokumentarfilms recht eindeutig. Man kann sogar sagen, dass diese Identität im Film, bedingt durch das Medium, eindeutiger ist, als im Falle der Buchreportage, da es sich hier eben um Aufzeichnungen, d.h. um Spuren von Realität handelt, wohingegen im sprachlichen Medium von vornherein menschliche Wahrnehmungen, die von einem Bewusstsein koordiniert und interpretiert wurden, zu einer sinnhaltigen kohärenten Darstellung geformt werden. Perspektive und Selektion sind in beiden Werken wirksam. Die Kontingenz des Realen ist aber in den mechanischen Aufzeichnungen (wie sehr auch immer die Auswahl und Nachbearbeitung hier eingegriffen haben mögen) immer in einem Maße präsent, das die kognitiven Leistungen eines Menschen nie gewährleisten können. Dafür vermag der Text, einen höheren Grad an Kohärenz herzustellen und das Material besser in die kulturell gegebenen Wissensbestände zu integrieren. Junger tut dies unter Zuhilfenahme historischer und soziologischer Untersuchungen, die das beobachtete Geschehen in kausale Zusammenhänge einordnen und so verstehbar erscheinen lassen. In beiden Fällen sind die Objekte der Darstellung eindeutig Facta. In welcher Beziehung steht nun die Realität des Romans In Cold Blood zur tatsächlichen Wirklichkeit? Aus dem bereits Gesagten wird deutlich, dass hier eine Differenz vorliegen muss. Die relevante Frage ist jedoch, worin diese besteht, wenn der Autor, wie er behauptet, trotz romanhafter Technik ausschließlich Fakten zur Darstellung bringt? Im Vergleich zu typischen Fiktionen dürfte es hier keinerlei native objects (also genuine Erfindungen) geben, allenfalls wären die Bestandteile des Settings als immigrant objects anzusprechen und die auftretenden Personen entsprechend als surrogate objects zu klassifizieren. Dies scheint jedoch angesichts des vom Autor vertretenen Wirklichkeitsanspruchs der Darstellung unangemessen. Für den Leser enthält der Roman zunächst nur Elemente, die auf die Realität der in den Mord involvierten Menschen referieren, und keine fiktional veränderten Figuren und Sachverhalte. Die an der Analyse ‚klassischer‘ Fiktionen entwickelte Terminologie greift hier nicht richtig, da der Roman eben keine vom Autor erfundene Welt präsentiert, sondern eine spezifische Darstellung der bestehenden.

|| 44 Vgl. Carl Plantinga, „What a Documentary Is, After All“, in: Journal of Aesthetics and Art Criticism 63.2 (2005), 105–117, hier: 110.

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Es scheint sinnvoll, sich klar zu machen, wie der Roman zustande gekommen ist. Im Unterschied zu Junger ist Capote nicht Augenzeuge eines Großteils des Geschehens gewesen; das betrifft vor allem den Mord an sich, seine Vorgeschichte und die Zeit bis zur Festnahme der Mörder Perry Smith und Richard Hickock – also mehr als zwei Drittel der Handlung. Sein Wissen speist sich aus Gesprächen mit Augenzeugen, Indizien, kriminalistischen Erwägungen, Einlassungen der Verdächtigen und Beobachtungen an den Orten der Handlung, wobei die Zusatzinformation nicht ganz unerheblich ist, dass der Autor handschriftliche Notizen und mechanische Aufzeichnungen während der Gespräche aus Prinzip ablehnte.45 Dieses Wissen besteht aus einer Unmenge fragmentarischer Elemente, die sich erst in der Vorstellung des Autors zu zwei sinnvollen und plausiblen Handlungssträngen ordnen. Der Autor will dem Leser die eigentliche Geschichte erzählen, nicht die Geschichte der Rekonstruktion, daher blendet er seine Person aus und präsentiert das, was sich in seiner Vorstellung herauskristallisiert hat, als die Welt des Mordes und dessen Aufklärung. Aber damit nicht genug: Die Erzählung ist reich an sensorischen und scheinbar zufälligen Details, die jedes für sich und im Verein den romanhaften Effekt ausmachen. Man könnte mit Remigius Bunia solche Elemente möglicherweise als „quasi-fiktional“ bezeichnen, da sie (immer vorausgesetzt, der Autor hat den Roman tatsächlich gemäß seinen eigenen Authentizitätsbeteuerungen verfasst) auf Inferenzen beruhen: Der Autor hat auf der Grundlage des ihm vorliegenden Datenmaterials die Lücken zwischen den Fakten geschlossen, unter Berücksichtigung der Psychologie der jeweiligen Personen und der allgemeinen Bedingungen vor Ort. In seiner Vorstellung bildete sich auf diese Weise ein kohärenter Überblick über die Situation, den er mit der ihm eigenen sprachlichen Virtuosität ausdrückt.46 Aber hierin liegt möglicherweise der Schlüssel zur ontologischen Differenz der Welten: Der Roman präsentiert eine vom Autor auf der Basis von Fakten imaginierte Welt. Diese Welt ist nicht ‚erfunden‘, sondern verwendet in extrem hohem Maße reale Objekte und reale Sachverhalte,47 die aber mit den quasi-fiktionalen Elementen zu

|| 45 Vgl. Leonora Flis, Factual Fictions: Narrative Truth and the Contemporary American Documentary Novel, Newcastle upon Tyne: Cambridge Scholars 2010, 205. 46 Vgl. Remigius Bunia, Faltungen. Fiktion, Erzählen, Medien, Berlin: Schmidt 2007, 206–214. 47 Dass Capote seinem eigenen Anspruch nicht völlig gerecht wurde, ist vielfach nachgewiesen worden, auch, dass er von der Publikation im New Yorker zum Buch mehrere tausend Veränderungen vorgenommen hat. Bei der Überprüfung der Fakten wurden vor allem viele Details moniert (war die Tätowierung auf Smiths rechtem oder linken Arm?), aber auch schwerwiegendere Verstöße wie das Einfügen einer offenbar erfundenen Szene am Ende des Romans (der Detektiv trifft die Freundin der Ermordeten auf dem Friedhof). Die Frage ist aber, ob dies den spezifischen faktualen Pakt an sich in Frage stellt. Dies wäre nur der Fall, wenn Leser aufgrund solcher Entdeckungen den Roman als Ganzes nicht mehr als referentiell einstufen würden. Vgl. Jack de Bellis, „Visions and Revisions: Truman Capote’s In Cold Blood“, in: Journal of Modern Literature 7 (1979), 519–537; Leonora Flis, Factual Fictions (Anm. 45). Ralph G. Voss kommt trotz der hohen Zahl größerer und kleinerer Verzerrungen und einer allgemein skeptischen Einschätzung der Gattung non-fiction novel zu dem Schluss:

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einer Gesamtheit verflochten werden, für die keine völlige Übereinstimmung mit der realen Welt mehr gewährleistet werden kann.48 Der Charakter der Welt von In Cold Blood ist also deutlich unterschieden von dem der Welt der Reportage Jungers, die vor allem auf Beobachtung und Erinnerung beruht und die von Capote erreichte Beschreibungsdichte weder anstrebt noch erreicht. Auch der Historiker konstituiert seine Erzählungen aufgrund von Deduktionen und Inferenzen, aber sein Ziel ist nicht, dem Leser zur Immersion in die Darstellung der vergangenen Welt zu verhelfen, sondern – unter Beschränkung auf belegbare Informationen – den Nachvollzug einer Argumentation zu ermöglichen. In Historiographie und Reportage ist die Beschreibung generell weitmaschiger als in Capotes Roman und zudem eingebettet in die Forschungs- und Dokumentationsebene. Der Film Capote bildet ontologisch zunächst nichts anderes ab als die kinematographische Spur dessen, was sich zum Zeitpunkt der Dreharbeiten vor der Kamera befand. Insofern zeichnet er eine Studiorealität auf, die von der Realität Truman Capotes fundamental abweicht. Die vom impliziten Autor des Filmes konstruierte Darstellung soll jedoch eine andere, fingierte Realität vorspiegeln, die große Ähnlichkeit mit dem Leben Capotes in der bewussten Zeit aufweist. Um das zu erreichen, basiert das Drehbuch weitgehend auf Capotes non-fiction novel und Gerald Clarkes Biographie, d.h. sie bedient sich der bereits ausgeformten Geschichte vom Mord und einer strukturierten Vita, um aus beiden ein stimmiges Gesamtbild herzustellen und dieses mit vielen dokumentierten Details anzureichern. Ziel ist wie beim Roman eine Erzählung, welche die technischen Möglichkeiten des Mediums ausschöpft und dem Zuschauer den Eindruck authentischer Wirklichkeit bietet. Das Medium Film zwingt von vornherein dazu, Leerstellen zwischen den dokumentierten Fakten zu komplettieren: Der von der Kamera erfasste Raum muss mit konkreten Dingen, Personen, Handlungen und Worten ausgefüllt sein, von denen kein Dokument zu berichten weiß. Der Film muss folglich auch da, wo er seinen Vorlagen getreu folgt, Zuflucht in der Erfindung nehmen, die hier nicht mehr den

|| „In the final analysis, In Cold Blood does have a very high degree of factual reportage in it, and that reportage is all the more effective because it comes to us in third person, a seemingly omniscient Treatment that is painstakingly and brilliantly delivered“ (Truman Capote and the Legacy of In Cold Blood, Tuscaloosa: U of Alabama P 2011, 98). 48 Wenngleich die Beschreibung der allgemeinen Situation in Holcomb sich auch noch nach dem Mord hat plausibel recherchieren lassen, fordern vor allem immer wieder solche Stellen Zweifel heraus, in denen der Erzähler anscheinend die kognitive Perspektive eines Protagonisten einnimmt. Etwa, dass der getötete Farmer üblicherweise geweckt wurde von „clanging milk pails and the whispering chatter of the boys who brought them“ oder dass er nach dem Frühstück vor die Tür tritt und „ideal apple-eating weather“ vorfindet (Truman Capote, In Cold Blood (Anm. 10), 7, vgl. 10). Zwar mögen sich diese Aussagen aus Capotes Sicht mit den Fakten (der Wetterbericht, das de facto verzehrte Frühstück etc.) und entsprechenden Inferenzen legitimieren lassen, aber ein Historiker oder Journalist hielte sich hier eher zurück, weil es ihm weniger um das möglichst vollständige Darstellen von Realität als um nachprüfbare Fakten zu tun ist.

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Charakter der Inferenz hat, wie man das für den Roman geltend machen kann. Die Relation zur eigentlichen Realität ist indirekt, über zwei sprachliche Vorlagen vermittelt, die beide subjektiv strukturiert sind und von denen eine an fiktionale Darstellung angenähert ist. Die auf dieser Grundlage basierende Relation zur Realität kann nur eine der Ähnlichkeit sein. Wie der Hauptdarsteller sich der Erscheinung des Protagonisten annähert, ohne dass sein Aussehen Rückschlüsse auf die tatsächliche physische Erscheinung Capotes zuließe, so zeigt der Film insgesamt eine Handlung, die den Ereignissen um die Entstehung des Romans mehr oder weniger ähnlich ist, ohne konkrete Beobachtungen dessen zuzulassen, was wirklich gewesen ist. Im Unterschied zu Restrepo lässt sich an der Mimik des Protagonisten in Capote nicht erkennen, wie Truman Capote in bestimmten Situationen reagierte, sondern lediglich, wie Seymour Hoffman diese Reaktionen vorgestellt und ausgedrückt hat. Auch wenn die Immersion in die Filmrealität den Zuschauer (ungebrochen durch irgendwelche Brecht’schen Verfremdungseffekte) in dem Gefühl wiegt, authentischer Wirklichkeit beizuwohnen, sind es gerade die künstlerische Präsenz und das Charisma des Hauptdarstellers, die ins Bewusstsein rufen, dass es sich um eine Fiktion handelt. Wenn der Roman noch einen hohen Prozentsatz an Facta aufweist, zu denen sich die quasi-fiktionalen Elemente fügen, besteht das Dokudrama ausschließlich aus Szenen, die so, wie sie in der filmischen Umsetzung erscheinen, erfunden sind. Unter Anwendung der zuvor zitierten Terminologie, besteht der Film auf relevanter Ebene vor allem aus surrogate objects, also aus Elementen der Realität, die – mit Wissen des Zuschauers – auf der Basis einer künstlerischen Interpretation verwandelt wurden, wenngleich es hier letztlich weniger um Veränderung als um Ähnlichkeit geht. Weder die von In Cold Blood noch die von Capote beigebrachte Darstellung der Welt könnte denn auch als Quelle für die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Mord und/oder der Biographie des Autors dienen, was man im Fall von Jungers und Hetheringtons Werken nicht ausschließen mag.

3 Narrative Struktur Jungers Buchreportage War gibt keinen fortlaufenden chronologischen Bericht über den 15-monatigen Einsatz des 2. Platoons im Korengal Valley. Der Text ist in drei thematische Blöcke gegliedert – „Fear“, „Killing“ und „Love“ – und nähert sich so dem Essay an. Innerhalb dieser Blöcke ist die Chronologie grob gewahrt, aber viele Episoden werden aus ihrem historischen Kontext genommen und als Beispiele in die argumentative Struktur eingefügt. Digressionen mit Informationen aus Neurowissenschaften, Psychologie und Anthropologie durchsetzen den an den Ereignissen orientierten Erzählfluss zusätzlich. Während der erste Teil („Fear“) noch mit einer Zeitangabe einsetzt („spring 2007“), kann der Leser die meisten der folgenden Episoden nicht genau auf der Zeit-

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achse der 15 Monate verorten; die Kapitel beginnen zum Teil mit vagen Angaben, wie „I go to sleep one night mentally prepared for a twenty-four-hour operation called Dark City“,49 ohne dass klar wird, wann besagte Operation stattgefunden hat. Selbst der härteste Einsatz der Gruppe bleibt in seinem zeitlichen Verlauf diffus und ist eher paradigmatisch als ereignishaft: Inmitten der Beschreibung eines Taliban-Angriffs, der einen bei seinen Kameraden besonders beliebten GI das Leben kostet, unterbricht Junger die Darstellung auf dem Höhepunkt der Spannung durch einen psychologischen Exkurs zu Mut in Kampfsituationen, um die Handlung erst fünf Seiten später wiederaufzunehmen. Worin sich die Darstellungsform der Fiktion annähert, ist die szenische Präsentation bestimmter Situationen, die eher vergegenwärtigt als berichtet werden. Im Unterschied zu Capotes In Cold Blood, das ‚filmisch‘ wirkt, aber erst vom Autor in seiner konkreten Form imaginiert und erzählt wurde, hatte Junger die Möglichkeit, zusätzlich zur eigenen Anschauung auf Videoaufzeichnungen zurückzugreifen, was den epistemischen Status trotz dieser Schreibweise rechtfertigt. Die für den Leser nachvollziehbare Präsenz des Autors in den vergegenwärtigten Episoden bringt hier nicht automatisch den Verdacht des Fingierens ins Spiel; szenisches ‚Zeigen‘ ist lediglich eine narrative Technik der Gestaltung von Realem ohne zwangsläufige Konsequenzen für den Status des Erzählten. Der Dokumentarfilm Restrepo setzt sich aus drei verschiedenen Arten von Filmmaterial zusammen: einem Amateurclip, offenbar per Handy vor dem Einsatz von den Soldaten selbst gefilmt; Handkameraaufnahmen vom Kampfeinsatz; nachträglich im Studio gefilmte Interviews mit den beteiligten Soldaten. Der Vorspann beginnt mit einem Textinsert („Before deployment“) und dem Amateurvideo, das die Soldaten in bierseliger, ausgelassener Stimmung präsentiert; unter ihnen ist der bald darauf getötete Juan Restrepo. Es folgt, noch im Vorspann, die während einer Jeepfahrt per Handkamera aufgezeichnete Explosion einer Autobombe, woran sich eine Studioaufnahme anschließt, die den verantwortlichen Hauptmann Kearney mit Ausführungen zu seinen Plänen vor Beginn der Kampagne zeigt. Erst dann beginnt die mit Filmtitel und Autorennamen unterlegte Eingangssequenz: von jenen Hubschraubern, die die GIs zum Außenposten bringen, gefilmte Aufnahmen, die als Establishing Shots weite Rundblicke über die mächtigen Berge und Täler bieten. Diese Einstellungen sind mit Musik aus dem Off hinterlegt. Sie werden unterbrochen von kurzen Ausschnitten aus den später entstandenen Studioaufnahmen, in denen die Soldaten sich an ihre Eindrücke beim Anflug auf das Korengal Valley erinnern; ihre Köpfe erscheinen in Großaufnahme vor schwarzem Hintergrund, die Namen und Dienstgrade werden eingeblendet. Diesem ästhetischen Konstruktionsprinzip gehorcht der gesamte Film: Die audiovisuelle Erzählinstanz präsentiert das geschnittene Material vom Einsatzort; die sprachliche Erzählinstanz zeigt die Nahaufnahmen

|| 49 Sebastian Junger, War (Anm. 9), 169 (meine Hervorh.).

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der Soldaten in Zivil (‚talking heads‘) – ohne jeden Hinweis auf Interviewer, gestellte Fragen, Drehort und -zeitpunkt; als zusätzliches Element der sprachlichen Erzählinstanz fungieren die wenigen knappen Textinserts, die wie Zwischentitel eingesetzt werden. Die Bilder aus dem Korengal Valley folgen einer teils chronologisch, teils thematisch organisierten Struktur von der Ankunft bis zur Abreise. Sie sind aber in sich so fragmentarisch, dass sie weitgehend unverständlich blieben, würden sie nicht von den Stimmen der Soldaten kommentiert, die oft schon hörbar werden, bevor die Bildspur zum Sprecher überblendet. Der rote Faden der Erzählung ergibt sich für den Betrachter erst aus den Kommentaren, die sich ihrerseits aus der Montage verschiedener längerer Sequenzen konstituieren. Offensichtlich sind die Interviews unabhängig von und zeitlich nach den Bildern vom Einsatz entstanden, auch wenn sie thematisch ebenfalls auf die dort gemachten Erfahrungen Bezug nehmen.50 Die Bilder vom Einsatzort erhalten Bedeutung durch die Aussagen der Soldaten, die sich an die jeweiligen Situationen erinnern und ihre Meinungen und Gefühle dazu äußern. Es gibt keine auktoriale Stimme; die Kohärenz der Erzählung entsteht implizit aus der Beziehung zwischen Erinnerungen und Bildern sowie der Selektion und Sequenzierung durch die Autoren.51 In den Interviewsequenzen sitzen die Soldaten offenbar der Person gegenüber, die die Fragen stellt, die jedoch – neben oder hinter der Kamera positioniert – selbst unsichtbar bleibt. Die visuelle Ruhe dieser Sequenzen bildet einen scharfen Kontrast zur Aktion (auch der Kamera) in den Kampfszenen; im Verein mit der tendenziellen Sprachlosigkeit der GIs, ruft dies beim Zuschauer den Eindruck von zwei radikal verschiedenen Sphären hervor: einer der absoluten Lebensbedrohung und einer der Leere und Hilflosigkeit, in der die Erlebnisse gleichzeitig abwesend sind und fortwirken. Insofern wirkt auch die ästhetische Struktur an der Bedeutungskonstitution mit. Auch wenn das visuelle und akustische Material ausschließlich auf die realen Personen und Ereignisse referiert, ist es intensiv durch die Autoren geformt worden. Junger52 erwähnt im Buch, dass für den neunzigminütigen Film eine Auswahl aus 150 Stunden Videomaterial getroffen wurde. Selbst die Explosion der Autobombe im Vorspann wird bei genauem Hinsehen nicht in einer einzigen durchgehenden Einstellung gezeigt: Während die Tonspur (Stimmen aus einem Funkgerät) scheinbar

|| 50 Es macht nicht den Eindruck, man hätte den interviewten Soldaten den Film vorgespielt, denn sie scheinen nicht von den Bildern zu sprechen, sondern von ihren vor Ort gemachten Erfahrungen. 51 Musik aus dem Off wird im Film nur am Anfang und am Ende eingesetzt: ein fremdartiges Lied bei der Ankunft der Truppe (nicht-europäischer, vermutlich folkloristischer Gesang aus Afghanistan, vorgetragen von einer extrem hohen weiblichen Stimme und begleitet vom Streichinstrument Ghaichak) und ein Popsong beim definitiven Abflug des Hubschraubers mit den Heimkehrern. Der Rest der Musik ist – wie der gesamte Ton des Films – ‚on‘: Musik aus MP3-Playern und Gitarrenspiel der GIs in der Freizeit. 52 Sebastian Junger, War (Anm. 9), 2.

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kontinuierlich weiterläuft, besteht die Bildspur aus einer Vielzahl von Einstellungen, die davon zeugen, dass die Dramatik der Handlung auch hier auf massiver Bearbeitung gründet. Bei der Selektion dürften subjektive Entscheidungen über die Relevanz von Themen und die Repräsentativität von konkreten Szenen eine Rolle gespielt haben.53 Die Autoren enthalten sich jedoch einer expliziten eigenen Interpretation. Das letzte Textinsert informiert darüber, dass der Außenposten Restrepo im April 2010 wieder aufgegeben wurde, nachdem 50 amerikanische Soldaten dort gefallen waren. Die lapidare Mitteilung steht in paradoxalem Gegensatz zur Filmerzählung und den energischen Bemühungen des Platoons. Hier scheinen die Autoren eine bestimmte Deutung nahezulegen, doch könnte der Zuschauer zu durchaus unterschiedlichen Schlüssen kommen, nämlich, dass der Einsatz dort (wie der ganze Krieg) sinnlos war, oder aber dass die Armeeführung die Anstrengungen dieser Männer durch eine dauerhaftere Präsenz hätte würdigen müssen. Insofern lässt sich nur sehr bedingt davon sprechen, dass die Autoren durch die Narration in deutlicher Weise Einfluss auf die Konstitution der dargestellten Welt genommen haben. Diese bleibt weitgehend determiniert durch die Handlungen der Soldaten vor Ort und die von den Protagonisten selbst vorgetragenen Erinnerungen und ist damit für einen Film denkbar weit von Fiktion entfernt. Capotes In Cold Blood bedient sich multiperspektivischer Darstellung: Die heterodiegetische Erzählinstanz richtet den Fokus zunächst auf die Mordopfer sowie -ermittler, und erst dann auf die Täter. Dies ist mit einer ‚natürlichen‘ Erzählinstanz54 im Sinne eines menschlichen Beobachters kaum vereinbar. Weder der Autor Capote, noch sonst ein als menschlich definierter homodiegetischer Erzähler könnten Dinge sehen und beschreiben, die nachweislich von niemandem beobachtet wurden, an verschiedenen Orten und z.T. zur selben Zeit stattfanden. Angesichts der Tatsache, dass das Zustandekommen der Darstellungen nicht im Rahmen der Erzählung motiviert wird, ist die Erzählerposition eine fiktive und künstliche, und sie verwandelt die Erzählung als solche in gewissem Maße in eine fiktionale, auch wenn die dargestellten Sachverhalte nicht erfunden sein mögen.

|| 53 Man kann den Film dafür kritisieren, dass nicht auf die Lage der Zivilbevölkerung und die Taliban eingegangen wird. Gemessen an dem gesetzten Ziel, die Situation der GIs zu dokumentieren und nicht eine komplette Analyse des Krieges zu liefern, kann dieses Argument allerdings kaum aufrechterhalten werden. Auffällig ist aber, wie viel direkte Beobachtungen (nicht ‚Erklärungen‘) zu dieser Thematik selbst die wenigen Szenen ermöglichen, in denen die Soldaten Kontakt zu den Talbewohnern aufnehmen. 54 Zu ‚natürlichen‘ und ‚unnatürlichen‘ Erzählungen vgl. Jan Alber, „Unnatural Narrative“, in: Peter Hühn et al. (Hg.), Handbook of Narratology, Bd. 2, Berlin/New York: De Gruyter 2014, 887–895; Jan Alber/Rüdiger Heinze (Hg.), Unnatural Narratives – Unnatural Narratology, Berlin: De Gruyter 2011; Rüdiger Heinze, „Violations of Mimetic Epistemology in First-Person Narrative Fiction“, in: Narrative 16.3 (2008), 279–297.

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Im Film Capote nimmt die audiovisuelle Erzählinstanz ebenfalls eine heterodiegetische Position ein und richtet den Fokus (fast) exklusiv auf den Protagonisten.55 Auch hier ist die Erzählinstanz nicht als humaner Beobachter vorstellbar, da der Schriftsteller immer wieder in ‚unbeobachteten‘, intimen Situationen gezeigt wird. Dies ist sicherlich eine für den Film überhaupt so charakteristische Erzählstruktur, dass sie kaum bewusst wird – allerdings gilt dies eben für den Spielfilm. Indem das Dokudrama Capote sich dieser fiktionstypischen Erzählinstanz bedient, überschreitet es, ganz ähnlich wie der Roman, eine der Grenzen zwischen Nicht-Fiktion und Fiktion. Während die unsichtbare Kamera in Restrepo dem Zuschauer als Medium permanent bewusst ist,56 wird die mediale Vermitteltheit in Capote komplett ausgeblendet und gerade so der notwendig fiktive Charakter der Erzählinstanz ausgestellt. Bezeichnenderweise folgen die ‚fiktionaleren‘ Darstellungen von In Cold Blood und Capote deutlicher einer ‚natürlichen‘ chronologischen Ordnung der Dinge, wie sie sich nur einem ‚idealen‘ Betrachter darbieten würde, der alle Ereignisse vom Ende der Geschichte her bequem überschauen und nacherzählen könnte.57 War und Restrepo müssen ihr Beobachtungsmaterial erst zu einer als kohärent erfahrbaren Geschichte zusammenfügen und zu diesem Zweck erkennbar montieren und selektieren, während der Roman und das Dokudrama scheinbar bereits über eine mehr oder weniger vollständige und geschlossene Sicht der Dinge verfügen, was freilich eine Illusion ist, denn sowohl Capote als auch Clarke (bzw. Futterman) mussten ja die lineare und kausale Struktur ihrer Geschichten erst erarbeiten. Im Dokudrama und im Roman liegt „narrative closure“ im Sinne von Noël Carroll vor,58 die von den Autoren in beiden Fällen angestrebt war. Wie man (nicht zuletzt aus dem Film!) weiß, war das Buch für Capote nicht ‚fertig‘, solange die Delinquenten noch nicht hingerichtet waren; er wartete also auf den Termin, um es abschließen zu können, und wurde nervös, als sich dieser hinauszögerte.59 Das Hybride seines Unternehmens zeigt sich

|| 55 Die Eingangsszene zeigt das Haus der Clutters und die Entdeckung der Mordopfer durch eine junge Frau – gewissermaßen die Exposition, bevor der Protagonist eingeführt wird, der am folgenden Tag auf den Zeitungsartikel in der New York Times stößt. 56 Dies ist bei einer Handkamera in nicht inszenierten Situationen nahezu unvermeidlich. 57 Lediglich die Mordszene wird in beiden Werken als Analepse präsentiert, aus der Perspektive der Täter im Polizeiverhör (Buch) bzw. als Beichte von Perry Smith gegenüber Capote (Film). Diese Abweichung von der Linearität der Erzählung ist deutlich als Spannungseffekt eingesetzt. 58 Vgl. Noël Carroll, „Narrative Closure“, in: Philosophical Studies 135. 1 (2007), 1–15. 59 Bezeichnenderweise bildet dieser vom Autor über Jahre ersehnte Moment zwar das Ende der Fabel, aber nicht das Ende des Diskurses. Die Narration schließt mit einer offenbar tatsächlich erfundenen Szene, in der der Detektiv Dewey lange vor der Hinrichtung auf dem Friedhof zufällig die Freundin der ermordeten Nancy Clutter trifft und mit dieser ins Gespräch kommt. Wenn Dewey bei der Hinrichtung rückblickend dieses Erlebnis als den von ihm eigentlich als angemessen angesehenen Schlusspunkt betrachtet, drückt sich darin offenbar ein Bedürfnis des Autors selbst aus, der das Buch nicht mit der staatlichen Gewalt – zu Beginn des Romans spricht er von sechs Morden – enden lassen wollte. Vgl. Leonora Flis, Factual Fictions (Anm. 45), 153f.

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vielleicht gerade in dieser Notwendigkeit, den letalen Abschluss der Handlung in der Realität abwarten zu müssen, damit die Erzählung die intendierte Form bekommen kann. Das Dokudrama beschließt die Geschichte ähnlich, mit der Behauptung, Capote habe nach In Cold Blood nie wieder einen Roman beenden können und wäre zusehends vereinsamt, was die tatsächlichen Verhältnisse etwas simplifiziert und dieser biographischen Episode eine emblematische Bedeutung für das restliche Leben des Autors zuschreibt. ‚Closure‘ in diesem substantiellen Sinne lässt sich weder in Restrepo, noch in War identifizieren, denn in beiden Fällen kommt zwar das Unternehmen als solches zu einem Ende (die Soldaten reisen ab, der Außenposten wird geschlossen), aber es wird – vor allem im Buch – klar, dass die Erfahrung für die Soldaten alles andere als abgeschlossen ist und sie physisch und psychisch unter den Erlebnissen leiden. Die jeweils von den Narrativen aufgeworfenen Fragen – darunter: Was bedeutet das zentrale Ereignis für die involvierten Personen? – werden also nur von Dokudrama und Roman, nicht aber von der Reportage und dem Dokumentarfilm in einer abschließenden Weise beantwortet.

4 Fazit Zusammenfassend lässt sich der Anspruch auf einen dokumentarischen Status der Buchreportage und des Dokumentarfilms weitestgehend erhärten. Auf allen drei Betrachtungsebenen – der pragmatischen, semantischen und narratologischen – zeigt sich, dass die beiden untersuchten Werke nicht nur eindeutig eine faktuale Rezeptionsform nahelegen, sondern auch durch die Erhebung des Datenmaterials und seine Verarbeitung gewährleisten, dass der Leser bzw. Zuschauer tatsächlich mit Fakten zur Thematik konfrontiert wird. Zwar sind die Darstellungen konstruktiven Eingriffen durch die Autoren unterworfen, diese halten sich aber in engen Grenzen und ermöglichen dem Leser/Zuschauer einen Zugang zu Informationen über die Realität in Afghanistan, deren Vermitteltheit durch das jeweilige Medium und die Autoren erkennbar ist und bei der kognitiven Verarbeitung angemessen berücksichtigt werden kann. Während das Buch durch seine argumentative Struktur dem Rezipienten eine aktivere Haltung ermöglicht, zeichnet sich der Film dadurch aus, dass er Beobachtungen an authentischen Aufzeichnungen zulässt. Der Tatsachenroman und das Dokudrama lassen sich weder dem faktualen noch dem fiktionalen Modus klar zuordnen. Beide präsentieren sich von vornherein unter zweideutigen Paktbedingungen. Der Status der Assertionen von In Cold Blood ist durch eine epistemisch nicht in der Realität verortbare Erzählinstanz für den Leser zweifelhaft; zwar darf er davon ausgehen, dass die Handlung in vielen Zügen zuverlässig mit den realen Ereignissen korreliert – also nicht eine vom Autor erfundene Welt präsentiert –, aber die Darstellungsweise insinuiert eher eine Rezeption unter ästhetischen als unter informativen Aspekten. In noch höherem Maße gilt dies für

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den Film Capote. Auch hier mag das Publikum sich darauf verlassen, dass ihm die Hauptfigur und die Ereignisse ohne dramatische Abweichungen präsentiert werden. Ein Zuschauer, der sich überzeugen will, ob bestimmte Einzelheiten zutreffend sind, wird freilich andere Quellen konsultieren. Im Zentrum des Interesses stehen jedoch die Bewertung der künstlerischen Leistung und die Frage, ob das konkrete Thema (die ethisch problematische Verwendung realer Biographien durch einen Schriftsteller) durch die Darstellung des konkreten Falles überzeugend gelöst ist. Von ‚rein‘ fiktionalen Darstellungen unterscheiden sich der Tatsachenroman und das Dokudrama zugleich durch die Herausforderungen, die eine starke und explizite Bindung an die Realität für den Autor mit sich bringen. Diese liegen in der Vermeidung von narrativen Verknüpfungen und ‚dichten‘, detailreichen Beschreibungen, die nicht durch recherchierte Fakten gedeckt sind. Zugleich entsteht das Dilemma, die Informationsquellen ausblenden zu müssen, damit eine ästhetisch befriedigende Erzählung entsteht, aber dann auf eine nachvollziehbare Referentialisierung der Einzelheiten zu verzichten. Es scheint (zumindest) seit einem halben Jahrhundert einen Trend zu den Fakten und zur Realität zu geben, der auch in der Literatur und anderen symbolischen Medien aufgegriffen wird. Seine Protagonisten verwenden ihr Talent wie Truman Capote nicht auf die Erfindung von Plots, sondern auf eine ästhetisch anspruchsvolle Gestaltung des Wirklichen, in der die genuinen Leistungen von Kunst weiterhin wirksam werden und ein Differenzkriterium gegenüber Wissenschaft und Journalismus ausmachen. Diese spezifischen Formen von Literatur und Film werden durch panfiktionalistische Ansätze gerade um ihre Besonderheit gebracht. Dagegen beziehen sich Theorien, die eine scharfe Trennung von Fiktion und faktualen Darstellungen ansetzen, vor allem auf das historische Paradigma des autonomen Kunstwerks und die Phantasieproduktion des Künstlers. Innerhalb dieser Formation lag der Akzent darauf, dass auch „surrogate“ und „immigrant objects“ vor allem ‚gut erfunden‘ sein müssen. Für die Gegenwart kann jedoch eine Diversifizierung und Differenzierung der Fiktionalitätsgrade und -formen konstatiert werden, die ein entsprechend feineres Instrumentarium verlangen.

Anne Enderwitz

Fiktionale Geometrie Die vierte Dimension im literarischen Gedankenexperiment

1 Einleitung Dieser Aufsatz behandelt die Frage der spezifischen Leistung fiktionaler Darstellung anhand von Edwin A. Abbotts ‚geometrischer‘ Erzählung Flatlfand: A Romance of Many Dimensions (1884). Veröffentlicht unter dem Pseudonym ‚A Square‘ (s. Abb. 1), entwirft die Erzählung ein Gedankenexperiment vom Leben in zwei Dimensionen. Es funktioniert über einen impliziten Analogieschluss: Flatland will dem Leser über die Darstellung einer zweidimensionalen Welt, die durch das plötzliche Einbrechen eines dreidimensionalen Körpers empfindlich gestört wird, die Augen für eine mögliche vierte Dimension öffnen. Abbotts Erzählung ist im Kontext gegenwärtiger Fiktionstheorien besonders interessant, weil sie selbst – fiktionsintern – das Verhältnis von Fakt und Fiktion problematisiert und die Evidenz dieser Unterscheidung in Frage stellt. Die Erzählung verknüpft Wissen und Fiktion zu einer beinahe unvermeidlichen „Fiktion des Wissens“,1 die nur durch einen radikalen Perspektivenwechsel sichtbar werden kann. Ein solcher Perspektivenwechsel findet durch die Konfrontation mit möglichen Welten statt (Punktland, Linienland, Raumland), mit deren Repräsentanten der Erzähler und Protagonist – seines Zeichens ein Quadrat und Bewohner des Flächenlandes – im Laufe der Erzählung in Berührung kommt. Dabei stellt sich die Frage nach dem ontologischen Status dieser Welten. Die Erzählung selbst besteht auf der Differenz von Wirklichkeit und Fiktion, indem sie die Lebenswirklichkeit des Linienlandkönigs und des Punktlandkönigs im Medium des Traumes inszeniert, das Raumland dagegen als (verkannte) Wirklichkeit darstellt. Sie spielt aber zugleich mit dieser Differenz, wenn sie jenseits des Raumlandes die Möglichkeit einer höherdimensionalen Wirklichkeit verortet. Die Frage nach dem ontologischen Status der beschriebenen Welten, nach der Fiktivität des Dargestellten, wird auch in Debatten über Fiktionalität immer wieder virulent,2 nicht zuletzt auch im vorliegenden Band.3 Anliegen dieses Beitrags ist es

|| 1 Michel De Certeau, Die Kunst des Handelns, Berlin: Merve 1988, 180. 2 Vgl. Andreas Kablitz’ Definition von Fiktivität und Fiktionalität: Er unterscheidet „zwischen dem Fiktiven als einer Eigenschaft des Dargestellten und dem Fiktionalen als einer Eigenschaft der Darstellung“ („Literatur, Fiktion und Erzählung – nebst einem Nachruf auf den Erzähler“, in: Irina O. Rajewsky/Ulrike Schneider [Hg.], Im Zeichen der Fiktion. Aspekte fiktionaler Rede aus historischer

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jedoch, den Fokus einmal zu verschieben:4 Warum eigentlich bringt die Frage nach der Fiktionalität als Darstellungsmodus fast schon reflexhaft die Frage nach der Fiktivität des Gegenstandes mit sich? Ist es denkbar, dass der Modus des Fiktionalen selbst den ontologischen Status des Dargestellten und sein Verhältnis zur tatsächlichen Welt virulent werden lässt? Dies mag zunächst kontraintuitiv scheinen, bringt die Klassifikation ‚fiktional‘ doch gerade „eine Vergleichgültigung gegenüber dem Wahrheitswert“ eines Textes mit sich.5 Dennoch stellt sich im Fall fiktionaler Texte mit einer gewissen Beharrlichkeit die Frage nach den fiktiven und den realen Anteilen, denn der Modus des Fiktionalen impliziert die Darstellung eines Gegenstandes, der „in seinem Fiktionsgrad durchaus skalierbar“ ist,6 dessen ontologischer Status also nicht evident, sondern variabel und damit fraglich ist.

|| und systematischer Sicht. Festschrift für Klaus W. Hempfer zum 65. Geburtstag, Stuttgart: Steiner 2008, 13–44, hier: 15). Ob es sich bei Fiktivität um eine notwendige Bedingung von Fiktionalität handelt, ist umstritten. Vgl. z.B. Frank Zipfels einleitende Bemerkungen zum Begriffsfeld ‚Fiktion‘, ‚Fiktivität‘ und ‚Fiktionalität‘. Zipfel unterscheidet hier ‚fiktiv‘ und ‚fiktional‘, wobei sich ‚fiktiv‘ „auf die Nicht-Wirklichkeit des Dargestellten“ bezieht und „frei erfunden“ meint und ‚fiktional‘ auf „Texte, in denen Fiktives dargestellt wird“ (Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität. Analysen zur Fiktion in der Literatur und zum Fiktionsbegriff in der Literaturwissenschaft, Berlin: Schmidt 2001, 13–29, hier: 19). Hier erscheint Fiktives somit konstitutiv für Fiktionalität. Kablitz dagegen schreibt: „Indem die Fiktionalität aber ihrem Wesen nach eine Disposition der Textrezeption meint, wird es möglich, letztlich jedweden Text als einen fiktionalen zu behandeln, d.h. vom Wahrheitsgehalt der in ihm referierten Sachverhalte abzusehen und seine referentielle Funktion zu suspendieren.“ („Literatur, Fiktion, Erzählung“ [Anm. 2], 21) 3 Vgl. z.B. Frank Zipfel, der davon ausgeht, dass „[f]iktionale Texte […] in der Regel fiktive Geschichten [erzählen]“ (im vorliegenden Band, S. 31). J. Alexander Bareis andererseits argumentiert in Anlehnung an Kendall L. Walton gegen eine notwendige Verknüpfung von Fiktivität und Fiktionalität (vgl. im vorliegenden Band, insb. S. 46). 4 Auch wenn die genaue Ausgestaltung der Beziehung zwischen fiktiver und tatsächlicher Welt nicht Gegenstand des vorliegenden Beitrags ist, erscheint mir Peter Lamarques und Stein Haugom Olsens Verweigerung einer absoluten Aussage in dieser Frage vernünftig: Im Falle fiktionaler Texte haben wir es typischerweise mit einer erfundenen Welt zu tun, aber auch eine Übereinstimmung mit der Wirklichkeit – sei sie zufällig oder beabsichtigt – ist denkbar: „After all, in the case of historical fiction all the names might bear their standard denotation and in the case of some simple fictions (‘Once upon a time, there was a young man who...’) it might just be that all the descriptions turn out to be true“ (Peter Lamarque/Stein Haugom Olsen, Truth, Fiction and Literature. A Philosophical Perspective, Oxford: Clarendon Press 1994, 31f.). Lamarque und Olsen ziehen daraus folgenden Schluss: „The descriptive fictions relevant to literature can and should be defined in metaphysically neutral terms, without reference to notions like correspondence, facts, truth, or the world“ (ebd., 20). Für die Autoren erklärt sich Fiktionalität nur im Sinne einer Institution, einer sozialen Praxis, die bestimmten Regeln folgt (s. hierzu genauer Abschnitt 3 des vorliegenden Beitrags). 5 So etwa Andreas Kablitz, „Literatur, Fiktion und Erzählung“ (Anm. 2), 16. 6 Ebd., 17. Der Skalierbarkeit von Fiktivität steht bzgl. der Frage der Darstellung (also der Fiktionalität) bei Kablitz eine klare Klassifikation entgegen: „Ein Text ist entweder von der Verpflichtung, wahre Sachverhalte zum Inhalt zu haben enthoben oder er ist es nicht“ (ebd.). Texte sind daher entweder fiktional oder nicht (d.h. faktual); ihr Gegenstand kann aber „mehr oder minder fiktiv sein“ (ebd.).

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Abb. 1: Buchcover: Edwin A. Abbot, Flatland. A Romance of Many Dimensions, London: Seeley & Co7

In Flatland rückt die Frage nach Fakt und Fiktion durch die mehrfachen Perspektivenwechsel, die in der Konfrontation verschiedener Seinsweisen in unterschiedlichen Dimensionen inszeniert werden, in den Fokus. Im Sinne des von Marie-Laure Ryan

|| 7 EC85 Ab264 884f, Houghton Library, Harvard University.

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beschriebenen recentering lassen sich solche Perspektivenwechsel aber auch als allgemeine Leistung von Fiktion verstehen: Durch Immersion der Leser nimmt die fiktive Welt (zumindest im Akt des Lesens) gleichsam die Stelle der aktualen ein. Als Leser partizipiert man nun nicht nur an dieser fiktiven Welt, sondern teilt auch ihren spezifischen Ausblick auf andere mögliche Welten.8 Die soziale Praxis der Fiktion wäre in diesem Sinne die Ermöglichung eines Perspektivenwechsels, der mit Ryan eine fiktive Welt zur aktualen ‚macht‘. Der ‚Stellentausch’ der Welten verlangt nach einem wie auch immer gearteten (Rück-)Bezug auf die Lebenswirklichkeit der Leser.9 Flatland führt einen solchen Perspektivenwechsel nicht nur fiktionsintern vor, sondern problematisiert darüber hinaus den ontologischen Status erfundener Welten derart, dass der mögliche Konstruktcharakter unserer Erfahrung von Wirklichkeit selbst vorstellbar wird. Die spezifische Leistung fiktionaler Darstellung soll anhand von Flatland im Folgenden eben als Vollzug jenes Perspektivenwechsels (recentering) diskutiert werden, der im Abgleich der fiktiven und der wirklichen Welt die Frage nach Fakt und Fiktion virulent werden lässt. Die nur lose Kopplung der fiktiven Welt an die Wirklichkeit der Leser erlaubt dabei einen spielerischen Abgleich der Welten, der auch Skeptikern der vierten Dimension deren mögliche Existenz näherbringen kann, ohne sie darauf zu verpflichten, die vierte Dimension als mathematisches Faktum anzuerkennen. Eine weitere Eigentümlichkeit von Fiktionalität besteht in der Produktion eines Überschusses durch die Konstruktion einer fiktiven Welt: Tatsächlich ist Flatland nämlich mehr als ein Gedankenexperiment zur Dimensionalität. Hier erweist sich eine Unterscheidung von Thomas Macho und Annette Wunschel als hilfreich, die über den Aspekt von Vielseitigkeit im Unterschied zur Singularität versuchen, das Gedankenexperiment von der Fiktion im Allgemeinen zu unterscheiden: Das Gedankenexperiment unterscheidet sich [...] von der Fiktion im Allgemeinen durch seinen punktuellen, strategischen Einsatz: Es geht ihm [...] bloß um eine Welt, in der ein einziger Sachverhalt, ein einziges Ereignis, eine einzige Handlung möglich oder unmöglich ist.10

Flatland verknüpft als Gedankenexperiment vom Leben in zwei Dimensionen dimensionale Existenz und Perspektive bzw. Erkenntnis, zitiert aber auch nicht-mathema-

|| 8 Vgl. Marie-Laure Ryan, Possible Worlds, Artificial Intelligence and Narrative Theory, Bloomington: Indiana UP 1991, insb. 22f. 9 Vgl. z.B. Marie-Laure Ryans ‚principle of minimal departure‘: „This principle states that whenever we interpret a message concerning an alternate world, we reconstrue this world as being the closest possible to the reality we know“ („Fiction, Non-Factuals and the Principle of Minimal Departure“, in: Poetics 9 [1980], 403–422, hier: 403). 10 Thomas Macho/Annette Wunschel, „Mentale Versuchsanordnungen“, in: ders./dies. (Hg.), Science & Fiction: Über Gedankenexperimente in Wissenschaft, Philosophie und Literatur, Frankfurt a.M.: Fischer 2004, 62–77, hier: 9.

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tische zeitgenössische Diskurse und ergibt sich dem lustvollen ‚Als-ob‘ des spielerischen Entwurfs einer fiktiven Welt, das die Spielregeln der Fiktionalität erlauben. Der vorliegende Beitrag gibt zunächst eine kurze Einführung zu Flatland und seinem Kontext, um dann die Frage von Perspektive und Wissen in dieser Erzählung zu vertiefen. Anhand von Flatland soll anschließend mit Hilfe von Marie-Laure Ryans Konzept des recentering die spezifische Leistung fiktionaler Texte deutlich gemacht werden, die einerseits Immersion in fiktive Welten ermöglichen und andererseits die Wirklichkeit des Lesers dezentrieren können. Anhand der spezifischen Sozialgeometrie des Flächenlandes erläutert der Beitrag abschließend den Überschuss der fiktionalen Darstellung des Dimensionenproblems.

2 Die Fiktion vom Flächenland Erzähler und fiktiver Autor von Flatland ist ein altes Quadrat, das dem Leser seine Welt näherbringen will und das mithin als autodiegetische Erzählinstanz fungiert: „I call our world Flatland, not because we call it so, but to make its nature clearer to you, my happy readers, who are privileged to live in Space.“11 Flatland beginnt mit der expliziten Aufforderung zu einem Gedankenexperiment über zweidimensionale geometrische Figuren: Imagine a vast sheet of paper on which straight Lines, Triangles, Squares, Pentagones, Hexagons, and other figures, instead of remaining fixed in their places, move freely about, on or in the surface, but without the power of rising above or sinking below it, very much like shadows – only hard and with luminous edges – and you will have a pretty correct notion of my country and countrymen.12

Mit dem Verweis auf das Faktische („correct“) und damit auf die (vorgebliche) Wirklichkeit des Erzählten nimmt die Fiktion ihren Lauf. Zugleich literarisches Gedankenexperiment vom Leben in zwei Dimensionen und utopische Erzählung, geht es in Flatland um eine durch und durch geometrische Gesellschaft, in der Eigenschaften und Möglichkeiten der geometrischen Figuren von ihrer jeweiligen Form abhängen und von der Anzahl der Dimensionen, in denen sie existieren. Nicht umsonst trägt Flatland den vieldeutigen Untertitel A Romance of Many Dimensions. Punktland, Linienland, Flächenland und vor allem das plötzliche Einbrechen einer Kugel in die geordnete zweidimensionale Welt des Quadrats rücken die Frage nach den Dimensionen des Raumes und ihrer Wahrnehmbarkeit in den Mittelpunkt. Für das Quadrat bedeutet die Erfahrung der Fläche den ‚Raum‘,

|| 11 Edwin A. Abbott, Flatland: A Romance of Many Dimensions, London u.a.: Penguin 1998, 7. 12 Ebd.

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doch das Auftauchen der Kugel stellt seine beschränkte Welt auf den Kopf. Nach anfänglicher Skepsis erfährt der autodiegetische Erzähler ‚A Square‘ einen Wissenszuwachs: „[N]ow my mind has been opened to higher views of things.“13 Ebenso soll auch der Leser begreifen, dass die Welt mehr Dimensionen aufweisen mag, als die, in denen er sich bewegt. Kurz: Es geht darum, die Möglichkeit der vierten Dimension plausibel zu machen, die im neunzehnten Jahrhundert Mathematiker, Literaten und Spiritisten gleichermaßen beschäftigte. Mit seinem spielerischen Porträt einer zweidimensionalen Existenz ist Abbott– seines Zeichens Mathematiker, Theologe und der tatsächliche Autor von Flatland – keineswegs allein. Im späten neunzehnten bis weit ins zwanzigste Jahrhundert hinein werden diverse Fiktionen flacher Welten entworfen:14 Bereits in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts wurde die nichteuklidische Geometrie popularisiert durch eine Reihe literarischer Texte, die stets mit demselben Gedankenexperiment operierten: mit einer zweidimensionalen Welt, die von einem dreidimensionalen Objekt gleichsam durchkreuzt und ‚erschüttert‘ wird.15

Das Ziel dieser Fiktionen ist paradox: Sie wollen durch ein Weniger an Dimension die Bereitschaft des Lesers für ein Mehr an Dimension wecken. Sie nehmen also eine Reduktion vor, um Komplexität anschaulich zu machen. Die zweidimensionalen Wesen dienen dem Zweck der Analogie. Genau wie für sie die Existenz einer dritten Dimension unvorstellbar ist, obwohl es sie doch gibt, ist für uns die vierte Dimension unvorstellbar – obwohl es sie doch geben mag.

3 Die Fiktion des Wissens Im Sinne des sog. institutional approach von Lamarque und Olsen lässt sich Flatland schon über den Untertitel als fiktionaler Text identifizieren. Es handelt sich bei der Romance um ein literarisches Format, das eine fiktionale Äußerung (fictive utterance) impliziert, die vom Leser eine angemessene Rezeptionshaltung verlangt (fictive stance).16 Fiktion wird in institutionellen Ansätzen nicht durch eine mangelnde Referenz auf || 13 Ebd. 14 So beschreibt zum Beispiel Lewis Carroll 1865 in der Einleitung zu Dynamics of a Particle eine Liebesbeziehung zwischen zwei linearen Kreaturen, die auf einer flachen Oberfläche gleiten (vgl. Linda Dalrymple Henderson, The Fourth Dimension and Non-Euclidean Geometry in Modern Art, Princeton: Princeton UP 1983, 21). Siehe auch Abschnitt 3 des vorliegenden Beitrags. 15 Thomas Macho, „Die Rätsel der vierten Dimension“, in: Thomas Macho/Annette Wunschel (Hg.), Science & Fiction (Anm. 10), 64. 16 Als Fiktionalitätsmarker fungiert neben der Gattungsbezeichnung Romance natürlich auch die Tatsache, dass wir es in Flatland mit einem nicht-menschlichen Erzähler, eben einem alten Quadrat, zu tun haben.

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die Wirklichkeit begründet, sondern im Sinne einer regelgeleiteten, sozialen Praxis verstanden.17 Lamarque und Olsen sprechen sich ausdrücklich dagegen aus, Fiktionalität über den Wahrheitswert von Aussagen oder die Frage der (mangelnden) Referenz zu begründen.18 Ausgangspunkt dafür ist u.a. das Problem der Unterscheidbarkeit von fiktionaler Rede und falschen Sätzen.19 Neben diesen Schwierigkeiten geht gerade im Fall von Flatland die Klassifizierung der Fiktion allein über ihren imaginären Status am Kern des Werks vorbei. Denn Flatland will ja gerade das, was wir über die Wirklichkeit zu wissen meinen, in Frage stellen. Durch die Erzählung von den zweidimensionalen Bewohnern des Flächenlands, die von der Existenz dreidimensionaler Körper nichts wissen wollen und können, weil ihr Wahrnehmungsvermögen durch die Zahl ihrer Dimensionen begrenzt ist, will Flatland die mögliche Beschränkung unserer Sicht auf die Welt vorstellig machen. Flatland eröffnet einen Möglichkeitsraum, der die Unterscheidung zwischen dem, was wirklich ist, und dem, was möglich ist, problematisch werden lässt – dies zunächst fiktionsintern, aber über den Analogieschluss, auf den Flatland zielt, auch fiktionsextern. Wie dem erzählenden Quadrat sollen auch dem Leser die Augen für die Möglichkeit einer höherdimensionalen Existenz geöffnet werden, für die Möglichkeit von vier oder mehr Dimensionen. Eine kurze Zusammenfassung der Erzählung wird dies im Folgenden deutlich machen. Die Bewohner des Flächenlandes kennen nichts anderes als ihre Version des zweidimensionalen ‚Raumes‘. Während der erste Teil von Flatland sich mit der flachländischen Gesellschaft befasst („This World“), ist der zweite vielsagend mit „Other Worlds“ betitelt. Das Quadrat trifft hier auf Bewohner anderer Welten, auf Linienlandkönig, Punktlandkönig und die ominöse Kugel. Die Begegnung mit dem Linienlandkönig, dessen Universum eindimensional ist, findet im Traum statt und nimmt all jene Probleme vorweg, die in der späteren Begegnung mit der Kugel zum Tragen kommen und rein logisch den Leser ebenso betreffen könnten. Für den Linienlandkönig ist Raum gleichbedeutend mit der Linie, eine Äquivalenz, die in seiner Äußerung „Space is Length“ explizit formuliert wird:20 „It seemed that this poor ignorant Monarch – as he called himself – was persuaded that the Straight Line which he called his Kingdom, and in which he passed his existence, constituted the whole of the world, and indeed the whole of Space.“21 Der Linienlandkönig ist durch nichts vom Gegenteil zu überzeugen: Da seine Perspektive auf eine Dimension beschränkt ist, sind die Worte, mit denen das Quadrat sein eigenes Raumkonzept („True Space is a Plane“)22 zu beschreiben sucht – nämlich rechts und links – für den Linienland|| 17 Vgl. Peter Lamarque/Stein Haugom Olsen, Truth, Fiction and Literature (Anm. 4), 32. 18 Vgl. ebd., 31. 19 Vgl. ebd. 20 Edwin A. Abbott, Flatland (Anm. 11), 71. 21 Ebd., 66. 22 Ebd., 74.

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könig leere Begriffe ohne Gegenstand.23 „I do not in the least understand you“,24 sagt der Linienlandkönig, und dabei bleibt es auch. Diese Episode leitet über zu einem Ereignis, das dem Erzähler ‚A Square‘ die Grenzen seiner eigenen Welt aufzeigt. Der letzte Abend des Jahres 1999 ist für ihn von einem erschütternden Ereignis gezeichnet. Ihn trifft das nicht mit Begriffen fassbare, „die kategorial unfassbare Erfahrung“,25 die reine Präsenz: eine Kugel, ein dreidimensionaler Körper tritt in sein Leben. Gerade zuvor noch hat er seinen gescheiten Enkel für die Frage, was wohl die geometrische Bedeutung von 3³ wäre, zurechtgewiesen: „The boy is a fool, I say; 3³ can have no meaning in Geometry.“26 Just in diesem Moment durchtönt eine Stimme den Raum: „The boy is not a fool and 3³ has an obvious Geometrical meaning.“27 Die Stimme gehört einem Bewohner des Spaceland, des Raumlandes: einer Kugel. Hier beginnt nach der detaillierten Beschreibung des Flächenlandes im ersten Teil von Flatland die systematische Erkundung dessen, was jenseits der Fläche ist. Abbott entwirft eine Serie komischer Dialoge, in denen die Kugel mit zunehmender Verzweiflung versucht, dem Quadrat die Existenz einer dritten Dimension näher zu bringen. Doch scheint es unmöglich, mit Begriffen das zu beschreiben, was jenseits der Erfahrung liegt. Die Begriffe ‚hinauf‘ oder ‚hinunter‘, welche die Kugel zur Erklärung der dritten Dimension anführt, meinen für das Quadrat etwas ganz anderes: ‚Hinauf‘ bedeutet in Flächenland nordwärts, ‚hinunter‘ südwärts. Wenn sie jedoch nicht nordwärts oder südwärts meinen, sind diese Begriffe für das Quadrat ohne Anschauung; mit Kant eben leere Begriffe.28 Erst als die Kugel das Quadrat aus dem gewohnten Kontext reißt und zu einer Reise in den Raum zwingt, beginnt das Quadrat zu begreifen, was es mit der dritten Dimension auf sich hat. Die Unmöglichkeit, Dinge, die nicht im wahrsten Sinne des Wortes ‚anschaubar‘ sind, über Sprache begreiflich zu machen, wird auf dieser Reise durch weitere Episoden dokumentiert. Ein Höhepunkt ist die Begegnung von ‚A Square‘ mit dem König von Punktland, der im „Abyss of No dimensions“ lebt.29 Als perfekte Monade ist er sich selbst die Welt. Doch zurück zum Einbruch der Kugel in die Welt des Quadrats. Der Blick der Kugel verkörpert die Sicht auf die Dinge der zweidimensionalen Welt, die auch wir teilen, wenn wir Zeichnungen zweidimensionaler Figuren betrachten. Diese Drauf-

|| 23 Vgl. Immanuel Kant: „Zu jedem Begriff wird erstlich die logische Form eines Begriffs (des Denkens) überhaupt, und denn zweitens auch die Möglichkeit, ihm einen Gegenstand zu geben, darauf er sich beziehe, erfordert. Ohne diesen letztern hat er keinen Sinn, und ist völlig leer an Inhalt.“ (Kritik der reinen Vernunft, Hamburg: Meiner 1998, A239/B298) 24 Edwin A. Abbott, Flatland (Anm. 11), 74. 25 Vgl. Marc Rölli, Ereignis auf Französisch. Von Bergson bis Deleuze, München: Fink 2004, 7. 26 Edwin A. Abbott, Flatland (Anm. 11), 79. 27 Ebd. 28 Vgl. Anm. 23. 29 Edwin A. Abbott, Flatland (Anm. 11), 108.

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sicht ist identisch mit der Einsicht in das ‚Innere‘ der Dinge: So kann die Kugel von oben direkt in das ‚Innerste‘ der Figuren schauen, ihre Gedanken und Träume sehen.30 Für die Kugel gibt es nichts, das nicht sichtbar wäre. Nur innerhalb der je eigenen Welt gibt es Unsichtbarkeit, der Blick von außerhalb hingegen sieht alles, ohne selbst gesehen zu werden: „I, who see all things“, sagt die Kugel.31 So kommt ihr die Aura des Göttlichen, des Transzendenten zu. In der zweidimensionalen Welt des Quadrats ist ihr Blick sowohl Blick Gottes als auch ‚a view from nowhere‘.32 Flatland verkörpert also die skopische Utopie, wie sie der französische Philosoph Michel de Certeau beschrieben hat. De Certeau erkennt 1980 im Blick von der 110. Etage des World Trade Centers die Formel eines allgemeinen neuzeitlich-abendländischen Strebens nach Distanzierung und visueller Unterwerfung der Stadt: Der Körper ist nicht mehr von den Straßen umschlungen, die ihn nach einem anonymen Gesetz drehen und wenden; er ist nicht mehr Spieler oder Spielball […] Wer dort hinaufsteigt, verläßt die Masse […] Seine erhöhte Stellung macht ihn zu einem Voyeur. […] Sie verwandelt die Welt, die einen behexte und von der man ‚besessen‘ war, in einen Text, den man vor sich unter den Augen hat. Sie erlaubt es, diesen Text zu lesen, ein Sonnenauge oder Blick eines Gottes zu sein. Der Überschwang eines skopischen und gnostischen Triebes. Ausschließlich dieser Blickpunkt zu sein, das ist die Fiktion des Wissens.33

Die „Fiktion des Wissens“, wie sie hier beschrieben ist, ist die Illusion einer Perspektive, eines „Blickpunkts“, der nicht durch sein körperliches Eingefasst-Sein beschränkt oder durch alltägliche Praktiken geprägt ist, sondern frei über allem steht und die Dinge sieht, wie sie sind. In Flatland liegt die eigentliche Pointe in der Konsequenz, die sich aus der Offenbarung ergibt, die unserem Quadrat zuteilwird. Aus seiner Perspektive und dem damit einhergehenden Gedankenkorsett befreit, schwingt sich der Erzähler zu großen Fragen auf.34 In Analogie zu den Möglichkeiten der dritten Dimension fragt er nach demjenigen, der das Innerste der Kugel schauen kann. Wenn eine Kugel aus vielen Kreisen besteht, so seine Überlegung, muss es auch etwas geben, das viele Kugeln in sich vereint. Nicht länger das Ideal von Perfektion, reagiert die allwissende Kugel beleidigt: Ihre eigene Perspektive erweist sich als ebenso beschränkt wie die von Punktlandkönig, Linienlandkönig und Flächenländlern. Die Idee einer vierten Dimension wird als unmöglich zurückgewiesen. Nur weil das Quadrat partout nicht lockerlassen will, gibt die Kugel schließlich zu, dass gerüchteweise einmal Wesen einer

|| 30 Vgl. Thomas Macho, „Die Rätsel der vierten Dimension“ (Anm. 15), 70. 31 Edwin A. Abbott, Flatland (Anm. 11), 85. 32 Vgl. den berühmten Buchtitel von Thomas Nagel: The View from Nowhere (Oxford: Oxford UP 1986). 33 Michel de Certeau, Kunst des Handelns (Anm. 1), 180. 34 Auch Macho charakterisiert „die Frage des Perspektivenwechsels“ als das eigentlich Faszinierende an Flatland. Er weist darauf hin, dass Abbott den Perspektivenwechsel „geradezu als spirituelle Initiation in eine andere Welt darstellte“ („Die Rätsel der vierten Dimension“ [Anm. 15], 69).

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höheren Ordnung ins Raumland hinabgestiegen seien. Dadurch ermutigt, entwirft ‚A Square‘ das ekstatische Szenario einer fünften und sechsten Dimension; die Utopie der Transzendenz verschiebt sich immer noch eine Dimension weiter – bis das Quadrat schließlich von der erbosten Kugel zurück nach Flächenland katapultiert wird. Wieder dort angekommen, versucht das Quadrat, von der Existenz weiterer Dimensionen zu berichten. Doch allein, ihm fehlen die Worte. Ob es denn die Dimension zeigen könne, die es mit „Upwards, not Northwards“ bezeichne, wird es gefragt.35 Ob es sie beschreiben könne. Am Ende landet das Quadrat im Gefängnis, weil es den konstituierenden Trugschluss der Gesellschaft – Raum habe zwei Dimensionen – anzweifelt. Es fällt nicht schwer, darin Parallelen zum Höhlengleichnis in Platons Politeia zu erkennen. Bis in die Metaphorik der zweidimensionalen Schattenbilder hinein finden sich Korrespondenzen zwischen epistemischer Begrenzung bei Platon und räumlicher Begrenzung bei Abbott.36 Flatland ist nicht das erste Szenario einer zweidimensionalen Welt. Wie oben bereits angedeutet, war die zweite Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts mit zunehmender Intensität mit der Frage beschäftigt, ob eine vierte Dimension existiere und, wenn ja, wie diese vorzustellen sei. Der logische Einsatzpunkt der Vorstellung einer höhenlosen, zweidimensionalen Welt ist ein Analogieargument. Gustav Theodor Fechner, der 1844 in seinen Vier Paradoxa „wohl das erste Mal in der Geschichte, die Idee von zweidimensionalen Flächenwesen entwickelt“ hat,37 bringt die philosophische Intention hinter dem Flächenland auf den Punkt: „Die Art, wie ich dem Raume zu einer vierten Dimension zu verhelfen suchen will, ist allerdings eigen; nämlich dadurch, daß ich ihm anfangs von seinen dreien eine nehme.“38 Fechners Aufsatz „Der Raum hat vier Dimensionen“ ist ein komisches Meisterwerk (das Abbott als Vorlage gedient haben mag): Man denke sich ein kleines buntes Männchen, das in der camera obscura auf dem Papiere herumläuft; da hat man ein Wesen, was in zwei Dimensionen existirt [sic]. Was hindert, ein solches Wesen lebendig zu denken. […] Nun, in sofern alles Sehen, Hören, Dichten und Trachten eines blos [sic] in zwei Dimensionen existirenden [sic] Wesens auch bloß in diesen zwei Dimensionen

|| 35 Edwin A. Abbott, Flatland (Anm. 11), 116. 36 Vgl. auch Lila Marz Harper, „Flatland in Popular Culture“, in: Jessika K. Sklar/Elizabeth S. Sklar (Hg.), Mathematics in Popular Culture. Essays on Appearances in Film, Fiction, Games, Television and other Media, Jefferson: McFarland 2012, 293. 37 Michael Heidelberger, Die Innere Seite der Natur, Frankfurt a.M.: Vittorio Klostermann 1993, 72. Vgl. auch Elizabeth Throesch, „Nonsense in the Fourth Dimension of Literature“, in: Christopher Hollingsworth (Hg.), Alice Beyond Wonderland. Essays for the Twenty-First Century, Iowa City: U of Iowa P 2009, 37; sowie Linda Dalrymple Henderson, The Fourth Dimension (Anm. 14), 18. 38 Gustav Theodor Fechner, „Der Raum hat vier Dimensionen“, in: ders., Vier Paradoxa, Leipzig: Leopold Voß 1846, 15–40, hier: 24.

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beschlossen wäre, so würde es natürlich eben so wenig etwas von einer dritten Dimension wissen können, als wir, die wir nur in drei Dimensionen leben, von einer vierten.39

Fechners Argument ist in folgendem Satz auf den Punkt gebracht: „Wir sind nur Farben- oder Schattenmännchen in drei Dimensionen statt in zweien.“40 Neben Fechner sind es etwa Hermann von Helmholtz in Deutschland und Charles Howard Hinton in England, die populäre Fassungen flacher Welten liefern.41 Wie für die Flächenländler die Vorstellung der dritten Dimension unmöglich ist, so ist es für uns Raumländler die Vorstellung der vierten. Und doch, allen mit Entschlossenheit vorgetragenen Argumenten der besten flächenländischen Philosophen zum Trotz, existiert die dritte Dimension – wir leben schließlich in ihr. Das Schmunzeln über die Ahnungslosigkeit der Flächenländler soll in epistemische Demut und Offenheit umschlagen. Es könnte doch möglich sein, dass das, was unmöglich erscheint, sehr wohl möglich oder gar wirklich ist. Flatland will gerade, mit de Certeau gesprochen, die „Fiktion des Wissens“ entlarven – also ein Wissen als Fiktion entlarven –, das sich seiner eigenen Begrenzung durch eine gegebene, eingekörperte Perspektive nicht bewusst ist. Fiktion in diesem Sinne ist nicht gleichbedeutend mit fiktional, sondern referiert vor allem auf die Bedeutungen ‚imaginär‘, ‚nicht-wahr‘, auch wenn dem Subjekt in diesem Fall keine Differenz zwischen Wissen und Welt bewusst ist. Doch fiktionale Texte können die Möglichkeit einer solchen Differenz eröffnen. In der Konfrontation mit anderen Perspektiven und Möglichkeiten der Welterfahrung wird die ontologische Basis der Differenz Fakt/Fiktion zum epistemologischen Problem: Wie können wir sicher sein, dass es uns nicht geht wie Punktlandkönig, Linienlandkönig und Flächenländlern, die alle in einer falschen Vorstellung von Raum gefangen sind?42 Sicher liegt es in der Natur des epistemischen Gedankenexperiments, Wissen und unseren Zugriff darauf in Frage zu stellen. Doch geschieht dies bei einem fiktionalen narrativen Text in spezifischer Weise und anders als bei einer bloßen Analogie nach dem Muster x zu y wie y zu z, wobei x eine zweidimensionale Perspektive ist, y das Leben in drei Dimensionen und z die Erfahrung der vierten Dimension (2D verhält sich zu 3D wie 3D zu 4D). Diese spezifische Leistung soll im Folgenden analysiert werden. || 39 Ebd. 40 Ebd., 25. 41 Vgl. u.a. Charles Howard Hinton, „What is the Fourth Dimension?“, in: ders., Scientific Romances, Vol. 1: First Series, London: Sonnenschein & Co 1884, 3–32; ders., Scientific Romances, Vol. 3: A Plane World, London: Swan Sonnenschein/Lowrey 1886, 129–159; siehe aber auch ders., The Fourth Dimension, London: Swan Sonnenschein & Co 1904. Helmholtz gebrauchte das Beispiel „of an imaginary world of two-dimensional beings living on the surface of a sphere“ in „On the Origin and Significance of Geometrical Axioms“ [1876] (Linda Dalrymple Henderson, The Fourth Dimension [Anm. 14], 12). 42 Zu vergleichbaren Effekten in ‚Bewusstseinsfilmen‘ s. auch Oliver Jahraus im vorliegenden Band.

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4 Literarisches Gedankenexperiment, mögliche und fiktive Welten Thomas Macho hat Flatland als „Gedankenexperiment“ beschrieben.43 Der Begriff des Experiments mag in der Literaturwissenschaft etwas überstrapaziert sein.44 Dennoch lässt er sich für die Literatur fruchtbar machen, wenn das literarische Gedankenexperiment an ein „moderne[s] Verständnis“ vom Experiment anschließt, das „die Eröffnung eines Möglichkeitsraumes“ meint.45 Krause und Pethes verstehen das Experiment als „Medium, das in der Lage ist, bestehende Wissensformen zu reflektieren“.46 Das trifft auch auf das literarische Experiment zu, denn Literatur vermag „der aktuellen Erfahrung andere Möglichkeiten [...] vor Augen zu halten“.47 Dabei agiert Literatur mit einer gewissen Autonomie: „Anstatt also wissenschaftliche Aussagen bloß zu adaptieren, vermag Literatur alternative und zukünftige Möglichkeiten dieses Wissens durchzuspielen bzw. vergangene zu bewahren.“48 Für Flatland möchte ich in diesem Sinne einen ‚weichen‘ Begriff vom Experiment in Anschlag bringen, der die Funktion des Durchspielens von Möglichkeiten betont, sowie die Überprüfung des gegenwärtigen Wissensstandes, ohne das literarische Gedankenexperiment mit dem naturwissenschaftlichen gleichzusetzen. Das Experiment besteht im Falle von Flatland darin, gedanklich eine Perspektive einzunehmen, die wir eben nur gedanklich einnehmen können: die Perspektive zweidimensionaler Wesen. Hier wird das umgesetzt, was die Autoren von Literarische Experimentalkulturen mit Rückgriff auf Luhmann als Praxis zweiter Ordnung beschreiben: „Als eine solche Praxis zweiter Ordnung beobachtet ein Experiment mithin nicht die Welt. Vielmehr bedeutet Experimentieren zu beobachten, wie die Welt beobachtet wird […].“49 In der Beobachtung der Perspektive, die die Bewohner des Flächenlands einnehmen, zeigt sich die Begrenzung unserer eigenen Perspektive als dreidimensio-

|| 43 Thomas Macho, „Die Rätsel der vierten Dimension“ (Anm. 15), 67. 44 Vgl. Marcus Krause/Nicolas Pethes, „Zwischen Erfahrung und Möglichkeit: Literarische Experimentalkulturen im 19. Jahrhundert“, in: ders./dies. (Hg.), Literarische Experimentalkulturen. Poetologien des Experiments im 19. Jahrhundert, Würzburg: Königshausen und Neumann 2005, 7–18, hier: 7. Sicherlich lässt sich das literarische Gedankenexperiment nicht streng analog zum naturwissenschaftlichen verstehen. Benjamin Specht zum Beispiel stellt der Ergebnisoffenheit, Wiederholbarkeit und Variabilität des Experiments kritisch das „narrative (und damit auch finalisierte) Arrangement eines epischen Textes“ gegenüber („Über fiktionale Experimente und experimentelle Fiktionen. Rezension zu: Marcus Krause, Nicolas Pethes (Hg.): Literarische Experimentalkulturen. Poetologien des Experiments im 19. Jahrhundert. Würzburg 2005“, in: KulturPoetik 8.1 [2008], 115–120, hier: 116). 45 Marcus Krause/Nicolas Pethes, „Zwischen Erfahrung und Möglichkeit“ (Anm. 44), 14. 46 Ebd. 47 Ebd., 15. 48 Ebd. 49 Ebd., 14.

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nale Körper. Was dadurch vorstellbar gemacht wird, ist die Möglichkeit der Perspektive eines höherdimensionalen Wesens. Das Gedankenexperiment schafft damit eine kuriose Form von Wissenszuwachs: nicht ein neues Bewusstsein von Tatsachen, sondern von Möglichkeiten. Dieses Bewusstsein destabilisiert das Faktische und überführt es in epistemische Zweifel. Die Leistung von Flatland als Fiktion besteht also nicht primär darin, nichtexistierende Wesen zu erschaffen,50 sondern mögliche Welten, die andere Perspektiven aufweisen, als die uns bekannten, und auf diese Weise ein Bewusstsein für die Beschränkung unser eigenen erzeugen. Was wäre naheliegender als für ein Verständnis dessen, was hier passiert, die possible worlds theory zu bemühen. Die Relevanz dieser Theorie für literarische Texte ist durchaus umstritten. Wie zum Beispiel Zipfel schreibt, kann „dieses Konzept wenig zur Erklärung fiktiver Welten beitragen“: „Die Fiktivität der Geschichte eines Erzähltextes kann [...] nicht nur auf möglichem Nicht-Wirklichem beruhen, sondern auf Nicht-Wirklichem, das im Rahmen der Wirklichkeitskonzeption als nicht-möglich anzusehen ist.“51 Der „Spielraum fiktiver Welten“ ist damit „sehr viel größer als der möglicher Welten“ – fiktive Welten vertragen sogar „logische Widersprüche“.52 Auf diesen Unterschied sowie auf weitere Differenzen zwischen möglichen Welten im modallogischen Sinne und fiktiven Welten hat Ruth Ronen hingewiesen: It is not only [...] that logical possibility is not necessarily a valid criterion in the construction of fictional worlds, but also that the abstract-hypothetical nature of possible worlds, which defines their alternativeness to actuality and which allows the possibility of emptiness, contradicts the very nature of fictionality. Fictional worlds are, by definition, ‘pregnant’ worlds, concrete constellations of objects, and not abstract constructs […].53

Sicherlich wird der Begriff possible worlds, der Gegenstand hochspezifischer Debatten in der Philosophie ist, im literaturwissenschaftlichen Kontext häufig metaphorisch gebraucht.54 Der Begriff hat sich jedoch trotz konzeptueller Differenzen in der Literaturwissenschaft als produktiv erwiesen. Erstens erklärt er, wie unten näher erläutert, wie es sein kann, dass Begriffe in einem fiktionalen Rahmen doch auf ‚etwas‘ referie-

|| 50 So ließen sich mit einer referentiellen Theorie der Fiktion fiktive Gegenstände verstehen: als Dinge, die objektiv gesehen nicht existieren (s. Marie-Laure Ryans Diskussion der ‚Referential Theory of Fiction‘ in: Possible Worlds, Artificial Intelligence and Narrative Theory [Anm. 8], 13). 51 Frank Zipfel, Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität (Anm. 2), 83f. 52 Ebd. 53 Ruth Ronen, „Are Fictional Worlds Possible?“, in: Calin-Andrei Mihailescu/Walid Hamarneh (Hg.), Fiction Updated. Theories of Fictionality, Narratology, and Poetics, Toronto/Buffalo: U of Toronto P 1996, 21–29, hier: 23. 54 Vgl. ebd., 27: „[I]t seems that a fictional world can be considered a possible world only in a radically modified way. The analogy between fictional worlds and possible worlds must obey severe restrictions. Consequently, a ‘possible world’ can only be considered a metaphor for fictional existence.“

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ren. Zweitens erlaubt eine Theorie, die sich auf possible worlds bezieht, zu verstehen, wie fiktionale Texte einen Möglichkeitsraum veranschaulichen. Zentral ist hier Ryans Konzept des recentering, das auch die Perspektivänderung begrifflich fassen kann, die Flatlands Analogie von dritter und vierter Dimension erst mit Leben füllt. Um aber die unzweifelhafte Differenz zu möglichen Welten in der Philosophie deutlich zu machen, übernehme ich hier den von Zipfel vorgeschlagenen Begriff der ‚fiktiven Welten‘. Doch auch wenn die modallogischen Wurzeln der possible worlds theory hier somit keine Rolle spielen, ist die Diskussion des ontologischen Status, den Ryan in Bezug auf mögliche Welten verhandelt, für ein Verständnis dessen relevant, was Fiktionalität leistet. Possible worlds stellen eine Möglichkeit dar, sich des Problems der mangelnden Differenz zwischen literarischer Fiktion und falschen oder leeren Sätzen (reference failure) zu entledigen.55 Ist die aktuale Welt (actual world) nur eine vieler möglicher Welten, so ist fiktionale Rede weder mit falschen Aussagen zu verwechseln noch ohne Bezug, da sie sich auf Tatsachen bezieht – nur eben auf solche in möglichen Welten. Klärungsbedürftig ist natürlich der Status solch möglicher Welten und ihre Beziehung zur actual world. Mit Nicholas Rescher etwas tendenziös gefragt: „What is the ontological status of nonexistent possibilities?“56 Ryan diskutiert zwei in dieser Frage relevante Positionen: zum einen die indexikalische Theorie von David Lewis und zum anderen Reschers These einer ontologischen Differenz zwischen der möglichen und der aktualen Welt. Erstere behauptet die fundamentale Gleichheit möglicher Welten mit der aktualen Welt: Lewis zufolge sind beide real und existieren.57 ‚Aktual‘ ist nur eine indexikalische Bestimmung: „‘to be actual’ means: ‘to exist in the world from which I speak’.“58 So verführerisch die Radikalität dieses Gedankens ist, so schwer ist es, einer möglichen Welt die gleiche Autonomie, Realität und Aktualität zuzusprechen, wie der tatsächlichen, in der wir leben: „For, unlike real acts,“ so Rescher, „hypothetical ones, by their very nature, lack, ex hypothesi, that objective foundation in the existential order which alone could render them independent of conceiving minds.“59 Im Unterschied zu Lewis besteht Rescher daher auf der Singularität der aktualen Welt und klassifiziert „possible worlds not as absolutely existing entities but as constructs of the mind“.60

|| 55 Vgl. Peter Lamarque/Stein Haugom Olsen, Truth, Fiction and Literature (Anm. 4), 31. 56 Nicholas Rescher, „The Ontology of the Possible“, in: Michael J. Loux (Hg.), The Possible and the Actual. Readings in the Metaphysics of Modality, Ithaca/London: Cornell UP 1979, 166–181, hier: 167. 57 David Lewis’ Beschreibung der aktualen und der möglichen Welten als „differing not in kind“ verneint einen kategorialen Unterschied: „Our actual world is only one world among others. We call it alone actual not because it differs in kind from all the rest but because it is the world we inhabit.“ („Possible Worlds“, in: Michael J. Loux [Hg.], The Possible and the Actual [Anm. 56], 182–189, hier: 184) 58 Marie-Laure Ryan, Possible Worlds, Artificial Intelligence and Narrative Theory (Anm. 8), 18. 59 Nicholas Rescher, „The Ontology of the Possible“ (Anm. 56), 167f. 60 Marie-Laure Ryan, Possible Worlds, Artificial Intelligence and Narrative Theory (Anm. 8), 19.

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Ryans genialer Schachzug in der Verhandlung dieser Positionen besteht nun darin, dass sie beide gelten lässt, jedoch in verschiedener Hinsicht. Sie hält Reschers Position für eine gültige, objektive Beschreibung fiktiver Welten, verwirft aber dennoch nicht die Lewis’sche, sondern deutet diese um. Lewis’ Position wird zu einer „accurate explanation of the way we relate to these worlds“.61 Die mögliche Welt bekommt eine Art „pseudoreality“62 und wird gewissermaßen zur aktualen Welt: „Once we become immersed in a fiction, the characters become real for us, and the place they live in momentarily takes the place of the actual world.“63 Ryan bezeichnet diesen Stellentausch als recentering. Durch Immersion nimmt die fiktive Welt den Platz der tatsächlichen ein, und wir teilen für die Dauer der Lektüre die Perspektiven dieser Welt und den Ausblick auf andere mögliche Welten, die sich aus ihr ergeben: For the duration of our immersion in a work of fiction, the realm of possibilities is thus recentered around the sphere which the narrator presents as the actual world. This recentering pushes the reader into a new system of actuality and possibility. As a traveler to this system, the reader discovers not only a new actual world, but a variety of APWs [alternative possible worlds] revolving around it. Just as we manipulate possible worlds through mental operations, so do the inhabitants of fictional universes: their actual world is reflected in their knowledge and beliefs, corrected in their wishes, replaced by a new reality in their dreams and hallucinations.64

Mit Linienlandkönig und Punktlandkönig öffnet Flatland dem Leser die Augen für die Pluralität möglicher Welten und die Perspektiven, die diese Welten konfigurieren. Trotz ihrer epistemischen Kraft sind diese Perspektiven nicht frei, sondern ‚eingekörpert‘ in und beschränkt durch die Zahl oder den Mangel an Dimensionen von Punkt, Linie, Fläche und Kugel. Wie dem Quadrat über das recentering auf der Reise in andere Welten das Einnehmen neuer Perspektiven möglich wird, so wird dies dem Leser durch die fiktionale Erzählung zuteil. Flatland integriert das Problem von Fakt oder Fiktion in die Fiktion vom Flächenland und entlarvt Wissen als Frage der Perspektive. Beschränkungen werden in der Konfrontation mit anderen Welten wahrnehmbar und vor allem im Perspektivenwechsel, den das alte Quadrat durch seine Reise ins Raumland vollzieht: Mit dem ungewohnten Blick aus der Höhe sieht das Flächenland ganz anders aus, und was Wissen war, erscheint nun als eine Fiktion. Der fiktionsintern ermöglichte Perspektivenwechsel stellt die Frage nach dem Verhältnis von Fakt und Fiktion neu. Damit lässt sich Flatland als Allegorie fiktionaler Darstellung lesen, die über die Konstruktion fiktiver Welten Mögliches vorstellbar oder gar nachvollziehbar macht, dabei das immer schon Gewusste in Frage stellen kann und in der mehr oder minder losen Kopplung mit der (textexternen) Wirklichkeit || 61 Ebd., 21. 62 Ebd. 63 Ebd. 64 Ebd., 22.

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die Differenz von Fakt und Fiktion zum Schwingen bringt. Mit der ‚Verschiebung‘ der aktualen Welt im Akt des Lesens wird das Verhältnis von fiktiver und tatsächlicher Welt virulent: Nur durch dieses Ins-Verhältnis-Setzen gelingt Abbotts Gedankenexperiment überhaupt insoweit, als es uns über die beschränkte Perspektive der Flächenländler die alltägliche Beschränkung unserer eigenen Perspektive vor Augen führt.

5 Multidimensionalität der Fiktion Flatland lässt sich keineswegs auf die Frage nach der Zahl möglicher Dimensionen beschränken. Im Vergleich zur einfachen Analogie nach dem oben beschriebenen Muster (zwei Dimensionen verhalten sich zu dreien wie drei Dimensionen zu vieren), leistet es sehr viel mehr. So sind die Flächenländler einem strengen geometrischen Determinismus unterworfen. Sozialer Status, Rechte und Pflichten, aber auch Intelligenz, Rationalität und Willensstärke sind allein durch die äußere Gestalt bzw. die geometrische Identität bestimmt. Resultat ist ein strenges Klassensystem, in dem viele Kommentatoren eine sozialkritische Satire auf das britische Klassensystem der viktorianischen Zeit erkannt haben. Die Unterscheidungsmerkmale, auf denen die Klassenzuschreibung im Flächenland beruht, sind Winkelgröße und Anzahl der Seiten (das gilt zumindest für die männlichen Bewohner – die Frauen sind stets Geraden). Je spitzer der Winkel und je geringer die Seitenzahl, desto niedriger ist der soziale Status.65 Die Sozialgeometrie, die Abbott hier entwirft, ist von bestechender Einfachheit: Es handelt sich um ein Korrespondenzprinzip von physischer Form und sozialer Position. Auch das Geschlecht ist in Flatland geometrisch kodiert. Bei den Frauen handelt es sich um Geraden, die die anderen geometrischen Figuren – die Männer also – nur allzu leicht durchbohren können. Dies mag man als Angst vor der phallischen Kraft der Frau lesen oder als physisches Äquivalent zur angeblichen weiblichen Spitzzüngigkeit. Es bleibt letztlich unklar, ob Abbotts Bemerkungen zum weiblichen Geschlecht viktorianische Frauenbilder bestätigen oder destabilisieren.

|| 65 So stellen z.B. die gleichschenkligen Dreiecke das Heer der Soldaten. Da sie nicht einmal drei gleiche Seiten haben, verdienen sie es kaum, zur Gattung der Menschen gezählt zu werden, wie der Erzähler schreibt, denn Regelmäßigkeit der Form ist in Flächenland ein Muss. Über den gleichschenkeligen stehen die gleichseitigen Dreiecke. Diese bilden die Mittelklasse. Die Quadrate und Pentagone stellen Mediziner und Anwälte, die Polygone ab sechs Seiten bilden den Adel. Die Priester bilden die oberste Klasse; sie weisen so viele Seiten auf, dass sie von Kreisen nicht mehr zu unterscheiden sind. Dynamik entsteht nur durch den Prozess der Fortpflanzung: „It is a Law of Nature with us that a male child shall have one more side than his father, so that each generation shall rise (as a rule) one step in the scale of development and nobility“ (Edwin A. Abbott, Flatland [Anm. 11], 15). Ausgenommen von diesem intergenerationellen Aufstiegsprozess sind jedoch die Frauen, die meisten Soldaten (gleichschenklige Dreiecke) und manche Handwerker und Händler (gleichseitige Dreiecke).

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Die dritte und letzte Unterscheidung ist eine politisch-sittliche: Ein Mangel an Ebenmäßigkeit, der sich in ungleicher Länge der Seiten zeigt, zeugt in den Augen der Bewohner des Flächenlands von moralischer Unregelmäßigkeit und sogar Kriminalität. Die Korrespondenz zwischen Physis (oder Physiognomie) und geistiger Verfassung greift auf Diskurse des neunzehnten Jahrhunderts zurück, für die Cesare Lombrosos Typologie des geborenen Verbrechers als paradigmatisch gelten kann.66 In Flatland wird bisweilen ganz darauf verzichtet, die ‚Irregulären‘ zu ernähren; was nicht nur kostengünstig ist, sondern auch zur Reduktion der sich unmäßig vermehrenden Unterklasse beiträgt. Flatland zeichnet das Bild einer Anti-Utopie, einer Gesellschaft, die eben gerade nicht ideal ist und auf verschiedene Weise der realen Gesellschaft einen Zerrspiegel vorhält. Dieses ausführlich dargestellte Gesellschaftssystem hat mit der mathematischen Frage nach der vierten Dimension nicht viel zu tun. Es handelt sich um einen Überschuss, der sich der fiktionalen Darstellung des Dimensionenproblems verdankt, die im Entwurf der fiktiven Welt anderes und mehr generiert als eine einfache Analogie der Dimensionen.67 Zwar dient auch die sozialgeometrische Darstellung letztlich dem Anliegen, die mögliche Absurdität der eigenen Unterscheidungen und Lösungsansätze vorstellbar zu machen. Während wir über die sozialgeometrische Einteilung der Bewohner des Flächenlands lächeln, mag einem Wesen der vierten Dimension auch unsere Gesellschaft absurd oder zumindest suspekt erscheinen. Dennoch erschöpft sich die detaillierte Ausarbeitung der flächenländischen Gesellschaft nicht in einer Hinlenkung auf das Problem der Perspektive. Sie kann auch als konkreter Kommentar auf die viktorianische Gesellschaft gelesen werden, ohne dass sich für jeden Aspekt ein äquivalentes realweltliches Problem oder eine Lösung finden ließe. Fern davon, bloß ein geometrisches Problem anschaulich – oder besser: vorstellig – zu machen, bietet die Fiktion multiple Anknüpfungspunkte, die sich keineswegs alle in einem konkreten Wirklichkeitsbezug auflösen lassen. Fiktionalität als soziale Praxis gestattet eine Freiheit des Entwerfens und Interpretierens der fiktiven Welt, die weder durch die Notwendigkeit von noch durch den Mangel an Übereinstimmungen mit der Wirklichkeit gezügelt wird.68 Ein weiterer Anknüpfungspunkt soll hier noch kurz angesprochen werden. Die vierte Dimension ist nämlich im langen neunzehnten Jahrhundert nicht nur mathe-

|| 66 Sein Werk über den Verbrecher, L’Uomo delinquente, erschien 1876. 67 Vgl. Lila Marz Harper, die feststellt, dass Abbotts ursprüngliches Vorhaben („original intention“), dem Leser per Analogie die vierte Dimension näherzubringen, im Zuge der Erzählung einen Überschuss an Bedeutungen produziert: „As the novel’s plot advances, […] it is apparent that more social and mystical meanings lie beneath the surface“ („Flatland in Popular Culture“ [Anm. 36], 294). 68 Vgl. Ruth Ronen: „The fictional world certainly clings to, and depends on, frames of actuality. Yet, at the same time, a model for fiction should account for its indispensable degree of autonomy“ („Are Fictional Worlds Possible?“ [Anm. 53], 26).

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matisches Problem, sondern auch eine Verheißung für Mystiker und Spiritisten.69 Allen voran ist hier Friedrich Zöllner zu nennen,70 Professor für Physik in Leipzig und zeitweilig befreundet mit Fechner. Zöllner behauptete, er könne die Existenz einer vierten Raumdimension nicht nur theoretisch, sondern mithilfe des berühmten zeitgenössischen Mediums Henry Slade auch experimentell beweisen.71 Fortan erklärte die vierte Dimension all jene Erscheinungen, die in drei Dimensionen unerklärlich blieben. Auch Wittgenstein verknüpft in einer Bemerkung über die Mathematik die vierte Dimension mit der Frage nach den Lebensbedingungen der Geister.72 Flatland spielt ebenfalls mit dem paradigmatischen Repertoire mystischer Phänomene: Man hört Stimmen aus dem Nirgendwo, die Kugel taucht plötzlich an anderen Orten wieder auf, sie kann ins ‚Innere‘ der zweidimensionalen Figuren schauen – kurz: Sie weiß alles und kann alles. Auch hier zeigt sich ein fiktionaler Mehrwert. Die fiktive Welt enthält mehr und anderes als für den Analogieschluss der Dimensionen nötig wäre.

6 Schlussbemerkung Flatland ist eine epistemische Utopie, die uns etwas über die Bedingungen des Denkens verrät. Der Gehalt von Flatland erschöpft sich nicht in der Vorstellbarmachung einer vierten Dimension. Fechners Satz – „Wir sind nur Farben- oder Schattenmännchen in drei Dimensionen statt in zweien“73 – gilt nicht nur für den Raum, sondern für sämtliche Bereiche des Denkens. Er verweist auf die Grenzen, innerhalb derer sich das Denken allgemein abspielt und jenseits derer das Außen des Denkens, das Undenkbare aufleuchtet. Die konkrete Ausprägung dieser Grenzen ist historisch und kulturell verschiebbar, die Existenz solcher Grenzen aber eine Tatsache. Wir kommen gleichsam nie aus der flachen Welt heraus. Eine solche Einsicht ist Teil des Gedankenexperiments, das Flatland darstellt. Doch die Parallelführung verschiedener Welten im fiktionalen Modus (erinnert sei an den Titel des zweiten Teils von Flatland, „Other Worlds“) erlaubt eben jenes wiederholte recentering, das die Plura-

|| 69 Vgl. Thomas Macho, „Die Rätsel der vierten Dimension“ (Anm. 15), 71. 70 Vgl. Thomas Macho, der darauf hinweist, dass Geister für Zöllner „Wesen aus der vierten Dimension“ seien (ebd., 72). 71 Vgl. Linda Dalrymple Henderson, The Fourth Dimension (Anm. 14), 22f. J. C. Friedrich Zöllners Aufsatz “On Space of Four Dimensions” (in: The Quarterly Journal of Science, April 1878, 227–237) endet mit der Verteidigung Slades gegen jene Wissenschaftler, die ihn des Betrugs anklagten (vgl. Linda Dalrymple Henderson, The Fourth Dimension [Anm. 14], 22f). 72 „Denke dir die Geometrie des vierdimensionalen Raums zu dem Zweck betrieben, die Lebensbedingungen der Geister kennen zu lernen. Ist sie darum nicht Mathematik?“ (Ludwig Wittgenstein, Bemerkungen über die Grundlagen der Mathematik, Werkausgabe Bd. 6, hg. v. G. E. M. Anscombe/ Rush Rhees/G. H. von Wright, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1984, 260). 73 Gustav Theodor Fechner, „Der Raum hat vier Dimensionen“ (Anm. 38), 25.

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lität möglicher Perspektiven und Einsichten erfahrbar macht. Was die einfache Analogie – zweidimensionale Wesen können die dritte Dimension ebenso wenig begreifen, wie wir die vierte – bloß ‚mitteilt‘ oder aussagt, wird durch Immersion in die fiktive Welt des Quadrats und die Konfrontation sowohl mit ihren geträumten Alternativen (Linienland, Punktland) als auch mit der ‚Wirklichkeit‘ des Raumlands nachvollziehbar. Der entscheidende Punkt bleibt dabei unbeantwortet: Welchen Status hat die Vorstellung von vier, fünf, sechs oder mehr Dimensionen? Sind dies mögliche, unmögliche oder gar wirkliche Existenzweisen? Gerade weil Flatland in seiner Eigenschaft als Fiktion nicht klären muss (und kann), ob die vierte Dimension in das Reich der Fakten oder der Fiktion gehört, wird die mangelnde Evidenz dieser Differenz herausgestellt. Dies ist eine genuine Leistung der Fiktionalität des Werkes, wenn wir Fiktionalität als eine soziale Praxis mit entsprechender kognitiver Haltung begreifen, die Immersion und recentering ermöglicht und damit den Blick für andere Perspektiven und Möglichkeiten eröffnet. Bereits durch den Perspektivenwechsel, der das Flächenland an die Stelle unseres Raumlandes rückt, wird die eigene Perspektive fragwürdig und damit auch die von ihr ‚geschauten‘ Tatsachen. Spätestens mit der ablehnenden Haltung der Kugel wird dem Leser die mögliche Begrenzung der eigenen Perspektive bewusst. Sie verkörpert in der fiktiven Welt von Flatland unsere eigene Perspektive als dreidimensionale Körper, und ihre Empörung auf die Frage nach der vierten Dimension gleicht auf verräterische Weise der Entrüstung der Flächenländler, wenn ihre Perspektive auf den Raum in Frage gestellt wird. Der Leser vollzieht mit Flatland nicht einfach nur ein recentering: Flatland nutzt zugleich fiktionsinterne Perspektivenwechsel, um Wirklichkeit an sich als ontologisches Problem zu inszenieren. Durch multiple Perspektivenwechsel wird die Möglichkeit des NichtErfahrbaren nachvollzogen und plausibel gemacht. Mit der Hybris der Kugel, die meint, es gebe kein höherdimensionales Wesen, und der neu gewonnenen Einsicht des Quadrats in die Möglichkeit eines Mehr an Dimensionen wird die Identifikation mit der Kugel, deren Perspektive wir als dreidimensionale Körper teilen, brüchig und die Evidenz unserer eigenen Wahrnehmungsweise fraglich. Gleichzeitig lässt sich in der fiktionalen Darstellung ein Überschuss verorten, der in der irreduziblen Multidimensionalität von Flatland besteht: Flatland erweist sich als Kreuzungspunkt verschiedenster Diskurse und Kontexte, ohne dass es sich ‚rückstandsfrei‘ in eine konkrete Menge an Bedeutungen auflösen ließe. Die semantische Vielstimmigkeit und Ambiguität des (literarischen) Textes ist in der Postmoderne beinahe schon zur Platitüde geworden; doch an Flatland lässt sich dieses Phänomen als Effekt einer ‚multidimensionalen‘ fiktiven Welt aufzeigen. Man kann versuchen, Flatland zu historisieren, man kann die Erzählung mit der Spannung zwischen „the needs of the spirit and the demands of the intellect“ in Beziehung setzen,74 mit

|| 74 Rosemary Jann, „Abbott’s Flatland: Scientific Imagination and ‚Natural Christianity‘“, in: Victorian Studies 28.3 (1985), 473–490, hier: 473.

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Diskursen um die Differenz zwischen Religion und Wissenschaft und um die Notwendigkeit imaginärer Sprünge ins Nichts, ins Unweltliche, die mit gleicher Strenge von der Geometrie wie vom Christentum eingefordert werden;75 oder auch mit geschlechterspezifischen Diskursen, Physiognomie und sozialen Fragen. Doch gilt, was unser Quadrat im Vorwort zur zweiten, überarbeiteten Ausgabe durch den ‚Herausgeber‘ seines Berichts übermitteln lässt: „[H]e begs his readers not to suppose that every minute detail in the daily life of Flatland must needs correspond to some other detail in Spaceland […].“.76 Neben dieser expliziten Reflexion des nur losen Zusammenhangs von Fiktion und Wirklichkeit fungiert die zweidimensionale Utopie selbst als Reflexion auf das Entwerfen auf dem Papier. Macho weist darauf hin, dass Flatland „von seinen eigenen Bedingungen“ erzählt, „von jenen Kulturtechniken nämlich, die Gedankenexperimente überhaupt erst möglich machen. Gedankenexperimente sind zumeist Experimente auf dem Papier“.77 Flatland beschreibt das Spiel des reinen Entwurfes, der als Raumoperation auf dem Papier keiner Realität verpflichtet ist. Die fiktive Welt, die dadurch erzeugt wird, hat die Kraft, das Nicht-Anschaubare anschaulich zu machen.

|| 75 Rosemary Jann weist darauf hin, dass Abbott sowohl in Flatland als auch in seiner Bibelkritik zeigen wollte, dass der christliche Glaube keinen Glauben an Unglaubwürdiges oder Unnatürliches verlange, dass aber die wissenschaftliche Realität ebenso eines „leap of faith“ (ebd., 474) bedürfe wie die Religion. 76 Edwin A. Abbott, Flatland (Anm. 11), 4. Dennoch gilt natürlich, was Nicholas Rescher über Möglichkeitsaussagen schreibt: „Possibilistic claims have their principal point where the contrast between the actually real and the hypothetically possible prevails, and where the domain of what is or what does happen is to be augmented by what can be or what might happen“ („The Ontology of the Possible“ [Anm. 56], 167). Der ‚Witz‘ an Flatland liegt im Rückbezug der fiktiven auf die aktuale Welt. 77 Thomas Macho, „Die Rätsel der vierten Dimension“ (Anm. 15), 76f.

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Inception: Medienmetapher und Fiktionsspiel In den folgenden Überlegungen geht es darum, ein einfaches Modell zu entwerfen und vorzustellen, das mit Blick auf neuere Entwicklungen erklärt, wie bestimmte Spielfilme versuchen, ihre eigene Fiktionalität zum Thema und zum Sujet zu machen und sie so als Spielmaterial zu gewinnen. Als Spielfilm wird dabei jeder Film mit einer in der Regel fiktiven Handlung und fiktionalen Erzählweise verstanden. Im Blickpunkt stehen dabei insbesondere sog. Bewusstseinfilme oder mindgame movies, wie z.B. Fight Club (R.: David Fincher, USA/D 1999), The Sixth Sense (R.: M. Night Shyamalan, USA 1999) oder eben auch Inception (R.: Christopher Nolan, USA/UK 2010), die sich dadurch auszeichnen, dass sie ihren Zuschauer1 über weite Strecken im Unklaren darüber lassen, welchen ontologischen Status die im Film dargestellte Welt besitzt, ob sie für die Figuren wirklich oder nur von einer Figur eingebildet ist, ob die Figur sich auf ihre Realitätserfahrung verlassen kann oder ob sie, ohne dass sie selbst oder der Zuschauer es weiß, in einer Scheinwelt lebt. Bei solchen Filmen wird in der Regel die filminterne Realitätswahrnehmung der Figur mit der filmexternen des Zuschauers gleichgesetzt. Figur und Zuschauer glauben, dass sich die Figur in einer (fiktionsinternen) Realität bewegt, und erst danach – z.B. im Zuge eines plot twist – wird deutlich, dass die Figur oder der Zuschauer oder beide einer Täuschung erlegen sind. Es wird sich zeigen, dass solche Filme damit nicht allein ein Verfahren umsetzen, das es erlaubt, den eigenen fiktionalen Status auszustellen und zu reflektieren. Vielmehr generieren sie eine filminterne Differenz zwischen einer Realität, die für die Figuren und für die Zuschauer zunächst nicht in Frage steht, und einer Erfahrungswelt, die keinen Realitätsstatus beanspruchen kann, was aber zumeist erst später offenkundig wird. Dadurch aber ergibt sich die Möglichkeit, die Beziehung zwischen der fiktionsinternen Differenz von Realität und nicht-realer Erfahrungswelt der Figur auf das Verhältnis von Film und Zuschauer, von einer dargestellten Realität zu einer Realitätserfahrung des Zuschauers zu übertragen. Für den Zuschauer kann auf diese Weise der fiktionale Status des Films in besonderer Weise bewusst werden. Das wäre die Analogie der Ebenen: So wie die Figur eine Erfahrungswelt erlebt, die nicht die filminterne Realität ist, erlebt der Zuschauer eine Filmrealität, die nicht seine Realität ist. Was auf der Handlungsebene bspw. als Bewusstseinsinhalt einer Figur als Traum, als Vision, als psychischer ‚Trip‘ erscheint, entspricht auf der Ebene der Rezeption des Films der Fiktion. Eine besondere Pointe bestünde dann in einer Verquickung der beiden Ebenen. Wenn im Film die Differenz zwischen Realität und

|| 1 Im Folgenden wird der einfacheren Lesbarkeit wegen die grammatisch unmarkierte Form des Begriffs Zuschauer oder Rezipient verwendet.

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Scheinwelt vorgeführt und gleichzeitig problematisiert und/oder unterlaufen wird, so kann man bei den hier im Blickpunkt stehenden Filmen eine mögliche Vorgabe für die (filmexterne) Rezeption ableiten: Das Verhältnis des Zuschauers zur erzählten Geschichte wäre als analog zum Verhältnis der Erfahrung einer Scheinrealität oder einer zumindest ontologisch unsicheren Realität durch die Figur zu ihrer tatsächlichen, ‚wirklichen‘ Welt zu begreifen. Die Figur erlebt eine Liebesbeziehung, die sich als Einbildung herausstellt, der Zuschauer sieht eine Liebesgeschichte, die sich als Traum herausstellt (so zum Beispiel in Abre los ojos [R.: Alejandro Amenábar, E/F/I 1997] oder später im Remake Vanilla Sky [R.: Cameron Crowe, USA/E 2001]). Diese doppelbödige Inszenierung legt dem Zuschauer die Frage nahe, welchen Aufschluss der Film über die Bedingung der Realitätswahrnehmung durch ihn, den Zuschauer selbst, geben kann, wenn schon die von ihm beobachtete Figur in einer Scheinwelt lebt. Vielleicht mag der Zuschauer sich am Ende gar fragen, ob er möglicherweise selbst in einer Scheinwelt lebt. Für die Figur mag dies eine existenzielle Krise, für den Zuschauer ein ästhetischer Genuss sein. Daraus lässt sich ein Modell extrahieren, das sowohl filmtheoretische als auch gattungstypologische und methodologische Implikationen besitzt. Es kann transparent machen, welche Strategien Filme in einer fiktionalen Konstruktion anwenden, um ihren eigenen fiktionalen Status auszustellen und gleichzeitig zu unterlaufen, mithin eine Rezeptionssituation zu schaffen, in der sie nicht mehr als fiktional wahrgenommen und eingestuft werden wollen. Es könnte zudem erklären, wie Filme dieser Art die grundlegende Annahme widerrufen, dass Fiktionalität eine Eigenschaft sei, die einem Text von einem Rezipienten erst zugesprochen wird, und wie sie darüber eine Idee entwickeln, der zufolge die Zuschreibung von Fiktion/alität nun selbst eine Funktion der erzählten Geschichte sei. Der „Statuswechsel von Texten zwischen Fiktion und Nicht-Fiktion“, den Andreas Kablitz als historischen Prozess von Zurechnungs- und Wahrnehmungsprozessen rekonstruiert, wird bei diesem Typus von Film somit als Konstruktion des Textes selbst in den Blick genommen.2 Diesem Modell ist eine gewisse medienspezifische Brisanz zuzusprechen. Natürlich gibt es in allen Medien, die fiktionale Texte hervorbringen, Tendenzen, die eigene Fiktionalität auszustellen, gerade auch dann, wenn sie – in einer negativen Figur – in Abrede gestellt wird und stattdessen der Wahrheitsgehalt und die Authentizität der erzählten Geschichte behauptet werden. Dazu könnte man z.B. Herausgeberfiktionen zählen, die gerade mit fiktionalen Mitteln (ein Herausgeber wird erfunden) die Fiktionalität des (‚herausgegebenen‘) Textes in Abrede stellen. Inwiefern dies als eine Formel zu verstehen ist, die ihrerseits wiederum nur Bedeutung im Rahmen

|| 2 Andreas Kablitz, „Literatur, Fiktion und Erzählung – nebst einem Nachruf auf den Erzähler“, in: Irina O. Rajewsky/Ulrike Schneider (Hg.), Im Zeichen der Fiktion. Aspekte fiktionaler Rede aus historischer und systematischer Sicht. Festschrift für Klaus W. Hempfer zum 65. Geburtstag, Stuttgart: Steiner 2008, 13–44, hier: 14f.

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einer fiktionalen Konstruktion erhält, wäre eine gesondert zu behandelnde Frage, um die es hier nicht gehen soll. Vielmehr wird eine andere Entwicklung in den Blick genommen, die sich anhand von Spielfilmen der letzten beiden Dekaden verstärkt beobachten lässt. Grundsätzlich wird man nicht in Abrede stellen können, dass die Zuweisung einer Kategorie wie Fiktionalität medienspezifische Prädispositionen beachten muss. Ein Film lässt eine dargestellte Welt nicht als Imagination im Bewusstsein eines Lesers entstehen, wie dies bei der Literatur der Fall ist, sondern macht sie für einen Zuschauer sichtbar. Auch wenn man hier nicht mit Siegfried Kracauers Filmtheorie von der „Errettung der äußeren Wirklichkeit“3 sprechen will, so sind Lesen und Sehen hinsichtlich der Wahrnehmung einer dargestellten Realität doch unterschiedliche Operationen, was Auswirkungen auf das Verständnis von Fiktionalität hat. Vor diesem Hintergrund bezeichnet das vorgeschlagene Modell nicht nur eine Genrekonvention oder auch nur ein Sujetarsenal einer bestimmten Art von Filmen, nicht nur eine bestimmte ‚Masche‘ der Sujetgestaltung. Vielmehr macht es, wie im Folgenden deutlich werden soll, ein medientheoretisch fassbares Konstitutionsprinzip des Spielfilms schlechthin sichtbar. Aus einem solchen Modell wären dann durchaus weitreichende Implikationen abzuleiten – für die Praxis der Filmanalyse ebenso wie für eine Theorie des Spielfilms.

1 Fiktion als Verhältnisbestimmung und die methodische Frage Um dieses Modell und seine Brisanz deutlich zu machen, ist es zunächst notwendig, sich kurz über das Verhältnis von Fiktion und Realität zu verständigen und die Begriffe Fiktion und Fiktionalität zu unterscheiden.4 Ich folge hier der Differenzierung von Andreas Kablitz, die er wiederum in Auseinandersetzung mit Klaus W. Hempfers Konzeption entwickelt: Kablitz unterscheidet Fiktivität von Fiktionalität und ordnet beiden jeweils verschiedene Gegenbegriffe zu, sodass er zu zwei Differenzrelationen

|| 3 Siegfried Kracauer, Theorie des Films. Die Errettung der äußeren Wirklichkeit, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1964. 4 Im vorliegenden Band erübrigt es sich, die Forschungsliteratur aufzulisten. Es sei daher nur exemplarisch verwiesen auf: Martin Andree, Archäologie der Medienwirkung. Faszinationstypen von der Antike bis heute (Simulation, Spannung, Fiktionalität, Authentizität, Unmittelbarkeit, Ursprung), München: Fink 2005; Remigius Bunia, Faltungen. Fiktion, Erzählen, Medien, Berlin: Schmidt 2007; Elena Esposito, Die Fiktion der wahrscheinlichen Realität, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2007; Gottfried Gabriel, Fiktion und Wahrheit. Eine semantischen Theorie der Literatur, Stuttgart: Frommann-Holzboog 1975; Wolfgang Iser, Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1991; Frank Zipfel, Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität. Analysen zur Fiktion in der Literatur und zum Fiktionsbegriff in der Literaturwissenschaft, Berlin: Schmidt 2001.

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kommt: fiktional vs. faktual und fiktiv vs. real. Demnach gilt das Fiktive „als eine[] Eigenschaft des Dargestellten“ und das Fiktionale „als eine[] Eigenschaft der Darstellung“.5 Fiktivität betrifft, Kablitz zufolge, eine Eigenschaft bzw. bezeichnet den ontologischen Status der dargestellten Welt (real/historisch verbürgt vs. erfunden); Fiktionalität zielt auf eine Eigenschaft der Rede bzw. des jeweiligen Diskurses (fiktional vs. faktual). Dieser Verwendung folgend, ist ‚Fiktion‘ (im Vergleich zu Fiktivität und Fiktionalität) ein Ober- bzw. ein unspezifischerer Begriff, der beides umfasst. In beiden Fällen kann es zu hybriden Formen kommen: So kann Realität fingiert und der Eindruck von Faktualität fiktional erzeugt werden. Zudem kann die Erzeugung solch hybrider Verschiebungen selbst wiederum im Film fiktional inszeniert werden, z.B. dann, wenn der Film eine Situation entwirft, in der ein weiterer Film – oder eine filmanaloge Struktur (z.B. ein Traum) – im Film intradiegetisch als ‚Realität‘ wahrgenommen wird. In der alltäglichen Medienrezeption und im gewöhnlichen Filmkonsum treten in der Regel keinerlei Probleme bezüglich des fiktionalen Status von Spielfilmen und der Fiktivität des von ihnen Dargestellten auf. Generell ist der fiktionale Status von Texten auch in unterschiedlichsten Medien unproblematisch, wobei Ausnahmen wie Orson Welles’ berühmtes Hörspiel aus dem Jahre 1938 die Regel bestätigen.6 Es mag auch sein, dass es einem Computerspiel gelingt, so starke Immersionseffekte zu erzeugen, dass der emotionale Apparat des Rezipienten überlastet wird: Der Rezipient kann sich den fiktionalen Status quo nicht mehr vergegenwärtigen und verliert sich im Spiel. Doch zwischen den Realitätsvorstellungen des Rezipienten und der inszenierten Realität einer dargestellten Welt – so realistisch diese auch im Einzelfall wirken mag – besteht eine Kluft, eine unüberbrückbare Differenz, und im Prinzip ist diese Kluft genau die Voraussetzung dafür, dass fiktionale Texte als solche überhaupt rezipiert werden können. Daher kann man diese Differenz aus heuristischen Gründen als formales Kriterium für Fiktionalität angeben. Fiktionalität bekommt damit einen transzendentalen Charakter, sie wird zur Bedingung der Möglichkeit der Rezeption fiktionaler Texte. Als solche ist sie ein formales Kriterium, das so etwas wie eine notwendige Rahmung darstellt. Ohne diesen Rahmen gäbe es dasjenige nicht, was man innerhalb des Rahmens wahrnehmen kann. Und doch stößt die Metapher des Rahmens für Kognitionsprozesse7 hier auch wiederum an ihre Grenzen. Ein Bild lässt sich aus seinem Rahmen entfernen, bleibt aber dennoch dasselbe Bild. Im vorliegenden Zusammenhang ist dagegen || 5 Andreas Kablitz, „Literatur, Fiktion und Erzählung“ (Anm. 2), 15. 6 Das Hörspiel War of the Worlds, das von einer Invasion der Erde durch Außerirdische handelt, wurde von einigen Hörern als reale Berichterstattung aufgefasst. Sie verwechselten nicht nur das Genre (Hörspiel vs. Reportage), sondern auch das mit diesen Formaten jeweils gegebene Verhältnis von Fiktion/alität und Realität. Siehe Jon Gosling, Waging the War of the Worlds: A History of the 1938 Radio Broadcast and Resulting Panic, Including the Original Script, Jefferson: McFarland 2009. 7 Vgl. Ernst Pöppel, Der Rahmen. Ein Blick des Gehirns auf unser Ich, München: Hanser 2006.

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ein Bedingungsrahmen gemeint, ein Rahmen, der bedingt und mithin konstituiert, was er rahmt. Entfiele dieser Bedingungsrahmen, würde man nicht nur das, was innerhalb des Rahmens beobachtbar ist, anders beobachten, man würde schlichtweg etwas anderes beobachten. Vor diesem Hintergrund dürfte die Idee, dass Filme selbst diesen Bedingungsrahmen in ihr Sujet integrieren, umso merkwürdiger erscheinen. Filme würden dann eine Geschichte derart erzählen, dass die Zuschreibung von Fiktionalität durch einen (realen) Zuschauer mit einer Struktur der Geschichte oder ihrer Erzählung kollidiert. Eine solche Konstellation würde sich immer dann ergeben, wenn filmintern eine Rezeptionssituation dargestellt wird, in der Rezipienten einen Text (z.B. einen Film im Film, aber auch ein Buch, eine Karte, einen Traum o.Ä.m.) als fiktional einstufen und dann ge- oder enttäuscht werden, und wenn – das ist entscheidend – der Zuschauer diese Erfahrung auf seine eigene Rezeption eben dieses Films beziehen könnte. So kann er sich z.B. mit Blick auf eine entsprechende Rahmenkonstruktion fragen, ob das, was in einer bestimmten Sequenz gezeigt wird, fiktionsintern der Wahrheit/Realität entspricht, oder lediglich die Vorstellung einer Figur von ihrer Welt visualisiert: Hat die Figur die gezeigte Situation erlebt, oder stellt sie sich nur vor, sie hätte sie erlebt? Die doppelte methodische Frage, die sich daran anschließt, lautet: Erstens, wie und warum setzen Filme eine solche autoreflexive Struktur um? Wie also lässt sich das Phänomen beschreiben und analysieren, dass Filme wie Inception mit ihrer eigenen Fiktionalität spielen, indem sie beispielsweise nicht nur von Träumen erzählen, sondern sich selbst als Traum des Zuschauers ausgeben, unabhängig davon, ob der reale Zuschauer dieses Spiel mitspielt oder nicht? Und zweitens, welche Funktion erfüllt dieser Mechanismus? Voraussetzung für die Beantwortung dieser Fragen ist es, zu erkennen, wie – abstrakter und weniger auf ein spezifisches Medium bezogen formuliert – ein Medium (hier: Film oder Traum) sich im Medium (Film) selbst darstellt und entwirft, weil damit die Bedingungen für eine Rezeption des Mediums im Medium selbst formuliert werden – mögen sie nun aus einer externen, kritischen oder analytischen Sicht von außen nachvollziehbar sein oder nicht. Bei einem Film, in dem z.B. eine Figur ihren Traum (filmintern) für Realität hält, was nur der Zuschauer aus einer filmexternen Perspektive durchschauen kann, ist er, der Zuschauer, aufgefordert, anders mit dem Film und seiner Fiktionalität umzugehen. Das wird verständlich, wenn man das Gegenteil betrachtet: Eine Figur, die träumt und weiß, dass sie träumt (oder geträumt hat), hat kein Problem, das Träumen selbst, nicht aber den Traum für Realität zu halten. Die Realitätserfahrung dieser Figur würde (auf anderer Ebene) nicht mit der des Zuschauers kollidieren. Hält die Figur den Traum aber für Realität, gibt es diese Kollision. Daher kann ein Zuschauer zu der Frage provoziert werden, ob seine Rezeption des Films – und mithin seine Realität – nicht auch als ein Traum, eine Scheinrealität aufzufassen ist. Genau damit operiert der Film Inception. Im Fokus steht somit die Selbstreflexion des Mediums. Der analytische Blick richtet sich auf jene Formen, in denen im Film der Film selbst repräsentiert wird.

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Das muss nicht unbedingt ein konkreter Film im Film sein: Wie deutlich werden wird, lassen sich ähnliche Medienmetaphern des Films als Selbstrepräsentationen dieses Mediums denken, so z.B. – neben dem Traum – das Bewusstsein einer Figur. In beiden Fällen handelt es sich um eine Bilderfolge, die etwas zeigt, dessen ontologischer Status – relativ zur Realität im Film – als unwirklich eingestuft wird. Die Traumsequenzen in Inception beispielsweise unterscheiden sich in ihrer filmischen Umsetzung nicht von der Art, wie die Realitätserfahrung des Kinderpsychologen Dr. Malcolm Crove in The Sixth Sense verfilmt wurde. In beiden Filmen wird der Realitätscharakter der Bilder in den entsprechenden Passagen (in The Sixth Sense machen sie nahezu den gesamten Film bis auf seinen Schluss aus) nicht durch die Darstellungsweise und Qualität der Bilder, sondern durch die erzählte Geschichte negiert. Die Bilder in den entsprechenden Sequenzen sind nicht besonders markiert, z.B. durch eine zusätzliche Rahmung, durch eine Viragierung oder durch Weichzeichner, wie das auch möglich wäre, würde man gerade auf die Differenz zwischen Bildern des Traums und der Realität abheben. In Inception hat dies eine programmatische Bedeutung: Als Dom Cobb der Architektin zum ersten Mal sein Traumkonzept erläutert, erklärt er: „Träume fühlen sich doch real an, während wir sie träumen. Erst wenn wir aufwachen, fällt uns auf, dass irgendetwas seltsam war“ / „Dreams, they are real while we are in dreams. Only when we wake up you realize that there was something actually strange“ [0:27:06]. (Begreift man den Traum als Film, so können diese Äußerungen als Poetologie des Films verstanden werden.) Der Zuschauer weiß, dass die Figuren in Inception träumen, allein weil der Traum angekündigt wird. Wird er nicht angekündigt, wie beim ersten gemeinsamen Traum von Dom Cobb und der Architektin, hält er ihn für die fiktionsinterne Realität. Auch in The Sixth Sense sieht der Zuschauer erst gegen Ende des Films, wie der Kinderpsychologe – in einer nur fiktional möglichen Konstellation der Erzählung – seinen eigenen Tod begreift und einsieht, dass er nicht mehr zur (fiktionsinternen) Realität der Lebenden gehört. Nebenbei bemerkt: In beiden Fällen werden in die entsprechenden Sequenzen Markierungen (in der dargestellten Welt, aber nicht im Modus ihrer Darstellung) eingefügt, die deutlich machen können, dass die dargestellte Realität nur eine Scheinrealität ist, was drastisch ausfallen kann (eine Lokomotive fährt durch den dichten Straßenverkehr einer Großstadt, ein Kreisel dreht sich und fällt nicht um; siehe hierzu weiter unten) oder subtil (die Ehefrau, mit der der Tote zu sprechen glaubt, wirkt eigenartig abwesend). Entscheidend ist dasjenige, was die Metapher in Funktion setzt – und das ist meist die visuelle Erfahrung. Was auf der Ebene des Films als eine solche Selbstrepräsentation auftritt, das ist auf der Handlungsebene der Figuren ein visuelles Erlebnis (das sich so auch dem Zuschauer vermitteln kann). In einem ersten methodischen Schritt gilt es nun, den Umgang mit solchen Erlebnissen zu analysieren und letztere auf ihre Implikationen für den fiktionalen Status der Erzählung hin zu befragen.

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Bei einer solchen Analyse kann man induktiv oder deduktiv vorgehen, phänomenologisch oder konzeptionell, indem man entweder die erzählten Geschichten auf diese Fragestellung hin rekonstruiert oder ein entsprechendes Modell als Heuristik verwendet, um solche Strukturen hervortreten zu lassen. Im Grunde sind damit zwei komplementäre Wege beschrieben, die sich wechselseitig ergänzen und aufeinander zulaufen. Auf der einen Seite lassen sich in einem Text jene Elemente identifizieren, in denen der Text sich selbst als Text und das Medium, das ihn trägt, als Medium so repräsentieren, dass daraus Implikationen für die Rezeption des Textes abzuleiten sind. Auf der anderen Seite lassen sich aus einem abstrakten Modell, das in erster Linie die Autoreflexion des Mediums und die Repräsentation des Textes im Text vorgibt, bestimmte Genrekriterien ableiten. Beide Aspekte fallen z.B. dort zusammen, wo ein Traum als filmische Repräsentation von Film vorgestellt wird, sodass der Umgang der Figur mit dem Traum im Film die Rezeption des Films durch den Zuschauer gleichfalls determinieren soll. Lassen sich solche analytischen Kategorien wie die Selbstrepräsentation vom Text im Text und vom Medium im Medium über ein bestimmtes Corpus verallgemeinern, so könnte man von einem Modell von Spielfilm sprechen, dem man Genrequalitäten zusprechen kann. Dabei fließen filmhistorische Entwicklungen und Konjunkturen der Sujetgestaltung der jüngeren Zeit ebenso mit ein wie neuere filmtheoretische Überlegungen, die z.B. den Traum als Film im Film und als Medienmetapher profilieren.8

2 Bewusstseinsfilm Zunächst gehen diese Überlegungen im Sinne der genannten zwei methodischen Optionen konzeptionell vor. Sie beginnen mit einem Modell, das den Film in spezifischer Weise – nämlich als Bewusstsein einer Figur – im Film repräsentiert und dadurch die Rezeption des Films mitbestimmt, indem es dem Zuschauer die Frage aufgibt, was er denn nun eigentlich sieht und welchen ontologischen Status – bezogen auf die Diegese – die dargestellte Welt des Textes besitzt. Dieses Modell hat sich in den Filmen vor allem der 1990er und der 2000er Jahre immer deutlicher abgezeichnet. Dabei ist ein Corpus von Filmen sichtbar geworden, das Genrequalitäten besitzt. Filme dieser Art habe ich als Bewusstseinsfilme bezeichnet.9 Mittlerweile finden sich vornehmlich in der filmtheoretischen Forschung verwandte Begriffe wie ‚mind fuck movie‘‚ ‚mind game movie‘, ‚mindscreen‘, ‚brain candy‘, ‚puzzle film‘,

|| 8 Vgl. Matthias Brütsch, Traumbühne Kino. Der Traum als filmtheoretische Metapher und narratives Motiv, Marburg: Schüren 2010. 9 Siehe Oliver Jahraus, „Bewusstsein: wie im Film! Zur Medialität von Film und Bewusstsein“, in: ders./Bernd Scheffer (Hg.), Wie im Film. Zur Analyse populärer Medienereignisse, Bielefeld: Aisthesis 2004, 77–100.

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‚Kopfkino‘, ‚post-mortem-Kino‘ o.ä.10 Diese Begriffe sind nicht deckungsgleich, bezeichnen verschiedene Aspekte bzw. ordnen unterschiedlichen Aspekten unterschiedliche filmtheoretische Funktionen zu; sie lassen sich aber dennoch um einen stereotypen Definitionskern herum anordnen. Bei all diesen Varianten ist der ontologische Status der dargestellten Realität des Textes prekär geworden. Wie zu zeigen sein wird, nutzen solche Filme das Spiel mit dem (fiktionsinternen) Realitätsgehalt der erzählten Geschichten wiederum produktiv zur eigenen Sujetkonstitution. Worum es in den Geschichten geht (bspw. um den potenziellen Status einer Sequenz als Traum oder als fiktionsinterne Realität), wird mit der Disposition der Rezeption verknüpft (‚Ist der Film, oder eine Sequenz, selbst nur als Traum wahrzunehmen?‘). Der Begriff des Bewusstseinsfilms hebt stärker als die anderen Begriffe auf ein Verhältnis ab, das mit dem Chiasmus von der Realität des Bewusstseins und dem Bewusstsein der Realität gekennzeichnet werden kann. Dies lehnt sich an eine transzendentalphilosophische Formulierung Kants an, wonach die „Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung überhaupt [...] zugleich Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung“ sind.11 Arthur C. Danto hat diesen ‚chiastischen‘ Sachverhalt in seiner Darstellung von Sartres Idealismus auf die – mathematische – Formel „F(b)=b(F)“ gebracht,12 das heißt: das Bewusstsein (F) eines Gegenstandes (b) ist immer zugleich auch der Gegenstand (b) des Bewusstseins (F). Unter einem Bewusstseinsfilm ist daher ein Film zu verstehen, der einen Handlungsbogen vorführt, der im Rahmen der dargestellten Welt des Textes Inhalt des Bewusstseins (zumindest) einer Figur ist. Jedem Bewusstseinsfilm ist damit die epistemologische Frage nach der Möglichkeit, die Realität als solche zu erkennen, insofern inhärent, als die Realität und ihre filmische Inszenierung letztlich nicht prinzipiell zu unterscheiden sind. Denn dadurch wird auch ununterscheidbar, ob die Bilder des Films eine innerfiktionale, diegetische Realität abbilden oder nur das Bewusstsein einer Figur, also eine nur für sie erfahrbare/sichtbare Realität. Im Film Vanilla Sky z.B. weiß der Zuschauer über weite Passagen nicht, ob die traumatisierte Hauptfigur David Aames Realität erlebt oder sich in einer Traumwelt bewegt und einer Bewusstseinstäuschung unterliegt. Just durch solche Konstellationen wird diese Differenzie-

|| 10 Siehe Thomas Elsaesser/Malte Hagener, Filmtheorie zur Einführung, Hamburg: Junius 2007; Thomas Elsaesser, „Vom postmodernen zum post-mortem-Kino: MEMENTO“, in: ders. (Hg.), Hollywood heute, Berlin: Bertz+Fischer 2009, 217–226; ders., „Vom ‚post-mortem‘-Kino zu mindgame movies“, in: ders. (Hg.), Hollywood heute. Geschichte, Gender und Nation im postklassischen Kino, Berlin: Bertz+Fischer 2009, 237–263. Grundlegend hierzu Christian Bumeder, Mediale Inception. Zu einer Erzähltheorie des Bewusstseinsfilms, Würzburg: Königshausen & Neumann 2014 (zugl. Univ. Diss. München 2013), hier findet sich auch eine „Poetik des Bewusstseinsfilms“, daneben ein umfassender Überblick über die jüngste Begriffsgeschichte und ihre Forschungspositionen, vgl. Kap. 3, 39–159. 11 Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, hg. v. Wilhelm Weischedel, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1974, B 197. 12 Arthur C. Danto, Sartre, Göttingen: Steidl 1986, 75.

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rung selbst zum Spielmaterial des Films, sobald eine Sequenz sowohl als Bewusstsein als auch als (innerfiktionale) Realität behandelt werden kann. Die Fiktion der Realität konvergiert oder kollidiert potenziell mit der Realität der Fiktion. So kann ein Film diesen Unterschied von Anfang an deutlich machen und selbst wiederum reflexiv einholen, wie z.B. The Cell (R.: Tarsem Singh, USA/D 2000), in dem eine Psychologin mittels einer komplexen Psychotechnologie in das Bewusstsein eines komatösen Killers eindringt; oder er kann ihn erst am Ende offenbaren, sozusagen als ‚plot twist‘, wie z.B. in The Sixth Sense oder in Brad Andersons The Machinist (E/USA 2004). In beiden Filmen wird erst an ihrem Ende klar, dass die erzählten Eigentümlichkeiten, die sich nicht in der Logik der dargestellten Realität auflösen lassen, auf solche Bewusstseinseffekte zurückzuführen sind. Es lässt sich dann auch ein komplementärer Modus denken, in dem ein Film eine Realität vorführt, die in der fortlaufenden Erzählung immer mehr in Frage gestellt und als Imagination, als Bewusstseinsinhalt einer Figur ausgewiesen wird, wie im Falle von Robert Schwentkes Flightplan (USA 2005). Mit dem Begriff des Bewusstseinsfilms wird also ein Mechanismus in der Konstitution und Entfaltung von Sujets beschrieben, der zwei Ebenen voraussetzt, nämlich eine Ebene der dargestellten Realität mit ihren Figuren und eine Ebene des Bewusstseins einer oder mehrerer Figuren innerhalb dieser Realität. Die Realität der dargestellten Welt des Textes gibt den Rahmen vor, innerhalb dessen sich ein solches Bewusstsein etabliert und entfalten kann. Wo schriftliche Texte noch die Möglichkeit haben, den Ebenenunterschied z.B. durch Verbmodi zu markieren, hat der Film diese Möglichkeit nicht, sofern man nicht von bestimmten äußeren Bildmodifikationen ausgeht wie z.B. einer expliziten, sichtbaren Kadrierung, von Weichzeichnern oder einer Viragierung. Ob ein Film Realität zeigt oder ein Bewusstsein eben dieser Realität, ist in der Regel nicht am oder durch das Bild zu entscheiden, und selbst einer subjektiven Kamera wird man zunächst kein abweichendes Bewusstsein eben jenes wahrnehmenden Subjekts unterstellen. Aus dieser Not kann der Film eine Tugend machen, indem er z.B. die unentscheidbare Situation zwischen Realität und Bewusstsein narrativ als Unzuverlässigkeit in der Erzählung inszeniert.13 Bewusstseinsdarstellungen und unzuverlässiges Erzählen müssen weder formal noch material kongruent sein, aber verwandt sind sie insofern doch, als sie bei Formen filmischen Erzählens das Verhältnis von Darstellung und Dargestelltem prekär werden lassen.

|| 13 Siehe hierzu Fabienne Liptay/Yvonne Wolf (Hg.), Was stimmt denn jetzt? Unzuverlässiges Erzählen in Literatur und Film, München: text+kritik 2005; Susanne Kaul/Jean-Pierre Palmier/Timo Skrandies (Hg.), Erzählen im Film: Unzuverlässigkeit – Audiovisualität – Musik, Bielefeld: transcript 2009; Christina Theodoridou, Fight Club – Strategie oder Chaos? David Finchers unzuverlässiges Erzählen im Film, Saarbrücken: VDM 2010.

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3 Zwei Differenzen Damit sind zwei Differenzen eingeführt: Die erste besteht zwischen dem Film und seiner Rahmung durch die Rezeption, aus der überhaupt erst der fiktionale Status des Films resultiert, und die zweite besteht zwischen fiktionsinterner, dargestellter Realität und dem dargestellten Bewusstsein dieser Realität im Film. Das Argument dieser Überlegungen lautet, dass diese beiden Differenzen strukturanalog sind, denn in beiden Fällen gibt es einen äußeren Rahmen, der als Bedingungsrahmen für das Eingerahmte fungiert. Nun besteht aber doch ein entscheidender Unterschied zwischen diesen beiden Differenzen. Während der Bedingungsrahmen der Rezeption schlechterdings unhintergehbar ist, gilt dies für den Bedingungsrahmen einer dargestellten Welt gerade nicht. Dies wird am unzuverlässigen Erzählen im Film deutlich, das dadurch auch eine andere mediale Qualität erhält als unzuverlässiges Erzählen in der Literatur. Unzuverlässiges Erzählen im Film kann das, was der Zuschauer als ‚Realität‘ wahrnimmt, was er in Augenschein nimmt, was ihm im eigentlichen Wortsinne augenfällig ist, als eben dessen Infragestellung präsentieren. Damit ist die Frage verbunden, ob Bilder lügen können. Im schriftlichen Text täuscht uns nicht die Geschichte, sondern ein Erzähler oder die Art der Erzählung. Im Film täuscht uns das Bild selbst, indem etwas vornehmlich visuell14 als Realität inszeniert wird, das narrativ nicht als Realität bestätigt oder gar als solche widerrufen wird. Die Star Trek-Episode (Raumschiff Enterprise) Court Martial aus dem Jahr 196715 macht hieraus ihr Sujet: Captain Kirk ist angeklagt, ein Menschenleben geopfert zu haben, indem er den roten Alarm zu spät auslöste. Tatsächlich beweist das Logbuch (in Form von Filmdateien – heute Alltagspraxis, seinerzeit eine revolutionäre Idee), dass Kirk eine Fehlentscheidung getroffen hat; der Zuschauer sieht, wie er den roten Knopf zu spät drückt. Auch wenn der erste Offizier Spock zunächst keinen Computerfehler finden kann, stellt er – durch einen Sieg in einem Spiel mit dem Computer – schließlich doch fest, dass dieser fehlbar ist. So kommt ans Licht, dass das, was zunächst als filmische Repräsentation und als visuelle Dokumentation, als ‚evidence‘ auch im visuellen, medialen Sinne erscheint, tatsächlich der Medieneffekt eines unzuverlässigen Computers ist, dessen Bildern weder die Crew oder das Gericht noch die Zuschauer trauen dürfen. Die Pointe der Folge liegt in der Erschütterung des Unerschütterlichen: des Bildes. Daraus lässt sich auf den Normalfall schließen:

|| 14 Siehe hierzu Sandra Poppe, Visualität in Literatur und Film. Eine medienkomparatistische Untersuchung moderner Erzähltexte und ihrer Verfilmungen, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2007; Fabienne Liptay, Telling Images: Studien zur Bildlichkeit des Films, Berlin: diaphanes 2016. Selbstverständlich können auch auditive Aspekte eine Rolle spielen, aber in der Regel sind die visuellen Aspekte dominant. 15 „Kritik unter Anklage“ (orig. „Court Martial“), Drehb.: Don Mankiewicz/Stephen W. Carabatsos, R.: Marc Daniels, Star Trek, S01/E20, 1967.

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Bilder zeigen die Realität der dargestellten Welt. Irreales wird dann bestenfalls narrativ inszeniert oder technisch, z.B. durch Computersimulation, erzeugt.16 Das Verhältnis von Bild und Abgebildetem wird insofern im audiovisuellen Medium durch Unzuverlässigkeit grundsätzlich untergraben; das vergleichbare Verhältnis im schriftlichen Text hingegen wird bei unzuverlässigem Erzählen noch nicht einmal angetastet, im besten Fall sogar bestätigt, denn die Unzuverlässigkeit liegt auf Seiten des Erzählers, nicht auf Seiten der Zeichen oder Medien, die er verwendet. Dass im Falle des Mediums Film diese Differenzen strukturanalog sind, lässt sich auch daran erkennen, dass sie in einer homologen Struktur überblendet werden können: So wie sich die Realität des Zuschauers zur dargestellten Realität verhält (eine filmexterne oder filmtranszendente Differenz), so verhält sich die fiktionsinterne, dargestellte Realität zum Bewusstsein dieser Realität (eine filminterne Differenz), mit dem Unterschied freilich, dass der Zuschauer den Film von vornherein als fiktionalen Text rezipiert, was für die filminterne Figur nicht gilt. Da nun aber die zweite, filminterne Differenz das Potenzial zur Entdifferenzierung, zur Selbstaufhebung hat, steht dem Film folgendes Verfahren offen: Er inszeniert filmintern die Überblendung von filminterner und filmexterner Differenz und findet damit zugleich Bilder, die sichtbar machen, dass auch die filmtranszendente Differenz sich auflösen oder zusammenbrechen könnte. Wenn aber die erste Differenz hinfällig würde – so der unterstellte Impetus dieser Imagination –, dann müsste der Realitätsstatus der Rezeption selbst hinfällig werden können. Das ist der Punkt, an dem der Inszenierungs- oder Konstruktcharakter des Mediums und mithin des Films zu seinem eigenen Spielmaterial wird. Der Film spielt dabei also mit den Optionen, die ein Zuschauer hat, um diesen Film als fiktional einzustufen – und zwar auf eine so radikale Weise, dass auch die Option möglich ist, selbst noch die Rezeptionssituation als fiktional zu kategorisieren; als Bestandteil eines Textes, in dem der Zuschauer selbst noch einmal als Figur auftreten würde. Die Fiktionalität des Films würde sich in die Realität des Zuschauers hinein verlängern und umgekehrt sich selbst in einem Rückschlageffekt in die Realität des Zuschauers verwandeln. Es handelt sich hierbei um ein Potenzial des Films, sich selbst in seiner eigenen medialen Qualität und in seinem medialen Potenzial, Realität darzustellen und/oder auch in Frage zu stellen, zu reflektieren. Die Filmentwicklung der letzten Jahre zeigt, dass dieses Potenzial seit Ende der 1990er Jahre an Attraktivität gewonnen hat. Hierfür sind weniger pragmatische Bedingungsfaktoren der Filmproduktion und -vermarktung ins Feld zu führen. Vielmehr ist funktional danach zu fragen, inwiefern hier eine Mediendisposition des Films evolutionär zum Tragen kommt und dem Film nicht nur neue Sujets, sondern auch Rezeptionsattraktoren verschafft, die sich letztlich sogar an der Kinokasse bezahlt machen.

|| 16 Vgl. Oliver Deussen, Bildmanipulation. Wie Computer unsere Wirklichkeit verzerren, Berlin u.a.: Spektrum 2007.

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4 Inception Mit der Vorstellung einiger Beispiele wechselt die Betrachtungsweise nun auf die phänomenologische Seite. Dabei geht es weniger um eine Analyse dieser Beispiele, sondern in erster Linie darum, die grundlegenden Elemente des vorgeschlagenen Modells sowohl in theoretischer, gattungstypologischer als auch methodologischer Hinsicht zu eruieren, um seine Funktionsweise ‚transparent‘ zu machen. Das in diesem Kontext herausragende Beispiel hat dem vorliegenden Beitrag seinen Haupttitel gegeben: Inception.17 Wenn man von seinem Status als Heist-Movie abstrahiert, kann man diesen Film getrost als eine gigantische Allmachtsphantasie des Kinos betrachten. Er markiert sicherlich auch einen Höhepunkt einer Entwicklung entsprechender Sujets, die um 1999 im größeren Umfang mit Filmen wie The Sixth Sense, Fight Club oder The Matrix (R.: The Wachowski Brothers, USA 1999) begonnen hat.18 Im Folgenden soll deutlich werden, dass kaum ein Film die eigene mediale Selbstreflexion so forciert umgesetzt hat wie dieses Beispiel. Erzählt wird die Geschichte von Dom Cobb, der in der Lage ist, in das Bewusstsein anderer Figuren einzudringen, um dort gerade in jenen Regionen, die sich einer bewussten Steuerung entziehen – also im Unterbewusstsein –, eigene Gedanken der betreffenden Person vor fremdem Zugriff zu schützen oder aber fremde Gedanken dort einzupflanzen. Dieser Vorgang wird im Rahmen der dargestellten Welt ‚Inception‘ genannt.19 Eine solche Inception als Möglichkeit zu akzeptieren, gehört zum Fiktionsvertrag, auf den der Rezipient sich einlassen muss, um den Film goutieren zu können. Damit allerdings hat er ein trojanisches Pferd in die eigene Rezeption gelassen. Dom Cobb wird von einem japanischen Konzernchef beauftragt, in das Bewusstsein des Erben seines Konkurrenten den Gedanken einzupflanzen, dass es sinnvoll sei, das geerbte Imperium aufzuteilen, um so die Konkurrenz von Cobbs Auftraggeber zu schwächen. Dies ist keine leichte Aufgabe, weil die betreffende Person über unterbewusste Abwehrmechanismen verfügt. Um die Inception zu gewährleisten, müssen mehrere Ebenen überbrückt werden. Zusätzlich wird das Unternehmen dadurch erschwert, dass Dom Cobb durch seine eigenen Fähigkeiten und seine Erfahrungen traumatisiert ist, hat er doch seine Frau auf der tiefsten zugänglichen Bewusstseinsebene, dem sog. Limbus, verloren. Er muss getrennt von seinen Kindern leben und

|| 17 Vgl. Philipp Schulze, „Inception – Die Welt des mindfuck. Im Kopfkino der Zukunft“, in: Cinema 387 (2010), 84–89; Benny Steierer, „‚Deine Welt ist nicht real!‘. Überlegungen zu Traum – Bewusstsein – Film und zur filmischen Produktion von Präsenz in Christopher Nolans Inception“, in: Tanja Prokic/Anne Kolb/Oliver Jahraus (Hg.), Wider die Repräsentation. Präsens/z Erzählen in Literatur, Film und Bildender Kunst, Frankfurt a. M.: Peter Lang 2011, 270–296. 18 Vgl. Christian Bumeder, Mediale Inception. Zu einer Erzähltheorie des Bewusstseinsfilms, Würzburg: Königshausen & Neumann 2014. 19 Vgl. ebd.

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würde gerne zu diesen zurückkehren. Die Erfüllung dieses letzten Auftrags soll ihm das ermöglichen. An dieser Stelle seien nur einige Punkte festgehalten, die für das vorgeschlagene Modell relevant sind. Für die narrative Entfaltung des Verhältnisses von (fiktionsinterner) Realität und Bewusstsein dieser Realität wählt der Film das Verhältnis von Wachsein und Traum. Der Traum wird dabei als Form der Ausprägung dessen verstanden, was hier allgemein unter Bewusstsein subsumiert wurde. Dass Traum und Unbewusstes gerade im Kontext der Freudschen Psychoanalyse eng miteinander korreliert sind, spielt dabei weder konzeptionell noch – auf den Film bezogen – inhaltlich eine Rolle. Daher ist die begriffliche Differenz zwischen dem Unterbewusstsein, einem Terminus des frühen Freud, und dem Unbewussten, einem Terminus des späteren Freud, hier nicht signifikant. Am Beispiel des Films wird vielmehr deutlich, dass die Traumebenen, die die Protagonisten aufsuchen, wenig mit der psychoanalytischen Konzeption einer ‚via regia‘ zum Unbewussten zu tun haben, sondern vielmehr andere ‚Realitäten‘ der Konfliktgestaltung darstellen. Damit werden einer psychoanalytisch inspirierten Interpretation enge Grenzen gesetzt. Andererseits aber wird damit der Traum (im Film) als (autoreflexive) Filmmetapher aufgerufen. Die Differenz der Ebenen von ‚Realität‘ und ihrer kognitiven Verarbeitung, unabhängig davon, ob diese nun bewusst, unterbewusst oder unbewusst erfolgt, wird im Film deutlich markiert, obschon – oder gerade weil – diese Ebenen mit Blick auf die Qualität der Bilder und die Logik der gezeigten Handlung kaum oder gar nicht unterscheidbar sind. In diesem Film geht es – im Sinne der genannten chiastischen Formel – um das Verhältnis von der Realität des Traums zum Traum von einer anderen Realität. Der Film ist in vielerlei Hinsicht autoreflexiv. Grundlage hierfür ist die ontologische Ununterscheidbarkeit der Ebenen. Ob etwas ein Traum ist oder Realität, kann nicht an den Visualisierungen selbst abgelesen werden, es sei denn, man würde Realitätsunterbrechungen durch phantastische Elemente als solche Indikatoren werten. Dass der Film alle Ebenen reflexiv einander zuordnen kann, dass das Verhältnis von Realität und Traum sich durch die vierfache Verschachtelung von Traum im Traum im Traum im Traum immer weiter verschiebt, dass also jede Traumebene für die – in einem vertikalen Ordnungsschema – nächsttiefere Traumebene Realität bedeutet, ist darauf zurückzuführen, dass weder Realität noch Traum ontologisch spezifisch und exklusiv definiert sind, was somit auch eine Auszeichnung einer Traumebene als Ebene des Unterbewusstseins (in einem topologischen Ebenenmodell) bzw. des Unbewussten (in einem formalen Modell der Negation des Bewussten) nicht zulässt. Aber der Film holt dies noch einmal reflexiv ein. Weder kann der Zuschauer aufgrund des Bildes oder am Bild entscheiden, ob die Figuren sich in der Realität oder im Traum befinden, noch sind die Figuren selbst hierzu in der Lage. Deswegen tragen die Figuren ein sog. Totem mit sich, das nur dem Besitzer vertraut ist, der an diesem ablesen kann, ob er sich in der Realität oder im Traum befindet. Dom Cobbs Totem ist signifikanterweise das seiner Frau: ein Kreisel. Den physikalischen Geset-

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zen entsprechend, muss dieser, einmal in Gang gesetzt, nach einer gewissen Zeit umfallen, und eben dies ist das Zeichen der Realität. Fällt er nicht, weiß Cobb, dass er sich im Traum befindet. Doch in der Schlussszene des Films ist Cobb von seinen Kindern abgelenkt und blickt nicht mehr auf den Kreisel, der von der Kamera eindeutig fokussiert wird. Es ist nunmehr der Zuschauer, für den der Kreisel seine Funktion erfüllen soll. Der Film endet also bildlich mit dem sich drehenden Kreisel, bevor der Zuschauer sicher sein kann, ob dieser fällt oder nicht, das heißt, ob die letzten Einstellungen die ‚Realität‘ schildern oder vielleicht nur wieder einen neuen Traum von Dom Cobb bebildern (auditiv liefert der Nachspann dagegen noch reichlich Zeichenmaterial; s.u.). Auf der Handlungsebene endet Inception somit ontologisch offen. Die imaginierte Selbsttranszendenz des Films drückt sich in einer Frage aus, zu der der Film seine Zuschauer am Ende einlädt und die als konsequente Zuspitzung jener ontologischen Verunsicherung begriffen werden kann, die der Film nicht nur mit seinen Figuren, sondern auch mit seinem Zuschauer betreibt: War die Rezeption des Films selbst nur Teil eines Traums, aus dem die Zuschauer nur noch nicht erwacht sind? Noch deutlicher wird dieser Ebenenüberstieg mit Edith Piafs Chanson Non, je ne regrette rien: In der erzählten Geschichte erfüllt es für die Figuren die Funktion, das Ende eines Traums anzuzeigen.20 Im Abspann des Films wird das Lied von der Figurenebene auf die Ebene des Zuschauers übertragen. Wie die Figur in der erzählten Geschichte muss sich am Ende des Films auch der Zuschauer selbst fragen, ob nunmehr das Ende eines Traums (gemeint ist hier der Film Inception) angezeigt wird. Damit gibt der Film die Frage nach dem Verhältnis von Realität und Fiktion an den Zuschauer weiter. Diese Zuspitzung gründet in jenen fiktionsinternen Mechanismen von Inception, die mit der Zuweisung der Kategorie der Fiktionalität spielen. Dies gilt aber nicht auch für die Frage nach dem Verhältnis von ‚Fiktionalität‘ und ‚Faktualität‘, wie sie Kablitz begreift (s.o.), denn kein Zuschauer würde an der Realität seiner Rezeptionssituation und ebenso wenig an der Fiktionalität des gesehenen Films zweifeln, selbst wenn der Film ihm diese Option als Spiel offeriert. Dass sich am Ende die Verunsicherungen aufgelöst und die Ebenen sich wieder stabilisiert haben (s. auch unten, S. 204), macht umso nachdrücklicher auf das Potenzial des Films aufmerksam, aus solchen Verunsicherungen narratives Kapital schlagen zu können.

|| 20 Edith Piafs Chanson ist vielfach mit der erzählten Geschichte des Films und vor allem mit dem Soundtrack verknüpft, für den Hans Zimmer verantwortlich zeichnet. So erfüllt dieses Lied nicht nur die genannte Funktion in der erzählten Geschichte; auch der Soundtrack selbst entwickelt sich aus diesem Lied, um Filmmusik und erzählte Geschichte enger aneinander zu binden. Dass Marion Cotillard (in Inception Cobbs Ehefrau Mal) zudem 2007 die Rolle der Edith Piaf gespielt hatte, verstärkt diese semantischen Verknüpfungen, auch wenn der Soundtrack lange vor der Besetzung Cotillards als Mal feststand. Siehe hierzu Rick Florino, „Interview: Hans Zimmer talks ‘Inception’ Score“, in: Artists Direct, http://www.artistdirect.com/entertainment-news/article/interview-hanszimmer-talks-inception-score/7323382 (12.07.2010) [Zugriff am 30.07.2016].

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5 Filmmetaphern: Traum & Co. Die eigentliche autoreflexive Struktur entfaltet Inception also durch seine narrative Konstruktion, nämlich durch den Traum. Die „Analogie von Film und Traum“21 und mithin der Umstand, dass Träume als filmische Darstellungen des Bewusstseins einer filmischen Realität gesehen werden können, machen den Traum zur Filmmetapher.22 Wenn also ein Film sein eigenes Verhältnis zur Realität des Zuschauers als Spielmaterial gewinnen will, muss er dieses filmtranszendente Verhältnis immanent wiederholen, in sich hineinkopieren; er muss also autoreflexiv werden, was bedeutet, dass es einer Repräsentation des Films im Film bedarf. Damit ist ein Element in der dargestellten Welt des Films gemeint, das seinerseits nicht unbedingt ein konkreter Film (im Film) sein muss, sondern ebenso ein Element sein kann, das als Filmäquivalent funktioniert, weil es ähnlich visuell in Szene gesetzt wird (wie eben z.B. ein Traum). Der Standardfall mag der Film im Film oder der Film über den Film (und das Filmemachen) sein, und Beispiele finden sich genug. Da aber jeder Film (im Film) in der dargestellten Welt nur für den Film, in dem er aufscheint, stehen kann, kann man auch in diesem Fall von einer Metapher sprechen: Die Bedeutung, die ein Film im Film hat, soll der Zuschauer auf den Film, in dem dieser Film im Film vorkommt, übertragen. Und da diese Metapher wesentliche Eigenschaften des Films als Medium deutlich werden lässt, liegt hier eine konkrete Medienmetapher vor. Filme werden durch solche Medienmetaphern autoreflexiv und bisweilen metafiktional, und es ist analytisch relevant, darauf zu achten, ob sie diese autoreflexiven Strukturen selbst wiederum als narrative Disposition nutzen und als mediales Potenzial aktualisieren. Aber nicht nur Filme und nicht nur das Kino können als Medienmetaphern des Films und des Kinos fungieren: Inception arbeitet in breitester Entfaltung mit dem Konzept des Traums, revisualisiert damit eine psychoanalytische Filmtheorie,23 die diese Metapher schon längst theoretisch ausgearbeitet hatte, und nimmt sie – wie gezeigt wurde – gleichzeitig zurück, weil der Traum nicht ‚das Andere‘ der Realität, sondern nur eine andere, weitere Realität ist. In der Metapher können also auch wesentliche Elemente des Bildspenders verloren gehen oder ausgeblendet werden.

|| 21 André Bazin, Was ist Film?, Berlin: Alexander 2004, 288. 22 Vgl. Rainer Schönhammer, „Traum und Film – Die besondere Beziehung der ‚Siebten Kunst‘ zu unwillkürlichen mentalen Bildern“, http://psydok.sulb.uni-saarland.de/volltexte/2008/2351/pdf/kultur_ u_kuenste_8_schoenhammer.pdf [Zugriff am 20.05.2013]; Irmela Schneider, „Filmwahrnehmung und Traum“, in: Bernhard Dieterle (Hg.), Träumungen, St. Augustin: Gardez 1998, 23–46. 23 Siehe z.B. Christian Metz, Der imaginäre Signifikant. Psychoanalyse und Kino, Münster: Nodus 2000 (franz. Orig. 1977); Hermann Kappelhoff, „Kino und Psychoanalyse“, in: Jürgen Felix (Hg.), Moderne Film Theorie, Mainz: Bender 22003 [2001], 130–167; Alf Gerlach/Christine Pop (Hg.), Filmräume – Leinwandträume. Psychoanalytische Filminterpretationen, Gießen: Psychosozial-Verlag 2012.

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Auch Formen der Erinnerung und des Gedächtnisses, virtuelle Welten oder eigentümliche Heterotopien können als Medienmetaphern fungieren. Die Korrelation von kognitiver Instanz, heterotopischer Raumstruktur und Medienmetapher ist dominant. Die Medienmetapher entfaltet sich bevorzugt als Bewusstseinsraum. In solchen Räumen werden konstitutive Raummerkmale außer Kraft gesetzt, lineare und zirkuläre Strukturen suspendieren sich wechselseitig, wo sukzessive Ereignisfolgen in einen Zirkel münden, während erwartbare Wiederholungen oder Rhythmen ausbleiben, weil immer etwas Neues geschieht. Doch die entscheidende Dimension eines Bewusstseinsraums ist vor allem auf die Phänomenologie seiner kognitiven Grundlage zurückzuführen, also auf seine visuelle Qualität. Welchen Realitäts- oder Fiktionsstatus diese Räume auch immer haben, sie müssen vor allem visuell erfahrbar sein – von der Figur ebenso wie vom Rezipienten. Dass Realität und Fiktion überhaupt in ein solch dynamisches Verhältnis gesetzt werden können, ist paradoxerweise auf die visuelle Erfahrung zurückzuführen, die seit der Aufklärung aufs Engste an Rationalität und Realitätserfahrung, an den Zusammenhang von Auge(nmetapher) und Vernunft, von Epistemologie und optischen Medien gebunden ist.24 Die semantischen und semiotischen Möglichkeiten sind schier unbegrenzt, und vielleicht kann man an dieser Stelle bereits eine Analyseregel formulieren, die auf ein Abstraktionsniveau abhebt, auf dem Medienmetaphern des Films und des Kinos als solche sichtbar werden können, seien es dunkle Räume, Bühnenformen, Formen der Inszenierung oder so viel Anderes mehr: Instanzen der Visualität und visuelle Medien, das Auge, der Spiegel, das Sehen und die Projektion, sind Agenturen der Autoreflexivität des visuellen Mediums Film und als solche analytisch relevant. Um diesem Konzept noch etwas mehr Tiefenschärfe zu verleihen, soll beispielhaft ein weiterer Film Erwähnung finden, der, wie schon Inception, bestimmte Aspekte geradezu schematisch deutlich werden lässt, nämlich The Game von David Fincher (USA 1997). Der schwerreiche Börsenmakler Nicholas van Orten bekommt von seinem jüngeren, etwas heruntergekommenen Bruder ein Geschenk: ein Spiel, das sein ganzes Leben umgreift und von einer ominösen Firma inszeniert wird. Obwohl van Orten von der Firma als Kunde abgelehnt wird, widerfahren ihm in der Folge eine Reihe von Merkwürdigkeiten, die er alle auf das Spiel zurückführt. Das Spiel scheint immer geheimnisvoller zu werden und schließlich sogar lebensgefährlich; van Orten verliert sein Vermögen, seine Macht, seinen sozialen Status und schließlich fast sich selbst und sein Leben. Am Ende des Films liefert der Plot eine wenig befriedigende Lösung: All dies war inszeniert, denn Nicholas Bruder „had to do something“, wie er selbst sagt, da der kalte, durch den Selbstmord des Vaters traumatisierte van Orten „[was] becoming such an asshole“ [1:58:38]. Dennoch: Interessant ist, wie die Medien-

|| 24 Vgl. Michel Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt a. M: Suhrkamp 1977 (franz. Orig. 1975); Friedrich Kittler, Optische Medien. Berliner Vorlesungen 1999, Berlin: Merve 2002.

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metapher des Spiels (‚game‘) in diesem Film entfaltet wird. Es ist unklar, wie das Spiel begonnen hat, aber nachdem es begonnen hat, ist es so mächtig, dass es jedes Geschehen in seinem Kontext in einem anderen Licht erscheinen lassen und somit re-interpretieren kann. Van Orten, so könnte man kalauernd zuspitzen, müsste sich irgendwann sogar sagen, er wäre im falschen Film. Wie auch immer: Das Spiel ist eine Medienmetapher des Films, die nach beiden Seiten, nach beiden Ebenen hin, nach oben und nach unten, sowohl auf die Ebene der dargestellten Welt des Films als auch auf seine Rezeptionssituation wirkt. Das Spiel bekommt so einen doppelten räumlichen Charakter. Zum einen entfalten sich hierarchische Ebenen: Das Spiel hat intradiegetisch einen äußeren, realen Rahmen, innerhalb dessen die Realitätswahrnehmung der Figur massiv beeinträchtigt wird – die Figur wird zu einem Spiel eingeladen, will sich darauf einlassen und wird scheinbar als Mitspieler abgelehnt. Gleichzeitig entsteht ein zeitlicher Rahmen, der sich selbst verschleiert, weil er offenlässt, wann das Spiel beginnt und wie es beendet werden kann. Filmintern hat der verschleierte Beginn des Spiels die Funktion, das Spiel der Beherrschung durch die betroffene Figur zu entziehen. Da van Orten nicht weiß, wann und wie das Spiel begonnen hat, kann er es selbst auch nicht beenden. Der Umstand, dass van Orten nicht weiß, ob man mit ihm spielt – wie auch Dom Cobb nicht weiß, ob bzw. wann er träumt –, ist als funktionales und strukturelles Moment zu werten, weil es die Prädisposition der filmischen Transzendierung der Fiktion des Films in Richtung der Realität des Zuschauers darstellt. Der umgekehrte Fall wäre gegeben, wenn sich eine Figur nicht als Mitspielerin in einem Film (im Film) begreift, sondern eine Figur, die Mitspielerin in einem Film (im Film) ist, diesen verlässt, um mit anderen Figuren, die eben noch Zuschauer des Films waren, zu interagieren; man denke an Woody Allens Purple Rose of Cairo (USA 1985). In beiden Fällen wird eine Ebenendifferenz zwischen der dargestellten Welt des Films und dem Film im Film deutlich gemacht und gleichzeitig überschritten. Daraus resultiert folgende Frage: Wenn in einem Film eine solche Ebenendifferenz überschritten wird, was bedeutet dieser Umstand dann für die Differenz zwischen dem jeweiligen Film und der Ebene der Rezeption des fiktionsexternen, realen Zuschauers? Eine Hypothese lautet, dass, wenn der Film intern die Möglichkeit vorführt, solche Ebenendifferenzen zu überschreiten, er zumindest die Idee evoziert, dies wäre auch mit jener Ebenendifferenz möglich, die zwischen ihm, dem Film, und seiner Rezeption durch einen realen Zuschauer besteht. Darin liegt eine Verabsolutierung der Idee des Films als Medium verborgen. In einer solchen Vorstellung, die durch Filme wie Inception zumindest nahegelegt wird, ließe sich das ganze Leben als Film verstehen, in dem ein Mensch sich als Mitspieler begreift, ohne zu wissen, wann und wie er in diese Situation gekommen ist. Filme hätten in diesem Sinne immer schon begonnen; sie wären, weil ihr Beginn nicht kontrollierbar ist (was Dom Cobb als konstitiutives Merkmal von Träumen angibt), unhintergehbar. So mag der Zuschauer mit einer gleichermaßen aus dieser Allmachtsphantasie resultierenden Frage kon-

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frontiert werden: ‚Ist auch mein Leben Gegenstand eines Spiels?‘. Dafür hat der Film Inception mit seinem Titel eine wunderbare Metapher geschaffen – vergleichbar vielleicht nur mit jener anderen großartigen Medienmetapher von Eyes Wide Shut (R.: Stanley Kubrick, UK/USA 1999). Inception kann daher über den Rahmen der Geschichte, die er erzählt, hinaus als Generalmetapher für alle auf Medienmetaphern beruhenden Fiktionsspiele aufgefasst werden, kurz gesagt: als Generalmetapher für das Funktionieren von Film als Medium schlechthin. Die Leistung des Mediums Film bestünde dann in etwas, das mit dem Begriff der Inception bezeichnet werden könnte. Dieser Begriff meint, nimmt man seine lateinische Etymologie ernst, den Beginn eines Prozesses, in dem etwas erfasst, also etwas begriffen oder ergriffen wird. Der Film ‚incipiert‘ demnach, wenn man so will, das Bewusstsein seines Zuschauers.

6 Funktion und Reichweite Versucht man, das vorgeschlagene Modell zusammenzufassen und auf dieser Basis seine Funktionen ebenso wie seine filmanalytische und filmhistorische Reichweite zu bestimmen, so kann man zunächst festhalten, dass mit solchen Filmmetaphern filmintern die Ebenendifferenz zwischen Film und Rezeption selbst verfügbar wird. Sie kann derart thematisiert oder als narratives Spielmaterial gewonnen werden, dass der Film die Realität des realen Zuschauers – zumindest imaginär (denn es handelt sich ja nur um eine vom Film selbst evozierte Vorstellung) – selbst wiederum fiktionalisieren und somit seine eigene Fiktion im wahrsten Sinne des Wortes realisieren kann. In der fiktiven Geschichte, ließe man sich auf diese Vorstellung ein, würde ihre eigene Rezeption selbst noch einmal auftauchen. Die Geschichte ließe sich verlängern. Der Film Inception würde nicht mit der Erzählung seiner Geschichte enden, sondern danach weiter erzählen, wie seine Rezeption selbst noch ein Traumerlebnis der Zuschauer wäre, aus dem sie durch den Marker des Edith-PiafLiedes im Abspann von Inception aufwachen. Dabei geht es eben nicht um besonders starke Immersionseffekte, wie man sie z.B. beim Horrorfilm beobachten kann. Immersion wird hier wesentlich komplexer und indirekt entfaltet, und zwar über den Umweg der Autoreflexivität des Mediums in der von ihm selbst verwendeten Medienmetapher. Die Schiene, über die dieser Mechanismus läuft, ist die Differenzierung von Realitätsanspruch und Irrealisierung der erzählten Geschichte und dargestellten Welt – z.B. als Realität und Traum – und mithin die Differenzierung von Realität und (der zumindest imaginierten) Fiktivität ihrer Rezeption. Das hat erhebliche Auswirkungen auf die Evaluation der Rezeptionssituation. Man könnte diese Überlegung auch umdrehen und die Rezeptionssituation dadurch definieren, dass in ihr das Verhältnis von Fiktion und Realität bestimmt wird. Hierfür kommt eine Reihe von Spielfilmen in Betracht, die durch ihr Sujet und ihre Inszenierung genau dieses Prinzip zu unterlaufen suchen. Um nicht missver-

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standen zu werden: Selbstredend wäre es widersinnig anzunehmen, Filme wie Inception oder The Game könnten ihre Rezipienten in einen Zustand versetzen, in dem diese tatsächlich glauben müssten, sie wären Teil eines Traums oder eines Spiels und in dem sie ihre eigene reale Rezeptionssituation selbst wiederum als Teil eines Films oder einer Inszenierung verstehen müssten, es sei denn in pathologischen Kontexten, die allerdings mit Blick auf andere Medienangebote so weit nicht hergeholt sind. Vielmehr geht es hierbei um einen zusätzlichen Anreiz der Filmrezeption. Diese Filme beeindrucken mit Spannung, mit inszenatorischem Aufwand, vielleicht mit Bildgewalt – aber eben auch mit einem Interpretationsspiel (!), das sie dem Zuschauer anbieten und das eben nicht an der Grenze des Films, an seiner Schnittstelle zum Zuschauer, nicht an den Türen des Kinos haltmacht, sondern das den Zuschauer imaginär-potenziell umgreift. Die damit implizierten und unterstellten Allmachtsphantasien eines Mediums wären somit als eine Rezeptionsdisposition zu begreifen, die die vorausgesetzte Differenzierung von Realität und Fiktion dynamisiert. Solche Filme dienen als Schule der Fiktionalität und zugleich als Agenturen der Realitätsskepsis. Sie zeigen, dass sich zumindest in dem engen Rahmen einer entsprechenden Konstruktion auch stabile Verhältnisbestimmungen aufweichen lassen, dass das Reale fiktiv und das Faktuale fiktional erscheint – und gegebenenfalls auch vice versa. Diesem Gewinn auf der Rezeptionsseite steht gleichermaßen ein Gewinn auf der Produktionsseite gegenüber. Man kann diesen Gewinn verdeutlichen, wenn man die Frage, wie denn neue, gute Sujets für Spielfilme generiert werden können, auf den Film als Medium zurücklenkt. Dabei kann man einen paradoxalen Effekt beobachten. Solchen Filmen gelingt es, in allen möglichen Genres umso phantastischere Konstellationen in ihren Sujets umzusetzen, je stärker sie sich auf sich selbst beziehen. Autoreflexive Engführung und phantastische Transgression gehen Hand in Hand und bedingen sich sogar wechselseitig. Wesentlich forcierter als ein James-BondFilm früherer Tage (an dessen Modell sich Nolans Film anlehnt) kann ein Werk wie Inception Elemente von Thriller, Heist-Movie und Science-Fiction vereinen und die unterschiedlichsten Handlungsorte aneinanderreihen, ohne Schwierigkeiten bei der Plausibilisierung der Zusammenstellung all dieser Elemente durch den Plot zu bekommen. Man könnte auch fragen, warum sich Zuschauer auf diesen Fiktionspakt einlassen und solche Ideen akzeptieren. Eine Antwort müsste genau auf diese Autoreflexion mittels der Medienmetapher abheben. Dabei kann man auf der Produktionsseite wie auf der Rezeptionsseite dasselbe Paradoxon nachvollziehen. Der Bezugshorizont, die Suspense-Qualität, der Rätselcharakter solcher Filme wächst umso mehr, je stärker sich letztere in ihrem konzeptionellen Kern auf sich selbst beziehen.

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7 Fiktionalität und Medialität Als letzte soll die Frage aufgeworfen werden, welche Reichweite ein solches Modell hat. In einer sehr defensiven Fassung könnte man davon sprechen, dass hier ein bestimmtes Modell für das Funktionieren von Bewusstseinsfilmen vorliegt. Doch das scheint nicht ganz stimmig zu sein, weil dieses Modell zwar mit dem Bewusstseinsfilm verschränkt ist, aber nicht in ihm aufgeht. Der Begriff selbst muss als Verweis auf die Unhintergehbarkeit primär audiovisueller Welterfahrung verstanden und ernst genommen werden. Genau dieser Umstand stiftet eine natürliche Verschränkung zwischen dem vorgestellten Modell und den Filmen, die mit diesem Begriff – genrehaft oder nicht – bezeichnet werden. Insofern kann der Begriff des Bewusstseinsfilms auf den Begriff des Medienmetapherfilms hin abstrahiert werden. Das würde bedeuten, dass mit diesem Konzept ein Modell vorliegt, das erstens im Medium seine mediale Funktionsweise selbst noch einmal ausstellt und damit beobachtbar und zudem konkret analytisch traktierbar macht. Doch es kommt ein zweites Moment hinzu: Die filminterne Rezeptionssituation wird gleichermaßen als ein Prädispositiv für die mögliche oder intendierte Rezeption eben des Films durchschaubar, in dem sie vorkommt. So wird ersichtlich, wie ein Film nicht nur als fiktional eingestuft werden kann, sondern auch, wie er selbst diese Zuschreibung narrativ verhandelt, ausstellt oder auch (z.B. als ein Traumgeschehen, das nicht mit dem Film endet) unterläuft. Eine größere Reichweite des Modells wäre zu überprüfen, wenn man grundsätzlichen medientheoretischen Implikationen nachspürt. Zwar kann man mithilfe dieses Modells ein Corpus von Filmen identifizieren, und man kann dieses Corpus insgesamt filmhistorisch und genrespezifisch auswerten, indem man fragt, welche filmgeschichtliche Entwicklung damit bezeichnet wird. Zudem liefert dieses Modell auch eine filmanalytische Handhabe, wenn es darum geht, die narrative Funktionalisierung medialer Autoreflexion zu rekonstruieren. Darüber hinaus wäre allerdings auch zu fragen, inwiefern solche Filme eine grundlegende mediale Struktur des Films in besonderer Weise offenbaren, indem sie sie gleichzeitig als narrativen Plot umsetzen. Das ist die Frage einer grundsätzlichen medialen Autoreflexivität des Films oder jedes anderen Mediums, solche autoreflexiven Strukturen umzusetzen, wobei allerdings die je medienspezifischen Bedingungen zu berücksichtigen sind, denen die Umsetzung entsprechender autoreflexiver Strukturen unterliegt. Die besondere Pointe des Modells bestünde dann darin, dass es ebenso exemplarisch wie paradigmatisch Fiktionalität und das Spiel mit Fiktion und Realität als Sujet konkretisiert und beobachtbar macht. Dabei wird nicht nur deutlich, dass Fiktionalität immer auch mit einer Autoreflexion einhergehen muss, um überhaupt solche Differenzen wie Rezipient und Text einerseits und Realität und Fiktivität bzw. Faktualität und Fiktionalität andererseits zur Deckung bringen zu können. Vielmehr wird das Konzept der Fiktionalität in seiner konstitutiven medientheoretischen Bedeutung

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durchschaubar. Noch einmal anders gewendet, ließe sich Fiktionalität als eine Funktion von Medialität bestimmen. Die Zuschreibung dieser Kategorie hinge demnach nicht allein von historisch rekonstruierbaren empirischen Kontextfaktoren ab, sondern eben auch von den Dispositionen eines Mediums, eine fiktionale Geschichte zu erzählen. Das wird gerade beim Spielfilm, der keinen Erzähler besitzt, spürbar, weil seine Bilder in der Regel nicht, wie oben ausgeführt, im Hinblick auf Faktualität und Fiktionalität markiert sind. Der Erzählgestus einer Erzählinstanz in einem literarischen Text ist hier von vornherein stärker festgelegt. Das Interessante an Spielfilmen, wie sie meine Überlegungen im wahrsten Sinne des Wortes ‚im Blick hatten‘, besteht in dem Umstand, dass sie genau diese Struktur noch einmal reflexiv einholen. Dieser Typus von Film mit seinen Dispositionen audiovisueller Wahrnehmung und seinem fiktionalen Charakter in seiner narrativen Entfaltung, vor allem aber mit seinem Gestaltungsspielraum, die Differenz von Fiktion und Realität fiktionsintern selbst noch einmal narrativ zu handhaben und – mit unterschiedlichen Implikationen – auf das Verhältnis von Realität im Film und realem Zuschauer zu projizieren, scheint daher in besonderer Weise geeignet zu sein, einen Zusammenhang von Fiktionalität und Medialität grundsätzlich herauszustellen.

Jeff Thoss

Einbruch der Wirklichkeit: Metaleptische Enden transmedial 1 In der letzten Einstellung von Mel Brooks’ Blazing Saddles (USA 1974) reiten Sheriff Bart und Revolverheld Jim, die beiden Helden des Films, dem Sonnenuntergang entgegen. Auf der Tonspur erklingt der Schlussakkord eines typischen Westernsoundtracks, auf der Leinwand erscheinen die Wörter „The End“. Es folgt eine Abblende. Das Ende von Blazing Saddles wirkt somit überaus genrekonform und zudem überaus markiert. Auf allen Ebenen und Kanälen signalisiert der Film seinen Abschluss und kündigt – in der Begrifflichkeit Erving Goffmans – einen Rahmenwechsel an, aus dem sekundären Rahmen des Filmeschauens in einen primären Rahmen der Weltwahrnehmung.1 Statt über das Medium des Kinos an einer fiktiven Welt teilzuhaben, sind die Zuschauer dazu angehalten, ihre Aufmerksamkeit nun wieder auf die reale Welt, in der sie leben, zu richten. Dies alles wäre nicht weiter ungewöhnlich, wenn die Protagonisten auf dem Weg zum Horizont nicht von ihren Pferden in ein Auto umstiegen – und wenn Brooks’ Film nicht wenige Minuten zuvor bereits einen Rahmenbruch vollzogen und suggeriert hätte, seine Handlung sei aus der fiktiven Welt in die Wirklichkeit übergegangen. Kurz vor Schluss gibt es eine – ebenfalls gattungstypische – Massenschlägerei in Rock Ridge, dem zentralen Schauplatz von Blazing Saddles. Ein langsamer Zoom zurück bringt jedoch zum Vorschein, dass sich die Westernstadt inmitten eines Studiogeländes befindet (kurze Zeit später als Warner Bros. Studios identifiziert, jene Produktionsgesellschaft, die für Brooks’ Film verantwortlich zeichnet). Dies ließe sich erst einmal als Rahmenwechsel begreifen, als unproblematische Neurahmung des Wahrgenommenen: Was soeben noch als echte Schlägerei innerhalb einer fiktiven Welt verarbeitet wurde, wird nun als von Darstellern auf einem Filmset gespielte Schlägerei gesehen. Über die Dauer des Zooms scheint Blazing Saddles von einem fiktionalen in einen nicht-fiktionalen Darstellungsmodus gewechselt zu sein. Aus dem Spielfilm ist gewissermaßen das Making-of des Spielfilms geworden. In der Folge kommt es jedoch schnell zum Rahmenbruch, zur Störung des Rahmens ohne Möglichkeit einer raschen und eindeutigen Neurahmung. Die Schlägerei wird nämlich nicht, wie man vielleicht erwarten könnte, durch den „Cut“-Ruf des Regisseurs be-

|| 1 Siehe Erving Goffman, Frame Analysis. An Essay on the Organization of Experience, New York: Harper & Row 1974.

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endet, sondern zieht immer weitere Kreise. Zuerst wird die Filmcrew eines benachbarten Drehs darin verwickelt, dann verlagert sich die Prügelei in die Studiokantine, bevor es schließlich auf die Straßen vor das Warner-Bros.-Gelände hinausgeht. Die Schlägerei scheint nun doch keine bloß gespielte zu sein, und zu prügeln scheinen sich auch nicht nur Schauspieler, sondern die Bewohner von Rock Ridge – die größtenteils in character agieren2 – mit Schauspielern und sonstigen im Filmstudio tätigen Personen. Es entsteht somit der Eindruck, dass hier fiktive Charaktere mit realen Menschen kämpfen. Wenn der Zoom also einen Rahmen um die fiktive Welt gezogen und plausibel gemacht hat, dass das, was außerhalb dieses Rahmens liegt, zu unserer realen Welt gehört, so diente dies anscheinend nur dazu, diesen Rahmen sogleich wieder zu durchbrechen und die Unterscheidung Fiktion/Wirklichkeit anzufechten. Mel Brooks’ Verwirrspiel geht aber noch weiter. Unter den Charakteren, die vermeintlich aus der Fiktion in die Realität geflüchtet sind, befindet sich auch der Bösewicht des Films, Hedley, der mit den Worten „Drive me off this picture!“ in ein Taxi steigt. Dieses fährt ihn jedoch nicht ‚aus dem Film‘ – er ist ja bereits ‚in der Wirklichkeit‘ – sondern vor ein Kino (Hollywoods bekanntes Grauman’s Chinese Theatre), in dem Blazing Saddles läuft. Hedley geht hinein und sieht auf der Leinwand Sheriff Bart ebenfalls vor besagtem Kino ankommen. Er läuft wieder hinaus und es kommt zum Duell, das der Bösewicht natürlich verliert. Revolverheld Jim stößt hinzu und Bart schlägt vor, sich doch noch „the end of the flick“ anzusehen, worauf beide in der Hoffnung auf ein „happy ending“ in den Kinosaal gehen und sich tatsächlich das Ende des Films ansehen, inklusive ihres abschließenden Ritts (bzw. ihrer Fahrt) in den Sonnenuntergang. Das Verhältnis von fiktiver und vermeintlich wirklicher Welt ist demnach noch einmal komplizierter, als es der vorhergehende Übertritt von Figuren aus der einen in die andere Welt nahegelegt hat. Die Figuren treten zum Teil auch aus ihrer Welt heraus, um sich – in einer überaus aporetischen mise en abyme3 – den Film anzuschauen, der diese Welt darstellt. Die Kontinuität zwischen Fiktion und Wirklichkeit, die der Film andeutet, wird zirkulär und steigert sich zu immer paradoxeren Konstellationen. Hinter dem scheinbar ‚sauberen‘ Abschluss der Fiktion, den Sonnenuntergang, Schlussakkord, Schriftzug und Abblende verkünden, verbirgt sich eine mehrfache Verschränkung von fiktiver und vermeintlich wirklicher Welt. Was üblicherweise die klare Trennung zwischen dem fiktiven Filmgeschehen und der Wirklichkeit betont, in die der Film seine Zuschauer am Ende entlässt, wirkt angesichts des Angriffs oder Vorgriffs auf die Wirklichkeit, den Blazing Saddles inszeniert,

|| 2 Gelegentlich fallen sie allerdings auch aus der Rolle, so dass die korrekte Rahmung zusätzlich erschwert wird. Einer der Cowboys beschimpft etwa einen Schauspieler vom benachbarten Dreh mit den Worten: „Piss on you! I’m working for Mel Brooks!“. Solche Missachtungen der Unterscheidung zwischen Schauspieler und Figur werden später anhand des Dramas genauer untersucht. 3 Zum Begriff der aporetischen mise en abyme siehe Lucien Dällenbach, Le Récit spéculaire. Essai sur la mise en abyme, Paris: Seuil 1977, 146.

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nur noch komisch. Der Film tut mit seiner letzten Einstellung so, als ob nichts gewesen sei – das ist seine finale Pointe.

2 Seit der Veröffentlichung von Gérard Genettes „Discours du récit“ (1972) hat sich für Rahmenbrüche, wie sie Mel Brooks verwendet, der Begriff der Metalepse eingebürgert.4 Auf andere Medien als das des literarischen Textes wird er vermehrt erst seit der transmedialen Öffnung der Erzähltheorie in den letzten zwei Jahrzehnten angewendet; inzwischen ist die Metalepse allerdings fest als transmediales Phänomen etabliert.5 Ich habe den Begriff in einer früheren Arbeit als Verletzung der Grenze zwischen dem Innen und dem Außen einer storyworld, einer erzählten Welt, zu definieren versucht.6 Möchte man nicht-erzählende Medien miteinschließen, lässt sich auch schlicht von einer dargestellten Welt sprechen. Dargestellte Welten sind auf mediale Rahmung angewiesen und somit abgegrenzt. Erst wenn ich im Kinosaal die Lichtprojektionen auf der Leinwand und die Geräusche aus den Lautsprechern mit Hilfe des Rahmens Film interpretiere – Goffman spricht von keying als Verfahren, das Elemente aus einem primären in einen sekundären Rahmen übersetzt7 –, erschließt sich mir die Wildwest-Welt von Blazing Saddles. Die Abgrenzung der dargestellten Welt gilt umso mehr, wenn es sich dabei um eine fiktive handelt. Fiktive Welten sind ontologisch von unserer geschieden. Ich würde mich hier einem Fiktionskonzept anschließen, wie es von Remigius Bunia vertreten wird: Fiktionale Texte beschreiben andere Welten, nicht-fiktionale Texte beschreiben unsere Welt. Ob ein Text der einen oder anderen Kategorie zugeordnet wird, kann er zwar selbst (etwa über Fiktionssignale)8 nahelegen aber niemals endgültig bestimmen, darüber entscheidet allein der Umgang mit ihm.9 Beschließt man, einen Text – der Begriff soll im Folgenden in seinem weit gefassten, semiotischen

|| 4 Siehe Gérard Genette, „Discours du récit: Essai de méthode“, in: Discours du récit, Paris: Seuil 2007, 7–290, hier: 243–247. 5 Siehe insb. Werner Wolf, „Metalepsis as a Transgeneric and Transmedial Phenomenon. A Case Study of the Possibilities of ‚Exporting‘ Narratological Concepts“, in: Jan Christoph Meister (Hg.), Narratology beyond Literary Criticism. Mediality, Disciplinarity, Berlin: De Gruyter 2005, 83–107. 6 Vgl. Jeff Thoss, When Storyworlds Collide. Metalepsis in Popular Fiction, Film and Comics, Leiden: Rodopi 2015, insb. 18–39 sowie 179. 7 Siehe Erving Goffman, Frame Analysis (Anm. 1), 43–45. 8 Zum Begriff des Fiktionssignals siehe Klaus W. Hempfer, „Zu einigen Problemen der Fiktionstheorie“, Zeitschrift für französische Sprache und Literatur 100 (1990), 109–137; sowie Frank Zipfel, Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität. Analysen zur Fiktion in der Literatur und zum Fiktionsbegriff in der Literaturwissenschaft, Berlin: Schmidt 2001, 232. 9 Vgl. Remigius Bunia, Faltungen. Fiktion, Erzählen, Medien, Berlin: Schmidt 2007, 99f.

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Sinn verstanden sein – als fiktional zu behandeln, gilt über die grundsätzliche mediale Rahmung seiner dargestellten Welt hinaus, dass dieser Welt auch ein anderer ontologischer Status zugesprochen wird. Was immer dann auch in der fiktiven Welt ist, ist nur dort. Aus Sicht der realen Welt existiert die fiktive Welt nicht. Sie verhält sich autonom gegenüber der Wirklichkeit und ist für uns nur über sekundäre Rahmen, über mediale Artefakte zugänglich. Dieser autonome Status der fiktiven Welt ist es nun, den die Metalepse zerstört. Sie vermischt das, was innerhalb der fiktiven Welt existiert, mit dem, was außerhalb ihrer liegt, und schafft dadurch ontologische Aporien. In Blazing Saddles befinden sich fiktive Figuren (Innenseite) plötzlich scheinbar in der Wirklichkeit, in der dieser Film und damit auch seine fiktive Welt produziert werden (Außenseite). Aus Sicht der realen Welt gibt es diese Figuren jedoch nicht, sie sind ja fiktiv. Andererseits gibt es aus Sicht der fiktiven Welt die reale Welt nicht. Innerhalb einer fiktiven Welt ist diese selbst die reale Welt und auch nicht das Produkt einer anderen. Die Unvereinbarkeit dieser beiden Positionen stellt die Metalepse aus, wenn sie eine Kontinuität zwischen beiden Welten herstellt. Indem sie die Grenze zwischen Fiktion und Wirklichkeit überschreitet, macht sie diese zugleich auch sichtbar.10 Selbstverständlich ist die reale Welt, die hier im Spiel ist, letztlich auch nur eine Fiktion, eine Außenseite, die von der Innenseite projiziert wird. Mel Brooks’ Film kann zwar in seinem Rückwärtszoom andeuten, dass er nun in einen nicht-fiktionalen Darstellungsmodus gewechselt ist und unsere Welt zeigt. Aber sobald die fiktiven Figuren in dieser Welt weiterwirken, ist erkennbar, dass es sich dabei nicht um die Realität handeln kann. Wenn es auch zahlreiche Phänomene in unserer Welt gibt, die eine gewisse Strukturanalogie zur Metalepse aufzeigen,11 ist es doch nicht möglich, dass Charaktere aus einer fiktiven Welt in unsere hinübertreten können (oder umgekehrt). Dies verstößt schlicht gegen das Prinzip der inneren Konsistenz, das für unser gegenwärtiges Wirklichkeitsverständnis bestimmend ist.12 Zumindest was Metalepsen anbelangt, lässt sich die Grenze zwischen Fiktion und Realität nur innerhalb der Fiktion überschreiten.13 Das ändert natürlich nichts daran, dass metaleptische Texte diese Grenze gerne überspielen und uns dazu einladen, sie im Rahmen eines game of make-believe14 als durchlässig zu behandeln. Statt eine fiktive mit der (vermeint-

|| 10 Vgl. Gérard Genette, „Discours du récit“ (Anm. 4), 245. 11 Dazu gehört etwa all jenes, was Douglas Hofstadter in Gödel, Escher, Bach. An Eternal Golden Braid (New York: Basic Books 1979) unter den Begriff des strange loop fasst, nicht zuletzt das menschliche Bewusstsein. 12 Vgl. Hans Blumenberg, „Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans“, in: Hans Robert Jauß (Hg.), Nachahmung und Illusion, München: Fink 1969, 9–27, hier: 12f. u. 21. 13 Siehe hierzu auch J. Alexander Bareis, Fiktionales Erzählen. Zur Theorie der literarischen Fiktion als Make-Believe, Göteborg: Acta Univ. Gothoburgensis 2008, 208 u. 213. 14 Siehe hierzu Kendall L. Walton, Mimesis as Make-Believe. On the Foundations of the Representational Arts, Cambridge: Harvard UP 1990.

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lich) wirklichen Welt zu verschränken, können sie natürlich auch eine fiktive Welt mit einer anderen in dieser Welt eingebetteten fiktiven Welt verschränken und die Unterscheidung Fiktion/Realität somit eine Ebene tiefer einsetzen. (Aus Sicht einer fiktiven Welt ist sie selbst ja die reale Welt, in der natürlich auch Fiktionen existieren können.) Für uns als Rezipienten handelt es sich dann freilich um von vorneherein als (geschachtelt) fiktiv deklarierte Welten, während die Metalepse im anderen Fall ja gerade darauf abzielt, dass wir eine dargestellte Welt so aufnehmen, als ob es die unsere sei. Die Unmöglichkeit der Metalepse, die Tatsache, dass, wie Marie-Laure Ryan dies ausdrückt, die Realität vor ihr ‚geschützt‘ ist,15 macht sie zum bewährten Fiktionssignal. Werner Wolf etwa schreibt der Metalepse eine „implizit metafiktionale“ Qualität zu.16 Dabei ist die Metalepse ein recht paradoxes Fiktionssignal, denn sie zeigt Fiktion an, indem sie die Trennung von fiktiver und realer Welt untergräbt. Sie ist ein fiktionales Spiel mit der Fiktion, das die lebensweltliche Geltung der Opposition Fiktion/Wirklichkeit suspendiert. Dieses Spiel lässt sich auf vielfältige Weise funktionalisieren. Bei Mel Brooks geht es offensichtlich um Komik, um die karnevaleske Missachtung und Umkehr der Hierarchie von realer und fiktiver Welt. Besonders effektiv sind solche Rahmenspiele an den Grenzen des Textes, an seinem aus Anfang und Ende bestehenden raumzeitlichen Rahmen.17 Hier überschreiten Rezipienten gewissermaßen selbst die Grenze zwischen Wirklichkeit und Fiktion, wenn sie am Anfang aus ihrem primären in einen sekundären Rahmen wechseln und ihre Aufmerksamkeit von der sie umgebenden wirklichen Welt auf die über eine mediale Rahmung erschlossene fiktive Welt lenken bzw. am Ende den umgekehrten Prozess durchlaufen. Hier fallen also zwei verschiedene Rahmen zusammen, wovon einer (der raumzeitliche des Textes) den anderen (den der Fiktion) auslöst und auch wieder ausschaltet. Dadurch ergibt sich ein erhöhtes Potential für metaleptische Verwirrung.18 Das Ende ist dabei noch einmal besonders attraktiv, denn hier laufen alle möglichen Erwartungen auf Einheit, Kohärenz, Sinnhaftigkeit etc. zusammen, wie es etwa Barbara Herrnstein Smith mit ihrem closure-Konzept (ursprünglich für die Lyrik) gezeigt hat.19 Auch für den Status der fiktiven Welt ist das Ende entscheidend; für Jurij Lotman „legt [es] Zeugnis ab von der Konstruktion der Welt als ganzer“.20

|| 15 Vgl. Marie-Laure Ryan, „Metaleptic Machines“, in: Semiotica 150 (2004), 439–470, hier: 444. 16 Werner Wolf, „Metalepsis“ (Anm. 5), 103. 17 Siehe zu diesem Rahmenbegriff Jurij M. Lotman, Die Struktur literarischer Texte, übers. v. RolfDietrich Keil, München: Fink 41993 [1972], 300–311. 18 Siehe zur Metalepse als Rahmenspiel, insb. in Bezug auf Paratexte, auch Margarete Rubik, „Frames and Framing in Jasper Fforde’s The Eyre Affair“, in: Werner Wolf/Walter Bernhart, Framing Borders in Literature and Other Media, Amsterdam/New York: Rodopi 2006, 343–358, hier: 344. 19 S. Barbara Herrnstein Smith, Poetic Closure. A Study of How Poems End, Chicago: U of Chicago P 1968. 20 Jurij M. Lotman, Die Struktur literarischer Texte (Anm. 17), 310.

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Nun ist es nicht ungewöhnlich, dass Texte am Ende auf ihre Rahmung verweisen, indem etwa in Prosatexten der Erzähler den Abschluss seiner Geschichte metanarrativ bzw. metafiktional kommentiert. Dies erfüllt nach allgemeinem Verständnis die Funktion, Lesern einen reibungslosen Rahmenwechsel zu ermöglichen.21 An sich wäre dies auch das, was die letzte Einstellung von Blazing Saddles leisten würde, wenn dem nicht der metaleptische Rahmenbruch vorausginge. Das metaleptische Ende zieht die Wirklichkeit in die Fiktion, bevor der Rahmenwechsel aus der fiktiven in die reale Welt vollzogen werden kann. Über die ontologische Grenzverletzung wird die fiktive Welt abschließend unterminiert und als bloßes Konstrukt preisgegeben, was sich zugleich auf den Status der Wirklichkeit auswirkt. Inwieweit dies der closure des Textes zuträglich ist oder sich vielmehr einer closure widersetzt, muss im Einzelfall entschieden werden. Es hängt etwa davon ab, ob sich bereits zuvor Metalepsen im Text finden. In Brooks’ mit Metalepsen gespickter Western-Parodie kann das metaleptische Ende etwa als durchaus konsequent, als krönender Abschluss empfunden werden. Es radikalisiert das bereits vorhandene metaleptische Verwirrspiel, den anarchischen Umgang mit Medien- und Gattungskonventionen und trägt damit zur closure des Films bei. Ich möchte mich im Folgenden mit drei weiteren Beispielen von metaleptischen Enden aus anderen Medien – Roman, Comic und Drama22 – beschäftigen. Der Begriff des Endes lässt sich an dieser Stelle dahingehend präzisieren, dass es vor allem um das Ende auf der Ebene des discours (der Darstellung) gehen soll und nicht unbedingt um das Ende auf der Ebene der histoire (im Sinne der chronologisch letzten Dinge, die wir über die dargestellte Welt erfahren). Marco Kunz hat hierfür das Be-

|| 21 Siehe etwa Barbara Korte, Techniken der Schlußgebung im Roman. Eine Untersuchung englischund deutschsprachiger Romane, Frankfurt a.M.: Peter Lang 1985, 48 u. 53; sowie Marco Kunz, El final de la novela. Teoría, técnica y análysis del cierre en la literatura moderne en lengua española, Madrid: Gredos 1997, 202. Siehe auch die grundlegenden Überlegungen zur Position von metafiktionalen Elementen in Werner Wolf, Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung in der Erzählkunst. Theorie und Geschichte mit Schwerpunkt auf englischem illusionsstörenden Erzählen, Tübingen: Niemeyer 1993, 239–241. 22 Die hier getroffene Auswahl an Medien könnte man als ‚konservativ‘ bezeichnen. Wie so oft bei medienkomparatistischen Arbeiten stehen dem Interesse an einem möglichst großen Korpus die begrenzten Kenntnisse und Fertigkeiten des Verfassers gegenüber. Ich möchte deshalb lediglich zwei weitere Beispiele für metaleptische Enden erwähnen, um die Transmedialität des Phänomens zu unterstreichen, ohne dass ich näher auf diese eingehen kann. In der Simpsons-Episode „Treehouse of Horror VI“ (1995) stürzt Homer am Ende in ein Wurmloch und landet in einer kalifornischen Stadt. Ein (dreidimensional) animierter Homer bewegt sich nun durch live-action Aufnahmen einer Straße. Über den Wechsel bzw. die Vermischung der Darstellungstechniken (Animation vs. Realfilm) wird suggeriert, die Figur sei nun in unserer Wirklichkeit angekommen. Einen Ausbruch aus der Fiktion inszeniert auch der Schluss des Videospiel-Klassikers Golden Axe (Sega 1989), der in einer Zwischensequenz zeigt, wie die gegnerischen Figuren (dicht gefolgt von den Helden) aus dem Arcade-Automaten steigen, um nun Jagd auf die Spieler zu machen.

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griffspaar ‚Schluss‘ (‚cierre‘) und ‚dénouement‘ (‚desenlace‘) vorgeschlagen.23 Auch wenn in den hier behandelten Beispielen beides in der Regel zusammenfällt, der Schluss also das dénouement repräsentiert (wie in Blazing Saddles), ist die Unterscheidung dennoch notwendig, insbesondere dort, wo Schluss und dénouement sich metaleptisch gegenseitig bedingen (einen solchen Fall behandele ich in Abschnitt 4). Metaleptische Enden sind transmedial, also ein Phänomen, das nicht für ein bestimmtes Medium spezifisch ist, sondern in unterschiedlichen Medien mit den je eigenen Mitteln realisiert werden kann.24 Dies dürfte nicht weiter überraschen, nachdem Metalepsen, Fiktion und auch Enden (als Bestandteil von Erzählungen) allesamt transmediale Erscheinungen sind.25 Insofern Medien eine fiktive Welt darstellen können und über eine zeitliche Struktur verfügen, können sie auch metaleptisch enden. Das Augenmerk wird auf der Art und Weise liegen, wie verschiedene Medien die Wirklichkeit in die Fiktion einbrechen lassen und welche Funktion(en) dies erfüllt. Im Rahmen eines Aufsatzes kann dabei selbstverständlich kein Anspruch auf Vollständigkeit oder Repräsentativität bestehen. Es geht lediglich darum, einige Schlaglichter auf Spielarten des metaleptischen Endes zu werfen. Dennoch kann man behaupten, dass die behandelten Beispiele besonders typische metaleptische Enden aufweisen, da sie ihre jeweilige Medienspezifik gezielt ausnutzen.26 Nachdem Blazing Saddles seine fiktive Welt mit der der Filmproduktion verschränkt hat, ist es beim Romanbeispiel – Kurt Vonneguts Breakfast of Champions (1973) – der Autor, der über eine Veränderung der Erzählsituation in seine Fiktion verwickelt wird. Beim Comicbeispiel, Brian Azzarellos und Cliff Chiangs Doctor 13: Architecture & Mortality (2007), spielt die Comicseite mit ihren auffälligen Layoutkonventionen eine zentrale Rolle. Das Dramenbeispiel, Joseph Hellers We Bombed in New Haven (1967), macht sich schließlich die (im Dramentext implizierte) Aufführungssituation des Theaters für seine metaleptischen Verwirrspiele zunutze. Die Reihenfolge der Beispiele ergibt sich dadurch, dass darstellende Medien (hier: Film und Theater) in der Regel mehr

|| 23 Siehe Marco Kunz, El final de la novela (Anm. 21), insb. 19, 28, 41. Kunz möchte seinen dénouement-Begriff ganz explizit ‚neutral‘ verstanden wissen, als „final de la historia narrada (con o sin solución de los conflictos)“ (ebd., 19). Dass dies der Etymologie und gängigen Verwendung des Begriffs entgegenläuft, die ja gerade auf die Lösung der Konflikte abzielt, erscheint unglücklich. Es gibt bislang allerdings auch keine wirkungsmächtigen Gegenvorschläge zu Kunz’ Terminologie, so dass ich diese gewissermaßen unter Vorbehalt übernehme. 24 Vgl. Irina O. Rajewsky, Intermedialität, Tübingen: Francke 2002, 202. 25 Zur Transmedialität der Fiktion siehe etwa Jean-Marie Schaeffer (Pourquoi la fiction?, Paris: Seuil 1999, 231–315), sowie Frank Zipfel („Fiction across Media. Towards a Transmedial Concept of Fictionality“, in: Marie-Laure Ryan/Jan-Noël Thon [Hg.], Storyworlds across Media. Toward a MediaConscious Narratology, Lincoln: U of Nebraska P 2014, 103–125), die allerdings beide die Vorläufigkeit ihrer Theorie-Entwürfe betonen. In Techniken der Schlußgebung im Roman (Anm. 21) stellt Barbara Korte (avant la lettre) auch die Transmedialität dieser Techniken fest (vgl. 189–191). 26 Vgl. die Analysen in Jeff Thoss, When Storyworlds Collide (Anm. 6).

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Möglichkeiten haben, die Wirklichkeit in Metalepsen zu verstricken und vielleicht auch wirkungsvollere Verwirrungen realisieren können.

3 Im Beispiel von Blazing Saddles bewegen sich Charaktere aus der fiktiven Welt am Ende des Films in die vermeintliche (fiktionsinterne) Wirklichkeit. In der Metalepsentheorie unterscheidet man gelegentlich solche aufsteigenden von absteigenden Metalepsen, bei denen die ‚Stoßrichtung‘ umgekehrt wird und Personen oder Dinge auf tiefer liegende diegetische Ebenen vordringen.27 Bekanntestes Bespiel für einen Abstieg aus der Wirklichkeit in die Fiktion dürfte im Bereich der Erzählprosa die authorial insertion sein, der Eintritt des Autors in die von ihm erschaffene Welt, der quasi zum postmodernen Topos geworden ist.28 Dieser findet sich auch in Kurt Vonneguts Roman Breakfast of Champions, wo er vor allem für das Ende entscheidend ist. Im als „Epilogue“ gekennzeichneten Schlussteil des Romans wird eine Begegnung zwischen Vonnegut und seiner Hauptfigur Kilgore Trout inszeniert, die das dénouement der Erzählung darstellt. Der vermeintliche Übertritt des realen Autors in die fiktive Welt wird dabei vor allem über die Transformation des anfangs klar heterodiegetischen in einen homodiegetischen Erzähler sowie über die prinzipielle Gleichsetzung von Autor und Erzähler hergestellt. Zuerst finden sich gelegentlich eingestreute metafiktionale Erzählerkommentare, die mit Blick auf eine mögliche metaleptische Grenzverletzung nicht weiter verdächtig erscheinen. So bekundet der Erzähler etwa den fiktiven Status seines Protagonisten: „I do not know who invented the body bag. I do know who invented Kilgore Trout. I did.“29 Anderenorts berichtet er von einer ebenso vom ihm wie seinen Charakteren durchlebten Ära: „When Dwayne was a boy, when Kilgore Trout was a boy, when I was a boy, and even when we became middle-aged men and older, it was the duty of the police […].“30 Wenn der Erzähler, der ja selbst bereits Teil der Fiktion ist, eine aus seiner Perspektive fiktionale Geschichte erzählt, mag es verwundern, wenn er, wie hier, sich und seine Figuren in einem Atemzug nennt. Noch jedoch handelt es sich lediglich um eine ungewöhnliche Redewendung; der Erzähler spricht, als ob Dwayne, Kilgore Trout und er zur gleichen Zeit gelebt bzw. überhaupt in der gleichen Welt existiert hätten. Erst im letzten Drittel des Romans wird diese Redewendung wörtlich ausgelegt, wird sich

|| 27 Siehe Gérard Genette, Métalepse. De la figure à la fiction, Paris: Seuil 2004, 27. 28 Siehe Brian McHale, Postmodernist Fiction, New York: Methuen 1987, 197–215. 29 Kurt Vonnegut, Breakfast of Champions, London: Vintage 2000, 32. 30 Ebd., 24.

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das ‚I‘, das hier spricht, tatsächlich in einem Raum mit seinen Charakteren befinden.31 Dort sagt der Erzähler an einer Stelle plötzlich: „I had come to the arts festival incognito. I was there to watch a confrontation between two human beings I had created: Dwayne Hoover and Kilgore Trout.“32 Es scheint also, dass wir es nun mit einem homodiegetischen Erzähler zu tun haben; der Erzähler ist Teil der Welt, von der er erzählt. Dies passt allerdings nicht mit den unterschiedlichen ontologischen Status zusammen, die der Erzähler einerseits und Dwayne Hoover sowie Kilgore Trout andererseits haben und auf die hier auch noch einmal angespielt wird. Noch könnte man dies als fiktionsinterne Metalepse verstehen, die die textexterne Wirklichkeit nicht tangiert: Es ist der Erzähler, der von der extradiegetischen auf die intradiegetische Ebene hinabgestiegen, von einer für ihn realen in eine für ihn fiktive Welt hinübergetreten ist. Die Unterscheidbarkeit von Autor und Erzähler, die für diese Lesart notwendig ist – und die, nebenbei gesagt, das Fiktionskriterium von Gérard Genette und Dorrit Cohn bildet33 –, will der Roman allerdings partout nicht gewährleisten. Als „I, the author“34 bezeichnet sich der Erzähler, der damit eben auch gleichzeitig der Autor Kurt Vonnegut zu sein scheint (auch wenn Breakfast of Champions, im Gegensatz zu vielen anderen authorial insertions, auf die Nennung des Eigennamens verzichtet). Damit ändert sich allerdings der Status der Metalepse, da nun nicht mehr suggeriert wird, ein im Kommunikationsmodell der Prosa bereits von vorneherein als fiktiv konstituierter Erzähler sei Teil der Diegese geworden, sondern der außerhalb der fiktiven Sprechsituation, außerhalb des sekundären Rahmens der Fiktion stehende empirische Autor. Während sich der Autor größtenteils als passiver Beobachter in der von ihm geschaffenen Welt aufhält, kommt es im bereits genannten Epilog zum Treffen mit Kilgore Trout, dem er sich mit folgenden unmissverständlichen Worten vorstellt: „Mr. Trout, […] I am a novelist, and I created you for use in my books. […] I’m your creator, […] You’re in the middle of a book right now – close to the end of it, actually.“35 Wieso der Autor seinem Geschöpf aufgelauert hat, erklärt er gleich darauf: Er möchte seine Figuren in die Freiheit entlassen. Nun muss man wissen, dass Kilgore Trout der Autor eines Science-Fiction-Romans ist, der in der Form eines Briefes vom Schöpfer des Universums an das einzige Geschöpf dieses Universums geschrieben ist, das freien Willen besitzt. In diesem Brief wird erklärt, dass alle andere Menschen lediglich Maschinen sind. Dwayne Hoover, die andere zentrale Figur in Breakfast of Champions, liest den Roman und nimmt an, der Brief sei an ihn adressiert, worauf|| 31 Zum Wandel der Metalepse von der Figur zur Fiktion, siehe Gérard Genette, Métalepse (Anm. 27). 32 Kurt Vonnegut, Breakfast of Champions (Anm. 29), 192. 33 Siehe Gérard Genette, Fiction et diction. Précedé de Introduction à l’architexte, Paris: Seuil 2004 sowie Dorrit Cohn, The Distinction of Fiction, Baltimore: Johns Hopkins UP 1999. 34 Kurt Vonnegut, Breakfast of Champions (Anm. 29), 218. 35 Ebd., 291.

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hin er im Glauben an seine Wahrhaftigkeit Amok läuft. Der freie Wille und die Unterscheidbarkeit von Wirklichkeit und Fiktion (bzw. fiktionalen und nicht-fiktionalen Texten) sind also Kernthemen von Vonneguts Roman. Das dénouement spielt dieser noch einmal auf einer anderen Ebene durch. Der Autor Kurt Vonnegut erscheint als deus ex machina – die Autor/Gott-Analogie ist geläufiger Bestandteil des Topos der authorial insertion – um Kilgore Trout mitzuteilen, dass sein Science-Fiction-Roman nicht so fernab der Wahrheit lag. Bislang waren tatsächlich alle Menschen ‚Maschinen‘, insofern sie Figuren Vonneguts waren. Jetzt wird ihnen ein freier Willen zugestanden, was allerdings nur Trout explizit erfährt. Was als Konfliktlösung angeboten wird, verschärft die Konflikte aber nur, da die Aporien, die die authorial insertion ausgelöst hat, nun umso deutlicher hervortreten. Vonneguts Metalepse wird doppelt paradox. Durch den Eintritt des Autors in die fiktive Welt verliert diese (und auch die Figuren in ihr) ihren autonomen Status. Es wird gezeigt, dass diese Welt von einem Produzenten abhängt und von ihm determiniert wird. Im Roman wird dies auch immer wieder hervorgehoben, wenn der Autor zum Beispiel gewissermaßen vor unseren Augen Charaktere erschafft oder die fiktive Welt auf andere Weise spontan verändert. Was dieser Autor dann allerdings am Schluss tut, ist, einer Figur ihren freien Willen zu geben, die bis dahin vermutlich gar nicht wusste, dass sie keinen freien Willen besitzt, auf jeden Fall nicht wusste, dass sie das Produkt eines Autors ist. Autonomie wird also verletzt, um Autonomie zu verkünden. Oder, anders gesagt, die Verkündung der Autonomie bezeugt gleichzeitig die Unmöglichkeit dieser Autonomie. Durch den Kontakt mit einem Vertreter der vermeintlichen Wirklichkeit ist die fiktive Welt ontologisch kontaminiert und destabilisiert worden. Daran ändert auch das Verschwinden des Autors aus der fiktiven Welt auf der vorletzten Seite nichts mehr – der Schaden ist angerichtet, Trout weiß um seine Existenz in einem Roman. Ebenso wie Mel Brooks’ metaleptisches Ende lebt auch Vonneguts von der Komik, von der Absurdität der Situation, die hergestellt wird und sich immer weiter zuspitzt.36 Aus medienkomparatistischer Sicht kann man hervorheben, dass die Verwirrung von Wirklichkeit und Fiktion hier unter anderem über die Missachtung der Unterscheidung zwischen Erzähler und Autor bewerkstelligt wird, die wohl als Spezifikum der Erzählprosa gelten kann.37 Überhaupt ist der Autor in diesem Medium ein besonders beliebtes ‚Angriffsziel‘ für Metalepsen, ein klar zu identifizierender Produzent der fiktiven Welt, der sich damit nur außerhalb des Rahmens der Fiktion befinden kann.

|| 36 Darüber hinaus werden auch philosophische oder theologische Fragestellungen verhandelt. Zu Berührungspunkten der Metalepse mit philosophischen Themenkomplexen s. insbes. Sonja Klimek, Paradoxes Erzählen. Die Metalepse in der phantastischen Literatur, Paderborn: Mentis 2010, 290–379. 37 Vgl. dagegen den Beitrag von Helmut Galle im vorliegenden Band.

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4 Solche klaren Verhältnisse gibt es beim Comic häufig nicht; dieser ist in der Regel ein Gemeinschaftsprodukt, wenn auch von einer überschaubaren Anzahl an Produzenten. In Doctor 13: Architecture & Mortality des Autors Brian Azzarello und des Zeichners Cliff Chiang findet sich ebenfalls eine Spielart der authorial insertion, allerdings handelt es sich hierbei um vier maskierte ‚Architekten des Universums‘, also um bereits klar fiktionalisierte Stellvertreter realer Produzenten, mit denen die Protagonisten gelegentlich in Kontakt treten. Doctor 13 ist ein Superheldencomic aus dem Hause DC, bei dem ebenso wie bei anderen großen Mainstreamverlagen das Prinzip der continuity gilt: Die Geschichten der einzelnen Heftserien (Batman, Superman, Wonder Woman etc.) ereignen sich alle innerhalb derselben fiktiven Welt (des DC-Universums). Dieses Verfahren führt auf Dauer dazu, dass diese Welt schwer überschaubar wird und Konsistenzansprüchen nicht mehr Genüge getan werden kann, sodass von Zeit zu Zeit ein reboot der continuity vorgenommen wird und die Geschichte des Universums gewissermaßen wieder bei null anfängt. Azzarellos und Chiangs Comic thematisiert dies auf metareferentielle Weise:38 Es erzählt die Geschichte einiger drittrangiger Helden, die im Laufe ihrer Abenteuer nicht nur erfahren, dass sie fiktiv sind, sondern auch gewissermaßen auf der ‚Abschussliste‘ des Verlages stehen. Nach dem nächsten reboot des DC-Universums soll es sie nicht mehr geben. In diesem Kontext kommt es zur Begegnung mit den Architekten des Universums, aber auch zum metaleptischen Ende, um das es hier gehen soll. Nachdem die Figuren vermeintlich bereits gesiegt und somit ihr Überleben gesichert haben, setzen sie auf der vorletzten Seite dazu an, sich ins nächste Abenteuer zu stürzen. Im letzten Panel machen sie jedoch plötzlich Halt vor einem bannerartigen Textkasten, der ankündigt: „Don’t miss the next exciting adventure of Team 13™ / ‚The Quest for Fear‘ / Coming Soon!“39 Textkästen sind nun – ebenso wie Sprechblasen – nicht Teil der fiktiven Welt; es sind Elemente des discours, die lediglich auf der Seite des Comics, auf der medialen Oberfläche existieren. Der Textkasten in diesem Beispiel hat zudem eine klar paratextuelle Funktion und wäre an sich eher

|| 38 Siehe für den Begriff der Metareferenz Werner Wolf, „Metareference across Media. The Concept, ist Transmedial Potentials and Problems, Main Forms and Functions“, in: ders. in Zusammenarbeit mit Katharina Bantleon und Jeff Thoss (Hg.), Metareference across Media. Theory and Case Studies, Amsterdam/New York: Rodopi 2009, 1–85. 39 Brian Azzarello/Cliff Chiang, Doctor 13. Architecture & Mortality, New York: DC Comics 2007, o. S. Ich kann den Textkasten hier natürlich nur transkribieren und nicht zitieren. Da der Comic nicht paginiert ist, verzichte ich auf weitere Verweise in Fußnoten. Doctor 13 wurde übrigens ursprünglich in acht Einzelheften veröffentlicht. Bei seriellen Formaten stellt sich die Frage nach dem Ende natürlich prinzipiell anders. Es handelt sich hier allerdings um eine von vorne herein in acht Teilen konzipierte Serie, so dass beim Ende des letzten Heftes auch vom Ende des Comics als Ganzem gesprochen werden kann.

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auf der letzten Seite zu erwarten, denn mit dem Verweis auf das nächste Abenteuer kündigt er ja zugleich das Ende des vorliegenden an. Es handelt sich damit um eine vorgezogene und damit tückische Schlussmarkierung, die Ankündigung eines Rahmenwechsels, der (noch) nicht stattfindet. Darüber hinaus irritiert natürlich, dass die Charaktere diesen Textkasten wahrnehmen können. Dies wird im Panel über Blicklinien ebenso wie durch das plötzliche Haltmachen und den überraschten Gesichtsausdruck der Figuren angedeutet. Diese sehen also etwas, was nur wir in der realen Welt sehen können sollten. Sie sehen einen Ausschnitt unserer Wirklichkeit, die es aus der Perspektive der fiktiven Welt nicht gibt und die somit auch nicht wahrgenommen werden kann. Die eigentliche Pointe dieses metaleptischen Endes folgt allerdings erst auf der nächsten, der letzten Seite. Die Charaktere sind zunächst irritiert und fragen sich, was sie gerade gesehen haben. Einer von ihnen, Doctor 13, weiß Bescheid: Er hält ein Comic-Heft in der Hand und findet hierin den endgültigen Beweis dafür, dass sie alle fiktive Comic-Helden sind. Während seine Begleiter in einen Aufzug steigen, ruft Doctor 13 „Stop!“ und dreht sich im letzten Panel in einer Großaufnahme mit folgenden Worten zum Betrachter hin: „Our lives are at stake! Please! Don’t turn the pa--“. Was also mit einer bloßen Wahrnehmung von Teilen des Comics als materiellem Objekt in der realen Welt begann, endet damit, dass eine Figur uns Leser ansieht und anspricht. Wir werden gebeten, in unserer Welt eine bestimme Handlung nicht auszuführen, damit die Geschichte in der fiktiven Welt nicht enden kann. Es liegt nahe, dass das fragmentarische Wort „pa--“ für ‚page‘ steht, wir also nicht umblättern und dadurch das dénouement hinauszögern sollen. Der Rahmen der Fiktion wird hier als durchlässig inszeniert und damit gebrochen. Die metaleptische Kontinuität zwischen fiktiver und realer Welt erlaubt uns scheinbar, der Bitte des Doctor 13 zu folgen, mit unserem Blick auf der Seite zu verweilen und damit die weitere Existenz der Figuren zu gewährleisten. Dies werden wir aber wohl nicht ewig tun (können). Wie das unvollendete Wort „pa--“ bereits andeutet, ist es zu spät für einen Fortgang der Geschichte. Bevor Doctor 13 das Wort ganz aussprechen kann, so suggeriert zumindest der Comic, haben wir bereits weitergeblättert. Die letzte Seite, das letzte Panel wird ebenso wie das letzte Ereignis unweigerlich vorbeigehen. Schluss und dénouement (im Sinne Kunz’) sind unvermeidlich. Allerdings sind sie hier metaleptisch verschränkt: Der Comic tut so, als ob das dénouement vom Schluss bzw. der Lektüre des Schlusses abhinge und erweckt den Eindruck, dass das Umblättern der Seite die Auslöschung der Figuren bewirkt. Doctor 13 inszeniert hier eine (pseudo-) performative Rezeptionssituation,40 in der der Leser im Akt des Lesens die Handlung voranzutreiben und schließlich auch zu beenden scheint.

|| 40 Siehe zum Begriff des (pseudo-)performativen Erzählens Klaus W. Hempfer, „(Pseudo-)Performatives Erzählen im zeitgenössischen französischen und italienischen Roman“, in: Romanistisches Jahrbuch 50 (1999), 158–182.

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Ebenso wie bei Vonneguts authorial insertion ist hier natürlich jedermann klar, dass wir uns immer noch im Rahmen eines game of make-believe befinden, dass die Art der Interaktion zwischen fiktiver und realer Welt, wie sie Doctor 13 zeigt, unmöglich ist. Das Umblättern einer Seite in dieser Welt hat keinen Einfluss auf das Leben von fiktiven Personen. Diese existieren in anderen, autonomen Welten. Dies bedeutet aber auch, dass sie uns nicht anreden und auch sonst keine Kenntnis der wirklichen Welt erlangen können. Azzarellos und Chiangs metaleptisches Spiel verletzt jedoch die angenommene Autonomie der fiktiven Welt, indem sie uns auf paradoxe Art und Weise darauf stößt, dass die Existenz dieser Welt letztlich doch von der Wirklichkeit abhängt. Die Welt von Doctor 13 bedarf einer medialen Rahmung in unserer Welt, eines Comics, den wir lesen können. Hatte Vonnegut die Abhängigkeit der fiktiven Welt vom Autor gezeigt, so zielt dieses metaleptische Ende eher darauf ab, die Macht des Lesers auszustellen. Zumindest metaphorisch gesprochen leben Bücher nun einmal davon, gelesen zu werden. Auffällig ist, dass hier im Gegensatz zu den vorherigen Beispielen weder die reale Welt noch Personen aus ihr direkt dargestellt werden. Die metaleptische Grenzüberschreitung läuft allein über Blicke und Anreden, die die Existenz einer Außenwelt anerkennen; es wird aus dem Inneren des Medium auf die Wirklichkeit gezeigt. Der Comic nutzt hierzu seinen Status als verbal-visuelles Medium ebenso wie seine spezifische Materialität. Teils sind seine metaleptischen Strategien auch in anderen Medien möglich (eine Filmfigur könnte uns auch anreden und ansehen, eine Romanfigur könnte uns auch bitten nicht umzublättern) teils handelt es sich aber auch um sehr eigene Potentiale (der Textkasten etwa, der sich allenfalls mit Displayelementen in Videospielen vergleichen lässt).

5 Während sich die Verschränkung von Fiktion und Wirklichkeit bei Breakfast of Champions und Doctor 13 erst im Laufe der Geschichte entwickelt bzw. am Ende plötzlich hereinbricht, gilt für das Theaterstück We Bombed in New Haven von Joseph Heller – ebenso wie für Blazing Saddles –, dass hier permanent metaleptisch gearbeitet wird, das Ende allerdings den Höhepunkt dieses Treibens darstellt. Hellers Theaterstück zeigt Soldaten der US-Luftwaffe, die in einer Militärbasis darauf warten, in ihren jeweils nächsten Einsatz geschickt zu werden. In der Anlage des Stücks bedeutet dieser für zumindest einen von ihnen immer den sicheren Tod, was den Charakteren bewusst ist, auch wenn sie es nicht direkt aussprechen. Die Figuren fallen im Laufe der Handlung regelmäßig aus der Rolle und verhalten sich so, als ob sie lediglich Schauspieler in einem Stück seien. So sprechen sie so häufig und betont über den part, die Rolle, die sie zu spielen haben, dass damit kaum noch bloß eine Rolle (als Figur) beim Kriegseinsatz gemeint sein kann sondern auch – oder viel mehr – eine Rolle (als Schauspieler) in einem Stück. Über die Verletzung der Unterscheidung

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Schauspieler/Figur hinaus beinhaltet We Bombed in New Haven auch weitere metaleptische Verwirrspiele. So spielt das Stück etwa jeweils zum genauen Zeitpunkt und am genauen Ort seiner Aufführung.41 Dies führt zu allerhand Doppeldeutigkeiten bezüglich der Rahmung des Geschehens, wie wir auch mit Blick auf das Ende sehen werden. Bereits der Titel kündigt das Spiel mit Fiktion und Realität an, denn auf Grund der Polysemie von ‚to bomb‘ kann sich We Bombed in New Haven sowohl auf eine militärische Operation wie auch auf das Scheitern einer Aufführung beziehen. Das Stück endet jedenfalls damit, dass der Protagonist Captain Starkey seinen Sohn für die nächste Mission rekrutiert (auf der er mit Sicherheit sterben wird) und hinausschickt. Starkey ist allein auf der Bühne und wird sich – so der Nebentext – bewusst, dass er vom Publikum beobachtet wird. Aus einem Schuldbewusstsein heraus tritt er zur Rampe vor und spricht zum Publikum: „Now, none of this, of course, is really happening. It’s a show, a play in a theatre, and I’m not really a captain, I’m an actor.“42 Dies könnte man erst einmal als simplen Rahmenwechsel begreifen. Das Stück ist vorbei und wir werden dazu aufgefordert, die Person auf der Bühne nun nicht mehr als Figur in einer fiktiven Welt sondern als Schauspieler in unserer Welt zu rahmen. Als Zuschauer könnte man sich zwar wundern, warum dieser Rahmenwechsel mit so viel Nachdruck betont wird, aber im Theater ist es ja durchaus vorstellbar, dass der Schluss nur schwach markiert ist und man im Publikum nicht recht weiß, ob man schon Beifall klatschen soll oder noch eine Szene folgt. Das Problem ist aber, dass Starkeys Publikumsansprache eigentlich dazu dient, die vorhergehende Handlung zu erklären. Dies wird spätestens dann deutlich, wenn Starkey im Anschluss den Namen des Schauspielers, der ihn spielt, nennt und fragt: „Do you think that I — — [Repeats his real name] would actually let my son go off to war and be killed … and just stand here talking to you and do nothing?“43 Starkey will offensichtlich die Entscheidung, seinen Sohn in den Krieg zu schicken, rechtfertigen. Als Figur einer fiktiven Welt dürfte er dies jedoch an sich nicht mittels des Hinweises tun, dass alles bloß ein Theaterstück sei. Dieses Wissen hat die Figur nicht bzw. sollte sie nicht haben. Umgekehrt kann der Schauspieler, der Starkey spielt, sehr wohl die Zuschauer auf die Fiktionalität des Geschehens und seine Distanz zur Figur aufmerksam machen. Es gibt aber keinen Grund, warum er sich für die Aktionen seiner Figur verantwortlich fühlen sollte. Schauspieler und Figur, äuße-

|| 41 Die Uraufführung von We Bombed in New Haven fand tatsächlich in New Haven statt. Im Dramentext finden sich bei der Nennung von Ort, Zeit und teilweise auch Personen Leerstellen, mit der Anweisung, hier die für die jeweilige Aufführung passenden Daten einzusetzen. Den Titel betrifft dies nicht, obwohl sich dieser natürlich auch anpassen ließe. In der deutschsprachigen Übersetzung heißt das Stück etwa Wir bombardieren Regensburg (die Uraufführung war jedoch in Berlin). 42 Joseph Heller, We Bombed in New Haven, Harmondsworth: Penguin 1971, 112. 43 Ebd. Im Dramentext werden diese Zeilen einfach Starkey zugeordnet, auch wenn es natürlich gerade um die Frage geht, ob er oder der Schauspieler spricht.

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res und inneres Kommunikationssystem des Theaters überkreuzen sich in dieser Szene, so dass eine eindeutige Rahmung nicht mehr möglich ist. Die Selbstanzeige der Fiktion, die Starkey/der Schauspieler hier einleitet, wird von ihm anschließend fortgesetzt. Er steigert sich dabei in immer absurdere Aussagen, bis es schließlich unklar ist, ob eigentlich die fiktive oder die reale Welt zurückgewiesen werden soll. Von Flugzeug- und Explosionsgeräuschen begleitet erklärt Starkey/der Schauspieler am Rande des Nervenzusammenbruchs und ohne am Ende selbst noch daran zu glauben: There is no war taking place. […] There is no war taking place here now. […] There has never been a war. There will never be a war. Nobody has been killed here tonight. It’s only … makebelieve … it’s a story … a charade … a show. […] Nobody has ever been killed.44

Neben der bereits bestehenden Ungewissheit, wem diese Sätze zuzuordnen sind, tritt hier ein weiteres Problem zutage. Man könnte es, um einen Schlüsselbegriff der Fiktionstheorie aufzunehmen, als Problem der Referenz bezeichnen. Es ist schlichtweg nicht auszumachen, ob sich diese Aussagen auf die (Nicht-Existenz der) fiktive(n) Welt oder auf die reale Welt beziehen. Teils wirkt es so, als ob uns Starkey/der Schauspieler lediglich versichern wolle, auf der Bühne gäbe es weder Krieg noch Mord, da dort alles nur Fiktion sei. Dann wiederum könnte man eventuell auch annehmen, in der fiktiven Welt des Stücks soll die Existenz von beiden geleugnet werden. Zuweilen trägt Starkey/der Schauspieler seine Behauptung aber auch mit einem solchen Anspruch universeller Gültigkeit vor, dass sie vielleicht auch für die Wirklichkeit gelten sollen. Wenn aber nicht einmal zu entscheiden ist, wie wir das Geschehen auf der Bühne grundsätzlich rahmen sollen, ob mit dem primären Rahmen der Weltwahrnehmung (der Schauspieler spricht) oder mit dem sekundären der Fiktion (die Figur spricht), wie soll dann der Status dieser Aussagen verbindlich bestimmt werden? Das metaleptische Chaos scheint perfekt. Auch der Schluss ist davon betroffen, denn es herrscht Unklarheit darüber, ob wir hier noch in der Fiktion sind, in der ein fiktiver Soldat über den Zustand seiner Welt Auskunft gibt, oder schon wieder in der Wirklichkeit, in der ein realer Schauspieler zu uns über unsere Welt spricht. Noch in der letzten Aktion, die an sich einen Schlussstrich ziehen und den Rahmen stecken könnte, wird eine klare Rahmung verhindert: Starkey/der Schauspieler kündigt an, nach Hause zu gehen, und bittet die Zuschauer bei seinem Gang von der Bühne noch, im Anschluss an das Stück für einen guten Zweck zu spenden. Auch hier lässt sich nicht klar zwischen Schauspieler und Figur trennen. Im Vergleich mit den vorherigen Beispielen kann man We Bombed in New Haven ein höheres Potential zur tatsächlichen Verwirrung der Rezipienten zusprechen. Im Dramentext ist natürlich sofort ersichtlich, dass die metaleptische Verstrickung von || 44 Ebd.

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Fiktion und Wirklichkeit noch Teil des Stücks ist – es steht ja im Text. In der Aufführungssituation muss man allerdings erst dahinterkommen, dass, selbst wenn der Schauspieler ‚in seinem Namen‘ spricht, doch nur ein Schauspieler spricht, der sich selbst als Figur spielt.45 Dies sollte zwar auch nur kurzzeitig für Irritation sorgen, ist aber dennoch eine sehr effektive Rahmenstörung, die einen daran zweifeln lassen könnte, ob das Stück schon zu Ende ist oder nicht. Heller nutzt hier das mediale Merkmal des Theaters schlechthin, die Kopräsenz von Schauspieler und Zuschauer, sowie die Unterscheidung Schauspieler/Figur (über die auch der Film verfügt), um ein metaleptisches Ende herbeizuführen, das sich so wohl nur im Theater realisieren lässt. Und wenn die Verschränkung von fiktiver und realer Welt auch hier zweifelsfrei komisch ist, scheint sie darüber hinaus doch auch eine klar politische – oder, im Kontext des Theaters gesprochen, epische46 – Funktion zu erfüllen. Man kann die Fiktion am Ende als bloßes Konstrukt entlarven, dies könnte aber leicht auch den Konstruktcharakter der Wirklichkeit anzeigen. Ob es einen Krieg gibt hängt, konstruktivistisch gesprochen, davon ob, ob wir etwas als Krieg erkennen und bezeichnen.

6 Auch wenn We Bombed in New Haven ein besonders wirkungsvolles metaleptisches Ende inszeniert, lohnt es sich abschließend noch einmal die Transmedialität des Phänomens zu unterstreichen. Was sich ändert, sind in erster Linie die Kanäle (Text, Bild usw.), über die die Wirklichkeit in die Fiktion gezogen wird, ebenso wie die Bereiche der Wirklichkeit, die für das jeweilige Medium als besonders markant erachtet werden. Nicht zufällig sind es in Blazing Saddles ein Filmstudio und ein Kino, in Breakfast of Champions der Autor, in Doctor 13 eine Comicseite und in We Bombed in New Haven ein Schauspieler, die metonymisch die wirkliche Welt repräsentieren. Diese sind nun einmal mit der Produktion und/oder Rezeption der jeweiligen Medien unmittelbar verknüpft. Das Grundprinzip des metaleptischen Endes, an der abschließenden Grenze eines Textes die Grenze zwischen fiktiver und wirklicher Welt zu verwischen, bleibt aber über alle Medien hinweg gleich. Bekanntlich ist der Postmoderne, der alle behandelten Beispiele angehören, die Unterscheidung zwischen Fikti-

|| 45 Siehe auch Sonja Klimek, Paradoxes Erzählen (Anm. 36), 81–88. Klimek betrachtet die Möglichkeit, die Wirklichkeit in Metalepsen zu verwickeln, eher skeptisch, gesteht dem Theater aber mehr Freiräume zu. 46 Episch soll hier verstanden werden im Sinne von Wolfgang Matzat, Dramenstruktur und Zuschauerrolle. Theater in der französischen Klassik, München: Fink 1982. Matzat unterscheidet beim Theater eine epische Perspektive, die die lebensweltliche Einbettung eines Stücks betont, von einer auf die Handlung fokussierten dramatischen und einer auf die Aufführung fokussierten theatralischen Perspektive.

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on und Realität grundsätzlich suspekt und Anlass für allerhand Relativierungs- und Nivellierungsversuche. Das metaleptische Ende stellt eine besonders auffällige Variante solcher Versuche dar. Das Ende eines Textes ist gewissermaßen auch das Ende seiner fiktiven Welt. Wenn wir aus dem sekundären in den primären Rahmen zurückwechseln gibt es die Welt nicht mehr, die wir uns während der Rezeption vorgestellt und durch den Rezeptionsakt konstituiert haben. Hier setzt die Metalepse an, um noch einmal grundlegend nach dem Verhältnis vom Fiktion und Wirklichkeit zu fragen und uns die Tätigkeiten der Rahmung und des Rahmenwechsels vor Augen zu halten. Wir werden als Leser oder Zuschauer nicht einfach so von der Fiktion in die Wirklichkeit entlassen, sondern mit der Frage konfrontiert, wie es um die Unterscheidung und Unterscheidbarkeit von beiden überhaupt steht. Medien können Welten erschaffen und diese am Ende (genussvoll) zum Einsturz bringen, indem sie zeigen, dass es lediglich erschaffene Welten sind. Dies kann, wie zumeist, unter dem Vorzeichen der Komik geschehen, aber auch zum Nachdenken anregen, da die Frage nach der Beschaffenheit der wirklichen Welt selten fern liegt. Ein Einbruch der Wirklichkeit in die Fiktion führt zum Einbruch der Wirklichkeit der Fiktion, wobei der ontologische Status des Einbrechers nie außer Zweifel steht. Die Wirklichkeit im Text mag eine klar fiktive sein, aber die Wirklichkeit außerhalb des Texte könnte letztlich nicht weniger konstruiert sein.

Werner Wolf

Fiktion: Eine relevante Kategorie der Metareferenz in Literatur und anderen Medien? 1 Einleitung ‚Fiktion‘ ist für Beschreibung und Vergleich der meisten Künste und Medien, jedenfalls aller darstellenden, unstreitig eine relevante Kategorie, und dasselbe gilt für den Gegenbegriff des Faktischen (bzw. der Faktualität).1 Denn ‚Fiktion‘ erfüllt wesentliche Relevanzkriterien: Sie kann zur Differenzierung wie auch zur Binnendifferenzierung von Medien beitragen (Literatur vs. Gebrauchstext,2 Spielfilm vs. Dokumentarfilm), und ihr Auftreten erlaubt es, für die Rezeption der betroffenen Medien, Gattungen und Werke spezifische Konsequenzen und erwartbare Effekte zu beschreiben, die sich von Fällen unterscheiden, bei denen die Kategorie ‚Fiktion‘ nicht anwendbar ist. Wenn aber ‚Fiktion‘ für Künste und Medien relevant und damit eine transmediale Kategorie ist, so ist damit noch nicht gesagt, dass sie notwendigerweise auch für andere Kategorien bedeutsam ist, die mit ihr über das Merkmal ‚Transmedialität‘ in Verbindung gebracht werden können. ‚Metareferenz‘ ist, wie in einigen jüngeren Publikationen gezeigt werden konnte, zweifelsohne eine transmediale Kategorie.3 Eine ihrer literarischen Unterformen, ‚Metafiktion‘, legt zwar bereits, so könnte man sagen, vom Begriff her eine gewisse Affinität mit ‚Fiktion‘ nahe – allerdings nur,

|| 1 Zu den beiden Bedeutungen von ‚Fiktion‘ (‚Fiktivität‘ und ‚Fiktionalität‘) und ihren Gegenbegriffen (‚das Faktische‘ bzw. ‚Faktizität‘ und ‚Faktualität‘) siehe weiter unten, Abschnitt 2. 2 Zur zumindest typischerweise erwarteten Fiktionalität von Literatur s. Andreas Kablitz, „Literatur, Fiktion und Erzählung – nebst einem Nachruf auf den Erzähler“, in: Irina O. Rajewsky/Ulrike Schneider (Hg.), Im Zeichen der Fiktion. Aspekte fiktionaler Rede aus historischer und systematischer Sicht, Stuttgart: Steiner 2008, 13–44. 3 Zum unten (in Abschnitt 2) erklärten Begriff der ‚Metareferenz‘ s. Werner Wolf, „Metareference across Media: The Concept, its Transmedial Potentials and Problems, Main Forms and Functions“, in: ders. (Hg.), in Zusammenarbeit mit Katharina Bantleon u. Jeff Thoss, Metareference across Media. Theory and Case Studies. Dedicated to Walter Bernhart on the Occasion of his Retirement, Amsterdam/ New York: Rodopi 2009, 1–85; ders. (Hg.), in Zusammenarbeit mit Katharina Bantleon u. Jeff Thoss, The Metareferential Turn in Contemporary Arts and Media. Forms, Functions, Attempts at Explanation, Amsterdam: Rodopi 2011. Vgl. auch – mit etwas anderer Begrifflichkeit – Janine Hauthal et al. (Hg.), Metaisierung in Literatur und anderen Medien. Theoretische Grundlagen, historische Perspektiven, Metagattungen, Funktionen, Berlin: De Gruyter 2007; sowie Winfried Nöth/Nina Bishara/Britta Neitzel, Mediale Selbstreferenz. Grundlagen und Fallstudien zu Werbung. Computerspiel und den Comics, Köln: Halem 2008.

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wenn man dabei vergisst, dass sich ‚Metafiktion‘ als Übersetzung aus dem Englischen zunächst einmal auf Metaisierungsphänomene innerhalb einer Gattung, nämlich ‚fiction‘ (also Romane, short stories usw.) bezieht und damit Fiktion im hier verhandelten Sinn allenfalls indirekt angesprochen ist, und zwar über die Affinität zwischen Literatur und Fiktionalität. Wie aber steht es nun wirklich um die Relevanz der Kategorie ‚Fiktion‘ nicht nur für Metafiktion, sondern für künstlerische und mediale Metaisierung allgemein? Im Folgenden möchte ich mich ebendieser Frage widmen, und zwar der Einfachheit halber mit dem Schwerpunkt auf verbaler Kommunikation. Einige Beispiele werde ich jedoch auch aus dem Bereich der bildenden Kunst und eines aus der Musik wählen, damit die transmediale Dimension des Diskutierten wenigstens ansatzweise sichtbar wird. Nach einigen Begriffsklärungen soll diese Relevanzfrage in mehrfacher Hinsicht diskutiert werden. Dabei ist in Rechnung zu stellen, dass Metareferenz nie rein und isoliert auftritt, sondern immer in einen Kontext nicht-metareferentieller Zeichenkomplexe eingebettet ist, dass also nicht nur nach der Relevanz von Fiktion für Metareferenz selbst, sondern auch für den Bezug von Metareferenz auf den jeweiligen Werkkontext zu fragen ist. Im Einzelnen gehe ich auf folgende Fragen ein: a) Ist Fiktion ein typisches Merkmal von Metareferenz selbst, das diese von ‚Heteroreferenz‘ unterscheidet, und ist damit Fiktion relevant für die Klassifikation von Zeichenkomplexen als metareferentiell? b) Ist Fiktion relevant für die Binnendifferenzierung metareferentieller Formen, z.B. wegen bestimmter Wirkungen auf den Kontext des betreffenden Zeichenkomplexes? c) Ist das Vorkommen von Metareferenz ein Indikator für das Vorliegen von Fiktion im werkinternen Kontext des betreffenden Zeichenkomplexes? d) Hat Fiktion, wo sie Merkmal dieses Kontextes ist, Rückwirkungen auf die Klassifizierbarkeit von bestimmten Phänomenen als metareferentielle?

2 Begriffsklärungen: Hetero-/Metareferenz, explizite vs. implizite Metareferenz, Fiktionsbegriffe Bevor die aufgeworfene Relevanzfrage diskutiert werden kann, sind zunächst einige Begriffe zu klären. Dies betrifft zunächst das Konzept der Metareferenz. Wie andernorts ausgeführt,4 verstehe ich hierunter einen Dachbegriff für alle Metaisierungsformen in den verschiedenen Künsten und Medien (also für Metafiktion, Metadrama, Metalyrik, Metamalerei, Metafilm, Metamusik usw.). Metareferenz ist ein Sonderfall der Selbstreferenz, die allgemein als Selbstbezüglichkeit innerhalb eines wie immer

|| 4 Vgl. Werner Wolf, „Metareference across Media“ (Anm. 3).

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limitierten semiotischen Systems definiert ist und damit Binnenbezüge bezeichnet. Außenbezüge zwischen einem solchen System oder dessen Elementen und einer ‚Außenwelt‘ nenne ich demgegenüber ‚heteroreferentiell‘. Die Besonderheit metareferentieller Selbstbezüglichkeit liegt nun darin, dass sie Zeichen oder Zeichenkomplexe charakterisiert, die von einer höheren logischen Ebene, einer ‚Metaebene‘, eine Aussage über Aspekte oder die Gesamtheit desselben Systems und damit zumindest indirekt auch über sich selbst machen oder implizieren. Metareferenz schließt Aussagen z.B. über die Struktur, die Entstehung, Rezeption und Wirkweise des betreffenden Systems ein und kann sich unmittelbar auf das Artefakt selbst beziehen, in dem die Metareferenz auftritt, aber auch auf andere Teile oder die Gesamtheit des Systems, von dem das betreffende Artefakt ein Teil ist. Anders als bloße formale Selbstreferenz durch Ähnlichkeit, Kontrast oder geordnete Serien impliziert Metareferenz innerhalb der Künste und Medien damit ein ‚Metabewusstsein‘ vom ArtefaktStatus des Objekts und ggf. auch von dessen ‚Erfundenheit‘.5 Metareferenz kann grundsätzlich in allen Medien vorkommen und ist damit ein klassisches Beispiel für eine transmediale Kategorie. Metareferenz kann überdies in verschiedenen (meist ebenfalls transmedial gültigen) Formen auftreten.6 Von diesen sind nicht alle für unseren Zusammenhang gleichermaßen relevant. Besonders bedeutsam ist dagegen, wie zu zeigen sein wird, die Unterscheidung von expliziter und impliziter Metareferenz. Die explizite Variante liegt überall dort vor, wo Zeichen gleich welcher Natur (d.h. insbesondere symbolische oder ikonische) aufgrund ihrer inhaltlichen Denotation eine metareferentielle Bedeutung haben. In sprachlichen Medien heißt dies: Explizit metareferentielle Worte und Sätze sind einfach zitierbar, wie die Begriffe ‚story‘, ‚telling‘, ‚imagination‘ und ‚characters‘ im bekannten Erzählerkommentar aus dem 13. Kapitel von John Fowles’ Roman The French Lieutenant’s Woman: „This story I am telling is all imagination. These characters I create never existed outside my own mind.“7 In der Bildkunst wäre ein Äquivalent solcher expliziter Metareferenz die Darstellung eines Malers beim Malen, denn hier ist die Selbstreflexivität quasi auf den ersten Blick erkennbar (vgl. Abb. 1).

|| 5 Vgl. ebd., 31. 6 Siehe hierzu ebd., 35–43. 7 John Fowles, The French Lieutenant’s Woman, London: Granada 1977 [1969], 85.

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Abb. 1 (links): Anon., Der hl. Lukas malt die Ikone der Muttergottes Hodogetria (Anfang 15. Jh.), Ikonen-Museum, Recklinghausen Abb. 2 (rechts): Kazimir Malevich, Suprematist Composition: White on White (1918), Museum of Modern Art, New York

Implizite Metareferenz liegt dagegen überall dort vor, wo nicht die Denotation von Zeicheninhalten, sondern Konnotationen sowohl von Vermittlungsverfahren als auch -inhalten metareferentielle Aussagen nahelegen. Wenn z.B. in Sternes Tristram Shandy im Band 9 unter der Kapitelüberschrift „CHAPTER EIGHTEEN“ nichts steht und nach einer nur mit dieser Überschrift gezierten Seite auf der folgenden ebenfalls nur „CHAPTER NINETEEN“ zu lesen ist, kann dies als foregrounding der Konventionen von Textsegmentierung durch humorvolle Deviation angesehen werden. Damit erscheint das Verfahren als implizit metareferentieller Kommentar zu einer Konvention des Romanschreibens, nämlich zum sinnvollen Einteilen von Erzählungen in Kapitel. Analog hierzu kann eine weiße Leinwand, auf der ein ebenfalls weißes gekipptes Quadrat zu sehen ist, als ‚Gemälde‘ durch die Verweigerung der (zumindest zeitgenössisch) erwarteten (gegenständlichen) Darstellung in der bildenden Kunst als metareferentieller Kommentar zu den Konventionen der Malerei oder auch der (symbolischen) Valeurs der Nicht-Farbe Weiß rezipiert werden (wie dies in dem monochromen Werk von Kazimir Malevich White on White [Abb. 2] der Fall ist). Unmittelbarer oder implizierter Gegenstand von Metareferenz kann ‚Fiktion‘ in einem doppelten Sinn sein – damit sind nunmehr verschiedene Fiktionsbegriffe zu erläutern. In jedem Fall impliziert Metareferenz ein Bewusstsein vom ontologischen Status des Objektes als eines nicht-natürlich gegebenen, sondern künstlich – zu Kommunikationszwecken – gemachten. Diesen Aspekt des ‚Fiktionsbegriffs‘ habe

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ich andernorts8 als ‚fictio‘ eingeführt. Fictio-zentrierte Metareferenz macht oder impliziert also Aussagen über alles, was mit der Gemachtheit oder Künstlichkeit des betreffenden Gegenstandes zusammenhängt und ist damit bei jeder Art von Metareferenz mitgegeben. Dem fictio-Aspekt steht fakultativ und zusätzlich ‚Fiktion‘ im landläufigen Sinn des ‚Erfundenen‘ gegenüber, ein Aspekt, den ich ‚fictum‘ nenne.9 Dies bezeichnet zusätzlich zum ontologischen Status der Künstlichkeit den referentiellen Aspekt von ‚Fiktion‘ als einem nicht real referenzierbaren Imaginären im Gegensatz zum real Referenzierbaren oder ‚Wirklichen‘. Fictum-zentrierte Metareferenz bezieht sich damit auf einen nicht-gegebenen bzw. dementierten (aber auch umgekehrt auf einen gegebenen oder behaupteten) Wirklichkeits- oder Wahrheitsgehalt. Eine weitere einschlägige Typologie basiert im Wesentlichen auf einer Unterscheidung von ‚Fiktivität‘ und ‚Fiktionalität‘. Bereits Wolfgang Iser sah im Rahmen seiner ternären Differenzierung zwischen „Reale[m], Fiktive[m] und Imaginäre[m]“ im „fiktionalen Text“ „das Fiktive“ mit „sehr viel Realität“ gemischt10 und trennt damit Fiktionalität vom Fiktiven. Auch Frank Zipfel unterscheidet die „Fiktivität von Geschichten“ vom „fiktionalen Erzählen[]“ als von einer bestimmen „Sprachhandlungsstruktur“ charakterisiert,11 und vor einigen Jahren hat auch Andreas Kablitz diese, wie mir scheint, sehr erhellende Differenzierung des Fiktionsbegriffes beleuchtet.12 ‚Fiktivität‘ bzw. das ‚Fiktive‘ ist in dieser Typologie weitgehend mit meinem Begriff des fictum identisch; es ist also ontologisch wie referentiell definiert als künstlich und zugleich erfunden im Gegensatz zum ‚Faktischen‘,13 das in Repräsentationen zwar Künstliches, aber nicht Erfundenes impliziert. ‚Fiktionalität‘ bzw. das ‚Fiktionale‘ bezeichnet im Gegensatz zur Fiktivität nicht zunächst eine ontologische oder referentielle Qualität, sondern – wie ich es nennen würde – einen kognitiven Rahmen, der bestimmte Erwartungen und Einstellungen bei der Rezeption eines Artefakts vorprogrammiert. Während Fiktivität, wie auch Kablitz sagt, graduierbar ist (etwas ist mehr oder weniger klar auf Wirklichkeit referenzierbar), benennt Fiktionalität eine kategoriale Differenz im Gegensatz zur Faktualität. Fiktionalität kommt bestimmten Werken, aber auch Gattungen zu – oder

|| 8 Vgl. Werner Wolf, Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung in der Erzählkunst. Theorie und Geschichte mit Schwerpunkt auf englischem illusionsstörenden Erzählen, Tübingen: Niemeyer 1993, 38f. 9 Siehe ebd. 10 Wolfgang Iser, „Akte des Fingierens oder Was ist das Fiktive im fiktionalen Text?“, in: Dieter Henrich/ders. (Hg.), Funktionen des Fiktiven, München: Fink 1983, 121–151, hier: 122. 11 Frank Zipfel, Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität. Analysen zur Fiktion in der Literatur und zum Fiktionsbegriff in der Literaturwissenschaft, Berlin: Schmidt 2001, 115. 12 Vgl. Andreas Kablitz, „Literatur, Fiktion und Erzählung“ (Anm. 2); Kablitz erwähnt indes weder Iser noch Zipfel. 13 Da alles Erfundene, sobald es sich in medialer oder künstlerischer Kommunikation manifestiert (und darum geht es hier), zugleich ‚künstlich‘ gemacht ist, impliziert fictum als referentielle Kategorie immer auch fictio als ontologische Kategorie.

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nicht – und ist, so Kablitz, als default option auf Literatur generell anzuwenden (sofern, so muss man hinzufügen, nicht Sonderfälle wie literarische Essays vorliegen). D.h. etwas wird entweder zu den Bedingungen von Fiktionalität rezipiert oder zu denjenigen der Faktualität. Generalwirkung von Fiktionalität als kognitiver Rahmen ist nach Kablitz die „Vergleichgültigung gegenüber dem Wahrheitswert [der in diesem Rahmen vorkommenden] Sätze[]“14; zusätzlich zu „Sätzen“, so müsste man mit Blick auf die – von Kablitz nicht berücksichtigte – transmediale Anwendbarkeit des Gesagten ergänzen, erstreckt sich diese „Vergleichgültigung“ auch auf den „Wahrheitswert“ von Darstellungen. Bei Rezeption im kognitiven Rahmen von Faktualität ist dagegen eine solche „Vergleichgültigung“ nicht gegeben.

3 Die Relevanz von ‚Fiktion‘ für die Klassifizierbarkeit von Metareferenz als solcher Wenden wir uns nun der Frage der Relevanz der Kategorie ‚Fiktion‘ für die Metareferenz und ihre Kontexte zu und diskutieren dabei zuerst die Frage der Relevanz von ‚Fiktion‘ für die Klassifizierbarkeit von Metareferenz. Nehmen wir dabei zunächst ‚Fiktion‘ im Sinne von fictio und fictum ins Auge. Alle Metareferenz ist an Zeichen gebunden und damit etwas Gemachtes, also fictio. Für mediale und künstlerische Werke aber gilt ebenso, dass sie alle fictio sind. Damit ist fictio kein relevantes Merkmal von Metareferenz, durch das sich diese von nicht-metareferentiellen Zeichenkomplexen unterscheiden würde. Ob die Inhalte der Metareferenz darüber hinaus auch ‚erfunden‘, also fictum, sind, ist für die Klassifikation einer Aussage als metareferentiell unerheblich. Damit lässt sich bereits jetzt sagen, dass für die Erkenn- und Klassifizierbarkeit von Metareferenz als solcher ‚Fiktion‘ weder im Sinne von fictio noch fictum eine sinnvolle Kategorie ist. Nun zu ‚Fiktion‘ im Doppelsinn, wie ihn Kablitz und andere erläutert haben. Betrachten wir hierbei zunächst die Relevanz von Fiktivität im Gegensatz zur Faktizität. Metareferenz ist zwar in ihrer Erkennbarkeit graduierbar und ist oft in ein und derselben Aussage mit Heteroreferenz gemischt,15 kann jedoch grundsätzlich auch als

|| 14 Andreas Kablitz, „Literatur, Fiktion und Erzählung“ (Anm. 2), 16. 15 Es ist in der Tat anzumerken, dass die Opposition Meta- vs. Heteroreferenz keine absolute ist, denn, wie bemerkt wurde, ist ein rein metareferentieller Zeichenkomplex schwer denkbar (vgl. Winfried Nöth, „Self-Reference in the Media. The Semiotic Framework“, in: ders./Nina Bishara [Hg.], Self-Reference in the Media, Berlin: De Gruyter 2008, 3–23, hier: 12 u. 15). So bezieht sich der oben in Abschnitt 2 zitierte Satz aus Fowles’ Roman zumindest auch auf etwas außerhalb des Systems The French Lieutenant’s Woman oder des Systems ‚Literatur‘, nämlich auf die menschliche Vorstellungskraft und ihr Organ („mind“). Damit sind die zitierten Sätze zumindest teilweise auch heteroreferen-

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logische Kategorie angesehen werden, die entweder zutrifft oder nicht: In einer bestimmten Zeichenfolge liegt Metareferenz (unabhängig vom Mischungs- und Intensitätsgrad) entweder vor oder nicht. Daher scheint Metareferenz entweder real bzw. wirklich vorhanden zu sein oder nicht – ‚Fiktion‘ im Sinne von Fiktivität bzw. Erfundenheit lässt sich damit auch nicht für die Klassifizierbarkeit eines Zeichenkomplexes als metareferentiell heranziehen. Wie steht es nun aber um den interessanteren Fall von ‚Fiktion‘ im Sinne von ‚Fiktionalität‘? Betrachten wir hierzu zwei Beispiele: A. „Deutsch ist eine lebende Sprache.“ B. „Deutsch ist eine tote Sprache.“ Beide Sätze sind klar metasprachlich und damit metareferentiell aufgrund der oben genannten Kriterien – und zwar auch hier unabhängig davon, ob sie im Kontext fiktionaler oder faktualer Kommunikation auftreten. In faktualer Kommunikation wäre Satz B nur einfach falsch, in fiktionaler wäre demgegenüber zumindest eine z.B. antiutopische Welt vorstellbar, in welcher er Geltung hätte. Aber all dies bezieht sich nicht auf die (gegebene oder fehlende) Klassifizierbarkeit als Metareferenz, sondern auf den metareferentiellen Inhalt. Für die Klassifizierbarkeit als Metareferenz ist also – anders als z.B. bei der Klassifizierbarkeit eines geschichtliche Themen behandelnden Textes als historischer Roman oder nicht16 – ‚Fiktion‘ in welcher Bedeutung auch immer keine relevante Kategorie.

4 Die Relevanz von ‚Fiktion‘ für die Differenzierung einzelner Metareferenzformen Gilt diese Irrelevanz von ‚Fiktion‘ auch für die Binnendifferenzierung metareferentieller Formen? Was Fiktion im Sinne von fictio vs. fictum im Rahmen von Metareferenzformen betrifft, so verweist bereits die Genese dieser Differenzierung auf die hier gegebene Relevanz der Kategorie ‚Fiktion‘. Denn ich habe diese Unterscheidung von Meta-Formen seinerzeit im Rahmen einer Studie zur ästhetischen Illusion und deren Brechung in der Erzählkunst eingeführt, da sie unterschiedliche (Illusions-)Wirkun-

|| tiell. Ähnliches ließe sich für Abb. 1 sagen, da auch dieses metareferentielle Bild Dargestelltes enthält, das nicht notwendig zum System ‚Malerei‘ gehört (so ist der Evangelist Lukas auch ein Mensch mit einem dargestellten Körper, der nicht in der Funktion des Malens aufgeht). Aber diese Graduierund Mischbarkeit von Metareferenz tangiert unsere Frage nach der Applizierbarkeit der Kategorie ‚Fiktion‘ auf Metareferenz kaum, da es auch in einer Schwachstufe und in einer Mischung mit Heteroreferenz um die Opposition einer gegebenen oder eben nicht gegebenen Metareferenz geht. 16 Innerhalb historischen Erzählens ist ‚Fiktionalität‘ eine relevante Kategorie, da sie wesentlich darüber entscheidet, ob ein Text als historischer Roman oder als Historiographie rezipiert wird.

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gen entfalten können.17 Dies zeigt sich vor allem in Verbindung mit (selbst)kritischen Inhalten. Folgendes Beispiel mag dies erhellen: Der Erzähler in Tristram Shandy kommt im Kap. 25 des neunten Buches auf die oben erwähnten seltsamen Leerkapitel in expliziter fictio-Metareferenz zurück und sagt teils selbstkritisch, teils ironisch entschuldigend: WHEN we have got to the end of this chapter (but not before) we must all turn back to the two blank chapters, on the account of which my honour has lain bleeding this half hour,—I stop it, by pulling off one of my yellow slippers and throwing it with all my violence to the opposite side of my room, with a declaration at the heel of it,— That whatever resemblance it may bear to half the chapters which are written in the world [...],—that it was as casual as the foam of Zeuxis his horse: [...].18

Was ist die Wirkung dieser fictio-Metareferenz für die ästhetische Illusion des Lesers? Die Selbstkritik der Erzählers, dass die Kapitel zufällig leer blieben, in Verbindung mit einem fremdkritischen, satirischen Hieb auf die Nichtigkeit von vielen ausgeführten Kapiteln in dem, was in der Welt geschrieben wird, lenkt hier zwar den Blick auf das Schreiben und damit auf die Medialität und Relevanz dessen, was wir hier lesen, aber der Erzähler in seiner komisch-verzweifelten Wut über das angeblich seine ‚Ehre‘ tangierende Versehen – er zieht sich seinen Hausschuh aus und schleudert ihn mit einem Fluch in die Zimmerecke – erscheint darob keineswegs weniger lebendig vor unserem inneren Auge. Fictio-Metareferenz hat hier sogar eine intensivierende Wirkung auf die von mir so genannte ‚Sekundärillusion‘19 eines anwesenden Erzählers aus Fleisch und Blut (von Ansgar Nünning mit dem Begriff ‚Erzählillusion‘ bezeichnet)20. Kritische fictum-Metareferenz, wie sie in der Fiktivitätsdemonstration im obigen Beispiel aus Fowles’ French Lieutenant’s Woman vorliegt, intensiviert dagegen die (primäre, diegetische) ästhetische Illusion nicht, sondern unterminiert, ja bricht sie, denn bei Fowles steht, anders als bei Sterne, die Geschichte und ihre Figuren, nicht aber der Erzähler im Mittelpunkt der Vorstellungsbildung. Beide obigen Beispiele stammen aus dem Bereich von – in der oben genannten Terminologie – ‚fiktionalen‘ Texten. Aber auch im Bereich faktualer Texte kann insbesondere kritische fictum-Metareferenz eine stärkere, da die Glaubwürdigkeit des Textes tangierende Wirkung erzeugen, als kritische fictio-Metareferenz. Stellen wir

|| 17 Vgl. Werner Wolf, Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung in der Erzählkunst (Anm. 8), 247–249. 18 Laurence Sterne, The Life and Opinions of Tristram Shandy, Gentleman [1767], hg. v. Graham Petrie, Harmondsworth: Penguin 1967, 602. 19 Vgl. Werner Wolf, Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung in der Erzählkunst (Anm. 8), 102. 20 Vgl. Ansgar Nünning, „‘Great Wits Jump’: Die literarische Inszenierung von Erzählillusion als vernachlässigte Entwicklungslinie des englischen Romans von Laurence Sterne bis Stevie Smith“, in: Bernhard Reitz/Eckart Voigts-Virchow (Hg.), Lineages of the Novel. Essays in Honour of Raimund Borgmeier, Trier: Wissenschaftlicher Verlag Trier 2000, 91.

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uns zur Illustration folgende (teils erfundene) Presseveröffentlichungen aus unterschiedlichen Zeitungen vor: Zeitung A, ein Blatt der Boulevardpresse, schildert als Erstveröffentlichung anschaulich einen sexuellen Übergriff eines hochrangigen Finanzfachmannes auf ein Zimmermädchen in einem Hotel und bedient dabei in Form und Inhalt der Darstellung ein voyeuristisches Begehren männlicher Leser. Zeitung B, ein seriöseres Blatt, das den Fall etwas später meldet, kritisiert intertextuell den obigen Bericht in zweierlei Hinsicht: einmal im Modus von fictio-Metareferenz mit kritischen Bemerkungen zum Stil und dem unnötigen Thematisieren sexueller Details als typisch für eine bestimmte Art von Presse; zum anderen wird der Artikel im Sinne von fictum-Metareferenz angegriffen als auf dubiosen Zeugenaussagen beruhend. Ganz offensichtlich wird auch im Fall von faktualen Texten die in Text B zuletzt genannte fictum-Variante expliziter Metareferenz im Vergleich zur fictio-Variante die intensivere und vernichtendere Kritik darstellen. Die Relevanz von Fiktion als Kategorie der Metareferenz sowohl im Sinne von fictio und fictum als auch von fiktional vs. faktual dürfte damit klar geworden sein, denn es zeigt sich: Fiktion ist als Kategorie irrelevant, wenn es um die bloße Klassifizierung von expliziter Metareferenz als solcher geht, gleichwohl relevant, wenn es um die Binnendifferenzierung nach fictio- oder fictum-zentrieren Inhalten geht, da diese Formen unterschiedliche Wirkungen zeitigen – und zwar sowohl in fiktionalen als auch in faktualen Kontexten.

5 Die Relevanz von ‚Fiktion‘ für explizite und implizite Metareferenz als Indikator fiktionaler Werk-Kontexte Betrachten wir nun die Beziehung zwischen Metareferenz und ihren werkinternen Kontexten, die bereits in der Binnenklassifizierung metareferentieller Formen als deren Rechtfertigung angesprochen wurde, und fragen hier nach möglichen Hinweisen auf die Relevanz der Kategorie ‚Fiktion‘. Eine interessante These ist in diesem Zusammenhang die Behauptung Monika Fluderniks, dass metareferentielle Erzählerkommentare in narrativen Texten als Indiz für deren Fiktionalität gewertet werden könnten.21 Fludernik hat hier klarer-

|| 21 Siehe Monika Fludernik, „Fiction vs. Non-Fiction: Narratological Differentiations“, in: Jörg Helbig (Hg.), Erzählen und Erzähltheorie im zwanzigsten Jahrhundert. Festschrift für Wilhelm Füger, Heidelberg: Winter 2001, 85–103, hier: 95. Bzgl. „narratorial comments of a metanarrative or metafictional nature“ behauptet sie gar: „[...] I would consider [them] the most prominent marker of narrative fictionality“ (ebd.). Vgl. ähnlich auch J. Alexander Bareis (Fiktionales Erzählen. Zur Theorie der

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weise explizite metareferentielle Aussagen im Sinn, wie sie Erzähler unschwer tätigen können. Aber allein schon die gängige Möglichkeit, einen faktualen Erlebnisbericht mit den metanarrativen Worten „Lassen sie mich kurz erzählen, was mir gestern passiert ist“ zu eröffnen, zeigt die Fragwürdigkeit der behaupteten fiktionalen IndikatorWirkung von Metareferenz. Zumindest gilt dies für punktuelle explizite Metareferenz. Anders mag der Fall liegen, wo explizite und zumal kritische Metareferenz nicht nur punktuell, sondern systematisch und extensiv verwendet wird – was in der Tat im Bereich verbaler Texte zumindest auf die Literarizität des betreffenden Textes, im Film auf einen Kunstfilm verweisen könnte und damit die Indikation von Fiktionalität auf Umwegen ins Spiel brächte: Denn faktuale Texte und Dokumentarfilme sind typischerweise nicht stark metareferentiell, sondern zielen auf Heteroreferentielles (v.a. Information oder Überzeugung). Allerdings sollte man nicht vergessen, dass es Textsorten (wie Grammatiken oder wissenschaftliche Fachliteratur zur Literatur, bildenden Kunst, Musik usw.) gibt, die ihrem Wesen nach (explizit) metareferentiell sind. Besonders interessant für die Frage nach einer möglichen fiktionalen IndexFunktion sind bestimmte Formen der impliziten Metareferenz, allen voran die sog. Metalepse. Metalepse ist ein transmedial in darstellenden Medien (also nicht nur in der Erzählkunst) vorkommendes Phänomen und bezeichnet eine Verletzung der konventionell angenommenen Autonomie einer dargestellten Welt durch die paradoxe Überschreitung (in Gedanken oder Tat) der Grenze, welche das Innere dieser Welt vom Außen trennt.22 Beispielsweise liegt eine Metalepse vor, wenn fiktive Figuren wie in Flann O’Brien’s experimentellem Roman At Swim-Two-Birds (1939) sich gegen ihren fiktiven Autor auflehnen, obwohl dieser auf einer erzähllogisch übergeordneten und daher diesen Figuren eigentlich verschlossenen Ebene existiert, von der sie in ihrer Welt keine Kenntnis haben dürften. Mit ihrer Grenzüberschreitung verletzen die revoltierenden Figuren also die Autonomie ihrer Welt. In faktualer verbaler Kommunikation würde dergleichen als Unmöglichkeit bzw. Widerspruch zum ‚gesunden Menschenverstand‘ oder als Bruch logischer Konventionen abgelehnt – und genau deshalb sind Metalepsen in faktualen Darstellungen außerordentlich selten. In der Regel haben sie gerade wegen ihrer lebensweltlichen Unmöglich-

|| literarischen Fiktion als Make-Believe, Göteborg: Acta Universitatis Gothoburgensis, 2008, 201), der „[m]etafiktionales Erzählen“ als „ein Merkmal der Fiktion“ bzw. als „eine genuin fiktionsspezifische Erzählweise“ ansieht, wobei hier allerdings nicht von einzelnen metareferentiellen Passagen die Rede ist, sondern von einem insgesamt metaisierenden Erzählen. Ein solches Erzählen legt zumindest die Klassifikation ‚Literatur‘ nahe und damit indirekt in der Tat Fiktionalität. 22 Vgl. Werner Wolf, „Metalepsis as a Transgeneric and Transmedial Phenomenon: A Case Study of the Possibilities of ‚Exporting‘ Narratological Concepts“, in: Jan Christoph Meister (Hg.), in Zusammenarbeit mit Tom Kindt u. Wilhelm Schernus, Narratology Beyond Literary Criticism. Mediality, Disciplinarity, Berlin: De Gruyter 2005, 83–107; vgl. auch Jeff Thoss, When Storyworlds Collide. Metalepsis in Popular Fiction, Film, and Comics, Leiden/Boston: Brill-Rodopi 2015, 177.

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keit genau jenen fiktionalen Indikatorwert, von dem Fludernik spricht, wenn auch verkürzend mit Blick auf explizite Metareferenz. Und genau wegen dieser fiktionalitätsindizierenden und darüber hinaus auch fiktivitätsindizierenden Wirkung wurden und werden Metalepsen besonders häufig in postmoderner Literatur als Form impliziter fictum-Metareferenz eingesetzt, inzwischen sogar derart häufig (bis hin zu populärer Fantasy-Literatur für Leser jeden Alters), dass zwar dieser Indikatorwert noch vorhanden sein mag, aber die ursprünglich mit der Metalepse einhergehende illusionsstörende Wirkung fraglich geworden ist. Aber Metalepse ist, wie angedeutet, nicht auf verbale Medien beschränkt, sondern kommt z.B. auch in der bildenden Kunst vor. Ein mittlerweile häufig reproduziertes Beispiel (Abb. 3) ist Pere Borrell des Casos Gemälde Escapando la Critica (1874).23

Abb. 3: Pere Borrell del Caso, Escapando la Critica (1874), Banco de Espana, Madrid

|| 23 Dieses Bild habe ich auch als Titelillustration des Bandes Metareference across Media (Anm. 3) verwendet.

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Zunächst mag das Bild mit seiner trompe-l’œil Qualität für einen Augenblick als Teil der Wirklichkeit und damit nicht als metareferentiell erscheinen.24 Das implizit Metareferentielle wird dann aber zumindest auf den zweiten Blick deutlich: Ein Junge, der aus einem Bild springen will und dabei schon den Rahmen zu überschreiten im Begriff ist – das ist eine paradoxe Verletzung der Grenze zwischen dem dargestellten Weltausschnitt und ihrem Rahmen, also einem Element der Darstellung. So etwas ist in der Realität unmöglich und verweist gerade deshalb implizit auf das Gegenteil, auf Irrealität; im ursprünglichen Titel geschah das sogar explizit: „Una cosa que no pot ser“.25 In den Blick rückt so die Tatsache, dass es sich hier trotz der täuschend echt gemalten Wirklichkeit – das Gemälde ist denn auch u.a. in einem Ausstellungskatalog mit dem Titel Täuschend echt reproduziert26 – um ein Bild, um fictio und zugleich aber auch um fictum, handelt. Der Umstand, dass hier metaleptisch nicht nur fictio, sondern auch fictum, also Fiktivität ausgestellt wird, hat eine besonders starke Wirkung und führt zum Zusammenbruch der anfänglich intensiven Illusion (vielleicht sogar Delusion bzw. ‚Täuschung‘)27 und zur Bewunderung sowohl des illusionistischen Könnens als auch des Einfallsreichtums des Malers (der hier überdies ‚interpiktorial‘ auf Murillo anspielt)28 – und zwar zu einer Bewunderung im Rahmen des Wissens um Fiktionalität. Um all dies zu erkennen, bedarf es jedoch eines zumindest impliziten vorherigen Urteils des Rezipienten der Art ‚das ist unmöglich‘, oder ‚das kann nicht wahr sein‘. Wenn ein solches Urteil aber wichtig, ja konstitutiv für das Erkennen und damit Klassifizieren von Metalepsen-generierter Metareferenz ist, dann kann hier nicht stimmen, was Kablitz von der Wirkung von Fiktionalität behauptet, nämlich, dass sie stets gegenüber dem Wahrheitswert der dargestellten Welten und ihres || 24 Es ist das verblüffend ‚Realistische‘ der Darstellung, das del Casos Gemälde nicht nur als allgemein illusionistisches, sondern auch als trompe-l’œil Gemälde erscheinen lässt: Der Betrachter wird in der Tat zunächst dazu ‚verführt‘, die Darstellung für Wirklichkeit zu halten, um sodann aufgrund der ‚Unmöglichkeit‘ des Dargestellten mit der Fiktivität des Dargestellten metareferentiell konfrontiert zu werden. Zur illusionierenden und illusionsbrechenden Wirkung von trompe-l’œil vgl. folgende Beiträge in Walter Bernhart/Andreas Mahler/Werner Wolf (Hg.), Immersion and Distance. Aesthetic Illusion in Literature and Other Media, Amsterdam: Rodopi 2013, 1–63: Werner Wolf, „Aesthetic Illusion“, 1–63; sowie Katharina Bantleon/Ulrich Tragatschnig, „Willful Deceptions: Aesthetic Illusion at the Interface of Painting, Photography and Digital Images“, 263–292. 25 Vgl. Bärbel Hedinger, „Katalog der ausgestellten Werke“, in: Ortrud Westheider/Michael Philipp (Hg.), Täuschend echt. Illusion und Wirklichkeit in der Kunst, München: Hirmer 2010, 66–211, hier: 160. 26 Siehe Ortrud Westheider/Michael Philipp (Hg.), Täuschend echt (Anm. 25), 161. 27 Charakteristisch für eigentliche ästhetische Illusion ist, dass sie eben keine Täuschung im Sinne einer Verwechslung von Wirklichkeit und Dargestelltem ist, sondern neben dem dominanten Eindruck von ‚Immersion‘ in die dargestellte Welt immer auch ein residuales und potentiell distanzierendes ‚Meta-Bewusstsein‘ vom Artefaktcharakter der Darstellung (also von fictio) aufweist. Siehe hierzu ausführlicher Werner Wolf, „Aesthetic Illusion“ (Anm. 24). 28 Vgl. Bärbel Hedinger („Katalog der ausgestellten Werke“ [Anm. 25], 160), die in diesem Zusammenhang auf Murillos Der junge Bettler im Louvre verweist.

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Inventars ‚vergleichgültige‘. Possible worlds, so Marie-Laure Ryan, sind für unser Erkennen und Erleben zugänglich, da sie nach einem „principle of minimal departure“29 funktionieren, d.h. grundsätzlich nach Kategorien, die so wenig als möglich von denjenigen der Lebenswelt abweichen (wobei Abweichungen der Markierung bedürfen). Dieses „principle of minimal departure“ aber setzt auch die Gültigkeit von Urteilen über Wahrheit und Möglichkeit voraus – wie unser Beispiel zeigt.30

6 Die Relevanz von ‚Fiktion‘ als Eigenschaft des werkinternen Kontextes für die Klassifizierbarkeit bestimmter Phänomene als metareferentiell Oben konnten wir feststellen, dass ‚Fiktion‘ dann keine relevante Kategorie für die Klassifikation bestimmter Zeichen als metareferentiell ist, wenn es um Fiktion als Merkmal der Metareferenz selbst geht. Ein ganz anderes Bild ergibt sich dagegen, wenn wir stattdessen den werkinternen Kontext metareferentieller Zeichen in den Blick nehmen. Kommen wir in diesem Zusammenhang nochmals auf das Sterne-Beispiel mit dem fehlenden Text nach einer Kapitelüberschrift zurück. Wenn eine solche Lücke im Kontext eines faktualen Textes aufträte, nähme der Leser wohl einen zufälligen Fehler im Druckprozess an und würde diese Lücke im Text nicht als sinnstiftend auffassen. Wird dasselbe Phänomen jedoch im Rahmen eines fiktionalen Textes wahrgenommen, wird man wohl eine Sinnvermutung anstellen. Vor allem wenn der Kontext wie in Tristram Shandy dank zahlreicher explizit selbstreflexiver Passagen eine metareferentielle Interpretation nahelegt, wird man das Phänomen als implizit

|| 29 Marie-Laure Ryan, Possible Worlds, Artificial Intelligence and Narrative Theory, Bloomington: Indiana UP 1991, 51. 30 Allerdings können Metalepsen, die z.B. ebenso im Spielfilm oder im Roman vorkommen, auch ohne dergleichen massive Metareferenz und die damit ausgelösten starken Illusionsstörungen auftreten. Wie oben angedeutet, gilt dies z.B. für Fantasy- bzw. Kinderliteratur, worauf Sonja Klimek zu Recht verwiesen hat (vgl. „Metalepsis and Its (Anti-)Illusionist Effects in the Arts, Media and RolePlaying Games“, in: Werner Wolf [Hg.], Metareference across Media [Anm. 3], 169–187; dies., „Fantasy Fiction in Fantasy Fiction: Metareference in the Otherworld of the Faerie“, in: Werner Wolf [Hg.], The Metareferential Turn in Contemporary Arts and Media [Anm. 3], 77–95). Freilich ist die Neutralisierung des metaleptischen Skandalons und damit die ‚Vergleichgültigung‘ gegenüber dem Unmöglichen und somit auch Unwahren hier bestimmten Gattungsrahmen zuzuschreiben – also nicht einfach dem Rahmen ‚Fiktionalität‘, sondern spezifischen Unter-Rahmen (wie auch weiteren Verfahren, auf die ich hier nicht näher eingehen kann; siehe hierzu ausführlicher Werner Wolf, „‘Unnatural’ Metalepsis and Immersion: Necessarily Incompatible?“, in: Jan Alber/Henrik Skov Nielsen/Brian Richardson [Hg.], A Poetics of Unnatural Narrative, Columbus: Ohio State UP 2013, 113–141, v.a. Kap. 4).

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metareferentielles Vertextungsverfahren lesen, das inhaltlich einen fictio-Aspekt, eben die Konvention von Kapiteleinteilungen, zu Bewusstsein bringt. Grund für eine solche metareferentielle Interpretation im Rahmen eines Romans ist jene default option, die Kablitz zu Recht mit dem Fiktionalen31 verbindet, nämlich dass das Fiktionale automatisch auch mit dem Literarischen verbunden wird, sofern nicht Anderes klargestellt wird. Bei der Literatur, also der Wortkunst, nehmen wir nämlich wie bei jeder künstlerischer Kommunikation eine Einstellung ein, bei der wir im Gegensatz zu faktualer Alltagskommunikation von einer besonderen Sinnprämisse ausgehen. Das heißt, wir nehmen grundsätzlich an, dass alles, auch das scheinbar Fehlerhafte oder Unsinnige, nicht zufällig, sondern absichtlich und zwar mit einer Sinnintention produziert wird und daher entsprechend ‚auf Sinn‘ zu lesen sei. Damit aber ergibt sich für die Relevanz der Kategorie ‚Fiktion‘ bezüglich impliziter Metareferenz bereits ein bemerkenswerter Befund: Die Opposition Fiktionalität/ Faktualität, bzw. die Gültigkeit des einen oder anderen Terms für den werkinternen Kontext einer bestimmten Stelle, scheint für die Klassifizierung bestimmter Phänomene wie z.B. scheinbarer ‚Fehler‘ als tatsächlich oder potentiell metareferentiell ausschlaggebend zu sein. Das heißt: Sobald wir für ein bestimmtes Werk den Rahmen ‚Fiktionalität‘ (bei verbalen Texten damit meist auch den Rahmen ‚Literatur‘) in Anschlag bringen, werden bestimmte Phänomene überhaupt erst als potentielle Metareferenz wahrgenommen. Wie sehr der Rahmen ‚Kunst‘ und ‚Fiktionalität‘ dazu beitragen kann, eine metareferentielle Rezeption zuallererst nahezulegen, zeigt sich auch in einem hier zunächst entlegen scheinenden Medium, nämlich der Musik,32 wobei in der Bezeichnung ‚Kunst‘ sogar die Bedeutung ‚Hochkunst‘ und Professionalität in der Performanz mitwirken kann. Bei der Aufführung von Musik (wie bei jeder anderen medialen Aufführung) kann es immer wieder vorkommen, dass Fehler gemacht werden. In der Regel werden diese allerdings wohl nicht als sinntragend angesehen, sondern als zufällige, ärgerliche, bedauerliche, jedenfalls unwillkürliche Fehlhandlungen. Dies widerspricht dem oben zum Rahmen der Kunst Gesagten nur scheinbar, denn

|| 31 Vgl. Andreas Kablitz, „Literatur, Fiktion und Erzählung“ (Anm. 2), insb. 21 u. 24. 32 Zum mittlerweile weitgehend akzeptierten metareferentiellen Potential auch von Instrumentalmusik s. Werner Wolf, „Metafiction and Metamusic: Exploring the Limits of Metareference“, in: Winfried Nöth/Nina Bishara (Hg.), Self-Reference in the Media (Anm. 15), 303–324; ders., „Metaisierung als transgenerisches und transmediales Phänomen: Ein Systematisierungsversuch metareferentieller Formen und Begriffe in Literatur und anderen Medien“, in: Janine Hauthal et al. (Hg.) Metaisierung in Literatur und anderen Medien (Anm. 3), 25–64; ders., „Metamusic? Potentials and Limits of ‚Metareference‘ in Instrumental Music – Theoretical Reflections and a Case Study (Mozart’s Ein musikalischer Spaß)“, in: Walter Bernhart/Werner Wolf (Hg.), Self-Reference in Literature and Music, Amsterdam/New York: Rodopi 2010, 1–32; sowie die einschlägigen Beiträge in ders. (Hg.), Metareference across Media (Anm. 3), und in ders. (Hg.), The Metareferential Turn in Contemporary Arts and Media (Anm. 3).

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das oben Bemerkte bezieht sich, so wäre nachzutragen, auf künstlerische Werke als ideale Konstrukte, nicht auf Umstände und Bedingungen ihrer jeweiligen realen Aufführung. Bestimmte aufführungsgenerierte Aspekte künstlerischer Performanz scheinen interessanterweise offenbar in unserer Einstellung wie Alltagskommunikation unter pragmatischen Gesichtspunkten rezipiert zu werden – zumindest als default option. Wenn nun aber ein professionelles Orchester spielt und dabei laufend z.B. bei der Aufführung eines klassischen, tonal geschriebenen Sextetts scheinbar Fehler produziert, bis hin zu einem ganz offenkundig dissonanten Schlussakkord, dann wird man wohl geneigt sein, hier Absicht und ggf. auch Sinn zu vermuten. Die nähere Interpretation hängt natürlich von weiteren Rahmungen ab, ob es sich z.B. um ein Faschingskonzert handelt oder nicht und auch davon, ob der Komponist bekannt ist und wer er ist. Wenn die wahrgenommenen ‚Fehler‘ jedoch nicht nur von renommierten ausführenden Künstlern, sondern auch noch im Zusammenhang eines Werkes von W. A. Mozart – im vorliegenden Beispiel dem Sextett KV 522 – ‚erklingen‘, liegt die Annahme von Absicht und damit auch Sinnhaftigkeit umso näher. Tatsächlich wurde dieses Sextett zunächst auch weithin als Parodie inkompetenter Performanz aufgefasst und daher ‚Dorfmusikantensextett‘ genannt. Bei näherer Beschäftigung mit dem Werk erweist sich jedoch die scheinbar inkompetente Aufführung nur als eine oberflächliche Dimension des ‚Fehlerhaften‘, der eine tiefere, nicht minder massive ‚Fehlerhaftigkeit‘ in der Komposition selbst entspricht.33 Damit besitzt das Fehlerhafte hier offenbar die Qualität kalkulierter Absicht und erhält eine sinnstiftende Funktion. Neben dem apokryphen34 Titel „Dorfmusikantensextett“ weist denn auch der originale Titel „Ein musikalischer Spaß“ auf eine solche sinnhafte Funktion hin. Wie ich andernorts zu zeigen versuchte,35 erschöpft sich das Fehlerhafte jedoch nicht im reinen Spaß (im ‚musikalischen Humor‘), sondern kann als kompositorische Parodie, die sich heiter-kritisch mit dem (zeitgenössichen) Komponieren selbst auseinandersetzt, aufgefasst werden, mit anderen Worten: als hervorragendes Beispiel von Metamusik. Genauer: Da Instrumentalmusik nicht explizit metareferentiell sein kann, handelt es sich hierbei um implizite Metamusik. Aber was hat all das mit der Frage nach der Relevanz der Kategorie ‚Fiktion‘ für Metareferenz zu tun? Die Metareferentialität der ‚schrägen‘ Musik von KV 522 wurde in den eben gemachten Bemerkungen unmittelbar aus der Kunsthaftigkeit des Werks bezogen und nicht aus dessen Fiktionalität und/oder Fiktivität. Bei der Musik scheinen die Dichotomien Fiktionalität/Faktualität wie auch Fiktivität/Faktizität offenbar nicht applizierbar. In der Tat wurde von einem bekannten Musiksemiotiker,

|| 33 Vgl. Thomas Schipperges, „Die Serenaden und Divertimenti“, in: Silke Leopold (Hg.), Mozart Handbuch, Kassel/Stuttgart: Bärenreiter/Metzler 2005, 562–602, hier: 596. 34 Vgl. ebd., 597. 35 Siehe Werner Wolf, „Metamusic?“ (Anm. 32), 17–22.

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Jean-Jacques Nattiez, in vielleicht störend platonisch gefärbter semiotischer Simplifizierung, aber doch unmissverständlich die Nicht-Anwendbarkeit der Kategorie ‚Fiktion‘ behauptet – im Gegensatz zum literarischen Erzählen: „Literary narrative“, so sagt Nattiez, „is an invention, a lie. Music cannot lie.“36 Aber kann Instrumentalmusik wirklich nicht ‚lügen‘ bzw. Fiktives zu Gehör bringen? Ist solche Musik tatsächlich niemals im Zeichen von ‚Fiktionalität‘ zu rezipieren? Das Mozart-Beispiel legt das Gegenteil nahe: Mozart tut hier ja in parodietypischer Mimikri so, als ob er selbst ein inkompetenter Komponist sei, und ggf. müssen die Ausführenden mitspielen und ebenfalls so tun, als ob sie nicht ordentlich musizieren könnten. Das aber ist Rollenspiel, Als-ob-Spiel und damit Fiktion. Genauer: Das Fehlerhafte wird hier zunächst einmal (d.h. innerhalb der ‚Welt‘ dieser Komposition) einem fiktiven inkompetenten Rollen-Komponisten zugeschrieben, der erst auf der übergeordneten Ebene der wirklichen Welt als intentionales Konstrukt Mozarts anzusehen ist. Damit kommt hier Fiktivität bzw. fictum zum Tragen. Ziel des fictum implizierenden Rollenspiels ist die Parodie einer Kompositions- wie Aufführungspraxis und damit ein fictio-Aspekt von Musik. All dies, wie gesagt, ist die Konsequenz von etwas Erstaunlichem: nämlich, dass hier – aufgrund der Aktivierung von kulturellem (Mozart-bezogenem) Wissen und der kunstbezogenen ‚Sinnprämisse‘ – die Anwendung der Kategorie ‚Fiktionalität‘ auf ein ganzes Werk der Instrumentalmusik möglich ist, und diese Klassifizierung zur Erkennbarkeit einzelner scheinbarer Fehler als bewusste metareferentiell motivierte Kunstgriffe führt. In der Tat: Der Unernst des Werkes macht es in einem ganz anderen Sinn zum ‚Spiel‘ als beim ‚normalen‘ Instrumenten‚spiel‘ – und dieser spielerisch-parodistische Rahmen hat eine bemerkenswerte Konsequenz: Wäre bei ‚ernster‘ – der faktualen Rezeption analoger – Wahrnehmung der Dilettantismus dem Komponisten negativ anzulasten, erscheint er hier als Kunstgriff, der Mozart sogar zur Ehre gereicht, denn, so wurde treffend bemerkt: „Selten ist in der Musik so viel Geist aufgeboten worden, um geistlos zu erscheinen.“37 Instrumentalmusik kann also – zumal in der Form der Parodie – nicht nur implizit metareferentiell sein und dabei im Sinne von fictio-Metareferenz Schwächen von Kompositions- oder Aufführungsweisen aufzeigen, sondern auch zumindest in Teilen fiktiv sein – in einem parodistischen Werk, das sich, sobald man die Parodie erkennt, insgesamt als fiktional klassifizieren lässt. Damit zeigt sich erneut: Fiktion ist eine relevante Kategorie für die Klassifikation impliziter Metareferenz als solcher,

|| 36 Jean-Jacques Nattiez, Music and Discourse. Toward a Semiology of Music, übers. v. Carolyn Abbate, Princeton: Princeton UP 1990, 128 (franz. Orig. Musicologie générale et sémiologie, Paris: Christian Bourgeois 1987). 37 Hermann Abert, W. A. Mozart. Neubearbeitete und erweiterte Ausgabe von Otto Jahns Mozart, 3 Bde., Leipzig: Breitkopf und Härtel 81973 [1955], zit. nach Thomas Schipperges, „Die Serenaden und Divertimenti“ (Anm. 33), 596.

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und zwar wenn es um Fiktion im Sinn von Fiktionalität als Qualität des werkinternen Kontextes (potentiell) metareferentieller Passagen bzw. Phänomene geht.

7 Ergebnisse Als Ergebnisse der vorangegangenen Überlegungen ist damit – in Beantwortung der eingangs gestellten Fragen a) bis d) – Folgendes festzuhalten: a) ‚Fiktion‘ als Eigenschaft von Metareferenz selbst ist für deren Erkennen bzw. Klassifizieren eine irrelevante Kategorie; dies gilt für ‚Fiktion‘ sowohl im Sinne von fictio als auch von fictum, von Fiktionalität als auch von Fiktivität. In den meisten übrigen Fällen (wenn es also um mehr als Erkennen und Klassifikation von Metareferenz geht) ist ‚Fiktion‘ dagegen eine relevante Kategorie. b) Diese Relevanz von ‚Fiktion‘ gilt zunächst einmal für die Binnendifferenzierung von fictio- und fictum-zentrierter Metareferenz: Diese erlaubt sowohl bei expliziter als auch bei impliziter Metareferenz z.B. unterschiedliche Illusionswirkungen oder Glaubwürdigkeitseffekte zu erfassen (vor allem wenn Metareferenz auf das Bloßstellen der jeweiligen Fiktionsdimension eines Artefaktes abzielt). c) Das punktuelle Auftreten von expliziter Metareferenz ist entgegen anderslautender Forschungsmeinung38 kein Indiz für die Fiktionalität des gegebenen WerkKontextes und insofern irrelevant. Bei extensivem Vorkommen expliziter Metareferenz ist ein solcher Zusammenhang fallweise zumindest wahrscheinlich, beim Vorhandensein impliziter Metareferenz, wie in der Form der Metalepse, mehr als wahrscheinlich. d) Fiktion im Sinne von Fiktionalität ist ferner relevant, insofern sie als Qualität des werkinternen Kontextes zur Klassifikation von bestimmten Verfahren als implizit metareferentiellen beitragen kann. Dies zeigte sich am Beispiel der fehlenden Kapiteltexte in Tristram Shandy. Aus der Betrachtung eines instrumentalmusikalischen Beispiels (Mozarts Ein musikalischer Spaß) ergab sich sogar, dass Fiktionalität – entgegen anderslautender Forschungsmeinung39 – selbst auf dieses Medium als ‚kognitiver Rahmen‘ anwendbar ist. Die Applikation dieses Rahmens zeigte, dass ein manifester kompositorischer Dilettantismus dem Komponisten nicht kritisch angelastet wird, sondern diese Form impliziter Metareferenz über die Fiktivität eines parodistischen Rollenspiels (als Dilettant) bemerkenswerterweise für den wirklichen Komponisten als Ausweis geistvollen Umgehens mit seinem Medium gelten kann.

|| 38 Vgl. Monika Fludernik, „Fiction vs. Non-Fiction“ (Anm. 21). 39 Vgl. Jean-Jacques Nattiez, Music and Discourse (Anm. 36).

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e) Schließlich und zusätzlich zu den Antworten auf die oben (im Abschnitt 1) aufgeworfenen Fragen führt unsere Diskussion auch zu einem gegenüber einer weiteren herrschenden Forschungsmeinung überraschenden Ergebnis: Offenbar gilt die These, dass Fiktionalität zur „Vergleichgültigung gegenüber [dem] Wahrheitswert“ von Aussagen und Darstellungen führe,40 zumindest für implizit metareferentielle Verfahren wie das der Metalepse nicht: Denn selbst wenn hier von der fiktionalitätsindizierenden Wirkung dieses Verfahrens einmal abgesehen wird und die Fiktionalität des Werkkontextes als bereits etabliert angenommen werden kann, beruht die ‚Meta-Wirkung‘ zu allererst auf der Beurteilung des Repräsentierten als ‚unmöglich‘ und damit ‚unwahr‘. Dies aber kann nur erfolgen, wenn der Rezipient gegenüber dem möglichen Wahrheitswert des Dargestellten nicht gleichgültig ist. Insgesamt zeigt sich also: Fiktion ist auch bei einem transmedialen Unteraspekt der Medien und Künste, wie es deren Potential an Metareferentialität darstellt, bis auf einige Ausnahmen ein durchaus relevantes Kriterium. Das im Titel dieses Beitrags angeführte Fragezeichen kann also als Ergebnis der Diskussion gestrichen werden. Die transmediale Bedeutsamkeit der Kategorie ‚Fiktion‘ erweist sich damit nicht nur aus der Sicht der Narratologie als gegeben, sondern kann auch aus der Perspektive der Metareferenzforschung nur unterstrichen werden.

|| 40 Andreas Kablitz, „Literatur, Fiktion und Erzählung“ (Anm. 2), 16.

Autorinnen und Autoren J. Alexander Bareis ist universitetslektor und docent (associate professor) im Fach germanistische Literaturwissenschaft am Sprachen- und Literaturzentrum der Universität Lund, Schweden. Er promovierte 2007 mit der Dissertationsschrift Fiktionales Erzählen. Zur Theorie der literarischen Fiktion als Make-Believe an der Universität Göteborg und erhielt 2008 eine vierjährige Forscherstelle, finanziert vom schwedischen Wissenschaftsrat. Seine Hauptarbeitsgebiete sind Theorien der Fiktion und des Erzählens, Metafiktion und neuere sowie neueste deutschsprachige Literatur; Buchveröffentlichungen u.a. Metafiktion. Analysen zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur (hg. mit Frank Thomas Grub, 2010) und How to Make Believe. The Fictional Truths of the Representational Arts (hg. mit Lene Nordrum, 2015). Anne Enderwitz ist Mitarbeiterin am Peter Szondi Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft der Freien Universität Berlin und Dahlem International Network Postdoc an der Friedrich Schlegel Graduiertenschule für Literaturwissenschaftliche Studien der FU Berlin. Zuvor war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Sie hat als Marie Curie Fellow am University College London über Melancholie und Modernismus promoviert. Ihr aktuelles Buch- und Habilitationsprojekt Economies of Early Modern English Drama befasst sich mit dem Verhältnis von Ökonomie und Drama um 1600. Weitere Forschungsschwerpunkte sind Literatur- und Kulturtheorie (vgl. z.B. „Literature, Subjectivity, and Human Nature: Evolution in Literary Studies“, in: Subjectivity 7.3, 2014), Affekt, Sprache und Wissensdiskurse (siehe Modernist Melancholia: Freud, Conrad and Ford, 2015) sowie Zeitlichkeit (vgl. „Modernist Melancholia and Time“, in: Martin Middeke/Christina Wald [Hg.], The Literature of Melancholia: Early Modern to Postmodern, 2011). Helmut P. E. Galle ist Professor für Deutsche Literatur am Departamento de Letras Modernas der Universidade de São Paulo (Brasilien). Seine Livre Docência (Habilitationsäquivalent) behandelt die Theorie des autobiographischen Schreibens: O gênero autobiográfico: possibilidade(s), particularidades e interfaces (2011). Als Lektor und Gastprofessor war er in Bern, Buenos Aires (UBA) und Aveiro (Portugal) tätig. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Gegenwartsliteratur, insb. im Zusammenhang mit Fragen der Fiktionalität, des Autobiographischen und der Zeugenschaft. Zu seinen jüngeren Publikationen zählen: A memória e as ciências humanas. Um conceito transdisciplinar em pesquisas atuais na Alemanha e no Brasil (hg. mit Rainer Schmidt, 2010); Em primeira pessoa. Abordagens de uma teoria da autobiografia (Hg., 2009). „Geschichtsdarstellung in der Gegenwartsliteratur: Florian Illies’ Pop-Chronik der Welt von Gestern“, in: Pandaemonium Germanicum, 17, 2014; „Kampf um Authentizität. Autobiographische Berichte und Sachbücher über den Krieg in Afghanistan“, in: Tom Burns et al. (Hg.), Revisiting 20th Century Wars. New readings of modern armed conflicts in literature and image media, 2012. Oliver Jahraus ist Professor für NDL/Literatur und Medien an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Er ist geschäftsführender Vorstand des Humanwissenschaftlichen Zentrums der LMU sowie Mitglied der Academia Europaea (Section for Literary and Theatrical Studies). Seine Lehr-, Forschungs- und Publikationsschwerpunkte sind Literatur- und Medientheorie, Avantgarde-Forschung, Filmforschung, Verhältnis von Literatur und Philosophie, Kleist, Kafka und Bernhard. Zu seinen zahlreichen Publikationen gehören: Literatur als Medium (2001), Theorieschleife (2001), Martin Heidegger (2004), Amour fou (2004), Literaturtheorie (2004), Franz Kafka (2006), Die 101 wichtigsten Fragen: Deutsche Literatur (2013). Er hat darüber hinaus Bücher zu Freud, Kafka, Krausser und Luhmann herausgegeben sowie die jüngst erschienenen Bände Der erste Weltkrieg als Katastrophe.

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Deutungsmuster im literarischen Diskurs (mit Claude D. Conte u. Christian Kirchmeier, 2014) und Vor der Theorie. Immersion – Materialität – Intensität (mit Mario Grizelj u. Tanja Prokic, 2014). Stephan Packard ist Juniorprofessor für Medienkulturwissenschaft an der Universität Freiburg. Er ist Vorsitzender der Gesellschaft für Comicforschung (ComFor), Mitherausgeber der Zeitschrift Medienobservationen und Herausgeber der Zeitschrift Mediale Kontrolle unter Beobachtung. 2015 erhielt er den Heinz-Maier-Leibnitz-Preis der DFG. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen Mediensemiotik, Comicforschung, Zensur und andere Formen medialer Kontrolle, Transmedialität, Narratologie, Begriffe der Fiktion und der Virtualität, sowie Affektsemiologie. Ausgewählte Buchpublikationen: Anatomie des Comics. Psychosemiotische Medienanalyse (2006, Diss.); Poetische Gerechtigkeit (hg. mit Sebastian Donat, Roger Lüdeke u. Virginia Richter, 2012); Thinking – Resisting – Reading the Political (hg. mit Anneka Esch-van Kan u. Philipp Schulte, 2013); Abschied von 9/11? Distanznahmen zur Katastrophe (hg. mit Ursula Hennigfeld, 2013). Comics & Politik (Hg., 2014). Irina O. Rajewsky ist Privatdozentin am Institut für Romanische Philologie (italienische und französische Literaturwissenschaft) der Freien Universität Berlin. Sie ist zugleich Principal Investigator der Friedrich Schlegel Graduiertenschule für literaturwissenschaftliche Studien der FU Berlin. Sie hat zahlreiche Beiträge zur Intermedialitätsforschung publiziert (u.a. Intermedialität, 2002) und ist Herausgeberin des Bandes Im Zeichen der Fiktion. Aspekte fiktionaler Rede aus historischer und systematischer Sicht (mit Ulrike Schneider, 2008). Weitere Forschungsschwerpunkte liegen in der Erzähltheorie, der Intertextualitätsforschung und der Performativitätstheorie, auf Autor- und Erzählerkonzepten sowie Schwellen- und Metaphänomenen in Literatur und anderen Künsten. Ihr aktuelles Buchprojekt ist im Bereich der transmedialen Narratologie angesiedelt: Medialität – Transmedialität – Narration. Perspektiven einer transgenerischen und transmedialen Narratologie (Habilitationsschrift, Drucklegung in Vorbereitung). Jens Schröter ist Professor für Medienkulturwissenschaft an der Universität Bonn. Zuvor war er Professor für Theorie und Praxis multimedialer Systeme an der Universität Siegen (2008–2015). Seit 2012 ist er Mitglied des von ihm mitbeantragten DFG-Graduiertenkollegs 1769 Locating Media, Universität Siegen. Seit 2016 fungiert er als Sprecher des gemeinsam mit Stefan Meretz (Commons-Theorie, Bonn), Hanno Pahl (Wirtschaftssoziologie, München) und Manuel Scholz-Wäckerle (Evolutions- und Komplexitätsökonomik, Wien) bei der VW-Stiftung beantragten Projekts „Die Gesellschaft nach dem Geld. Eröffnung eines Dialogs“. Forschungsschwerpunkte sind die Theorie und Geschichte digitaler Medien, Theorie und Geschichte der Photographie, Fernsehserien, Dreidimensionale Bilder, Intermedialität, Kritische Medientheorie. Ausgewählte Buchveröffentlichungen: 3D. History, Theory and Aesthetics of the Transplane Image (2014); Handbuch Medienwissenschaft (Hg., 2014). Jeff Thoss ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Englische Philologie der Freien Universität Berlin. Davor war er wissenschaftlicher Projektmitarbeiter am Institut für Anglistik der Karl-FranzensUniversität Graz, wo er 2012 promoviert wurde. Seine Dissertation ist unter dem Titel When Storyworlds Collide: Metalepsis in Popular Fiction, Film and Comics (2015) erschienen. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Erzähltheorie und der Intermedialitätsforschung (insb. Text-BildBeziehungen). Zu seinen jüngeren Publikationen gehören ein Beitrag zu Storyworlds across Media: Towards a Media-Conscious Narratology (Marie-Laure Ryan/Jan-Noël Thon [Hg.], 2014) sowie ein Aufsatz über Ekphrasis und Kartographie (Word & Image 32, 2016). Sein Habilitationsprojekt befasst sich mit Medienrivalität in der englischen Literatur.

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Barbara Ventarola ist derzeit Gastprofessorin für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Freien Universität Berlin. Zuvor hatte sie Gastprofessuren an unterschiedlichen Universitäten in Deutschland, den Vereinigten Staaten, Brasilien und Mexiko inne. Neben zahlreichen Aufsätzen zu unterschiedlichen Themen im Schnittfeld der Geistes-, Kultur- und Naturwissenschaften hat sie mehrere Monographien und Sammelbände publiziert (zuletzt Transkategoriale Philologie. Liminales und poly-systematisches Denken bei Gottfried Wilhelm Leibniz und Marcel Proust [2015]; Literatur als Herausforderung. Zwischen ästhetischem Autonomiestreben, kontextueller Fremdbestimmung und dem Gestaltungsanspruch gesellschaftlicher Zukunft [mit Henning Hufnagel, 2015]). Weitere Forschungsschwerpunkte: Beziehungen zwischen Literatur, Wissenschaften und Philosophie von der Antike bis heute, Postkolonialismus und Transkulturalität, Geschichte der Utopie, Konzepte der Zeit, Historische Anthropologie. Werner Wolf ist Professor für Englische und Allgemeine Literaturwissenschaft an der Karl-FranzensUniversität Graz, Österreich. Forschungsschwerpunkte: Literaturtheorie und Intermedialität (u.a. bzgl. ästhetischer Illusion, Narratologie, Metareferenz), Funktionsgeschichte der Literatur, englischer Roman des 18. bis 21. sowie Drama des 18. bis 20. Jahrhunderts. Er hat mehr als 150 Aufsätze, Rezensionen und Lexikabeiträge veröffentlicht sowie u.a. die Monographien Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung in der Erzählkunst (1993) und The Musicalization of Fiction: A Study in the Theory and History of Intermediality (1999). Er ist (Mit-)Herausgeber mehrerer Bände der Reihe Word and Music Studies (1999–2015, Brill/Rodopi) und der Reihe Studies in Intermediality (Brill/Rodopi): Framing Borders in Literature and Other Media (2006), Description in Literature and Other Media (2007), Metareference across Media: Theory and Case Studies (2009), The Metareferential Turn in Contemporary Arts and Media: Forms, Functions, Attempts at Explanation (2011), Immersion and Distance: Aesthetic Illusion in Literature and Other Media (2013). Frank Zipfel ist Akademischer Direktor am Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Er hat zahlreiche Beiträge im Bereich der Literatur- und Fiktionstheorie publiziert (u.a. Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität. Analysen zur Fiktion in der Literatur und zum Fiktionsbegriff in der Literaturwissenschaft, 2001). Weitere Forschungsschwerpunkte sind Interkulturalität, (transmediale) Narratologie, Gattungstheorie, europäische Literatur der Aufklärung und Drama der Moderne. Er ist Co-Autor von Was sollen Komparatisten lesen? (2005) und Herausgeber von Literatur@Internet (mit Alex Dunkler, 2006) und Écriture Migrante/Migrant Writing (mit Danielle Dumontet, 2008); seine jüngste Monographie beschäftigt sich mit Tragikomödien. Kombinationsformen von Tragik und Komik im europäischen Drama des 19. und 20. Jahrhunderts (2016).