Gottes Werk und Adams Beitrag: Formen der Interaktion zwischen Mensch und Gott im Mittelalter 9783050064390, 9783050057712

The volume launches the new series of the Medievalists' Society. It focuses on the relationship between Man and God

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German Pages 444 [448] Year 2014

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Table of contents :
Inhalt
Einleitung
Perspektiven
Die mittelalterlichen Vorstellungen vom Sündenfall als Interaktion zwischen Gott, dem Teufel und den Menschen
Gottes Werk
Dämon oder Krankheit? Der Alpdruck in der frühbyzantinischen Medizin
’Adam ’amiti – der »wahrhafte Mensch«: Josef Gikatillas Auseinandersetzung mit dem Maimonidischen Konzept der Prophetie
Aufeinandertreffen. Die Wahrnehmung göttlichen Wirkens im interreligiösen Kontakt
Die Wahrnehmung göttlichen Wirkens im interreligiösen Kontakt am Beispiel des ›Parzival‹ Wolframs von Eschenbach
Got vor dînen ougen – die »heidnische« Wahrnehmung heiliger Manifestationen
Ibn Hazm – Göttliche Rechtleitung und menschliche Verfälschung
Adams Beitrag
Heiligkeit als narratives Konstrukt: Die kommunikative Situation in ausgewählten Heiligenviten des englischen Mittelalters
Der Krieg als Mittel und Thema der Kommunikation: Die narrative Funktion des Gottesurteils
Der Wundarzt. Kommunizieren und Handeln mit Gott
Der abwesende Gott. Zur laientheologischen Grundlegung der êre im ›Eckenlied‹ (E2)
Die französischen Gralsromane: die Restitution der göttlichen Macht
Rituelle Vollzüge
Das Weltgerichtsportal als Ort der Selbsterforschung: Sünde, Krankheit und Buße als Elemente religiöser Kommunikationon
wande ez ist der gotes slac über mich ergangen – Einige Überlegungen zum christlichen Deutungshorizont der ›Klage‹
»Bitte für mich« – Zur Bedeutung der Fürbitte im Hochmittelalter
»Mit Herz und Mund dem Herren singen und dienen.« Fragen zu den Hymnen des Sedulius in mittelalterlichen Hymnaren
Gotteswort und Menschensprache. Zur rituellen Präsentation des Bibeltextes in der dichotomen Wortliturgie
Die operative Funktion der Sprache in der Sakramentenlehre des Thomas von Aquin
Handeln zu Ehren von Gott. Präsenz und Sichtbarkeit von Handwerksämtern in Stadtkirchen des südwestlichen Ostseeraumes
Synodus in Spiritu Sancto legitime congregata. Zur Liturgie konziliarer Sessionen im Spätmittelalter
Reflexionen
Der implizite Autor als (Re)creator: Legimitations- und Erzählstrategien im Schöpfungsbericht der ›Wiener Genesis‹
Affekt und Vernunft. Überlegungen zu Intertextualität und Tiefenstruktur des ›Proslogion‹ Anselms von Canterbury/Aosta
Göttliches Handeln und menschliches Spekulieren. Erzähler, Protagonist und Rezipient in Hartmanns ›Erec‹, Wolframs ›Parzival‹ und Gottfrieds ›Tristan‹
sîn muoter underschiet im gar / daz vinster unt daz lieht gevar – Herzeloydes Gottesbild in Wolframs von Eschenbach ›Parzival‹
Der menschliche Wille als Interaktionsbereich zwischen Gott und Mensch bei Thomas Bradwardine
Mit zweierlei Maß: Methodische Grundzüge der Islampolemik bei Juan de Torquemada OP (1388–1468)
Die Semiotik des »Narren« im Dienst der religiösen Didaxe
Anhang
Autorenverzeichnis
Personenregister
Ortsregister
Sachregister
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Gottes Werk und Adams Beitrag: Formen der Interaktion zwischen Mensch und Gott im Mittelalter
 9783050064390, 9783050057712

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Gottes Werk und Adams Beitrag

Das Mittelalter Perspektiven mediävistischer Forschung

Beihefte Band 1 Herausgegeben von Ingrid Baumgärtner, Stephan Conermann und Thomas Honegger

Thomas Honegger, Gerlinde Huber-Rebenich, Volker Leppin (Hrsg.)

Gottes Werk und Adams Beitrag Formen der Interaktion zwischen Mensch und Gott im Mittelalter

Gedruckt mit Unterstützung des Thüringer Ministeriums für Bildung, Wissenschaft und Kultur (FKZ: B514-10035) und der Ernst-Abbe-Stiftung.

ISBN 978-3-05-005771-2 e-ISBN 978-3-05-006439-0 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2014 Akademie Verlag GmbH, Berlin Ein Unternehmen von De Gruyter Satz: Werksatz Schmidt & Schulz, Gräfenhainichen Druck & Bindung: Hubert & Co GmbH & Co. KG, Göttingen

♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Inhalt

Thomas Honegger, Gerlinde Huber-Rebenich, Volker Leppin Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  IX

Perspektiven Hans-Werner Goetz Die mittelalterlichen Vorstellungen vom Sündenfall als Interaktion zwischen Gott, dem Teufel und den Menschen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  3

Gottes Werk Nadine Metzger Dämon oder Krankheit? Der Alpdruck in der frühbyzantinischen Medizin. . . . . .  31 Annett Martini ’Adam ’amiti – der »wahrhafte Mensch«: Josef Gikatillas Auseinandersetzung mit dem Maimonidischen Konzept der Prophetie . . . . . . . . .  43 Michael Stolz Aufeinandertreffen. Die Wahrnehmung göttlichen Wirkens im interreligiösen Kontakt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  56 Kathrin Chlench Die Wahrnehmung göttlichen Wirkens im interreligiösen Kontakt am Beispiel des ›Parzival‹ Wolframs von Eschenbach. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  63 Robert Mohr Got vor dînen ougen – die »heidnische« Wahrnehmung heiliger Manifestationen.  77 Thomas Würtz Ibn Ḥazm – Göttliche Rechtleitung und menschliche Verfälschung. . . . . . . . . . . .  91

VI

Inhalt

Adams Beitrag Eva von Contzen Heiligkeit als narratives Konstrukt: Die kommunikative Situation in ausgewählten Heiligenviten des englischen Mittelalters . . . . . . . . . . . . . . . . .  113 Martin Clauss Der Krieg als Mittel und Thema der Kommunikation: Die narrative Funktion des Gottesurteils . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  128 Melanie Panse Der Wundarzt. Kommunizieren und Handeln mit Gott . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  142 Ralf Schlechtweg-Jahn Der abwesende Gott. Zur laientheologischen Grundlegung der êre im ›Eckenlied‹ (E2). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  156 Friedrich Wolfzettel Die französischen Gralsromane: die Restitution der göttlichen Macht. . . . . . . . .  169

Rituelle Vollzüge Matthias Vollmer Das Weltgerichtsportal als Ort der Selbsterforschung: Sünde, Krankheit und Buße als Elemente religiöser Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  185 Nadine Hufnagel wande ez ist der gotes slac über mich ergangen – Einige Überlegungen zum christlichen Deutungshorizont der ›Klage‹. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  202 Wendelin Knoch »Bitte für mich« – Zur Bedeutung der Fürbitte im Hochmittelalter. . . . . . . . . . .  215 Victoria Zimmerl-Panagl »Mit Herz und Mund dem Herren singen und dienen.« Fragen zu den Hymnen des Sedulius in mittelalterlichen Hymnaren. . . . . . . . . .  230 Hanns Peter Neuheuser Gotteswort und Menschensprache. Zur rituellen Präsentation des Bibeltextes in der dichotomen Wortliturgie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  256 Mariele Nientied Die operative Funktion der Sprache in der Sakramentenlehre des Thomas von Aquin. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  274

Inhalt

VII

Doris Bulach Handeln zu Ehren von Gott. Präsenz und Sichtbarkeit von Handwerksämtern in Stadtkirchen des südwestlichen Ostseeraumes. . . . . . . . . .  288 Bernward Schmidt Synodus in Spiritu Sancto legitime congregata. Zur Liturgie konziliarer Sessionen im Spätmittelalter. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  298

Reflexionen Claudia Brinker-von der Heyde Der implizite Autor als (Re)creator: Legimitations- und Erzählstrategien im Schöpfungsbericht der ›Wiener Genesis‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  313 Kurt Smolak Affekt und Vernunft. Überlegungen zu Intertextualität und Tiefenstruktur des ›Proslogion‹ Anselms von Canterbury/Aosta. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  326 Rüdiger Schnell Göttliches Handeln und menschliches Spekulieren. Erzähler, Protagonist und Rezipient in Hartmanns ›Erec‹, Wolframs ›Parzival‹ und Gottfrieds ›Tristan‹ .  340 Susanne Knaeble sîn muoter underschiet im gar / daz vinster unt daz lieht gevar – Herzeloydes Gottesbild in Wolframs von Eschenbach ›Parzival‹. . . . . . . . . . . . .  368 Edit Anna Lukács Der menschliche Wille als Interaktionsbereich zwischen Gott und Mensch bei Thomas Bradwardine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  380 Reinhold F. Glei Mit zweierlei Maß: Methodische Grundzüge der Islampolemik bei Juan de Torquemada OP (1388–1468). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  390 Helmut Hundsbichler Die Semiotik des »Narren« im Dienst der religiösen Didaxe. . . . . . . . . . . . . . . .  401

Anhang Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ortsregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sachregister. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Einleitung Thomas Honegger, Gerlinde Huber-Rebenich, Volker Leppin

»Gottes

Werk und Adams Beitrag«: Unter diesem Thema stand das 14. Symposium des Mediävistenverbandes, das vom 27.–31. März 2011 in Jena stattfand. Aus den zahlreichen Vorträgen liegt nun eine Auswahl vor, die einen Eindruck von der Vielfalt der Perspektiven vermitteln kann, die die lose literarische Anspielung eröffnen mag. Was aus theologischer Sicht leicht mit dem Verdikt »Synergismus«, einer unziemlichen Mitwirkung des Menschen am göttlichen Tun, belegt werden kann – der Gedanke eines menschlichen Beitrags zu Gottes Werk – führt tatsächlich in das vielfältige Beziehungsgeflecht zwischen Gott und Mensch im Mittelalter hinein. Ein besonderer Glücksfall für die Tagung war es, dass der langjährige Präsident des Mediävistenverbandes Hans-Werner Goetz in seiner Erinnerungsrede an den Gründer des Verbandes, Karl Heinz Göller, aus der Fülle seiner aktuellen Forschungen schöpfen konnte: Er zeichnet, vor allem für das frühe Mittelalter, das Panorama mittelalterlicher Vorstellungswelten nach, die mit göttlichem Eingreifen, menschlicher Antwort und vielfältigen Dimensionen der Interaktion zwischen Dort und Hier rechnen konnte. In zahlreichen Beiträgen zu den Sektionen wurden die Fäden aufgegriffen und weitergesponnen. Sie werden der Öffentlichkeit im Folgenden in der Regel nicht in der Gruppierung vorgelegt, in der sie auf dem Symposium vorgetragen wurden, sondern nach Sachgruppen gegliedert, die sich aus den Schwerpunkten der jeweiligen Arbeiten ergeben. Diese behandeln erstens Gottes Werk, zweitens Adams Beitrag, drittens rituelle Vollzüge und viertens Reflexionen. Dass dabei die christliche Tradition überwiegt, spiegelt die prägende Ausrichtung der deutschsprachigen Mediävistik wider – dass zugleich auch Beiträge den Islam und das Judentum ansprechen, zeigt aber zugleich eine interreligiöse Öffnung, die im Rahmen einer derzeit vom Mediävistenverband bewusst verfolgten Weitung der Perspektiven steht und sich auch im 15. Symposium in Heidelberg im März 2013 niederschlug, das sich thematisch den drei abrahamitischen Religionen zuwandte. Gerade in diesem Horizont ist es bemerkenswert, dass die Beiträge, die sich mit ›Gottes Werk‹ befassen, in der Regel zugleich dessen Strittigkeit in den Blick nehmen. Darin zeigt sich gewiss auch die moderne Heuristik, die in der Erfahrung der Vielfalt und potenziellen Konkurrenz von Religionen und Weltanschauungen in der Moderne gelernt hat, mit religiösen Wahrheitsansprüchen kritisch umzugehen. Dass sich

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Thomas Honegger, Gerlinde Huber-Rebenich, Volker Leppin

dies aber nicht allein der ex-post-Wahrnehmung verdankt, zeigen die einzelnen Beiträge, wenn sich auch die Kategorien, nach denen unterschieden wird, gegebenenfalls von modernen Zugriffsweisen unterscheiden. So zeigt Nadine Metzger, dass schon in der frühbyzantinischen Gesellschaft Mediziner die gängige Auffassung vom dämonischen Ursprung bestimmter Krankheiten hinterfragten. Auch Prophetie wurde keineswegs selbstverständlich hingenommen, sondern bedurfte, wie Annett Martini anhand der Auseinandersetzung Josef Gikatillas mit Maimonides zeigt, der Prüfung, ob es sich hier um eine allen Menschen zukommende Gabe handle oder eine solche, über die nur besonders begabte Menschen verfügten. Die interreligiöse Dimension wird auch in einer Gruppe von Aufsätzen angesprochen, welche auf Vorträge in zwei Sektionen zurückgehen, die Michael Stolz geplant und im vorliegenden Band mit einer eigenen Einleitung zur »Wahrnehmung göttlichen Wirkens im interreligiösen Kontakt« versehen hat. Die Einzeluntersuchungen betreffen dabei literarische Produkte wie den ›Parzival‹ (Kathrin Chlench) ebenso wie einen gelehrten Traktat: Thomas Würtz stellt die ›Abhandlung über die Religionen, ketzerische Richtungen und Glaubensrichtungen‹ des Ibn Ḥazm vor, die mit frappierender Schärfe die jüdischen und christlichen Überlieferungen kritisiert. Die umgekehrte Perspektive von Christen auf nichtchristliche, in diesem Falle pagane Phänomene stellt Robert Mohr anhand zweier Dichtungen aus dem Deutschordenskontext in den Mittelpunkt. In dieser Untersuchung steht die ›Martina‹ Hugos von Langenstein im Kontext einer Hagiographisierung, die in der Sektion ›Adams Beitrag‹ Eva von Contzen ausdrücklich zum Thema einer Analyse von Erzählstrukturen macht, welche den Text in das Spannungsfeld aus »göttlicher Folie« und realer, erzählender sowie erzählter Welt einordnet. Solche Analysen sind Angebot und Anfrage zugleich an die traditionell mit Religion befassten Fächer – der Mediävistenverband kann hier ein Forum darstellen, unterschiedliche Deutungskulturen in ein konstruktives Gespräch miteinander zu bringen. Dies gilt umso mehr, als auch Martin Clauss eine solche narrative Wendung eines herkömmlich eher religions-, rechts- oder sozialgeschichtlich betrachteten Themas vornimmt: die Frage des Gottesurteils, das er in seiner Funktion für literarische Zusammenhänge untersucht. Für die Forschung zu religiösen Fragen ungewohnte Quellen erschließt Melanie Panse mit ihrer Untersuchung zum ›Feldbuch der Wundarznei‹ des Straßburger Wundarztes Hans von Gersdorff, in dem sie das Ineinanderfließen von paganen Heilungsvorstellungen und christlichen Konzepten aus der biblischen wie hagiographischen Tradition aufzeigen kann. Auch in diesen Zusammenhängen bleibt das göttliche Handeln nicht nur affirmativ präsent, sondern auch strittig. So hat es Ralf Schlechtweg-Jahn im ›Eckenlied‹ sogar mit der Gottesabsage durch den Titelhelden zu tun, die nun freilich nicht nach religiösen Kategorien behandelt und bestraft wird, sondern durch den Gedanken völligen Ehrverlusts in die höfische Vorstellungswelt integriert wird. Dies weist auf die Schwierigkeit hin, weltliche

Einleitung

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Handlungszusammenhänge von transzendenten zu lösen. Ihr Ineinander zeigt Friedrich Wolfzettel auf, wenn er die Suche nach einer angemessenen literarischen Gattung für die Gralssuche zugleich als Suche nach Gott darstellt. Der primäre Ort für die Gottesbegegnung ist allerdings im Mittelalter offenkundig der Bereich der ›rituellen Vollzüge‹, denen sich entsprechend mehrere Beiträge widmen. Ein zentrales Medium hierfür waren Bußtheologie und -praxis. Matthias Vollmer zeigt im Spiegel von Bußbüchern und künstlerischen Darstellungen, wie sich vom Frühen Mittelalter bis zu den Bestimmungen des Vierten Lateranums über die Pflichtbeichte immer mehr eine Verinnerlichung des Bußverständnisses herausgestellt hat. Dass ein solcher religiöser Horizont auch die literarischen Äußerungen von Klage prägt und formt, macht Nadine Hufnagel anhand des ›Nibelungenliedes‹ deutlich. Sie spricht damit eine mögliche Form christlicher Rede zu Gott an, wie sie auch bei Wendelin Knoch erscheint, hier freilich vornehmlich in Gestalt der Wendung an die Helfer und Vermittler. Damit wird seine Untersuchung zur Fürbitte auch als ein Beitrag zum Verständnis der Heiligenverehrung im Mittelalter. Nicht nur Not und Klage waren Anlass zum Gebet – dies zeigt Victoria Zimmerl-Panagl anhand von Hymnaren; die Nachzeichnen der Wirkung des Sedulius lässt hier auch erkennen, dass ein gewichtiger Bereich spätantiker und mittelalterlicher Literatur unzureichend erfasst wäre, wenn man nicht auch die Performanz im liturgischen Kontext beachtet. Auch diese Performanz ist in sich ein Ort der Begegnung von Gott und Menschen. Dementsprechend widmet sich Hanns Peter Neuheuser in seinem Beitrag der Frage nach dem Verhältnis von Gottes- und Menschensprache in der Wortliturgie. Unterstrichen wird die so angeschlagene Perspektive durch den Blick, den Mariele Nientied auf die Rolle der Sprache in der Sakramentenlehre des Thomas von Aquin wirft: Auch hier wird erkennbar, dass der performative Akt – und damit die Beteiligung des Menschen am göttlichen Geschehen – für die Gesamtkonstitution der Heilsvermittlung entscheidend ist. Liturgie findet dabei nicht nur in der sonntäglichen Eucharistiefeier statt. Bernward Schmidt weist ihre Bedeutung für ein modernes Verständnis konziliarer Versammlungen im späten Mittelalter nach und gibt so der berühmten Konstanzer Berufung auf den Heiligen Geist in ›Haec Sancta‹ ein eigenes Profil. Wie weit die rituelle Besinnung auf das Gottesverhältnis auch den städtischen Raum prägte, zeigt anhand von Handwerksämtern in Stadtkirchen des Ostseeraums Doris Bulach auf. Die lebensweltlichen Erfahrungen im Umgang mit der Gottesbegegnung wurden in vielfältigen ›Reflexionen‹ betrachtet. Dies ist naheliegenderweise ein Bereich, der vorwiegend theologie- und philosophiehistorischer Betrachtung zugänglich ist. Auf dem Jenaer Kongress mit der für den Mediävistenverband charakteristischen interdisziplinären Mischung wurden aber auch literaturwissenschaftliche Zugangsweisen präsentiert. So zeichnet Claudia Brinker-von der Heyde nach, wie der Autor der ›Wiener Genesis‹ sich selbst als Nachschöpfer Gottes exponiert. Auch ein berühmter Traktat, das ›Proslogion‹ Anselms von Canterbury wird von Kurt Smolak einer lite-

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Thomas Honegger, Gerlinde Huber-Rebenich, Volker Leppin

rarischen Analyse unterzogen, die vor allem auf die Durchmischung von Gebets- und Argumentationspassagen abhebt. Dass auch nach Vorstellungen mittelalterlicher Autoren nicht immer Gott lenkt und der Mensch denkt, macht Rüdiger Schnells Beitrag über »Göttliches Handeln und menschliches Spekulieren« deutlich, der zum einen zeigt, dass man im höfischen Roman nicht immer ein für alle Figuren konsistentes Gottesbild voraussetzen darf, und zum anderen das sorgfältige Austarieren von göttlicher und menschlicher Verantwortlichkeit nachzeichnet. Dem Gottesbild einer der hier handelnden Figuren speziell geht Susanne Knaeble mit der Untersuchung von Herzeloydes Gottesbild im ›Parzival‹ nach – und bestätigt dabei Schnells Beobachtung, dass der Erzähler keineswegs ein bestimmtes Gottesbild definieren will, sondern durch seine Figuren unterschiedliche Perspektiven aufscheinen lässt. Das Thema göttlicher und menschlicher Verantwortlichkeit kann auch in ganz anderer als der literarischen Form behandelt werden: Edit Anna Lukács stellt die Willenslehre der umfangreichen Schrift ›De causa Dei‹ vor, in der Thomas Bradwardine die Prädestinationslehre Augustins wiederentdeckte und entsprechend zu einer hochkomplexen Bestimmung des Verhältnisses von göttlicher und menschlicher Tätigkeit kommen musste. Der Band endet mit eben jener Konfrontation divergierender Weltanschauungen, mit der er auch einsetzt: Reinhold Glei weist auf, wie Juan de Torquemada einerseits historische Relativierungen auf den Islam anwenden konnte – andererseits aber von der christlichen biblischen Grundlage fernhielt: zweierlei Maß, das zu einer problematischen Selbststabilisierung des Christentums führte. Ausgehend von der Figur des insipiens bei Anselm von Canterbury kommt Helmut Hundsbichler zu einem weiteren kulturwissenschaftlichen Verständnis des »Narren« als literarischer Gestalt, die die alltagsweltliche Entfremdung des Menschen von Gott verdeutlicht. Ein solcher umfangreicher Sammelband muss sich auch nach seinem Ertrag fragen lassen. Er dürfte in zweierlei liegen: im Aufweis der Vielfalt der Phänomene und in der Verschränkung methodischer Perspektiven. Klassische Zugänge auf das Phänomen der Religiosität im Mittelalter tendieren dazu, allein den engeren Bereich ausgeübter und institutionalisierter Religion in den Mittelpunkt zu stellen. Die dem Jenaer Symposium zugrunde liegende offene Frage nach der Interaktion zwischen Gott und Mensch hat die Augen dafür geöffnet, dass sich Fächer, von denen man es nicht erwartet, wenn man sich nur innerhalb der eigenen disziplinären Grenzen bewegt, mit denselben Themen beschäftigen, freilich unter den Fragestellungen und mit der Methodik der jeweiligen Fachkultur: Insbesondere Literatur und Medizin stellen Lebensbereiche dar, in denen auf eigene Weise über Gottes Wirksamkeit in der Welt und unter den Menschen nachgedacht wurde – und deren Untersuchung entsprechend die traditionellen Wahrnehmungsmuster erweitern und erheblich differenzieren kann. Damit verbindet sich eine Ausweitung des methodischen Spektrums. Die Diskussionen auf dem Symposium haben anregende Spannungen insbesondere zwischen theologischen und philosophischen Deutungen auf der einen Seite und literaturwissenschaftlichen

Einleitung

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Zugängen auf der anderen Seite aufgezeigt. Sie können und sollen in einem solchen Band nicht aufgelöst werden; dieser soll vielmehr dazu dienen, dieses Gespräch fortzusetzen und so die Vielfalt der mittelalterlichen Welt zu erschließen.

Perspektiven

Die mittelalterlichen Vorstellungen vom Sündenfall als Interaktion zwischen Gott, dem Teufel und den Menschen1 Hans-Werner Goetz While the biblical report on the Fall is well-known, it might be interesting to analyse how medieval authors perceived and interpreted this ‘event’ and to ask how important it was in their theological and historical concepts, particularly with regard to the relationship between God and Man. This paper gives some examples, first, on the fall of the angels, its reasons and motives, when and where it ‘occurred’ (time and place) and its consequences and punishment, and, second, the Fall of Man, regarding its starting point in paradise, its reasons and character and its consequences. The examples from various authors from the 5th to the 12th centuries display coherent and systematic conceptions, which exceed the biblical model in many aspects and try to explain the details and links between the individual features. At the same time, the Fall explains the imperfection of life on earth as well as the specific character of history and its ‘destination’ (salvation), thus creating a close link between Creation, Fall and Redemption. Finally, and in the context of this volume, it provides insight into the ‘triangular’ relationship between God and Man (and the Devil). Vernacular interpretations (like the Old English ‘Genesis B’) are free to give an even more independent interpretation while they retain many parallels with theological texts. In sum, the theme offers a good example for the coherence of medieval conceptions.

Der Bitte, im Rahmen einer Gedenkveranstaltung für den Gründer des Mediävistenverbandes einen Fachvortrag zu halten, bin ich (quamvis indignus) als einer der Nachfolger Karl Heinz Göllers sehr gern nachgekommen. Das Thema ist dabei dem Tagungskonzept und meinem derzeitigen Forschungsprojekt über die religiösen Vorstellungswelten des früheren Mittelalters geschuldet, verbindet sich im Rahmen der Veranstaltung aber möglicherweise gleich mit drei lapsus (nicht hominis, sondern ora­ toris), für die ich um Nachsicht bitte: Im Mittelalter hätte man erstens den Gründer eines Klosters, eines Ordens oder eines Verbandes vermutlich heilig gesprochen.   Im Rahmen des Jenaer Symposiums wurde der diesem Beitrag zugrunde liegende Vortrag im Rahmen der Gedenkveranstaltung für Karl Heinz Göller gehalten. Anspielungen darauf wurden in Absprache mit den Herausgebern beibehalten. Insgesamt können hier nur einige Facetten der vielschichtigen Diskussion über den Sündenfall ausgebreitet werden. Ausführlicher wird das Thema in meiner Monographie, Gott und die Welt. Religiöse Vorstellungen des frühen und hohen Mittelalters. Teil I, Band 2: II. Die materielle Schöpfung. Kosmos und Welt. III. Die Welt als Heilsgeschehen. (Orbis mediaevalis. Vorstellungswelten des Mittelalters 13/2), Berlin 2012, behandelt werden. 1

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Hans-Werner Goetz

Wir Mediävisten müssen uns mit einer akademischen Gedenkfeier begnügen. Mein Thema berührt sich zweitens nur am Rande mit den Forschungen Karl Heinz Göllers. Ich bin aber davon überzeugt, dass das ganz im Sinne unseres Gründers ist, dem es, soweit ich ihn noch gekannt habe, stets um die Sache, die Mediävistik, und nie um eine Selbststilisierung ging. Wenn ich in der Gedenkstunde für einen Heiligen drittens nun ausgerechnet über den Sündenfall gesprochen habe, dann muss ich herzlich bitten, das nicht in irgendeine Verbindung mit dem Verbandsgründer zu setzen. Allenfalls insofern, als der Teufel im Mittelalter immer wieder gerade auch Heilige versucht hat. Mit dem ›Sündenfall‹ ist natürlich jener allseits bekannte, biblische Apfelbiss gemeint, der den Menschen, von der teuflischen Schlange verführt, statt ihnen, wie von dieser verheißen, gottgleiches Wissen zu geben, die Freuden des Paradieses genommen und sie auf eine ethisch und ökologisch kontaminierte, von Arbeit und Geburtsqualen durchtränkte Erde exiliert hat und unter dessen Folgen wir alle bis heute leiden dürfen. Das darf hier also als bekannt vorausgesetzt werden. Der biblische Bericht über den Sündenfall war natürlich auch im Mittelalter bestens bekannt. Wer leidet schon gern am irdischen Dasein, ohne die Gründe dafür zu erkunden? Im theologischen und religiösen Weltbild des Mittelalters kommt ihm tatsächlich eine zentrale Bedeutung zu: Vor dem Hintergrund einer seligen Erschaffung des Menschen und eines paradiesischen Lebens erklärt der Sündenfall schließlich alle Unzulänglichkeiten des irdischen Daseins, einschließlich der irdischen Geschichte. Philosophisch und theologisch gesehen ist alle Geschichte »irdisch«, da sie Zeit voraussetzt; eine unveränderliche Ewigkeit ist »geschichtslos«. Der Sündenfall schafft also erst die Geschichte und macht sie zur Heilsgeschichte: Zwischen Schöpfung und Erlösung ist der Fall für eine Unterbrechung der ursprünglichen Bestimmung verantwortlich. Im Rahmen des Jenaer Tagungsthemas erfassen wir damit gleichzeitig die (mittelalterlichen) Wurzeln von »Adams Werk«. Angesichts solcher Bedeutung lohnt sich jedenfalls die hier zu verfolgende Frage nach den mittelalterlichen Vorstellungen vom Sündenfall: wie man den Fall reflektiert, eingeordnet und gedeutet hat und welche Bedeutung ihm im Rahmen des religiösen und theologisch-heilsgeschichtlichen Denkens und der Gott-Mensch-Beziehungen zukommt. Diese mediävistische Frage eines His­ torikers misst sich zwangsläufig an der zeitgemäßen, mittelalterlichen und nicht an der christlich-biblischen Lehre. Methodisch gesehen ist mein Beitrag vorstellungsgeschichtlich ganz auf die Wahrnehmung der Zeitgenossen ausgerichtet, die folglich vielfach selbst zu Wort kommen müssen, auch wenn sich weite Passagen dadurch zu einer Wiedergabe der Gedankenführung und der Überzeugungen der mittelalterlichen Autoren verharmlosen und sich nicht zu theologisch oder philosophisch ansprechenden Höhen aufschwingen können.

Die mittelalterlichen Vorstellungen vom Sündenfall

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1. Theologische Deutung A. Engelfall Ausgangspunkt und Voraussetzung für den Sündenfall ist der Aufruhr im Himmel, der mit dem Engelfall endete: Lucifer, der oberste aller Engel, empörte sich gegen Gott und wurde mit seinen Anhängern zur Strafe aus dem Himmel verbannt. »Von der Vorzüglichkeit Lucifers vor dem Fall und seinem Niedergang nach dem Fall«, so betitelt Hildebert von Le Mans ein Kapitel seines ›theologischen Traktats‹.2 Dieser Engelfall wird in der Genesis nicht erwähnt und ist aus theologischer Perspektive apokryph,3 wurde im Mittelalter aber nirgends bezweifelt. Zu erklären war vielmehr zum einen, weshalb die Bibel ihn, im Gegensatz zum Sündenfall des Menschen, verschweigt. Der Mensch, so antwortet Remigius von Auxerre im 9. Jahrhundert, konnte die Gnade wiedererlangen, der gefallene Engel hingegen nicht, weil er ohne Zwang aus freiem Entschluss sündigte.4 Moses (als Verfasser der Genesis) schweige darüber, so erläutert entsprechend Honorius Augustodunensis im 12. Jahrhundert, weil seine Absicht die Restauration der Menschen durch Christus war.5 Damit wird eine christliche Auslegung des Alten Testaments als einzig richtige Deutung vorausgesetzt. Zum andern war der Engelfall in den Schöpfungsbericht zu integrieren. Die Grundlage dafür schuf Augustinus, der die – in der Bibel ebenfalls verschwiegene – Schöpfung der Engel bekanntlich in dem Satz »Es werde Licht« (Fiat lux) realisiert sah und nun, ganz analog, den Engelfall in den Worten »Und Gott schied zwischen Licht und Finsternis« wiederfand.6 Wie stellte man sich diesen Fall nun konkret vor? 2   Hildebert von Le Mans, Tractatus theologicus 20: De excellentia Luciferi ante lapsum, et ruina post lapsum, hrsg. v. Jacques Paul Migne (Patrologia Latina [fortan: Migne PL] 171), Sp. 1110f.: Ante eos qui ceciderunt unus fuit excellentior omnibus aliis, et non solum his qui ceciderunt, sed et omnibus eum fuisse excellentiorem videntur auctoritates velle [...]. Illorum comparatione cunctis clarior fuit, unde appellatus est Lucifer, qui non unus ordo, sed unus spiritus putandus est, qui ut dicit Isidorus, postquam creatus est absque ullo intervallo, profunditatem suae scientiae perpendens, in suum Creatorem super­ biit. [...] et quia contra Creatorem suum in tantum superbivit, deiectus est in istum caliginosum aerem cum omnibus illis qui ei consenserunt. 3   Er geht unter anderem auf das apokryphe Buch Henoch zurück, wird dort jedoch ganz anders geschildert. 4   Remigius von Auxerre, Expositio super Genesim 3, 7, hrsg. v. Burton Van Name Edwards (Corpus Christianorum. Continuatio mediaevalis [fortan: CCM] 136), Turnhout 1999, S. 56f.: Praeterea quae­ ritur quare hominis peccatum in Genesi commemoratur, et angeli ruina silentio tegitur? Nimirum quia homo erat reuocandus ad ueniam, non autem et angelus. Et hoc quare? Profecto quia angelus non ne­ cessitate sed uoluntate peccauit, quoniam non ferebat carnis fragilitatem quae eum ad peccandum com­ pelleret. Sed et temptator ei defuit, quia nullo suadente peccauit, atque ideo peccatum illius insanabile est, quia ipse sui sceleris inuentor extitit. 5   Honorius, Hexaemeron 1 (PL 172), Sp. 253 BC. 6   So Augustin, De civitate Dei 11, 19, hrsg. v. Bernhard Dombart und Alfons Kalb (Corpus Christi-

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Hans-Werner Goetz

a. Die Ursachen des Falls und die Motive des Teufels Da der Teufel nach katholischer Auffassung (und hier wieder nach Augustin) nicht in Bosheit, sondern selig erschaffen war7 – der gute Gott kann nur Gutes schaffen –, ist der Engelfall nicht schon in der Schöpfung selbst (oder gar in manichäischen Vorstellungen eines doppelten Ursprungsprinzips) begründet, sondern von Lucifer selbst eigenmächtig zu verantworten. In seiner 1085/90 entstandenen, als Lehrer-Schüler-Dialog konzipierten Schrift ›De casu diaboli‹, sucht der »Vater der Scholastik«, der Mönch Anselm von Canterbury, den Engelfall auf rational-philosophischem Wege zu erklären. Er stellt zunächst klar, dass auch die Engel geschaffen sind, weil es außer Gott nichts gibt, das nicht geschaffen ist. Folglich haben alle Engel von Gott Beharrlichkeit (perseverantia) empfangen. Der Teufel habe diese Gabe jedoch nicht angenommen, weil er sie nicht annehmen wollte.8 Dass der Teufel damit sündigte, steht außer Frage, sonst hätte Gott ihn nicht verdammt. Die Sünde aber bestand darin, dass er haben wollte, was er nicht besaß, so dass er losließ, was er hatte, indem er nämlich aus eigenem, freien Willen heraus die Gerechtigkeit verließ und inordinate – sozusagen gegen die göttliche Ordnung – Gott gleich sein wollte. Das aber war unmöglich, weil es nichts gibt, das Gott gleich sein kann.9 Schon beim Engelfall ist für Anselm also der (freie) Wille, das liberum arbitrium, eines der Hauptprobleme des Mittelalters, die entscheidende Kraft, die Gerechtigkeit der entscheidende Inhalt. Die guten Engel hätten zwar auch sündigen können, hätten aber kein Gut wollen können, dessen sie sich nicht bereits erfreut hätten.10 War der freie Wille die vorauszusetzende Fähigkeit zur Sünde, so waren die konkreten Motive Satans nach Augustin Hochmut und Neid, wobei der Teufel nach Anselm allerdings nicht auf den nach Gottes Ebenbild erschaffenen Menschen neidisch sein konnte, weil der Mensch nämlich noch gar nicht erschaffen war, sondern der Neid erst aus dem Hochmut als dem primären Motiv erwuchs.11 Den mittelalterlichen Theologen ging es bei dem Engelfall ohnehin weniger um den konkreten Vorgang als vielmehr um die Frage, wie denn das Böse (Satan) möglich war, wenn Gott doch alle Engel gut erschaffen hatte. Folglich schließt Anselm anorum. Series Latina [fortan: CCL] 48), Turnhout 1955; (nach der Ausgabe von Dombart/Kalb [Bibliotheca Teubneriana], Leipzig 1928), S. 337f. 7   Augustin, De Genesi ad litteram 11, 20, hrsg. v. Josef Zycha (Corpus scriptorum ecclesiasticorum latinorum [fortan: CSEL] 28), Wien 1894, S. 353; ebd., 11, 17, S. 349. 8   Anselm von Canterbury, De casu diaboli 1–3, hrsg. v. Franciscus Salesius Schmitt (S. Anselmi Cantuariensis archiepiscopi Opera omnia, Bd. 2), Seckau 1938, ND Stuttgart-Bad Cannstatt 1968, S. 233– 240; Freiheitsschriften (De libertate arbitrii; De casu diaboli; De concordia praescientiae et praedestinationis et gratiae Dei cum libro arbitrio), hrsg. v. Hansjürgen Verweyen (Fontes christiani 13), Freiburg i. Br. u. a. 1994, S. 128–146. 9   Ebd., c. 4, hrsg. v. Schmitt, S. 241; hrsg. v. Verweyen, S. 150. 10   Ebd., c. 5f., hrsg. v. Schmitt, S. 242f.; hrsg. v. Verweyen, S. 154–156. 11   Augustin, De Genesi ad litteram 11, 14 (Anm. 7), S. 346.

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eine lange Diskussion über die Natur des Bösen an, das nicht ein tatsächliches, sondern nur ein scheinbares (quasi) Sein besaß: ›nichts‹ kann nicht ›etwas‹ sein, es ist – mit Augustin – vielmehr der Mangel an etwas und somit der Mangel an Sein. Entsprechend ist das Böse der Mangel an Gutem.12 Da es Anselm (wie auch seinen Zeitgenossen) aber unmöglich erscheint, dass jemand die Glückseligkeit nicht erstrebt – eine der vielen unbewussten Prämissen im mittelalterlichen Denksystem –, wollte der Teufel offensichtlich noch mehr: Er wollte sie im höchsten Grade. Also wollte er Gott gleich sein.13 Er wollte so prächtig sein wie Gott, meint Hildegard von Bingen in ihrer Visionsschrift ›Scivias‹.14 In seinem ›Inevitabile‹ über den freien Willen betont der (Anselm nahe stehende) Schottenmönch Honorius Augustodunensis, dass Lucifer sich ohne Zwang und aus freiem Entschluss über Gott erhob, indem er die Gerechtigkeit verließ und Gott gleich sein wollte.15 In seinem ›Elucidarium‹, einer der am weitesten verbreiteten, später in mehrere Volkssprachen übersetzten Schriften des Mittelalters, heißt es, der Teufel habe Gott gar übertreffen wollen und mit diesem Ansinnen die anderen tyrannisiert. Er wollte Gott gleich sein, war ihm aber entgegengesetzt. »Worin war er Gott entgegengesetzt?« fragt der Schüler und erhält die Antwort: Er wollte sich gegen Gottes Willen einen besseren Stand aneignen als den, den Gott ihm gegeben hatte, und tyrannisch über die anderen herrschen.16

Abwenden von der Wahrheit, Hochmut und der Wunsch nach Gottgleichheit waren auch – die Vorstellungen präzise zusammenfassend – für Petrus Lombardus die teuflischen Motive.17 Anders als Augustin hält es der Lombarde allerdings auch für möglich, dass der Neid erst aus der Schöpfung des Menschen resultierte.18 12   Anselm von Canterbury, De casu diaboli 7–11, hrsg. v. Schmitt, S. 244–251; hrsg. v. Verweyen (Anm. 8), S. 158–178. 13   Ebd., 13, hrsg. v. Schmitt, S. 255–262; hrsg. v. Verweyen, S. 188–194. 14   Hildegard von Bingen, Scivias 1, 2, 2, hrsg. v. Adelgund Fuhrkötter und Angela Carlevaris (CCM 43), Turnhout 1978, S. 15. 15   Honorius, Inevitabile (Migne PL 172), Sp. 1203 D: Angelus nulla praedestinatione, nulla necessi­ tate trahente, sed sola libera voluntate, iustitiam deseruit, dum Deo similis esse voluit. 16   Ders., Elucidarium 1, 32f., hrsg. v. Yves Lefèvre, Paris 1954, S. 367: D. In quo fuit Deo contrarius?– M. Cum videret se omnes angelorum ordines gloria et decore excellere, spretis omnibus, voluit Deo ae­ qualis, immo maior existere. D. Quomodo aequalis vel maior?–M. Meliorem statum, quam ei Deus de­ disset, voluit, Deo invito, arripere et aliis per tyrannidem imperare. 17   Petrus Lombardus, Sententiae lib. 2, dist. 3, c. 4, par. 9/11, hrsg. v. Ignatius Brady (Spicilegium Bonaventurianum 4–5), Grottaferrata 1971–1981, S. 347: Factus ergo prius, statim a veritate se aver­ tit propria potestate delectatus, beataeque vitae dulcedinem non gustavit, quam non acceptam fastidivit, sed nolendo accipere amisit. [...] Homicida erat ab initio vel mendax, id est statim post initium, quando sibi Dei aequalitatem promisit et se ipsum occidit, qui homo dicitur in Evangelio. Nec in veritate stetit, quia in ea non fuit, sed ab initio temporis, id est statim post initium temporis, apostatavit. 18   Ebd., c. 4, 11: Potest etiam et sic accipi illud: Ab initio homicida fuit vel mendax, id est ex quo homo conditus fuit, quem per invidiam in mortem praecipitavit et fallaciter seduxit.

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Während die Mehrheit der Engel schwieg und ihrem Schöpfer gehorsam blieb, so Hugo von Folieto, brach der Teufel in seinem Hochmut das Schweigen, indem er (mit Jesaja 14, 13f.) sprach: »Stelle meinen Thron im Norden auf, und ich werde dem Höchsten gleich sein.« (Und der Regularkanoniker Hugo vergleicht das Verhalten des Teufels im Himmel kritisch mit dem mancher Mönche im Kloster.19) Wer aber ist mit dem Teufel abgefallen? So lautet eine andere Frage, auf die Haymo von Auxerre antwortet: Alle, die den Teufel anbeteten, sind durch Übereinstimmung in dieser schlechten Handlungsweise von Gott abgefallen.20 Alle, die dem Teufel zustimmten, meint auch Honorius, sündigten mit ihm, indem sie sich Macht über die anderen erhofften, wenn der Teufel Gott würde.21 Wie viele Engel aber gefallen sind und wie viele im Himmel verblieben, ist eine im Mittelalter immer wieder diskutierte (hing davon doch unmittelbar die Zahl der erlösten Menschen ab, welche die gefallenen Engel ersetzen sollten), letztlich jedoch offene Frage. Nach einigen, so Honorius, ist die Hälfte der Engel, nach anderen ein Drittel, nach anderen nur ein Zehntel abgefallen.22

b. Zeitpunkt und Ort des Falls Schon für Augustin (und noch für Petrus Lombardus) bestand der Fall von Anfang an,23 auch wenn der Teufel die Seligkeit gekannt hat. »Man glaubt, dass der Teufel vom Himmel fiel, noch bevor der Mensch erschaffen wurde«, meint Isidor von Se­ villa.24 »Kaum war er erschaffen, wurde er überheblich und fiel in seiner Überheblich-

19   Hugo von Folieto, De claustro animae 4, 36 (Migne PL 176), Sp. 1175 AB: Multitudo siquidem angelorum ante casum siluit, quandiu voluntati sui Creatoris humiliter obedivit. Sed diabolus silentium rupit, locutus est superbiam, et in haec verba prorupit: ›Ponam sedem meam ad aquilonem, et ero si­ milis Altissimo‹. Hoc autem silentium in coelo quasi media hora permansisse dicitur, quia non diu post creationem suam illud diabolus tenuisse perhibetur. Similiter sicut Lucifer in coelo, sic quidam fratres se habent in materiali claustro. 20   Haymo von Auxerre, Homiliae de tempore. Homilia 28 (Dominica prima in quadragesima) (Migne PL 118), Sp. 200 AB: Quia vero omnis, qui diabolum adorat, prius per consensum pravae operationis a conspectu Dei cadit, voce dicitur diaboli, ›si cadens adoraveris me‹. 21   Honorius, Elucidarium 1, 38f. (Anm. 16), S. 367f.: D. Quid alii peccaverunt?–M. Ei consenserunt.– D. Qualiter?–M. Placuit eis eius extollentia; cogitantes, si Deo praevaluisset, ipsi aliis praeferrentur in potentia. 22   Honorius, Liber XII quaestionum 4f. (Migne PL 172), Sp. 1180 CD. 23   Augustin, De Genesi ad litteram 11, 16 (Anm. 7), S. 349. Vgl. Petrus Lombardus, Sententiae lib. 2, dist. 3, c. 4, par. 9f. (Anm. 17), S. 347: ›Continuo autem ut factus est cecidit, non ab eo quod accepit, sed quod acciperet si Deo subdi voluisset.‹ Ecce hic aperte declarat angelos bonos esse creatos et post creationem cecidisse. Et fuit ibi aliqua morula, licet brevissima. [...] 24   Isidor von Sevilla, Sententiae 1, 10, 7, hrsg. v. Pierre Cazier (CCL 111), Turnhout 1998, S. 31: Prius de caelo cecidisse diabolum [creditur] quam homo conderetur. Nam mox ut factus est, in super­ biam erupit, et praecipitatus de caelo est.

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keit«, schreibt auch Remigius von Auxerre.25 In der Ewigkeit zeitloser Räume gesteht Honorius – ohne dass wir seine (jedenfalls apokryphe) Quellengrundlage dafür kennen – dem Teufel nicht einmal eine Stunde ewiger Seligkeit zu26 (obwohl der Himmel in seiner Ewigkeit doch eigentlich keine Zeitmessung kennen dürfte): Satan aber, der erste Erzengel, das Symbol der Gottähnlichkeit, erschaffen voller Weisheit und in vollkommener Zierde in der Üppigkeit des himmlischen Paradieses, verblieb dort nicht einmal eine Stunde und verfiel wegen seines Hochmuts mit allen, die ihm gleichgesinnt waren, dem ewigen Exil.27

Hugo von Folieto (oder Fouilloy bei Amiens) verkürzte die teuflische Seligkeit gar auf eine halbe Stunde.28 Der Mensch hatte es nach Honorius immerhin auf sieben paradiesische Stunden gebracht (woher auch immer er das wissen mochte).29 Somit hat der Teufel, wie Peter Abaelard (und nach ihm Petrus Lombardus) betonen, zu keiner Zeit in Frieden und in Seligkeit mit den anderen Engeln gelebt.30 Sein Fall, so Petrus Lombardus, setzt aber voraus, dass er bereits im Himmel war, denn sonst hätte er nicht »fallen« können,31 eine Ansicht, die im Übrigen ein mittelalterliches Weltbild mit übereinandergeschichteten kosmischen Sphären voraussetzt und dem Himmel die höchste Sphäre zuweist.

  Remigius von Auxerre, Expositio super Genesim 1, 2 (Anm. 4), S. 6: Denique mox ut est conditus, superbiit ac superbiendo cecidit. 26   Honorius, Elucidarium 1, 36 (Anm. 16), S. 367: D. Quamdiu mansit in caelo?–M. Non plenam ho­ ram. ›In veritate‹ enim ›non stetit‹ (Joh 8, 44), quia mox ut creatus est cecidit. D. Quare non diutius ibi fuit?–M. Ne aliquid de interna dulcedine gustaret, qui tam mature sibi tantam maiestatem usurparet. 27   Honorius, Imago mundi 3, 1, hrsg. v. Valerie I. J. Flint, in: Archives d’Histoire doctrinale et littéraire du Moyen Age 57 (1982), S. 123f.: Sathahel primus archangelus signaculum similitudinis Dei conditus, plenus sapientia et perfectus decore in decliciis cęlestis paradysi non plenam horam mansit, atque ob superbiam cum universis sibi consentaneis ęternum exilium incidit. 28   Vgl. oben (Anm. 19). 29   Honorius, Imago mundi 3, 1 (Anm. 27), S. 124: Adam primus homo ad imaginem Dei in Hebron formatus, in paradyso cum Eva septem horis commoratus, ob mandati transgressionem huius mundi exilium subiit; Ders., Elucidarium 1, 90 (Anm. 16), S. 377. 30   Petrus Abaelardus, Sic et non 47 (Migne PL 178), Sp. 1415 CD: Non autem frustra putari potest, diabolum ab initio temporis cecidisse, nec fuisse ullum ante tempus, quo cum angelis sanctis pacatus vixerit, sed ab ipso primordio creaturae apostatasse, ut quod Dominus ait: ›Ille homicida fuit ab initio, et in veritate non stetit‹ (Joh 8, 44), utrumque ab initio intelligamus. ›Ab initio ergo homicida fuit, quia primum hominem occidit‹ (Joh 11, 23). Ähnlich Petrus Lombardus, Sententiae lib. 2, dist. 3, c. 4, par. 9 (Anm. 17), S. 346f. 31   Petrus Lombardus, Sententiae lib. 2, dist. 2, c. 4, par. 1f. (Anm. 17), S. 339: Iam ostensum est quando creata fuerit angelica natura; nunc attendendum est ubi facta fuerit. Testimoniis quarundam auctoritatum evidenter monstratur angelos ante casum fuisse in caelo, et inde corruisse quosdam prop­ ter superbiam, alios vero qui non peccaverunt illic perstitisse. 25

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c. Die Folgen des Falls: die Strafe Dem Fall aber folgte die Strafe: der Sturz aus dem Himmel, den Hildegard von Bingen bildhaft beschreibt: Als er in seinem Hochmut aber sein Vorhaben ausführen wollte, erhob sich der Eifer des Herrn als schwarze Feuerwolke und verstieß ihn mit seiner ganzen Gefolgschaft.32

Deshalb, so Honorius nicht minder bildreich, wurde er aus dem »Palast« vertrieben und in den »Kerker« geworfen. War er vorher der Schönste, so wurde er jetzt der Schwärzeste, aus dem Glänzendsten wurde der Dunkelste, aus dem Lobenswerten der Verfluchenswerte.33 Was aber, so fragt ihn der Schüler, geschah mit den anderen? Die Fürsten, lautet die Antwort, fielen mit dem Teufel in die Hölle, die anderen in die Dunkelheit der Luft, wo sie ihre Strafe wie in der Hölle erleiden und die Erwählten auf die Probe stellen, die Verworfenen hingegen verführen, um am Ende gemeinsam mit ihnen im ewigen Feuer zu leiden.34 Honorius wendet hier also die Elementenlehre auf den Engelfall an. Dieser Engelfall ist irreparabel und damit endgültig, weil er ohne jede Notwendigkeit aus freiem Entschluss geschah (der Menschenfall hingegen ist reparabel, weil der Mensch von einem anderen, dem Teufel, verführt wurde).35 Die im Himmel verbliebenen Engel hingegen waren ihrerseits in ihrem Beschluss so bestärkt, dass sie fortan nicht mehr sündigen konnten.36

32   Hildegard von Bingen, Scivias 1, 2, 2 (Anm. 14), S. 15: Et cum in superbiam elatus illud perfi­ cere uellet quod cogitauerat, zelus Domini se extendens in ignea nigredine illum cum omni comitatu suo deiecit. 33   Honorius, Elucidarium 1, 34 (Anm. 16), S. 367: D. Quid tunc?–M. De palatio est propulsus et in carcerem est retrusus, et sicut prius pulcherrimus, ita post factus est nigerrimus; qui prius splendidissi­ mus, postea tenebrosissimus; qui prius omni honore laudabilis, post omni horrore execrabilis. 34   Ebd., 1, 40f., S. 368: D. Quid evenit eis?–M. Cum eo proiecti sunt principes eorum in exitialem la­ cum, id est in infernum; alii hunc tenebrosum aerem, in quo tamen, ut in inferno, ardent[es luunt suppli­ cium]. D. Quare non omnes in infernum?–M. Ut electi per eos probentur et magis coronentur, reprobi autem per eos seducantur et in extremo examine cum eis aeterno incendio tradantur. Vgl. auch Hildebert von Le Mans, Tractatus theologicus 20 (Anm. 2), Sp. 1111 BC. 35   Vgl. etwa Remigius von Auxerre, Expositio super Genesim 3, 7 (Anm. 4), S. 56f. (oben Anm. 4); Honorius, Inevitabile (Anm. 15), Sp. 1203f.; Ders., Libellus VIII quaestionum 5 (Migne PL 172), Sp. 1190f.; Ders., Elucidarium 1, 114 (Anm. 16), S. 381; Hugo von St. Viktor, Summa sententiarum 3, 6 (De peccato primi hominis) (Migne PL 176), Sp. 96 D. Die abgefallenen Engel können nicht erlöst werden, so Honorius, Elucidarium 1, 43f. (Anm. 16), S. 368, weil ihnen durch die Wahl des Bösen das Gute abhanden gekommen ist; daher erreicht sie Christi Opfertod nicht. 36   So Honorius, Inevitabile (Anm. 15), Sp. 1205 C.; vgl. Hildegard von Bingen, Liber divinorum operum 3, 1, 6, hrsg. v. Albert Derolez und Peter Dronke (CCM 92), Turnhout 1996, S. 352.

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d. Hat der Teufel seinen Fall vorher gewusst? So lautet eine letzte, gern gestellte und durchweg verneinte Frage. Sie stellt auch der Schüler im ›Elucidarium‹ des Honorius und erhält die Antwort: »Mitnichten.«37 Dasselbe meint auch Anselm von Canterbury (wobei es unklar ist, ob der Engelfall vor oder nach der Schöpfung des Menschen geschah): Falls der Mensch schon geschaffen war, so konnte der Engel dennoch unmöglich wissen, dass Gott Menschenwesen an die Stelle von Engelwesen oder Engelwesen an die Stelle von Menschenwesen setzen würde, wenn es zum Fall käme. [...] Noch viel weniger konnte der Engel, wenn der Mensch noch nicht geschaffen war, annehmen, dass er geschaffen würde, um an die Stelle eines anderen Wesens zu treten.38

Ein Vorherwissen hätte außerdem verhindert, dass der Fall aus völlig freiem Willen erfolgt wäre.39 Der Teufel konnte seinen Fall nicht vorherwissen, so folgert Petrus Lombardus, weil die Weisheit die Frucht der Frömmigkeit ist.40 Ihm fehlte beides. Mit ihren Überlegungen zum Engelfall haben die mittelalterlichen Theologen dessen Natur aus damaligen Vorstellungen heraus zu klären versucht. Sie haben damit zugleich die Schöpfung des Menschen erklärt, der einst die gefallenen Engel ersetzen würde, wie auch die Grundlage für seinen Fall geschaffen.

B. Sündenfall a. Ausgangspunkt: Paradies Vor dem Sündenfall herrschten bekanntlich »paradiesische Zustände«. Der Mensch war zur Seligkeit erschaffen41 und hatte die Möglichkeit, nicht zu sterben, wenn er nicht gesündigt hätte.42 Zu diesem Zweck war er mit allen notwendigen Gaben und

  Honorius, Elucidarium 1, 35 (Anm. 16), S. 367: D. Praescivit casum suum?–M. Minime.   Anselm von Canterbury, De casu diaboli 23 (Anm. 8), hrsg. v. Schmitt, S. 270; hrsg. v. Verweyen, S. 228, 230: nec ulla ratione scire posset si homo iam factus erat, deum humanam naturam pro ange­ lica aut angelicam pro humana si caderet substituturum. [...] aut si factus nondum erat homo, multo mi­ nus putare posset ad substitutionem alterius naturae illum esse faciendum. Vgl. Hugo von St. Viktor, Summa sententiarum 2, 4 (Anm. 35), Sp. 85 BC. 39   Anselm von Canterbury, De casu diaboli 23 (Anm. 8), hrsg. v. Schmitt, S. 270; hrsg. v. Verweyen, S. 228, 230. 40   Petrus Lombardus, Sententiae lib. 2, dist. 3, c. 4, par. 9 (Anm. 17), S. 347 (nach Abaelard): Sui ergo casus praescius esse non potuit, quia sapientia fructus est pietatis. 41   Vgl. Honorius, Inevitabile (Anm. 15), Sp. 1218 A: Protoplastus ad beatitudinem creatus, in para­ diso, id est in loco voluptatis, locutus erat. 42   So Beda Venerabilis, In Genesim 1, 1, 29f., hrsg. v. Charles William Jones (CCL 118A), Turnhout 1967, S. 30: Ita quippe immortalis factus est ille, ut possit non mori si non peccaret; sin autem pecca­ ret, moreretur. 37 38

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Eigenschaften ausgestattet:43 Gott gab ihm den freien Willen, die Gerechtigkeit und die Seligkeit, damit er aus dem Willen nach Gerechtigkeit den Körper unterdrücke und aus dem Willen nach Seligkeit Gott gehorche. Hätte er die Gerechtigkeit bewahrt und Gott geehrt, so Honorius, wäre er zur höchsten Seligkeit der Engel aufgestiegen.44 Ohne den Sündenfall hätten die Menschen nämlich so lange im Paradies gelebt, bis die Zahl der gefallenen Engel durch Menschen ersetzt worden wäre.45 Das Paradies ist nach solcher Vorstellung folglich nicht bereits das ewige Leben, sondern dessen »Vorgeschmack«. Deshalb wurde der Mensch nach Hugo von St. Viktor ins Paradies gesetzt, jedoch außerhalb des Paradieses erschaffen, damit wir diese göttliche Wohltat nicht als »natürlich« begreifen, sondern seiner Gnade zuschreiben.46 Das Paradies aber musste er zuvor kennenlernen, um sowohl das (verlorene) Glück als auch die Strafe für den Sündenfall in ihrer Bedeutung ermessen zu können.47 Die Vorstellungen vom Paradies selbst, das hier seine heilsgeschichtliche Funktion erhält, bleiben gegenüber dem entscheidenden Faktor des Sündenfalls zumeist allerdings recht vage. Das paradiesische Leben erscheint dem irdischen prinzipiell zwar ähnlich (wie das Paradies nach mittelalterlicher Auffassung ja auch, ganz im Osten Asiens, auf der Erde lag), war aber von dessen Unvollkommenheiten befreit: ohne Sterblichkeit, ohne Strafen, ohne Unglücksfälle, ohne Wandel. Vieles, so stellt Johannes Scotus Eriugena fest, erfahren wir aus der Bibel allerdings nicht. So wissen wir weder, wie lange der Mensch im Paradies gelebt hat, noch, welche Vorschriften er dort erhielt, noch, wie er sich dort fortgepflanzt hätte.48 Andere wussten anscheinend mehr. 43   Die menschlichen Gaben hatte bereits Johannes Chrysostomos in einer Predigt über den »Fall des ersten Menschen« (Homilia 62: De lapsu primi hominis [Migne PL 95], Sp. 1208 CD) ins Spiel gebracht. 44   Honorius, Inevitabile (Anm. 15), Sp. 1212f.: Huius autem erroris causa haec est: Deus condidit hominem iustum et beatum, sine omni indigentia, in bonorum omnium sufficientia, et dedit liberam vo­ luntatem iustitiae et beatitudinis, ut voluntate iustitiae, corpori subdito imperaret, voluntate beatitudi­ nis, Deo obediret. Habuit ergo iustitiam ad honorem Dei, beatitudinem ad commodum suum. Et si ser­ vata iustitia Deum honorasset, ad summam angelorum beatitudinem pervenisset. 45  So Honorius, Elucidarium 1, 77 (Anm. 16), S. 375. Vgl. Honorius, Liber XII quaestionum 3 (Anm. 22), Sp. 1180 AB; ebd., 12, Sp. 1184 CD (ein Teil der Menschen füllt den Platz der abgefallenen Engel aus). 46   Hugo von St. Viktor, De sacramentis legis naturalis et scriptae (Migne PL 176), Sp. 23 C; Ders., De sacramentis Christianae fidei 1, 6, 30/33 (Migne, PL 176), Sp. 282/284; Hugonis de Sancto Victore, De sacramentis Christianae fidei, hrsg. v. Rainer Berndt (Corpus Victorinum. Textus historici 1), Münster 2008, S. 162/164. Im Folgenden werden beide Editionen zitiert. Der Text folgt Berndt, die dort sehr handschriftengetreue Schreibweise hingegen eher Migne. 47   So Honorius, Inevitabile (Anm. 15), Sp. 1218 AB. 48   Johannes Scotus Eriugena, Periphyseon (De divina natura) 4, hrsg. v. Edouard Jeauneau (CCM 164), Turnhout 2000, S. 98: Praesertim cum nulla auctoritas uel diuina uel humana tradiderit quantum temporis in paradiso, priusquam peccaret, feliciter uixit. [...] Ex his enim quae ei iussa sunt ante pec­ catum nihil legitur egisse, uerbi gratia: ›Crescite et multiplicamini, et implete terram‹, uidelicet para­

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Nach Honorius dauerte das paradiesische Leben, wie schon erwähnt, gerade einmal sieben Stunden. Der Prämonstratenser Philipp von Harvengt beschränkt es gar auf die sechste bis neunte Stunde.49 Im Paradies hätte es keinen Sex gegeben, so folgert Haymo von Auxerre messerscharf aus der irdischen Geburt Kains und Abels, so dass der Mensch erst im sterblichen Zustand Nachkommen gezeugt habe.50 Die Menschen hätten sich dennoch auch dort vermehrt, jedoch ohne Lust und ohne Geburtsschmerzen, wie es in vielen Genesiskommentaren heißt,51 während Hugo von St. Viktor die Frage offen lassen will, weil sie weder durch Autoritäten noch durch Vernunft zu klären ist.52 Nach Augustin waren sie einfach noch nicht dazu gekommen.53

b. Ursachen und Charakter des Sündenfalls Der Sündenfall des Menschen kam erst durch den Engelfall zustande. Diesen Zusammenhang verdeutlicht im 9. Jahrhundert Jonas von Orléans in gleichnishaften Worten: Als der Teufel in seinem Hochmut von der Würde der Engel vom Glauben abfiel und durch seinen Neid der Tod in den Erdkreis eintrat, beneidete er sein (des Menschen) Glück und versprach ihm Göttlichkeit; indem er ihm die Unsterblichkeit entriss, machte er aus dem Bewohner des Paradieses einen (heimatlosen) Verbannten in der Welt: und er unterwarf nicht nur ihn, sondern auch seine gesamte Nachkommenschaft seiner unheilvollen Herrschaft.54

disi. Qua ratione non continuo felicem prolem gigneret, si in paradiso quodam temporis spatio ante de­ lictum habitaret? 49   Philipp von Harvengt, ep. 1 (Migne PL 203), Sp. 14f.: Si, ut iste asserit, magis consonat veritati, ut homo et angelus pariter sint creati, et angelus statim cecidit male secutus propriam veritatem; homo vero a sexta usque ad nonam iniunctae obedientiae tenuit sanctitatem. 50   Pseudo-Remigius von Auxerre (Haymo von Auxerre), Commentarius in Genesim 4, 1 (Migne PL 131), Sp. 68 C: ›Adam vero cognovit uxorem suam.‹ In paradiso positus non legitur cognovisse uxorem suam, sed postquam eiectus est de paradiso. Quia enim peccaturus erat et mortales filios generaturus, ideo nullus ex eius stirpe in paradiso natus est qui locus est vitae. 51   Vgl. beispielsweise Augustin, De Genesi ad litteram 9, 3 (Anm. 7), S. 271, zu Gen 1, 18; Hrabanus Maurus, Commentaria in Genesim 1, 14 (Migne PL 107), Sp. 482 CD. Vgl. auch Honorius, Elucidarium 1, 74f. (Anm. 16), S. 374. 52   Hugo von St. Viktor, De sacramentis Christianae fidei 1, 6, 22 (Anm. 46), Sp. 277 A; hrsg. v. Berndt, S. 154. 53   Augustinus, De Genesi ad litteram 9, 3 (Anm. 7), S. 272: cur ergo non coierunt, nisi cum exissent de paradiso? cito responderi potest: quia mox creata muliere, prius quam coirent, facta est illa trans­ gressio, cuius merito in mortem destinati etiam de loco illius felicitatis exierunt. non enim scriptura tempus expressit, quantum interfuerit inter eos factos et ex eis natum cain. potest etiam dici, quia non­ dum deus iusserat, ut coirent. 54   Jonas von Orléans, De institutione laicali 1, 1 (Migne PL 106), Sp. 125 A: Diabolus per superbiam de angelica dignitate in apostasiam lapsus, cuius invidia mors intravit in orbem terrarum (Röm 5, 12), felicitati eius invidens promisit ei divinitatem, et ademit immortalitatem, et de habitatore paradisi fecit exsulem mundi: et non solum eum, sed etiam suam stirpem suo exitiabili subiugavit imperio.

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Nach Haymo von Auxerre verführte der Teufel den Menschen auf dreierlei Weise: durch Esslust (den Biss in den Apfel), Eitelkeit (wie die Götter sein zu wollen) und Habsucht (nämlich gut und böse unterscheiden zu können).55 Der Sündenfall war damit allerdings nicht einfach eine Folge der Verführung durch den Teufel, sondern hatte seine Ursachen ebenso im Menschen selbst. Schon Augustin hatte dem Sündenfall in seiner Schrift ›De civitate Dei‹ ein ganzes Buch (Buch 13) gewidmet und ihn als Abkehr von Gott56 aus dem bösen Willen (mala voluntas) heraus gedeutet.57 Der Mensch bewies Hochmut statt Reue, indem der Mann die Sünde auf die Frau und diese sie auf die Schlange schob, anstatt die eigene Verantwortung einzugestehen.58 Nach Remigius von Auxerre beschuldigten damit beide gleichsam Gott selbst, Adam, weil Gott ihm die Frau erschaffen hatte, Eva, weil er die Schlange erschaffen hatte.59 Auch für Honorius war die Sünde gleichbedeutend mit der Abkehr von Gott und dem Abweichen von den Geboten und damit von dem bei der Erschaffung erhaltenen Sein.60 Honorius macht sogar sechs criminalia flagitia für den Sündenfall verantwortlich: den Hochmut (superbia), den Ungehorsam (inoboedientia), die Habgier (avari­ tia), den Religionsfrevel (sacrilegium), die geistliche Unzucht (spiritualis fornicatio) und den Mord (homicidium).61 Sehr systematisch geht Hugo von St. Viktor diese Fragen im 12. Jahrhundert an. Der Mensch hatte im ersten Status seiner Geschichte vor dem Sündenfall nämlich zwei Vorschriften erhalten: das praeceptum naturae zur Be-

55  Haymo von Auxerre, Homiliae de tempore. Homilia 28 (Dominica prima in quadragesima) (Anm. 20), Sp. 200 C: Tribus quippe modis diabolus in paradiso primum hominem tentavit: quia hunc gula, vana gloria, et avaritia tentavit. Gula quippe tentavit, quia cibum vetitum comederet persuasit: vana gloria, cum dixit: ›Eritis sicut dii‹ (Gen 3, 5): avaritia cum subiunxit: ›Scientes bonum et malum.‹ Avaritia enim non solum in cupiditate pecuniae est, sed etiam in ambitione honoris. 56   Augustin, De civitate Dei 13, 15 (Anm. 6), S. 396. 57   Ebd., 14, 13, S. 434. 58   Augustin, De Genesi ad litteram 11, 35 (Anm. 7), S. 369f. 59   Remigius von Auxerre, Expositio super Genesim 3, 12–14 (Anm. 4), S. 59f.: Dixitque Adam: ›Mu­ lier quam dedisti mihi sociam, dedit mihi de ligno, et comedi‹. Superbia! Numquid dixit peccaui? Quin immo culpam suam in Conditorem retorquere conatur dicens: ›Mulier quam dedisti mihi sociam et ce­ tera‹. Ac si contra Deum tumens diceret: Et quod ego peccaui, non mea sed tua est culpa. Nam nullo modo offendissem, nisi tu mulierem, quae me ad hoc compulit, creasses. [...] Et ista uirum imitata cul­ pam in Creatorem reicit, qui serpentem in paradiso per quem deciperetur creauerit, quasi cuiusquam suasio praecepto Dei debuerit anteponi. […] Et dixit Dominus ad mulierem: ›Quare hoc fecisti? Quae respondit: Serpens decepit me, et comedi.‹ 60  Honorius, Elucidarium 2, 2 (Anm. 16), S. 405f.: Peccatum autem nihil aliud est, quam quod praeceptum est non facere; aut aliter quam praeceptum est agere; sicut nec malum est aliquid, nisi bono, id est gaudio carere. 61   Ebd., 1, 101, S. 378f. Zum Tod als Strafe vgl. Honorius, Libellus VIII quaestionum 2 (Anm. 35), Sp. 1187 BC.

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wahrung des Guten und das praeceptum disciplinae als Weg für das verheißene Gut.62 Gleichzeitig wurden ihm mit der Schöpfung zwei Verlangen (appetitus) verliehen: das Verlangen nach Gerechtigkeit und das Verlangen nach Vorteil (appetitus commodi). Die erste Sünde entsprang nun den Lastern des Hochmuts und der Habsucht – das verstieß gegen die Vorschrift der Natur – sowie der Genußsucht (gula) – das verstieß gegen die Vorschrift der Disziplin.63 Indem der Mensch das Verlangen nach Gerechtigkeit verließ, hörte er auf zu wollen, was er (eigentlich) wollte.64 Indem er jedoch über alles Maß nach seinem Vorteil strebte, verließ er das Verlangen nach Gerechtigkeit, und eben darin bestand die Sünde: nicht im (natürlichen) Verlangen nach Vorteil, sondern im Verlassen der Gerechtigkeit, die das Maß im Verlangen nach Vorteil bildet.65 Dabei ging der Wille der Sünde voraus. Zwar wollte der Mensch nicht die Gerechtigkeit verlassen, aber er wollte etwas, um dessentwillen er sie verließ.66 Hat der Mann oder die Frau mehr gesündigt?, lautet eine weitere Frage Hugos. Nach Augustin sündigte Eva gegen Gott und Adam, während Adam »nur« gegen Gott sündigte; deshalb wurde sie auch härter bestraft;67 nach Isidor von Sevilla hingegen 62   Vgl. Hugo von St. Viktor, De sacramentis Christianae fidei 1, 6, 7 (Anm. 46), Sp. 268; hrsg. v. Berndt, S. 142f. 63   Ebd., 1, 7, 7, Sp. 289; hrsg. v. Berndt, S. 171; Ders., Summa sententiarum 3, 6 (Anm. 35), Sp. 97 AB: Ad quod videndum est quod Deus in primo homine duos posuit appetitus; videlicet appetitum iusti et appetitum commodi. Appetitum iusti secundum voluntatem; ut in eo homo promereri posset, sive bene retinendo cum posset deserere, sive male deserendo cum posset retinere. Appetitum commodi secundum necessitatem; non enim potest homo non appetere commodum suum, et ideo istum cum necessitate po­ suit Deus in homine ut in eo remuneraretur homo. Vgl. Hugo von St. Viktor, De sacramentis legis naturalis et scriptae (Anm. 46), Sp. 25 B: Der Sündenfall entsprang zum einen der Versuchung des Teufels in drei Schritten: Feinschmeckerei (gula), eitle Ruhmsucht und Habsucht, zum andern dem Drang des Menschen, das Böse zu erfahren. 64   Hugo von St. Viktor, De sacramentis Christianae fidei 1, 7, 12–14 (Anm. 46), Sp. 292; hrsg. v. Berndt, S. 175f. 65   Hugo von St. Viktor, Summa sententiarum 3, 6 (Anm. 35), Sp. 97 BC: Et in hoc appetitu commodi mensuram posuit Deus, ut quae appetenda essent, et quando, et quomodo homo appeteret. Sed quia ul­ tra modum commodum appetiit, scilicet esse sicut dii, iusti protinus appetitum deseruit. Et in hoc pec­ cavit quia iustitiam deseruit; non enim ideo peccavit quia commodum suum appetiit; sed quia illud ap­ petendo iustitiam deseruit, quod fuit appetere commodum ultra mensuram. Iustitia namque est mensura in appetitu commodi. Fuit igitur peccatum primi hominis desertio iustitiae, quod Apostolus vocat ino­ bedientiam. 66   Ebd., Sp. 97 CD: Quaeritur utrum voluntas peccatum illud praecessit? Sed non videtur quod vo­ luisset aut deliberasset iustitiam deserere; voluit tamen illud appetere, propter quod iustitiam deseruit. Potest itaque dici quod volens deseruit iustitiam, quia voluit illud propter quod deseruit; nec tamen vo­ lebat ut iustitiam desereret, sed voluit illud propter quod iustitiam deserebat. Voluntate itaque iustitiam deseruit, non quod voluntas illud in tempore praecederet. 67   Ebd., Sp. 97f.: Quaeritur uter eorum plus peccaverit, an mulier an Adam. Sed sicut Apostolus di­ cit: Adam non est seductus, imo mulier (1. Tim 2, 14). Mulier interrogata inquit: Serpens seduxit me, ut in Genesi (Gen 3, 13). Vir autem interrogatus non ait: Mulier seduxit me, sed dedit mihi et manducavi.

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sündigte Eva aus Ignoranz, Adam aber aus Energie (industria). Letzteres wiegt jedoch schwerer, weil es mehr Überlegung und Wissen erfordert; also sei Adams Sünde größer.68 Ob also Adam oder Eva mehr gesündigt hat, so schließt Hugo aus der Gegenüberstellung beider uneiniger Autoritäten, hängt ganz vom Standpunkt ab.69 Und weshalb wurde zuerst die Frau verführt? Dazu weiß Remigius von Auxerre im 9. Jahrhundert eine Antwort, die uns Heutigen frauenfeindlich anmuten dürfte: Der listige Teufel habe nämlich genau gewusst, dass der Geist des Mannes stärker war und er die Frau daher leichter verführen konnte.70 Weshalb hat Gott den Menschen aber überhaupt erst versuchen lassen, wenn er ihn doch zur Seligkeit erschaffen hat und seinen Fall vorherwusste? Natürlich können wir die Höhen der Urteile Gottes nicht durchdringen, meint Remigius, aber wir können doch etwas Verstandesgemäßes folgern. Es wäre nämlich nichts Lobenswertes gewesen, wenn der Mensch einfach gut gelebt hätte, ohne je schlecht leben zu können. Erst der Versuchung zu widerstehen ist lobenswert.71 Mulier in hoc dicitur seducta, quod auditis verbis illis: Eritis sicut dii, adeo intumuit ut crederet verum esse, quod dicebatur. Adam vero non est seductus; quia non, ut ait Augustinus, credidit illud verum esse, sed putavit utrumque fieri posse ut et uxori morem gereret, et per poenitentiam Deo satisfaceret. Minus ergo peccavit qui de venia cogitavit. Ex quibus apparet quod maior fuerit in muliere superbia quam in viro: igitur et maius peccatum. Mulier quoque peccavit in Deum et proximum; vir in Deum tantum. Item mulier magis punita fuit, cui dictum est: ›In dolore paries filios‹, etc., unde apparet quod plus peccavit. 68   Ebd., Sp. 98 A–C: Opponitur de hoc quod dicit Isidorus: Tribus modis peccatum geritur: ignoran­ tia, infirmitate, industria. Ignorantia peccavit Eva; quia, ut ait Apostolus, seducta fuit (1. Tim 2, 14). Adam industria peccavit; quia non seductus, sed sciens et prudens peccavit. Petrus infirmitate deliquit. Gravius est infirmitate quam ignorantia peccare; gravius quoque industria quam infirmitate. Industria peccat qui studio et deliberatione malum perpetrat; infirmitate qui casu vel perturbatione delinquit. Ex his verbis videtur asseri quod plus peccavit vir quam femina. 69   Ebd., Sp. 98 B: Ad quod potest dici quod secundum aliquid plus peccaverit; in hoc scilicet quod maior deliberatio videtur fuisse in viro quam in muliere et quod maioris scientiae erat; et cui plus com­ mittitur, plus ab eo exigitur. Nec tamen dicemus absolute quod plus peccaverit; sicuti de aliquo pres­ bytero et de aliquo laico diceremus, si committant homicidium, laicus ex longo odio, presbyter ex su­ bita ira: non posset absolute dici quod ille ordinatus plus peccaverit, et tamen secundum aliquid plus peccavit, in hoc scilicet quod fecit contra ordinem suum. Dieselbe Argumentation findet sich (ziemlich wörtlich) bei Hildebert von Le Mans, Tractatus theologicus 27: De peccato primi hominis (Anm. 2), Sp. 1125, dem Hugo hier wohl folgt. 70   Remigius von Auxerre, Expositio super Genesim 3, 1–3 (Anm. 4), S. 54: Praeterea quaesitu dig­ num est, cur serpens primo ad mulierem accedens, postremo ad uirum spicula temptationis per mulie­ rem intorserit. Ob hoc profecto quia nouerat callidus hostis uirum fortioris animi existere quam femi­ nam, et ideo reputans ne forte, si prius ad uirum accederet, minime praeualeret, mulierem prius adire uoluit, ut ea seducta facilius uirum ad id posset, quod nitebatur, inflectere. 71  Ebd., 3, 1, S. 53: Si autem quaeritur cur Deus hominem temptari permiserit, quem consensu­ rum praesciebat, altitudinem quidem iudiciorum Dei penetrare non possumus, ex ratione tamen colli­ gere aliquid ualemus. Occurrit ergo uera ratio, quia non magnae laudis futurus esset homo, si propte­ rea bene uiueret, quia nullus eum male uiuere suaderet. Plurima tamen laude dignus esset, si et temp­

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c. Die Folgen Der Sündenfall, so Hrabanus Maurus, ist die Wurzel menschlicher Schuld.72 Der übergroßen Bosheit folgte daher die gerechte Strafe. Wegen seines Ungehorsams musste der Mensch das Paradies verlassen und in die ungastliche Welt einziehen. »Als Adam fiel, da wurde es Nacht und Finsternis«, dichtete der Autor des Ezzoliedes im 11. Jahrhundert.73 Nach dem Genesisbericht verhängte Gott der Frau bekanntlich Geburtsschmerzen – ohne Sünde hätte sie nämlich ohne Schmerzen Kinder geboren, meint Remigius von Auxerre74 – und stellte sie unter die Herrschaft des Mannes. (Sie hatte ihm zwar auch vorher unterstanden, sich ihm jedoch freiwillig unterstellt.75 Eine paradiesische Gleichheit der Geschlechter lag gewiss nicht im Blickfeld frühmittelalterlicher Autoren.) Den Strafandrohungen76 folgten bereits nach Augustin als ebenso gerechte wie wegen der Größe der Sünde angemessene Strafen die Vertreibung aus dem Paradies,77 der Verlust der Unsterblichkeit78 sowie der göttlichen Gnade,79 im Innern des Menschen aber die sinnlichen Begierden80 und die Scham; im Paradies seien die Glieder noch keine Schamglieder gewesen, meint Augustin.81 Da aber jeder Mensch in natura, im Wesen, Adam und in persona filius Adam ist, trafen die Strafen, wie Honorius betont, die gesamte Menschheit.82 Nach Hugo von St. Viktor verlor der Mensch durch den Sündenfall zudem beinahe alle seine von Gott verliehenen guten Eigenschaften: die Gesundheit, die ihn vor dem Verderben (corruptio) bewahren sollte, und die Unversehrtheit (integritas), die ihm Vollkommenheit gewährleisten sollte.83 Nach Hugo von St. Viktor beeinträchtigte das Laster der Ignoranz fortan den Geist und taretur et non cederet, et non consentiret. Vgl. ähnlich Hugo von St. Viktor, Summa sententiarum 3 (Anm. 35), Sp. 98 CD. 72   Hrabanus Maurus, Poenitentiale praef. (Migne PL 112), Sp. 1333 A: Ex illo quippe lapsu primi ho­ minis haec augmenta nequitiae ducimus, ex quo ipsam radicem traximus culpae. 73   Ezzolied v. 109f., hrsg. v. Wilhelm Braune und Karl Helm, in: Althochdeutsches Lesebuch, bearb. v. Ernst A. Ebbinghaus, 17. Aufl. Tübingen 1994, Nr. XXIX, S. 147: Duo sih adam geuiel dvo was naht unte uinster. 74   Remigius von Auxerre, Expositio super Genesim 3, 16 (Anm. 4), S. 61: Nisi enim homo peccas­ set, mulier sine dolore pareret. 75   Ebd., S. 62: Numquid sub uiri potestate non erat etiam ante peccatum? Nimirum erat. Sed illa sub­ iectio prima uoluntaria fuit, ista autem qua nunc mulieres uiris subditae sunt, ex necessitate et poena peccati descendit. 76   Augustinus, De Genesi ad litteram 11, 36–42 (Anm. 7), S. 370–378. 77   Ebd., 11, 40, S. 374f.; Ders., De civitate Dei 14, 14 (Anm. 6), S. 436f. 78   De civitate Dei 13, 2 (Anm. 6), S. 385f. 79   Ebd., 13, 13, S. 395. 80   Ebd., 14, 16, S. 438f. 81   Ebd., 14, 17, S. 439f. 82   So Honorius, Elucidarium 2, 33 (Anm. 16), S. 418. 83   Hugo von St. Viktor, De sacramentis Christianae fidei 1, 7, 18 (Anm. 46), Sp. 295; hrsg. v. Berndt, S. 179.

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führte zum Hochmut; das Laster der Begierde beeinträchtigte das Fleisch und führte wiederum zur Sterblichkeit.84 Der Sündenfall verletzte die Harmonie der Schöpfung und führte zu einer »Dissonanz«, die erst durch Christus wieder beseitigt wurde.85 Durch die Sünde des Menschen wurde nach Beda aber auch die Erde verflucht, so dass sie Dornen, Giftkräuter und unfruchtbare Bäume hervorbrachte.86 Entsprechend änderten sich mit dem Sündenfall bzw. mit der Sintflut Aussehen und Funktion der Erde. So schreibt Hildegard von Bingen: Am Anfang, das heißt vor der Sintflut, war die Lebenskraft der Erde so groß, dass sie ihre Früchte ohne die Arbeit der Menschen hervorbrachte. [...] Nach der Sintflut jedoch [...] blühten die Blumen mit neuem Saft und aller Keimkraft in anderer Weise als vorher, weil die Erde jetzt von der Feuchtigkeit des Wassers und der Glut der Sonne gekocht war.87

Honorius erklärt die Folgen darüber hinaus wieder aus der Elementenlehre: Der aus dem ersten Element der Erde erschaffene Mensch starb infolge der Sünde im zweiten Element, dem Wasser; die aus dem höchsten Element, dem Feuer, erschaffenen Engel hingegen stürzten infolge ihrer Sünde in das dritte Element, die Luft.88

  Ebd., 1, 7, 26, Sp. 298; hrsg. v. Berndt, S. 183; 1, 7, 31, Sp. 301; hrsg. v. Berndt S. 187f. Honorius, Elucidarium 1, 101 (Anm. 16), S. 378f., ließ den sechs schon erwähnten, lasterhaften Handlungen (cri­ minalia flagitia), die er für den Sündenfall verantwortlich gemacht hatte, entsprechende Strafen folgen. 85   So Honorius, Libellus VIII quaest. 5 (Anm. 35), Sp. 1190 D. 86   So Beda Venerabilis, In Genesim 1, 3, 17f. (Anm. 42), S. 68: Per peccatum enim hominis terra maledicta est, ut spinas pareret, non ut ipsa poenas sentiret quae sine sensu est, sed ut peccati humani crimen semper hominibus ante oculos poneret, quo admonerentur aliquando auerti a peccatis et ad Dei precepta conuerti. Nam et herbae uenenosae ad poenam uel ad exercitationem mortalium creatae sunt. Et hoc notandum propter peccatum, quia mortales post peccatum facti sumus. Per infructuosas quoque arbores insultatur hominibus, ut intellegant quam sit erubescendum sine fructu bonorum operum esse in agro Dei, hoc est in ecclesia, et ut timeant ne deserat illos Deus, quia et ipsi in agris suis infructuo­ sas arbores deserunt nec aliquam culturam eis adhibent. Ante peccatum ergo hominis non est scriptum quod terra protulerit nisi herbam pabuli et ligna fructuosa; post peccatum autem uidemus multa hor­ rida et infructuosa nasci, propter eam uidelicet quam diximus causam. 87   Hildegard von Bingen, Liber divinorum operum 3, 5, 8 (Anm. 36), S. 417: In principio, scilicet ante diluuium, tanta fuit terrę uiriditas, ut illa fructus suos absque labore hominum produceret [...] Post diluuium autem uelut in medio temporis, quod inter diluuium et filium Dei in mundum uenientem fuit, flores cum nouo suco et cum omni germine in alia uice quam prius fecissent floruerunt, quoniam terra humiditate aquarum et estu solis tunc cocta fuit. 88   Honorius, Libellus VIII quaestionum 4 (Anm. 35), Sp. 1190 AB: Praeterea summopere notandum est, quod homines de primo elemento, scilicet de terra formati, peccantes in secundo elemento, scilicet in aqua sunt necati; angeli vero de summo elemento, scilicet de igne creati, peccantes in secundum ele­ mentum, id est in aerem sunt praecipitati. 84

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2. Heilsgeschichtliche Bedeutung Dem Überblick über die Deutungen des Sündenfalls kann sich nun eine Betrachtung seiner heilsgeschichtlichen Bedeutung anschließen. Der Sündenfall dient den Menschen als Warnung: »Versuche nicht, an der Spitze sein zu wollen, wie Satan im Himmel oder Adam im Paradies; sei vielmehr hier bescheiden, um im Paradies erhaben zu werden,« warnt Hugo von Folieto (Fouilloy),89 um damit zugleich Engel- und Menschenfall (und den Fall Judas) zu vergleichen: Hochmut beim Teufel, Ungehorsam beim Menschen, Habsucht bei Judas.90 Die eigentliche Bedeutung des Sündenfalls liegt nämlich in seiner heilsgeschichtlichen Wirkung, der das Ziel des Menschen ebenso erklärt wie die irdische Unvollkommenheit. Der Fall trennt (und verbindet) Schöpfung und Erlösung. Das Schöpfungswerk (opus conditionis) in sechs Tagen am Anfang der Welt bewirkte, um mit Hugo von St. Viktor zu sprechen, »dass zum Sein geschaffen wurde, was vorher nicht existierte«;91 das Wiederherstellungswerk (opus restaurati­ onis) seit Beginn der Welt bis zu deren Ende symbolisiert die Erlösung, durch welche die im Sündenfall verlorene Seligkeit wiederhergestellt wird, »auf dass noch besser werde, was verloren gegangen war«.92 Sündenfall und Heilsaussicht bieten somit den Rahmen für das irdische Geschehen zwischen dem Fall und dem Jüngsten Gericht: Die der Zeit unterworfene irdische Geschichte erscheint als Wellental zwischen Ewigkeit und Ewigkeit. Dem auf die Erde ›strafversetzten‹ Menschen verblieb das Seelenheil nur noch als Zukunftshoffnung für die ›Zeit‹ nach dem Jüngsten Gericht.93

89   Hugo von Folieto, De claustro animae 2, 21 (Anm. 19), Sp. 1078 B: Tertia delectantibus in Do­ mino coniuncta est paradiso. Esto igitur humilis, ut sis in paradiso sublimis. Noli quaeso, esse in capi­ tulo, sicut Satan in coelo, vel sicut Adam in paradiso. 90   Ebd., Sp. 1078 BC: Unus enim desperat, alter excusat. Tanto autem Satan deterior, quanto despe­ ratior. An nescis Satan expulsum a capitulo coeli; Adam a capitulo paradisi; Iudam a capitulo Christi? Primum capitulum fuit in coelo, secundum in paradiso, tertium in horto. In unoquoque tamen prae­ erat Deus. In primo, prima culpa superbiae; in secundo, inobedientiae; in tertio avaritiae et infidelita­ tis. De primo dicitur, ›ponam sedem meam ad aquilonem, et ero similis Altissimo‹ (Jes 14, 14). De se­ cundo dicitur, ›de ligno boni et mali ne comedas‹ (Gen 2, 17). De tertio dicitur, ›et retulit triginta argen­ teos, et proiecit in templo‹ (Mt 27, 3–5). Poena culpae primae, casus; secundae, labor; tertiae, laqueus. De prima dicitur: ›Vidi Satanam quasi fulgur de coelo cadentem‹ (Lk 10, 18). De secunda: ›In sudore vultus tui vesceris pane tuo‹ (Gen 3, 19). De tertia: ›Laqueo se suspendit‹ (Mt 27, 5), et crepuit medius. 91   Hugo von St. Viktor, De sacramentis Christianae fidei 1, 1, 28 (Anm. 46), Sp. 203f.; hrsg. v. Berndt, S. 57; quando facta sunt ut essent quae non erant. 92  Ebd.: quo reparata sunt quae perierant. 93   Hugo von St. Viktor, De sacramentis legis naturalis et scriptae (Anm. 46), Sp. 27 D: Quia igitur homo tali poena multatus est, per quam culpa non purgaretur sed cresceret, nisi fuisset liberatus per gratiam, per hanc poenam ad poenas damnationis aeternae merito descendissit.

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Der Mensch, so Honorius, hat durch das Verlassen der Gerechtigkeit zwar die Seligkeit eingebüßt, aber das Verlangen danach bewahrt.94 »Das ist es also«, schreibt Hugo, »was jetzt in den Erwählten wirkt, dass sie nämlich im gegenwärtigen Leben auf die künftige Seligkeit vorbereitet werden, damit der in dieses Unglück versetzte Mensch es (sich) verdiene, zu jenem Glück aufzusteigen, so wie der erste, in jene gute Glückseligkeit gesetzte Mensch es verdient hat, in diese Unglückseligkeit zu geraten.«95

Nicht nur das irdische Leben, sondern die gesamte Geschichte ist aus solcher Sicht einerseits Sündenstrafe für den Fall, andererseits aber »Ort und Raum der Besserung und Reue«,96 also Bewährungsprobe, um sich mit den von Gott bereitgestellten Mitteln das Heil zu verdienen. Die als Sündenstrafe verhängte, mühselige Arbeit (labor) ist folgerichtig Fluch (als Strafe) und Segen zugleich,97 wie Fabian Rijkers kürzlich zu Recht gegen Jacques Le Goff aus den Genesiskommentaren herausgearbeitet hat.98 Dazu gab die göttliche Barmherzigkeit dem Menschen diese Welt als locus poeniten­ tiae sowie Glaube, Sakramente und (gute) Werke als Heilsmittel.99 Der Mensch hat mit dem Sündenfall nämlich nicht alle seine Fähigkeiten verloren. Er verlor nicht sein Wollen, das ihm naturhaft eingegeben ist, meint Prudentius von Troyes, sondern Gutes zu wollen, so dass sich seine Natur zum Schlechteren veränderte.100 Nach Vivian von Prémontré behielt er die Freiheit des Willens bzw. der Ent  Honorius, Inevitabile (Anm. 15), Sp. 1213 A: Sed quia iustitiam deseruit, beatitudinem amisit. Sed voluntatem beatitudinis retinuit. Vgl. oben Anm. 44 und Hugo von St. Viktor, De sacramentis legis naturalis et scriptae (Anm. 46), Sp. 27f. 95   Hugo von St. Viktor, De arca Noe (morali) 4, 3, hrsg. v. Patrick Sicard (CCM 176), Turnhout 2001, S. 94: Hoc igitur est quod nunc in electis agitur, ut uidelicet in presenti uita ad futuram beatitudinem preparentur, ut homo in hac infelicitate positus mereatur ad illam felicitatem ascendere, sicut prius homo in illa felicitate positus meruit ad hanc infelicitatem deuenire. 96   So Hugo von St. Viktor, De sacramentis legis naturalis et scriptae (Anm. 46), Sp. 27 D; vgl. Honorius, Inevitabile (Anm. 15), Sp. 1218 A–C. 97   Honorius, Inevitabile (Anm. 15), Sp. 1210 D/1213. 98   Zum Verständnis der Arbeit im Mittelalter und ihrem Verhältnis zum liberum arbitrium vgl. Verena Postel, Arbeit und Willensfreiheit im Mittelalter (Vierteljahrszeitschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Beiheft 207), Stuttgart 2009. Danach galt Arbeit durchweg auch als gottgefällige Betätigung der menschlichen Willensfreiheit (zusammenfassend S. 171). Ausführlich zur Interpretation der Arbeit in den spätantiken und frühmittelalterlichen Genesiskommentaren jetzt Fabian Rijkers, Arbeit – ein Weg zum Heil? Vorstellungen und Bewertungen körperlicher Arbeit in der spätantiken und frühmittelalterlichen lateinischen Exegese der Schöpfungsgeschichte (Beihefte zur Mediaevistik. Monographien, Editionen, Sammelbände 12), Frankfurt a. M., Berlin, Bern u. a. 2009. 99   Honorius, Inevitabile (Anm. 15), Sp. 1202 BC. 100  Prudentius von Troyes, De praedestinatione contra Ioannem Scotum cognomento Erigenam 4 (Migne PL 115), Sp. 1051f.: Lapsus ergo homo in peccatum, non amisit esse quod a natura, non amisit velle quod est ei naturale: sed amisit bene velle, et incurrit male velle; ita mutatus est in illo, vel 94

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scheidung, aus der der Sündenfall erwachsen war, die Freiheit des Entschlusses und die Freiheit der Zustimmung.101 Hugo von St. Viktor unterscheidet zwischen dem – nach dem Sündenfall einzig ungetrübten – Auge des Fleisches, das zum denkenden Erfassen (cogitatio) führt, dem – im Sündenfall getrübten – Auge der Vernunft (ratio), welches das Erfasste innerlich, durch Meditation, verarbeitet, und dem Auge der Kontemplation, das zur unmittelbaren Betrachtung führt, mit dem Sündenfall jedoch vollständig erloschen ist.102 Da der Fall, so Honorius, aus freier Willensentscheidung des Menschen heraus geschehen war,103 war nach dem Verlust der Gerechtigkeit eine Wiedergutmachung aus eigener Kraft und aus eigenem Verdienst allerdings nicht mehr möglich;104 sie bedurfte der Gnade Gottes, in deren Mittelpunkt natürlich die Menschwerdung und der Opfertod Christi stehen. Da der Mensch selbst nichts hatte, um für den Schaden aufzukommen – er hätte nur Sünder opfern können –, gab Gott ihm aus reiner Barmherzigkeit seinen Sohn Jesus Christus: »Er gab dem Menschen einen Menschen, den der Mensch an seiner Stelle zurückgab.«105 Erst Christus überwand den Sündenfall, so verkündet auch der Dichter des Ezzolieds, indem er den Menschen das Leben nach dem Tode wiedergab:106 »Der Tod starb am Tode, / die Hölle wurde beraubt, / als das erhabene Opferlamm / für uns geopfert wurde. Das gab uns freie Rückfahrt / in unser altes Erbland.«107 Die Christologie ordnet sich damit als notwendige Bedingung zum Heil in das Heilsgeschehen ein. Erst der Sündenfall aber machte Christi Opfer-

etiam amissus motus, vel officium naturae, mutata est et ipsa in deterius natura; mutata tamen, non amissa. 101   Vivianus von Prémontré, Harmonia sive tractatus de libero arbitrio 7, hrsg. v. Ulrich G. Leinsle in: ders., Vivianus von Prémontré. Ein Gegner Abaelards im frühen Prémontré, (Bibliotheca Analectorum Praemonstratensium 13), Averbode 1978, S. 18*f.: Deinceps uidendum est qualiter vel quatenus primus homo in paradyso totas tres illas quas diximus libertates, id est arbitrii, consilii, complaciti, uel aliis nominibus: a necessitate, a peccato, a miseria, habuerit. Arbitrii utique libertatem tam post pec­ catum quam ante semper tenuit inconcussam. 102   Hugo von St. Viktor, De sacramentis Christianae fidei 1, 10, 2 (Anm. 46), Sp. 329f.; hrsg. v. Berndt, S. 223f. 103   Honorius, Inevitabile (Anm. 15), Sp. 1202 BC. 104   Hugo von St. Viktor, De sacramentis Christianae fidei 1, 8, 4 (Anm. 46), Sp. 308 B; hrsg. v. Berndt, S. 197: Sed Deum rationabiliter placare non poterat, nisi et dampnum, quod intulerat, restau­ raret, et de contemptu satisfaceret. Homo vero nihil habuit, quod digne Deo pro illato (Migne: oblato) dampno recompensaret. 105   Ebd., Sp. 308 D; hrsg. v. Berndt, S. 197: Dedit igitur homini hominem quem homo pro homine redderet. 106   Ezzolied v. 282–284, S. 149: after tode gab er uns den lip, des fleisches urstente, himelriche ie­ mer an ente. 107   Ebd., v. 347–352, S. 150: Von dem tode starp der tot! / diu helle wart beroubet. / duo daz mære os­ terlamp / fur unsih gopheret wart. / daz gab uns friliche wideruart / in unser alt erbelant.

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tod notwendig,108 der dennoch nicht erst eine Folge des Sündenfalls,109 sondern nach Honorius von Anfang an eingeplant war, weil Gott den Fall ja voraussah.110 Der Fall habe lediglich verhindert, dass die Inkarnation bereits im ersten Status (vor dem Sündenfall) stattfand.111 Auffallend tritt deshalb auch die Parallelisierung Adams und Christi (als »zweitem Adam«) hervor. So verknüpft schon Gregor von Tours in seinem Schöpfungsbericht symbolisch Schöpfung und Heilsgeschichte über deren ganzen Zeitverlauf hinweg, indem er Adam zum Sinnbild Christi (tipus Redemptoris) macht, der seinerseits in der Passion, parallel zur Schöpfung Evas aus Adams Rippe, aus seiner Seite, nämlich aus Wasser und Blut, die jungfräuliche und unbefleckte Kirche hervorbrachte, die mit Blut erlöst und mit Wasser gereinigt ist.112 Den engen Zusammenhang zwischen Schöpfung, Sündenfall und Erlösung betont mehr als zwei Jahrhunderte später auch Jonas von Orléans mit gleichnishaften Erzählungen: Seither wird (der Mensch) elend und unheilvoll darin festgehalten, bis jener Samariter, nämlich unser Herr Jesus Christus, sich, von Barmherzigkeit bewegt, auf den Weg machte, sich ihm näherte, seine Wunden verband, Wein und Öl darauf goss, ihn auf sein Zugtier setzte, in den Stall führte und diesem Stallknecht am nächsten Tag zwei Denare hinhielt, um den Verwundeten zu heilen; und er versprach ihm, das, was er früher verschwendet hatte, bei seiner Heimkehr zurückzugeben.113   Honorius Augustodunensis, Expositio in Cantica Canticorum 2, 5 (Migne PL 172), Sp. 433 B: Item quaeritur utrum Filius Dei esset incarnatus, si homo non fuisset lapsus. Putant enim casum ho­ minis causam fuisse Christi incarnationis; sed hi non falluntur. Ratio enim manifeste clamat, et sacrae Scripturae auctoritas consonat, quod, quia homo in paradiso peccavit, propterea Deus hominem as­ sumpserit. Ab aeterno quippe erat apud Deum praedestinatum quod homo deificaretur. Sicut enim Deus est immutabilis, ita et praedestinatio eius est immutabilis. 109   Vgl. Honorius, Libellus VIII quaestionum 2 (Anm. 35), Sp. 1187 BC: Peccatum hominis non bo­ num, sed maximum malum fuisse, clamat totus mundus, cum multis miseriis suis. Unde enim mors cum tot cladibus regnat in mundo, nisi de peccato hominis? Et ideo peccatum primi hominis non fuit causa Christi incarnationis, sed potius fuit causa mortis et damnationis. 110   Honorius, Inevitabile (Anm. 15), Sp. 1207 B. 111   Honorius, Libellus VIII quaestionum 2 (Anm. 35), Sp. 1188 AB: Si ergo Christus in primo statu venisset, nec ipse nec homo unquam moreretur [...] quod utique factum ita esset, si homo tentatus non peccasset. [...] Et ideo dicitur pro humana redemptione venisse, quia nisi ipse moriendo mortem nos­ tram destrueret, nunquam homo post culpam statum vitae reciperet. Igitur Christi incarnatio fuit hu­ manae naturae deificatio, eius mors nostrae mortis destructio, eius resurrectio vitae nostrae reparatio. 112   Gregor von Tours, Historiae 1, 1, hrsg. v. Bruno Krusch und Wilhelm Levison (MGH Scriptores rerum Merovingicarum 1, 1), Hannover 1951, S. 5f.: Nec dubium enim est, quod hic primus homo Adam, antequam peccaret, tipum Redemptoris domini praetulisset. Ipsi enim in passionis sopore obdormiens, de latere suo dum aquam cruoremque producit, virginem inmaculatamque eclesiam sibi exhibuit, red­ emptam sanguine, latice emundatam. 113   Jonas von Orléans, De institutione laicali 1, 1 (Anm. 54), Sp. 125 AB: in quo eatenus miserabi­ liter et exitiabiliter detentus est, donec ille Samaritanus, Dominus videlicet noster Iesus Christus, iter 108

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Im 12. Jahrhundert wird diese Gegenüberstellung wieder in ihrer ganzen Systematik ausgearbeitet. Da der Mensch durch einen anderen (den Teufel) der Strafe verfiel, so Honorius, musste auch ein anderer (Christus) den Fall wieder aufheben.114 Die jungfräuliche Geburt (als gegen alle Natur gehender Vorgang) aber ist das Gegenstück zu Eva: Christus wurde von einer Jungfrau geboren, weil auch eine Jungfrau den Tod in die Welt gebracht hatte.115 Honorius treibt diese Symbolik sogar noch weiter: Da der Mensch durch eine Speise (das Essen vom verbotenen Baum) dem Tod verfiel, kann er nur durch eine Speise erlöst werden, die selbst das Leben darstellt, nämlich durch das Blut und Leib Christi symbolisierende Abendmahl.116 Man sieht, wie die einzelnen Glaubenselemente hier durch solche logisch-symbolischen Parallelen vollständig miteinander vernetzt werden sollten.

3. Gott-Mensch-Beziehung Der Sündenfall bestimmt nun nicht nur die Heilsgeschichte, sondern auch die – dadurch veränderte – Gott-Mensch-Beziehung. »Adams Beitrag« zu »Gottes Werk« war aus der Sicht des Sündenfalls nicht nur bescheiden, sondern geradewegs destruktiv. Durch das Einwirken des Teufels, der den Menschen zum Sündenfall verführt hat, ergibt sich (fortan) eine Art ›Dreiecksverhältnis‹ zwischen Gott, dem Teufel und dem Menschen, das für Hugo von St. Viktor ganz durch das Geschenk (und Gebot) der Gerechtigkeit (iustitia) auf der einen und die tatsächlichen Unrechtshandlungen (iniuria) auf der anderen Seite geprägt ist: Der Teufel verübte Unrecht gegenüber Gott durch seinen Aufstand und indem er ihm seinen Knecht, den Menschen, listig abspenstig machte und von Gott entfremdete, wie auch gegenüber dem Menschen, indem er ihm Gutes versprach, aber Böses zufügte.117 Dadurch wiederum beging auch der Mensch Unrecht gegenüber Gott, indem er seine Gebote brach und sich in die Hand eines anderen begab. Hugo argumentiert also durchweg mit der Gerechtigkeit (iustitia) als Kafaciens misericordia motus, appropinquans, vulnera eius alligans, vinum et oleum infundens, eumque in iumentum suum imponens, in stabulum duxerit, altera die stabulario duos denarios ad saucium sa­ nandum protulerit; et id quod supra erogasset rediens se rediturum promiserit (Lk 10, 33). Bei Johannes Scotus Eriugena, Periphyseon 4 (20) (Anm. 48), S. 134, werden Typus und Antitypus regelrecht zu Gegenbildern. 114   So Honorius, Inevitabile (Anm. 15), Sp. 1204 A. 115   Honorius, Elucidarium 1, 120 (Anm. 16), S. 383. 116   Honorius, Eucharistion 2 (Migne PL 172), Sp. 1250f.: Sed homo suadente diabolo de fructu ve­ titi ligni comedit, et ob huius esum mortem incidit. Iustum ergo apud iustitiam Dei fuit, ut per cibum mortem vincens vitae restitueretur, qui per cibum vitam perdens morti obnoxius tenebatur; vgl. ebd., 4, Sp. 1252 BC; Ders., Elucidarium 1, 182 (Anm. 16), S. 395. 117   Hugo von St. Viktor, De sacramentis legis naturalis et scriptae (Anm. 46), Sp. 29 B; De sacramentis Christianae fidei 1, 8, 4 (Anm. 46), Sp. 307f.; hrsg. v. Berndt, S. 196–198.

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tegorie des (heilsgeschichtlichen) Handelns: Teufel und Mensch verhielten sich Gott gegenüber entsprechend iniuste. In der Folge bestimmt sich das Verhältnis des Menschen zu Gott daher aus der Position des Sünders heraus, der auf die Gnade Gottes hoffen muss, aber auch durch seinen eigenen Beitrag, Gott zu versöhnen. In der Bewährungsprobe auf Erden kann der Mensch seine von Gott verliehenen Eigenschaften und Fähigkeiten zum Guten wie zum Bösen nutzen. Dass der Teufel sein Wirken demgegenüber nicht eingestellt hat und ebenfalls weiterhin seinen »Beitrag« liefert, dass also den Tugenden jeweils Laster entgegenstehen, macht die Unabwägbarkeit des Ergebnisses aus. Das alles sei hier nur noch angedeutet und kann nicht mehr näher ausgeführt werden, zumal es über den Sündenfall selbst weit hinausgeht, aber, und darauf kommt es in diesem Zusammenhang an, erst dadurch bedingt ist.

4. »Säkularisierung« des Sündenfalls in der Dichtung? Sind bisher überwiegend die mittelalterlichen Theologen zu Wort gekommen, so geht man in der Dichtung durchaus (oder auch noch) freier mit dem biblischen Bericht um. Ich beschränke mich, um das zu verdeutlichen, auf ein einziges Beispiel und greife damit zugleich in das Fachgebiet unseres hier zu gedenkenden Nestors, die Anglistik, ein, indem ich abschließend einen Blick auf die altenglische, sogenannte ›Genesis B‹ werfe (wie sich vielleicht nicht zufällig verschiedene Ausgestaltungen des Engelfalls gerade in der angelsächsischen Literatur finden).118 Diese vielleicht um 900 entstandene Dichtung bietet eine eigenwillige Deutung des biblischen Berichts, der hier unter mancherlei selbstständigen Einfügungen und Deutungen zu einer mit vielen Reden ausgestalteten, an irdisch-menschliche Vorstellungen angelehnten Erzählung ausstilisiert wird.119 Der Engelfall wird darin gleichsam zu einer Rebellion des Teufels gegen den Himmelsherrscher: Nach der Schöpfung hatte Gott sich wieder in den Himmel (heofenum) begeben, wo ihn zehn Engelsgeschlechter (engelcynna) umgaben, die mit Verstand (gewít) und herrlichen Wohnsitzen ausgestattet waren.120 Ein Engel aber war besonders mächtig (mihtigne), glänzend (hwitne) und prunkvoll (wynlic) und der

  So in ›Christ and Satan‹, ›Guthlac A‹ oder ›Solomon and Saturn‹. Vgl. dazu Daniel Anlezark, The fall of the angels in ›Solomon and Saturn II‹, in: Kathryn Powell u. Donald Scragg (Hgg.), Apocryphal Texts and Traditions in Anglo-Saxon England (Publications of the Manchester Centre for Anglo-Saxon Studies 2), Cambridge 2003, S. 121–133. Im Zentrum dieser Dichtung steht eine militärische Rebellion im Himmel. 119  Ute Schwab (Hg.), Die Bruchstücke der altsächsischen Genesis und ihrer altenglischen Übertragung. Einführung, Textwiedergaben und Übersetzungen, Abbildung der gesamten Überlieferung (Göppinger Beiträge zur Textgeschichte 29), Göppingen 1991; die Edition mit Übersetzung, S. 82–125. 120   Genesis B, v. 240–252, S. 82. 118

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Höchste von allen.121 Doch er erklärte Gott den Krieg und führte feindselige Reden: Er wolle Gott nicht dienen, da er selbst einen strahlenden und glänzenden Leib habe.122 Deshalb erstrebte er mit seinen starken Genossen (strange geneatas) einen höheren Thron im Himmel123 und sagte: »Ich will nicht länger untertan sein!«124 Darüber erfasste sie jedoch Gottes Zorn und Strafe und verbannte sie wegen der Auflehnung in die Hölle (hellewites), wo er mit allen seinen Helfern (geferum) zum Teufel wurde.125 Der Fall selbst wird zu einem zeitlichen Drama ausgestaltet: Drei Tage und drei Nächte fielen diese Engel vom Himmel in die Hölle,126 die sich mit solchen Widersachern füllte.127 Der Teufel aber nahm den Namen Satan an (nämlich gerade umgekehrt als in der theologischen Literatur)128 und wurde in der Hölle am Hals angekettet.129 Der Autor kleidet das in eine lange Klagerede Satans. Der Sündenfall des Menschen folgt unmittelbar aus diesem Geschehen: Da Satan nun unmöglich mehr gegen Gott selbst vorgehen konnte, suchte er neue Wege, um sich zu rächen, indem er nämlich den Menschen, den Gott in »Mittelgart«130 mit seinen zwei Bäumen, dem Baum des Lebens und dem Baum des Todes,131 gesetzt hatte und der jetzt reicher war als der Teufel,132 zu überlisten und zu verführen trachtete, damit Gott zornig auf ihn würde. Er nahm die Gestalt einer Schlange an, gab sich als Bote Gottes aus und befahl Adam, vom Baum des Todes zu essen, auf dass er noch schöner und stärker werde.133 Adam aber berief sich auf Gottes Gebot und glaubte ihm nicht, weil er nicht wie ein Engel aussah!134 Daraufhin wandte sich der Teufel an Eva, »die schönste aller Frauen«, bestritt, der Teufel zu sein und überredete sie, vom Baum des Todes zu essen.135 Eva aß von der Frucht und spürte Erkenntnis, die der Teufel ihr dank seiner Zauberkraft suggerierte.136 Sie überredete nun ihrerseits Adam,137 ohne zu wissen, dass den Menschen daraus soviel Leid erwachsen würde, wie der Dichter   Ebd., v. 253, S. 82.   Ebd., v. 259–267, S. 84: hís líc waere leoht and scene (v. 265). 123   Ebd., v. 271–274, S. 84; v. 284, S. 86. 124   Ebd., v. 291: ne wille íc leng his geongra wurþan. Geongra ist der Diener oder Jünger. 125   Ebd., v. 301–306, S. 86: þaer he to deofle wearð (v. 305). 126   Ebd., v. 306–309, S. 86. 127   Ebd., v. 319f., S. 88. 128   Ebd., v. 343–345, S. 90. 129   Ebd., v. 380–388, S. 92. 130   Ebd., v. 395–397, S. 94. 131   Ebd., v. 460–490, S. 98/100. 132   Ebd., v. 421f., S. 96. 133   Ebd., v. 491–520, S. 102. 134   Ebd., v. 522–546, S. 104; explizit v. 538f. 135   Ebd., v. 547–587, S. 104–108. 136   Ebd., v. 599–625, S. 110. 137   Ebd., v. 626–664, S. 110/112. 121 122

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betont,138 und sie brauchte dazu immerhin einen ganzen Tag!139 Schließlich gab Adam nach »und empfing von dem Weib Hölle und Tod« (helle and hinnsīð).140 Damit hatte der Teufel triumphiert und seine Beleidigungen gerächt;141 er kehrte zu dem angeketteten Satan zurück – wieder sind beide nicht identisch –,142 während Adam und Eva Angst und Reue empfanden.143 Das Gedicht endet bezeichnenderweise mit der Bitte, Gott möge ihnen zeigen, wie sie auf dieser Welt weiterleben könnten,144 und zeigt somit nicht nur die Akzeptanz der Strafe, sondern auch den Wunsch, sich damit mit Gottes Hilfe zu arrangieren. Die nicht geringen Unterschiede zur Bibel sind offensichtlich.145 Die biblische Geschichte wird hier nicht nur in menschliche Vorstellungswelten umgesetzt (Gottes Thron im Himmel; Rebellion Satans zur Erlangung der himmlischen Herrschaft), sondern überhaupt recht frei wiedergegeben, erweitert und, auch gegenüber der theologischen Literatur, eigenwillig gedeutet. Dennoch bleiben alle Grundanliegen der theologischen Literatur auffällig erhalten.146 Man wird deshalb darüber streiten können, inwieweit solche dichterischen Umsetzungen des Bibelberichts eine Verweltlichung des theologischen Wissens darstellen. Letztlich schmücken sie nur aus, was sich dort bereits andeutet. Gerade diese Umdichtungen und Erläuterungen lassen aber erkennen, worauf es der mittelalterlichen Vorstellungswelt ankam. Der enge Zusammenhang zwischen Engel- und Menschenfall wird hier ebenso überdeutlich wie die Deutung aus menschlich-irdischer Sicht und die moralische Mahnung: Der Sündenfall lässt sich nicht rückgängig machen, aber er gemahnt den Menschen durch die Erinnerung daran an ein besseres, gottgefälligeres Verhalten, woran der Teufel ihn wiederum boshaft zu hindern sucht. Der Beitrag des Menschen zu Gottes Werk muss darin bestehen,   Ebd., v. 708–711, S. 116.   Ebd., v. 684, S. 114. 140   Ebd., v. 717f., S. 116. 141   Ebd., v. 726–762, S. 116/118. 142   Ebd., v. 762–765, S. 118. 143   Ebd., v. 765–777, S. 120. In Reden Adams und Evas (v. 790–840, S. 120–124) wird vor allem ihre Reue betont. 144   Ebd., v. 849–851, S. 124: þaet hie ne forgeate god aelmihtig / and him gewisade waldend se góda, / hu hie on þam leohte forð libban sceolden. 145   Der Engel- und Menschenfall ist in der Oxforder Handschrift der ›Genesis B‹ auch bildlich – in groben Skizzen und gegenüber dem Text wiederum eigenständig – illustriert: In einer Miniatur (fol. 16/17) stürzen die Engel vom Himmel in die Hölle, während der Teufel im Höllenschlund angebunden ist. Beim Sündenfall reicht einmal der Höllenengel (nicht die Schlange) Eva den Apfel, die ihn Adam weitergibt (fol. 24 und 31); auf einem anderen Bild (fol. 28) reicht der Engel die Frucht Adam und Eva gleichzeitig. Alle Zeichnungen sind in der Edition von Schwab abgebildet. 146   Noch deutlicher sind die Berührungspunkte mit der lateinischen Bibelepik: Vgl. dazu am Beispiel des Avitus von Vienne: Siegmar Döpp, Eva und die Schlange. Die Sündenfallschilderung des Epikers Avitus im Rahmen der bibelexegetischen Tradition, Speyer 2009. 138 139

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sich diesem (endlich) würdig zu zeigen. Der Sündenfall aber erklärt erst die christliche Heilsgeschichte, in ihren Grundzügen ebenso wie in der konkreten Ausgestaltung. In der religiösen Vorstellungswelt des Mittelalters bildet der Sündenfall den Ausgangspunkt der Geschichte, der religiösen Selbstfindung des Menschen, der Heilswirkung und der Hoffnung, den Fall durch die göttliche Gnade und das eigene Verdienst auf dem Weg über die Heilsgeschichte zur (erneuten) Erlösung umzugestalten. Deshalb ist beides eng aufeinander bezogen und zumal im hohen Mittelalter in einen systematischen Zusammenhang gebracht. Einem rational denkenden Menschen des 21. Jahrhunderts mag es schwer fallen, dieses enge Geflecht von Fall und Erlösung zu durchdringen und den Widerspruch zwischen göttlicher Gnade und göttlicher Strafe aufzulösen. Eben darum aber ging es im Mittelalter. Eine – hier nur in Ansätzen vorgeführte – detaillierte Betrachtung des in den Grundzügen längst bekannten Sündenfalls wirft deshalb, weit über die Dogmatik hinaus, ein anschaulicheres Licht auf die mittelalterlichen Vorstellungen. Sie zeigt, wie die Menschen den Vorfall im Einzelnen gedeutet und, weit über das biblische Wissen hinaus, ausgemalt haben. Kein Sündenfall, um abschließend noch einmal auf die Rahmenveranstaltung dieses Beitrags zurückzukommen, war die Gründung des Mediävistenverbandes, auch wenn dieser Akt an sich noch nicht die Erlösung bringt. Auch wir Mediävisten müssen vielmehr hart dafür (und daran) arbeiten. Alle Nachfolger waren und sind aufgerufen, Göllers Erbe zu bewahren, fortzuführen, aber auch zeitgemäß weiterzuentwickeln. Denn ohne Karl Heinz Göller gäbe es keinen Mediävistenverband, und ohne den Mediävistenverband wäre es um die arme mediävistische Seele noch weit schlimmer bestellt. Göller sei Dank!

Gottes Werk

Dämon oder Krankheit? Der Alpdruck in der frühbyzantinischen Medizin Nadine Metzger

While demons are an integral part of Byzantine spiritual and everyday life, educated physicians refuse, in their writings, to acknowledge that they have any power over the human body. In light of this refusal, medical texts stand in strong opposition to both religious and folk interpretations of diseases as the workings of demons. As the example of Ephialtes (oppression nightmare) indicates, all medical encyclopedists in early Byzantine times categorically reject a de­ monological explanation of this illness. Since all these medical authors rework ancient material, it has to be ascertained whether this extreme position is only due to their techniques of excerption or whether they truly are engaging in a contemporaneous dispute. The decisions made by excerptors have to be put into their cultural context in order to reconstruct the meaning they have given to the ancient material.

Dass Dämonen in der Lage sind, Krankheiten zu verursachen, ist ein integraler Bestandteil frühbyzantinischer Dämonologie. Nicht nur im Volksglauben, sondern auch in der christlichen Lehre und Praxis sind Dämonen selbstverständlich in der Lage, in Menschen Krankheiten hervorzurufen. Wenig Verständnis wird deshalb von christlichen Autoren denjenigen Ärzten entgegengebracht, die einen solchen Einfluss auf den menschlichen Körper mit Verweis auf die hippokratisch-galenische Tradition ablehnen. Ein besonders augenfälliges Feld für widerstreitende Deutungskompetenzen zwischen Ärzten und Dämonologen sind Wahnsinn und andere Phänomene, die gemeinhin mit Besessenheit erklärt werden können. So äußert sich im 5. Jahrhundert n. Chr. etwa der Kirchenhistoriker Philostorgios ablehnend gegenüber den Lehren des Arztes Poseidonios. Dieser behauptete fälschlicherweise, dass Menschen nicht durch den Einfluss böser Dämonen verrückt werden, sondern durch eine ungesunde Mischung gewisser Körpersäfte; außerdem dass Dämonen nicht die Macht hätten, Menschen anzugreifen.1

1   λέγειν δ’ αὐτὸν ὅμως οὐκ ὀρθῶς οὐχὶ δαιμόνων ἐπιθέσει τοὺς ἀνθρώπους ἐκβακχεύεσθαι, ὑγρῶν δέ τινων κακοχυμίαν τὸ πάθος ἐργάζεσθαι. μηδὲ γὰρ εἶναι τὸ παράπαν ἰσχὺν δαιμόνων ἀνθρώπων φύσιν ἐπηρεάζουσαν. Philostorgios VIII 10, in: Philostorgius, Kirchengeschichte. Mit dem Leben des Lucian von Antiochien und den Fragmenten eines arianischen Historiographen, hrsg. v. Joseph Bidez und

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Philostorgios zeigt mit diesen Worten genau auf den Widerspruch zwischen der christlich-dämonologischen und der medizinischen Position: die sich grundlegend widersprechenden ätiologischen Auffassungen von Wahnsinn. Der von Philostorgios kritisierte Poseidonios ist ein medizinischer Schriftsteller des späten 4. Jahrhunderts n. Chr., der besonders für seine physiologischen Beschreibungen von »Kopfkrankheiten« – also auch Wahnsinn – bekannt ist.2 Sein Werk ist ausschließlich in Fragmenten überliefert, die sich bei dem etwas jüngeren medizinischen Sammelautoren Aëtios von Amida (6. Jh.) finden. Die ablehnende Haltung gegenüber dämonologischer Krankheitserklärung, die ihm Philostorgios in der oben zitierten Stelle zuschreibt, lässt sich in einem der Fragmente wiederfinden: im Kapitel des Poseidonios über den Ephialtes (Περὶ ἐφιάλτου Ποσειδωνίου), einer der Epilepsie verwandten Krankheit, die sich durch nächtlichen Alpdruck äußert.3 Dort sagt Poseidonios explizit: »Der sogenannte Ephialtes ist kein Dämon, sondern eine Krankheit (οὔκ ἐστιν ὁ καλούμενος ἐφιάλτης δαίμων, ἀλλὰ μελέτη).« Während Poseidonios noch vor einem vorchristlich-philosophischen Hintergrund schreibt, für den eine Ablehnung dämonischer Krankheitsursachen nicht außergewöhnlich ist,4 stehen die frühbyzantinischen Mediziner der nachfolgenden Jahrhunderte – selbst Christen – in einem ganz anderen Spannungsverhältnis zwischen medizinischer Lehre und christlicher Deutungsmacht. Die Frage, inwiefern Dämonen mit dem menschlichen Körper agieren, wird nicht nur ganz anders beantwortet, sondern besitzt auch erheblich mehr gesellschaftliche Brisanz.5 Den buchgelehrten ÄrzFriedhelm Winkelmann (Die Griechischen Christlichen Schriftsteller der ersten drei Jahrhunderte 21), 3. Aufl. Berlin 1981. 2  Dieser Poseidonios ist nicht identisch mit dem gleichnamigen Stoiker. Er kann eindeutig über die oben genannte Stelle bei Philostorgios abgegrenzt und datiert werden. Zu Poseidonios siehe Hellmut Flashar, Melancholie und Melancholiker in den medizinischen Theorien der Antike, Berlin 1966, S. 120–126. 3   Ebenfalls überliefert bei Aëtios von Amida, VI 12. Aetius Amidenus, Libri medicinales v–viii, hrsg. v. Alessandro Olivieri (Corpus medicorum Graecorum 8/2), Berlin 1950. Zu Ephialtes in antiker Medizin und Kultur siehe Wilhelm Heinrich Roscher, Ephialtes. Eine pathologisch-mythologische Abhandlung über die Alpträume und Alpdämonen des Klassischen Altertums (Abhandlungen der philosophisch-historischen Classe der Königl. Sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften 20), Leipzig 1900; Nadine Metzger, Wolfsmenschen und nächtliche Heimsuchungen. Zur kulturhistorischen Verortung vormoderner Konzepte von Lykanthropie und Ephialtes (Studien zur Geschichte der Medizingeschichte und Medizingeschichtsschreibung 4), Remscheid 2011, S. 7–124. 4   Näheres dazu siehe unten. 5  Zu antiker bzw. byzantinischer Dämonologie siehe Hans Herter, Böse Dämonen im frühgriechischen Volksglauben, in: Rheinisches Jahrbuch für Volkskunde 1 (1950), S. 112–143; Frederick E. Brenk, In the Light of the Moon. Demonology in the early imperial period, in: Aufstieg und Niedergang der römischen Welt II, 16/3 (1986), S. 2068–2145; Dale B. Martin, Inventing Superstition. From the Hippocratics to the Christians, Cambridge/Mass. 2004, S. 187–206; C. Detlef G. Müller, Geister (Dämonen). Volksglaube, in: Reallexikon für Antike und Christentum IX (1976), Sp. 761–797; Clemens

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ten, die sich in ihren Werken mit den autoritativen Schriften ihrer (heidnischen) Vorgänger auseinandersetzen, präsentiert sich die hippokratisch-galenische Medizin zwar in den meisten Belangen als religiös neutral,6 aber bei einer Krankheit wie dem Ephialtes wird eine Stellungnahme durch ihre rezipierten Quellen (wie etwa Poseidonios) geradezu gefordert. Wie positionieren sich also frühbyzantinische Ärzte zur Frage, ob Krankheiten durch Dämonen hervorgerufen werden? Besonders geeignet für diese Frage ist die Auseinandersetzung der byzantinischen Autoren mit der Krankheit Ephialtes, da die Ablehnung einer dämonologischen Ätiologie integraler Bestandteil der antiken Beschreibungen dieser Krankheit ist.7 An den Beispielen der Ephialtes-Kapitel der medizinischen Sammelautoren des Zeitraums vom 4. bis 9. Jahrhundert n. Chr. (Oreibasios, Aëtios von Amida, Paulos von Aigina, Paulos Nikaios) soll gezeigt werden, wie die Auseinandersetzungen der frühbyzantinischen Autoren mit ihren Quellen aussehen konnten, wie neue Haltungen auf alte Vorstellungen trafen, und wie eine Positionierung in der Frage nach dämonischer Krankheitsverursachung erfolgen konnte.

Byzantinische medizinische Enzyklopädien und das antike Erbe Die gelehrte frühbyzantinische Medizin ist heute insbesondere in den umfangreichen medizinischen Enzyklopädien dokumentiert, die Autoren von Oreibasios (4. Jh. n. Chr.) bis Paulos Nikaios (ca. 7. bis 9. Jh.) zusammengestellt haben. Diese Kompilationen systematisierten und konzentrierten vorhandenes Wissen für den einfachen Zugriff; Krankheiten sind nach erkranktem Körperteil a capite ad calcem geordnet. Die Autoren sind meistenteils eher zurückhaltend mit eigenen Beobachtungen oder gar Thesen, sie orientieren sich inhaltlich wie sprachlich an der antiken griechischen Tradition.8 Gemeinhin werden eher volkssprachliche medizinische Gebrauchsbücher und

Zintzen, Geister (Dämonen). Hellenistische und kaiserzeitliche Philosophie, in: Reallexikon für Antike und Christentum IX (1976), Sp. 640–668. 6   Der weitgehend religionsneutrale Charakter der hippokratisch-galenischen Medizin wird gemeinhin für deren Erfolg in ganz unterschiedlichen kulturellen Kontexten (christlicher Westen und Osten, islamisches Mittelalter) mitverantwortlich gemacht. Vgl. Owsei Temkin, Hippocrates in a World of Pagans and Christians, Baltimore 1991, S. 236–240. 7  Beginnend mit Themison bzw. Soran hat diese eigentlich aus der Tradition der methodischen Schule stammende Krankheit in fast jeder überlieferten Beschreibung (Oreibasios, Synopsis ad filium, VIII 2; Aëtios von Amida VI 12; Paulos Nikaios 26; Caelius Aurelianus, Tardae passiones, I 3) die Dämonenabgrenzung an prominenter Stelle. Die Definition der Krankheit scheint mit dieser eng verknüpft: Allein die Benennung der Krankheit orientiert sich an einem Dämon mit dem Namen ›Ephialtes‹, der laut Auskunft der Ärzte landläufig für die Krankheit verantwortlich gemacht wird. Soran bei Caelius Aurelianus, Tardae passiones, I 3. 8  Vivian Nutton, Ancient Medicine, London 2004, S. 295–296.

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Rezeptsammlungen (Iatrosopheia) dieser Zeit von den gelehrten Enzyklopädien abgegrenzt.9 Beginnend mit Oreibasios, der sich bewusst an Galens umfangreichem Werk ausrichtet, wird die inhaltliche Ausrichtung der Kompilatoren gemeinhin als galenisch bezeichnet. Zumindest im Falle der Kopfkrankheiten jedoch herrscht ein anderes Bild vor; gerade bei den melancholischen Krankheiten dominieren Autoren wie Rufus von Ephesos und Poseidonios, die sich auf diesem Feld besonders auszeichnen. Auch Spuren anderer medizinischer Schulen wie etwa der Methodiker sind enthalten. In der Forschung wurden die Eigenleistungen der frühbyzantinischen Kompilatoren lange vernachlässigt und lediglich ihr Beitrag zur »Übermittlung älteren Gutes« von Antike zu Neuzeit gewürdigt.10 Tatsächlich aber leisteten die Autoren sehr viel an Schwerpunktsetzung, Systematisierung und Konzentration, was der hippokratischgalenischen Medizin für das folgende Jahrtausend vieles seiner spezifischen Form verleihen sollte. Auch die Kompilation von Exzerpten ist mehr als einfaches Kopieren: Die Auswahl, Auslassungen und Modifikationen verraten viel über Ansprüche, Absichten und Positionierung der Autoren gegenüber ihren Quellen. Teilweise noch nicht (Aëtios von Amida, Bände 10 und 14) oder erst kürzlich (Paulos Nikaios) durch kritische Editionen zugänglich gemacht, harrt diese medizinhistorische Epoche weiter eingehender Forschung.

Ephialtes Der Ephialtes wird von den antiken und frühbyzantinischen Ärzten als eine epilepsieartige Krankheit beschrieben, bei der die Patienten nächtlichen Anfällen von Alpdruck ausgesetzt sind.11 Die spezifischen Symptome dieses Traumerlebnisses sind eng umgrenzt: Der Kranke erlebt im Schlaf Atemnot und schweren Druck auf der Brust, er ist weder zur Bewegung fähig noch dazu in der Lage, aufzuwachen oder um Hilfe zu ru-

9   Zur byzantinischen Medizin siehe Owsei Temkin, Byzantinische Medizin. Tradition und Empirik, in: Hellmut Flashar (Hg.), Antike Medizin (Wege der Forschung 221), Darmstadt 1971, S. 435–468; Temkin (Anm. 6); Vivian Nutton, From Galen to Alexander. Aspects of medicine and medical practice in late antiquity, in: John Scarborough (Hg.), Symposium on Byzantine Medicine (Dumbarton Oaks Papers 38), Washington/D.C. 1984, S. 1–14; Gotthard Strohmaier, Die Rezeption und die Vermittlung. Die Medizin in der byzantinischen und in der arabischen Welt, in: Mirko Grmek (Hg.), Die Geschichte des medizinischen Denkens. Antike und Mittelalter, München 1996, S. 151–181. 10  Vgl. Owsei Temkin, Geschichte des Hippokratismus im ausgehenden Altertum, in: Kyklos 4 (1932), S. 1–80, hier S. 32. 11   Die folgenden Ausführungen stützen sich auf die Analyse der fünf Hauptquellen: Oreibasios, Synopsis ad filium, VIII 2; Aëtios von Amida VI 12; Paulos von Aigina III 15; Paulos Nikaios 26; Caelius Aurelianus, Tardae passiones, I 3.

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fen. Im Traum wird dieses körperliche Empfinden häufig mit einem tätlichen Angriff in Verbindung gebracht, bei dem sich der Träumende gewürgt oder erdrückt wähnt. Die medizinischen Autoren ordnen diese Symptome als eine Art epileptischen Anfall ein: »Denn was die Epileptiker am Tage, das erleiden die Ephialtiker in der Nacht.«12 Besonders wenn er häufig auftrete, so sei der Ephialtes ein Vorläufer der weitaus schlimmeren Krankheiten Epilepsia, Mania oder Apoplexia. Alle Autoren, die dem Ephialtes ein Kapitel widmen, lehnen es explizit ab, die Krankheit durch einen Angriff eines Dämons zu erklären. Stattdessen werden Verdauungsprobleme für die Erscheinung verantwortlich gemacht. Am ausführlichsten erläutert Poseidonios die physiologischen Abläufe, die zu den spezifischen Symptomen des Anfall führen: Bei den durch übermäßiges oder schweres Essen belasteten Verdauungsvorgängen werde »dichter und kalter Dampf« (ἀτμῶν παχέων καὶ ψυχρῶν) produziert, der vom Magen in das Gehirn aufsteige und dort die kognitiven und motorischen Fähigkeiten störe. Desweiteren verschließe er die Atemwege, so dass der Kranke Atemnot erleide.13 Diese Ätiologie wird auch in den diversen Therapievorschlägen aufgegriffen: Eine leichte und nicht blähende Diät sowie verschiedene Medikamente setzen bei den Verdauungsproblemen an, während dem kalten Dampf in den Gehirnhöhlungen dadurch begegnet werden soll, dass der Kopf während des Schlafes durch Dillöl oder eine Filzkappe gewärmt wird. Ausführliche Schilderungen des Ephialtes sind lediglich in den nachgalenischen Enzyklopädien sowie der lateinischen Soran-Übertragung des Caelius Aurelianus (um 400 n. Chr.) erhalten;14 Galen selbst äußert sich dazu nicht. Dennoch lässt sich die Geschichte des Krankheitskonzeptes bis auf vorchristliche Zeit zurückverfolgen – laut Caelius Aurelianus wurde die Krankheit erstmalig durch den Methodiker Themison von Laodikeia im 2. Jahrhundert v. Chr. beschrieben.15 Die ältesten erhaltenen Erwähnungen des Krankheitsnamens reichen bis ins 1. Jahrhundert n. Chr. zurück.16 Integraler Bestandteil des medizinischen Diskurses scheint von Anfang an die Abgrenzung gegenüber einer dämonologischen Krankheitserklärung gewesen zu sein; Cae12   ὅσα γὰρ οἱ ἐπιληπτικοὶ μεθ’ ἡμέραν, ταῦτα οἱ ἐφιαλτικοὶ πάσχουσι κοιμώμενοι. Oreibasios, Synopsis ad filium, VIII 2, in: Oribasius, Synopsis ad Eustathium et libri ad Eunapium, hrsg. v. Johannes Raeder (Corpus medicorum Graecorum 6/3), Leipzig 1926. Zur antiken Epilepsia siehe Owsei Temkin, The Falling Sickness. A history of epilepsy from the Greeks to the beginnings of modern neurology, 2. Aufl. Baltimore/Md. 1971; Karl-Heinz Leven, Die »unheilige Krankheit«. Epilepsia, Mondsucht und Besessenheit in Byzanz, in: Würzburger Medizinhistorische Mitteilungen 13 (1995), S. 17–57. 13   Aëtios von Amida VI 12. 14   Vgl. Anm. 11. 15   Caelius Aurelianus, Tardae passiones, I 3. 16   Jeweils als Indikation für ein gewisses Heilmittel bei Scribonius Largus (Compositiones 100) und Dioskurides (Materia Medica III 140).

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lius Aurelianus führt aus, dass der Name der Krankheit »Ephialtes« von der menschenähnlichen Gestalt (hominis forma vel similitudine) herrühre, die der Kranke in seinem Alptraum als Angreifer wahrzunehmen glaubt. Auch soll Soran (1./2. Jh. n. Chr.) der Frage eine ausführliche Diskussion in einem uns verlorenen Werk über Krankheitsursachen (Aetiologumena) gewidmet haben.17 Die programmatische Aussage, Ephialtes sei kein Dämon, sondern eine Krankheit, findet sich folglich zu Beginn eines jeden Kapitels in den frühbyzantinischen Enzyklopädien.

Die Abgrenzung gegenüber einer dämonischen Krankheitsursache Durch die kompilatorische Arbeitsweise dieser Autoren war nicht nur jeder von ihnen gezwungen, sich mit dieser Dämonenabgrenzung auseinanderzusetzen, sondern auch fast alle enzyklopädischen Autoren – mit Ausnahme von Paulos von Aigina – erhalten sie in ihren Exzerpten. Ein Vergleich der vier Äußerungen zeigt, dass tatsächlich jeder Autor eine eigene Variante präsentiert, was bemerkenswert ist, wenn man bedenkt, dass andere Abschnitte des Kapitels jeweils direkt voneinander abhängen und daher beinahe wortgleich sind. Oreibasios, der älteste erhaltene Autor (4. Jh.) und als Arzt des Kaisers Julian Apostata bekennender Heide, äußert sich überraschend differenziert zur möglichen dämonischen Ursache des Ephialtes: Der sogenannte Ephialtes ist kein böser Dämon, sondern einerseits eine schwere Krankheit, andererseits ein gottgesandter Interpret und Diener des Asklepios. (Οὐκ ἔστιν ὁ καλούμενος ἐφιάλτης δαίμων κακός, ἀλλ’ ὁ μέν τις νόσος ἰσχυρά, ὁ δ’ ὑποφήτης ἱερὸς καὶ θεράπων Ἀσκληπιοῦ.)18

Er schreibt vor dem Hintergrund der heidnischen (neoplatonischen) Dämonologie seiner Zeit, die mit einem anderen Konzept von »Dämon« (δαίμων) arbeitet als die uns heute besser geläufige christlich geprägte Auffassung. Nach platonischer Tradition sind Dämonen als übermenschliche Wesen definiert, die hierarchisch zwischen Menschen und Göttern angesiedelt sind. Sie sind daher den Menschen nicht nur in Macht und Göttlichkeit überlegen, sondern auch in allen ethischen Belangen: Während sich Menschen mit den gemeinen, unmoralischen und kultisch unreinen Belangen des Erdenlebens abgeben müssen und auch selbst meistenteils sehr fern des »Guten, Schönen und Wahren« stehen, so haben die Dämonen wie die Götter keine Bindung an das materielle Sein. Ihre göttliche Natur schließt eine Beschäftigung mit schlechten, verunreinigenden Dingen wie Krankheit und Tod aus, zudem sind sie den Menschen moralisch überlegen. Eine Verursachung von Krankheit oder die Existenz bösartiger 17 18

  Caelius Aurelianus, Tardae passiones, I 3.   Oreibasios, Synopsis ad filium, VIII 2 (Anm. 12).

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Dämonen wird daher von gebildeten Heiden abgelehnt und als Aberglaube abgetan. Auch Oreibasios, selbst ein hochgebildeter Mann, bestreitet somit, dass ein Dämon die Krankheit Ephialtes verursachen könnte.19 Allerdings schließt er ebenfalls in Übereinstimmung mit der heidnischen Dämonologie seiner Zeit nicht aus, dass der Ephialtes-Traum in einem positiven Sinne durch einen Dämon hervorgerufen werden könne. Dieser Dämon wäre dann ein Gesandter des Heilgottes Asklepios, der in Form eines Traumbildes mit dem Schlafenden kommuniziert – eine gängige Form des Kontakts zwischen Mensch und Heilgott.20 Der Traumdeuter Artemidor von Daldis (2. Jh. n. Chr.) belegt eine solche positive Interpretation des Ephialtes-Traums: Was er auch bei seinem Kommen tut – Kranke macht er wieder gesund; denn niemals kommt er zu einem sterbenden Menschen.21

Nach spätantiken Frömmigkeitsvorstellungen gibt der transzendente Gott Asklepios ein solches prophetisches Traumbild nicht mehr persönlich ein, sondern bedient sich eines vermittelnden Dämons, des hier angesprochenen »gottgesandten Interpreten und Dieners«, der den direkten Kontakt mit der menschlichen materiell-stofflichen Sphäre ausführt.22 Oreibasios äußert sich somit sehr klar zur Frage nach einem Dämon ›Ephialtes‹. was direkt mit seinem Engagement als heidnischem Intellektuellen unter Julian und den damit selbstverständlich von ihm geteilten neoplatonischen Auffassungen verbunden werden kann. Er hinterlässt einen charakteristischen Stempel heidnischer Dämonologie auf dem Exzerpt seiner Quelle. 19   In der weiteren spätantiken Entwicklung der heidnischen Philosophie wird allerdings die Krankheitsverursachung durch Dämonen wieder eingeräumt: Späte neoplatonische Philosophen wie Proklos (5. Jh. n. Chr.) integrieren diese im Volksglauben nie verloren gegangene Auffassung wieder in ihre Dämonologie. Zu neoplatonischer Dämonologie siehe Martin (Anm. 5), S. 189–204; Zintzen (Anm. 5), Sp. 653–67. 20   Zur sogenannten Inkubation siehe Beate Dignas, A Day in the Life of a Greek Sanctuary, in: Daniel Ogden (Hg.), A Companion to Greek Religion, Malden/Ma. 2010, S. 163–177; Antje Krug, Heilkunst und Heilkult. Medizin in der Antike, München 1985, S. 120–141; Florian Steger, Medizinischer Alltag in der römischen Kaiserzeit aus Patientenperspektive. P. Aelius Aristides, ein Patient im Asklepieion von Pergamon, in: Medizin, Gesellschaft und Geschichte 20 (2001), S. 45–71. 21   ὅ τι δ’ ἂν προσιὼν πράξῃ, τοὺς νοσοῦντας ἀνίστησιν· οὐ γὰρ ἀποθανουμένῳ πρόσεισί ποτε ἀνθρώπῳ. Artemidor von Daldis, Oneirokritikon, II 32. Artemidorus Daldianus, Onirocriticon, hrsg. v. Roger A. Pack, Leipzig 1963. 22   Eine bereits seit dem Mittelplatonismus (Plutarch) gängige Vorstellung, die die Erhabenheit von Göttern nicht durch direkten Kontakt mit der menschlich-stofflichen Welt geschmälert haben möchte. Siehe Metzger (Anm. 3), S. 53. Zu Plutarchs Dämonologie siehe Frederick E. Brenk, An Imperial Her­ itage. The religious spirit of Plutarch of Chaironeia, in: Aufstieg und Niedergang der römischen Welt II, 36/1 (1987), S. 248–349.

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Anders sieht es bei der knappen Aussage des Poseidonios aus, wie sie bei Aëtios von Amida wiedergegeben ist: »Der sogenannte Ephialtes ist kein Dämon, sondern eine Krankheit.«23 Hier ist der Kontext der Autoren unklar. Von Poseidonios ist nicht bekannt, ob er Heide oder Christ war,24 während Aëtios im 6. Jahrhundert wahrscheinlich christlichen Glaubens war.25 Je nach angenommenem Kontext könnte die Aussage also entweder bedeuten, dass Ephialtes kein Dämon ist, weil der Verfasser (Poseidonios) prinzipiell in platonischer Tradition die Verursachung von Krankheit durch Dämonen ablehnt – was durch die Stelle bei Philostorgios gestützt wird –, oder aber dass hier in diesem speziellen Fall kein Dämon verantwortlich ist, während Dämonen im Allgemeinen schon Krankheiten verursachen können. Letzteres wäre mit christlicher Dämonologie vereinbar. Poseidonios als Autor der Quelle und Aëtios als Kompilator können somit unterschiedliche Auffassungen in demselben Satz ausgedrückt haben. Die Aussage benötigt Kontext für die Interpretation. Paulos von Aiginas Quellen lassen sich sowohl auf Soran als auch auf Oreibasios zurückführen. Er bezieht den ersten Teil seiner Schilderung des Ephialtes direkt oder vermittelt aus dem Buch des Soran über chronische Krankheiten, wie es bei Caelius Aurelianus überliefert ist. Der zweite Teil des Kapitels – Prognose und Therapie – entspricht der Darstellung des Oreibasios. Paulos, der wohl Christ war und im 7. Jahrhundert lebte,26 nimmt im Unterschied zu den anderen enzyklopädischen Autoren die Dämonenabgrenzung nicht in seine Krankheitsschilderung auf, obwohl sie unzweifelhaft in seinen Quellen vorhanden war – wahrscheinlich sogar mehrfach, sowohl bei Oreibasios als auch bei Soran. Statt sein Kapitel mit der Zurückweisung der dämonischen Krankheitsursache zu beginnen, erläutert er lediglich die Benennung der Krankheit durch einen Eigennamen beziehungsweise die etymologische Bedeutung der Bezeichnung. Er führt aus, dass sich die Träumenden häufig durch eine Person attackiert wähnen, stellt aber keine Verbindung zu einem dämonischen Angreifer her. Die gesamte Sphäre des Dämonischen bleibt außen vor. Paulos von Aigina bezieht also keine Stellung in der Frage, ob eine Krankheit wie Ephialtes auch durch einen Dämonen verursacht werden kann oder nicht. Sein Umgang mit den Quellen deutet darauf hin, dass es sich um eine bewusste Entscheidung handelt.

  οὔκ ἐστιν ὁ καλούμενος ἐφιάλτης δαίμων, ἀλλὰ μελέτη. Aëtios von Amida VI 12 (Anm. 3).   Auch die ablehnenden Äußerungen Philostorgios’ gegen seine Lehren könnte man in beide Richtungen interpretieren. 25   Zu Aëtios siehe Antonio Garzya, Problèmes relatifs à l’édition des livres IX–XVI du Tetrabiblon d’Aétios d’Amida, in: Revue des Études Anciennes 86 (1984), S. 245–257. 26   Zu Paulos von Aigina siehe Peter E. Pormann, The Oriental Tradition of Paul of Aegina’s Pragmateia, Leiden 2004, S. 4–8. Paulos wirkte in Alexandria und soll dort die arabische Eroberung des Jahres 641 erlebt haben. Angaben zu seinem Leben sind im Werk nur spärlich vorhanden. 23 24

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Der letzte Autor der frühbyzantinischen Enzyklopädisten, Paulos Nikaios (7. bis 9. Jh. n. Chr.), baut im Vergleich zu seinen Vorgängern die Abgrenzung gegenüber einer dämonischen Krankheitserklärung des Ephialtes aus. Nach einer kurzen Definition der Krankheit als Traumerscheinung (νυκτερινὴ φαντασία), Aufzählung der hauptsächlichen Symptome und einer Schilderung der physiologischen Ätiologie führt Paulos aus: Viele glauben, dass der Ephialtes ein Dämon oder Gott ist, der nachts angreift und Aufwachen und Ersticken verursacht; einige aber [halten ihn/hielten ihn] für eine Traumvision und stimmen/stimmten deswegen keiner Therapie zu. »Der sogenannte Ephialtes ist kein böser Dämon, sondern einerseits eine schwere Krankheit, andererseits ein gottgesandter Interpret und Diener des Asklepios.«27 (Πολλοὶ δαίμονα ἢ θεὸν δοκοῦσιν εἶναι τὸν ἐφιάλτην νυκτὸς ἐπιπίπτοντα καὶ ἀγρυπνοῦνται καὶ πνίγονται̇ ἔνιοι δὲ φαντασμὸν ὀνειρώδη καὶ διὰ τοῦτο οὐδὲ θεραπείαν ὑπέγραψαν. ›Οὐκ ἔστιν ὁ καλούμενος ἐφιάλτης δαίμων κακός, ἀλλ’ ὁ μέν τις νόσος ἰσχυρά, ὁ δέ τις ὑποφήτης ἱερὸς καὶ θεράπων Ἀσκληπιοῦ.‹)

Paulos führt also zunächst zwei Meinungen an, die Ephialtes entweder als Dämon oder aber als gottgesandten Traum deuten, um danach Oreibasios zu zitieren. Durch seine Wortwahl bleibt offen, ob sich der erste Satz, seine eigene Aussage, auf zeitgenössische Patienten bezieht, oder aber auf ältere medizinische Autoren – so wie Oreibasios, den er im Folgenden zitiert. Die verwendeten Begriffe πολλοί (»viele«) und ἔνιοι (»einige«) sind denkbar unspezifisch, werden aber auch in anderen medizinischen Schriften dazu verwendet, die Meinungen von Vorgängern zusammenzufassen. Die erste von Paulos aufgeführte Meinung, Ephialtes sei ein »Dämon oder Gott« bewegt sich innerhalb der bereits von anderen Autoren genannten dämonologischen Deutung. Dämon und Gott scheinen gleichgesetzt in ihrer Fähigkeit, Ephialtes zu verursachen, was wohl besser in die heidnische Dämonologie passt, die fließende Übergänge zwischen verschiedenen übermenschlichen Wesen annimmt, als in das christliche Verständnis, in dem sich Dämonen und Gott diametral gegenüber stehen.28 Paulos könnte sich hier auf Soran beziehen, der laut Caelius Aurelianus erläutert, dass Ephialtes weder ein Gott, noch ein Halbgott noch ein Heros sei29 – von Paulos kurz zu27   Paulos Nikaios 26. Paolo di Nicea, Manuale medico, hrsg. v. Anna Maria Ieraci Bio (Hellenica et byzantina neapolitana 16), Neapel 1996. 28   Zur byzantinischen christlichen Dämonologie siehe Müller (Anm. 5); Anastasios Kallis, Geister (Dämonen). Griechische Väter, in: Reallexikon für Antike und Christentum IX (1976), Sp. 700–715. 29   Caelius Aurelianus, Tardae passiones, I 3: Nam quod neque deus neque semideus neque Cupido sit, libris Causarum, quos Aetiologumenos Soranus appellavit, plenissime explicavit. Zur fälschlichen Wiedergabe des griechischen Heros im lateinischen durch Cupido, siehe Erwin Rohde, Zu der Sage von den sardinischen Heroen, in: Rheinisches Museum für Philologie 37 (1882), S. 465–468, hier S. 467, n. 1; zur Forschungsdiskussion des Halbsatzes siehe Metzger (Anm. 3), S. 54–56. Ich neige dazu, in Caelius’ Worten eine Wiedergabe des seit der stoischen und mittelplatonischen Philosophie belegten Dreischrittes »Gott – Dämon – Heros« zu sehen. Dazu Zintzen (Anm. 5), Sp. 642.

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sammengezogen zu »Gott oder Dämon«. Die Aussage bewegt sich innerhalb des durch seine Vorgänger gesteckten Rahmens. Es ist also sehr gut möglich, dass Paulos hier nicht die Meinung von Zeitgenossen oder gar Patienten wiedergibt, sondern lediglich ältere Autoren zitiert. Die zweite nicht-medizinische Erklärungsmöglichkeit, Ephialtes sei eine Traumvision, die nicht behandelt werden sollte, verweist auf den Ephialtes der Traumdeutung. Diese positive Deutung des Ephialtes klingt bereits bei Artemidor an (vgl. oben). Prinzipiell unterscheidet die antike Traumdeutung zwischen Träumen verschiedenen Aussagegehalts: Sie rangieren zwischen nichtssagenden Tagesresten und gottgesandten Traumvisionen, in denen der Träumende Aufschluss über die Zukunft erhält.30 Paulos’ Begriff für die Traumvision (φαντασμὸς ὀνειρώδης) ist zwar in dieser Kombination ungebräuchlich, deckt sich aber bezüglich seiner Wortwahl mit der von Artemidor getroffenen Unterscheidung zwischen nichtssagendem (ἐνύπνιον) und bedeutungsvollem Traum (ὄνειρος). Sowohl in klassischer, als auch in nachantiker Zeit kamen Träumen und Traumdeutung große gesellschaftliche Bedeutung zu. Es lässt sich daher nicht ausschließen, dass es sich bei Paulos’ Aussage um die Meinung von Zeitgenossen handelt. Vergleicht man den nun zur Genüge in seinen Teilen besprochenen ersten Satz des Abschnitts mit dem darauf folgenden Zitat von Oreibasios, das – wie oben ausgeführt – mit dem Verweis auf Asklepios als Heilgott klar nicht mehr der Zeit des Paulos Nikaios entspricht, so lassen sich Paulos’ Worte auch als Erläuterung des folgenden Zitates lesen: Beide sagen mit anderen Worten dasselbe aus. Für einen Leser, der Ephialtes als Boten des Asklepios, wie bei Oreibasios dargestellt, nicht mehr einordnen kann, könnte die Darstellung als harmlose Traumvision denselben Sachverhalt ausdrücken. Auffällig bleibt, dass Paulos zwar ausführlicher als die anderen Autoren auf eine mögliche dämonische Ursache der Krankheit eingeht, aber gleichzeitig – wie schon Paulos von Aigina – nicht direkt Stellung bezieht. Zwar erwähnt er Alternativen zur zuvor ausgeführten physiologischen Erklärung der Krankheit, lehnt diese aber nicht explizit ab. Lesbar ist sein Abschnitt zu den nicht-medizinischen Ursachen als Doxographie verschiedener Ansätze, die von Autoren seiner Quellen genannt werden: »viele«, »einige« und Oreibasios. Diese These wird dadurch unterstützt, dass einerseits

30   Dazu siehe Artemidor, Oneirokritikon, I 1–2 (Anm. 21). Zur antiken Traumdeutung siehe Antonio Garzya, Traum, in: Karl-Heinz Leven (Hg.), Antike Medizin. Ein Lexikon, München 2005, Sp. 873– 878; Christine Walde, Antike Traumdeutung und moderne Traumforschung, Düsseldorf 2001; Laura Hermes, Traum und Traumdeutung in der griechischen Antike, Zürich 1996; Patricia Cox Miller, Dreams in Late Antiquity. Studies in the imagination of a culture, Princeton 1994.

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keine klare Anbindung an einen christlichen Kontext vorhanden ist und mit Oreibasios explizit heidnischer Inhalt referiert wird. Damit bewegte sich Paulos im Rahmen seines Genres, bei dem sich der Kompilator eines expliziten eigenen Urteils enthält.

Altes Material in neuen Kontexten Ist also die Abgrenzung gegenüber einer dämonologischen Krankheitserklärung gerade bei den späteren Autoren (Aëtios, Paulos von Aigina, Paulos Nikaios) mehr als ein inhaltsleerer Topos, der dem mechanischen Kompilieren geschuldet ist? Während Oreibasios noch klar vor dem Hintergrund neoplatonischer Philosophie Stellung bezieht – was sich auch hervorragend in seine Biographie einfügen lässt – wirken die Aussagen von Paulos Nikaios eher anachronistisch. Dennoch können in der Auswahl der Kompilatoren und dem Gewicht, das sie der Dämonenabgrenzung einräumen, eigene Akzente deutlich werden. Aëtios beginnt sein Exzerpt des Poseidonios programmatisch mit der Aussage, »Ephialtes ist kein Dämon«. Paulos von Aigina hingegen zitiert die Abgrenzungen seiner beiden Quellen auffälligerweise nicht; die Ablehnung dämonischer Krankheitsverursachung fällt seinen Kürzungen zum Opfer. Paulos Nikaios dagegen räumt der Diskussion dämonischer Ätiologien verhältnismäßig breiten Raum ein, wenn er in einem ganzen Abschnitt verschiedene Meinungen referiert. Ohne selbst Stellung zu beziehen, scheint er als Autor die Frage als wichtig zu erachten. Besonders augenfällig wurde beim Vergleich der vier Autoren, wie wichtig Kontext für das Verständnis kompilierter Texte ist. Die großen Veränderungen zwischen den Dämonologien in Spätantike und frühbyzantinischer Zeit legen zentralen Begriffen wie ›Dämon‹ jeweils ganz unterschiedliche Bedeutungen bei. Die jeweilige dämonologische Kosmologie entscheidet darüber, wie genau eine knappe Aussage zu dämonischer Krankheitsverursachung verstanden wurde. Bewusste Adaption ist nicht auszuschließen; die Autoritäten der Quellen können als Legitimatoren für neue Anliegen dienen. Alle Autoren machen implizit oder explizit klar, dass sie sich Ephialtes als einen physiologischen Vorgang vorstellen, den sie mit auf diesen abgestimmten Therapien zu behandeln suchen. Es ist zu beobachten, dass die jüngeren Autoren allerdings nicht mehr mit klaren Worten Stellung beziehen, wie es noch ihre Vorgänger getan haben. Keineswegs aber gehen die frühbyzantinischen Ärzte mit den Dämonologen einen Disput über die Ursache von Krankheiten ein, weder im Allgemeinen, noch im speziellen Fall des Ephialtes. Wenn einzelne kirchliche Autoren wie der syrische Bischof Severus von Antiochia also mit harschen Worten das ärztliche »Physiologisieren« von Krankheiten als unchristlich verurteilen – natürlich zugunsten einer dämonologischen

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Erklärung31 – so bleibt ein solcher Angriff von Seiten der angegriffenen Ärzte aus unerwidert. Dieser Befund ist nur dann überraschend, wenn man in anachronistischer Art und Weise die neuzeitliche Denkfigur einer Polarisierung zwischen medizinischer und religiöser Weltdeutung auf die frühbyzantinischen Verhältnisse überträgt und die Dämonenabgrenzung in den Rang einer Bekenntnisaussage zu einer wissenschaftlichen Kosmologie erhebt. Tatsächlich lässt sich aber zeigen, wie sich die medizinischen Autoren sich in den stark verändernden kulturellen Kontexten zwischen dem 4. und 9. Jahrhundert n. Chr. auf bewusste und fruchtbare Art und Weise mit ihrem antiken Erbe auseinandersetzten, dieses mit neuen Bedeutungen belegen und zu ihren eigenen Zwecken einsetzen konnten.

  »Et, d’une part, tu trouveras que les médecins physiologousein, c’est-à-dire parlent d’après la nature, au sujet de cette souffrance et qu’ils ne veulent pas l’imputer à l’action des démons, mais (qu’)ils disent que par un certain hasard la maladie est produite par une humeur, qui se met principalement dans la tête … et (qui) produit chez l’homme le vertige et le trouble. Nous, d’autre part, en acquiesçant à la Vérité qui a prêché l’évangile, nous disons que c’est là une attaque et une agression des démons …« Severus of Antiocheia, 120. Homilie. Sévère d’Antioche, Les Homiliae Cathedrales. Traduction syriaque de Jacques d’Édesse. Homélies CXX à CXXV éditées et traduites en français par Maurice Brière (Pa­ trologia Orientalis 29/1), Paris 1960/61, S. 74–75. 31

’Adam ’amiti – der »wahrhafte Mensch«: Josef Gikatillas Auseinandersetzung mit dem Maimonidischen Konzept der Prophetie Annett Martini Josef Gikatilla is considered to be one of the most influential figures of the early kabbalah, which flourished in 13th century Spain. In his early creative phase he was influenced by the socalled prophetic kabbalah, which emerged from the circle around the charismatic Abraham Abulafia. The most striking feature of this mystical school is the close connection of rational philosophy as developed by Moses Maimonides under the influence of Islamic Philosophy, and a mysticism of language that draws particularly on the enigmatic “Book of Creation”. In order to describe the relationship between God and Man, which is of great importance for the mystic, Abulafia and his circle explicitly referred to the Maimonidean concept of prophecy. This paper attempts to demonstrate how Gikatilla made use of this prophetical concept and in which way he modified and expanded it by his ideas about the mysticism of language.

In einem wahrscheinlich in den siebziger Jahren des 13. Jahrhunderts verfassten Kommentar zu Moses Maimonides’ ›Führer der Unschlüssigen‹1 hat der jüdische Mystiker Josef Gikatilla folgende kabbalistische Berechnung angestellt: Man addiere die Zahlenwerte der Buchstaben des Wortes ’Adam (‫ – )אדם‬d. h. ’Alef (1) plus Dalet (4) plus Mem (40) – und erhält 45. Da im Hebräischen Zahlen durch die entsprechenden Buchstaben dargestellt werden, ist 45 gleich Mem He (‫)מה‬. Schreibt man nun die Namen der Buchstaben Mem und He (‫ )הא מם‬als eigene Wörter aus und addiert wiederum deren Zahlenwerte – d. h. Mem (40) plus Mem (40) plus He (5) plus ’Alef (1) – miteinander, ergibt sich 86. 86 ist nun aber nicht irgendeine Zahl, sondern der Zahlenwert des Wortes ’Elohim (‫ – )אלהים‬Gott. Diese kleine gematrische Spielerei enthält in ihrem Kern viel von dem, worüber hier gehandelt werden soll. Sie konstruiert eine im pythagoreischen Sinne wesenhafte, weil zahlenmäßige, Verbindung zwischen Mensch und Gott und zwar interessanterweise im Kontext einer Auseinandersetzung mit der Philosophie des großen jüdischen Rationalisten Moses Maimonides und dessen in jüdischen Kreisen sehr kontrovers diskutiertem Werk ›Der Führer der Unschlüssigen‹. Dieser Beitrag wird unter Berück1  Josef ben Abraham Gikatilla, Be’urim le-Sefer Moreh ha-Nevukhim la-Rambam. Das einzige Zeugnis dieses Kommentars ist abgedruckt in: Isaak Abravanel, Ketavim ‘al maḥševet Yisra’el, Bd. 3, Jerusalem 1967, S. 18–31.

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sichtigung der wichtigsten Schriften des Kabbalisten Josef Gikatilla zwei Fragen diskutieren, die allerdings nur im Zusammenhang betrachtet werden können: 1. Wie hat sich der spanische Mystiker die Möglichkeit einer Annäherung des Menschen an Gott vorgestellt? 2. Welchen Einfluss hatte Maimonides’ Lehre von der Prophetie auf diese Vorstellung? Über das Leben und den familiären Hintergrund Josef Gikatillas ist leider kaum etwas bekannt.2 Wir wissen, dass er 1247/48 in Medinaceli, an der Grenze zwischen Kastilien und Aragon gelegen, geboren wurde und bis Anfang des 14. Jahrhunderts in diesem Raum lebte. Sicherlich durchschritt er die üblichen Stufen des jüdischen Curriculums, das auch im nunmehr wieder christlichen Spanien von der Renaissance antiker Literatur in der islamischen Welt, insbesondere in Al-Andalus, profitierte und neben dem Studium der Tora und der rabbinischen Tradition auch wissenschaftliche Fächer umfasste.3 Dementsprechend verraten Gikatillas Werke einen in Philosophie, Poesie und Sprachwissenschaft sehr gebildeten Mann, der, wie die meisten Kabbalisten seiner Generation, offenbar kein großes Interesse an traditioneller rabbinischer Literatur hatte. Das trifft vor allem auf seine frühen Schriften zu, in denen der Schwerpunkt auf der Philosophie und der Sprachmystik liegt, während sein Spätwerk vielmehr von traditioneller Symbolik und mythologischen Elementen geprägt ist. Es waren auch die Schriften seiner zweiten Schaffensphase, wie zum Beispiel das einflussreiche ›Ša‛arei ’Orah‹ (Tore des Lichts), die neben dem ›Zohar‹ (Buch des Glanzes) schon bald zum engsten Kanon der kabbalistischen Literatur zählen sollten und durch frühe Übersetzungen ins Lateinische auch in der sogenannten christlichen Kabbala als die herausragenden Zeugnisse der frühen Kabbala, die im 12. Jahrhundert zunächst in der Provence und dann im 13. Jahrhundert in Spanien zu ihrer größten Blüte gelangte, rezipiert wurden. Eine außerordentlich reizvolle Facette des Werkes Gikatillas ist die große Affinität zur Maimonidischen Philosophie, die er in seinen jungen Jahren mit einigen wenigen Kabbalisten aus dem Umkreis der sogenannten ›prophetischen Kabbala‹ um den charismatischen Mystiker Abraham Abulafia teilte. Das Besondere an dieser mystischen Schule ist die Verbindung von rationaler Philosophie – so wie sie Moses Maimonides unter dem Einfluss der islamischen Religionsphilosophie entwickelt hat – und einer Sprachmystik, die sich vor allem an das enigmatische ›Sefer Jeẓirah‹ (Buch der Schöp2   Vgl. Annett Martini, Yosef Giqaṭilla. The Book of Punctuation: Flavius Mithridates’ Latin Translation, the Hebrew Text, and an English Version. Edited with Introduction and Notes by Annett Martini, Turin 2010, S. 22–26. 3   Vgl. Moritz Güdemann, Das jüdische Unterrichtswesen während der spanisch-arabischen Periode, Wien 1873, 2. Aufl. Amsterdam 1968, S. 32–140.

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fung) anschließt. Um das gerade für den Mystiker so wichtige Verhältnis von Gott und dem Menschen zu beschreiben, bezogen sich Abulafia und seine Schüler explizit auf das Maimonidische Konzept der Prophetie, das insbesondere in der von Philosophie und Wissenschaft weitestgehend unberührten aschkenasischen Welt großen Widerspruch hervorrief. Moses Maimonides hat mit seinen Arbeiten über das jüdische Gesetz bereits zu Lebzeiten hitzige Kontroversen ausgelöst, die sich nach dem Erscheinen seines großen religionsphilosophischen Werkes, dem ›Führer der Unschlüssigen‹ Ende des 12. Jahrhunderts, über drei Jahrhunderte hinweg leidenschaftlich fortsetzten.4 Über diesem sogenannten ›Maimonidesstreit‹ schwebte stets die Frage, wie viel Innovation in Form von Naturwissenschaftlichkeit die jüdische Religion aufnehmen könne, ohne ihre grundlegenden Glaubensstandpunkte zu verleugnen. Diese existentielle Frage wurde auch im Hinblick auf das Maimonidische Konzept der Prophetie gestellt, einer Thematik, die im jüdischen Denken eine große Rolle spielt, da sie eng mit dem Gesetz, d. h. der Tora verbunden ist. Die Legitimität der Tora, ihre Heiligkeit wird auf die Prophetie des Moses am Berg Sinai als göttliche Offenbarung zurückgeführt. Indem Maimonides die Prophetie als einen weitestgehend natürlichen, von Naturgesetzen geleiteten Vorgang beschreibt und von der biblischen Geschichte loslöst, sei das Wunder der göttlichen Offenbarung am auserwählten Volk Israel in Frage gestellt, argumentierten nicht nur konservative Kräfte. Die Haltung der Kabbalisten in dieser Kontroverse ist nicht eindeutig den Maimonisten oder Antimaimonisten zuzuordnen. Es ist in der Geschichte der Erforschung der jüdischen Mystik immer wieder darauf hingewiesen worden, dass die Blütezeit der spanischen Kabbala quasi parallel zur Debatte um die Maimonidische Philosophie verlief, die um 1232 zu einem zweiten Höhepunkt gelangte.5 Bereits Gerschom Scholem hat in seiner Studie »Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen« nach einem dialektischen Zusammenhang beider Bewegungen gefragt und von einem unüberbrückbaren Abgrund zwischen den Intentionen der rationalen jüdischen Philosophie und dem Streben der Kabbalisten gesprochen. Auf die zunehmende Vergeistigung der 4   Zu den unterschiedlichen Phasen der Maimonideskontroverse siehe Daniel J. Silver, Maimonidean Criticism and the Maimonidean Controversy 1180–1240, Leiden 1965. 5   Vgl. u. a. Gershom Scholem, Origins of the Kabbalah, Berlin 1962 (Englische Version: Allan Arkush u. Zwi Werblowsky [Hgg.], Princeton, N. J. 1987), S. 404–407; Ders., Mi-ḥoker le-mequbbal – aggada ha-mequbbalim ‘al ha-Rambam, in: Tarbix 6 (1935), S. 334–342; Silver (Anm. 4), S. 99, 163, 148–198; Isidor Twersky, Rabad of Posquières. A Twelfth-Century Talmudist, Cambridge 1962, S. 258–300; Ders., Introduction to the Code of Maimonides (Mishneh Torah), Yale 1980; Bernard Septimus, Hispano-Jewish Culture in Transition: The Career and Controversies of Ramah, Cambridge/Mass., London 1982, S. 61–74; Joseph Dan, Ashkenazi Hasidism and the Maimonidean Controversy, in: Maimonidean Studies 3 (1992/93), S. 29–47; Elliot Wolfson, Beneath the Wings of the Great Eagle: Maimonides and Thirteenth-Century Kabbalah, in: Goerge K. Hasselhoff u. Otfried Fraisse (Hgg.), Moses Maimonides (1138–1204), Würzburg 2004, S. 209–237; Moshe Idel, Maimonides and Kabbalah, in: Isidor Twersky (Hg.), Studies in Maimonides, Cambridge/Mass., London 1990, S. 31–81.

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jüdischen Religion durch die Philosophie hätten die Mystiker mit einer Remythologisierung des Judentums geantwortet. Auch Forscher wie Moshe Idel sammelten Indizien für eine bewusste Gegenpositionierung der frühen Kabbalisten zu Maimonides. Idel hat vor allem mit Blick auf Abraham Abulafia die rationale Philosophie des Maimonides als »Katalysator der Kristallisierung der frühen Kabbala«6 bezeichnet. Diese vereinfachte, im Dualismus erstarrte Darstellung des Verhältnisses von »rationaler« Philosophie und »irrationaler« Mystik innerhalb der Forschung kann durch einen neuen, unvoreingenommenen Blick auf Mystiker wie Josef Gikatilla leicht aufgebrochen und um interessante Facetten erweitert werden. Das soll hier am Beispiel des für die Philosophie wie für die Mystik gleichermaßen interessanten Themas »Prophetie« versucht werden. »Eine

gewisse Vollkommenheit in der menschlichen Natur«: das Maimonidische Konzept der Prophetie

Die kritische Betrachtung des Wesens der Prophetie nimmt eine zentrale Stellung in Maimonides’ Denken ein.7 Seine Vorstellungen von einem wahren bzw. falschen Propheten spiegeln dabei einerseits den immensen Einfluss der islamischen Umweltkultur wider, tragen andererseits jedoch durchaus auch apologetische, abgrenzende Züge, denn Prophetie war für Maimonides – im Gegensatz zur rabbinischen Ansicht – keine Frage der biblischen Vergangenheit, sondern eine durchaus reale Möglichkeit auch seiner Generation. Dabei lehnt er das traditionelle jüdische Verständnis von der Prophetie – wonach Gott einen beliebigen Menschen zum Prophetentum auserwählt und zum Träger einer Sendung macht – als »Ansicht der unwissenden Menge« ab und definiert im Anschluss an arabisch-islamischen Philosophen wie Alfarabi und vor allem Averoës Prophetie als »a certain perfection in the nature of man«.8 Um die speziell jüdische Ansicht von der rein philosophischen zu unterscheiden, hebt Maimonides hervor, dass letztendlich Gott doch entscheidet, ob ein Vollkommener Prophet wird oder   Idel (Anm. 5), S. 35.   In Anbetracht der Komplexität des Maimonidischen Konzepts der Prophetie muss sich die folgende Darstellung auf die wesentlichen Elemente und die Schnittpunkte mit der Aufstiegsmystik Gikatillas beschränken. Für eine umfassende Darstellung siehe u.a. Surmar Bohumil, Die Unterscheidung zwischen den wahren und falschen Propheten. Eine Untersuchung aufgrund der Lehre des Rabbi Moses Maimonides auf dem Hintergrund der rabbinischen Lehren, der griechischen und arabischen Philosophie und der Prophetologie des Islam, Bern 1997; Reginald V. Feldmann, The Union of Prophetism and Philosophy in the Thought of Maimonides, in: Isidore Epstein (Hg.), Moses Maimonides, London 1935, S. 85–104; Sabine Gehlhaar, Prophetie und Gesetz bei Jehuda Hallevi, Maimonides und Spinoza, Frankfurt a. M. 1987; Jacob Levinger, Die Prophetie als gesamt-menschliche Erscheinung nach der Lehre des Moses Maimonides, in: Judaica 42 (1986), S. 80–88. 8   Hier zitiert in der kommentierten Übersetzung von Shlomo Pines, Moses Maimonides. The Guide of the Perplexed, Chicago 1963, Buch II, Kapitel 32, S. 361. 6

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nicht, »for we believe that it may happen that one who is fit for prophecy and prepared for it should not become a prophet, namely, on account of the divine will«.9 Eingebettet in ein differenziertes kosmologisches System erscheint der Prophet in diesem Entwurf als das unterste Glied einer von Naturgesetzen beherrschten Ordnung des Seins, die Maimonides wie seine islamischen Vorgänger in drei Teile gliedert. Die obere Welt umfasst die absoluten Vernunftwesen, die jeglicher Materie entbehren, d. h. reine Form bedeuten. Sie sind das Resultat einer Sequenz von Emanationen, deren Initialzündung in Gott selbst liegt. Die reinen Formen der oberen Welt emanieren in die mittlere Welt der Sphären wo sie sich mit den entsprechenden Sphärenkörpern verbinden und deren Führung übernehmen. Maimonides spricht wie Aristoteles und dessen Kommentatoren von zehn solcher stofflosen Vernunftwesen bzw. Sphären, die da wären: eine das All umfassende Sphäre, die Sphäre der Fixsterne und die Sphären der sieben Planeten. Das zehnte Vernunftwesen ist der sogenannte intellectus agens, der als Verbindungsglied zwischen den oberen geistigen Wesenheiten und unserer unteren Welt der werdenden und vergehenden Körper vermittelt und das Denken und die Formen aus dem Vermögen zur Wirklichkeit leitet.10 Prophetie ist nach Maimonides Teil dieses natürlichen Vorgangs. Sie wird durch die Verbindung des zehnten Vernunftwesens mit der menschlichen Seele hervorgerufen. Das bedeutet, der göttliche intellectus agens ergießt sich auf den passiven menschlichen Intellekt, der dadurch in Aktualität versetzt wird. Da der Mensch jedoch an die materielle, mit allen Sinnen zu erfahrende Welt gebunden ist, tritt nun die Imaginationskraft hervor, die das Empfangene in eine verständliche Sprache übersetzt – das können je nach Temperament Visionen, Stimmen oder Träume sein. Dementsprechend stellt er fest: Know that the true reality and quiddity of prophecy consist in its being an overflow over­ flowing from God, may He be cherished and honored, through the intermediation of the Ac­ tive Intellect, toward the rational faculty in the first place and thereafter toward the imagi­ native faculty. This is the highest degree of man and the ultimate term of perfection that can exist for his species.11

Die Qualität der prophetischen Gabe hängt ganz von dem richtigen Verhältnis dieser beiden Seelenkräfte ab, denn bei wem zu viel Einbildungskraft wirkt, würde nach Maimonides kein Prophet, sondern allenfalls »legislators, soothsayers, augurs, and the dreamers of veridical dreams«12, während Menschen mit zu ausgeprägtem Denkvermögen, höchstens zum Gelehrten und Forscher taugten.

 Ebd.   Ebd., Buch II, Kapitel 4. 11   Ebd., Buch II, Kapitel 36, S. 369. 12   Ebd., Buch II, Kapitel 37, S. 374. 9

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Auf welche prophetische Stufe ein Mensch gelangen kann, hängt von unterschiedlichen Faktoren ab. Neben körperlichen Voraussetzungen wie (hier spricht der Arzt Maimonides) der »vollkommen gleichmäßigen Verteilung der Gehirnsubstanz« oder der richtigen Lage und Mischung eines jeden Organs, spielen charakterliche – Maimonides präsentiert in diesem Zusammenhang eine differenzierte, an Aristoteles angelehnte Seelenlehre –, ethische und gesellschaftlich-politische Aspekte eine Rolle. Erziehung, naturwissenschaftliche Bildung und höhere Wissenschaften können die natürlichen Anlagen des Menschen fördern, denn ein Einfältiger könne kein Prophet werden, »except as it is possible that He should turn an ass or a frog into a prophet«.13 Der Mensch kann sein prophetisches Vermögen fördern, indem er seine intellektuelle Entwicklung forciert, denn letztlich ist das einzige Band zwischen Mensch und Gott ein rein intellektuelles. Doch da die Natur des Menschen im Wesentlichen von der vergänglichen Welt der Materie bestimmt wird, ist das Schauen Gottes immer nur ein kurzes Aufblitzen der göttlichen Wahrheit und niemals ein Aufsteigen in die zweite oder gar erste Welt. Dementsprechend belehrt Maimonides seine Leser: You should not think that these great secrets are fully and completely known to anyone among us. They are not. But sometimes truth flashes out to us so that we think that it is day, and the matter and habit in their various forms conceal it so that we find ourselves again in an obs­ cure night, almost as we were at first.14

Nur Moses ist laut Maimonides in seiner prophetischen Erhebung über die menschliche Stufe hinaus bis zur engelhaften Stufe gelangt und in den Rang der Engel einbezogen worden, da er im Gegensatz zu allen anderen Propheten an keine sinnlichen Seelenkräfte gebunden gewesen sei. Sein auf reiner Vernunfterkenntnis beruhendes Verhältnis zu Gott ermöglichte ihm überdies, ohne das Medium Traum oder Vision in Anspruch nehmen zu müssen, die göttliche Botschaft dauerhaft und bei vollem Bewusstsein zu empfangen. In der berühmten Palastmetapher aus dem dritten Buch des ›Führer der Unschlüssigen‹ hat Maimonides eine Art intellektuelle Stufenleiter vorgestellt, an deren Spitze als höchstes Ziel die Prophetie steht. Ganz unten in dieser geistigen Hierarchie erscheint die Mehrzahl der einfachen Gesetzesgläubigen, gefolgt von den Talmudgelehrten, die sich ohne wissenschaftliche Bildung ausschließlich der Auslegung des Gesetzes widmeten. Auch die mathematischen Wissenschaften führen noch nicht in den Palast des Königs, d. h. zur Erkenntnis Gottes. Erst die Naturwissenschaft und die Metaphysik öffneten die Tore in den Vorhof des Palastes. Und nur diejenigen, die

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  Ebd., Buch II, Kapitel 32, S. 362.   Ebd., Einführung, S. 7.

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… turn wholly toward God, may He be cherished and held sublime, renounce what is other than He, and direct all the acts of their intellect toward an examination of the beings with a view to drawing from the proof with regard to Him, so as to know His governance of them in whatever way it is possible. These people are those who are present in the ruler’s council. This is the rank of the prophets.15

Bei den Gegnern des Maimonides warf dieses Konzept vielfältige Fragen auf. Sie sahen den Stellenwert des Gesetzes und der rituellen Handlungen herabgesetzt. Außerdem habe Maimonides durch seine »Psychologisierung« des prophetischen Ereignisses etwa die Historizität der biblischen Wunder, das Auserwähltsein des Volkes Israel und das Offenbarungserlebnis des gesamten Volkes Israel am Berg Sinai in Zweifel gezogen. Der spanische Kabbalist Josef Gikatilla ging ungleich offener mit dem prophetischen Modell des Rationalisten um, das offensichtlich auch für einen Mystiker interessante Optionen bereit hielt. »Der

Eintritt in den Palast des großen Namens«: Josef Gikatillas Aufstiegsmystik

Mit Blick auf Gikatillas Weltsicht kann zunächst einmal bemerkt werden, dass der Mystiker die Kosmologie des großen Religionsphilosophen im Wesentlichen übernimmt – doch mit einer interessanten Abweichung.16 Während Maimonides die Aufzählung der zehn stofflosen Vernunftwesen und der entsprechenden Sphärenkörper selbstverständlich von dort beginnt wo ihre erste Ursache liegt, nämlich bei Gott, dreht Gikatilla die Reihenfolge kurzerhand um und zählt »angefangen von der Mondsphäre nach oben«17, so dass das zehnte Vernunftwesen gleichzeitig die erste Emanation Gottes ist. Der Mystiker beginnt also mit der Sphäre, die dem Menschen am nächsten ist: der Mondsphäre. Das ist ein entscheidender Perspektivwechsel, der viel über die eigentliche Intention Gikatillas aussagt: nämlich den Aufstieg der Seele in die obere Welt der stofflosen Vernunftwesen bzw. Engel. Bei der Diskussion über die Möglichkeiten der menschlichen Seele, auf eine prophetische Stufe zu gelangen, orientiert sich Gikatilla wiederum an der Maimonidischen Seelenlehre. Er unterscheidet Körper, Seele (Nešimah) und intellektuelle Seele   Ebd., Buch III, Kapitel 51, S. 620   Für eine ausführliche Darstellung des kosmologischen Konzepts Gikatillas siehe Martini (Anm. 2), S. 65–82. Interessanterweise behält Gikatilla in seiner späten, sogenannten sefirotischen Phase diese Perspektive bei. Auch dort beginnt er bei der Beschreibung seines Systems bei Malkḥut (Königreich) als Ort der Šekhinah (göttliche Präsenz), da es dem Menschen am nächsten ist. Eine Annäherung an Gott kann nur von hier aus Stufe für Stufe über jede einzelne Sefira bis in die Krone (Keter) beginnen. 17   Josef Gikatilla, Sefer Ginnat Egoz, Hoẓa’at Ješivat »ha-Ḥajjim we-ha-Šalom«, Jerusalem 1989, S. 330. 15 16

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(Nefeš ha-sikhlit). Der aus den vier Elementen zusammengesetzte Körper ist tote Materie, bis die Seele ihn belebt.18 Im Unterschied zu allen anderen Lebewesen kommt dem Menschen noch eine intellektuelle Seele zu, die ihn dazu befähigt, zwischen heilig und profan, rein und unrein, gut und böse zu unterscheiden.19 Dieses Urteilsvermögen, das ihn über das Tier erhebt, stammt nach Gikatilla aus einem über den stofflosen Vernunftwesen liegenden Ort. Es ist aus der Form des göttlichen Intellekts in die menschliche Seele emaniert und aus diesem Grund das stärkste Band zwischen Mensch und Gott. Diese intellektuelle Form ist es auch, die den Menschen nach oben, zu seinem Ursprung zieht, während die sinnliche Form herabdrängt. Es liegt nun in der Hand jedes Einzelnen, die Sinnenebene zu durchschreiten und zum zehnten Intellekt aufzusteigen, den Gikatilla als den »Vorhang zwischen göttlichem und weltlichem Bereich«20 bezeichnet. Ganz offensichtlich hat sich Gikatilla über Maimonides hinaus von neuplatonisch geprägten Konzeptionen der Erlösung der menschlichen Seele beeinflussen lassen, wenn er beschreibt, wie sich die ursprünglich göttliche Seele bei einem stufenweisen Aufstieg Stück für Stück der Fesseln der Materie entledigt und zu ihrem Anfang, zu ihrer Ursache zurückkehrt. Der nüchterne Blick des Maimonides auf die geringen Möglichkeiten der menschlichen Erhebung, die noch dazu an so viele Bedingungen geknüpft sind, ist bei dem Mystiker auf Kritik gestoßen. Das kann an folgendem Diskurs aus Gikatillas frühen opus magnum, dem ›Ginnat Egoz‹ (Der Nussgarten) gut nachvollzogen werden: Siehe, wir haben die große Leuchte Rabbi Moše Maimon […] gesehen, wie er [seine Position] bekräftigt und sich anstrengt zu zeigen und nachzuweisen, dass kein Mensch größer als die Sphären oder die Vernunftwesen (Engel) sein kann. Das mag aus der Perspektive der Naturwissenschaft […] richtig sein, doch die Tora […] steht über den Naturwissenschaften und setzt sie außer Kraft. Wahrlich, sie bemisst Größe und (spirituelle) Höhe an nichts anderem als der Wahrhaftigkeit einer Annäherung an das Göttliche. […] Doch im ›Führer der Unschlüssigen‹ wiederholt Maimonides, dass der Mensch aufgrund seiner mangelhaften materiellen Seinsweise nicht auf derselben Stufe wie die Sphären […] oder gar die Vernunftwesen (Engel), die ja noch über den Sphären stehen, gedacht werden kann. Ich bin nun erstaunt wie Maimonides so argumentieren konnte. Stimmen wir nicht alle darin überein, dass die Materie des Menschen ihn zum absolut Niedrigsten macht, wäre da nicht die erhabene und vernünftige Seele, die er aus höherer Quelle empfangen hat und die von Gott gesandt wurde, die materiellen Körper des Menschen auf den rechten Weg zu leiten?21

Gikatilla differenziert drei Stufen des menschlichen Erkenntnisvermögens und ordnet sie den Schriften der Bibel zu.22 Bei der untersten Stufe könne man noch nicht von   Ebd., S. 207.   Vgl. Maimonides Ansichten zum Sündenfall im ›Führer der Unschlüssigen‹, 1. Buch, Kapitel 2. 20   Gikatilla (Anm. 17), S. 123. 21   Ebd., S. 260f. 22   Ebd., S. 215–218.

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Prophetie sprechen. Hier ruhe lediglich eine intellektuelle Kraft auf dem Menschen und führe ihn zum tugendhaften Handeln. Die Ketuvim (Schriften; z. B. das Hohelied, die Psalmen, Esra oder Daniel) spiegelten in ihrem an das ethische Bewusstsein des Menschen appellierenden Charakter diesen Bereich des richtigen Tuns wieder. Die zweite Stufe wird von den Propheten und den entsprechenden Prophetenbüchern (Neviim) repräsentiert. In Anschluss an Maimonides betont Gikatilla den unsteten Charakter der prophetischen Episoden, die sich dem Verhältnis der verschiedenen Seelenteile entsprechend durch Träume, Visionen oder Stimmen im Schlaf Ausdruck verschafften. Solange der göttliche Geist auf den Propheten lag, zitterten und bebten sie vor Angst, bemerkt Gikatilla und verweist wie Maimonides auf den exzeptionellen Charakter der Prophetie des Moses, dessen Seele sich durch eine rein intellektuelle Form auszeichnete. An keine sinnliche Komponente gebunden, konnte Moses den »letzten Vorhang« beiseite ziehen und Gott »von Angesicht zu Angesicht«23 schauen. Die Prophetie des Moses erstreckte sich nicht über einen kleinen Zeitraum, sondern bestimmte sein ganzes Leben. Moses allein konnte vor den Augen des Volkes Wunder, wie etwa die Teilung des Meeres, wirken, wogegen alle anderen Propheten Wunder nur durch das Gebet hervorrufen konnten. Die Torah (der Pentateuch) drücke dementsprechend »ohne Rätselworte und Gleichnisse« die einfachen Gebote direkt aus und stelle das unverstellte Wesen Gottes und somit die höchste Form der Prophetie dar. Gikatilla ist jedoch davon überzeugt – und hier unterscheidet er sich von Maimonides –, dass dieses prophetische Potential in jeder vernünftigen Seele angelegt, d. h. kein Privileg des Moses, dessen außerordentliche prophetische Begabung auch für Gikatilla außer Frage steht, ist. Die eingangs vorgestellte kabbalistische Rechnung – ’Adam = ’Elohim – will genau dieses Potential des Menschen zum Ausdruck bringen. In Genesis 1, 26 heißt es: Wa-jomer ’Elohim na‛a`se ’Adam be-Ẓalmenu (Und Gott sprach: Wir wollen einen Menschen nach unserem Ebenbild machen). Gikatilla interpretiert diesen berühmten Vers als einen Hinweis auf die außerordentliche Seele des Menschen, die ihn aus der Menge der lebenden Kreaturen der niederen Welt hervorhebt. Erst die Seele macht den Menschen zu einem ’Adam ’amiti, zu einem »wahrhaften Menschen«, da sie das göttliche Element in ihm widerspiegelt. Der Mensch wird wahrhaftig genannt, da ihm eine höhere Seele gegeben ist, die ihn nach oben zieht, während der viehische Geist zur Erde herabsteigt. […] Da in ihm beide Kräfte angelegt sind, steht er anfangs zwischen den stofflosen Vernunftwesen und den Sphärenkörpern.24

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  Ebd., S. 208.  Ebd.

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Gikatilla betont, dass es in der Hand jedes Einzelnen liege, sich für die eine oder andere Seite zu entscheiden.

Die Tora als Spiegel der göttlichen oder doch aristotelischen Wahrheit? Der Königsweg zur Erlangung der prophetischen Stufe ist für den Philosophen und den Mystiker gleichermaßen die Bibelexegese. Doch gerade bei der Betrachtung des Schriftverständnisses der beiden Denker treten auch die Differenzen zwischen einer philosophischen und einer mystischen Sicht auf die Prophetie deutlich zutage. In seinem Kommentar zu Maimonides’ ›Führer der Unschlüssigen‹ zieht Gikatilla eine interessante Parallele: Die prophetische bzw. intellektuelle Stufe eines Menschen entspricht der Tiefenschicht, die er bislang bei der Auslegung der Tora erreichen konnte. Bei diesem Gedanken kommt das rabbinische Konzept von der mündlichen Tora (Torah šebe‘al peh) zum Tragen. Die mündliche Tora soll Moses neben der schriftlichen Tora (Torah šebikhtav) am Berg Sinai aus dem Munde Gottes geoffenbart und seitdem von einer Generation auf die nächste, durch einen Lehrer auf eine kleine Anzahl Schüler, mündlich übertragen worden sein. Mit diesem Konzept einer exklusiven esoterischen Überlieferung konnten die Rabbiner Neues autoritativ in der Tradition verankern und die ursprüngliche Offenbarung kommentierend an veränderte historische Umstände anpassen. Es ist hier nicht der Ort, um auf das spannungsreiche Verhältnis von Offenbarung, Tradition und Kommentar im jüdischen Denken näher einzugehen; es sei nur bemerkt, dass sich sowohl der Philosoph Maimonides als auch der Mystiker Gikatilla, die ja beide den Rahmen der religiösen Kultur des Judentums erheblich zu erweitern suchten, als Empfänger dieser geheimnisvollen mündlichen Tradition vorgestellt haben. Beide Denker haben den einfachen Schriftsinn lediglich als die unterste Stufe der Gotteserkenntnis betrachtet und mit Emphase auf die tieferen Schichten der Tora verwiesen, die allerdings einer geistigen Elite vorbehalten seien. »Wahrlich, die Tora des großen Namens, gesegnet sei Er, hat ein inneres und ein äußeres Gesicht – eins für den Weisen und eins für den Narren«25, bemerkt Gikatilla lakonisch, während Maimonides erklärt, dass es durchaus zulässig sei, auf Gott alles anzuwenden, was alle Menschen auf der untersten Stufe des Denkens verstehen und sich vorstellen können, denn »the Torah speaketh in the language of the sons of man«.26 Allerding gibt es einen tieferen Wortsinn, der hinter Allegorien, Parabeln oder Gleichnissen versteckt die eigentliche Wahrheit Gottes und seiner Schöpfung beinhaltet.27   Gikatilla (Anm. 1), S. 20.   Maimonides (Anm. 8), 1. Buch, Kapitel 26, S. 56. 27   Hinsichtlich Maimonides’ Schriftverständnis siehe u. a. Jeremy P. Cohen, Figurative Language, Philosophy, and Religious Belief: An Essay on Some Themes in Maimonides’ The Guide of the Perplexed, in: Studies in Philosophy 3 (1982), S. 367–393; David Blumenthal, Maimonides on Mind and Metaphoric Language, in: Ders. (Hg.), Approaches to Judaism in Medieval Times, Bd. 2, Chico/CA 25 26

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Um dieses Spannungsverhältnis vom äußeren und inneren Schriftsinn zu beschreiben, greifen Maimonides und nach ihm Gikatilla auf ein Bild aus den Sprüchen Salomos zurück. Dort heißt es: »Goldenen Äpfeln in silberner Fassung gleicht ein Wort, das in seinen verschiedenen Bedeutungen gesprochen ist« (Spr. 25, 11). Nach Maimonides verhält sich das geschriebene Wort nunmehr zu seiner esoterischen Bedeutung wie die silberne Fassung zu dem goldenen Apfel. Die kunstvoll hergestellte silberne Fassung muss dem Betrachter zuerst ins Auge fallen. Sie ist das äußerlich leicht zu erkennende geschriebene Wort, bei dem diejenigen verweilen, deren Vorstellungskraft schon bei der Betrachtung dieser wertvollen Filigranarbeit an seine Grenzen kommt. Gikatilla führt weiter aus, dass es jenseits der geistigen Möglichkeiten der meisten Menschen läge, etwas noch Kostbareres und Feineres hinter der silbernen Fassung zu denken. Dieser Einklang soll jedoch nicht darüber hinweg täuschen, dass die beiden Gelehrten etwas durchaus Unterschiedliches hinter der silbernen Fassade suchten. Zunächst ist der Mystiker ganz auf Maimonides’ Linie wenn er als Einstieg in die Betrachtung der göttlichen Natur das Studium der Physik bzw. der sichtbaren Natur empfiehlt. Zu diesem Zweck kann die Schrift in ihrem einfachen Wortsinn, der nach Gikatilla den untersten, materiellen Stand der Natur reflektiert, herangezogen werden. Erst derjenige, der die sichtbare Welt ausreichend betrachtet hat, darf zur Metaphysik fortschreiten und die Gesetzmäßigkeiten des Kosmos erforschen. Über diese Wissenschaft gibt der einfache Schriftsinn keine Auskunft. Da jedoch jegliche Wahrheit im biblischen Text angelegt ist, besteht die Möglichkeit durch allegorische Lesart in eine tiefere Schicht der Tora vorzudringen. Für Maimonides liegen hier bereits die »goldenen Äpfel« verborgen, die im Wesentlichen den naturphilosophischen Wahrheiten seiner Zeit entsprechen. Doch der Mystiker Gikatilla übersteigt die Allegorie und wendet sich dem Symbol des Göttlichen selbst zu – der hebräischen Sprache, die aufgrund ihres Schöpfungspotentials vor allen anderen Sprachen steht: Du solltest wissen, dass jede Sprache in der Welt außer der heiligen Sprache keine Untersuchung bezüglich der Buchstaben eines Wortes benötigt, da diese Namen und Sprachen der Konvention entstammen und nicht natürlich sind. […] Das trifft jedoch nicht auf die heilige Sprache zu, da sie nicht aus Konvention entstanden ist, sondern die Weisheit Seines Namens, gesegnet sei Er, zum Ausdruck bringt.28

1986, S. 123–132; Phillip Goldberger, Die Allegorie in ihrer exegetischen Anwendung bei Maimonides, Leipzig 1902; Samuel M. Stern, Rationalists and Kabbalists in Medieval Jewish Allegory, in: Journal of Jewish Studies 6 (1955), S. 73–99; José Faur, Golden Doves with silver Dots. Semiotics and Textuality in Rabbinic Tradition, Bloomington 1986. 28   Gikatilla (Anm. 1), S. 20.

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Mittels der 22 Buchstaben und Vokale des hebräischen Alphabets hat sich Gott durch seine gesamte Schöpfung geoffenbart und schließlich manifestiert. Jeder einzelne Buchstabe, jedes Vokalzeichen wird in Gikatillas ausgedehnter Sprachmystik zu einem fundamentalen Element von Kosmogonie und Kosmologie, denn »wenn du ›Buchstabe‹ sagst, ist es als würdest du Existenz sagen. Die Buchstaben tragen die gesamte Existenz [...] und wenn du eine Sache nicht mit einem Namen benennst, dann kennst Du seine Wirklichkeit nicht. [...] Und alles neu Erschaffene kann nicht anders sein als dass die Buchstaben es tragen. So sind also die Buchstaben das Fundament der gesamten Welt. [...] und wo keine Buchstaben sind, da gibt es keine Existenz«.29 Für den Mystiker ist deshalb die Erforschung der rein sprachlichen Elemente des heiligen Textes mittels vielfältiger kabbalistischer Methoden (wie z. B. Gematria, No­ tarikon, Temurah) die tiefste Form der Exegese und zugleich höchste Stufe, die der Mensch auf der Jakobsleiter erklimmen kann. Die Buchstaben und Vokale sind Erinnerungszeichen der göttlichen Seele des Menschen, an denen sie sich bei ihrem Aufstieg orientieren kann; der Klang, die Form und der Name der Buchstaben sind quasi Wegweiser in eine göttliche Syntax, die jenseits der weltlichen Bedeutungsräume liegt. Dementsprechend interpretiert Gikatilla das Salomonische Bild als eine Allegorie für die verborgene Seite der hebräischen Sprache. Die »silberne Fassung« deutet auf die kommunikative Ebene der Sprache und die »goldenen Äpfel« auf die nicht kommunizierbare Seite hin. Und genau in dieser »Innenseite« der Sprache befindet sich der Ort, an dem der Mensch dem göttlichen Wesen – sowohl in seiner niedrigsten materiellen als auch in seiner rein geistigen Form – begegnen kann.30 Die Untersuchung des prophetischen Konzepts des Kabbalisten Josef Gikatilla macht zunächst einmal sehr deutlich, dass die jüdische Mystik nicht als ein Gegenentwurf zur rationalen Philosophie des Maimonides betrachtet werden kann. Dem rabbinischen Diktum vom Ende der Prophetie mit der Zerstörung des zweiten Tempels widersprechen der Philosoph und der Mystiker gleichermaßen. Gikatillas Aufstiegsmystik war entscheidend von Maimonides’ Ausführungen zum Wesen der Prophetie beeinflusst. Die stark kosmologisch gefärbte Grundstruktur des prophetischen Konzepts, die »Intellektualisierung« des prophetischen Ereignisses in Verbindung mit einer ausführlichen Seelenlehre, die Beurteilung der unterschiedlichen Stufen der biblischen Prophetie und die herausragende Stellung des Moses – das sind Elemente, an denen die Gemeinsamkeiten der beiden Denker studiert werden können. Der Glaube an eine gleichsam engelhafte Stellung des Menschen, der ontologische Sprachbegriff und das Interesse am symbolischen Tiefengehalt der Tora sind nur dem Mystiker eigen. In diesen Punkten wächst Gikatilla quasi über die Maimonidische Philosophie hi  Gikatilla (Anm. 17), S. 377.   Für eine detaillierte Beschreibung der symbolischen Bedeutung der Buchstaben und Vokale siehe Martini (Anm. 2), S. 97–117. 29

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naus und macht gleichzeitig eine Bewegung hin zur Tradition. Im ›Ginnat Egoz‹ kritisiert er wiederholt die von Aristoteles geprägten Philosophen, die ohne eine Überlieferung in der Hand die Existenz Gottes in Frage stellten. Gikatilla erinnert im Namen Jehudah ha-Lewis an die Heiligkeit der Tora, die vorzügliche Begabung des auserwählten Volkes zur Prophetie und die Wunder in der Geschichte Israels.31 Mit dem Gestus des Propheten tritt er als jemand auf, der ›einen Zaun um die Tora errichten‹ und vor den allein an die Gesetze der Natur glaubenden Philosophen bewahren möchte. Maimonides – und das konnte in diesem Beitrag am Beispiel der Prophetie nachvollzogen werden – zählte für Gikatilla sicherlich nicht zu dieser Gruppe universalistischer Philosophen, deren religiöser Indifferentismus in den Augen Gikatillas und seiner Generation eine große Gefahr für die jüdische Religion darstellte.

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  Gikatilla (Anm. 17), S. 6–12, 260.

Aufeinandertreffen. Die Wahrnehmung göttlichen Wirkens im interreligiösen Kontakt Michael Stolz This short introduction aims at outlining the general subject of the following articles. Subsumed under the motto of Aufeinandertreffen (interacting encounter) they all deal with the question of how the impact of the divine is conceived in situations of interreligious contact. The situation may be depicted graphically with the latter as the base of a triangle, whose top represents the relative conception of God’s influence on human actions. Cultural studies, dealing with artefacts such as texts or pictures, can only describe the intellectual process involved in the making of these conceptions yet cannot judge their truth value. In this context, methods of the history of perception and imagination, as they are common in recent historical studies, are relevant. The article discusses the adequacy of these methods with regard to textual genres such as Christian religious lyrics and the chanson de geste, as well as Arabian chronicles, before leading over to the succeeding articles.

Auf dem Jenaer Symposion wurden in einer Doppelsektion Vorträge von jüngeren Angehörigen des Berner Mittelalterzentrums gehalten, die sich mit der Wahrnehmung göttlichen Wirkens im interreligiösen Kontakt beschäftigten. Der vorliegende Beitrag beinhaltet die Einleitung zu diesem Tagungsblock; auf ihn folgen die verschriftlichten Fassungen einer Mehrzahl der gehaltenen Vorträge. Die im Rahmen der Sektion angestellten Untersuchungen gingen von dem methodischen Problem aus, dass die Interaktion zwischen Mensch und Gott mit den Instrumenten geistes- bzw. kulturwissenschaftlicher Forschung nur schwer fassbar ist, da sich das Agieren Gottes einem aufgeklärten Wissenschaftsverständnis letztlich entzieht. Was die Geistes- und Kulturwissenschaften zu beschreiben vermögen, sind Formen der Symbolbildung, sind Formen literarischer oder künstlerischer Gestaltung, in denen der Mensch das Handeln Gottes und damit auch sein Interagieren mit dem Göttlichen imaginiert. Die Überprüfung des Realitätsstatus der Interaktion zwischen Gott und Mensch kann hingegen mit wissenschaftlichen Mitteln, deren sich die historisch-philologischen Disziplinen bedienen, schwerlich geleistet werden. Auf der Grundlage dieser Prämisse nahmen die Beiträge Darstellungsweisen eines zweifachen »Aufeinandertreffens« in den Blick: jenes von Gott und Mensch sowie jenes von verschiedenen Religionsgemeinschaften, welche ihrerseits die Beziehung von Gott und Mensch auf je eigene Weise interpretieren. Die dabei zutage tretende Kons-

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tellation kann behelfsmäßig von der Figur eines Dreiecks ausgehen, dessen Basis die Beziehung der religiösen Gruppen zueinander darstellt, während die sich zur Spitze hin erstreckenden Seiten die jeweils unterschiedlich perspektivierten Gottesvorstellungen repräsentieren. Je nach der Eigenart des interreligiösen Kontakts – der häufig auch als Konfrontation oder Konflikt realisiert sein kann –, je nach der Selbst-, Fremdund Gotteswahrnehmung der beteiligten Gruppen gerät dieses Dreieck in Disproportionen. Mit dem Stichwort ›Wahrnehmung‹ ist dabei eine erkenntnistheoretische Kategorie aufgerufen, die in der jüngeren Mediävistik starke Beachtung gefunden hat.1 Vor dem Hintergrund mentalitätsgeschichtlicher und diskurstheoretischer Ansätze hat sich die Einsicht durchgesetzt, dass historische Forschung weniger mit bloßen Fakten als mit historisch fassbaren Wahrnehmungs- und Deutungsmustern zu tun hat. Aus dieser Perspektive kann – wie die folgenden Sektionsbeiträge zeigen – das doppelte »Aufein­ andertreffen«, das sich bei der Wahrnehmung und Darstellung göttlichen Wirkens im interreligiösen Kontakt ergibt, untersucht werden.2 In der Geschichtswissenschaft gilt die Wahrnehmung historischer Vorgänge seit längerer Zeit als ein Gegenstand eigenen Rechts. Geschichtliche Wirklichkeit (»Realität«) und geschichtliche Vorgänge (»Fakten«) sind uns nicht unverstellt zugänglich, sondern nur in der vermittelten Gestalt der Wahrnehmung von Zeitgenossen und in der Erinnerung dieser Wahrnehmung durch die Nachgeborenen. Historische Vorgänge sind verfügbar in der »Darstellung« von Wirklichkeit, wie sie die Zeitzeugen hinterlassen haben.3 Meist sind Darstellungen dieser Art sprachlich vermittelt; daneben exis  Zu nennen sind hier besonders die Arbeiten von Hans-Werner Goetz und seinem Umfeld, in denen als Gegenstand und methodisches Potential der Geschichtswissenschaft erforscht wird. Vgl. stellvertretend Hartmut Bleumer u. Steffen Patzold, Wahrnehmungs- und Deutungsmuster in der Kultur des europäischen Mittelalters, in: Das Mittelalter 8/2 (2003), 4–20; Anna Aurast, Simon Elling, Bele Freudenberg, u. a. (Hgg.), Hans-Werner Goetz. Vorstellungsgeschichte. Gesammelte Schriften zu Wahrnehmungen, Deutungen und Vorstellungen im Mittelalter, Bochum 2007; in beiden Bänden bes. Hans-Werner Goetz, Wahrnehmungs- und Deutungsmuster als methodisches Problem der Geschichtswissenschaft (Bleumer/Patzold, S. 23–33; Aurast u. a., S. 19–29, im Folgenden zitiert). Eine Ausein­ andersetzung mit Wahrnehmungsphänomenen im Bereich der mediävistischen Literaturwissenschaft findet sich beispielsweise bei Joachim Bumke, Die Blutstropfen im Schnee. Über Wahrnehmung und Erkenntnis im ›Parzival‹ Wolframs von Eschenbach (Hermaea. NF 94), Tübingen 2001. 2   Vgl. dazu auch das Forschungsprojekt von Hans-Werner Goetz: »Die Wahrnehmung anderer Religionen im frühen und hohen Mittelalter« (ERC-Projekt »Advanced Grants«, gefördert 2009–2012), Beschreibung unter: http://www.geschichte.uni-hamburg.de/personal/ERC-Projekt.html (Abrufdatum: 20.2.2014); sowie Ludger Grenzmann, Thomas Haye, Nikolaus Henkel u. a. (Hgg.), Wechselseitige Wahrnehmung der Religionen im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit. I. Konzeptionelle Grundfragen und Fallstudien (Heiden, Barbaren, Juden) (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. NF 4), Berlin, New York 2009; zur Methodik darin bes. den Beitrag von Frank Rexroth, Wissen, Wahrnehmung, Mentalität. Ältere und jüngere Ansätze in der Geschichtswissenschaft, S. 1–22. 3  Vgl. Goetz, Wahrnehmungs- und Deutungsmuster (Anm. 1), S. 22f. 1

»Wahrnehmung«

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tieren Vermittlungsformen in anderen, etwa ikonischen Zeichensystemen. Die sprachlich oder anders kodierten Darstellungen einer Wahrnehmung historischer Vorgänge weisen dabei stets auch einen mehr oder weniger hohen Anteil von Konstruiertheit auf. Realität kann durch solche Art der Wahrnehmung erst »geschaffen, eben ›konstruiert‹« werden.4 Damit aber erweist sich historische Erkenntnis als das Produkt von »Verformung(en)«5, die in den Wahrnehmungen geschichtlicher Vorgänge und in deren Darstellungen durch die Zeitgenossen begegnen. Bekannt ist die (überspitzt formulierte) These von Hayden White, dass Geschichtsschreibung aufgrund dieser Tatsache stets konstruiert sei und damit einen fiktiven Charakter habe, der »immer auch mit literaturwissenschaftlichen Methoden zu analysieren«6 sei. In der französischen Geschichtswissenschaft wurde die Bedeutung historischer Wahrnehmung früh mit wissenssoziologischen Theoremen verknüpft.7 Dies geschah in Anschluss an Emile Durkheim, dessen methodischer Ansatz z.B. in der Schule der An­ nales und bei Pierre Bourdieu fortwirkte. In dieser Forschungsrichtung wurden – bezogen auf die historische Wahrnehmung – die »dynamische(n) und wechselseitige(n) Zusammenhänge zwischen der Wirklichkeit und dem Wissen«8 herausgearbeitet. Die Voraussetzung von historischer Wahrnehmung bilden Wissensordnungen, oder allgemeiner: das »Wissen, (die) Erfahrungen, Vorstellungen und Einstellungen de(r) wahrnehmenden Menschen«.9 Deren »Vorstellungswelt«10 steuert die historische Wahrnehmung. Es ergibt sich also ein Dreischritt, der von (1) den Wissensordnungen bzw. der »Vorstellungswelt« über (2) die Wahrnehmung geschichtlicher Vorgänge zu (3) deren Darstellung führt. Nur letztere ist der historischen Forschung auch zugänglich; hingegen können bzw. müssen historische Wahrnehmungsvorgänge und »Vorstellungswelten« aus den hinterlassenen Darstellungen erschlossen werden. Drei wichtige Bereiche von »Vorstellungswelten« zeichnen sich dabei ab: gelebte und imaginierte Welten im Bereich sozialer Institutionen (etwa der mittelalterlichen Kirche mit ihren religiösen, der Feudalgesellschaft mit ihren höfischen Normen), Rituale als Ausdrucksfor  Goetz, Wahrnehmungs- und Deutungsmuster (Anm. 1), S. 24.  Ebd. 6   Ebd., S. 22f. – Vgl. von Hayden White stellvertretend: Metahistory. The historical Imagination in nineteenth-Century Europe, Baltimore, London 1973; dt. Übers. v. Peter Kohlhaas, Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa, Frankfurt a. M. 1991; ferner Hayden White, Auch Klio dichtet oder die Fiktion des Faktischen. Studien zur Tropologie des historischen Diskurses. Aus dem Amerikanischen von Brigitte Brinkmann-Siepmann u. Thomas Siepmann, Einführung von Reinhart Koselleck (Sprache und Geschichte 10), Stuttgart 1986; sowie Hayden White, Figural realism. Studies in the Mimesis Effect, Baltimore 2000. 7  Vgl. Rexroth, Wissen, Wahrnehmung, Mentalität (Anm. 2), S. 17–20. 8   Ebd., S. 15. 9   Goetz, Wahrnehmungs- und Deutungsmuster (Anm. 1), S. 27. 10  Ebd. 4

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men gesellschaftlicher Normen und schließlich das Selbstverständnis gesellschaftlicher Gruppen bzw. damit einhergehend das Fremdverständnis gegenüber anders gearteten Gruppen.11 Die »Vorstellungswelten« im Bereich von sozialen Institutionen, Ritualen und Selbst- bzw. Fremdverständnissen sind damit weitgehend deckungsgleich mit dem, was französische Historiker in der Nachfolge Durkheims »Mentalitäten« nannten. Besondere Relevanz erfahren diese »Vorstellungswelten« bzw. Mentalitäten dort, wo sie sich in Fremdkontakten formieren, bestätigen oder auch verändern. Formen ihrer Ausprägung in der Konfrontation mit fremden sozialen, religiösen bzw. ethnischen Gruppen wurden in den erwähnten Sektionsbeiträgen des Jenaer Symposions anhand der Wahrnehmung göttlichen Wirkens im interreligiösen Kontakt untersucht. Es ging dabei – um es nochmals zu sagen – um ein doppeltes »Aufeinandertreffen«: um jenes der erwähnten Gruppen mit ihrem je eigenen Gottesbild und um jenes bestimmter Gruppen mit anderen Gruppen, die sich durch ein fremdes religiöses Selbstverständnis definieren. Diese Problematik sei holzschnittartig anhand dreier Textbeispiele vorgestellt: In einer in Kanzonenform abgefassten Spruchstrophe des Dichters Marner (um 1230/70), überliefert in einer um 1300 angefertigten Rolle mit Spruchdichtung (Öffentliche Bibliothek der Universität Basel, N I 6 Nr. 50),12 werden einleitend die Elemente und die Tierwelt beschrieben (vv. 1–4). Über sie gebiete der Mensch als mächtiger Herr (gewaltic wirt, v. 8). Die in einem Kollektivsingular angesprochene Menschheit (mensche, v. 7) wird nun aufgefordert, aus dieser erhabenen Position »über allen Geschöpfen« (ob allen creaturen, v. 8) nach hinten, vorne, auf die Seite, oben und unten zu blicken: sich hinder, für, neben, uf und unden (v. 10). Diese in raschem Wechsel vorgeführten Perspektiven gewähren aber nur eine vermeintliche Souveränität: dem Menschen gehöre alles, was Gott erschaffen hat (din ist allez, daz er hat/ geschaffen, v. 11 f.). Der (in v. 12 erwähnte) Sündenfall jedoch habe die Inkarnation Christi durch Maria erfordert (davon hat uns ein magt enbunden, v. 13), was den Zorn des Teufels hervorgerufen habe (wobei der Teufel in v. 14 – ähnlich wie in v. 8 der Mensch – als wirt erscheint: daz ist dem hellewirte zorn). Die Strophe mündet schließlich in die Aufforderung, dass sich die Christenheit vor Christus verneigen solle: wir cristenliute ni­ gen alle cristes hant (v. 15). Als Motivation für diese Demutsgeste werden Christi Erlösertod am Kreuz, seine Auferstehung und sein Sieg über den Teufel genannt (v. 16). Aus der erhabenen Position ob allen creaturen (v. 8, am Ende des Aufgesangs der  Vgl. Rexroth, Wissen, Wahrnehmung, Mentalität (Anm. 2), S. 20f.   Ton XIV im Basler Fragment (Ba 1); vgl. Jens Haustein, Marner-Studien (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters 109), Tübingen 1995, S. 176–179 (Textedition und Kommentar). Zur Überlieferung: Martin Steinmann, Das Basler Fragment einer Rolle mit mittelhochdeutscher Spruchdichtung, in: Zeitschrift für deutsches Altertum 117 (1988), S. 296–310 (Handschriftenfunde zur deutschen Literatur des Mittelalters, 100. Beitrag). 11

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Kanzonenstrophe) ist eine Verneigung vor dem Erlöser geworden (nigen, v. 15, am Ende des Abgesangs der Kanzonenstrophe). Greifbar wird damit ein für das christliche Mittelalter typisches religiöses Selbstverständnis, in dem die (hier nachgerade wörtlich zu verstehende) »Haltung« der Christen gegenüber Christus bzw. Gott zum Ausdruck kommt: eine christliche »Mentalität« oder »Vorstellungswelt«, in der auch der Teufel als der von Christus bzw. Gott bezwungene Widersacher explizit benannt wird: als hellewirt (v. 14), den der Erlöser bändigte (in die helle bant, v. 16). Wie formiert sich solche Mentalität im Kontakt mit einer Fremdreligion? – Ein Beispiel bietet das (wohl um 1172 entstandene) ›Rolandslied‹ des Paffen Konrad, eine deutschsprachige Version der altfranzösischen ›Chanson de Roland‹, in deren literarischer Darstellung die Wahrnehmung der islamischen Religion aus christlicher Per­ spektive fassbar wird.13 Mit diesem gegenüber den Dichtungen des Marner etwa achtzig Jahre älteren Zeugnis können Diskursformationen im Gattungskontext der Chan­ son de geste erschlossen werden, in der vom Kampf Karls des Großen gegen die muslimischen Heiden in Nordspanien erzählt wird. Der deutsche Text beginnt dabei mit einem Gebet, das der Dichter – ähnlich wie der Marner – in den Kontext des göttlichen Schöpfungsprozesses setzt, indem er sich an den »Schöpfer aller Dinge« (Schephare aller dinge, v. 1) richtet. Auch auf der Handlungsebene setzt die Erzählung mit einem Gebet ein, in dem sich Kaiser Karl an Gott wendet. Auffällig ist dabei die demutsvolle Geste eines nach innen gerichteten Blicks (mit tiefen herze blicken, v. 48). Anschließend wendet der Kaiser die tränenerfüllten Augen nach oben, denn er sieht einen engel von himele kommen (v. 53). Karl erhält von dem göttlichen Boten den Auftrag, einen Feldzug nach Spanien zu unternehmen, damit das Volk dort bekehrt werde (daz liut wirdet bekêret, v. 58) – gemeint sind die Angehörigen des muslimischen Glaubens. Diese »Heiden« (haidenscaft, v. 43, 85 u. ö.) werden verächtlich als »Gottes Gegner« (di dir aber wider sint, v. 59) und »Teufelskinder« (des tiuve­ les kint, v. 60) bezeichnet. Sie haben das Seelenheil verloren und gelten als auf ewig in die Hölle verbannt: die helle bûwent si iemermêre (v. 64). Die Parallelen zu dem von Christus überwundenen Teufel (hellewirt) beim Marner (v. 14/16) sind offenkundig. Im Gegensatz dazu erscheinen die Gotteskrieger als Kämpfer mit mönchischen Tugenden: sie sind kiuske unde reine (v. 77) und opfern ihren Leib für ihr Seelenheil   Das Rolandslied des Pfaffen Konrad. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch, hrsg., übers. u. komm. v. Dieter Kartschoke (Reclam Universal-Bibliothek 2745), Stuttgart 1993, ND Stuttgart 1996. Zur Wahrnehmungsproblematik stellvertretend: Ulrich Ernst, »Kollektive Aggression« in der ›Chanson de Roland‹ und im ›Rolandslied‹ des Pfaffen Konrad. Die Idee des Gottesfriedens als Legitimationsmodell für Reconquista und welfische Expansionspolitik, in: Euphorion 82 (1988), S. 211–225; Rüdiger Schnell, Die Christen und die »Anderen«. Mittelalterliche Positionen und germanistische Perspektiven, in: Odilo Engels u. Peter Schreier (Hgg.), Die Begegnung des Westens mit dem Osten. Kongreßakten des 4. Symposions des Mediävistenverbands in Köln 1991 aus Anlass des 1000. Todesjahrs der Kaiserin Theophanu, Sigmaringen 1993, S. 185–202, bes. S. 185f. 13

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(durch willen der sêle, v. 79). Der am Beginn des ›Rolandslieds‹ aufgebaute und bis zuletzt durchgehaltene Gegensatz von »Christen« und »Heiden« bietet mithin ein Beispiel für »asymmetrische Gegenbegriffe« im Sinne Reinhart Kosellecks.14 Abschließend sei nun ein Blick auf die Gegenseite geworfen: Im ›Kitāb al-Iʿtibār’ (›Buch der Belehrung durch Beispiele‹) des islamischen Schriftstellers Usāma ibn Munqiḏ (1095–1188) findet sich, etwa zeitgleich mit dem ›Rolandslied‹, eine kritische Darstellung der Franken im Kontext der Kreuzzüge.15 Die christlichen Ritter werden dabei unter anderem folgendermaßen beschrieben: Preis dem Schöpfer aller Dinge! Wenn jemand von den Franken berichtet, kann er nur Allāh den Erhabenen preisen und segnen, denn er sieht in ihnen Tiere, die nur die Tugend der Tapferkeit und des Kampfes kennen, wie auch Tiere, die die Tugend der Kraft und des Duldens haben. Ich werde einiges von ihrem Tun und ihrem seltsamen Verstand erzählen.16

Der Beginn des Abschnitts weist einige auffällige Ähnlichkeiten zum ›Rolandslied‹ auf: Gott ist »Schöpfer aller Dinge«, der über die Schöpfung »Erhabene«. Die aus dem ›Rolandslied‹ bekannten Gotteskrieger begegnen hier als »Tiere« mit »Tugenden« (»der Tapferkeit und des Kampfes«, »der Kraft und des Duldens«). Was es mit dem von Usāma erwähnten »seltsamen Verstand« der Franken auf sich hat, zeigt u. a. die folgende Textstelle: Einmal sah ich, wie ein Franke zum seligen Emir Muʿīn ad-Dīn kam, als er gerade im Felsendom [in Jerusalem] weilte. Er fragte den Emir: ›Willst du Gott als Knaben sehen?‹ Der Emir bejahte. Der Franke ging vor mir her, bis er uns das Bild von Maria und dem Messias – Heil ihm – als Knaben in ihrem Schoß zeigte. ›Das ist Gott als Kind!‹ meinte der Franke. – Hocherhaben ist Allāh über das, was die Ungläubigen da sagen!17

Beschrieben wird die Reaktion eines Muslims auf die christliche Lehre der Inkarnation Christi in Maria, dies am Beispiel eines Marienbildnisses mit »Gott als Kind«. Die im christlichen Verständnis als Bedingung der Erlösung angesehene Inkarnation (explizit dokumentiert beim Marner: vom Sündenfall hat uns ein magt enbunden, v. 13; implizit vorausgesetzt auch im ›Rolandslied‹) wird als Mentalität oder »Vorstellungs14   Vgl. Reinhart Koselleck, Zur historisch-politischen Semantik asymmetrischer Gegenbegriffe, in: Harald Weinrich (Hg.), Positionen der Negativität (Poetik und Hermeneutik 6), München 1975, S. 65– 104; Nachdruck in: ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a. M. 1979, ND Frankfurt a. M. 1989, S. 211–259, bes. S. 239f. 15   Im Folgenden zitiert nach: Die Erlebnisse des syrischen Ritters Usāma ibn Munqiḏ. Unterhaltsames und Belehrendes aus der Zeit der Kreuzzüge. Aus dem Arabischen übers. u. hrsg. v. Holger Preissler (Orientalische Bibliothek), München 1985. Dazu stellvertretend: Alexander Schauer, Muslime und Franken. Ethnische, soziale und religiöse Gruppen im Kitāb al-Iʿtibār des Usāma ibn Munqiḏ (Islamkundliche Untersuchungen 230), Berlin 2000. 16   Die Erlebnisse des syrischen Ritters Usāma ibn Munqiḏ (Anm. 15), S. 148. 17   Ebd., S. 151f.

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welt« eines »seltsamen Verstand(s)« ausgewiesen. Wiederholt bezeichnet Usāma ibn Munqiḏ die christlichen Franken als »Teufelskerl(e)« und verdammt sie mit Wendungen wie »Allāh verfluche sie«.18 Die »Verteufelung« der Angehörigen der Fremdreligion begegnet also nicht nur im christlichen ›Rolandslied‹ sondern auch auf der islamischen Gegenseite. Als ein erstes Fazit der folgenden Untersuchungen lässt sich festhalten, dass die Darstellung (anekdotisch bei Usāma ibn Munqiḏ – episch im ›Rolandslied‹) darauf schließen lässt, wie die Angehörigen fremder Religionen von der Gegenseite wahrgenommen werden. Die Wahrnehmung erfolgt dabei stets über den Bezug auf den monotheistischen Gott, der in beiden Texten als Autorität erscheint und in einer überraschenden Parallelität als »erhabener Schöpfer« angerufen wird. Hinter dieser Wahrnehmung stehen religiöse Mentalitäten bzw. »Vorstellungswelten«, die sich – hier in Beschränkung auf den christlichen Text – anhand der Strophe des Marner rekonstruieren lassen: Die Christen sind dem göttlichen Schöpfer und Erlöser zu demutsvoller Verehrung verpflichtet (Stichwort nigen, v. 15); Gott hat siegreich über seinen Widersacher, den Teufel, triumphiert (wie auch die Gotteskrieger über ihre ungläubigen Gegner triumphieren wollen). Der Text des Marner wird dabei nicht im Sinne einer Quelle der im ›Rolandslied‹ greifbaren Aussagen beansprucht, sondern als Muster christlicher Mentalität und Weltdeutung – alternativ hätten katechetische Texte, Predigten und weitere Textsorten herangezogen werden können. Die an den gewählten Beispielen aufgezeigte trianguläre Struktur von zwei entgegengesetzten ethnischen Gruppen und ihrem Gottesbezug wurde in den Vorträgen der Jenaer Doppelsektion anhand weiterer literarischer und außerlitarischer Beispiele vertieft. Drei der Vorträge sind auf den folgenden Seiten abgedruckt: Kathrin Chlench beschäftigt sich am Beispiel des ›Parzival‹ Wolframs von Eschenbach mit Darstellungen der Wahrnehmung göttlichen Wirkens im interreligiösen Kontakt; Robert Mohr untersucht die in volkssprachigen Texten der Deutschordensliteratur entworfene »heidnische« Wahrnehmung heiliger Manifestationen; Thomas Würtz analysiert die Wahrnehmung christlicher Religion durch den muslimischen Religionsgelehrten Ibn Ḥazm. Die weiteren, nicht abgedruckten Vorträge der Doppelsektion seien hier der Vollständigkeit halber genannt: Simone Häberli erläuterte Bewältigungsstrategien christlicher Verfolgungen im Rheinland von 1096, die in jüdischen Berichten zum ersten Kreuzzug dokumentiert sind; Kerstin Hitzbleck beleuchtete das Wirken Gottes in der Welt, wie es von den humanistischen Geschichtsschreibern Polydore Vergil und Enea Silvio Piccolomini bei der Darstellung des Kontakts mit anderen Religionen gestaltet wurde.

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  Z. B. ebd., S. 150 (»wie ein Teufel«), 151 (»Teufelskerl«); S. 150, 157 (»Allāh verfluche ihn/sie«).

Die Wahrnehmung göttlichen Wirkens im interreligiösen Kontakt am Beispiel des ›Parzival‹ Wolframs von Eschenbach Kathrin Chlench In Wolfram’s ‘Parzival’, divine intervention appears on different levels of the narrative. Within the narrative world (intra-diegetic), differences between the heathen deities and the Christian God are mainly developed on the basis of the character Feirefiz. On the one hand, Feirefiz is a heathen from the Orient, on the other he is Grail king Parzival’s brother and belongs to the courtly society, in which he is, in the end, fully integrated as a Christian through his baptism. He is able to see the miracles of the Grail and afterwards acts as Christian missionary in India. On a second level (extra-diegetic) the narrator’s depiction of the history of his sources deals with the divine intervention and its perception by non-Christians and Christians. The fabula of ‘Parzival’ was made known to mankind by the heathen Flegetanis, who was capable of transcribing it from the ‘divine text’ inscribed in the stars, yet without being able to understand its deeper meaning. Kyot transferred this text afterwards from Flegetanis’s original pagan language into a language of the Christian world and made it thus accessible for an interpretation within the framework of Christian knowledge. The depiction of non-Christians within the ‘Parzival’ is not stereotypically negative but rather sophisticated. Pagan people are needed to fulfil God’s will in the narrative and to bring it, with God’s help, to an end. Both medieval manuscripts and modern literary studies give evidence of lively discussions on how to interpret the impact of the intervention of the divine as presented in the text.

Göttliches Wirken wird im ›Parzival‹ Wolframs von Eschenbach auf verschiedenen Ebenen der Erzählung thematisiert.1 Innerhalb der Erzählwelt (intradiegetisch) ist es vor allem die Figur des Feirefiz, anhand der Unterschiede im Wirken der heidnischen Götter und des christlichen Gottes entfaltet werden. Auf einer zweiten Ebene (extradiegetisch) findet im Rahmen der Darstellung der Quellengeschichte durch den Erzähler und seine Berufung auf Kyot eine Auseinandersetzung mit göttlichem Wirken und dessen Wahrnehmung durch Heiden und Christen statt.2 Schließlich ist auf der Ebene   Im Folgenden werden alle Textverweise nach der Dreißiger-Zählung von Karl Lachmann angegeben. Sofern nicht explizit anders ausgewiesen, wird der normalisierte Text der Fassung *D nach der Leithandschrift D St. Gallen, Stiftsbibliothek, Codex 857 zitiert. Vgl. http://www.parzival.unibe.ch/ editionen.html (Abrufdatum: 27.4.2011). 2   Die Quellenerzählung wird hier als Rahmengeschichte aufgefasst, in der der Wolframerzähler als exegetisch-diegetisch zu charakterisieren ist. Vgl. Wolf Schmidt, Elemente der Narratologie, 2. verb. Aufl. Berlin 2008, S. 87. 1

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der Rezeption ein weiterer Spielraum eröffnet, wo göttliches Wirken durch die heidnischen wie christlichen Romanfiguren exemplarisch vorgeführt wird und vom Rezipienten beurteilt werden will (interpretatorisch). Es gilt also, göttliches Wirken im ›Parzival‹ in der Wahrnehmung der Romanfiguren, der erzählten Welt und des Rezipienten aufzuzeigen und deren Deutungsmuster offenzulegen. Feirefiz, der wiederholt als Heide bezeichnet wird, ist der Sohn Gahmurets und der schwarzhäutigen Königin Belakane aus Zazamanc. Seine Eltern kommen zwar aus verschiedenen Erdteilen und sind von unterschiedlicher Hautfarbe, dennoch gleichen sich die Gebräuche und Ideale der beiden adligen Gesellschaften, derer sie entstammen: Es gelten dieselben Herrschertugenden, Minnekonzepte, höfischen Werte und Symbolordnungen, repräsentiert beispielsweise durch Wappen, und auch die Sprache stellt keine Barriere zwischen beiden Kulturen dar.3 Insofern ist es nicht verwunderlich, dass Feirefiz ganz dem Höfischen verpflichtet ist und später wenige Schwierigkeiten haben wird, sich in die Gesellschaft am Artushof zu integrieren.4 Da er im Orient aufwuchs und sozialisiert wurde, ist er in den sogenannten »heidnischen Künsten« geschult, so dass er sich beispielsweise Edelstein- und Sternkunde zu Nutze machen kann.5 In ihm vereinen sich durch seine Erziehung Aspekte des Höfischen und Mythischen; aufgrund seiner Abstammung kommen durch seine Mutter Elemente des Heidnischen und durch seinen Vater Elemente des Christlichen hinzu. Beate Kellner hat im Rückgriff auf Michail Bachtin solche Verschränkungen oder Konstrukte heuristisch als ›Hybride‹ bezeichnet, die zwangsläufig auf der Ebene der Erzählung zu Brüchen, Diskontinuitäten, Aporien und Paradoxien führten, die in der Analyse nicht zu glätten, sondern herauszuarbeiten seien.6 Demnach bleibt zunächst einmal festzuhalten, dass Feirefiz aufgrund seiner Genealogie und des daraus resultierenden Verhaltens gerade nicht klar der Dichotomie heidnisch oder christlich zuzuordnen ist.7 Dies offenbart sich auch in seiner schwarz-weiß gefleckten Haut, die zeichenhaft auf seine Abstammung zurückweist und die trotz seiner fortwährenden Titulierung als ›Heide‹ daran erinnert, dass er eben nicht ausschließlich ein solcher ist. 3   Vgl. 26,9–28,9; 30,7–31,11; 55,17–20. Belakane beherrscht das Französische und gibt dieses auch an ihren Sohn weiter. 4   Feirefiz hat im Orient durch Tapferkeit im Kampf die minne von Secundille, der Königin von Tabronit, und auch die Herrschaft über ihr Königreich erworben, was der Artusgesellschaft und Gralssippe über Vermittlung von Kundrie bereits bekannt ist. Vgl. 317,3–7; 519,2–4. 5   Vgl. 743,5–8; 782,2–4. 6  Vgl. Michail Bachtin, Die Ästhetik des Wortes, hrsg. und eingeleitet v. Rainer Grübel, Frankfurt a. M. 1991, S. 195–196. Vgl. weiter Beate Kellner, Wahrnehmung und Deutung des Heidnischen in Wolframs von Eschenbach ›Parzival‹, in: Ludger Grenzmann, Thomas Haye, Nikolaus Henkel u. a. (Hgg.), Wechselseitige Wahrnehmung der Religionen im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit: I. Konzeptionelle Grundfragen und Fallstudien (Heiden, Barbaren, Juden) (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. NF 4), Berlin, New York 2009, S. 23–50, hier S. 27. 7  Vgl. Kellner (Anm. 6), S. 27.

Die Wahrnehmung göttlichen Wirkens im interreligiösen Kontakt

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In Feirefiz sind also verschiedene Konzepte hybrid vermischt, die es ihm als höfischem Ritter erlauben, als Konnektor zwischen Orient und Okzident, Heiden- und Christentum auftreten zu können. Der Religionsunterschied stellt dabei kein unüberwindbares Hindernis dar, da die genealogische Disposition ausschlaggebend ist; die von seinen Eltern ererbten Werte und Verhaltensanlagen und damit auch das Verwandtschaftsverhältnis zu Parzival wiegen stärker als sein heidnischer Glaube.8 Dennoch kann Feirefiz als Ungetaufter nicht an den Gralwundern teilhaben – er kann den Gral schlichtweg nicht sehen –,9 und er kann auch die Gralsträgerin Repanse de Schoye nicht heiraten, mit ihr keine weitere genealogische Verbindung eingehen, solange er kein Christ ist und nicht die Taufe empfangen hat. Bevor auf Feirefiz’ Taufe im Einzelnen einzugehen ist, sollen zunächst die Informationen zusammengestellt werden, die ihn und sein Verhältnis zu seiner Religion, dem Islam, charakterisieren. Der Islam wird in Wolframs ›Parzival‹ – wie in mittelhochdeutschen fiktionalen Quellen üblich – als Religion der Heiden bezeichnet und als polytheistisch dargestellt. Juno und Jupiter sind die höchsten Götter, die Feirefiz’ Geschicke leiten. Dies erfährt der Leser zumeist aus seiner direkten Rede, was den Ausführungen mindestens intradiegetisch eine gewisse Authentizität verleiht.10 Feirefiz bedankt sich eifrig bei seinen mächtigen Göttern und lobt sie wie auch die Natur, seinen Lebensweg derart gefügt zu haben, dass er seinem Halbbruder Parzival begegnen konnte:11 Der heiden dô mit vreuden sprach: »ô wol mich, daz ich ie gesach des werden Gahmuretes kint! al mîne gote des geêret sint. mîn gotinne Juno dis prîses mac wol wesen vrô.   Ferner sei auf die Idee der »Menschheitsfamilie« hingewiesen, die im ›Parzival‹ explizit thematisiert wird. Da nach christlicher Vorstellung alle Menschen von Adam und Eva abstammen, sind auch Heiden und Christen verwandt, was Auseinandersetzungen zwischen beiden problematisch macht. Vgl. 464,8–465,10. 9   Vgl. den Stellenkommentar von Eberhard Nellmann in: Wolfram von Eschenbach, Parzival. Nach der Ausgabe Karl Lachmanns revidiert und kommentiert von Eberhard Nellmann, übertragen von Dieter Kühn (Bibliothek des Mittelalters 8, 1/2), Frankfurt a. M. 1994, S. 781–782. 10   Das Erzählte in fiktionalen Texten ist immer konstruiert, weswegen der Wahrheitsgehalt des Erzählten nicht im Fokus literaturwissenschaftlicher Analyse steht. Dementsprechend soll auch hier nicht der Wahrheitsanspruch der islamischen Religionsdarstellung verhandelt werden; vielmehr geht es um eine Untersuchung der erzählten Welt, die durchaus in ihrer Wirkung auf die Welt der Rezipienten ausgreifen kann. Zu grundsätzlichen Überlegungen von Wahrnehmung, Darstellung und Deutung vgl. Hans-Werner Goetz, Wahrnehmungs- und Deutungsmuster als methodisches Problem der Geschichtswissenschaft, in: Das Mittelalter 8 (2003), S. 23–33. 11   Vgl. 749,16–17; 750,1–10; 752,20–22; 763,14–20; 767,2–5. 8

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Kathrin Chlench

mîn kreftec got Jupiter dirre sælden was mîn wer. got und gotinne, iwer kraft ich immer minne. Geêret sî des plânêten schîn, dâr inne diu reise mîn nâch âventiure wart getân gein dir, vorhtlîch süezer man, daz mich von dîner hant gerou. geêret sî luft unt tou, daz hiute morgen ûf mich reis.«12

Die Dankbarkeit und Demut vor den Göttern, die von Feirefiz zum Ausdruck gebracht werden, lassen ihn als im heidnischen Glauben verwurzelt erscheinen; doch wird dieser Eindruck schnell wieder gebrochen, wenn er bekennt, dass seine Liebe zur Königin Secundille noch größeren Einfluss auf sein Leben habe: swes diu gert, daz ist mîn wille. Si hât gesetzet mir mîn leben: si hiez mich milteclîche geben unt guote rîter an mich nemen. des solte si durch mich gezemen. Daz ist alsô ergangen: mit schilde bevangen ist zingesinde mir benant manec rîter wert erkant. Dâ engein ir minne ist mîn lôn. ich trage ein ecidemôn ûf dem schilde, als si mir gebôt. swâ ich sider kom in nôt, zehant sô ich an si dâhte, ir minne helfe brâhte. diu was mir bezzer trôstes wer denne mîn got Jupiter.13

Als Feirefiz’ Minnedame ist Secundille Maßstab seines moralischen Handelns. Sie gibt ihm eine tugendhafte, ritterliche, höfische Lebensweise vor und belohnt ihn mit ihrer minne, kraft derer sie in der Lage ist, ihn vor Gefahren zu beschützen. Dieses Mehr an Macht überzeugt Feirefiz, so dass er die minne über den obersten Gott seiner Religion stellt. Genealogisch argumentiert scheint hier das Erbe seines Vaters Gahmuret durch, der ebenfalls ganz dem Minnerittertum verpflichtet war. Ähnlich verhält es sich, als er sich beim Anblick der Gralsträgerin Repanse de Schoye in ir minnen stric 12 13

 748,13–29.  768,14–30.

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einschließen lässt.14 Schnell stellt er fest, dass die Wirkung, die Repanse auf ihn ausübt, stärker ist als er selbst mit seinem kräftigen Körper und auch stärker als die minne, die er je von anderen Damen empfing. ir blic mir inz herze gêt. Ich wânde, sô starc wære mîn lîp, daz iemmer maget oder wîp mir vreuden kraft benæme. mir ist worden widerzæme, ob ich ie werde minne enpfienc.15

Feirefiz wendet sich mit der Klage an Jupiter, warum dieser seine Geschicke letztlich so gefügt habe, dass er nun leiden müsse,16 Jupitern, mîme gote, wil ich immer hazzen tragen, ern wende mir diz starke klagen.17

und er distanziert sich überschnell von seinen bisherigen Minnedamen. Sie nützen ihm in seiner misslichen Lage ebensowenig wie seine Götter, die anscheinend nicht dazu befähigt sind, ihn zu erlösen. Deswegen zögert Feirefiz nicht, sich taufen zu lassen, als ihm dadurch die Erfüllung des Minneverhältnisses zu Repanse versprochen wird. Feirefiz, der nichts über das christliche Ritual zu wissen scheint, will die Taufe durch einen Kampf gewinnen. Dieses Ansinnen führt dazu, dass sowohl Parzival als auch Anfortas in Gelächter ausbrechen. In der Forschung ist diese Szene bezüglich ihres komischen Charakters vielfach diskutiert worden, worauf ich jedoch nicht im Einzelnen eingehen möchte.18 Stattdessen verweise ich auf eine ähnliche Szene im ›Litauer‹ Schondochs, wo der heidnische Litauerfürst Interesse an der Eucharistiefeier zeigt und an ihr teilnehmen möchte, weil er glaubt, dass er durch den Verzehr der Hostie die Kraft von drei Männern erlange. Erklärlich wird sein Verhalten, wie auch die Bitte um den Verzehr von vier Männern in Form der Hostie, aufgrund des bislang von ihm nicht verstandenen christlichen Trinitätsgedankens.19 In beiden Szenen ist es also das Unwissen um die Mysterien der jeweils anderen Religion, das zumindest auf in­ tradiegetischer und – wie ich meine – auch auf der Ebene der Rezeption, einen komi  Vgl. 811,4–5.  810,14–19. 16   Vgl. 810,27–28. 17  812,28–30. 18   Verschiedene Forschungsmeinungen finden sich zusammengestellt bei Nicole Müller, Feirefiz  – Das Schriftstück Gottes (Bayreuther Beiträge zur Literaturwissenschaft 30), Frankfurt a. M. 2008, S. 257–259, hier S. 293. 19   Der Litauer von Schondoch, hrsg. v. Udo Arnold (Scriptores rerum Prussicarum 6), Leipzig 1968, S. 50–60. Vgl. dazu auch den Beitrag von Robert Mohr in diesem Band. 14 15

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schen Eindruck hinterlässt. Es handelt sich an dieser Stelle nicht um eine gescheiterte sinnliche Wahrnehmung der Heiden, die ein Verstehen verhindert, sondern vielmehr um eine fehlende Erklärung, die sie den in die Glaubensgeheimnisse eingeweihten Christen auf naive Weise als unterlegen erscheinen lässt. So wie der Litauerfürst in die christliche Glaubenslehre von einem Deutschordenspriester eingeführt wird, erhält auch Feirefiz eine Erklärung zum Ritual der Taufe. Sein Halbbruder Parzival setzt ihm auseinander, dass er nicht kämpfen müsse, sondern nur durch rechten touf die Gunst von Repanse erlangen könne und deswegen zunächst seinen Göttern abschwören und sich von Secundille endgültig trennen müsse. Die Taufe wird daraufhin auf den nächsten Tag verschoben.20 Joachim Bumke hat mit »Die Blutstropfen im Schnee. Über Wahrnehmung und Erkenntnis im ›Parzival‹ Wolframs von Eschenbach« eine Studie vorgelegt, in der die Wahrnehmungstheorien des 12. Jahrhunderts für die Textauslegung herangezogen werden.21 Es geht Bumke dabei nicht um den Nachweis bestimmter Quellen, die Wolfram in seinem Roman verwendet hat, sondern vielmehr um den Einfluss des zeitgenössischen Wissens, dessen Kenntnis bei der Interpretation des Romans hilfreich sein kann. Zur Zeit der Entstehung des Romans um 1210 war bereits das Gedankengut der aristotelischen Wahrnehmungstheorien bekannt; es findet sich etwa bei Isaac de Stella, wonach sich der Erkenntnisprozess des Menschen über das sinnliche Wahrnehmen bis hin zum Verstehen in mehreren Stufen vollzieht.22 Maßgeblicher in dieser Szene ist jedoch die von Augustinus geprägte Vorstellung, dass das Gesehene im Inneren des Menschen in Bilder umgesetzt und verarbeitet wird, wozu es eines inneren Lichtes bedarf, das göttlichen Ursprungs ist.23 Erkenntnis vollzieht sich demnach in einem Analogieverhältnis von Innen und Außen und ist ohne inneres göttliches Licht nicht denkbar. Bumke nutzt diese Unterscheidung von äußerem und innerem Sehen, um die Blutstropfenszene verstehbar zu machen, und formuliert die These, dass »die Wahr  Vgl. 814,17–816.   Vgl. Joachim Bumke, Die Blutstropfen im Schnee. Über Wahrnehmung und Erkenntnis im ›Parzival‹ Wolframs von Eschenbach (Hermaea NF 94), Tübingen 2001. Bumkes Buch voraus ging ein Vortrag auf dem 23. von der DFG geförderten Germanisten-Symposium, in dem er erste methodische Überlegungen zum Fruchtbarmachen der Wahrnehmungstheorien des 12. Jahrhunderts für die Textinterpretation des ›Parzival‹ äußert. Vgl. Joachim Bumke, Wahrnehmung und Erkenntnis im ›Parzival‹ Wolframs von Eschenbach, in: Ursula Peters (Hg.), Text und Kultur. Mittelalterliche Literatur 1150–1450 (Germanistische Symposien Berichtsbände 23), Stuttgart, Weimar 2001, S. 355–370. 22  Der sensus corporeus empfängt eine Information, die imaginatio verarbeitet diese und leitet sie an die ratio weiter, um eine Reflexion des Aufgenommenen zu ermöglichen. Die höchste Erkenntnisstufe schließlich kann nur mit dem intellectus bzw. der intelligentia erreicht werden. Vgl. Isaac de Stella, De Anima, hrsg. v. Jacques Paul Migne (Patrologia Latina 194), Paris 1855, Sp. 1875–1890; Alcher von Clairvaux nennt ein ähnliches Modell, das um eine Stufe erweitert ist. Vgl. Bumke, Blutstropfen (Anm. 21), S. 36. 23   Vgl. Augustinus, De trinitate XII, 15, 24 [L 20], Bd. 1, S. 378; vgl. weiter Bumke (Anm. 21), S. 39. 20 21

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nehmung seines [i. e. Parzival] inneren Auges […] einen Erkenntnisprozeß in Gang [setzt], der ihn zum ersten Mal begreifen läßt, welche Ziele ihm gesetzt sind.«24 Jedoch stellt er selbst fest, dass der Rezipient kaum etwas von Parzivals innerem Weg erfahre.25 Dies wiederum greift Walter Haug in seiner Rezension zu Bumke kritisch auf, indem er fragt, inwiefern man überhaupt von einem Erkenntnisprozess und somit letztlich von einer Wandlung des Protagonisten sprechen könne, wenn dies nicht explizit gemacht werde. Da Haug die Frage dahingehend beantwortet, dass sich Parzival nicht verändert, deutet er damit zugleich auf die Begrenztheit des Erklärungspotenzials der zeitgenössischen Wahrnehmungstheorien in dieser Szene hin.26 Lassen sich die zeitgenössischen Wahrnehmungstheorien denn nun etwa für die Analyse von Feirefiz’ Taufe fruchtbar machen? Zunächst einmal ist festzuhalten, dass man bei Feirefiz keinen wie dem Parzival von Bumke unterstellten Erkenntnisprozess ausmachen kann. Argumentiert auf Basis der augustinischen Theorie kann man dies eigentlich auch nicht erwarten, denn schließlich fehlt ihm als Heiden das innere Licht des rechten Gottes.27 Außerdem ist eine Besinnungsphase für Feirefiz auch gar nicht notwendig. Der Aufschub der Taufe auf den nächsten Tag gäbe Raum für ein Bedenken oder innere Einkehr, jedoch wird Feirefiz nachts nach wie vor von der minne so stark gepeinigt, dass er sich nichts anderes wünscht, als schnellstmöglich getauft zu werden, um Repanse zu gewinnen. Warum sollte er auch nachsinnen, denn schließlich handelt er ganz im Einklang mit seinen bisherigen Maßstäben: Er beugt sich dem, was die größte Macht ausstrahlt. Nachdem er seine Götter, allen voran Jupiter, der minne Secundilles nachgestellt hat, wird ihm nun der christliche Gott, zu dem er sich durch die Taufe bekennen kann, als so machtvoll geschildert, dass dieser seinen Minnequalen ein Ende bereiten kann. Also entscheidet er sich fraglos sofort für die Taufe. Beate Kellner hat bereits herausgearbeitet, dass Feirefiz’ »innere Ferne zum Christentum« mit der Bereitschaft zur Taufe chiastisch auf seine Mutter Belakane zurückweist, die das Christentum verinnerlicht hat und somit auch ohne Sakrament wie getauft wirkt.28 Letztlich wird das Sakrament jedoch erst an ihrem Sohn vollzogen, wodurch erneut die genealogische Dimension in der als Hybride konstruierten Figur betont wird. Die Fortsetzung des positiv bewerteten Innenlebens der edlen   Bumke, Blutstropfen (Anm. 21), S. 3–4.   Ebd., S. 5f. 26   Vgl. Walter Haug, Buchbesprechung von Joachim Bumke, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 121 (2002), S. 134–139, hier S. 137. 27  Vgl. Müller (Anm. 18), S. 290. 28  Vgl. Kellner (Anm. 6), S. 31–32. Vgl. weiter 28,10–17. In der auf der Parzivalhandschrift T basierenden Fassung *T2 scheint Belakane das Sakrament tatsächlich zu empfangen. Vgl. Robert Schöller, Die Fassung *T des ›Parzival‹ Wolframs von Eschenbach. Untersuchungen zur Überlieferung und zum Textprofil (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 56), Berlin, New York 2009, S. 306–308. 24 25

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Heidin durch ihren Sohn liefert jedoch nur einen Erklärungsansatz, weshalb Feirefiz’ Taufe trotz seiner inneren Ferne zum Christentum gelingt. Horst Brunner postuliert, dass Feirefiz bereits Ansätze für ein Grundverständnis des Christentums entwickelt habe, und nimmt dabei Bezug auf dessen Überlegungen zum Verhältnis von Gahmuret, Parzival und sich selbst. Durch das Familienverhältnis entwickle Feirefiz bereits eine Vorstellung vom Prinzip der Trinität, auch wenn er mit der christlichen Trinitätslehre selbst noch nicht vertraut sei.29 Dennoch kann dieses Vorverständnis wie auch die in der Forschung vieldiskutierte »Tränentaufe«30, quasi eine Selbsttaufe, die Feirefiz sich wie schon seine Mutter Belakane durch die ihm inhärente triuwe beibringen kann,31 nicht das Sakrament selbst ersetzen.32 Erst durch die Taufe wird er dazu befähigt, den Gral zu sehen, seine Rolle im göttlichen Heilsplan als Missionar Indiens und Vater des Priesterkönigs Johannes einzunehmen.33 Die augustinische Vorstellung, dass durch die Taufe das göttliche Licht empfangen werde, das letztlich zu einem inneren Sehen und Verstehen befähige, kann mit den im Text beschriebenen Vorgängen in Einklang gebracht werden, vermag jedoch das der Taufe inhärente mystische Moment nicht vollständig zu erklären.34 Eine ähnliche Konstellation, die sich mit der Wahrnehmung des Heidnischen sowie der Wirkung der christlichen Taufe auseinandersetzt, konstruiert der Erzähler in   Vgl. Horst Brunner, Zur Gestaltung des Schlusses von Wolframs ›Parzival‹, in: Germanisch-Romanische Monatsschrift 41 (1991), S. 369–384, hier S. 378f. 30   Vgl. z. B. Nellmann (Anm. 9), S. 472, 784. Louise Gnädinger, Wasser – Taufe – Tränen, in: Wolfram-Studien 2 (1974), S. 53–71, hier S. 67–69. Kellner (Anm. 6), S. 237–239. 31  Vgl. Brunner (Anm. 29), S. 379. 32   Dass Feirefiz seine Rolle im göttlichen Heilsplan vorherbestimmt ist und seine Taufe deswegen einen lediglich notwendigen Akt bedeutet, arbeitet Joachim Bumke heraus. Er sieht bereits in der Tatsache, dass Feirefiz nach Munsalvæsche gelangen kann, intradiegetisch eine göttliche Vorsehung oder eben eine Lenkung des Erzählers, die ebendies suggeriert. Vgl. Joachim Bumke, Parzival und Feirefiz – Priester Johannes – Loherangrin: Der offene Schluss des ›Parzival‹ von Wolfram von Eschenbach, in: Deutsche Vierteljahrsschrift 61 (1991), S. 236–264, hier S. 238–239. 33   Die von Susanne Knaeble vertretene These, dass Feirefiz’ Taufe notwendige Voraussetzung sei, um ihn am göttlichen Heil partizipieren zu lassen, er jedoch erst dann einen Zugang habe, nachdem er den Gral samt seiner Wunder tatsächlich gesehen habe, ist diskutabel. Eher deute ich die Teilhabe an den Gralwundern als bloße Konsequenz des Getauftseins und verweise auf die im Anschluss besprochene Taufe Kyots sowie Feirefiz’ Motivation, der sich in erster Linie taufen lässt, um Repanse zu gewinnen und nicht etwa, um den Gral zu sehen. Vgl. Susanne Knaeble, Höfisches Erzählen von Gott. Funktion und narrative Entfaltung des Religiösen in Wolframs ›Parzival‹ (Trends in Medieval Philology 23), Berlin, New York 2011, S. 200–201. 34   Dies gilt ebenso für andere wissenschaftliche zeitgenössische Theorien. Louise Gnädinger verweist beispielsweise bei der besonderen Wirkung des Sakraments auch auf das in der Taufzeremonie verwendete Wasser. Einer Schwächung an Sehkraft liege gemäß der zeitgenössischen Naturkunde ein Wassermangel im Auge zugrunde, der durch Wasserzugabe zu beheben sei. Vgl. Gnädinger (Anm. 30), S. 63–64. 29

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den Kyot-Szenen.35 Diese auf einer extradiegetischen Ebene angesiedelte Darstellung der Quellengeschichte des ›Parzival‹ reflektiert das eigene Erzählen und verankert es in einer unverrückbaren Tradition. Mit seiner Berufung auf den Provenzalen Kyot, der als Autorität für die Richtigkeit der Geschichte um den Gral angeführt wird,36 benennt der Erzähler jedoch nicht deren Urheber. Kyot, der meister wol bekant ze Dolet verworfen ligen vant in heidenscher schrifte dirre âventiure gestifte. der karakter a b c muoser hân gelernet ê, âne den list von nigromanzî. ez half, daz im der touf was bî: anders wære diz mære noch unvernumen.37

Kyot war demnach in Toledo auf heidnische Schriften gestoßen, die verworfen, d. h. verschmäht, waren. Nachdem er das heidnische Alphabet gelernt hatte, in dem sie aufgeschrieben waren, konnte er sie nicht nur lesen, sondern auch ihren Gehalt verstehen. Der Erzähler betont, dass Kyot ohne die Hinzunahme von nigromanzî, also Zauberei, vorgegangen sei; stattdessen habe ihm das Sakrament der Taufe geholfen, eine Dimension der Schriften zu entschlüsseln, die bisher verborgen war. dehein heidensch list moht gevrumen ze künden umbes Grâles art, wie man sîner tougen innen wart.38

Als Verfasser der arabischen Schrift nennt Kyot den Sternkundigen Flegetanis, der zu alttestamentarischen Zeiten lebte und Sohn einer Jüdin aus dem Geschlecht König Salomos und eines Heiden war.39 Dieser hatte den Namen sowie die Geschichte des Grals aus den Sternen gelesen und aufgeschrieben, was er gesehen hatte – ohne jedoch zu verstehen.40 Das unmittelbare bzw. äußere Sehen sowie das Konservieren des

35   Zu einem einführenden Überblick zum Kyotproblem vgl. Joachim Bumke, Wolfram von Eschenbach (Sammlung Metzler 36), 8. Aufl. Stuttgart, Weimar 2004, hier S. 244–247. 36   Vgl. 416,17–30; 431,2; 453,1–10; 776,10; 805,10–13. 37  453,11–19. 38  453,20–22. 39   Der Begriff Heide wird überaus undifferenziert benutzt. Flegetanis’ Vater wird als solcher bezeichnet, weil er ein Kalb anbetete, Feirefiz, dem eine polytheistische Religion unterstellt wird, wird ebenso tituliert, obwohl er eigentlich Moslem ist. Vgl. 454,1–8. 40   Zum Verstehen und der Entkoppelung von Schriftstück und Textsinn vgl. Peter Strohschneider, Sternenschrift. Textkonzepte höfischen Erzählens, in: Wolfram-Studien 19 (2006), S. 33–58, hier S. 47– 56.

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Gesehenen sind Flegetanis mithin möglich;41 ihm fehlt jedoch die Fähigkeit zu geistiger Erkenntnis, einem Sehen also, das sich nach zeitgenössischen Wahrnehmungstheorien im Inneren des Menschen vollzieht und nur mit göttlicher Hilfe erreicht werden kann. Diese göttliche Hilfe aber ist an das Sakrament der Taufe gebunden, d. h., nur die christliche Religion, welche dem Heidentum mit seinen Zaubereien als klar überlegen dargestellt wird, kann Erkenntnis gewähren. Den Heiden kommt in der Quellenerzählung demnach lediglich eine dienende Funktion zu, da sie die Gralsgeschichte, welche den Sternen und somit Gottes Schöpfung eingeschrieben war, bewahren. Diese Art der Quellenberufung ist erzähltechnisch ein geschickter Schachzug, denn durch den unterstellten göttlichen Ursprung wird die Gralsgeschichte unabhängig von ihrer sprachlichen Gestalt inhaltlich unangreifbar.42 Ebenso enthebt sich der Erzähler, Wolfram von Eschenbach, welcher nach der göttlichen Sternenschrift, Flegetanis und Kyot das letzte Glied in der Überlieferungskette bildet, sowohl auf intraals auch extradiegetischer Ebene jeder Kritik;43 zugleich zeigt sich aber auch, dass hier mit Fiktionalität, Wirklichkeit und Wahrheit erzählerisch taktiert wird.44 Anhand der Quellengeschichte wird darüber hinaus deutlich, dass ein- und derselbe Stoff unterschiedlich aufgenommen und verstanden werden kann, ein Text dem Rezipienten letztlich durch die Wahrnehmung eines jeden Erzählers geformt entgegentritt. Der Erzähler erklärt sich […] zum ›Herrn der Wahrnehmung‹ […] in seiner epischen Welt. […] [S]ein Gestaltungswille [greift] ständig aus und über auf die Teilnehmer am Erzählgeschehen, auf uns also, die Leser und die Hörer dieser Geschichten.45

Dieser im Text explizit gemachte Vorgang lenkt die Untersuchung des Wahrnehmungsprozesses von der intra- und extradiegetischen Ebene auf eine dritte, auf der

 Michael Stolz, »A thing called the Grail«: Oriental spolia in Wolfram‹s Parzival and its Manuscript Tradition, in: Lieselotte E. Saurma-Jeltsch u. Anja Eisenbeiss (Hgg.), The Power of Things and the Flow of Cultural Transformations. Art and Culture between Europe and Asia, München 2010, S. 188– 216. 42  Zum erweiternden, vervollkommnenden Weitererzählen der Gralsgeschichte vgl. Ulrike Draesner, Wege durch erzählte Welten. Intertextuelle Verweise als Mittel der Bedeutungskonstitution in Wolframs ›Parzival‹ (Mikrokosmos. Beiträge zur Literaturwissenschaft und Bedeutungsforschung 36), Frankfurt a. M. 1993, S. 393–395. 43   Vgl. 827,12–14. 44   Vgl. Cornelia Schu, Vom erzählten Abenteuer zum Abenteuer des Erzählens. Überlegungen zur Romanhaftigkeit von Wolframs ›Parzival‹ (Kultur, Wissenschaft, Literatur 2), Frankfurt a. M. 2002, S. 141. 45  Helmut Brall-Tuchel, Wahrnehmung im Affekt: Zur Bildersprache des Schreckens in Wolframs ›Parzival‹, in: John Greenfield (Hg.), Wahrnehmung im Parzival Wolframs von Eschenbach. Actas do Colóquio Internacional 15 e 16 de Novembro de 2002 (Anexo XI da Revista da Faculdade de Letras do Porto – Línguas e Literaturas Modernas), Porto 2004, S. 67–104, hier S. 68. 41

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sich der Rezipient mit dem erzählten Geschehen auseinandersetzt. Dabei wird davon ausgegangen, dass sich auch hier ein Wahrnehmungsprozess vollzieht. [S]prachlich erzeugte Wahrnehmung [wendet sich] an unsere Einbildungskraft und unser [sic!] Phantasie, eventuell an unsere Affekte, [und so] verfügt die Beschreibung […] durchaus über Mittel, ihren Gegenstand über die elementare Typisierung hinaus auf besondere Weise zu visualisieren.46

Im Folgenden soll nicht auf die modernen Rezipienten eingegangen werden, die sich mit der Darstellung von interreligiösen Kontakten zwischen Islam und Christentum in Wolframs ›Parzival‹ befassen, sondern vielmehr auf das mittelalterliche Publikum. Als Spiegel dieser Rezeption ziehe ich die handschriftliche Überlieferung heran, die mit 16 nahezu vollständigen Handschriften, einem Frühdruck und 71 Fragmenten recht breit ist.47 Das Heidenbild, welches im Text entworfen wird, ist keinesfalls negativ. Erst durch Flegetanis’ Fähigkeiten konnte die Gralsgeschichte überhaupt in menschliche Sprache gebannt werden und in verschriftlichter Form nach Toledo gelangen, wo sich Ende des 12. Jahrhunderts tatsächlich die berühmte Übersetzerschule etabliert hatte, in der Christen, Muslime und Juden in Kooperation Wissenstexte aus dem Arabischen ins Altspanische oder Lateinische übertrugen.48 Die Tatsache, dass dieses Wissen oder antike Erbe ohne »Zauberei« verwendet und durch wahres, von der Taufe ermöglichtes Erkennen sogar noch aufgewertet werden kann, drückt einerseits zwar eine Überlegenheit des Christentums, andererseits aber auch eine Wertschätzung des heidnischen Wissens aus. Die Überlieferungsvarianz, die die Bewertung des Heiden Flegetanis in diesem Passus des ›Parzival‹ betrifft (453–455,1), ist nicht nennenswert; allen Handschriften gemein ist die Anerkennung von Flegetanis’ intellektueller Leistung, aber zugleich die Verspottung seiner Religion:

46  Elisabeth Schmid, weindiu ougen hânt süezen munt (272,12). Literarische Konstruktion von Wahrnehmung im Parzival, in: John Greenfield (Hg.), Wahrnehmung im Parzival Wolframs von Eschenbach. Actas do Colóquio Internacional 15 e 16 de Novembro de 2002 (Anexo XI da Revista da Faculdade de Letras do Porto – Línguas e Literaturas Modernas), Porto 2004, S. 229–242, hier S. 229. 47   Zur handschriftlichen Überlieferung vgl. die Homepage des Parzival-Projekts Bern: http://www. parzival.unibe.ch/hsverz.html (Abrufdatum: 27.4.2011). 48   Insofern scheint hier der Weg beschrieben, auf dem Gelehrtenwissen zumeist nach Europa gelangte. Vgl. Heinrich Schipperges, Die Schulen von Toledo in ihrer Bedeutung für die abendländische Wissenschaft, in: Sitzungsberichte der Gesellschaft zur Beförderung der gesamten Naturwissenschaften zu Marburg 82/3 (1960), S. 3–18.

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Er was ein heiden vaterhalp, Flegetanis, der an ein kalp bette, als ob ez wære sîn got. wie mac der tievel solhen spot gevüegen an sô wîser diet, daz si niht scheidet ode schiet dâ von, der treit die hôhsten hant unt dem elliu wunder sint bekant?49

Anders verhält es sich bei der Beschreibung der heidnischen Götter in Feirefiz’ Taufszene. Jupitern, dînen got, muostu durch si verliesen,50 fordert Anfortas, um jenem die Bedingungen für seine Heirat mit Repanse zu erklären. Die aus dem zweiten Viertel des 13. Jahrhunderts stammende Handschrift I (München, BSB, Cgm 61, 128ra) lässt ihn jedoch geradezu drastisch unhöflich artikulieren: Juppitern dinen drech Got můstustu durc si verliesen. Offensichtlich bricht sich hier das Bedürfnis Bahn, die aus christlicher Sicht »falschen« Götzen deutlich abzuwerten. Dies zeigt sich ebenso an einer zweiten Stelle der Handschrift in 812,28 auf 127va, wo Jupiter von dem an Minnequalen leidenden Feirefiz selbst als min beshizner Got tituliert wird.51 Eine subtilere Abwertung oder vielleicht nur ein spezielles Verständnis der muslimischen Religion lässt sich in Handschrift G (München, BSB, Cgm 19, 69va) belegen: Feirefiz bezeichnet Jupiter als seinen minnen got, seinen Liebesgott also, wodurch das weit verbreitete zeitgenössische Klischee vom liebestollen Muslimen angesprochen wird, welches durchaus mit der Figur des Feirefiz in seiner Rolle als Minneritter vereinbar scheint.52 Ein weiterer Reflex der Auseinandersetzung mit der islamischen Religion zeigt sich anhand der Figur Feirefiz selbst, die gerade vor dem zeitgenössischen Hintergrund der Kreuzzugserfahrungen53 und des daraus resultierenden negativen Islambil-

 454,1–8.  815,6–7. 51   Beide Stellen führt bereits Gesa Bonath an, die darin die zur von ihr als ›kulturlos‹ charakterisierten Handschrift I passende Haltung des Schreibers gespiegelt findet. Vgl. Gesa Bonath, Untersuchungen zur Überlieferung des Parzival Wolframs von Eschenbach (Germanische Studien 239), Bd. 2, Lübeck, Hamburg 1971, S. 264–265. 52  Vgl. Michael Stolz, Kulturelle Varianzen. Religiöse Konfrontationen im Spiegel der ParzivalÜberlieferung, in: Jean-Marie Valentin unter Mitarbeit von Laure Gauthier (Hgg.), Akten des XI. Internationalen Germanistenkongresses Paris 2005 »Germanistik im Konflikt der Kulturen«, Bd. 5: Kulturwissenschaft vs. Philologie? – Wissenskulturen: Kontraste, Konflikte, Synergien – Editionsphilologie: Projekte, Tendenzen und Konflikte, Bern u. a. 2007, S. 153–158, hier S. 157. 53  Paul Kunitzsch kann diverse Quellen nachweisen, aus denen Wolfram sein Wissen über aktuelle Orientalia der Kreuzzugszeit bezogen hat. Vgl. Paul Kunitzsch, Die Arabica im ›Parzival‹ Wolframs von Eschenbach, in: Wolfram-Studien 2 (1974), S. 9–35, hier S. 12–22. 49

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des als zu positiv gestaltet erscheinen mag.54 Dabei offenbart sich ein Konflikt zwischen dem Handeln der Figur und ihrer Rolle in der Struktur des Handlungsgeschehens, das letztlich nur der Dichter kontrolliert. Walter Haug hat diese Problematik am Beispiel des Protagonisten Parzival erläutert. Parzival versucht alles, was er gelernt hat, richtig zu machen, dennoch muss er scheitern, um sich der »Führung des Geschehens durch das Strukturschema«55 unterzuordnen. »Der geniale Gedanke Wolframs bestand darin, diese Unverfügbarkeit über das Strukturschema darzustellen, das zwar dem Dichter zur Verfügung steht, das dem Helden aber unverständlich bleibt und an dem sein Bewußtsein sich deshalb abquälen muss.«56 Ähnlich, aber dennoch anders als bei Parzival verhält es sich bei Feirefiz’ Fall; hier ist das Problem auf die Seite des Rezipienten verlagert. Während Feirefiz keine Schwierigkeiten hat, sich in das vom Erzähler inszenierte Schema zu fügen, wird der Rezipient geradezu dazu aufgefordert, sich mit einer Bewertung der als Hybride konstruierten Figur und ihrer Rolle in der Handlungsführung auseinanderzusetzen. Das grundsätzlich positive Heidenbild, die zwar unterlegene, aber keinesfalls negative Darstellung der heidnischen Götter und der aus reinem Opportunismus konvertierte Feirefiz, der zum Missionar Indiens, Mann der Gralsträgerin und schließlich Vater des sagenhaften Priesterkönigs Johannes wird – all dies lässt im Zweifel darüber, ob Feirefiz wirklich zum Höherwertigen getauft wird oder ob er nicht durch sein Auftreten letztlich christliche Werte unterläuft bzw. infrage stellt.57 Die relativ späte Handschrift Q (Karlsruhe, Badische Landesbibliothek Codex Donaueschingen 70) gibt Zeugnis von der Diskussion dieser Frage auf der Rezeptionsebene. Während die Taufszene in allen Handschriften sinngemäß mit den Worten Man begunde sîn kristenlîche pflegen und sprach ob im den toufes segen58 beschrieben wird, ist dort auf 334a abweichend zu lesen: Man begunde sich cristlichen pflegen. Man sprach ob ym des teufels segen. Demzufolge steht hier nicht Feirefiz’ Taufe im Mittelpunkt, sondern eine Vorsichtsmaßnahme der Gralsgesellschaft für sich selbst. Sie sprechen einen Segen, um den Teufel zu bannen und sich selbst zu schützen, bevor sie einen nicht im Herzen bekehrten Heiden taufen. Die exemplarisch vorgestellten Abweichungen einzelner Handschriften des ›Parzival‹ zeugen von einer regen Auseinandersetzung mit den im Text behandelten interreligiösen Kontakten und dem daraus resultierenden Konfliktpotenzial, sie dokumentie Vgl. Stolz (Anm. 52), S. 153–158.   Vgl. Walter Haug, Warum versteht Parzival nicht, was er hört und sieht?, in: John Greenfield (Hg.), Wahrnehmung im Parzival Wolframs von Eschenbach. Actas do Colóquio Internacional 15 e 16 de Novembro de 2002 (Anexo XI da Revista da Faculdade de Letras do Porto – Línguas e Literaturas Modernas), Porto 2004, S. 37–65, hier S. 64. 56  Ebd. 57   Zur Fragwürdigkeit von Feirefiz’ Taufe vgl. Brunner (Anm. 29), S. 378; Kellner (Anm. 6), S. 37. 58  818,13–14. 54 55

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ren einen Wahrnehmungsprozess der zeitgenössischen Rezipienten, der in die Überlieferungsgeschichte eingeschrieben ist und letztlich nur über die philologisch genau wiederzugebenden Einzelzeugnisse greifbar wird.

Got vor dînen ougen – die »heidnische« Wahrnehmung heiliger Manifestationen Robert Mohr This article studies two narrative representations of manifestations of the sacred within the framework of Christian missionary work amongst the pagans. The two quasi-hagiographical texts in question, Hugo von Langenstein’s ‘Martina’ and Schondoch’s ‘Litauer’, were in all probability produced for the Teutonic Order in the 13th and 14th centuries respectively. They have been transmitted exclusively in Codex B VIII 27 of Basle University Library. The paper’s focus is on the different narrative strategies the texts employ in order to represent transcendent realities. Both texts do this by telling stories in which pagans are either confronted with an incomprehensible alterity or else respond to an immediate transcendent experience. In both texts the pagan protagonists prove incapable of correctly interpreting their transcendent experiences. But they react differently in the different stories. Whereas in ‘Martina’ the Romans deny their experience and are punished for their lack of faith, the Lithuanians in ‘Litauer’ eventually show themselves capable of adjusting to Christian modes of experience and become integrated into Christian society.

In der Manifestation heiliger Realitäten – Mircea Eliade spricht in seiner Einführung in die phänomenologische Untersuchung der Religion von Hierophanien1 – erhält der Mensch dadurch einen Einblick in das Heilige, dass es sich grundsätzlich vom Profanen unterscheidet. Die Hierophanie vollzieht sich aber in den Gegenständen der profanen Welt, woraus ein Paradoxon entsteht: Jeder Gegenstand, in dem sich das Heilige offenbart, wird zu etwas Anderem und bleibt doch er selbst. Obwohl durch die Hierophanie eine unmittelbare Wirkung auf die Sinne des menschlichen Körpers ausgelöst oder intensiviert werden kann, ist sie kein zeitlich überdauerndes Motiv, sondern muss als temporäres unmittelbares Schauen von der zeitlich unbegrenzten Omnipräsenz Gottes in der irdischen Sphäre unterschieden werden.2   Vgl. Mircea Eliade, Das Heilige und das Profane. Vom Wesen des Religiösen, Frankfurt a. M. 1984, S. 14. 2   Vgl. grundlegend Hans Ulrich Gumbrecht, Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von Präsenz, Frankfurt a. M. 2004; ders., Präsenz-Spuren. Über Gebärden in der Mythographie und die Zeitresistenz des Mythos, in: Udo Friedrich u. Bruno Quast (Hgg.), Präsenz des Mythos. Konfigurationen einer Denkform in Mittelalter und Früher Neuzeit, Berlin 2004, S. 1–15; Christian Kiening, Gegenwärtigkeit. Historische Semantik und mittelalterliche Literatur, in: Scientia Poetica. Jahrbuch für Geschichte der Literatur und der Wissenschaften 10 (2006), S. 19–46 und Thomas Lentes, Auf der Suche nach dem 1

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Für die christlichen Protagonisten legendärer und legendenartiger Literaturen stellt das Paradoxon irdischer Hierophanie auf Grund christlicher Wahrnehmungsmuster bezüglich der substanzlosen Omnipräsenz Gottes und bezüglich der Möglichkeit einer göttlichen Realpräsenz durch Materialkonversion weitgehend keine Barriere in ihrer Wahrnehmung und Deutung dar.3 Ganz anders verhält es sich bei den heidnischen Protagonisten: Ihre Vorstellungswelt ist ohne die Kenntnis christlicher Wahrnehmungsmuster und auf Grund ihrer sündhaften Lebensweise so begrenzt, dass ihr Verstand an einer Deutung transzendenter Wahrnehmungen scheitern muss. Im Folgenden werden an Hand zweier exemplarischer Texte zwei unterschiedliche narrative Verfahren angesprochen, mit denen Hierophanien in der Literatur beschrieben werden können – dies aus der alteritären Wahrnehmung der heidnischen Protagonisten heraus bzw. mit Hilfe einer Beschreibung der Reaktion heidnischer Protagonisten. Dabei stehen zwei im Kontext des Deutschen Ordens entstandene legendenartige Texte im Fokus, die zusammen in einer Handschrift der Universitätsbibliothek Basel unikal überliefert werden: die ›Martina‹ Hugos von Langenstein (1293) und der ›Litauer‹ Schondochs (Ende des 14. Jahrhunderts). Exemplarisch werden den Rezipienten – so die abschließende These – zwei literarische Lösungsmöglichkeiten dieses Scheiterns präsentiert: Entweder werden die heidnischen Protagonisten in die christliche Gemeinschaft integriert und durch eine explizit transzendente Belehrung (so die kaiserlichen Folterknechte in der ›Martina‹) bzw. durch die Taufe (so die beiden heidnischen Heerführer im ›Litauer‹) in die christlichen Wahrnehmungsmuster der göttlichen Hierophanie eingeweiht oder sie negieren ihre eigenen Wahrnehmungen transzendenter Präsenz bis zuletzt und werden zum Opfer ihres Unglaubens (so Kaiser Alexander und sein Ratgeber Limenius in der ›Martina‹). Obwohl über die Autoren der beiden exemplarisch herangezogenen Texte nur wenig bekannt ist, lassen sie sich jeweils im Kontext des Deutschen Ordens verorten.4 Ort des Gedächtnisses. Thesen zur Umwertung der symbolischen Formen in Abendmahlslehre, Bildtheorie und Bildandacht des 14.–16. Jahrhunderts, in: Klaus Krüger u. Alessandro Nova (Hgg.), Imagination und Wirklichkeit. Zum Verhältnis von mentalen und realen Bildern in der Kunst der frühen Neuzeit, Mainz 2000, S. 21–46. 3   Vgl. grundlegend Hartmut Bleumer u. Steffen Patzold, Wahrnehmungs- und Deutungsmuster in der Kultur des europäischen Mittelalters, in: Das Mittelalter 8/2 (2003), S. 4–22; Beate Kellner, Wahrnehmung und Deutung des Heidnischen in Wolframs von Eschenbach ›Parzival‹, in: Ludger Grenzmann, Thomas Haye, Nikolaus Henkel u. a. (Hgg.), Wechselseitige Wahrnehmung der Religionen im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit. I. Konzeptionelle Grundfragen und Fallstudien (Heiden, Barbaren, Juden), Berlin, New York 2009, S. 23–25. 4   Vgl. Robert Mohr, Die deutschsprachigen Fassungen der ›Martina-Legende‹. Eine Untersuchung zur institutionsspezifischen und institutionsübergreifenden Rezeption von Legenden, in: Zeitschrift für Deutsche Philologie 131 (2012), S. 343–366. Manfred Caliebe, Schondochs rede von der Bekehrung des Litauers, in: Friedhelm Debus u. Joachim Hartig (Hgg.), Festschrift für Gerhard Cordes zum 65. Geburtstag, Bd. 1, Neumünster 1973, S. 23–26, hier S. 28f.

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Eine jeweils unikale Abschrift bietet der Codex B VIII 27 der Universitätsbibliothek Basel,5 der nach den paläografischen Untersuchungen Karin Schneiders6 vermutlich zu Beginn des vierzehnten Jahrhunderts im Umkreis des Zürcher Fraumünsters angefertigt wurde – zunächst aber ohne den ›Litauer‹. Den in einem Kolophon genannten Hauptschreiber Konrad von St. Gallen7 erkennt Schneider als den Schreiber einer St. Galler Prachthandschrift der ›Weltchronik‹ Rudolfs von Ems und weist ihn unter Vorbehalt als einen urkundlich zwischen 1298 und 1318 als Kaplan und Chorherr der Benediktinerinnenabtei am Fraumünster Zürich belegten Weltgeistlichen nach.8 Eine Fertigung der Basler Handschrift für den Deutschen Orden macht indes die spätere Hinzufügung des ebenfalls im Ordenskontext entstandenen ›Litauer‹ Schondochs wahrscheinlich:9 auf die vom Hauptschreiber an die ›Martina‹ angeschlossene anonyme ›Mainauer Naturlehre‹ folgt dieser in einer von einem späteren Schreiber stammenden Abschrift auf den zunächst unbeschrieben belassenen Blättern 304v bis 307r.

I. In der über 32.000 Verse umfassenden Märtyrerlegende ›Martina‹ des Deutschordenspriesters Hugo von Langenstein bilden die Gebete der tugendhaften Christin Martina den Ausgangspunkt für eine jegliche konkrete Manifestation des Göttlichen in der irdischen Sphäre. Dabei bleibt es nicht bei einem einseitigen Kommunikationsakt, sondern im Gebet offenbart sich ein bilateraler Kontakt zwischen dem Irdischen und dem Göttlichen, der auch über das augustinische Diktum einer göttlichen Antwort im gelesenen Wort hinausgeht. Eine solche bilaterale Kommunikation bleibt zunächst aus5   Vgl. Max Burckhardt u. Gustav Meyer, Die mittelalterlichen Handschriften der Universitätsbibliothek Basel. Abteilung B: Theologische Pergamenthandschriften, Bd. 2, Basel 1966, S. 63–67. Eine ausführliche Beschreibung der Handschrift bietet auch bereits Paul Dold, Untersuchungen zur Martina ›Hugos von Langenstein‹, Mülhausen im Elsass 1912, S. 12–26. 6   Vgl. Karin Schneider, Codicologischer und paläographischer Aspekt des Ms. 302 Vad, in: Ellen Judith Beer u. a., Rudolf von Ems, Weltchronik. Der Stricker, Karl der Große. Kommentar zu Ms. 302 Vad, Luzern 1987, S. 19–42. 7   Vgl. Hugo von Langenstein, Martina, hrsg. von Adelbert von Keller, Stuttgart 1856, Verse 292, 89–90. 8   Damit setzt sich Schneider von der älteren Forschung ab, in der die Handschrift bislang um 1350 datiert wurde; vgl. Martina Horn, Die deutschsprachige Legende von der Mitte des 13. Jahrhunderts bis zur Reformation, Greifswald 1986, S. 113; Georg Steer, Hugo von Langenstein, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, Bd. 4 (1983), Sp. 235 und Jutta Meindl-Weiss, Eine vergessene Heilige. Studien zur ›Martina‹ Hugos von Langenstein (Europäische Hochschulschriften. Deutsche Sprache und Literatur I, 1844), Frankfurt am Main 2002, S. 30. 9   Vgl. Nigel F. Palmer u. Hans-Jochen Schiewer, Literarische Topographie des deutschsprachigen Südwestens im 14. Jahrhundert, in: Zeitschrift für Deutsche Philologie 122 (2003), Sonderheft, S. 178– 202, hier S. 195.

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schließlich den christlichen Protagonisten vorbehalten. Indem er aber auf die Gebete der Christen antwortet, manifestiert sich Gott auch den heidnischen Protagonisten in verschiedener Weise: in Visionen, in Auditionen und in körperlich wahrnehmbarer Konkretion.10 Dabei lässt sich ein impliziter und teils auch expliziter Kausalzusammenhang zwischen den christlichen Bittgebeten und der göttlichen Reaktion konstatieren – die heidnische Wahrnehmung göttlicher Präsenz und Repräsentation basiert in der ›Martina‹ folglich auf verbaler Kommunikation der Christen. Dargestellt werden die Hierophanien aber durch eine unmittelbare Beschreibung des Wahrnehmbaren sowie durch die verbale und nonverbale Reaktion der christlichen und der heidnischen Protagonisten. Eine erste Form der heiligen Manifestation, die visuelle Präsenz des Göttlichen, verfolgt in der ›Martina‹ unterschiedliche Zielsetzungen: Visionen dienen der geistlichen Speisung der christlichen Protagonisten, ihrer Tröstung und Belohnung, der bloßen Manifestation des Göttlichen in der irdischen Sphäre sowie der prämortalen Erhöhung der Märtyrerin Martina. Besonders letztere richtet sich nicht allein an die christlichen Protagonisten, sondern gerade auch an ihre heidnischen Widersacher. Dies etwa, als Martina nach ihrer fünften Marter in den Kerker des römischen Kaisers Alexander eingesperrt und dort von dessen Ratgeber Limenius und seinen Gefolgsleuten aufgesucht wird. Obwohl die Märtyrerin auf Befehl Alexanders mit übelriechendem Unschlitt, Harz und Speck eingestrichen worden ist, um den Glanz ihres Körpers zu verdecken,11 wird Limenius von einem wundersam süßen Duft empfangen.12 Dass die Heiden sich diesen Duft nicht zu erklären vermögen, begründet Hugo von Langenstein mit ihrer Sündhaftigkeit und der fehlenden Taufe: Der smack was in vnkvndic Wan siv waren sündic Und leider vngetovfet Lip vnd sel verkovfet Dem tievil vngehiure13

Als Limenius dann den Kerker aufschließt, blickt er furchterfüllt in ein übernatürliches Licht, das die auf einem göttlichen Thron sitzende und von einem göttlichen Heer umgebene Martina umstrahlt:

  Vgl. ausführlich Robert Mohr, Präsenz und Macht. Eine Untersuchung zur ›Martina‹ Hugos von Langenstein (Kultur, Wissenschaft, Literatur. Beiträge zur Mittelalterforschung 23), Frankfurt am Main 2010, S. 31–109. 11   Vgl. Hugo von Langenstein, Martina (Anm. 7), Verse 137, 60–138, 6 und Verse 140, 29–45. 12   Vgl. ebd., Verse 140, 64–67. 13   Zitat: ebd., Verse 141, 107–111. 10

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Do sach er wa so groz Lieht alda erglaste Den kerker also vaste Daz er sere do erschrack Den glast er vil hohe wac [...] Der vil arme tumbe govch Uil vnkrefteclichen crovch Vnde sach alda die maget Uon der ich han gesaget Martinam mit witzen So gar schone sitzen Mit selden herlichen Vf einem stuole richen Keiserlichen wol geworht Mit grozen frovden vnervorht Umbe si mit gotis wer Von mannen ein michel her14

Die Vision wird kollektiv von allen Anwesenden wahrgenommen und niemand vermag sich der Erhöhung Martinas durch das gewaltige Licht zu entziehen, das sich unmittelbar hemmend auf die Körper ihrer Feinde auswirkt. Limenius vermag seinen Körper vor Schreck und Furcht nicht mehr zu kontrollieren, fällt – ein implizites, der Proskynese ähnliches Zeichen der Erniedrigung und Unterwerfung – vor Martina auf den Boden und kann sich nur noch kriechend fortbewegen: Der glanz in also ergreif Daz im sin craft gar entsleif Uon der grozen vorhte gar Wart er bleich vnd missevar Und viel von vorhten nider Vngewaltic siner lider Vf den estrich blozin15

Temporär wird Limenius angesichts der göttlichen Präsenz seiner elementarsten physischen Macht beraubt und symbolisiert als Vertreter des heidnischen Kaisertums so den eintretenden Machtverlust der irdischen potestas. Das Heilige manifestiert sich gerade auch den Heiden und demonstriert ihnen nachdrücklich seine Verbundenheit mit der Christin Martina. Dies geschieht im weiteren Verlauf der Legendenhandlung auch verbal, in zahlreichen göttlichen Auditionen. Besonders eindrücklich wird deren imperativer Charakter in den beiden zentralen auditiven Manifestationen am Ende der Legendenhand14

  Ebd., Verse 142, 32–80; vgl. weiter Verse 142, 81–144, 15, Verse 145, 38–42 und Verse 146, 45–

52. 15

  Ebd., Verse 142, 51–57; vgl. Verse 144, 5–19.

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lung, beim Tod der beiden Hauptprotagonisten Martina und Alexander. So wie die christliche Hauptprotagonistin bei der Erfüllung ihres Martyriums durch eine göttliche Stimme zur Auffahrt in das himmlische Paradies geladen wird,16 so wird auch dem Heiden Alexander bei seinem Tod von einer himmlischen Stimme der Eintritt in die Hölle befohlen, nachdem er mit seiner grausamen Selbstmarterung bereits eine Vorstufe der Hölle durchlaufen hat:17 Uon himel kam ein stimme Div im alleine grimme Vnd och vorhteclichen hal Div kvnte siner froden val Uar hin alexander keiser Verfluochter helle reiser In der helle eitoven In dez herzen fiures schroven In die steten vinster dicke Und die eweclichen stricke Zvo den dv iemer bist geborn Din svndic lebin hie erkorn18

An dieser Stelle ist der direkt angesprochene Heide Alexander der alleinige Adressat der heiligen Manifestation: im alleine19 ertönt die in Abkehr von der lieblichen Stimme, mit der Martina ins Paradies eingeladen worden war, als grob und Furcht erregend hallend beschriebene Stimme. Anders als in den göttlichen Visionen und Auditionen wird das Transzendente in den zahlreichen Wundern nicht direkt präsent. Dennoch bezeichnet Hugo von Langenstein die Wunder auch explizit als von Gott bewirkt20 und kennzeichnet sie damit als zeichenhaften Beweis der göttlichen Macht, als einen Akt der göttlichen Repräsentation. Nachdem Martina durch eine überirdische Stimme in den Himmel geladen worden ist, erleiden – mit Ausnahme Kaiser Alexanders – alle diejenigen Heiden, die zuvor Schuld auf sich geladen haben, einen plötzlichen Tod und gelangen direkt in die Hölle. Ihre Schuld besteht zum einen darin, dass sie sich als Heiden Gott entzogen haben, zum anderen in der Marterung und Enthauptung Martinas: Da geschah da sunderlich Ein zeichen harte wunderlich Da mitte gotte erzeigte Wie ir tot die alle veigte   Vgl. ebd., Verse 228, 95–229, 20.   Vgl. ebd., Verse 230, 25–29. 18   Ebd., Verse 230, 91–102. 19   Zitat: ebd., Vers 230, 92. 20   Vgl. ebd., Verse 228, 95–97. 16 17

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Die dar an hatten schulde Daz den gottes hulde Wart mit rehte verseit Dvr zweiger hande schulde breit Div eine siv waren heiden Mit reht von got gescheiden Div ander der megde tot Den ir swert ir libe bot [...] siv vielin tot nider Unde lobten doch sider Mit dem lebinden tode In dem grundelosen helle sode21

Kaiser Alexander erhält indessen, nach der Beerdigung Martinas in Rom,22 seine eigene Strafe. Von Gott selbst, dem rehten rihtere,23 wird er dem Wahnsinn anheim gegeben und isst genüsslich seinen eigenen Körper auf. Auf diese Weise durchläuft er eine Vorstufe der Hölle, bevor er dann in die eigentliche Hölle gelangt: Mit vnsinne gar besezzin Begunde der veige ezzin Sin selbis fleisch mit geluste In vil tobender akvste Svz lac der hunt wuotende Unsinnic vnd bluotende Vnd az da sich selbe […] Diz was ein vor gewerbe E daz er in sin erbe Der rehten helle keme Und da nach schulden neme Sinen eweclichen steten lon24

Als Alexander dann explizit von einer himmlischen Stimme aufgefordert wird, in die Hölle zu gehen, erfolgen starke Erdbeben, durch die das erschrockene Volk die Falschheit des heidnischen Glaubens erkennt und sich zur Bekehrung entschließt.25 Auch diese Erdbeben werden explizit als wunder bezeichnet,26 sind also nicht natürlichen Ursprungs, sondern repräsentieren das Göttliche im Irdischen als signum sanctitatis.

  Ebd., Verse 229, 27–46.   Vgl. ebd., Verse 229, 83–96. 23   Ebd., Vers 229, 107. 24   Ebd., Verse 230, 3–29; vgl. auch Verse 230, 95–102 und Verse 231, 22–46. 25   Vgl. ebd., Verse 230, 103–231, 11. 26   Vgl. ebd., Vers 230, 106. 21 22

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Dennoch können viele Heiden – und besonders Kaiser Alexander selbst – die göttlichen Manifestationen nicht deuten, da ihre Sündhaftigkeit jegliche Teilhabe an christlichen Wahrnehmungsmustern verhindert: Noh konde sich der keisir niht Verstan von sinnen der geschiht Nv prüefen disiv zeichin Und rehten sin erreichin Er was gesihteclichen blint Als die verworhten alle sint27

Stattdessen bezichtigen sie vor allem Martina, teils aber auch alle Christen, der Zauberei: Wa ist div uvnrehte Div valsche niht div slehte Div vnvertige cristen Div mit ir zovbir listen Uns wenet hie gehœnen Vnd sich selbin kronen Si wolt vns vber winden Machen vns zekinden An der rehten warheit Dest war daz were mir leit Daz vns div hexse ertorte Und vnsir e zerstorte Mit zovberlichen tucken Vns von sinen zvcken Bringen ze vngelinpfe Zespote vnd zeschinpfe Si wolt vns vbir schalken Mit zobir craft erwalken Vnd machen vns ze affen28

Unbeirrt negieren sie die Macht und Güte Gottes29 und halten ihre eigenen Götter für omnipotent und für die Schöpfer der Erde. Analog zu Martina begründet Alexander seine Forderung den heidnischen Göttern zu opfern wiederholt mit deren Macht über alles Leben:   Ebd., Verse 13, 96–101; vgl. Verse 14, 36–43, Verse 111, 47–51, Verse 114, 85–90, Verse 161, 22– 26, Verse 186, 90–94 und Verse 223, 109–112. 28   Ebd., Verse 90, 67–85; vgl. Verse 7, 35–37, Verse 78, 44–49, Verse 83, 75–86, Verse 90, 92–94, Verse 106, 29–40, Verse 108, 2–3, Verse 114, 15–36, Verse 144, 32–52, Verse 161, 86–87, Verse 161, 102–103, Verse 162, 10–12, Verse 162, 63–70, Verse 162, 79–81, Verse 163, 69–73, Verse 173, 42–56, Verse 177, 104–105, Verse 218, 7–15, Verse 218, 83–101 und Verse 219, 45–60. 29   Vgl. ebd., Verse 138, 85–92. 27

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[...] bringe din opfir drate Den helfe richen gotten Vor disen werden rotten Und erkenne ir hohen gewalt So vollekomen so menicvalt30

Auch die Heiden im Gefolge Alexanders halten es ungeachtet der wundersamen Erhöhungen Martinas zunächst für besser, ihren Göttern zu opfern und sich ihres Beistandes zu vergewissern, als sich auf den christlichen Gott zu verlassen.31 Obwohl Martina jeglichen Zaubereivorwurf kategorisch abstreitet und auf die Allmacht Gottes verweist,32 bleiben Bekehrungen auf Grund der geschauten Wunder zunächst Ausnahmen.

II. Eine geradezu ideale Realisierung eines auch in der Deutschordenschronistik verbreiteten literarischen Schemas der Heidenmissionierung durch heilige Manifestationen bietet hingegen der auf den letzten Seiten der Basler Handschrift am Ende des 14. Jahrhunderts nachgetragene, lediglich 325 Verse umfassende ›Litauer‹ Schondochs. Darin vollziehen zwei mit dem Deutschen Orden verfeindete heidnische Heerführer auf Grund einer zweifachen visuellen Manifestation des Göttlichen eine Konversion zum Christentum und stellen sich nach ihrer Missionierung freiwillig unter die Fürsorge des Deutschen Ordens. Literarische Darstellungen ähnlicher Ereignisse finden sich auch im lateinischen ›Chronicon Terrae Prussiae‹ Peters von Dusburg und daran anschließend in der ›Kronike von Pruzinlant‹ des Nikolaus von Jeroschin.33 Im ›Litauer‹ Schondochs manifestiert sich das Transzendente den heidnischen Antagonisten des Deutschen Ordens sogar in einer sich wiederholenden Vision. Darin schaut zuerst ein heidnischer Gefolgsmann des mit großem Aufgebot gegen den Deutschen Orden ziehenden Litauerfürsten die in der Eucharistie der Deutschordensbrüder von Thorn präsent werdende omnipotente Trinität. Jene wird vom Autor zunächst allerdings nicht als Realpräsenz des Transzendenten bezeichnet, sondern aus der Sicht des schauenden Heiden beschrieben – dass in der Vision eine über die Transsubstantiation hinausgehende Materialidentität manifest wird, muss der Rezipient hier selbst erkennen:   Ebd., Verse 90, 106–110; vgl. Verse 91, 53–75, Verse 148, 29–34 und Verse 149, 87–98.   Vgl. ebd., Verse 144, 55–62. 32   Vgl. ebd., Verse 112, 78–83, Vers 113, 40, Verse 150, 70–74 und Verse 179, 46–50. 33   Vgl. Edith Feistner, Vom Kampf gegen das »Andere«. Pruzzen, Litauer und Mongolen in lateinischen und deutschen Texten des Mittelalters, in: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 132 (2003), S. 281–294, hier S. 285. 30 31

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diz sach der ungetoufte luof, wie der priester wandels frî einn starken man dâ brach in drî. ûz iedem teil ein rise wart, er het ein mûre wol zerzart. die schoup er alle in sînen munt. dar nâch sach er in kurzer stunt: die brüeder hin zuo giengen, gemeinlîch sie emphiengen den schepher von der priesters hant.34

Im Gegensatz zu den Rezipienten sind dem heidnischen Protagonisten die christlichen Wahrnehmungsmuster und speziell das Wesen der Eucharistie freilich nicht zugänglich – Diz waz dem heiden unerkant.35 –, so dass er die Vision nicht zu interpretieren in der Lage ist. Auch wenn der Autor ausgesprochen häufig darauf hinweist, dass die sich zum Angriff sammelnden Litauer, Russen und Tartaren ungetauft sind, ist die Erklärung für die Missdeutung des Geschauten hier nicht an den Taufritus selbst gebunden – der heidnische Ritter weiß es einfach nicht besser.36 Dementsprechend berichtet er dem Litauerfürsten seine eigene Wahrnehmung der Eucharistievision. Ein Ordensbruder habe in prächtigen Gewändern vor einem Tisch gestanden und gesungen. Er habe dann einen jungen starken Mann in drei Stücke gebrochen, aus denen jeweils ein Krieger erwachsen sei, und habe sie sich und allen anderen Brüdern in den Mund gelegt.37 Der Fürst beteuert, das nicht glauben zu können, bis er es selbst gesehen habe,38 leitet aus der Vision aber bereits eine Theorie für seine bisherigen militärischen Niederlagen gegen den Deutschen Orden ab: sobald einer seiner christlichen Feinde tödlich verwundet werde, entsteige aus ihm heraus ein anderer.39 Als der Fürst seinerseits heimlich eine Messe in Thorn besucht, wiederholt sich die Vision. Im Gegensatz zur ersten Vision spricht der Autor an dieser Stelle die Realpräsenz des Göttlichen aber auch explizit aus: waz im der ritter seit vor ê, dô sach er selber zeichen mê: die ungetouften figûre die sâhen menschlîche natûre, als Got sich dâ erougete   Der Litauer von Schondoch, hrsg. von Walther Hubatsch u. Udo Arnold (Scriptores rerum Prussicarum 6), Leipzig 1968, S. 50–60, Verse 76–85. 35   Ebd., Vers 86. 36   Vgl. ebd., Verse 67–71. 37   Vgl. ebd., Verse 103–123. 38   Vgl. ebd., Verse 142–143. 39   Vgl. ebd., Verse 129–141. 34

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und lîplich in erzougete gelîch alsam ein rise stark. […] des nâmen die ungetouften aht, wie Got zu menschen wart gemaht, die priester er sich niezen lie.40

Signifikant für die narrative Umsetzung der heiligen Manifestationen im ›Litauer‹ ist naturgemäß eine starke Betonung der visuellen Wahrnehmung gegenüber dem auditiven Bericht. Häufig verwendet der Autor daher Begriffe des Sehens, wie warnemen,41 sehen,42 luogen43 oder in schouwe nemen.44 Gott habe sich gekunt / hie vor dînen ougen.45 Im Gegensatz zur narrativen visuellen Realpräsenz steht aber ein Verbergen des Heiligen in der Realität, wie es auch der Transsubstantiationslehre inhärent ist. Dieses Problem realer Wahrnehmung im Kontext christlicher Wahrnehmungsmuster wird vom Autor in einem kurzen Einschub beklagt: vor inen er sich nicht enbark, als er sich birgt mir armem man, wan ich es wol verschuldet han.46

III. Obwohl den heidnischen Protagonisten in beiden Texten das Scheitern ihres Verstandes an einer Erklärung transzendenter Wahrnehmungen gemein ist, bieten die Texte ihren Rezipienten unterschiedliche literarische Lösungsmöglichkeiten. In der ›Martina‹ negiert der heidnische Antagonist Martinas, der römische Kaiser Alexander, seine Wahrnehmungen transzendenter Präsenz bis zuletzt und wird so zum Opfer seines eigenen Unglaubens. Bis hin zu seinem wundersamen Freitod wird seine irdische potestas sowohl durch die Realpräsenz des Göttlichen als auch durch Effekte göttlicher Repräsentation im Verlauf der Handlung immer weiter eingeschränkt: er verliert sein Reich, sämtlichen irdischen Einfluss und darüber hinaus auch jegliche Kontrolle über seinen eigenen Körper. Letztlich muss er einsehen, dass er sich der göttlichen Ordnung während seines irdischen Lebens permanent widersetzt hat und dass seine Bestrafung daher gerechtfertigt ist:

  Ebd., Verse 165–177.   Vgl. ebd., Vers 38. 42   Vgl. ebd., Verse 65, 74, 76, 82, 116, 143, 166, 168, 191, 219, 227, 288 und 297. 43   Vgl. ebd., Vers 110. 44   Vgl. ebd., Vers 181. 45   Ebd., Verse 204–205. 46   Ebd., Verse 172–174. 40 41

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Herre herre der cristen got Ich weiz daz ich din gebot Han vil gewaltecliche Vbir gangen vnd frevilliche [...] Nv hatte din gewaltic riz Vil ebin vnd vil slehte Gelonit mir nach rehte Als ich hie verschuldit han Dv hest reht mir getan47

Seine Verkennung der göttlichen Omnipotenz und seine Weigerung, sich trotz zahlreicher Hierophanien von seinen heidnischen Göttern loszusagen, werden ihm letztendlich zum Verhängnis. Ganz anders ergeht es acht kaiserlichen Folterknechten. Trotz der Qualen, die sie Martina während ihrer zweiten Marter zugefügt haben, werden sie durch eine göttliche Audition zum Christentum bekehrt und vom Heiligen Geist erfüllt. Durch das fürsorgende Gebet Martinas48 haben sie sich aus ihrem heidnischen Glauben befreien und Gottes Vergebung erlangen können: Dem alder welte sünde Offen ist vnd kvnde Der sante sines liehtis glast Dem an milte nie gebrast Dez div maget hate gebeten Daz wolt er niht vbir treten Da mitte wurden vmbe gebin Die der megde lebin Ane schulde wolden nemin49

Kaiser Alexander vermag durch diese Hierophanie aber wiederum nicht überzeugt zu werden und lässt die bekehrten Knechte foltern und enthaupten.50 Ihre spätere Auf­ erstehung als Märtyrer deutet Hugo von Langenstein durch einen anschließenden Exkurs über die allegorischen Eigenschaften des Phoenix an.51 Vor der Bestrafung Alexanders bleiben solche Bekehrungen auf Grund von Hierophanien aber die Ausnahme. Erst angesichts des grausamen Todes ihres Kaisers und einiger darauf folgender wundersamer Erdbeben verfällt das römische Volk in einen kollektiven Angstzustand und konvertiert zum Christentum.52   Hugo von Langenstein, Martina (Anm. 7), Verse 230, 47–72.   Vgl. ebd., Verse 75, 5–62. 49   Zitat: ebd., Verse 77, 9–17. 50   Vgl. ebd., Verse 82, 91–87, 35. 51   Vgl. ebd., Verse 87, 36–90, 30. 52   Vgl. ebd., Verse 230, 103–231, 5. 47 48

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Auch im ›Litauer‹ Schondochs haben die heidnischen Protagonisten keine Kenntnis von der Omnipotenz Gottes und von den christlichen Wahrnehmungsmustern. So bittet etwa der Litauerfürst im Gespräch mit einem Deutschordenspriester darum, während der Eucharistiefeier statt der üblichen Dreieinigkeit vier Männer zum Verzehr zu erhalten um dadurch noch stärker zu werden.53 Dennoch diffamieren die Heiden die Eucharistievision nicht als irdische Zauberei und lassen sich gewaltlos von christlichen Deutungsmustern überzeugen. Nach der visuellen Manifestation des Heiligen bedarf es lediglich einer kurzen Einführung des Ordenspriesters in die Grundlagen christlicher Lehre, damit der Litauerfürst seine Sündhaftigkeit erkennt und in die Konversion aller seiner Untertanen einwilligt.54 Durch die Taufe werden die beiden heidnischen Heerführer schließlich in basale christliche Wahrnehmungs- und Deutungsmuster eingeweiht.

IV. Die beiden exemplarisch herangezogenen legendenartigen Texte aus dem Basler Codex B VIII 27 bieten den mutmaßlich vorrangig im Deutschen Orden zu findenden Rezipienten eine differente Form der narrativen Darstellung heiliger Manifestationen. Während die Hierophanien in der ›Martina‹ Hugos von Langenstein als transzendente Realpräsenz bzw. explizite Repräsentation direkt dargestellt und durch die Reaktion von Martinas heidnischen Antagonisten lediglich untermalt werden, bietet der ›Litauer‹ Schondochs eine indirekte Darstellung der heiligen Realpräsenz im Eucharistiesakrament aus der Wahrnehmung der heidnischen Protagonisten heraus. Dabei stellt das Paradoxon irdischer Hierophanie für die heidnischen Römer und Litauer zwangsläufig eine Behinderung ihrer Wahrnehmung dar. Ihr Wissenshorizont ist ohne die Kenntnis christlicher Wahrnehmungsmuster und auf Grund ihrer sündhaften Lebensweise generell so eingeschränkt, dass ihr Verstand an einer Deutung heiliger Manifestationen scheitern muss. Beide Autoren greifen diese Unwissenheit in unterschiedlicher Weise auf: Hugo von Langenstein, indem er die Hierophanien selbst darstellt und mit der Wahrnehmung der Heiden konfrontiert, und Schondoch, indem er seinen christlichen Rezipienten eine anschauliche Darstellung der defizitären heidnischen Wahrnehmung präsentiert. Dass die heidnischen Protagonisten in beiden Fällen zunächst an einer Deutung heiliger Manifestationen scheitern, hat dabei unterschiedliche Konsequenzen: teilweise gelingt es ihnen, sich in die christliche Gemeinschaft zu integrieren und dadurch ihre Wahrnehmungen als Hierophanie des Omnipotenten zu verstehen, teil-

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  Vgl. Der Litauer von Schondoch (Anm. 34), Verse 232–234.   Vgl. ebd., Verse 240–268.

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weise diffamieren sie ihre Wahrnehmungen als irdische Zauberei und werden zum Opfer ihres Unglaubens.

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This paper argues that the Muslim outlook towards the Torah and the Bible was deeply changed by the Andalusian scholar Ibn Ḥazm (d. 1064). Up to his time, the holy scriptures of the Torah and the Bible were regarded as divinely-revealed yet wrongly interpreted by Jewish and Christian scholars alike (taḥrif al-maʿnā). Ibn Ḥazm radicalized this Muslim view, as he argued that the Torah and the Bible were mostly the products of human forgery (taḥrīf an-naṣṣ), no longer bearing much resemblance to the divine books, which were originally revealed to Moses (attūrā) and Jesus (al-inğīl) respectively. As a result of the weak chain of transmission in Jewish and Christian communities, the holy texts became consciously and unconsciously more and more altered and falsified. In his major work ‘al-Fiṣal fī l-milal wa-l-ahwāʾ wa-n-niḥal’ Ibn Ḥazm proves his thesis by means of a detailed five-step analysis of the Torah and the Bible, for which he used an Arabic translation. He provides several examples in order to show that (1) the Torah is a forgery, (2) the Christian Old Testament is a faulty translation of the Jewish Torah, (3) the gospels clearly and consciously contradict the Old Testament, (4) the four canonic gospels contradict each other and (5) there are inconsistencies within each of the gospels themselves. He concludes that due to this the holy scriptures of the Jews and the Christians are, unlike the Quran, no longer reliable guidelines and source-texts for people seeking religious truth. Ibn Ḥazm originally developed this view as a personal interpretation (Deutungsmuster), but later on it became a generally accepted view among Muslims (Wahrnehmungsmuster).

1. Einleitung Die Religion des Islams und ihr Verhältnis zu westlichen Staaten und Gesellschaften sind heute in aller Munde. Dabei hat Schneiders zum einen »Islamverherrlichung, bei der Kritik zum Tabu wird«,1 und »Islamfeindlichkeit, bei der die Grenzen der Kritik verschwimmen«,2 als Pole der momentanen Islamwahrnehmung ausgemacht. Zwischen den beiden Polen der Wahrnehmung gibt es ein breites Spektrum verschiedener Haltungen, wobei sich jedoch viele Wahrnehmungen einer positiven oder einer skeptisch negativen Haltung zuordnen lassen. Dabei wird dem Islam von der einen Seite eine wichtige Rolle in der Bewahrung des antiken geistigen Erbes zugeschrieben und   Thorsten Gerald Schneiders, Islamverherrlichung. Wenn Kritik zum Tabu wird, Wiesbaden 2010.  Thorsten Gerald Schneiders, Islamfeindlichkeit. Wenn die Grenzen der Kritik verschwimmen, Wiesbaden 2009. 1

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den Muslimen eine im Großen und Ganzen friedliche religiöse Praxis attestiert. Gewalt, die durch Rückgriff auf den Islam legitimiert wird, gilt dann oft als Ausdruck eher politischer Probleme, die nicht in Zusammenhang mit der Religion des Islams stehen. Von der anderen Seite jedoch wird der vormoderne Charakter ausgewählter rechtlicher Bestimmungen und gerade die Legitimation von Terror und Gewalt durch Extremisten thematisiert und als Kernbestand dessen, was das Wort ›Islam‹ bezeichnet, angesehen. Dabei treten Formen der Verherrlichung oder der Feindlichkeit, sowohl als Wahrnehmungsmuster, als auch als Deutungsmuster auf. Während es sich bei einem Wahrnehmungsmuster um ein mentales Ordnungsraster handelt, das im Erfassen der Phänomene unwillkürlich wirksam ist, beschreibt ein Deutungsmuster das gezielte Erfassen von Phänomene gemäß bewussten, reflektierten Strukturen, durch die der Beobachter seiner Umgebung aktiv Sinn zuweist.3 Obwohl im Alltag oft solche grundsätzlich positiven oder negativen Wahrnehmungsmuster vorherrschen, lassen sich in den meisten Reden und Publikationen zum Thema Islam darüber hinaus dann auch Deutungen finden, wobei aktuelle und historische Erscheinungen islamischer Glaubenslehre, islamischer Geschichtswirksamkeit und muslimischer Frömmigkeit reflektiert werden. Neben Islamdeutungen im Sinne einer der beiden Pole treten dann oft aber auch distanziertere und eher abwägende Positionen in Erscheinung. Die meisten Formen der Deutung stehen dabei in historischen Traditionslinien, auch wenn diese je nach Richtung der Deutung stärker oder schwächer ausfallen. Während man für ein positives Islambild vor allem auf Lessings Ringparabel aus seinem 1779 veröffentlichten Drama ›Nathan der Weise‹ oder die Anerkennung genuin muslimischer Spiritualität bei Adam Möhler in einem Aufsatz zum Verhältnis von Jesus und Mohammad aus dem Jahr 1830 verweisen kann, blickt die Islamkritik auf eine weitaus längere europäische Tradition zurück, in welcher Muslime zuweilen als Anhänger eines falschen Propheten betrachtet wurden oder der Koran als Lügen- und Fabelbuch bezeichnet wurde.4 Dabei wurden und werden auch von Nicht-Muslimen vor allem der Koran und die überlieferten Worte des Propheten benutzt, um ihre jeweilige Deutung des Islams zu untermauern. So erstellte Ricoldo da Monte Croce zu Beginn des 13. Jahrhunderts ein Sündenregister, in dem er zusammenstellte, was den Koran ungenießbar mache.5 Einen allerersten christlichen Bezug zum Islam findet man in ›De Haeresibus‹ bereits bei Johannes Damascenus (gest. um 750), der im Islam vor allem eine christliche Häresie erblickte. Im Folgenden soll nun weder die Wahrnehmung des Islams bei Christen oder Europäern Thema sein, noch soll es um die Erörterung gegenwärtiger Wahrnehmung ge3  Hartmut Bleumer u. Steffen Patzold, Wahrnehmungs- und Deutungsmuster in der Kultur des europäischen Mittealters, in: Das Mittelalter 8/2 (2003), S. 4–20, S. 6. 4  Hartmut Bobzin, Der Koran. Eine Einführung, München 1999, S. 15. 5   Bobzin (Anm. 4), S. 9.

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hen, doch scheint es gerade bei dem hier verfolgten Ansatz, der auf Wahrnehmung und Deutung abhebt, sinnvoll, die anstehende historische Deutung des Christentums durch einen muslimischen Gelehrten zumindest skizzenhaft in den heutigen Wahrnehmungshorizont zu stellen. Denn wenn es gilt, diesen Horizont für den mittelalterlichen Geschichtsschreiber oder Religionsgelehrten in Anschlag zu bringen,6 so prägt unser Grundverständnis muslimisch-christlicher Beziehungen auch unsere Fragestellungen bei der Beschäftigung mit der interreligiösen Wahrnehmung im Mittelalter. Der hier zu verhandelnde Text des andalusischen Gelehrten Ibn Ḥazm (gest. 1064) trägt den Titel ›Abhandlung über die Religionen, ketzerische Gruppen und Glaubensrichtungen‹7 und ist damit zeitlich genau zwischen Johannes Damascenus und Ricoldo da Monte Croce anzusiedeln. Dieses Werk soll hier als Beispiel interreligiöser Wahrnehmung im Mittelalter analysiert werden und somit interessiert an ihm besonders seine Wahrnehmung des Christentums, wobei auch die Kritik am Judentum bzw. der Tora einbezogen wird. Insofern Ibn Ḥazm historisch reflektiert vorgeht und auch seinen Hintergrund explizit macht, kann sein Werk dabei als Deutungsmuster im oben genannten Sinn angesehen werden, dessen Strukturen, wie noch zu sehen sein wird, auf den Grundannahmen der islamischen Theologie bezüglich der Glaubwürdigkeit von Propheten und der Überlieferung religiösen Wissens beruhen. Ibn Ḥazms ›Abhandlung‹ bringt dabei mit ihrem radikalen Verfälschungsvorwurf gegenüber Bibel und Tora eine Schärfe der Kritik an Juden und Christen in die muslimische Deutung ein, die neuartig ist, auch wenn sie Bezüge zur islamischen Tradition aufweist. Daher wird zunächst das Konzept der Verfälschung im Koran selbst und in der daran anschließenden Auslegung bis in die Zeit von Ibn Ḥazm betrachtet. Für ein adäquates Verständnis seiner Bibelkritik und der darauf aufbauenden Affirmation des koranischen Wahrheitsanspruches gegenüber den Evangelien ist es zudem nötig, den biographischen, politischen und intellektuellen Kontext von Ibn Ḥazms Stellungnahme nachzuzeichnen. Schließlich erscheint es sinnvoll, Überlegungen anzustellen, ob Ibn Ḥazms Kritik die Sonderstellung der Juden und Christen als Buchbesitzer, die sie in der islamischen Lehre haben, in Frage stellt, oder ob sich trotzdem eine gemeinsame monotheistische Grundüberzeugung ausmachen lässt.

6  Frank Rexroth, Wissen, Wahrnehmung, Mentalität: Ältere und jüngste Ansätze in der Geschichtswissenschaft, in: Ludger Grenzmann u. a. (Hgg.), Wechselseitige Wahrnehmung der Religionen im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit. Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, Bd. 4, Berlin, New York 2000, S. 1–22, hier S. 3. 7   ʿAlī Ibn Ḥazm, Al-Fiṣal fi l-milal wa-l-ahwāʾ wa-n-niḥal, Kairo 2005.

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2. Die Entwicklung des Verfälschungskonzepts vor Ibn Ḥazm Ibn Ḥazm ist mit seiner Kritik an der Tora und den Evangelien im 11. Jahrhundert natürlich nicht der erste muslimische Gelehrte, der sich zum Christentum oder genauer gesagt zur Verlässlichkeit der Bibel geäußert hat. Zudem lassen sich im Islam anders als in Judentum oder Christentum sogar noch Aussagen in der Offenbarungsschrift selbst zu dieser Thematik finden. Dies ermöglicht einen Blick in die Vorgeschichte des Verfälschungskonzepts. Der Koran ist eine selbstreferentielle Offenbarung, die sich in einer Reihe von Offenbarungen verortet (Sure 6, 92): »Dies ist ein Buch, das wir herab gesandt haben, es ist voll Segen, Bestätigung dessen, was vor ihm war: auf dass du der Städte Mutter mahnst und alle die in ihrem Umkreis sind! Die an das Jenseits glauben, die glauben daran.«8 Gemeint sind hier unter anderem die Tora, die als frühere Offenbarungsschrift fast 20 Mal im Koran erwähnt wird und die Bibel – arabisch: al-Inğīl – als Offenbarung Gottes an Jesus (Sure 57, 27): »Dann ließen wir in ihren Spuren unsere Gesandten folgen und ließen Jesus, den Sohn Marias folgen und gaben ihm das Evangelium …«9 Es ist sehr wahrscheinlich, dass Mohammad in den ersten Jahren nach seinem Berufungserlebnis zum Propheten, das man gemeinhin im Jahre 610 annimmt, davon ausging, dass ihm die Schriften von Juden und Christen nun auf Arabisch offenbart werden. Doch Christen und Juden, die auf der arabischen Halbinsel lebten, widersprachen dem Inhalt des Korans offen, als sie nähere Kenntnis davon bekamen und erkannten Mohammad auch nicht als Propheten an. Damit gerät die oben erwähnte selbstreferenzielle Positionierung zu früheren Offenbarungen in ein Spannungsfeld. Die lange historische Tradition von Offenbarungsschriften soll die koranische Offenbarung glaubhaft machen und daher erhalten bleiben, doch zugleich bedarf es eines Konzeptes, um die inhaltlichen Unterschiede zu eben diesen Offenbarungen zu begründen. Vers 75 aus der zweiten Sure, die relativ spät in Mohammads Zeit in Medina datiert wird, spricht dann explizit davon, dass die Juden ihre Schrift verfälscht haben: »Seid ihr denn darauf aus, dass sie euch glauben, wo einige von ihnen Gottes Wort schon hörten, dann aber, nachdem sie es verstanden hatten, es verfälschten und zwar wissentlich?«10 Von »verfälschen« (arabisch: yuḥarrifūna) wurde das Substantiv »Verfälschung« (ara­ bisch: taḥrīf) abgeleitet, was zum Schlagwort dafür werden sollte, wie Diskrepanzen zwischen den früheren Offenbarungsschriften und dem Koran erklärt werden können.

8   Alle Koranzitate sind der Übersetzung von Hartmut Bobzin entnommen: Der Koran, Aus dem Arabischen neu übertragen von Hartmut Bobzin unter Mitarbeit von Katharina Bobzin, München 2010, hier S. 119. 9   Der Koran (Anm. 8), S. 486. 10   Der Koran (Anm. 8), S. 17.

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Im koranischen Sprachgebrauch bezieht sich der Vorwurf hauptsächlich auf Juden,11 während Christen zwar an einer Stelle (Sure 5, 47) auch als »Leute der Bibel« bezeichnet werden und ihnen falsche Glaubensinhalte zur Last gelegt werden, doch anders als den Juden noch nicht unmittelbar der Vorwurf der Verfälschung gemacht wird.12 In der späteren Kommentarliteratur wurde Verfälschung aber ein zunehmend an Juden und Christen gleichermaßen gerichteter Vorwurf.13 Für die Ausfaltung der islamischen Lehre ist neben dem Koran in sehr vielen Bereichen des islamischen Rechts – aber auch eher theologischen Themenfeldern wie menschlicher Handlungstheorie oder Eschatologie – das vom Propheten Mohammad überlieferte Reden und Handeln, seine Gewohnheit, die ›Sunna‹, maßgeblich. Gleiches gilt für auch für Aussagen zu den Anhängern der anderen Religionen, selbst wenn in den überlieferten Prophetenworten die unmittelbare Verfälschungsfrage lange nicht so dringlich ist, wie sie bei Ḥazm später erscheint. Mohammad legt aber in einer Überlieferung des ad-Dārimī wert auf die Feststellung, dass Moses, wäre er am Leben, seine koranische Offenbarung als die wahre erkennen und die zeitgenössische Version der Tora nicht anerkennen würde.14 Ein Jahrhundert später findet sich bei dem nestorianischen Patriarchen Timotheus I. (gest. 823) die Wiedergabe eines Dialoges, den er nach eigenen Angaben mit dem abbasidischen Kalifen al-Mahdī (775–785) gehabt hat und in welchem er dem Vorwurf der Verfälschung entgegengetreten ist, woraus sich ergibt, dass dieser im 8. Jahrhundert bereits zwischen Muslimen und Christen diskutiert wurde. Während es später bei Ibn Ḥazm vor allem darum geht, was in Tora und Bibel steht und aufgrund von Widersprüchlichkeiten zwischen den einzelnen Schriften oder zwischen Schrift und angenommerner Realität als verfälscht entlarvt werden soll, zeigt ein genauerer Blick in die frühere Geschichte der Verfälschungsdiskussion, dass zunächst eher das Fehlen von Schriftpassagen problematisiert wurde. So greift Umar II. (717–720) in seiner Korrespondenz mit Kaiser Leo III. (717–741) die Tora als nicht vollständig überliefert an, wenn er das Fehlen der Ankündigung von Auferstehung und Gericht, sowie Himmel und Hölle bemerkt. Diese sind doch ein so zentraler Bestandteil von Gottes Drohungen und Verheißungen, dass sie den Menschen niemals in einer früheren Offenbarung vorenthalten worden wären.15 Auch der Bibel wird der Vorwurf gemacht, eine wichtige Textpassage nicht mehr zu enthalten bzw. den christli  Frederick Mathewson Denny, Corruption, in: Encyclopaedia of the Quran, Bd. 1 (2001), S. 437– 438. 12   Sidney H. Griffith, Christians and Christianity, in: Encyclopaedia of the Quran, Bd. 1 (2001), S. 307–315. 13   Gordon Darnell Newby, Forgery, in: Encyclopaedia of the Quran, Bd. 2 (2002), 242–244. 14  Theodore Pulcini, Exegesis as Polemical Discourse. Ibn Ḥazm on Jewish and Christian Scriptures, Atlanta 1998, S. 16. 15   Pulcini (Anm. 14), S. 19. 11

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chen Theologen, immer noch bestehende Andeutungen nicht richtig zu interpretieren. Dabei handelt es sich um die Frage, ob Mohammad in der Bibel bereits angekündigt wurde, was nicht nur Umar II. gegen Ende des oben erwähnten Briefes anspricht, sondern was auch Thema eines Sendschreibens ist, das der Kalif Harun ar-Raschid (764– 809) an Konstantin VI. (780–797) richtete. Die Argumentation nimmt selbst ihren Ausgang in Sure 61, 6: »Als Jesus, Sohn Marias, sprach: ›Ihr Kinder Israel, siehe, ich bin von Gott zu euch entsandt, um zu bestätigen, was vom Gesetz schon vor mir war, und einen Gesandten anzukündigen, der nach mir kommt und dessen Name Ahmad ist!‹«16 Damit soll Bezug auf Johannes (14, 16) genommen werden, wo es heißt: »Und ich werde den Vater bitten und er wird euch einen anderen Beistand geben, der für immer bei euch bleiben soll.«17 Aus griechisch Parakletos für Beistand wurde durch eine dem Arabischen nachempfundene Vokalumdeutung Perykletos – »viel gepriesen«, was auf Arabisch wiederum Ahmad heißt, ein dem Namen des Propheten Mohammad bedeutungsgleicher Name, der soviel wie der Hochgepriesene bedeutet und der auch in der zitierten Sure vorkommt.18 Im 9. Jahrhundert macht al-Qasīm (gest. 860) in seiner Erwiederung auf die Chris­ ten erstmals intensiven Gebrauch von Bibeltetxen selbst, wie es Ibn Ḥazm später in noch viel stärkerem Maße tun sollte. Al-Qasīm beruft sich insbesondere auf das Matthäusevangelium, um zu zeigen, dass Jesus nicht der Sohn Gottes sein kann.19 In diesem Fall erfolgt zwar die Hinwendung zum Text selbst, doch wird dieser noch als vertrauenswürdig angesehen und der Verfälschungsvorwurf bezieht sich noch allein auf die Interpretation (taḥrīf al-maʿnā). Die Wendung zum regelrechten Textverfälschungsvorwurf findet sich aber ebenfalls bereits im 9. Jahhundert bei dem berühmten Literaten al-Ğāḥiẓ (st. 869). Er führt die Unterschiede zwischen Koran und Tora auf reine Übersetzungsfehler bei der Übertragung ins Arabische zurück, doch übt er an den christlichen Evangelien grundsätzlichere Kritik. Zum Einen gab es nach koranischem Verständnis eine Offenbarung an Jesus während die Christen nun vier Texte haben, von denen wiederum nur zwei, die Evangelien von Matthäus und Johannes, von Aposteln stammen sollen, während Markus und Lukas erst später Christen geworden seien.20 Auch bei al-Maqdīs (gest. 966) und al-Bīrūnī (gest. 1050 oder 1051) in der Zeit kurz vor Ibn Ḥazm finden sich im ›Buch der Schöpfung und Geschichte‹ (Kitāb al-badʾ wa-t-tarīḥ) und der ,Chronologie alter Nationen‹ bereits vermehrt Vorwürfe direkter Textverfälschung, doch blei  Der Koran (Anm. 8), S. 499.   Einheitsübersetzung, Freiburg i. Br. 2011. 18   Adel Theodor Khoury, Der Koran, Düsseldorf 2006, S. 166. 19   Ignatio De Matteo, Confutazione contro I Christiani Dello Zaydita al-Qasim b. Ibrahim, in: Rivista Degli Studi Orientali 9 (1922), S. 301–364, bes. S. 302. 20   Pulcini (Anm. 14), S. 22. 16 17

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ben beide Autoren dabei, dass die Schriften der Juden und Christen immerhin noch so verlässlich sind, dass man sie konsultieren darf.21 Erst Ibn Ḥazm macht den Schritt, von einer grundsätzlichen Textverfälschung (taḥrīf an-naṣṣ) auszugehen. Ihm wird dabei in der Forschung auch die Rolle zugesprochen, den Verfälschungsvorwurf mit einer systematischen Analyse verbunden zu haben.22 Auch wenn die These einer massiven Textverfälschung nicht ohne Gegenstimme blieb (s. u. Kapitel 5), so ist diese Bedeutung des Begriffes für Verfälschung (taḥrīf) doch heute weitgehend akzeptiert.23

3. Der Kontext von Ibn Ḥazms Wahrnehmung des Christentums 3.1. Der Biographische Kontext Wie eingangs bereits gesagt, war Abū Muḥammad Ibn Ḥazm Andalusier und entstammte dem Stamm der Banū Ḥazm, die zuvor am Golf von Cádiz gesiedelt hatten, bevor Ibn Ḥazms Großvater die Familie nach Córdoba führte, wo sein Vater Karriere am Hof des Herrschers Muḥammad b. Abī ʿAmīr (gest. 1002) machte, der später als al-Manṣūr zahlreiche Feldzüge auf der iberischen Halbinsel führten sollte.24 Die Familie der Ḥazm reklamierte für sich eine persische Abstammung und eine frühe Konversion zum Islam, bevor sie, wie viele Nicht-Araber, als Klienten der Omayyaden nach Spanien kamen.25 Diese Aussage wurde aber vom Historiker Ibn Ḥayyān in Zweifel gezogen, der anführte, erst Ibn Ḥazms Großvater sei zum Islam konvertiert. In der heutigen Forschung finden sich beide Meinungen, wobei westliche Forscher meistens zur These von Ibn Ḥayyān tendieren.26 Córdoba, der Ort des Geschehens, war dabei seit 929 ein von Bagdad unabhängiges Kalifat, in dem ein Zweig der Omayyaden, die bis 750 von Damaskus aus das islamische Gesamtreich regiert hatten, weiter bestand.27 Die Familie der Ḥazm hielt den Omayyaden die Treue, die in den turbulenten Jahren zwischen 1002 und 1025 ihre Macht trotz mehrerer Restaurationsversuche auch in Andalusien verloren. Ibn Ḥazm hatte während dieser Jahre durchaus manches Mal versucht, seinem Vater nachzufolgen und eine politische Karriere zu durchlaufen. Er wurde 1024 sogar kurzzeitig   Pulcini (Anm. 14), S. 38–41.  Samuel-Martin Behloul, Ibn Ḥazms Evangelienkritik. Eine methodische Untersuchung, Leiden, Boston, Köln 2002, S. 140. 23  Hava Lazarus-Yafeh, Taḥrīf, in: Encyclopédie de l’Islam, Bd. 10 (2002), S. 120–121. 24  Roger Arnaldez, Ibn Ḥazm, in: Encyclopédie de l’Islam, Bd. 3 (1971), S. 814–822. 25  Hans-Rudolf Singer, Der Maghreb und die Pyrenäenhalbinsel bis zum Ausgang des Mittelalters, in: Ulrich Haarmann (Hg.), Geschichte der arabischen Welt, München 1994, S. 264–322, hier S. 275. 26   Vgl. Camilla Adang, Muslim Writers on Judaism and the Hebrew Bible. From Ibn Rabban to Ibn Ḥazm, Leiden, New York, Köln 1996, S. 60, bes. Anm. 266. 27   Singer (Anm. 25), S. 280. 21 22

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Wesir.28 Doch nach nur sieben Wochen verloren sowohl der Kalif selbst als auch Ibn Ḥazm ihr Amt. Ibn Ḥazm verbrachte in den späten 40er Jahren des 11. Jahrhunderts einige Zeit auf Mallorca und kehrte dann an die südwestliche Küste in die Heimat seiner Vorfahren zurück, wo er 1064 in Manta Lisham verstarb. Seine politischen Verstrickungen führten dazu, dass spätere Herrscher es unterbanden, dass Ibn Ḥazm Schüler um sich sammeln konnte.29 In Andalusien begann das Zeitalter der zersplitterten Königreiche (Mulūk aṭ-Ṭawāʾif). Diese Entwicklung erleichterte auch die christliche Reconquista, die 1085 mit der Eroberung von Toledo einen ersten großen Erfolg verbuchen konnte.30 Nach dem Scheitern aller politischen Ambitionen widmete sich Ibn Ḥazm schließlich ganz dem Schreiben. Bevor er allerdings zur Wissenschaft fand, trat er mit einem Buch über die höfische Liebe hervor. Es heißt das ›Halsband der Taube‹ und wurde um 1027 verfasst. Arnaldez sieht darin einen Schlüssel zu seinem Denken, denn es »trägt den Stempel des Ernstes und der Enttäuschung«.31 Er verarbeitet die bittere Erfahrung der menschlichen Natur und die geringe Verlässlichkeit menschlicher Worte, die er in seinem Leben als Politiker gemacht hat und so ist es allein Gott, der wirklich um den Menschen Bescheid weiß und auf dessen verbürgte Offenbarung man sich stützen solle.32 Sein folgendes Werk bemüht sich, ausschließlich auf Sicheres, auf Göttliches gegründet zu sein, was ihn für Delcambre zu einem Künder einer reinen nichtinkarnierten Logik macht, die für manche den Charme und die Schönheit unerreichbarer Dinge hat.33 Auch laut Behloul muss Ibn Ḥazms Wirken als Gelehrter in Kontinuität zu seinem bisherigen politischen Handeln gesehen werden, denn er erlebte den Zusammenbruch einer politischen Ordnung, die für ihn auch über den Islam legitimiert war. Ibn Ḥazm deutet die rivalisierenden Machtansprüche der Omayyaden und ihrer Opponenten nämlich als Resultat mangelnder Einigkeit, was wiederum auf divergierende und relativierende Koranauslegungen zurückzuführen sei.34 Daher erscheint ihm eine geistige Restauration notwendig, für welche er eine einheitliche Koranauslegung schaffen will, die auf dem Wortlaut der Offenbarungsschrift gegründet ist.35 Dieses Streben   Arnaldez (Anm. 24), S. 814.   Arnaldez (Anm. 24), S. 814–815. 30   Singer (Anm. 25), S. 290–291. 31  Roger Arnaldez, Grammaire Et Théologie Chez Ibn Ḥazm De Cordoue. Essais Sur La Structure et Les Conditions De La Pensée Musulmane, Paris 1982, S. 22. 32   Ebd., S. 23–24. 33  Anne-Marie Delcambre, Enquêtes sur l’Islam, Paris 2004, S. 100. 34   Behloul (Anm. 22), S. 240. 35   Obwohl eine nicht unbedeutende Figur für die Geschichte der islamischen Häresiographie, hat Ibn Ḥazm in der Regensburger Rede von Papst Benedikt XVI., in der er als vernunftkritischer Hauptrepräsentant islamischer Theologie erschien, doch etwas zu viel der Ehre erfahren. Es trifft zwar zu, dass 28 29

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nach Einheitlichkeit in religiösen Fragen steht im Hintergrund seiner Kritik an innermuslimischen Gegnern sowie Christen und Juden. Ein solcher geistiger Hintergrund kann aber für das Andalusien des 11. Jahrhunderts nicht verallgemeinert werden. So spricht zum Beispiel Ṣāʿid al-Andalusī zur selben Zeit in seinem Buch ›Klassen der Nationen‹ lobend von den Errungenschaften nicht-muslimischer Völker.36

3.2. Intellektueller Kontext Ibn Ḥazms Kritik an Uneinigkeit über religiöse Fragen lässt sich von daher gut in seinen historischen Kontext einbetten. Doch darüber hinaus lässt sich bei ihm aber auch erkennen, dass ihn die erlebte politische Unsicherheit nach einem festen Ankerpunkt im menschlichen Denken suchen lässt. Eine sichere Grundlage des Denkens und Unterscheidens sieht er dabei in der aristotelischen Logik, die er in seinem schon 1025 begonnenen Werk ›Annäherung an die Definition der Logik mittels der allgemeinen Begriffe und der religionsgesetzlichen Beispiele‹ darstellt und mittels alltäglicher und im islamischen Recht relevanter Begriffe verständlich zu machen sucht.37 Die Vernunft ist für ihn ein Werkzeug, das Gott seinen Geschöpfen gegeben hat und das es erlaubt, Widersprüche zu entlarven. Doch die Logik bleibt bei Ibn Ḥazm zugleich untrennbar mit der Offenbarung verknüpft, da die Inhalte der Offenbarung die Grundlagen für die endgültige Unterscheidung zwischen richtig und falsch liefern und nicht selbst zum Gegenstand logischer Überlegungen werden. Arnaldez und Behloul sprechen daher von einer bloßen aristotelischen Fassade bei Ibn Ḥazm.38 Ibn Ḥazm sucht aber nicht nur eine Grundlage für das abstrakte Denken, sondern möchte auch für historisches Geschehen einen unbezweifelbaren Beweis seines realen Ablaufs finden. Diese Grundlage ist für ihn die Wahrheit der Prophetie, bei der die Menschen durch Wunder erkennen können, dass sich Gott durch sie mitteilen wolle. Nur Propheten können Wunder vollbringen und im Fall von Mohammad ist es der Koran selbst, der ein sprachliches Wunder darstellt.39 Da es Zeitzeugen der Propheten und ihrer Wunder gab und auch vertrauenswürdige Überlieferer seither, sind Wunder und die von ihnen beglaubigten Heiligen Schriften ein sicherer Bestandteil der Historie. Aber es gilt hier auch zu sehen, dass für Ibn Ḥazm in der Geschichte nichts reift Ibn Ḥazm die Rolle der Vernunft sehr tief ansetzte, wenn es um die islamische Rechtsfindung ging, weshalb er hier auf den Analogieschluss verzichtete und sich als Jurist rein auf den Wortlaut von Koran und Prophetenworten stützte. Doch die darauf beruhende (ẓāhiritische) Rechtsschule erlosch bald nach seinem Tod und eine zentrale Figur in der Geschichte des islamischen Rechts und Theologie wurde er somit nicht. 36  Gabriel Martinez-Gros, Ṣāʿid al-Andalusī, in: Encyclopédie de l’Islam, Bd. 8 (1995), S. 889. 37   Behloul (Anm. 22), S. 24–34. 38   Arnaldez (Anm. 31), S. 212; Behloul (Anm. 22), S. 90–96. 39   Ibn Ḥazm (Anm. 7), S. 75–76.

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und auch wenn der Koran geschichtliche Ereignisse erzählt oder auf sie Bezug nimmt, ist er doch selbst nicht Geschichte, sondern ein Zeichen von Diskontinuität, welches das göttliche Gesetz erscheinen lässt.40 Damit wird Geschichte von der Offenbarung und dem Wunder, das sie als solche beglaubigt, her fundiert. Offenbarung selbst ist aber nicht geschichtlich. Eine Abstreitung von Wundern entspricht für Ibn Ḥazm in den Worten Chejnes damit der Leugnung jeder Form von Geschichte vor dem eigenen Leben, die man als völlig sicheres reales Geschehen auffassen kann.41 Dies mutet zunächst seltsam an, doch diese absolute Fundierung von Geschichte in Offenbarung ermöglicht es, den Wundercharakter des Korans und die glaubwürdige Tradentenkette, die seine Überlieferung durch die Geschichte verbürgt, gegen Christen und Juden zu wenden, denn sie bringen keine Überliefererkette zustande und das mögliche Beglaubigungswunder ihrer Schriften ist damit nicht mehr verbürgt. Dass die nicht korrekt überlieferten Schriften auch tatsächlich verfälscht sind, kann sodann an den Widersprüchen in diesen Schriften demonstriert werden. Denn während im Koran vordergründige Widersprüche nach dem Prinzip, dass das Eine eine Verallgemeinerung und das Andere eine Ausnahme darstellt, aufgelöst werden können, bleiben die Schriften der anderen Religionen realitätsfremd und narrativ widersprüchlich. Diese grundlegende Weichenstellung ist dabei natürlich nur akzeptabel, wenn man seinen Glauben an die Wahrheit des Korans teilt. Folgt man aber bildlich gesprochen hinter dieser Weiche dem Gleis dessen, für das er seine Verfälschungsthese zu beweisen versucht, so zeigt sich, dass er bei der weiteren Analyse von Tora und Bibel allein den innerweltlichen Bezügen nachgeht und dabei ein gut nachvollziehbares historisches Verständnis an den Tag legt. Diese im Folgenden zu analysierende Auseinandersetzung mit Tora und Bibel befand sich zunächst in einem eigenen Werk mit dem Titel ›Das offensichtlich Machen von Veränderungen der Juden und Christen‹, das dann als Kapitel über die offensichtlichen Widersprüchlichkeiten und klaren Lügen in seine eingangs bereits erwähnte ›Abhandlung über die Religionen, ketzerische Gruppen und Glaubensrichtungen‹, eingegangen ist.42 Es kann auch als sein theologisches Hauptwerk betrachtet werden, in dem er sich zunächst mit philosophischen Spekulationen zu Raum und Zeit wie der Weltewigkeitslehre, den dualistischen Konzepten im alten Iran, den beiden Buchreligionen Judentum und Christentum, deren Anhänger in der islamischen Tradition auch als Ahl al-Kitāb, Leute des Buches, bezeichnet werden, sowie anderen muslimischen Gemeinschaften auseinandersetzt.

  Arnaldez (Anm. 31), S. 12.   Anwar G. Chejne, Ibn Ḥazm, Chicago 1982, S. 111. 42   Adang (Anm. 26), S. 65–66. 40 41

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3.3. Die Textvorlagen Ḥazms Bevor Ibn Ḥazms Schritte zur Ergründung der Geschichte beider Buchreligionen nachvollzogen werden, ist es sicher notwendig, kurz Auskunft zu geben, inwieweit es der bisherigen Forschung gelungen ist zu rekonstruieren, über welche textlichen Vorlagen er für Tora und Bibel jeweils verfügte. Dies führt nochmals in den Kontext des islamischen Spaniens zurück. In seiner Studie zu den Pentateuchzitaten Ibn Ḥazms ist Algermissen der Frage nachgegangen, welchen Toratext die Juden im Andalusien jener Zeit gelesen haben. Dabei gibt er Belege dafür an, dass die spanischen Juden einerseits hebräische Handschriften in Ehren hielten und daher durch den Verlust einer hebräischen Bibel aus León im Jahr 1106 sehr bestürzt waren. Zugleich war aber die Arabisierung der Juden im südlichen Teil der iberischen Halbinsel schon so weit fortgeschritten, dass es arabische Übersetzungen für den liturgischen und privaten Gebrauch gab.43 Die genaue Vorlage der jüdischen Tora in Andalusien kann auch Algermissen nicht bestimmen, doch kommt seine Studie nach einem Vergleich der Zitate mit aramäischen Targumen, der Vulgata sowie der Septuaginta zum Schluss, es sei ein bisher unbekannter arabischer Pentateuchtargum gewesen, der neben den genannten Traditionen auch über ein spezifisches Eigengut verfügt habe.44 Dabei lag ihm laut Adang keine vollständige Version der Tora vor, denn seine Textanalyse geht, wie noch zu sehen sein wird, ausschließlich auf die fünf Bücher Moses, den Pentateuch, ein.45 Neben dem Pentateuch, den Ibn Ḥazm mit der Tora gleichsetzt und den er den Juden zuordnet, beschäftigt sich Ibn Ḥazm auch mit dem Alten Testament als dem »Text, den die Christen haben«, und bei dem sie davon ausgehen, er entspräche Teilen der Tora.46 Als Vorlage für diesen Text der Christen stand Ibn Ḥazm bildlich die Septuaginta vor Augen, wenn er von der »Tora, die die 70 Scheiche übersetzt haben«, spricht.47 Dies wird dadurch bestätigt, dass Ibn Ḥazm kein Latein konnte, um die lateinische Vulgata des Hieronymus (gest. 419/420) lesen zu können und dass die von Ibn Ḥazm in seiner Argumentation verwendeten Abweichungen in den Altersangaben zwischen der jüdischen Tora und der christlichen Bibel (s. u.) nur in der Septuaginta erscheinen und nicht in der Vulgata.48 Daher muss Ibn Ḥazm für das Alte Testament eine arabische Übersetzung aus dem Griechischen vorgelegen haben, oder aber

 Ernst Algermissen, Die Pentateuchzitate Ibn Ḥazms. Ein Beitrag zur Geschichte der arabischen Bibelübersetzungen, Münster 1933, S. 27–28. 44   Algermissen (Anm. 43), S. 82–83 45   Adang (Anm. 26), S. 137. 46   Ibn Ḥazm (Anm. 7), S. 225. 47  Ebd. 48   Behloul (Anm. 22), S. 155; Algermissen (Anm. 43), S. 24. 43

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er stützt sich auf eine Mittelquelle.49 Etwas anders liegt der Fall für das Neue Testament, auf das sich Ibn Ḥazm mit dem Begriff der vier Evangelien (al-anāğīl al-arbaʿa und al-afraksīs für die Apostelgeschichte bezieht.50 Viele arabische Evangelienübersetzungen gehen dabei laut Baumstark auf die Vorlage des Tatianischen ›Diatessaron‹ zurück51, einer Evangelienharmonie, die sich bei den Edessenern im syrischen Raum gegen Ende des 2. Jahrhunderts einbürgerte und bei der nicht sicher entscheidbar ist, ob sie auf Griechisch oder Syrisch verfasst wurde.52 Baumstark weist anhand des ›Kitāb al-maʿārif‹ des Ibn Qutaiba und des al-Ğāḥiẓ im 9. Jahrhundert nach, dass sich deren arabische Textvorlagen wiederum auf einen syrischen Text mit Elementen des ›Diatessaron‹ stützt.53 Greifbar wird eine arabische Evangelienübersetzung, die sich auf altlateinische Texte und das ›Diatessaron‹ gestützt haben muss, mit der Übersetzung des Christen Isaak Velasquez aus dem Jahre 946 auch in Andalusien.54 Diese Übersetzung kann ebenfalls als diejenige gelten, auf die sich Ibn Ḥazm gestützt hat.55 Bestätigt findet sich diese Annahme zusätzlich durch den Abgleich von Ibn Ḥazms Zitaten und der Velasquez-Übersetzung.56

4. Die Kritik von Tora und Evangelien bei Ibn Ḥazm 4.1. Die Situation von Juden und Christen Obwohl er Juden und Christen gleichermaßen Verfälschung vorwirft und obwohl die Argumentation, wie noch zu sehen sein wird, von der einen Religion zur anderen übergeht, macht Ibn Ḥazm doch auch klare Unterschiede aus. Seiner Meinung nach steht es dabei um die Verlässlichkeit der Schriftüberlieferung bei den Christen viel schlimmer als bei den Juden. Denn immerhin, so Ibn Ḥazm, hätten die Juden ein starkes Königreich und eine große Anzahl Propheten gehabt, weshalb Schwächen in der Überlieferung erst nach Salomon aufgekommen seien, als Unglaube und Götzenverehrung

  Algermissen (Anm. 43), S. 24.   Ibn Ḥazm (Anm. 6), S. 221. 51  Anton Baumstark, Arabische Übersetzungen eines altsyrischen Evangelientextes, in: Oriens Christianus Dritte Serie 9 (1934), S. 165–188, hier S. 169–179. 52  Kurt Aland und Barbara Aland, Der Text des Neuen Testaments. Einführung in die wissenschaftlichen Ausgaben sowie Theorie und Praxis der modernen Textkritik, Stuttgart 1989, S. 199. 53   Baumstark (Anm. 51), hier S. 169–179. 54   Ebd., S. 169, Anm. 1. 55  Anton Baumstark, Markus Kap. 2 in der arabischen Übersetzung, in: Oriens Christianus Dritte Serie 9 (1934), S. 226–239, hier S. 232; Algermissen (Anm. 43), S. 24; Behloul (Anm. 22), S. 159, Anm. 66. 56   München, Bayerische Staatsbibliothek, Hs. Cod. arab. 238, Bl. 50v. 49

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sowie die Tötung von Propheten und gegenseitiger Raub Überhand gewonnen hätten.57 Ibn Ḥazm führt sodann zwei Gründe an, warum die Überlieferungssituation bei den Christen noch weitaus problematischer sei. Zum Einen sind die, die sich als Evangelisten bezeichnen und die mit der Entstehung derjenigen Schrift zu tun hatten, die den Christen als Heilige Schrift gilt, gar nicht selbst öffentlich als Christen aufgetreten. Vielmehr haben sie im Verborgenen gelebt und sich wie Juden gegeben, indem sie den Sabbat hielten.58 So haben sie ihre Botschaft auch gar nicht offen beglaubigt, und das zugehörige Beglaubigungswunder konnte nicht tradiert werden. Um diesen Punkt zu verstehen, muss die islamische Vorstellung des prophetischen Beglaubigungswunders, auf die sich Ibn Ḥazm hier stützt, noch etwas erläutert werden. Wie oben bei der Darstellung seines Geschichtsverständnisses schon erwähnt, ist glaubhafte Geschichte in der Überlieferung durch prophetische Wunder fundiert, im Falle Mohammads durch die Existenz der Offenbarung in Form des unnachahmlichen Korans. Auch Jesus hat nach islamischer Auffassung eine Offenbarungsschrift erhalten und konnte Heilungswunder vollbringen, um seine Prophetie glaubhaft zu machen. Doch wurden weder die Schrift noch die zugehörigen Wunder tradiert. Denn wenn die Christen in den Jahrzehnten nach dem Leben von Jesus im Besitz all dessen gewesen wären, hätten sie sich nicht für Juden ausgeben müssen, sondern ihren Glauben offen vertreten können. Eine Bezugnahme auf die Position der christlichen Theologie in dieser Frage kann hier nicht geleistet werden, doch ist es sehr wohl von Interesse, dass Ibn Ḥazm historisch gar nicht Unrecht hat, insofern man die Zäsur zwischen Judenchristentum und Judentum erst mit dem ersten jüdischen Krieg (66–70 n. Chr.) ansetzt, an dem sich die Christen nicht beteiligten.59 Ibn Ḥazm steht hier als Kontrastfolie wieder die islamische Geschichte vor Augen, in der sich die muslimische Gemeinde zu Lebzeiten Mohammads klar von den Mekkanern sowie auch Juden und Christen abgegrenzt hat. Aus der frühchristlichen Geschichte lässt sich für Ibn Ḥazm zum Anderen belegen, dass die christliche Überliefererkette unterbrochen worden ist, denn in der Zeit der geheimen Weitergabe unter steter Verfolgungsdrohung sei es dahin gekommen, dass niemand mehr die wahre Lehre schützen und vor Veränderungen bewahren konnte.60 Keiner der christlichen Schriftenverfasser habe gewusst, auf welchen Überlieferer sich sein Material zurückführen ließe. Weiterhin habe es keinen Beweis aus der Offenbarung und keinen Verstandesbeweis für das, was er gesagt habe, gegeben. Einen Offenbarungsbeweis kann in seiner Logik natürlich nur eine Offenbarungs  Ibn Ḥazm (Anm. 7), S. 223.   Ibn Ḥazm (Anm. 7), S. 224. 59  Friedhelm Winkelmann, Geschichte des frühen Christentums, München 2007, S. 8–9. 60   Ibn Ḥazm (Anm. 7), S. 223–224. 57 58

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schrift liefern, die so glaubhaft überliefert worden wäre, wie es für Ibn Ḥazm der Koran ist.61 Einen Vernunftbeweis diskutiert er nicht weiter. Da allerdings bereits in der Überlieferungsgeschichte so große Mängel zu Tage treten und er sich sicher ist, im Folgenden die textliche Integrität der Evangelien auch inhaltlich zu untergraben, scheint sich für Ibn Ḥazm der Mangel eines Vernunftbeweises automatisch zu ergeben. Alle diese Überlegungen machen es für ihn extrem unwahrscheinlich, dass die Christen im Besitz einer wahren Offenbarungsschrift sind, und lassen daher Verfälschungen vermuten.

4.2. Der Nachweis der Verfälschung Um den Nachweis dieser Verfälschung nun aber nicht nur wahrscheinlich erscheinen zu lassen, sondern auch zu beweisen, schickt Ibn Ḥazm sich zu einer genauen Text­ analyse an. Seine Ausführungen sind dabei überaus materialreich und können hier nur auszugsweise wiedergegeben werden. Es lässt sich aber eine Systematik ablesen, die Behloul der inhaltlichen Darstellung der Evangelienkritik vorausschickt. Da Behloul aber nur die Evangelien interessieren, listet er dabei allein die Widersprüche (1) der Evangelien in ihrem Verhältnis zur Tora, (2) in ihrem Verhältnis zueinander und (3) die Widersprüche innerhalb ein und desselben Evangeliums auf.62 Nimmt man aber die Torakritik mit hinzu und unterscheidet bei Widersprüchen von Tora und Bibel zwischen Übersetzungsfehlern und explizitem Widerspruch, so ergeben sich statt drei vielmehr fünf Schritte: (1) Die Tora ist an sich verfälscht. (2) Die Christen haben die verfälschte hebräische Tora bei der Übersetzung ins Griechische weiter verfälscht. (3) Die Evangelien widersprechen der Tora ganz bewusst. (4) Die Evangelien widersprechen einander. (5) Schließlich lassen sich in einem einzigen Evangelium Aussagen finden, die nicht in Einklang zu bringen sind. Anhand dieses Schemas sollen nun exemplarisch Inhalte seiner Kritik nachgezeichnet werden. Der erste Punkt zur Verfälschung der Tora verbleibt noch ganz im jüdischen Bezugsrahmen. Die Reihe der Verfälschungen und Ungereimtheiten, die Ibn Ḥazm im Pentateuch bemerkt, ist lang und erstreckt sich über gut hundert Seiten. Aus den vielen von ihm vorgebrachten Beispielen für die Falschheit der Tora (1) seien hier zwei herausgegriffen, die für Ibn Ḥazm nicht wie das sündhafte Verhalten von Propheten oder anthropomorphistische Aussagen über Gott aufgrund der islamischen Dogmen von   Ibn Ḥazm (Anm. 7), S. 295. In der modernen Forschung sind auch an der islamischen Überlieferung des Korans, wie sie Ḥazm als selbstverständlich ansieht, Zweifel laut geworden, die aber keine breite Akzeptanz gefunden haben und hier nicht weiter verfolgt werden, da sie für seine Wahrnehmung des Christentums keine Rolle spielen. Siehe hierzu als Überblick: Harald Motzki, Alternative accounts of the Qurʿān’s formation, in: Jane Dammen McAuliffe (Hg.), The Cambridge Companion to the Qurʿān, Cambridge 2010, S. 59–75. 62   Behloul (Anm. 22), S. 158. 61

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der Sündlosigkeit der Propheten (ʿiṣma)63 und der Fernhaltung Gottes von menschlichen Attributen (tansīh) anstößig sind, sondern inhärente Widersprüche oder höchst Unwahrscheinliches thematisieren. Als Beispiel für den Vorwurf, die Tora enthalte inhärente Widersprüche, führt Ibn Ḥazm an, dass bei den ägyptischen Plagen alles Vieh hinweggerafft wird und dass danach von einer weiteren Plage, bei der Menschen und Tiere von Geschwüren befallen werden, die Rede ist. Dabei scheint der Viehbestand erneut betroffen zu sein, obwohl doch alles Vieh außer den Tieren der Israeliten bereits eingegangen ist.64 Andere Passagen der Tora widersprechen den geographischen Gegebenheiten und werden damit ebenfalls zu unrealistischen Aussagen. So führt Ibn Ḥazm Numeri 26, 51 an, wo es heißt, dass 601.730 Männer über zwanzig das Land Kanaan betraten65 und dass laut Samuel 2 in Davids Armee 500.000 Soldaten waren.66 Ibn Ḥazm rechnet dies auf Bevölkerungszahlen hoch und kommt auf über eine Million Einwohner für Palästina, was er gemäß den geographischen Beschreibungen für unrealistisch hält. Dabei umreißt er das Land Kanaan sehr genau, wenn er sagt, es sei im Süden von Gaza und im Norden von Sidon, Tyrus und der Gegend um Damaskus begrenzt, stoße im Westen an das Meer und grenze im Osten an die arabische Wüste und das Land der Moabiter.67 Um eine solche Menge an Menschen aufnehmen zu können, müsste das Land durchgängig besiedelt, ohne Wiese und Baum nur mit Saatfeldern überzogen und frei von steinigem Boden und salzigen Gebieten gewesen sein.68 Dies aber widerspricht der Realität. Wie bei einigen Stellen der Kritik an den Schriften der Christen führt Ibn Ḥazm zusätzlich den Koran an. In Sure 26, 53f. heißt es, dass die Israeliten wenige waren: »Da sandte Pharao Häscher in die Städte aus: ›Siehe diese da sind doch fürwahr nur ein kleines Häuflein, und dennoch reizen sie uns auf.‹«69 Da das eigentliche Argument bereits schlüssig wirkt, erscheint die Bezugnahme auf den Koran hier nur zu erfolgen, weil sie sich besonders gut in die Logik seiner Darlegungen fügt. Ansonsten greift Ibn Ḥazm nur auf den Koran zurück, wenn der Argumentation sonst ein zentrales Element fehlt.70 Es folgt nun ein Vergleich der Tora mit der christlichen Version der hebräischen Bibel, dem Alten Testament, oder in Ibn Ḥazms Sprachgebrauch »dem Text, den die Christen haben«. Wie oben erläutert, handelt es sich um eine arabische Übersetzung der Septuaginta, was sich auch gerade an der hier wesentlichen Textpassage bestätigt.  Wilferd Madelung, ʿIṣma, in: Encyclopédie de l’Islam, Bd. 4 (1978), S. 190–192.   Ibn Ḥazm (Anm. 7), S. 158; vgl. Ex 9, 1–10. 65   Ibn Ḥazm (Anm. 7), S. 165. 66   Ibn Ḥazm (Anm. 7), S. 166. 67  Ebd. 68   Ibn Ḥazm (Anm. 7), S. 167. 69   Der Koran (Anm. 8), S. 320. 70   Behloul (Anm. 22), S. 207. 63 64

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Der erste Schritt besteht für Ibn Ḥazm dabei darin, die textliche Weiterverfälschung der jüdischen Tora durch die Christen (2) zu beweisen. Dazu vergleicht er die jeweiligen Lebensaltersangaben von Adam. Ibn Ḥazm führt mit Bezug zu Genesis 5, 3–32 in der Tora aus: »Als Adam hundertdreißig Jahre erreichte, wurde ihm ein Sohn geboren (…) Er nannte ihn Seth (Shith)«, während im christlichen Text steht: »Als über Adam zweihundertdreißig Jahre kamen, wurde ihm Seth geboren.«71 Diese chronologischen Abweichungen ziehen sich durch die gesamte genealogische Darstellung von Genesis 5, 3–32.72 Nachdem Ibn Ḥazm somit der Auffassung ist, die Meinung der Christen, dass ihre Bibel identisch mit der Tora sei, widerlegt zu haben, möchte er darlegen, dass sie nicht nur in Zahlenangaben variieren, sondern auch in direktem inhaltlichem Widerspruch zueinander stehen (3). Dazu führt er an, dass es im Matthäusevangelium (5, 17) heißt, dass kein einziger Buchstabe der Tora verändert werde, dass aber nur wenig später die Rede davon ist, dass die Ehescheidung verboten sei und jeder, der sich von seiner Frau scheiden lasse, Unzucht begehe. Zudem hätte Paulus die Beschneidungspflicht aufgehoben und Petrus gar den Verzehr von Schweinefleisch erlaubt.73 Damit ist für ihn erwiesen, dass die Bibel nicht nur wie beim Beispiel der Altersangaben nicht-identische Aussagen treffe, sondern auch wissentlich die Tora verfälsche und ganz andere Lehren verkünde. Diese Darstellung bei Ibn Ḥazm spricht auch gegen mögliche christliche Quereinflüsse auf den arabischen Toratext, der zu dieser Zeit in Andalusien Verwendung fand. Anderenfalls wäre diese Argumentation von seinem multireligiösen Umfeld leicht in Frage gestellt worden, wenn es diese Verschiedenheit nicht auch nach jüdischer und christlicher Überzeugung gegeben hätte.74 Der folgende Teil bei der Verfälschungsbeweisführung stellt auf die vier Evangelien des Neuen Testaments ab. Ibn Ḥazm listet hierzu zahlreiche Beispiele auf, die zeigen sollen, dass die Evangelien untereinander im Widerspruch stehen (4). Eines dieser Beispiele ist die Schilderung der Entdeckung des leeren Grabes durch Maria und Maria Magdalena. Matthäus behauptet, ein Engel habe den Stein weggewälzt, Markus, dass die Frauen den Stein bereits weggewälzt und einen Mann in weißen Kleidern vorgefunden hätten. Johannes aber sagt, Maria sei alleine zum Grab gekommen, der Stein sei bereits weggewälzt gewesen und sie habe dort niemanden angetroffen. Erst bei ihrer Rückkehr mit Johannes und Simon habe sie dann vor Ort den Messias erblickt.75   Ibn Ḥazm (Anm. 7), S. 225.   Behloul (Anm. 22), S. 152–154. 73   Ibn Ḥazm (Anm. 7), S. 238. 74   Algermissen (Anm. 43), S. 29–30. 75   Ibn Ḥazm (Anm. 7), S. 266–269. 71 72

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Es gibt aber auch innerhalb der einzelnen Evangelien Widersprüche (5). Bei Matthäus heißt es einmal in Kapitel 13, die Paradiesbewohner würden weder essen noch trinken, dann aber dass Jesus seinen Jüngern sagt, er werde nach der Nacht der Gefangennahme nicht wieder vom Saft des Weinstocks trinken, bis er ihn mit ihnen vereint im Reiche Gottes trinken werde, womit nur das Jenseits selbst gemeint sein kann, von dem es vorher hieß, dort gebe es keine irdischen Bedürfnisse.76 Die Kritik an den Christen bezieht Ibn Ḥazm aber auch auf Skandalöses an der Bibel, das nicht direkt in inhärentem Widerspruch zu anderen Textpassagen steht. So ist es für ihn als Muslim selbstverständlich, dass ein Prophet zumindest nach seiner Berufung sündlos ist, wie oben bereits angedeutet wurde. Demgegenüber sieht es in der Bibel so aus, als käme der Prophet Jesus unmittelbar nach seiner Berufung zur öffentlichen Verkündigung in die Gefahr der Verführung durch den Teufel in der Wüste.77 Laut Ibn Ḥazm handelt es sich um eine – nach rationalen und religiösen Maßstäben gesehen – unvorstellbare Entgleisung der Christen. Es ist in seinen Worten »das Dümmste dieser ganzen Verblendung«.78 Obwohl sich hier eine komplette Hinfälligkeit der biblischen Schrift abzeichnet, die nicht mehr wie bei den Gelehrten vor Ibn Ḥazm zur Untermauerung einzelner eigener islamischer Positionen herangezogen werden kann, verzichtet auch Ibn Ḥazm nicht ganz darauf, den ihm vorliegenden Text zur Bestätigung eines islamischen Dogmas heranzuziehen. So bedient er sich des vierten Kapitels im Lukasevangelium, um die islamische Vorstellung vom Prophetentum Jesu zu untermauern. Dort heißt es gemäß Ibn Ḥazm: »Die Menge sah ihn an und wunderte sich über das, was er sagte und was er ihnen zum Gebot machte. Und sie sagten: ›Ist das nicht der Sohn Josefs, des Tischlers?‹ und er sagte: ›Ja und ich wusste bereits vorher, dass ihr zu mir sagen werdet, oh Arzt, heile Dich selbst und vollbringe an deinem Ort, was Du, wie wir erfahren haben, auch in Kafarnaum getan hast.‹«79 Die bejahende Aussage von Jesus auf die Frage, ob er nicht Sohn des Tischlers Josef sei, wird von Ibn Ḥazm zur Bestätigung herangezogen, dass er Sohn eines Menschen und nicht Sohn Gottes sei. Diese Wiedergabe des Textes stimmt mit der Handschrift von der Übersetzung des Velasquez überein,80 wobei es vor allem auf das erste Wort in Jesu Rede, das Ja zur Aussage, er sei Sohn des Tischlers, ankommt. Dieses Wort finden wir zwar heute nicht im biblischen Text, wo es heißt: »Da entgegnete er ihnen: Sicher werdet ihr mir das Sprichwort vorhalten: Arzt, heile Dich selbst!«81 Auch in einem zeitgenössischen arabischen Bibeltext heißt es: »Er sagte zu ihnen: ›In jedem Fall werdet ihr jenes Sprichwort sa  Ibn Ḥazm (Anm. 7), S. 260–261.   Ibn Ḥazm (Anm. 7), S. 233. 78   Ibn Ḥazm (Anm. 7), S. 234. 79   Ibn Ḥazm (Anm. 7), S. 274. 80   Hs. Cod. arab. 238 (Anm. 56), Bl. 50v. 81   Einheitsübersetzung, Lk 4, 23. 76 77

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gen, oh Arzt, heile Dich selbst!‹«82 In diesen beiden Fällen bleibt die Bestätigung Jesu, dass er Sohn des Tischler sei, freilich aus, während Ibn Ḥazms Velasquezzitat gemäß der Münchner Handschrift aber stimmig ist. Ibn Ḥazms Kritik durchläuft damit alle fünf Ebenen der Aufdeckung von Widersprüchen in Tora und Bibel und greift zudem einzelne Inhalte beider Schriften nochmals gezielt vor dem Hintergrund eines islamischen Deutungsmusters an, so dass man meinen kann, es bliebe kaum Gemeinsames der betroffenen Religionen. Daher ist die Frage zu stellen, wie umfassend seine Kritik interpretiert werden muss.

5. Aufkündigung der bisherigen Gemeinsamkeiten? Die Kritik Ibn Ḥazms an den Schriften der Juden und Christen wirkt mitunter sehr scharf. Zur Veranschaulichung von Ibn Ḥazms Verhältnisbestimmung der Beziehung von Muslimen und Christen zu Gott einerseits und untereinander andererseits kann die Figur eines Dreiecks helfen. Dabei werden die Interaktionen zwischen Mensch und Gott in beiden Religionen je durch die beiden Seiten und die Interaktionen der Gläubigen im interreligiösen Kontakt durch die untere Seite des Dreiecks abgebildet. In der Logik Ibn Ḥazms müsste man folgern, die christliche Beziehung zu Gott sei fast gerissen, während das historisch sicher überlieferte Wunder der koranischen Offenbarung die feste Beziehung der Muslime zu Gott absichert. Die Vierzahl der Evangelien und die zeitliche Distanz von Geschehen und Niederschrift machen es ihm angesichts der muslimischen Grundwahrnehmung, die von der Einheit und direkten Übermittlung des einen Offenbarungsbuches ausgeht, leicht, Widersprüche im äußeren Wortlaut der Bibel als Verfälschungen zu deuten. Dies sind Verfälschungen im Offenbarungstext, die die Beziehung zu Gott gefährden, die bestand, als Jesus mit der Inğīl eine wahre Offenbarung Gottes empfing. Diese unterschiedlich starke Bindung der jeweiligen Gläubigen an Gott, die hier nur über ein besonderes Offenbarungsverständnis definiert wird, beeinflusst auch die Verbindungslinie an der unteren Seite des Dreiecks zwischen Muslimen und Christen. Diese Seite wird bei den Christen nicht mehr durch die Verbindung zu Gott gehalten und sackt daher im Verhältnis zu den Muslimen ab. Doch bleibt im Befund eines »allgemeinen Sumpfes der Verfälschungen«, wie sich Behloul ausdrückt,83 doch immerhin festzustellen, dass sich Ibn Ḥazm in einer Hinsicht immer noch auf die Bibel beruft. Das letzte Beispiel der Textanalyse, bei dem er die islamkonforme Aussage in seiner Bibelvorlage bestätigt gefunden hat, zeigt, dass ihm an der zentralen Stelle der Einschätzung von Jesus als Prophet noch an dem klassischen Bild einer Offenbarungs- und Bestätigungskontinuität in den Buchreligionen gelegen ist. Diese Stellung als Buchbesitzer sichert Christen und Juden einen Sta82 83

  Al-Kitāb al-ʿahd al-ğadīd. Dār al-Kitāb al-Muqaddas fi Šarq al-Awsaṭ ohne Ort und Jahr, S. 97.   Behloul (Anm. 22), S. 176.

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tus zwischen Muslimen und Ungläubigen. Doch wenn die Schriften der beiden Religionen trotz dieser einen wenn auch sehr wichtigen Bestätigung so scharf angegriffen werden, wie es oben dargestellt wurde, könnte man einen Angriff auf den Status der Buchbesitzer vermuten. Allerdings kann man mit Madigan davon ausgehen, dass Buch als Kitāb eher allgemein Zugang zum göttlichen Wissen und Einsicht in göttliche Weisheit bedeuten soll und nicht unbedingt Besitz eines göttlichen Buches.84 Demnach können Verfälschungen in Tora und Bibel thematisiert werden, ohne den Adressaten dieser Schriften die Auszeichnung zu nehmen, dass sie Empfänger prophetischer Botschaft waren. Man könnte sogar annehmen, dass der Verfälschungsvorwurf an Juden und Christen weniger den Unterschied zu den Ungläubigen verringern, sondern eher aufzeigen soll, warum diejenigen, die einen grundlegenden Zugang zum Wissen haben, am Ende doch nicht in dessen Vollbesitz sind. Die Muslime aber erscheinen dann als diejenigen, die sowohl den Zugang hatten als auch mit dem Koran über die korrekte innerweltliche Schrift verfügen und darauf auch politisch wieder bauen können, was Ibn Ḥazm sicher ein wichtiges Anliegen war. Damit sind die Gemeinsamkeiten der Buchbesitzer nach Ibn Ḥazm sicher generell niedriger zu veranschlagen als vor ihm, doch ist ihnen nicht jeder Boden entzogen. Die islamische Traditon einer Auswertung der Bibel endet nicht mit dem Verdikt Ibn Ḥazms, auch wenn es bis heute sehr einflussreich geblieben ist. Im 15. Jahrhundert sprach sich der Korankommentator al-Biqāʿī zum Beispiel dafür aus, Tora und Evangelien zur Koranauslegung zu nutzen und Saleh spricht sogar davon, dass niemand vor oder nach ihm die Bibel als Schrift in ähnlicher Weise geschätzt habe.85 Einer Deutung des Mittelalters als »monotheistischem Mittelalter« wie sie Borgolte vorgeschlagen hat,86 wird daher durch die hier vorgenommene Ibn Ḥazm Lektüre nicht widersprochen. Bei allen Differenzen über die Zuverlässigkeit der Schriften bleibt ein gemeinsamer monotheistischer Boden beider Religionen theologisch und historisch identifizierbar.

6. Schluss Ibn Ḥazms radikale Kritik an den Schriften der Andersgläubigen spitzt die muslimische Diskussion um Verfälschungen früherer Offenbarungen konsequent und systematisch zu. Aus der Fehlinterpretation des Textes wird die Vorstellung einer bewussten Verfälschung des Textes selbst. Seine Kritik an den Schriften der Juden und Chris Danial Madigan, The Quran’s Self-Image. Writing and Authority in Islam’s Scripture, Princeton 2001, S. 7. 85   Walid A. Saleh, In Defense of the Bible, Leiden, Boston 2008, S. 3. 86  Michael Borgolte, Christliche und muslimische Repräsentationen der Welt. Ein Versuch in transdisziplinärer Mediävistik, in: Angelika Neuwirth u. Günter Stock (Hgg.), Europa im Nahen Osten – Der Nahe Osten in Europa, Berlin 2010, S. 132. 84

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ten zerfällt dabei in einen historischen Teil, bei dem die Überlieferung der Aussagen in Zweifel gezogen wird und in einen textanalytischen Teil, in dem es ihm um den Aufweis unaufhebbarer logischer Widersprüche geht. Bei Ibn Ḥazms Äußerungen gegenüber Judentum und Christentum, die hier betrachtet worden sind, liegt sicher ein Deutungsmuster im oben eingeführten Sinne als gezieltes reflektierendes Erfassen der Phänomene vor. Es ist eine von bestimmten Grundannahmen her klar nachvollziehbare Judentums- und Christentumskritik. Die darin zentral enthaltene Verfälschungsannahme ist aber heute bei Muslimen ein gängiges Wahrnehmungsmuster, das ganz selbstverständlich auch auf andere Bibelstellen angewendet wird. Daher soll abschließend die Hypothese aufgestellt werden, dass bei Ibn Ḥazms Verfälschungsthese das Absinken eines Deutungsmusters zu einem Wahrnehmungsmuster beobachtet werden kann.87 Radikalere Kritik am Anderen hat es dabei wohlmöglich leichter, diesen Einfluss zu erlangen, denn wie eingangs gesagt, blickt die abendländische Geschichte auch auf eine längere Tradition der kritischen Islamdeutung zurück, die auch heute oft die unbewusste Wahrnehmung der Ereignisse prägt. Doch steht Ibn Ḥazms Deutung bei weitem nicht alleine im Hintergrund muslimischer Wahrnehmungsmuster des Christentums. Ein respektvoller Umgang mit Christen ist trotz des gemeinhin akzeptierten Verfälschungsvorwurfes für die allermeisten Muslime selbstverständlich. Dieser Respekt wird von muslimischer Seite oft unter dem Vorzeichen des gemeinsamen Transzendenzbezuges gläubiger Menschen und somit der Anerkennung des Vorrangs von Gottes Werk gegenüber Adams Beitrag gesehen.

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  Bleumer/Patzold (Anm. 3), S. 6–7.

Adams Beitrag

Heiligkeit als narratives Konstrukt: Die kommunikative Situation in ausgewählten Heiligenviten des englischen Mittelalters Eva von Contzen Writers of saints’ legends attempt to put into words the relationship of believers to God, a relationship that crystallises in the figure of the saint. Saints are meant to provide powerful examples for the audience, whether as positive models, as ideals to strive for, or as marked contrasts to one’s own life. The communicative situation of the genre is complex: on the level of the narration, the narrator addresses the audience to tell about an outstanding individual’s life and deeds. On the level of the narrative, the saints themselves not only address other characters but also transgress the narrative frame in addressing the extratextual audience. At the same time, God is always present in the background as implied auctor and religious foil. Drawing on various examples from English saints’ legends (and one Scottish example), the manifold uses of communication between the human sphere and the divine are discussed and problematised with respect to narrative, narration, and transgressions of established frames of narrative texts. The article is rounded off by a diagram that visualises the various possibilities of communication within and beyond medieval saints’ legends.

Im Prolog der Legende der Heiligen Anne, verfasst in der ersten Hälfte des fünfzehnten Jahrhunderts von Osbern Bokenham, einem Augustinermönch im Kloster Clare in Suffolk, findet sich folgende Passage: 65 Yet notforthan I wyl not blynne, For youre sake, my frende Denston Kateryne, Lyche as I can this story to begynne, If grace my penne vochesaf to illumyne. Preyth ye enterly that blyssed virgyne, 70 Whiche of Seynt Anne the dowter was, That she vouchesaf som beem lat shyne Upon me of hyr specyal grace, And that I may have leyser and spaas, Thorgh help of influence dyvyne, 75 To oure bothe confort and solace This legende begunne for to termyn, Or than Deth the threed untwyne Of oure fatal web, whiche is ryht thynne, And save us bothe from endles pyne, 80 And here us kepe from shame and synne.1

Ich möchte (trotzdem) nicht säumig sein, dir zuliebe, meine Freundin Katherine Denston, und so gut ich kann diese Geschichte anzufangen, wenn mir die Gnade gewährt wird, meine Feder zu erhellen. Bete mit ganzem Herzen zu der, die die Tochter der Heiligen Anne war, damit sie einen Lichtstrahl ihrer besonderen Gnade auf mich scheinen lasse, und damit ich die Möglichkeit und den Raum habe, durch göttliche Hilfe beeinflusst für unser beider Trost und Zuspruch diese Legende zu beginnen und zu beenden, bevor der Tod den Faden unseres Schicksalsnetzes auftrennt, das sehr dünn ist, damit wir beide vor endloser Qual sicher seien und hier vor Schande und Sünde bewahrt werden.2

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Bokenhams Worte sind nicht deshalb von Interesse, weil sie inhaltlich besonders auffällig oder ungewöhnlich wären; im Gegenteil, die Bitte des Autors um göttlichen Beistand ist ein typisches, sogar topisches Element in Prologen vor allem poetischer Heiligenlegenden.3 Aufschlussreich ist jedoch die kommunikative Situation der Passage, die beispielhaft die Komplexität von Sprecher und Adressaten in Heiligenviten illustriert. Das sprechende Ich im Textausschnitt ist auf textimmanenter Ebene konsequenterweise als Erzähler zu bezeichnen; trotz der poetischen Form des Textes (Strophen, Versmaß und ein elaboriertes Reimschema) handelt es sich nicht um einen lyrischen, sondern um einen narrativen Text. Der Erzähler wendet sich an seine Freundin Katherine Denston (V. 66). Durch diesen Zusatz wird offensichtlich, dass der Sprecher der Vita, der »Erzähler« auf der Diskursebene des Textes, realiter mit dem Verfasser Osbern Bokenham außerhalb der Textwelt in solchem Maße konvergiert, dass sie eins sind: Das »Ich« des Prologs kann mit Bokenham identifiziert werden, der die Auftraggeberin der Legende adressiert. Katherine Denston war die Tochter eines reichen Stoffhändlers und einflussreichen Stifters ihrer Heimatgemeinde; ihre Ehe mit John Denston, einem Landbesitzer und Beamten, brachte eine Tochter hervor, die nach der Heiligen Anne benannt war; daher der Auftrag an Katherines guten Freund, eine Vita über gerade diese Heilige zu verfassen. Bokenham bittet Katherine, bei der Jungfrau Maria, Annes Tochter, um göttlichen Beistand für ihn und sein Vorhaben zu beten und um zugleich sicherzustellen – ob durch seinen Text oder die Fürsprache Marias, bleibt ambivalent –, dass Katherine und der Mönch kein Fegefeuer zu fürchten brauchen und ein Leben ohne Schande und Sünde führen können. Es können mindestens drei Ebenen der Kommunikation in der kurzen Passage unterschieden werden: die Ebene der Erzählung, auf der der Erzähler zu verorten ist, der in diesem Falle mit der realen Welt außerhalb der Geschichte, also einer zweiten Ebene, konvergiert. Der Erzähler (= Bokenham) spricht zu seinem Erzähladressaten (= Katherine Denston). Mit der Bitte zum Gebet eröffnet sich eine dritte Ebene, die sowohl über die Diskursebene des Textes als auch den realen Kontext von Katherine und Bokenham hinausgeht: Die Kommunikation im Gebet impliziert das Gespräch mit einer göttlichen, d. h. übertextlichen und übermenschlichen Ebene. Alle drei Ebenen der Kommunikation sind zirkulär aufeinander bezogen: Der Erzähler Bokenham bittet durch Katherine um Marias heiligen Beistand für seine Erzählung; Katherine hat die Abfassung veranlasst und durch ihr Gebet legitimiert; die Heilige Anne als Mit12

  Text aus: Osbern Bokenham, Life of St. Anne, hrsg. v. Sherry L. Reames (Middle English Legends of Women Saints), Kalamazoo 2003, hier London, British Library MS Arundel 327, fol. 27r–39r. 2   Alle Übersetzungen aus dem Mittelenglischen sind die der Verfasserin. 3  Vgl. zur spätantiken und mittelalterlichen Tradition von hagiographischen Prologen Gerhard Strunk, Kunst und Glaube in der lateinischen Heiligenlegende. Zu ihrem Selbstverständnis in den Prologen, München 1970. 1

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glied der himmlischen Gemeinschaft steht im Mittelpunkt der Handlung und zugleich außerhalb des Textes durch ihre Heiligkeit und Rolle als Mutter Mariens. Dieses Beispiel verdeutlicht die komplizierte Verflechtung von »Gottes Werk und Adams Beitrag«, die in Heiligenlegenden besonders prominent ist: Heiligkeit ist ein Werk Gottes, das jedoch den Beitrag des heiligen Menschen einschließt. Die Erinnerung an Heilige als notwendige Grundlage zur Etablierung und Verbreitung ihrer Kulte wiederum setzt die hagiographische Tätigkeit voraus, die sich zwar auf göttliche Inspiration beruft, jedoch vor allem auf den Beitrag des menschlichen Autors angewiesen ist. Im Folgenden wird zunächst die kommunikative Situation in Heiligenlegenden anhand weiterer Beispiele englischer und schottischer Texte erläutert und schließlich ein mögliches Schema zur Veranschaulichung vorgestellt. Die vielfältige Verwendung von Heiligenlegenden und davon abhängige Unterschiede in ihrer Kommunikationssituation werden dabei ebenfalls thematisiert. Die Frage »Wer spricht zu wem?« in mittelalterlichen Heiligenlegenden ist vor allem deshalb so komplex, weil mindestens drei Sprechinstanzen miteinander zu einem Ganzen verwoben werden, die nicht immer scharf getrennt werden können und die Grenzen zwischen dem, was als Gottes Werk, und dem, was als menschlicher Beitrag bezeichnet werden kann, aufweichen. Die Rolle des Autors variiert dabei je nach Verwendungszweck einer Legende stark.4 Die auf die wichtigsten Handlungselemente reduzierten Heiligenlegenden aus Sammlungen wie der ›Legenda Aurea‹, die zur Lesung und Kontemplation im Gottesdienst oder bei Mahlzeiten in Klöstern und Konventen verlesen wurden, reduzieren den Einfluss der Erzählinstanz allein auf die Diegese der Handlung. Der Erzähler als Vermittler der erzählten Welt ist nicht als Entität greifbar; er präsentiert die Geschehnisse aus der vita oder passio einer oder eines Heiligen, ohne die Aufmerksamkeit auf sich selbst zu lenken. Seine Person und Persönlichkeit treten gänzlich hinter der Geschichte zurück. Ein kurzer Ausschnitt aus der Legende von Margaret aus der ›Gilte Legende‹, einer mittelenglischen Übersetzung der ›Legenda Aurea‹ aus dem Jahre 1438, verdeutlicht diese Zurücknahme der Erzähl­instanz: Here endithe the lyff of Seint Theodore, and nexst foluithe the blessed lyff of Seint Marga­ rete, Capitulum. iiijXX. vij. Seint Margarete was of the citee of Antioch, doughter of Theodosien a painime patriark, and she was deliuered to a norise, and whanne

Hier endet das Leben der Hl. Theodora, und als nächstes folgt das gesegnete Leben der Hl. Margarete, Kap. 87. Die Hl. Margarete war die Tochter von Theodosius, eines heidnischen Patriarchen aus Antiochia, und sie wurde einer Erzieherin übergeben, und als sie

4  Siehe zu einer umfassenden Studie über Heiligenlegenden im englischen Mittelalter und ihren jeweiligen Verwendungszwecken Theodor Wolpers, Die Englische Heiligenlegende des Mittelalters. Eine Formgeschichte des Legendenerzählens von der spätantiken lateinischen Tradition bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts, Tübingen 1964.

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she come to a perfite age she was baptised, and alt genug war, wurde sie getauft und war deshalb therfor she was gretly hated of her fader.5

ihrem Vater sehr verhasst [...].

An keiner Stelle verlässt der Erzähler die Ebene der Geschichte; im alleinigen Fokus stehen Margaret, ihre Auseinandersetzung mit dem Richter und ihr Tod. In Heiligenlegenden dieses Typus ist die kommunikative Situation unkompliziert, da nur die Charaktere auf der Handlungsebene im Dialog stehen, der Erzähler sich jedoch (fast) nie an sein Erzählpublikum bzw. der Autor oder Übersetzer sich nie an sein reales Publikum wendet. Die Geschichte der jeweiligen Heiligen für sich sprechen zu lassen, hat zwar einerseits den Vorteil, den Lesern und Zuhörern freien Raum zur Rezeption und Meditation zu ermöglichen, andererseits zugleich aber auch den Nachteil, dass das Publikum möglicherweise die Legende nicht in der »richtigen«, vom Verfasser intendierten Weise deutet oder deuten kann. Dieser Schritt vollzieht sich erst außerhalb des Textes und über ihn hinaus, wenn der Priester während des Wortgottesdienstes die Tageslegende erklärt oder in seiner Predigt als Exempel verwendet. Als Teil der Liturgie und damit als Teil des christlichen Kultus wird der hagiographische Text zum Instrument der christlichen Propaganda und Exemplifizierung, wobei der Text selbst erst außerhalb seiner Textlichkeit zum Kommunikationsobjekt wird. Obgleich dies ebenfalls ein faszinierendes Thema ist, werden wir uns im Folgenden auf die innertextliche Kommunikationssituationen beschränken, und aus dieser Perspektive sind Heiligenleben aus Kompilationen zum öffentlichen Gebrauch in Kirche und Kloster, wie die ›Gilte Legende‹, aber auch Caxtons ›Golden Legend‹ (allerdings mit Ausnahme des Prologs) größtenteils wenig ergiebig.5 Bei Auftragsarbeiten von wohlhabenden Familien oder Privatpersonen ist die kommunikative Situation deutlich komplexer. Da Auftraggeber und Verfasser der Heiligenlegende zumeist in direktem Kontakt standen und der Autor sehr genau wusste, für wen und zu welchem unmittelbaren Gebrauch die Legende in Auftrag gegeben wurde (private Lektüre, Erziehung der jungen Töchter, als Ehrentext für eine bestimmte Feierlichkeit wie Taufe, Einweihung eines Gilde-Hauses oder Thronbesteigung des nächsten Königs), kann der Autor sich selbst, seinen Auftrag sowie seine/n Auftraggeber direkt in die Legende einbeziehen. Das Wort ›Autor‹ suggeriert dabei fälschlicherweise, dass der Verfasser der Legende auch die auctoritas seines Werkes innehat. Da der Stoff der Heiligenlegenden jedoch Teil der christlichen Tradition ist und die Heiligen von Gott selbst autorisiert wurden, liegt die Urheberschaft einer jeden Legende nicht bei dem Menschen, der sie aufschreibt, umschreibt oder einem neuen Zweck zuführt, sondern bei Gott: »God, who had guaranteed the superlative auctori­ tas of Scripture, was the auctor of all created things as well as an auctor of words. He 5   Text aus: Gilte Legende, hrsg. v. Richard Hamer (Early English Text Society 327), Bd. 1, Oxford, New York 2006, Kap. 87.

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could deploy words by inspiring human authors to write and deploy things through his creative and providential powers.«6 Die göttliche auctoritas ist jedoch auf die Vermittlung der Menschen angewiesen – Gott ist zwar auctor, aber nicht Autor –, und dieser Zwischen-Rolle sind sich Dichter wie Bokenham in der eingangs genannten Passage durchaus bewusst. Der Hagiograph an der Schnittstelle von Heiligkeit und Literatur zeigt sich besonders eindringlich bei dem Benediktinermönch John Lydgate (1370–ca. 1450), der eine Generation nach Chaucer zahlreiche Heiligenleben, zumeist Auftragsarbeiten, verfasste. Ein Beispiel ist das ›Life of St Edmund‹, das Lydgate zu Ehren des zwölfjährigen König Heinrich VI. anlässlich seines Besuchs der Benediktinerabtei Bury St Edmunds an Weihnachten 1434 schreiben durfte. Im Prolog verwendet Lydgate den Bescheidenheitstopos; er sei es nicht wert und nicht fähig, eine solch große Aufgabe zu übernehmen, und seine dichterischen Fähigkeiten seien bescheiden. Die folgende Aussage ist aufschlussreich:7 In rethorik thouh that I have no flour Nor no coloures, his story tenlumyne, 90 I dar not calle to Clio for socour Nor to tho muses that been in noumbre nyne, But to this martir, his grace to encylne, To forthre my penne of that I wolde write His glorious lif to translate and endite.7

Ich besitze weder die Blüten der Rhetorik noch bunte Farben, um seine [= Edmunds] Geschichte zu verschönern; ich wage es nicht, Clio um Hilfe zu bitten noch die Musen, neun an der Zahl, sondern (ich bitte) diesen Märtyrer, seine Gnade hinabzuneigen, um meinen Stift zum Schreiben anzutreiben, sein glorreiches Leben zu übersetzen und zu verfassen.

Der Dichter »wagt es nicht«, die Musen anzurufen (I dar not calle...), sondern wendet sich an den Märtyrer. Seine angeblichen geringen Fähigkeiten verbieten ihm, die Musen, insbesondere Clio, als Inspirationsquelle zu nutzen; deshalb bittet er Edmund. Die vorchristlich-traditionellen Prologelemente und die Bitte um den gnadenvollen Beistand des Heiligen, der an die Stelle der Musen rückt, stehen explizit nebeneinander, wobei die demütige Absage an die Musen nicht etwa aus Pietät oder dem Glauben an die größere Macht des Heiligen geschieht, sondern scheinbar aus Verlegenheit: Weil seine Fähigkeiten zu gering sind, sind sie eines Musenanrufs nicht wert: Der Heilige wird zum Lückenfüller; wenn schon nicht die Musen, dann wenigstens Edmunds Gnade, die Lydgates Stift leitet. Aber Lydgate wertet die Hagiographie dadurch nicht ab, sondern definiert vielmehr sein Vorhaben: Indem er den Musen eine Absage erteilt und Edmunds Inspiration erbittet, zieht er poetologisch eine Grenze zwischen 6  Alistair J. Minnis, Medieval Theory of Authorship. Scholastic Literary Attitudes in the Later Middle Ages, London 1984, S. 36. 7   Text aus: John Lydgate’s Lives of Ss Edmund & Fremund and the Extra Miracles of St Edmund, hrsg. v. Anthony Bale u. Anthony S. G. Edwards (Edited from British Library MS Harley 2278 and Bodleian Library MS Ashmole 46), Heidelberg 2009.

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der hohen Dichtkunst und seinen bescheidenen Versuchen als Hagiograph. Clio, die Muse der Geschichtsschreibung, kann der Hagiographie nicht nutzen, da die beiden Gattungen inkompatibel sind: Die Hagiographie basiert auf einem heilsgeschichtlichen Verständnis der Welt, für die deshalb ein Wahrheitsanspruch besteht, der der Geschichtsschreibung zwar nicht widerspricht, »Geschichte« aber ideologisch färbt und aus christlicher Ideologie neu interpretiert. An Clios objektive historische Weisung tritt die Subjektivität des Heiligen, auf dessen Beistand Lydgate als einfacher Mönch vertraut. Die Heiligkeit des Protagonisten, die zentrales Thema und zugleich Voraussetzung für die Abfassung des Textes ist, ermöglicht es dem Autor, Edmund sowohl zum Inhaltsobjekt als auch zum Adressaten zu machen. Edmund ist innerhalb und außerhalb der Geschichte, Teil der innertextuellen wie der extratextuellen Welt. Der Heilige ist zwar Mit-Adressat seiner eigenen Legende, aber keinesfalls der primäre Adressat. Zentrales Publikum ist die christliche Gemeinde, hier besonders die Gemeinschaft von Bury St Edmunds beim Besuch des jungen Königs. Da jedoch der Heilige als Teil der christlichen Welt, die aus christlicher Perspektive die einzig wahre und reale ist, dem christlichen Publikum im weiteren Sinne angehört, und der hagiographische Text neben den primären Funktionen der Erbauung, Exemplifizierung oder Didaxe immer auch Preisung und Ehrerbietung Gottes durch den Heiligen ist, ist der Heilige sekundärer Adressat des Textes über seine Person. Das Ende der Legende von Edmund ist ungewöhnlich und verdient eine kurze Erwähnung, weil Lydgate hier neben der sekundären göttlichen Ebene des Heiligen und dem primären Adressatenkreis im Nachwort eine weitere Apostrophe einfügt; als Widmung handelt es sich allerdings um einen kommunikativen Sonderfall:8 Lenvoye. Go, litel book! be ferfful, quaak for drede For tappere in so hyh presence! To alle folk that the shal seen or reede, Submytte thy-sylff with humble reverence [...] (Finis Libri) REGI. Sovereyn lord, plese to your godly-heed And to your gracious Royal magnyficence To take this tretys, which a-twen hope and dreed Presentyd ys to your hyh excellence!8

8

  Text aus: Bale/Edwards (Anm. 7).

Nachwort. Geh, kleines Buch! Sei furchtsam, zittere vor Angst, weil du dich in so hoher Gegenwart aufhältst! An das ganze Volk, das dich sehen oder lesen wird, unterwirf dich mit demütiger Ehrfurcht [...]. (Buchende) Dem König. Königlicher Herr, erfreue dein göttliches Haupt und deine gnädige königliche Herrlichkeit daran, dieses Buch zu nehmen, das zwischen Hoffnung und Furcht deiner Exzellenz überreicht wird.

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Das Buch, d. h. der Text selbst, wird personifiziert und als Träger des Inhalts und als Geschenk dem König überreicht, wie die die Übergabe begleitenden Worte an den König bezeugen. Die Legende ist ein Apophoreton geworden, dessen Geschichte des königlichen Heiligen aus England zum Anlass genommen wird, den herrschenden König Englands zu feiern und künftig seines Besuchs in Bury St Edmunds zu gedenken. Nicht nur ist Lydgates Version des Heiligen Edmunds untrennbar mit dessen heiliger Inspiration verbunden, sondern die Geschichte erfüllt in ihrem unmittelbaren historischen Kontext eine feste kommemorative Funktion, die eine politische Aussage macht, indem der neue König mit einem herausragenden alten Monarchen in Beziehung gesetzt wird, deren Verbindung im Moment des Besuchs von Heinrich VI. in Bury St Edmunds historisch, motivisch und geographisch zusammenfallen. Der Adressat von mittelalterlichen Heiligenlegenden kann demnach nicht nur das tatsächliche oder intendierte christliche Publikum oder der Heilige bzw. Gott sein, sondern paradoxerweise auch der Text selbst. Ein weiterer Sonderfall der kommunikativen Situation in Heiligenlegenden, der die Dialektik des hagiographischen Inhalts als »Du« auf die Spitze treibt, ist Lydgates Legende des Heiligen Giles (dt. Aegidius). Dort erzählt der Dichter den größten Teil der Geschichte (V. 43–328) konsequent in der zweiten Person als Anrede an den Heiligen selbst: »the writer prays to St. Giles and remembers his life as a strategy of meditation apparently not primarily in order to tell St. Giles’s story for the reader’s entertainment or information«.9 Der sekundäre Adressat nimmt die Stelle des primären ein, so dass das christliche Publikum zum Beobachter eines Monologs des Erzählers an Giles wird, wie in dieser Passage über Giles’ Rückzug in die Wüste: 85 Toward desert thy Journe thu dist dresse; With coold watir and herbys rauh and greene Complet thre yeer, thy stoory berith witnesse, Laddist thy liff, of colour pale and leene. God of his grace had upon the mynde: 90 Lyst ordeyne, for a restoratyff. To thy repaast whit as snowh an hynde With plenteuous mylk, to fostre therby thy liff. Myd sharpe breerys, thu were contemplatyff, Thy body peyned with rigerous contynence. 95 Ageyn Sathan of custom was thy striff. Dauntyng thy flessh by vertuous abstinence, Thy foode was nouthir on fleesh nor fissh, Sool by thy-silff in a desert place, Other deyntees cam noon in thy dissh,

Deine Reise führte dich in die Wüste; mit kaltem Wasser und rauen Gräsern hast du drei ganze Jahre verbracht, wie deine Geschichte bezeugt, mit bleichem Gesicht und dünn. Durch Gottes Gnade hattest du Nahrung, um dich zu versorgen; zu deinem Unterhalt (gab er dir) ein schneeweißes Reh mit reichlich Milch, um dich am Leben zu erhalten. In scharfen Dornen hast du meditiert, deinem Körper durch harte Selbstkontrolle Schmerz zugefügt. Gegen Satan hast du immer gekämpft. Du hast deinen Körper durch tugendhafte Enthaltsamkeit abgehärtet, und deine Nahrung war weder Fleisch noch Fisch, ganz allein an dem verlassenen Ort. Andere Leckerbissen kamen nicht auf deinen Teller außer Früchte

9  Monika Fludernik, Introduction: Second-Person Narrative and Related Issues, in: Style 28/3 (1994), S. 283–311, hier S. 296.

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und Wurzeln, die du aus Ingwer holtest. Wilde 100 But frute and rootis, which thu dist up race, Tiere freuten sich dein Gesicht zu sehen; inmit Beestys reioisshyng to looke upon thy face; Moong sharp busshys keptist thy hermitage.10 ten der starren Büsche war deine Eremitage.

Diese Verkehrung der beiden Adressaten des Heiligenlebens ist jedoch eine Ausnahme, die in diesem Falle möglicherweise damit begründet werden kann, dass der Autor ganz bewusst für die persönliche Lektüre und daher in der Form eines erzählenden Gebets schreibt. Die große Mehrheit der individuell, d. h. außerhalb einer Sammlung, verfassten Heiligenlegenden Englands des vierzehnten und fünfzehnten Jahrhunderts wenden sich explizit an das jeweilige intendierte Erzählpublikum. In den beiden folgenden Beispielen aus dem Auchinleck-Manuskript (National Library of Scotland Advocate MS 19. 2. 1), das in den 1330er entstanden ist, wird das Publikum direkt angesprochen:101112 4

He þat made heven & erþe & sonne & mone for to shine, Bring ous into his riche & scheld ous fram helle pine! 5 Herken, & y ȝou wil telle þe liif of an holy virgine, þat treuli trowed in Jhesu Crist: Her name was hoten Katerine.12



Al þat ben in dedly sinne | and þenk wiþ merci to mete, Leue in Crist þat ȝaue you witt | your sinnes forto bete. Listen, and ȝe shul here telle | wiþ wordes fair and swete þe vie of on maiden, | men clepeþ seyn Mergre(te).11

Alle, die in Todsünde waren und darauf hoffen, Gnade zu bekommen, lebt in Christus, der euch seinen Geist gab, um euch von euren Sünden zu befreien. Hört zu und ich werde euch hier mit schönen und süßen Worten die Vita eines Mädchens erzählen, das man Margaret nennt.

Er, der Himmel und Erde und Sonne und Mond erschaffen hat, damit sie scheinen, bringe uns in sein Reich und bewahre uns vor den Qualen der Hölle! Hört her, und ich werde euch das Leben einer heiligen Jungfrau erzählen, die wahrhaftig an Jesus Christus glaubte: Ihr Name war Katherine.

In beiden Legenden (Margaret und Katherine) wird die Zuhörerschaft im Imperativ aufgefordert, der jeweiligen Vita Aufmerksamkeit zu schenken: listen (Margaret, V. 3) bzw. herken (Katherine, V. 5). Der unmittelbare Beginn der beiden Legenden divergiert: Bei Margaret appelliert der Erzähler an die Sündhaftigkeit seines Adressa  Text aus: Carl Horstmann (Hg.), Altenglische Legenden. Neue Folge, Heilbronn 1881, hier British Library, Harley 2255; vgl. auch John Lydgate, The Legend of St. Gyle, in: The Minor Poems of John Lydgate. Part I, hrsg. v. Henry Noble MacCracken (Early English Text Society 107), London 1962, S. 161–173 11   Text aus: Horstmann (Anm. 10), hier Auchinleck MS, fol. 16f. 12   Text aus: Horstmann (Anm. 10), hier Auchinleck MS, fol. 31. 10

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tenkreises; in Gott können sie darauf hoffen, von ihren Sünden befreit zu werden. Bei Katherine wendet sich der Erzähler an Gott und bittet um die Aufnahme in das Himmelreich statt den Qualen der Hölle. Letzterer Beginn ist einem Gebet nicht unähnlich; wie ein Priester, der Gottes Beistand anruft, steht auch zu Beginn der Legende der Heiligen Katherine eine invocatio dei. Das Pronomen ous (»uns«) ist dabei inklusiv; der Sprecher schließt sich selbst mit ein. Wie sein Publikum erwartet auch er das Reich Gottes und stellt sich, seinen Text und seine Zuhörer bzw. Leser in Opposition und Relation zu Gott, auf dessen Rettung sie angewiesen sind. Ein besonders kontextbezogener Anfang findet sich in der Vita des Christopherus aus dem Lincoln-Thornton-Manuskript (Lincoln Cathedral MS. 91), das Robert Thornton, ein Landbesitzer aus East Newton nahe Pickering in Yorkshire, für den privaten Nutzen seiner Familie zusammenstellte; die Sammlung wird auf das zweite Viertel des fünfzehnten Jahrhunderts datiert.13 Die Legende von Christopherus beginnt wie folgt:14 5

Lordynges, if fit be ȝowre will, And ȝe will here & holde ȝow still And take ȝow tome a while þertill, A nobill storye I sall ȝow tell, And als trew it es als any steylle.14

Lordschaften, wenn es euch gefällt, und wenn ihr zuhört und still seid und euch für eine Weile die Zeit nehmt, werde ich euch eine edle Geschichte erzählen, und auch eine tatsächlich wahre.

Hier fehlt jegliche Anrufung an oder Wendung zu Gott oder dem Heiligen; das Publikum steht im Mittelpunkt, für das die Legende erzählt wird. Auffällig ist, dass der Erzähler den Wahrheitsgehalt der Geschichte betont; damit grenzt er die hagiographische Erzählung von anderen, fiktiven Geschichten wie den romances ab und weckt das Interesse des Publikums nicht nur mit dem Hinweis, dass die folgende Erzählung nobill (V. 4), sondern zudem auch noch wahr (trew; V. 5) ist. Intratextuell wendet sich der Erzähler an sein Erzählpublikum, dem in der extratextuellen Welt die tatsächliche Zuhörer- oder Leserschaft entspricht. Das Werben um das Publikum verweist hier sehr plastisch auf einen mündlichen Vortrag, insbesondere die Aufforderungen, still zu sein und sich die Zeit zum Zuhören zu nehmen.15 13   Vgl. George R. Keiser, Lincoln Cathedral Library MS. 91: Life and Milieu of the Scribe, in: Studies in Bibliography 32 (1979), S. 158–179; ders., More Light on the Life and Milieu of Robert Thornton, in: Studies in Bibliography 36 (1983), S. 111–119. Siehe außerdem Ralph Hanna, III., The Growth of Robert Thornton’s Books, in: Studies in Bibliography 40 (1987), S. 51–62 sowie besonders Derek S. Brewer u. Arthur Ernest Bion Owen, The Thornton Manuscript (Lincoln Cathedral MS. 91), London 1975. 14   Text aus: Horstmann (Anm. 10), 15   Robert Thorntons Publikum bestand vermutlich größtenteils aus »members of the landed gentry, who also held public offices in the provinces. It may in addition have comprised the country clergy and substantial landowners, who, like Chaucer’s Franklin, sought to emulate the chivalric lifestyle« (Jutta

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Mit dem Aufkommen des Buchdrucks in England stiegen zum Ende des fünfzehnten Jahrhunderts nicht nur die Publikations- und Verbreitungsmöglichkeiten, sondern auch die Einflussnahme des Verfassers bzw. Übersetzers eines Textes. So ist zu erklären, dass William Caxton, als er 1483 seine englische Übersetzung der ›Legenda Aurea‹ drucken lässt, einen Prolog hinzufügt, der in einen impliziten Dialog mit möglichen Kritikern an seiner Übersetzung tritt. I have submised myself to translate into Eng­ lish the legend of saints which is called Leg­ enda Aurea in Latin, that is to say the Golden Legend. For in like wise as gold is most no­ ble above all other metals, in like wise is this Legend holden most noble above all other works. Against me, here might some per­ sons say that, this legend hath been trans­ lated tofore, and truth it is. But forasmuch as I had by me a legend in French, another in Latin, and the third in English, which var­ ied in many and divers places, and also many histories were comprised in the other two books which were not in the English book, and therefore I have written one out of the said three books, which I have ordered oth­ erwise than the said English legend is, which was before made, beseeching all them that shall see or hear it read, to pardon me where I have erred or made fault, which, if any be, is of ignorance and against my will, and sub­ mit it wholly of such as can and may, to cor­ rect it, humbly beseeching them so to do, and in so doing they shall deserve a singular laud and merit, and I shall pray for them unto Al­ mighty God, that he of his benign grace re­ ward them, etc., and that it profit to all them that shall read or hear it read, and may in­ crease in them virtue, and expel vice and sin, that by the example of the holy saints they amend their living here in this short life, that by their merits they and I may come to ever­ lasting life and bliss in heaven. Amen.

Ich habe mir auferlegt die Legende der Heiligen, die im Lateinischen Legenda Aurea genannt wird, also die Goldene Legende, ins Englische zu übersetzen. Denn wie Gold das edelste aller Metalle ist, so ist diese Legende die nobelste von allen. Einige Personen könnten hier vielleicht entgegnen, dass diese Legende bereits vorher übersetzt wurde, und das ist wahr. Aber weil ich eine Legende auf Französisch, eine andere auf Latein, und eine dritte auf Englisch vorliegen hatte, die an vielen Stellen voneinander abwichen, und weil die beiden erstgenannten Bücher auch viele Geschichten enthielten, die in dem englischen Text fehlten, habe ich ein einziges aus diesen drei Werken gemacht, das ich anders angeordnet habe als die genannte englische Legende, die schon vorher verfasst wurde. Ich flehe alle, die (mein Buch) lesen oder es hören, an, mir zu verzeihen, wo ich Fehler gemacht habe, die, wenn überhaupt, aus Unwissen gemacht wurden und entgegen meinem Willen, und ich überlasse es gänzlich denen, die es können und wollen, diese zu korrigieren, ich bitte sie demütig, dies zu tun, und durch ihre Arbeit sollen sie sich auf herausragende Weise Lob und Anerkennung verdienen, und ich werde für sie beten bei Gott dem Allmächtigen, dass er sie in seiner gütigen Gnade belohne, und dass alle davon profitieren, die (das Buch) lesen oder es hören, und es möge ihre Tugendhaftigkeit steigern und Laster und Sünde vertreiben, dass durch das Beispiel der Heiligen ihr kurzes Leben hier verbessert wird, damit durch deren Verdienste sowohl sie als auch ich das ewige Leben und Glückseligkeit im Himmel erlangen. Amen.

Wurster, The Audience, in: Karl Heinz Göller [Hg.], The Alliterative Morte Arthure. A Reassessment of the Poem, Cambridge 1981, S. 44–56, hier S. 52).

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Caxton nimmt mögliche Kritik, er habe nur schon existente Übersetzungen verwendet, vorweg, und erklärt, dass er drei Quellen vorliegen und diese zu einem neuen Ganzen übersetzt bzw. verwendet habe, wobei seine neue englische Fassung die Fehler einer alten Übersetzung ausbessert. Er entschuldigt sich für mögliche Fehler und ermutigt seine Leser, falls sie Fehler finden, diese zu korrigieren, damit das gesamte Publikum von den Verbesserungen profitieren könne. Caxton verspricht zwar, für die Mühe derjenigen, die sein Werk verbessern, zu beten, betet aber selbst nicht direkt zu Gott oder einem/r Heiligen. Die Arbeit des Übersetzers wird klar von dem Inhalt der Übersetzungen, den Heiligenviten, getrennt. Die Heiligen können zwar christliche Vorbilder sein (vgl. das Ende des Prologs), stehen aber weder in unmittelbarem Bezug zu der Abfassung der Übersetzung noch sind sie als sekundäre Adressaten präsent. Die Interdependenz von intra- und extratextuellen Adressaten des kommunikativen Modells in Heiligenlegenden findet sich in leichter Abwandlung, aber mit ähnlicher Problematik auch auf der Ebene der Erzählung. In der Legende der Heiligen Margaret wendet sich die junge Frau kurz vor ihrer Hinrichtung mit folgenden Worten an Gott (Version von Lydgate, entstanden zwischen 1415–1426):16

“And Lorde,” quod she, “to alle be socoure That for thi sake done to me honoure.

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“And specyally to thee I beseche To alle wymmen whiche of childe travayle, For my sake, oo Lorde, be thou her leche; Lat my prayere unto hem availe. Suffre no myschief tho wymmen, Lorde, assaile, That calle to me for helpe in theire grevaunce, But for my sake save hem fro myschaunce.

470 475

“Lat hem, Lorde, not perisshe in theire childynge; Be thou her comforte and consolacyoun, To be delivered thurgh grace of thyn helpynge; Socoure hem, Lorde, in theire tribulacyoun. This is my praier, this is myn orisoun, And specially do alle folkes grace That calle to me for helpe in any place!”16

»Gott«, sagte sie, »hilf allen, die mich um deinetwillen verehren. Und besonders flehe ich dich an, dass du um meinetwillen, o Herr, für alle Frauen, die in Wehen liegen, ihre Stütze bist; lass mein Gebet für sie da sein. Die Frauen, Herr, die mich um Hilfe bitten in ihrer Angst, möge kein Unheil plagen, sondern errette sie um meinetwillen von ihrem Unheil. Lass sie, Herr, nicht sterben während der Geburt; sei du ihr Trost und Zuspruch, damit sie durch die Gnade deiner Hilfe gebären können; hilf ihnen, Herr, in ihren Schmerzen. Dies ist mein Gebet, dies ist meine Bitte, und besonders sei dem ganzen Volk gnädig, das wo auch immer mich zur Hilfe ruft.«

Margaret bittet also darum, von Gott als Schutzpatronin der Schwangeren eingesetzt zu werden. Auf der Ebene der Erzählung wendet sich Margaret an Gott, der ebenfalls Teil der erzählten Welt ist. Zugleich ist »Gott« jedoch auch »der« Gott; deiktisch denotiert das Wort in der Geschichte die trinitarische Vorstellung außerhalb des Textes und 16   Text aus: John Lydgate, The Lyfe of Seynt Margarete, hrsg. v. Sherry L. Reames (Anm. 1), hier Durham University Library MS Cosin V. II. 14, fol. 97v–106r.

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verbindet damit überzeitlich und metareferentiell die Glaubensvorstellung des mittelalterlichen Lesers und Zuhörers mit der Welt in der Geschichte. Der Bezug zur Realität der Zuhörerschaft Lydgates geht sogar noch einen Schritt weiter: Indem Margaret selbst ihren Status als Schutzpatronin initiiert, ist sie die Urheberin ihres eigenen Aitions. Sie legt die Grundlagen zu ihrer Verehrung und setzt sich vor ihrem Tod über ihre eigene Zeitlichkeit hinweg. Die direkte Rede Margarets an Gott ist ein rhetorisch geschickter Kunstgriff: Ohne dass Gott überhaupt antworten muss, fühlt sich die Leserin/Zuhörerin selbst direkt angesprochen. Margaret geht zwar den (notwendigen) Umweg über Gott; de facto fordert sie aber Frauen direkt auf, zu ihr zu beten und sie in Geburtsschmerzen anzurufen. Dies ist effektive Eigenwerbung, strategisch günstig platziert. Dennoch ist der Inhalt ihrer Bitte nicht mehr als die Aufforderung zu weiteren Gebeten; die Erfüllbarkeit ihrer Anrufung ist nicht Teil ihres Versprechens: »the prayer to others that they may pray [...] suggests the inability of prayer or plea to produce anything other than further acts of prayer or pleading.«17 Dieselbe Strategie findet sich auch in der Legende des Heiligen Blasius aus der ›Schottischen Legendensammlung‹ (›Scottish Legendary‹; verfasst um 1400 in Schottland). Nachdem Blasius sich wiederholt weigert, trotz schlimmster Folterungen den heidnischen Göttern zu opfern, ordnet der Richter seine Enthauptung an. Blasius betet ein letztes Mal: 345 350 355

“lord Ihesu, fore þi gret powste my bowne, I pray, þu grant to me þat, quha-sa-euire in þare throt seknes has, awne ore mot, ore ony kyne perplexite, ore ony vthyre Infyrmyte, or ȝet at me succure wil seke þare bodely gudis fore til eke, & menskis me with ȝare offerand, with candel or mes, ore prayand – lord Ihesu, fore þi mykil blyse, at myn request grant þam þis, þat gud & goldinck þai ma haf with hele, gyf þai þare-eftir crafe.” a woice of hewine þan, erand al,

»Herr

Jesus, ich bete zu dir, gewähre mir durch deine große Macht meine Bitte, wer auch immer eine Krankheit in seinem Hals hat, einen Krümel oder ein Stücken Essen oder irgendeine Art Unwohlsein oder irgendeine andere Schwäche oder mich um Hilfe bittet, seinem Körper zu helfen, mit einer Kerze oder einer Messe oder durch ein Gebet – Herr Jesus, gewähre ihnen deinen milden Segen auf mein Ersuchen, damit sie Reichtum und Gold (?) haben mit ihrer Gesundheit, wenn sie danach streben.« Daraufhin erklang eine liebliche Stimme aus dem Himmel, die alles gehört hatte, und sprach zu Blasius: »Du bist Gott so lieb, dass er dir dein Gebet erhört hat, und er wird denen, die dich anrufen, noch viel mehr gewähren.«

17  Margaret Bridges, Narrative-Engendering and Narrative-Inhibiting Functions of Prayer in Late Middle English, in: Piero Boitani und Anna Torti (Hgg.), Religion in the Poetry and Drama of the Late Middle Ages in England, Cambridge 1990, S. 67–82, hier S. 81.

Heiligkeit als narratives Konstrukt

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on sancte blase swetly can cal, sayand: “to god þu art sa dere, þat he has tyd þe þi prayere, & ȝet wele mare sal gyf al þai þat of þe mencione wil ma.”18

Was für Margaret die Schwangeren sind, sind für Blasius alle, die von Schmerzen oder Problemen in ihrem Hals geplagt werden. Als einer der vierzehn Nothelfer und Urheber des Blasius-Segens initiiert auch seine Legende aitiologisch einen wichtigen Aspekt der christlichen Fürsprache und des Kultes. Der Inhalt von Blasius’ Gebet und die Stimme aus dem Himmel sind für den Verlauf der Legende nur bedingt handlungstragend; sein Märtyrertod ist besiegelt, und dass er bis zuletzt Gott treu bleibt und diese Treue in seinen letzten Worten ausdrückt, ist ein Topos in der Gattung der pas­ siones. Wie bei Margaret ist Blasius’ Bitte exophorisch, d. h. sie weist über den Referenzrahmen des Textes hinaus auf die Gegenwart des mittelalterlichen Publikums, sogar bis in unsere Zeit, in der der Blasiussegen noch immer Bestandteil der liturgischen Praxis in der katholischen Kirche ist. Auch bei Margaret und Blasius kann man von einem primären und sekundären Adressatenkreis sprechen: Der primäre Adressat ist Gott bzw. Jesus, den die beiden Heiligen im Gebet ersuchen. Sekundäre Adressaten sind die Mitglieder der christlichen Gemeinde, sowohl innerhalb der Geschichte als auch außerhalb im unmittelbaren Publikum der Lektüre, für die Margaret und Blasius als Schutzpatrone eingesetzt werden wollen und werden. Von Gott legitimiert legen Margaret und Blasius die Grundlagen ihrer Verehrung und ihres Kultes.18 Wer spricht nun zu wem in mittelalterlichen Heiligenlegenden? Anhand der ausgewählten Beispiele aus England und Schottland konnten folgende Ebenen der Kommunikation und damit einhergehend folgende Gesprächssituationen unterschieden werden: 1

Ebene der Handlung

– Figur spricht mit Figur(en) – Figur spricht zum Lesepublikum – Figur spricht zu Gott/Gott zu Figur

2

Ebene der Erzählung

– Erzähler spricht zu Erzähladressaten – Erzähler spricht zu Gott – (Erzähler apostrophiert Text oder Figur)

3

Außertextliche Ebene (kann mit 2 überlappen oder identisch sein, je nach Grad der Identifikation von Erzähler und Autor)

– Autor spricht zum Adressatenkreis – Autor spricht zu Gott

18   Text aus: Legends of the Saints in the Scottish Dialect of the Fourteenth Century, hrsg. v. William M. Metcalfe (Scottish Text Society 1st series, 13, 18, 23), 3 Bde, Edinburgh 1896, hier Bd. 1, Leg. XX.

126 4 Übertextliche und überweltliche Ebene des christlichen Kosmos

Eva von Contzen – Gott und Gemeinschaft der Heiligen als Ausgangspunkt und Endpunkt der Handlung und Erzählung; im Hintergrund stets präsente Folie

Diese vier Ebenen mit ihren möglichen kommunikativen Richtungen und Inhalten sind permeabel. Im Gegensatz zu einer in sich geschlossenen fiktionalen Erzählung, in der die erzählte Welt nicht von der realen durchbrochen wird, ist die Kommunikation in Heiligenlegenden über die Ebenen hinweg durchlässig. Gott steht innerhalb des Textes auf jeder Ebene so wie er außertextlich stets präsent und – das ist nach christlicher Vorstellung die Voraussetzung – immer derselbe ist. Gott als Figur entspricht referentiell ›dem‹ Gott des christlichen Glaubens. Primäre und sekundäre Adressaten können über ihre jeweiligen Ebenen hinaus angesprochen werden, d. h. der oder die Heilige kann sich an den Adressatenkreis der christlichen Gemeinde wenden und an die Figuren innerhalb der Handlung. Das Kreisdiagramm »Ebenen der Kommunikation in Heiligenlegenden« macht die Interdependenz der Ebenen anschaulich (Abb. 1).

Abb. 1: Ebenen der Kommunikation in Heiligenlegenden.

Heiligkeit als narratives Konstrukt

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Jede Heiligenlegende, unabhängig von ihrem praktischen Gebrauch, sei es zur privaten Lektüre, zur geistigen Erbauung in der Gemeinde oder als Widmungstext zur Feier eines öffentlichen Festes, involviert vier Kommunikationsinstanzen: göttliche Folie, reale Welt, erzählende Welt und erzählte Welt. Im Zentrum aber steht der Text und im Zentrum des Textes der heilige Mensch.

Der Krieg als Mittel und Thema der Kommunikation: Die narrative Funktion des Gottesurteils Martin Clauss In many medieval chronicles we read of battles as a special form of ordeal. By distributing victory and defeat God made his will known to men. Various modern scholars followed this line of thought and stated that battles were generally understood as judgements of God. By taking the narrative dimension of medieval historiography into account, this article demonstrates that battles were interpreted as ordeals only under certain circumstances. If historiography is understood as an act of communication between author and addressee, then the conditions under which the stories of battles are told come into focus. It is the winners’ side that claims victory as divine proof of the rightfulness of its cause. This narration can be best implicated when the quarrel was about a well-defined legal issue and could thus be clearly decided. On the losers’ side battles are not automatically understood as ordeals. Defeat was seen as a warning against sinful behaviour and explained in terms of bad fortune or treason. Thus thinking of battles as ordeals was no universally accepted attitude towards war but a narrative strategy. It was readily available only to the winners and could best be applied to conflicts within a particular society such as civil wars.

Einleitung Zum Jahr 1035 schildert der Chronist Wipo einen Zweikampf zwischen einem heidnischen Liutizen und einem christlichen Sachsen. Dieses Gottesgericht sollte klären, welche Seite den vereinbarten Frieden gebrochen hatte; der Christ unterlag, womit der Friedensbruch der Sachsen bewiesen war: Christianus in sola fide, quae sine operibus iustitiae mortua est, confidens et non diligenter attendens, quod Deus, qui veritas est, omnia in vero iudicio disponit, qui solem suum oriri super bonos et malos facit, qui pluit super iustos et iniustos, audacter pugnare coepit. Paga­ nus autem solam conscientiam veritatis, pro qua dimicabat, prae oculis habens acriter re­ sistebat. Postremo christianus a pagano vulneratus cecidit. 1 1   Die Werke Wipos, hrsg. v. Harry Breslau (Monumenta Germaniae Historica. Scriptores rerum Germanicarum in usum scholarum 61), 3. Aufl. Hannover, Leipzig 1915, c. 33, S. 52. Zur Übersetzung vgl. Wipo, Gesta Chuonradi II. imperatoris, bearb. v. Werner Trillmich, in: Quellen des 9. und 11. Jahrhunderts zur Geschichte der Hamburgischen Kirche und des Reiches (Ausgewählte Quellen zur Deutschen Geschichte des Mittelalters 11), Darmstadt 1968, S. 595–597: »Der Christ vertraute nur auf sei-

Der Krieg als Mittel und Thema der Kommunikation

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Diese Erzählung folgt einem klaren Muster und basiert auf bestimmten, unkommentierten Annahmen. Sie gehört zu der Schilderung eines Feldzugs, den Kaiser Konrad II. gegen die Liutizen unternommen hat.2 Der christliche Gott wird hier als Lenker aller Dinge auf Erden verstanden, beispielhaft verweist Wipo auf Sonne und Regen. Somit entscheidet Gott auch über Sieg und Niederlage in diesem Zweikampf, wobei diese Entscheidung keine Frage des Glaubens oder der Religionszugehörigkeit ist, sondern der Rechtmäßigkeit jener Sache, für die ein Kämpfer einsteht. Gott ist nicht automatisch mit den Christen, sondern mit den Gerechten, weil er – wie Wipo mit 1. Johannes 5, 6 formuliert – die Wahrheit ist.3 Es ist Gott, der über die Anliegen der Zweikämpfer befindet und diese Entscheidung dann durch Sieg und Niederlage den Menschen mitteilt. Die Menschen rufen das Urteil Gottes an, indem sie ein unzweideutiges Zeichen als Entscheidung erbitten.4 Das Anberaumen des Kampfes ist gleichsam die Frage der Menschen, das Ergebnis des Kampfes die Antwort Gottes.5 Im Urteil Gottes manifestiert sich dabei dessen Gerechtigkeit. Was sich bei Wipo am Beispiel eines Zweikampfes nachvollziehen lässt, ist auch auf Schlachten übertragbar.6 Das Aufeinandertreffen zweier Heere wird in zahlreichen nen Glauben, obwohl der doch ohne Werke der Gerechtigkeit tot ist, und bedachte nicht genügend, dass Gott, der die Wahrheit ist, alles durch ein Urteil entscheidet, er, der seine Sonne aufgehen lässt über Gute und Böse, der regnen lässt über Gerechte und Ungerechte; mutig begann er den Kampf. Dem Heiden aber stand allein das Wissen um seine gute Sache, für die er stritt, vor Augen, und er leistete tapfere Gegenwehr. Schließlich brachte der Heide dem Christen ein Wunde bei, und der brach zusammen.« 2   Vgl. zu den Quellen und zum historischen Hintergrund Harry Bresslau, Jahrbücher des Deutschen Reiches unter Konrad II., Bd. 2, Leipzig 1884, S. 150–152; Regesta Imperii III, 1, Nr. 229a und Egon Boshof, Die Salier, 5. Aufl. Stuttgart 2008, S. 72–73. 3   Diese Episode bildet den Auftakt für die Erzählung über zwei Feldzüge gegen die Luitizen. Diese verlaufen letztlich siegreich, und die Heiden werden bestraft. Kaiser Konrad richtet die Heiden so hart, dass er als ›Glaubensrächer‹ bezeichnet wird. Betrachtet man das ganze Unternehmen, fällt das Urteil Gottes, dessen Bezug zur Gerechtigkeit durch die Zweikampfschilderung betont worden ist, zu Gunsten der Christen aus. Vgl. hierzu auch Sarah Neumann, Der gerichtliche Zweikampf: Gottesurteil – Wettkampf – Ehrensache (Mittelalter-Forschungen 31), Ostfildern 2010, S. 188, Anm. 1002. 4   Vgl. dazu etwa Neumann (Anm. 3), S. 12 oder S. 19 und Hans Fehr, Gottesurteil und Folter. Eine Studie zur Dämonologie des Mittelalters und der neuen Zeiten, in: Edgar Tatarin-Tarnheyden (Hg.), Festschrift für Rudolf Stammler, Berlin, Leipzig 1926, S. 231–254. Fehr betont einen Umbruch im Verständnis von Gottesurteil und Folter im 13. Jahrhundert. Für den Zusammenhang von Krieg und Gottesurteil ist diese Zäsur nicht zu beobachten. 5   Vgl. zum Gottesurteil Neumann (Anm. 3) (mit weiterer Literatur) und Wolfgang Schmid, Gottesurteil, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, 2. Aufl. Bd. 2 (2011), S. 481–491; www. HRGdigital.de/HRG.gottesurteil (Abrufdatum: 25.02.2011); Peter Dinzelbacher, Das fremde Mittelalter. Gottesurteil und Tierprozess, Essen 2006 und Robert Bartlett, Trial by Fire and Water. The Medieval Judicial Ordeal, Oxford 1986. 6  Zu Schlachten als Gottesurteil vgl. Martin Clauss, Kriegsniederlagen im Mittelalter. Darstellung, Deutung, Bewältigung (Krieg in der Geschichte 54), Paderborn u. a. 2010, S. 187–213; Rudolf

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Martin Clauss

mittelalterlichen Darstellungen nicht als ausschließlich zwischenmenschliche Interaktion verstanden, sondern metaphysisch aufgeladen als Gottesurteil für die überlegene Sache gedeutet. In der mittelalterlichen Historiographie und anderen Texten rund um den Krieg gibt es zahlreiche Belege dafür, dass Schlachten als Gottesurteile interpretiert wurden. So erzählt Gregor von Tours einen Sieg des merowingischen Königs Guntram über seinen Bruder Chilperich I. im Jahr 583 so: »Seine ganze Hoffnung baute er [Guntram] auf das Urteil Gottes.«7 Ausgehend von diesem und ähnlichen Belegen geht die moderne Forschung vielfach davon aus, dass mittelalterliche Schlachten grundsätzlich als Gottesurteile verstanden wurden.8 Eine systematische Untersuchung diesbezüglicher Quellenstellen für das Mittelalter liegt bislang nicht vor und kann auch hier nicht geleistet werden.9 Ausführliche Studien widmen sich diesem Thema bislang meist unter rechtshistorischen oder religionsgeschichtlichen Fragestellungen.10 Auf diesen Analysen aufbauend will dieser Beitrag die Thematik unter einem anderen Blickwinkel betrachten. Es geht dabei weniger um den geistesgeschichtlichen Hintergrund oder die biblische Herleitung des Konzeptes, sondern um dessen Funktion in der historiographischen Kommunikation.11 Dies scheint insofern geboten, als es die Verweise der Historiographen sind, auf welchen die modernen Interpretationen zu Schlachten als Gottesurteile vornehmlich fußen.12 Schieffer, Iudicium Dei. Kriege als Gottesurteile, in: Klaus Schreiner (Hg.), Heilige Kriege. Religiöse Begründungen militärischer Gewaltanwendung: Judentum, Christentum und Islam im Vergleich (Schriften des Historischen Kollegs 78), München 2008, S. 219–228; Thomas Scharff, Die Kämpfer der Herrscher und der Heiligen. Krieg und historische Erinnerung in der Karolingerzeit (Symbolische Kommunikation in der Vormoderne), Darmstadt 2002, S. 155–158; Kurt-Georg Cram, Iudicium Belli. Zum Rechtscharakter des Krieges im deutschen Mittelalter, Münster, Köln 1955; Wilhelm Erben, Die Schlacht bei Mühldorf. 28. September 1322 (Veröffentlichungen des historischen Seminars der Universität Graz 1), Graz u. a. 1923, S. 72–86. 7   Gregorii Episcopi Turonensis Libris Historiarum X, hrsg. v. Bruno Krusch u. Wilhelm Levison (Monumenta Germaniae Historica. Scriptores rerum Merovingicarum 1, 1), Hannover 1937, Buch 6, Kap. 31, S. 300: Gunthchramnus vero rex cum exercitu contra fratrem suum advenit, totam spem in Dei iudicio conlocans. Qui die una iam vespere, misso exercitu, maximam partem a germani sui exercitu in­ terficit. Vgl. auch Schieffer (Anm. 6), S. 223 und Cram (Anm. 6), S. 8. 8   Vgl. etwa Norbert Ohler, Krieg und Frieden im Mittelalter, München 1997, S. 59; Karl-Friedrich Krieger, Die Habsburger im Mittelalter. Von Rudolf I. bis Friedrich III., 2. Aufl. Stuttgart 2004, S. 40 oder für die Dichtung Hans Fehr, Die Gottesurteile in der deutschen Dichtung, in: Festschrift für Guido Kisch, Stuttgart 1955, S. 271– 281, hier S. 279. 9   So auch jüngst Schieffer (Anm. 6), S. 223. 10   Grundlegend für ein rechtshistorisches Verständnis sind Erben (Anm. 6) und Cram (Anm. 6). 11   Vgl. zu diesem Ansatz Scharff (Anm. 6), S. 157, der betont, »dass es sehr viel weiter führen kann, sich bei der Untersuchung von Schlachten als Gottesgericht von der rechtsgeschichtlichen Interpretation zu lösen, indem man nach Absichten in der Darstellung fragt.« 12  Zur Bedeutung der Historiographie als Quellengrundlage der Kriegsmediävistik vgl. Clauss (Anm. 6), S. 34–49.

Der Krieg als Mittel und Thema der Kommunikation

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Bei der Analyse dieser Verweise sind grundsätzlich zwei Kommunikationsebenen zu unterscheiden.13 Einmal wenden sich die Protagonisten der historiographischen Erzählung, also die Könige, Feldherren und Krieger, indem sie militärisch gegen ihre Feinde vorgehen, zugleich an ihren Gott. Im Kampf mit den Widersachern bitten sie Gott, ihr Anliegen zu prüfen – so die Darstellungslogik der historiographischen Texte. Diese Kommunikation findet als Bestandteil der historiographischen Erzählung statt und basiert auf dem zeittypischen Verständnis von der Allmacht Gottes. Auf der Zeitachse der Erzählung und der historischen Ereignisse verortet findet dieses Kommunikation vor und während der Schlacht, räumlich gesehen auf dem Schlachtfeld statt (Kommunikationsebene 1). Davon zu trennen ist ein zweiter kommunikativer Vorgang, der andere Kommunikationspartner betrifft und auf einer anderen Zeitebene und in einem anderen Raum stattfindet: die Kommunikation zwischen Historiograph und Adressat. Der Geschichtserzähler präsentiert seine Version vergangener Ereignisse in Form einer Erzählung einem bestimmten Publikum. Dies geschieht immer nach der Schlacht und nicht auf dem Schlachtfeld, sondern in der Regel in nichtkriegerischen Kontexten, wie in einem Skriptorium oder beim Vortrag am Hofe. Die Gottesurteil-Interpretation ist Bestandteil dieser Erzählung und Kommunikation; sie erfüllt mithin bestimmte narrative und kommunikative Funktionen. Klar ist, dass diese – wie in der ersten Kommunikationsebene – auf einem Verständnis von Gottes Wirken aufbauen, das Autor und Adressat teilen müssen (Kommunikationsebene 2). Beide Kommunikationsebenen sind getrennt voneinander zu untersuchen, um ihre jeweiligen Eigenheiten und Funktionslogiken verstehen zu können. Dabei geht es mir nicht um eine umfassende Betrachtung aller Belege, sondern um beispielhafte Einzelfallanalysen mit dem Ziel, die jeweiligen Erzählstrukturen zu erkennen.

Der Krieg als Mittel der Kommunikation: Kommunizieren mit dem Feind und mit Gott Begibt man sich auf die Ebene der historiographischen Erzählungen (Kommunikationsebene 1) über Schlachten als Gottesurteil und analysiert deren Funktionsweise, so fällt zunächst die große diachrone Konstanz auf. Gottes Eingreifen auf dem Schlachtfeld für die gerechte Sache findet sich in früh-, hoch- und spätmittelalterlichen Texten, und die darstellerische Logik ist dabei immer diejenige, die oben an den Beispielen Wipos und Gregors gezeigt wurde.14 13   Vgl. zur Doppelstruktur von Kommunikation in erzählerischen Werken Wolf Schmid, Elemente der Narratologie, 2. Aufl. Berlin, New York 2008, S. 42. 14   Für ein Beispiel aus dem Frühmittelalter vgl. unten bei Anm. 26 zur Schlacht von Fontenoy 841; zum Hochmittelalter vgl. die Begründung Ottos von Freising zum Fall Edessas 1144: Ottonis episcopi

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Martin Clauss

Die Ausdrucksmittel dieser Logik können freilich variieren. Mal wird ganz schnörkellos auf den Willen Gottes verwiesen. So vermerken die fränkischen Reichsannalen zum Jahr 783: et domino adiuvante Franci victores extiterunt.15 Auch wenn hier nicht explizit von einem Urteil Gottes, einem iudicium dei die Rede ist, haben wir es doch mit dem gleichen Prinzip zu tun: Gott lenkt die Geschicke der Menschen und drückt durch Sieg und Niederlage sein Missfallen oder seine Zustimmung aus. Ein qualitativer Unterschied zwischen Formulierungen, die allgemein auf den Willen Gottes oder speziell auf ein Gottesurteil verweisen, besteht hinsichtlich der Erzähllogik nicht.16 Gottes Eingreifen kann auch aufwändiger präsentiert werden. Naturgewalten können als Ausdruck des göttlichen Zornes gedeutet17 oder die Wundertätigkeit Gottes kann durch den Hinweis auf besonders widrige Ausgangskonstellationen unterstrichen werden. Die Diskrepanz zwischen der auf Alltagswerten basierenden Erfahrung und dem tatsächlichen Verlauf der Geschichte dient dann dazu, Gottes Macht zu betonen. Gängigster Baustein derartiger Erzählungen ist der Sieg in Unterzahl: Wenn eine kleine Schar tapferer Christen gegen ein Heer aus Heiden, die zahlreich wie Heuschrecken sind, obsiegt, muss Gottes Eingreifen für die Christen kaum noch eigens erwähnt werden.18 Zur sprachlichen Markierung dieses Eingreifens dienen auch VerFrisingensis Chronica sive Historia de duabus civitatibus, hrsg. v. Adolf Hofmeister (Monumenta Germaniae Historica. Scriptores rerum Germanicarum in usum scholarum 45), Hannover, Leipzig 1912, Buch 7, Kap. 30, S. 356. Ein Beispiel aus dem Spätmittelalter bietet die Chronica de Gestis Principum, hrsg. v. Georg Leidinger, in: Bayerische Chroniken des 14. Jahrhunderts (Monumenta Germaniae Historica. Scriptores rerum Germanicarum in usum scholarum 19), Hannover, Leipzig 1918, S. 1–104, S. 94 zur Schlacht von Mühldorf 1322. 15   Annales Regni Francorum inde ab a. 741 usque ad a. 829, hrsg. v. Friedrich Kurze (Monumenta Germaniae Historica. Scriptores rerum Germanicarum in usum scholarum 6), Hannover 1895, zum Jahr 783, S. 64–65. 16  Anders Schieffer, der zwischen Gottes Hilfe und einem Gottesurteil im Kontext des Sieges Ottos I. auf dem Lechfeld unterscheidet. Vgl. Schieffer (Anm. 6), S. 224. Im weiteren Verlauf bezieht er sich dann auch auf Belege, die von Deo […] opitulante oder Deum superbiam nostram humiliare decrevis­ set sprechen; vgl. ebd., S. 225. 17   Vgl. zum Wetter in der Historiographie Isabelle Draelants, Le temps dans les textes historiographiques du Moyen Âge, in: Claude Thomasset u. Joёlle Ducos (Hgg.), Le temps qu’il fait au Moyen Âge. Phénomènes atmosphériques dans la littérature, la pensée scientifique et religieuse, Paris 1998, S.  91–138. Ein Beispiel für Gottes Eingreifen in eine Schlacht mit Hilfe des Wetters findet sich bei Heinrich von Huntingdon zur Schlacht von Malmesbury (1153) im englischen Thronstreit zwischen Stephan von Blois und Herzog Heinrich; vgl. Henry, Archdeacon of Huntingdon: Historia Anglorum (The History of the English People), hrsg. u. übers. v. Diana Greenway (Oxdord Medevial Texts), Oxford 1996, Buch 10, Kap. 34, S. 767. 18   Vgl. Brief über den Kreuzzug Kaiser Friedrichs I.: Italische Quellen über die Taten Kaiser Friedrichs I. in Italien und der Brief über den Kreuzzug Friedrichs I., hrsg. v. Franz-Josef Schmale (Ausgewählte Quellen zur Deutschen Geschichte des Mittelalters 17a), Darmstadt 1986, S. 372–383, hier S. 378 zu einer Auseinandersetzung zwischen Muslimen und Christen auf dem dritten Kreuzzug: ma­ gnam Turchorum mulitudinem, circiter quadringenta milia equitum, et ut locuste repleverant terram.

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weise auf Heilige als Schlachtenhelfer.19 Gottes Kommunikation mit den Menschen auf dem Schlachtfeld wird also auf vielfältige Art und Weise erzählt. Der Kern dieser Kommunikation ist der Ausgang der jeweiligen Schlacht, alles andere letztlich schmückendes Beiwerk. Dabei können Gerechte belohnt, Ungerechte bestraft oder Sünder ermahnt werden. Wenn die Historiographen auf die Wirkung von Gebeten, liturgischen Handlungen oder moralischen Verhaltensweise auf den Ausgang einer Schlacht verweisen, wird die Wechselseitigkeit des Kommunizierens zwischen Gott und den Menschen deutlich. Feldherren lassen vor Beginn der Schlacht die Messe lesen, Krieger beichten, Priester beten und singen für den Sieg.20 Diese Aktivitäten werden in den Zusammenhang von Sieg und Niederlage und der Schlacht als Gottesgericht eingeordnet. Die Haltung des Heerführers steht dabei oftmals exemplarisch für eine Konfliktpartei, und der fromme König betet seine Truppen zum Sieg.21 Auf der anderen Seite zieht Sündhaftigkeit den Zorn Gottes in Form einer Niederlage nach sich.22 In diesem Punkt muss es nicht immer darum gehen, ein Anliegen als gerecht oder ungerecht zu qualifizieren. Die Niederlage kann auch als Mahnung verstanden werden; die Kriegspartei, deren Sache an sich gut und gerecht ist, verliert die Schlacht und wird so von Gott gemahnt. Sinnfälligen Ausdruck findet dieses Gedankenmodell in der Deutung heidnischer Gegner als »Geißel Gottes«.23 Hier geht es nicht darum, die Heiden als grundsätzlich gerechter und ihre Sache als prinzipiell überlegen zu markieren, sondern die Niederlage in ein christliches Weltbild zu integrieren. Gott spricht durch die Heiden oder genauer durch ihren militärischen Erfolg zu den sündigen Christen. 19  Zu Heiligen als Schlachtenhelfer vgl. Martin Clauss, Defensor Civitatis? Überlegungen zum Stadtpatronat in der städtischen Memoria, in: Susanne Ehrich u. Jörg Oberste (Hgg.), Städtische Kulte im Mittelalter, Regensburg 2010, S. 153–168; František Graus, Der Heilige als Schlachtenhelfer – zur Nationalisierung einer Wundererzählung in der mittelalterlichen Chronistik, in: Kurt-Ulrich Jäschke u. Reinhard Wenskus (Hgg.), Festschrift für Helmut Beumann zum 65. Geburtstag, Sigmaringen 1977, S. 330–348 und Klaus Schreiner, Märtyrer – Schlachtenhelfer – Friedensstifter. Krieg und Frieden im Spiegel mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Heiligenverehrung (Otto-von-Freising-Vorlesungen der Katholischen Universität Eichstätt 8), Opladen 2000. 20   Vgl. etwa die Schilderung des Chronicon de Lanercost, hrsg. v. Joseph Stevenson, Edinburgh 1839, zum Jahr 1264, S. 74 zur Schlacht von Lewes. 21   So etwa Otto I. in der Schlacht bei Birten 939. Vgl. Liutprand von Cremona, Antapodosis, hrsg. v. Joseph Becker (Monumenta Germaniae Historica. Scriptores rerum Germanicarum in usum scholarum 41), 3. Aufl. Hannover, Leipzig 1915, Buch 4, Kap. 24, S. 117–118. 22   So etwa in Evgippii Vita Severini, hrsg. v. Theodor Mommsen (Monumenta Germaniae Historica. Scriptores rerum Germanicarum in usum scholarum 26), Berlin 1898, Kap. 1, S. 11f. Hier straft Gott die ungläubigen Christen von Klosterneuburg durch einen Sieg der Heiden. 23   So sehr beredt in Chronicon Budense, in: Chronici Hungarici compositio saeculi XIV., hrsg. v. Alexander Domanovszky (Scriptores Rerum Hungaricarum 1), Budapest 1937, S. 217–505, hier Kap. 60, S. 308f. Nach der Schlacht auf dem Lechfeld bezeichnen die ungarischen Heerführer Lél und Bulcsú sich hier als Geißel Gottes.

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Der Ausgang der Schlacht ist nicht das einzige Mittel der göttlichen Kommunikation im Umfeld von Schlachten. Gott sendet den Menschen auch andere Zeichen, die sie warnen oder ermutigen sollen; dies können Vorzeichen im klassischen Sinne, aber auch vergleichsweise kleine Details wie das Stolpern des Heerführers sein.24 Heilige erscheinen den Kriegern vor oder während der Schlacht und prophezeien deren Ausgang, motivieren oder mahnen.25 Auf der Erzählebene finden also kommunikative Akte zwischen Gott und den Menschen statt, die sich im Umfeld einer Schlacht gruppieren und auf das Gedankenschema ›Gottesurteil‹ beziehen lassen. Diese Art von Erzählung funktioniert prinzipiell bei jeder Art von Schlacht, unabhängig von der Zahl der Beteiligten, deren Religionszugehörigkeit oder dem Ausgang. Die Deutung der Schlacht als Gottesurteil kann auch Bestandteil der Kommunikation zwischen den Kriegsparteien sein: So erzählt etwa Nithard, einer der Chronisten der Schlacht von Fontenoy (841), dass die Könige Karl der Kahle und Ludwig der Deutsche sich vor der Schlacht mit einer Botschaft an ihren Gegner und Bruder Kaiser Lothar gewandt hätten:26 Es werde »zum Gericht des allmächtigen Gottes« kommen, wenn Lothar sich nicht verhandlungsbereit zeige.27 Karl und Ludwig lassen ihren Kontrahenten wissen, dass sie die kommende Schlacht als Instrument der göttlichen Urteilsfindung begreifen. Damit signalisieren sie in der Erzähllogik Nithards, dass sie sich ihrer Sache sicher sein können; die Gerechten brauchen das Urteil Gottes nicht zu fürchten und können daher den Kampf suchen. Die Aufforderung, zu einer Schlacht als iudicium dei anzutreten, beinhaltet erzählerisch also mehr als eine bloße Kriegserklärung. Verweise auf Gottes Hilfe in der Schlacht finden sich auch in Kommunikation zwischen den Kriegsgegnern nach dem Kampf: Jean Froissart erzählt das Gespräch zwischen Eduard dem Schwarzen Prinzen und König Johann von Frankreich nach der Schlacht von Poitiers 1356. König Johann war in Gefangenschaft geraten, und Prinz

24   Eine systemtische Analyse zu göttlichen Vorzeichen im kriegerischen Kontext liegt bislang nicht vor; vgl. Christoph Daxelmüller, Vorzeichen, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 8 (1997), Sp. 1869f. Heinrich von Huntingdon (Anm. 17), Buch 10, Kap. 16, S. 732 berichtet beispielsweise von einer zerbrochenen Kerze und einer gefallenen Pyxis als Vorzeichen für König Stephan von Blois vor der Schlacht von Lincoln 1141. William of Malmesbury, Gesta Regum Anglorum, The History of the English Kings, hrsg. u. übers. v. Roger Mynors u. Rodney Thomson, Bd. 1, Oxford 1998, Buch 3, Kap. 238, S. 450 erzählt, dass Wilhelm der Eroberer vor der Schlacht von Hastings 1066 gestolpert sei. 25   Vgl. Anm. 19. 26   Zum historischen Hintergrund der Schlacht vgl. Wilfried Hartmann, Ludwig der Deutsche (Gestalten des Mittelalters und der Renaissance), Darmstadt 2002, S. 37 (mit weiterer Literatur). 27   Nithardi Historiarum Libri IIII, hrsg. v. Ernst Müller (Monumenta Germaniae Historica. Scriptores rerum Germanicarum in usum scholarum 44), Hannover 1907, Buch 2, Kap. 10, S. 27: ad omni­ potentis Dei iudicium.

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Eduard wartete seinem Gefangen auf.28 Der Prinz bemerkt, dass Gott heute nicht dem Willen des Königs zugestimmt habe.29 In diesem Ausspruch vereinen sich beinahe alle Facetten der hier vorgestellten ersten Kommunikationsebene: König Johann hatte vor der Schlacht zu Gott für den Sieg gebetet, dieser machte aber Prinz Eduard zum Sieger, und der Prinz setzt den König nun über die Funktionslogik in Kenntnis. Dabei richtet sich die Bemerkung des Prinzen in der erzählten Konstellation ebenso an den König wie an die anwesenden Gefolge beider Herrscher; Froissart betont, dass die Rede des Prinzen bei denen, die sie gehört haben, auf Zustimmung gestoßen sei. Hier wird eine kommunikative Situation geschildert, die auf einem allgemeinen Konsens basiert: Allen Anwesenden ist das Motiv vom Schlachtausgang als Kommunikationsinstrument Gottes vertraut.

Der Krieg als Thema der Kommunikation: Kommunizieren über Gottesurteile Alle Elemente der ersten Kommunikationsebene sind Bestandteil einer zweiten, auf der der Autor mit seinem Publikum kommuniziert. Im Sinne der Narratologie kann jede Erzählung als kommunikativer Akt zwischen Autor und Adressat verstanden werden.30 Der Adressat ist der vom Autor avisierte Rezipient der Erzählung, also derjenige, für den die Erzählung konzipiert ist.31 Für die narratologische Analyse ist es dabei unerheblich, ob der Adressat die Erzählung auch tatsächlich rezipiert; entscheidend ist, dass die kommunikativen Absichten des Erzählers auf ihn ausgerichtet sind. Autor und Adressat müssen bestimmte Voraussetzungen teilen, damit die Kommunikation erfolgreich ablaufen kann. Für unser Thema gehört dazu grundlegend das Verständnis vom allmächtigen Gott und dessen Einwirken auf irdische Abläufe. In allen hier angeführten Erzählungen wird dieses Verständnis unkommentiert vorausgesetzt. Weder müssen Begriff oder Konzept ›Gottesurteil‹ erklärt, noch die Allmacht Gottes kommentiert oder erläutert werden. Die Historiographen setzten dieses Wissen und Verständnis bei den Protagonisten ihrer Erzählungen und auch bei ihren Adressaten voraus. Oben wurde angemerkt, dass die Erzählung vom Gottesurteil auf der ersten Kommunikationsebene unabhängig von der Art der Schlacht und ihrer Teilnehmer funkti  Zum historischen Hintergrund der Schlacht vgl. Jonathan Sumption, Trial by Fire. The Hundred Years War II, London 1999, S. 195–249. 29  Vgl. Oeuvres de Jean Froissart, hrsg. v. Kervyn de Lettenhove (Nachdruck von 1867–1877), Bd. 5, Osnabrück 1967, S. 461: Chiers sires, ne voeilliés faire simple chière, se Dieux n’a volut concen­ tir vostre volloir aujourdui. 30   Vgl. Monika Fludernik, Einführung in die Erzähltheorie, Darmstadt 2006 und Porter Abbott, The Cambridge Introduction to Narrative, Cambridge 2002. 31  Vgl. Schmid (Anm. 13), S. 43. 28

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oniert; bezogen auf die zweite Kommunikationsebene – die zwischen Autor und Adressat – sind hier freilich Einschränkungen zu machen: Vom Krieg als Gottesurteil kann nur gesprochen werden, wenn beide Seiten der Kommunikation ein Verständnis von Gott und seinem Wirken auf Erden teilen. Für die christliche Historiographie des Mittelalters, die von Christen für Christen verfasst wurde, ist diese Bedingung erfüllt. Die Erzähler konnten hier auf die gemeinsame Voraussetzung von der Allmacht Gottes rekurrieren. Wenn Kämpfe mit heidnischen Gegnern thematisiert werden, wie im anfangs vorgestellten Zweikampf zwischen einem christlichen Sachsen und einem nicht-christlichen Liutizen, wird die Existenz des christlichen Gottes und seiner Wirkmacht auch für den Heiden erzählerisch vorausgesetzt: Dieser baut auf die Gerechtigkeit seiner Sache und kämpft in diesem Vertrauen tapfer und gut. In der Logik der Erzählung ist dieses Vertrauen wegen der Gerechtigkeitsliebe des christlichen Gottes durchaus gerechtfertigt. In Wipos Erzählung, die als Kommunikation zwischen Christen angelegt ist, braucht das Verhältnis des heidnischen Zweikämpfers zum christlichen Konzept des Gottesurteils nicht zu interessieren, weil heidnische Liutizen nicht Teil dieser Kommunikationsebene sind. Wenn wir das Konzept vom Gottesurteil heute als selbstverständlich für ein mittelalterliches Verständnis vom Krieg annehmen wollen, so kann sich dies zunächst nur auf die zweite Kommunikationsebene beziehen. Aussagen über die Gottgläubigkeit der Heerführer oder Heiden als Geißel Gottes sind Präsentationselemente historiographischer Erzählungen, nicht zwingend detailgetreue Abbildungen der historischen Wirklichkeit. Um das Funktionieren dieser Kommunikation zu ermitteln, müssen zwei Fragen geklärt werden: Wer kommuniziert mit wem über Gottesurteile und welche Funktion hat dieses Element in den Erzählungen? Zunächst fällt auf, dass Formulierungen, die auf den Begriff ›Gottesurteil‹ abzielen und nicht eher allgemein von Gottes Hilfe sprechen, sich vorwiegend bei Schlachten finden, die vor einem bestimmten politischen Hintergrund ausgetragen werden.32 Von einem Gottesurteil zu sprechen bietet sich dann erzählerisch an, wenn ein deutlich umrissener Streitfall militärisch geklärt wird. Besonders augenfällig wird dies bei intrakulturellen Kriegen, deren Ursprung in rivalisierenden Rechtsansprüchen liegt.33 Es ist sicherlich kein Zufall, dass  Vgl. auch Schieffer (Anm. 6), S. 226f. Eine quantitativ-statistische Auswertung ist in diesem Punkt nicht möglich; vielmehr geht es darum, die Erzähllogik bestimmter Fallbeispiele aufzuzeigen. 33   Zum Begriff des ›intrakulturellen Krieges‹ (Intracultural warfare) vgl. Stephen Morillo, A Gen­ eral Typology of Transcultural Wars – The Early Middle Ages and Beyond, in: Hans-Henning Kortüm (Hg.), Transcultural Wars from the Middle Ages to the 21st Century, Berlin 2006, S. 29–42. Ein Beispiel in Morillos Argumentation ist »elite-driven civil warfare« (S. 32). Intrakulturelle Kriege definieren sich über den beiden Konfliktparteien gemeinsamen Fundus an Werten und Vorstellungen. Dies bezieht sich auf religiöse, rechtliche oder moralisch-ethische Vorstellungen. Vgl. auch Hans-Henning Kortüm, Kriegstypus und Kriegstypologie. Über Möglichkeiten und Grenzen einer Typusbildung von »Krieg« im 32

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die Schlachten von Fontenoy und Mühldorf in den grundlegenden deutschen Abhandlungen zum Thema einen breiten Raum einnehmen.34 Im karolingischen Brüderkrieg und im Thronstreit zwischen Ludwig dem Bayern und Friedrich dem Schönen lag dem Krieg der Streit um Herrschaftsansprüche zu Grunde; einmal ging es um die Aufteilung des Frankenreiches, einmal um die Krone des römisch-deutschen Königs. In beiden Fällen war der Ausgang der Schlacht maßgeblich für die weitere Entwicklung. Diese Ausgangslage bringt es mit sich, dass die Autoren die Schlacht zu einem Entscheidungspunkt stilisieren und dies ihren Adressaten kommunizieren konnten. Anders gewendet gab es in beiden Fällen einen Streitfall, der im Gottesgericht erzählerisch einer Lösung zugeführt werden konnte. Die Analogien zu einem Zweikampf, wie ihn Wipo schildert, liegen hier auf der Hand; so können die Historiographen Fontenoy und Mühldorf als Entscheidungsschlacht und Gottesurteil kommunizieren. Grundlegend ist hierbei, dass alles historiographische Erzählen immer ex post vorgenommen wird. Der Historiograph weiß, wer die Schlacht gewonnen hat, wenn er sie als Gottesurteil ausdeutet. Dieses Wissen ist ein wesentlicher Aspekt des Selektionsvorganges, der Grundlage jeder historiographischen Erzählung ist. Der Historiograph wählt aus dem ihm zur Verfügung stehenden Informationen – seinem Wissen um die Wirklichkeit, seinen Vorstellungen von der Welt, seinem Verständnis von Geschichte etc. – das aus, was er seinen Adressaten präsentieren möchte. Diese Selektion richtet sich danach, was die Erzählung erreichen möchte: nach der Darstellungsabsicht. Die Darstellungsabsicht hängt entscheidend von der Perspektive der Erzählung auf die jeweilige Schlacht ab. Sieger erzählen grundlegend anders als Verlierer.35 Wo die einen ihren Sieg feiern können, müssen die anderen eine Niederlage deuten. Der Sieg fügt sich nahtlos in das Geschichtsbild ein, die Niederlage bedarf der Erläuterung und eventuell der erzählerischen Kompensation. Wendet man diese Einsicht auf die Erzählungen zur Schlacht als Gottesurteil, so fällt auf, dass es vornehmlich die Sieger sind, die so erzählen.36 Dies ist nicht im Sinne einer statistischen Aussage zu verstehen; es fällt vielmehr auf, dass der Erzählbaustein vom Gottesurteil sich besser für Siege als für Niederlagen eignet. Die Sieger verstehen ihren Sieg als direkte Konsequenz des moralischen, juristischen oder politischen Anliegens, für das sie kämpften. Allgemeinen und von »mittelalterlichem Krieg« im Besonderen, in: Dietrich Beyrau, Michael Hochgeschwendner, Dieter Langewiesche (Hgg.), Formen des Krieges. Von der Antike bis zur Gegenwart (Krieg in der Geschichte 37), Paderborn u. a. 2007, S. 71–98, hier S. 85–87. 34  Vgl. Cram (Anm. 6), S. 20–47 (Fontenoy) und Erben (Anm. 6), S. 71–86 (Mühldorf); vgl. auch Schieffer (Anm. 6), S. 226–227 (Fontenoy). 35   Vgl. hierzu Clauss (Anm. 6). 36   Zur Bedeutung der Perspektive in dieser Sache vgl. etwa auch Peter Herde, Die Schlacht bei Tagliacozzo. Eine historisch-topographische Studie, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 25 (1962), S. 679–745, hier S. 704, Anm. 114 und Malte Prietzel, Krieg im Mittelalter, Darmstadt 2006, S. 54.

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In diesem Verständnis ist es sinnvoll und ohne weiteren erzählerischen Aufwand möglich, die Analogie zwischen einem gerichtlichen Zweikampf und einer Schlacht herzustellen. Diese Erzählungen laufen nach einem einfachen Muster ab: Unsere Sache ist gerecht, also gab uns Gott den Sieg. In diesem Sinne funktioniert etwa die Erzählung Nithards zu Fontenoy. Der Verweis auf ein Gottesgericht hat hier zwei Funktionen, die beide eng mit der Konstellation des Bürgerkrieges verknüpft sind. Voraussetzungen für die Erzählung sind die Existenz einer Streitfrage und der Sieg. Die erste Funktion besteht darin, die Gerechtigkeit der eigenen Sache zu betonen. Karl der Kahle und Ludwig der Deutsche haben die Schlacht gesucht, um ein politisches Anliegen in der Auseinandersetzung um die Aufteilung des Frankenreichs durchzusetzen. Die Deutung als Gottesurteil impliziert, dass dieser Kriegsgrund als gerecht zu deuten ist. Nicht Habgier oder Rache haben die Brüder angetrieben, sondern das Streben nach Gerechtigkeit.37 Indem Nithard die Hilfe Gottes für die eigene Sache betont, kann er seinen Adressaten die Gerechtigkeit des Anliegens kommunizieren. Dies ist eng mit der zweiten narrativen Funktion der Hinweise auf Gottes Urteil verknüpft. Bei Fontenoy kämpften Franken gegen Franken; es standen sich Mitglieder derselben Gesellschaft im Kampf gegenüber. Diese Konstellation erzeugte einen hohen Rechtfertigungsdruck, da sich die militärische Gewalt nicht gegen auswärtige Feinde – etwa Ungläubige – richtete, sondern in das Zentrum der eigenen Gruppe.38 Dieses Problem wird etwa in einer Formulierung der ›Annales Vedastini‹ deutlich, welche sich auf die erste Schlacht bei Andernach 876 und mithin auch auf einen innerfränkischen Konflikt bezieht; hier trafen Karl der Kahle und Ludwig der Jüngere, also Onkel und Neffe, im Kampf um Herrschaftsräume aufeinander.39 Die Annalen merken an, dass diese Schlacht instinctu diabolico, also auf Betreiben des Teufels, zustande gekommen sei.40 Hier dient der Hinweis auf den Teufel dazu, den intrakulturellen Krieg als verwerflich zu markieren. Dabei geht es weniger um eine im theologischen Sinne stringente Interpretation als um eine plastische Erzählung.41 37   In diese Richtung weisen auch alle Elemente der Erzählung, welche die Verhandlungsbereitschaft der späteren Sieger und den unbedingten Kriegswillen des dann unterlegenen Lothars hervorheben; vgl. etwa Nithard (Anm. 27), Buch 2, Kap. 10, S. 24. 38   Diesen Zusammenhang betont auch Janet L. Nelson, Violence in the Carolingian World and the Ritualization of Ninth-Century Warfare, in: Guy Halsall (Hg.), Violence and Society in the Early Medieval West, Woodbridge 1998, S. 90–107, hier S. 98–103. 39   Zum Hintergrund der Schlacht vgl. Hans-Henning Kortüm, Andernach, Battle of (876), in: The Oxford Encyclopedia of Medieval Warfare and Military Technology, Bd. 1 (2010), S. 45 (mit weiterer Literatur). 40   Annels Vedastini, hrsg. v. Bernhard von Simson (Monumenta Germaniae Historica. Scriptores rerum Germanicarum in usum scholarum 12), Hannover, Leipzig 1909, zum Jahr 876, S. 41; vgl. hierzu auch Scharff (Anm. 6), S. 156. 41   Der Sieg bei Andernach fiel dann iudicio Dei Ludwig zu. Der Verlierer Karl hatte sich allen Ver-

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Das Töten in Bürgerkriegen stellte also ein moralisches Problem besonderer Art dar, dem die Historiographen der Sieger mit der Erklärung vom Gottesurteil begegnen konnten. Wenn die Schlacht als Gericht Gottes erklärt wurde, dann wurden die Kämpfer zu dessen Werkzeug. Ihrem Tun lastete damit weder etwas Sündhaftes, noch etwas politisch Verwerfliches an. Gottes Urteil legitimierte den Einsatz tödlicher Gewalt. In der Erzählung Nithards wird diese Argumentation explizit thematisiert: Nach dem Kampf bei Fontenoy halten die Sieger auf dem Schlachtfeld eine Synode ab, erklären den Ausgang der Schlacht zu einem Gottesurteil und postulieren, dass jeder Schlachtteilnehmer als inmunis omnis Dei minister, also als unschuldiges Werkzeug Gottes anzusehen sei.42 Dies sei Dei iuditio offenbar geworden. Damit sollte Gott nicht für den Bürgerkrieg verantwortlich gemacht werden; der Krieg war in dieser Erzähllogik ein Übel, das derjenigen Kriegspartei angelastet wurde, die sich friedlichen Mitteln der Konfliktbeilegung entzogen hatte. Aus der Sicht der Sieger waren dies meist die Verlierer. Der Verweis auf Gott legitimierte also den Krieg und stärkte die Position der Sieger. Die Erzählungen der Verlierer funktionieren anders. Bleibt man bei Fontenoy wird zunächst deutlich, dass die Partei Lothars dieses Argumentationsmuster nicht teilte. Hier kommunizierten Autor und Adressat nicht in den Bahnen eines Gottesurteils. Dabei wurde die grundlegende Funktionslogik des Eingreifen Gottes auf Erden nicht in Frage gestellt. Sie wurde nur nicht auf die Schlacht von Fontenoy im Sinne eines Urteils über das Anliegen der Kriegsparteien angewendet. In historiographischen wie in eher theoretischen Texten arbeiten sich die Verlierer vielmehr an der Deutung der Sieger ab und weisen darauf hin, wie fern alles Göttlichen diese blutige und grausame Schlacht gewesen sei.43 In ihren Augen ist die Niederlage nicht als göttliches Urteil über ihr Anliegen zu verstehen, sondern wird anders erzählt. Angilbert, der auf der Seite der Verlierer gekämpft und anschießend für Lothars Partei von der Niederlage erzählt hat, verweist auf das Motiv des tapfer kämpfenden, aber von seinen Mitstreihandlungsbemühungen verschlossen; der Sieg Ludwigs konnte als Gottes Urteil für denjenigen gedeutet werden, der sich vor der Schlacht um Verhandlungen bemüht hatte. 42   Nithard (Anm. 27), Buch 3, Kap. 1, S. 28f.: ac per hoc immunis omnis Dei minister in hoc negotio haberi, tam suasor quam et effector, deberetur; at quicumque consciens sibi aut ira aut odio aut vana gloria aut certe quolibet vitio quiddam in hac expeditione suasit vel gessit, vere confessus secrete sec­ reti delicti et secundum modum culpe diiudicaretur. 43   Vgl. hierzu Clauss (Anm. 6), S. 68–78 und 199–200; vgl. die ›Versus de bella‹ des Angilbert (Edmond Faral, Le Poème d’Engelbert sur la Bataille de Fontenoy, in: Mélanges de Philologie offerts à Jean-Jacques Salverda de Grave à l’Occasion de sa Soixante–Dixième Année par ses Amis et ses Élèves, Groningen u. a. 1933, S. 86–98) als Niederlagenerzählung zu Fontenoy und den Brief des Hrabanus Maurus an Erzbischof Otgarius von Mainz aus dem Jahr 842 mit seiner Argumentation gegen die Deutung der Schlacht als Gottesurteil: Epistolae Karolini aevi, hrsg. v. Ernst Dümmler (Monumenta Germaniae Historica Epistolae 5), Bd. 3, Berlin 1899, Nr. 32, S. 463–465.

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tern im Stich gelassenen Helden. Hier ist der Schlachtausgang nicht Ausweis eines Urteils, sondern Folge eines Verrates. Blickt man auf die Erzählungen der Verlierer und ihr Bezugnehmen auf Gottes Willen, so fällt auf, dass dieser Hinweise erzählerisch aufwändiger gestaltet sind als bei den Siegern. Als Erzählmotiv wird etwa auf Gottes Strafe für begangene Sünden verwiesen44 oder schlicht auf die Undurchschaubarkeit seines Urteilens für die Menschen.45 Der Deutung, dass die Niederlage das eigene Anliegen desavouiert, schließen sich die Historiographen der Verliererseite hingegen in der Regel nicht an. Sie verweisen vielmehr auf bestimmte Sachverhalte, welche Gottes Zorn hervorgerufen haben könnten. So ist der Sieg der Engländer bei Agincourt 1415 für die ›Gesta Henrici Quinti‹ ein Ausweis der Hilfe Gottes: König Heinrich V. vertritt eine gerechte Sache und daher schenkt Gott ihm den Sieg.46 Aus der Warte des Religieux von Saint-Denis hingegen werden die Franzosen für ihre Sünden bestraft.47 Was dem einen ein Urteil im Thronstreit ist, ist für den anderen eine Aussagen über den moralischen Zustand im seinem Land. In diesem Punkt laufen hier zwei Erzählungen nebeneinanderher, weil zwei Autoren verschiedene Adressaten ansprechen wollen.

Ergebnisse In der Analyse der zwei Kommunikationsebenen wird deutlich, wo dem Konzept der Schlacht als Gottesurteil erzählerische Grenzen gesetzt sind. Klar ist zunächst, dass es nicht universell in allen Erzählungen zu Kriegen Verwendung findet. Etliche mittelalterliche Kriegsnarrationen kommen ganz ohne Hinweise auf Gott oder Anspielungen auf göttliches Eingreifen aus. Erzählungen, in denen Schlachten als Rechtsfindungsinstrument verstanden werden, erfüllen in der Regel zwei Bedingungen: Die Kommunikation findet auf Seiten der Sieger statt, und die Schlacht bezieht sich auf einen klar umrissenen Streitfall. Prädestiniert sind Gottes-Urteil-Erzählungen immer dann, wenn die Sieger einen Bürgerkrieg schildern. Einerseits ist in die44   Vgl. etwa die Erzählung Thietmars von Merseburg zur Niederlage Ottos II. bei Cotrone (982): Thietmar von Merseburg, Die Chronik des Bischofs Thietmar von Merseburg und ihre Korveier Überarbeitung, hrsg. v. Robert Holtzmann (Monumenta Germaniae Historica. Scriptores rerum Germanicarum in usum scholarum. Nova Series 9), Berlin 1935, Buch 3, Kap. 20–22, S. 123–126. 45   Zu Undurchschaubarkeit vgl. etwa Petri de Dusburg Chronicon terrae Prussiae, hrsg. v. Max Toeppen (Scriptores rerum Prussicarum 1), Leipzig 1861, S. 3–219, darin Buch 3, Kap. 123, S. 113: ultimo permittente domino, cujus incomprehensibilia sunt judicia, zu einer Niederlage des Deutschen Ordens gegen heidnische Prussen 1263. 46   Vgl. Gesta Henrici Quinti. The Deeds of Henry the Fifth, hrsg. u. übers. v. Frank Taylor u. John S. Roskell, Oxford 1975, Kap. 12–14, S. 76–100. 47   Vgl. Chronique du Religieux de Saint-Denys, hrsg. v. Louis Bellaguet, Bd. 5, Paris 1844, ND Paris 1994, Buch 36, Kap. 9, S. 564–567.

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sem Fall – auf der ersten und zweiten Kommunikationsebene – die Grundlage für ein gemeinsames Verständnis von Gottes Wirken gegeben; andererseits dient das Erzählmotiv dann auf der zweiten Kommunikationsebene dazu, die innergesellschaftliche Gewalt zu legitimieren. Es kann also nicht davon gesprochen werden, dass Kriege im Mittelalter generell als Gottesurteil verstanden wurden. Wenn man die entsprechenden Äußerungen als Bestandteile einer Kommunikation und Erzählung analysiert, werden bestimmte Einschränkungen deutlich: Die Deutungen der Schlacht als Gottesurteil ist ein Erzählbaustein der Sieger, der vornehmlich in intrakulturellen Konflikten zum Einsatz kommt.

Der Wundarzt. Kommunizieren und Handeln mit Gott Melanie Panse

This article discusses how medical knowledge based on the principles of the theory of humors is related to Christian conceptions of an omnipotent God in the ‘Feldbuch der Wundarznei’ (1517) by Hans von Gersdorff. Text and picture reveal a multi-layered discourse, in which communicating and acting in concordance with God is of central importance for the medieval surgeon. God determines the knowledge and the limits of medieval medicine, he decides about life or death. Therefore, his intervention can explain medical success or failure. Against this background, the compiler Gersdorff portraits himself as a virtuous Christian who humbly receives and mediates divine knowledge in order to legitimize the information presented. Nevertheless he also impressively demonstrates his surgical skills in text and picture: he is able to treat traumatological fractures, he can prevent illnesses or give palliative medicine according to humoral pathology. In the ‘Feldbuch’ medical knowledge and religious belief are presented side by side as legitimate elements for healing. It is in the hands of God whether the patient recovers or not, but the surgeon can alleviate complaints and function as a divine instrument if he communicates and acts in compliance with God’s will.

Wenn man sich mit Formen der Interaktion und Kommunikation zwischen Mensch und Gott in der mittelalterlichen Fachprosa beschäftigt, geraten alsbald die Vorreden und Autorenbilder der Schriften in den Blick, denn sie sind nicht nur der Ort, an dem der Leser adressiert und ins Werk eingeführt wird, sondern desgleichen eine Bühne, auf der sich die Autoren inszenieren und ihr dargebotenes Wissen legitimieren.1 Dabei 1   Insbesondere die literaturwissenschaftliche und kunsthistorische Forschung hat sich mit dem Phänomen der Autorenbilder auseinandergesetzt, wobei sie an die Typisierung von Abbildungen, die kulturwissenschaftliche Funktionsgeschichte und die material- und produktionsorientierte Mediengeschichte sowie rezeptionsästhetische Fragestellungen anknüpfte. Einführend zur ikonographischen Tradition Peter Bloch, Autorenbild, in: Lexikon der christlichen Ikonographie, Bd. 1 (1994), Sp. 231–234; vgl. auch Sabine Fastert, Der Autor im Bild. Das graphische Autorenporträt in gedruckten Enzyklopädien des 16. Jahrhunderts, in: Frank Büttner, Markus Friedrich u. Helmut Zedelmaier (Hgg.), Sammeln, Ordnen, Veranschaulichen. Zur Wissenskompilatorik in der Frühen Neuzeit, Münster 2004, S. 301–323; Gerald Kampfhammer, Wolf-Dietrich Löhr u. Barbara Nitsche (Hgg.), Autorbilder. Zur Medialität literarischer Kommunikation in Mittelalter und Früher Neuzeit, Münster 2007; Christel Meier, Das Autorbild als Kommunikationsmittel zwischen Text und Leser, Comunicare e significare nell’alto medioevo. 15–20 aprile 2004 (Settimane di Studio del Centro Italiano di Studi sull‘Alto Medioevo 52), Spoleto 2005, S. 499–534; Horst Wenzel, Autorenbilder. Zur Ausdifferenzierung von Autorenfunktionen in

Der Wundarzt. Kommunizieren und Handeln mit Gott

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setzen sich die mittelalterlichen christlichen Autoren auch unmittelbar zum Schöpfer ins Verhältnis, dem Autor aller Autoren. So schildert der Straßburger Wundarzt Hans von Gersdorff in den einführenden Worten seines ›Feldbuchs der Wundarznei‹, dass Gottes Beihilfe die Niederschrift seines Werkes ermöglicht habe.2 Die göttlich inspirierte Textgenese wird im parallel zur Vorrede eingefügten Autorenbild wiederum bildlich umgesetzt (Abb. 1).

Abb. 1: Autorenbild Hans von GERSDORFF. Quelle: Feldbuch der Wundarznei. Nachdruck der Erstausgabe Straßburg 1517 aus der Leopold-Sophien-Bibliothek Überlingen O 6 G, Darmstadt 1967, fol. XIXr.

Der Leser blickt Gersdorff über die Schulter auf ein aufgeschlagenes Buch, sein ›Feldbuch der Wundarznei‹.3 Zu Gersdorffs Rechten steht ein, die göttliche Kraft symmittelalterlichen Miniaturen, in: Elizabeth Andersen (Hg.), Autor und Autorschaft im Mittelalter. Kolloquium Meißen 1995, Tübingen 1998, S. 1–29; Ursula Peters, Das Ich im Bild. Die Figur des Autors in volkssprachigen Bilderhandschriften des 13. bis 16. Jahrhunderts (Pictura et poesis 22), Köln 2008. 2   Hans von Gersdorff, Feldbuch der Wundartzney, Straßburg 1517, Proömium. [VD 16 G 1618] Zwar nehmen auch andere Autoren medizinischer volkssprachlicher Schriften, wie Hieronymus Brunschwig und Eucharius Rößlin, in dieser Zeit in ihren Vorreden Bezug auf den Schöpfer, aber es ist doch im ›Feldbuch‹ eine vermehrte Auseinandersetzung mit der Beziehung Gott-Wundarzt festzustellen. 3   Norbert H. Ott, Texte und Bilder. Beziehungen zwischen den Medien Kunst und Literatur im Mittelalter und Früher Neuzeit, in: Horst Wenzel, Wilfried Seipel u. Gotthart Wunberg (Hgg.), Die Ver-

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bolisierender Engel, der, den ausgestreckten Zeigefinger zum Diktat erhebend, dem Wundarzt Wissen einflüstert.4 Anknüpfend an die Tradition der Autorenbilder der vier Evangelisten5 handelt es sich um ein Inspirationsbild im dialogischen Sinn, welches eine doppelte Autorschaft demonstriert, denn der menschliche Autor wird von Gott zum Schreiben angewiesen.6 Der Autor gewinnt in dieser Weise an Dignität, denn er überliefert wahres, als autorisierter Stellvertreter, göttliches Wissen.7 Gott tritt in diesem Holzschnitt als Inspirationsquelle für die Niederschrift des Werkes auf – eine ganz typische Szene in zeitgenössischen Handschriften und frühen Drucken, die noch keinen direkten Bezug zur Thematik des Werkes, zur Wundarzneikunst, herstellt. Gersdorffs ›Feldbuch der Wundarznei‹, welches 1517 zum ersten Mal bei Johann Schott in Straßburg gedruckt wurde, ist in der Volkssprache verfasst und dem Feld der handwerklichen Künste zuzurechnen.8 28 Holzschnitte begleiten das Werk, wobei unklar ist, ob alle Abbildungen von dem Künstler Hans Wächtlin stammen, der eine Zeitlang in den Diensten des Straßburger Druckers Schott stand.9 Das Werk setzt sich nach dem einführenden Traktat zu Anatomie und Aderlass des Menschen hauptsächlich mit der Traumatologie, d. h. mit den Verletzungen des menschlichen Körpers auseinander, behandelt aber auch Hautkrankheiten und Geschwüre, die Amputation von Gliedmaßen und etwa die Versorgung von Hämorrhoiden. Der dritte Traktat ist dem Aussatz gewidmet. Demnach thematisiert das ›Feldbuch‹ hauptsächlich Krankheiten und Schädigungen des Menschen und die entsprechenden wundärztlichen Behandlungsmöglichkeiten. Da das im Feldbuch präsentierte Wissen grundsätzlich auf den humoralpathologischen Prinzipien basiert, gilt es herauszuarbeiten, wie und an welchen Stellen es mit christlichen Vorstellungen in Verbindung gebracht wird und wie dem Leser diese Beziehung in Text und Bild präsentiert wird. Es ist darüber hinaus zu fragen, welchen Beitrag der Wundarzt leisten kann, um den Körper als schriftlichung der Welt. Bild, Text und Zahl in der Kultur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit (Schriften des kunsthistorischen Museums 5), Wien 2000, S. 107. 4   Wenzel (Anm. 1), S. 8. 5  Zur Tradition der Evangelistenbilder siehe auch Susanne Skowronek, Autorenbilder. Wort und Bild in den Porträtkupferstichen von Dichtern und Schriftstellern des Barock, Würzburg 2000. 6   Meier (Anm. 1), S. 537 (Diskussion). 7   Ebd., S. 519; Wenzel (Anm. 1), S. 6–9. 8   Gersdorffs Werk wird bis ins 17. Jahrhundert von einem breiten Kreis an Lesern rezipiert. Der letzte Nachdruck des Werkes erscheint in Frankfurt bei Egenolffs Erben im Jahr 1606. Hans von Gersdorff, Feldt und Stattbuch Bewerter Wundtartzney, Frankfurt 1606. 9  Giulia Bartrum, German Renaissance prints 1490–1550, London 1995, S. 64. Sicher zuzuschreiben sind Wächtlin nur die beiden großformatigen anatomischen Einblattdrucke, die das ›Feldbuch‹ in der Rezeption begleiten, da im bildbegleitenden Text auf den Künstler hingewiesen wird. Die restlichen Abbildungen umfassen ein breites Themenspektrum; wie Instrumente und Geräte, teilweise in ihrer Handhabung, szenische Darstellungen von operativen oder diagnostischen Vorgängen, anatomische Lehrschemata, Autorenbilder, Heiligenabbildungen und traditionelle medizinische Figuren.

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göttliche Schöpfung zu erhalten. Die enge und zugleich mehrschichtige Verbindung von wundärztlichem Handeln und göttlichem Beistand, das Kommunizieren und Handeln mit Gott, soll daher anhand von ausgewählten Text- und Bildbeispielen untersucht werden.

Die Hand des Wundarztes: Handeln mit Gott Hans von Gersdorff gehört zu den bekanntesten Wundärzten des ausgehenden Mittelalters. Über sein Leben wissen wir allerdings nur sehr wenig. Vermutlich um 1455 geboren10 absolvierte er seine Ausbildung zum Feldscher wohl in den burgundischen Kriegen gegen Karl den Kühnen11 und arbeitete danach vornehmlich im Antoniterspital der Stadt Straßburg, welches bereits im 13. Jahrhundert in der Regenbogengasse errichtet worden war.12 Die Erfahrungen in den burgundischen Kriegen, aber auch seine Expertise in der Behandlung des St. Antoniusfeuers und der Aussatzdiagnostik bestimmten die Auswahl der Wissensfelder des ›Feldbuchs‹. Sein einziges literarisches Werk erschien 1517 in Straßburg und war wohl eng mit der im gleichen Jahr in Straßburg stattgefundenen Sektion eines Leichnams verbunden.13 Wenig später, spätestens vor der Mitte des Jahres 1520, verstarb der Straßburger Wundarzt.14 In der Vorrede seines Werkes schreibt Gersdorff, dass er auf eine vierzigjährige Berufspraxis zurückblicken könne und nun seinen Wissensschatz, den er ursprünglich nur seinen Söhnen weiterzugeben beabsichtigte, einem breiteren Publikum, allen voran den Wundärzten und interessierten medizinischen Laien, zur Verfügung stellen

10  Joachim Telle, Hans von Gersdorff – ein Praktiker schreibt für den ungelehrten Wundarzt, in: Elmar Mittler (Hg.), Bibliotheca Palatina: Katalog zur Ausstellung vom 8. Juli – 2. November 1986, Heiliggeistkirche Heidelberg. Textband (Heidelberger Bibliotheksschriften 24), Heidelberg 1986, S. 340. 11   Gersdorff (Anm. 2), fol. XXXVr. 12  Médard Barth, Antoniter, in: Handbuch der elsässischen Kirchen im Mittelalter, Straßburg 1960, Sp. 1340. 13  Leon Dacheux, Les Annales de Sebastien Brant (Fragments des anciennes chroniques d’Alsace 3), Straßburg 1892, S. 237, Nr. 3435. Zur Problematik des Begriffs ›Annalen‹ siehe Jean-Yves Mariotte, Les sources manuscrites de l’histoire de Strasbourg, Tome I: Des origines à 1790, Strasbourg 2000, S. 49. 14   Archives de la ville et de la communauté urbaine de Strasbourg, KS 13, fol. 102r–103r. Bislang wurde als Todesjahr 1529 angenommen. Vgl. Ernest Wickersheimer, Hans von Gersdorff, in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 6 (1964), S. 322–323. Diese Korrektur hat weitreichende Folgen für die Rezeptionsgeschichte des Werkes, denn die ab 1526 einsetzenden Veränderungen des ›Feldbuchs‹ können nicht auf den Straßburger Wundarzt zurückgehen. Eine ausführlichere Auseinandersetzung mit Hans von Gersdorffs Biographie, der Genese, der Verbreitung und dem Wandel des Feldbuchs erfolgt in: Melanie Panse, Hans von Gersdorffs ›Feldbuch der Wundarznei‹. Produktion, Präsentation und Produktion von Wissen (Trierer Beiträge zu den historischen Kulturwissenschaften 7), Wiesbaden 2012.

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wolle.15 Diese Unterweisung sei dringend erforderlich, denn der Beruf des Wundarztes setze, so Gersdorff, eine Bandbreite von Kompetenzen vorraus. Nicht nur müsse er handwerklich geschickt und intelligent sein, sondern ebenso eines demütigen gemüts vnd züchtiger von naturen dann ein ander hant würcker, denn seine kunst vnd practica berürt des menschen leben.16 Gersdorff betont daher in seinem ›Feldbuch der Wundarznei‹, dass ein Wundarzt neben Begabung versierte praktische Fertigkeiten erwerben muss, um seiner Verantwortung gerecht zu werden. Zu den geforderten Tugenden gehören desweiteren eine demütige christliche Lebensführung und der tägliche Besuch der Messe (als ein christen man in der forcht gotts stand vnd alle tag sein messz hör)17, denn ein chirurgicus müsse sich bewusst sein, dass der Schöpfer in letzter Ins­ tanz über Leben und Tod der Patienten entscheide. Mit dem Beistand Gottes könne dem gottesfürchtigen Wundarzt nichts misslingen.18 Der Wundarzt behandele des menschen leib wo der offen ist, gehawen oder zerbro­ chen und seine Aufgabe sei, ihn wider zusamen fugen oder gantz zumachen als es vor ist gewesen.19 Sein Auftrag bestünde also darin den ursprünglichen Zustand des Menschen nach Möglichkeit wiederherzustellen. Dies ist die Handlungsmaxime, die sich durch den gesamten traumatologischen Teil des ›Feldbuchs‹ zieht, die allerdings nur greifen kann, wenn keine irreparable Schädigung der Strukturen vorliegt. In diesem Zusammenhang auffällig ist die wiederkehrende, der Etymologie von »Chirurg« entsprechende Darstellung der Hand als Werkzeug20 des Wundarztes bei der Durchführung chirurgischer Eingriffe, wie bei einer Serie von Streckapparaten und Extensionsvorrichtungen (Abb. 2), mit denen krumme, versteifte Glieder täglich etwas mehr extendiert werden sollen.21 Sie veranschaulichen, dass die Hand das hauptsächliche Instrument des Arztes ist, das allen anderen Mitteln vorzuziehen ist.22 Die Hand kann symbolisch vielfältig gedeutet werden.23 Ihre Visualisierung lässt Autor und »Handlung« im Bild sicht  Gersdorff (Anm. 2), Proömium. Einer seiner Söhne scheint tatsächlich den Beruf des Wundarztes weitergeführt zu haben. Marie-Claude Weislinger, Le ›Feldtbuch der Wundartzney‹ de Hans von Gersdorff (1517) et les débuts de la chirurgie de guerre et traumatologique moderne. Commentaires-Première traduction française, Strasbourg 1983, S. 20. 16   Gersdorff (Anm. 2), fol. XIXv. 17  Ebd. 18  Ebd. 19  Ebd. 20   Vgl. zur Hand als Werkzeug: Mariacarla Gadebusch-Bondio, Warum eine Medizin- und Kulturgeschichte der Hand? Einleitende Gedanken, in: Dies. (Hg.), Die Hand. Elemente einer Medizin- und Kulturgeschichte (Kultur, Forschung und Wissenschaft 14), Berlin 2010, S. IX–XVIII. 21   Gersdorff (Anm. 2), fol. XXXVIr. 22   Gadebusch-Bondio (Anm. 20), S. IX. 23   Die Gotteshand steht in einer langen ikonographischen Tradition und wurde zum zentralen Symbol der Schöpferkraft des Logos, der omnipotente Ganzheit des Schöpfers, und zu seiner Stellvertretung. 15

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Abb. 2: Instrument zu dem krumen Arm. Quelle: GERSDORFF (wie Abb. 1), fol. XXXIIIIv.

bar werden. Sie lenkt aber auch den Blick auf ein Detail der Darstellung, auf die zu bedienenden Schrauben und zeigt das Tätigkeitsfeld des Chirurgen auf, symbolisiert Handhabbarkeit und steht für den Gebrauch des Werkzeugs. Nicht zuletzt können die Instrumente in ihrer angedeuteten Handhabung auch als Wahrheitsdemonstration verstanden werden, welche die Glaubwürdigkeit und Richtigkeit der Vorgehensweise unterstreichen.24 Bemerkenswert ist in unserem Zusammenhang, dass die dargestellten Hände aus Wolken hervorkommen und damit eine Darstellungsweise aufgreifen, die auf einen engen Bezug zum Schöpfer hindeuten. Denn aus den Wolken kommend steht die Hand im Mittelalter meist für die Hand Gottes als zentrales Symbol der SchöpferVgl. Jörn Münkner, Eingreifen und Begreifen. Handhabungen und Visualisierungen in Flugblättern der Frühen Neuzeit (Philologische Studien und Quellen 214), Berlin 2008, S. 33–35. 24  Martin Kemp, Bilderwissen. Die Anschaulichkeit naturwissenschaftlicher Phänomene, Köln 2003, S. 39–42.

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kraft.25 Sie veranschaulicht in diesem Sinne die Stimme Gottes und sein Eingreifen in die irdische Welt.26 Der Künstler des ›Feldbuchs‹ lädt dieses Motiv allerdings neu auf; er stellt nicht die Hand Gottes dar, sondern die Hand des Wundarztes, die ihn als pars pro toto vertritt.27

Der Heilige Antonius: Handeln und Kommunizieren mit Gott Während diese Holzschnitte die Handlungsfähigkeit des Wundarztes unterstreichen, rufen andere Darstellungen und Textpassagen in Erinnerung, dass bei schweren Erkrankungen Gott in letzter Instanz über Leben und Tod der Menschen und das Gelingen der Wundarzneikunst entscheidet, so auch im Fall des Sankt-Antoniusfeuers.28 Der die Ausführungen begleitende Holzschnitt des Heiligen Antonius verweist auf Gott als omnipotente Autorität, allerdings wird hier die Vermittlerrolle des Heiligen zwischen Gott und den Menschen akzentuiert (Abb. 3). Antonius, der Patron der am Sankt-Antoniusfeuer Erkrankten, wird mit den entsprechenden, traditionell-geprägten ikonographischen Attributen, wie Mönchskleidung, Tau-Kreuz, Antonius-Schwein und Glöckchen, dargestellt und steht, versehen mit einem zu einer Sonne stilisierten Nimbus, als Stellvertreter für die heiligen Nothelfer im Mittelalter, die im Krankheitsfall angerufen werden konnten.29 Hinter dem Fürsprecherwesen der mittelalterlichen Heiligen steckt das Verständnis, dass Krankheit als Sündenbestrafung widerfahren konnte und drückt die Verzweiflung der Menschen und ihre Hilflosigkeit im Krankheitsfall aus.30 Sie bitten daher, wie der Merkvers des Holzschnitts eindrucksvoll wiedergibt, um Ablass ihrer Sünden sowie Gottes Beistand und wenden sich an den Heiligen, der sie vor der schweren Krank Horst Wenzel, Von der Gotteshand zum Datenhandschuh. Zur Medialität des Begreifens, in: Sybille Krämer u. Horst Bredekamp (Hgg.), Bild, Schrift, Zahl (Reihe Kulturtechnik), München 2003, S. 30. 26   Red., Hand Gottes, in: Lexikon christlicher Ikonographie, Bd. 2 (1970), Sp. 211–214. 27   Münkner (Anm. 23), S. 29. 28   In vielen medizinhistorischen Einführungen wird diese Erkrankung mit dem Ergotismus, also dem Mutterkornbrand gleichgesetzt, der eine durch Schlauchpilze am Roggen ausgelöste Vergiftung ist. Retrospektive Diagnosen sind allerdings mit Vorsicht zu genießen, da weder die schriftliche Überlieferung eine eindeutige Zuweisung der Krankheit zulässt, noch die Erreger unverändert geblieben sein müssen. Vgl. Adalbert Mischlewski, Antoniter, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 1 (1980), Sp. 734–735. Zur grundsätzlichen Problematik retrospektiver Diagnosen vgl. Karl-Heinz Leven, Krankheiten: Historische Deutung versus retrospektive Diagnose, in: Norbert Paul u. Thomas Schlich (Hgg.), Medizingeschichte: Aufgaben, Probleme, Perspektiven, Frankfurt 1998, S. 153–185. 29  Günter Engel, Das Antoniusfeuer in der Kunst des Mittelalters: die Antoniter und ihr ganzheitlicher Therapieansatz, in: Antoniter Forum 7 (1999), S. 13; Ekkart Sauser, Antonius, in: Lexikon der christlichen Ikonographie, Bd. 5 (1994), Sp. 205–217. 30   Kay Peter Jankrift, Mit Gott und schwarzer Magie. Medizin im Mittelalter, Darmstadt 2005, S. 15. 25

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Abb. 3: Antonius. Quelle: GERSDORFF (wie Abb. 1), fol. LXVv.

heit behüten soll: O heylger herr Antony groß. Erwürb vns gnad on vnderloß. Abloß der sünd, gots huld vnd gunst, Behüt vns vor deim schweren brunst.31 Als Sieger im Dämonenkampf wurden dem Heiligen Antonius besondere Heilkräfte zugesagt; seine Fürbitte sollte gegen das Höllenfeuer helfen.32 Da die Erkrankung des Sankt-Antoniusfeuers mit starken, brennenden Schmerzen einhergeht, versprach der Heilige Beistand für die Erkrankten.33 Die Figur, die sich am unteren Bildrand flehentlich an den Heiligen richtet und ihn um Hilfe ersucht, steht stellvertretend für einen Erkrankten, der sichtbare Merkmale der Krankheit präsentiert. So ist das rechte Bein teilweise abgenommen und an seiner Stelle ein Holzbein eingesetzt. Das einprägsamste Symptom der Krankheit aber ist symbolisch dargestellt: die brennende Hitze in den Gliedern in Form der flammenden Hand. Dass die Leser des ›Feldbuchs‹ durchaus die Kraft der   Gersdorff (Anm. 2), fol. LIXv.   Engel (Anm. 29), S. 23–26. 33  Heinrich Trebbin, Sankt Antonius. Geschichte, Kult und Kunst, Frankfurt 1994, S. 31. 31 32

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Fürbitte nutzen wollten, unterstreicht ein handschriftlicher Eintrag eines überlieferten Exemplars in Zwickau. So schrieb ein Leser Sancte Antoni ora pro nobis neben die Abbildung des Heiligen Antonius und versuchte so vielleicht seiner Fürbitte Dauerhaftigkeit und damit größere Wirksamkeit zu verleihen.34 Die Verehrung des Heiligen Antonius ist eng mit dem Antoniterorden verknüpft, so dass die Figur des Heiligen auch die Lebenswelt Gersdorffs reflektiert, der im Straßburger Antoniterspital arbeitete. Da das Sankt-Antonius-Feuer oftmals dazu führt, dass brandige Glieder entfernt werden müssen, beschäftigt sich Gersdorff im entsprechenden Kapitel zuletzt mit Techniken der Gliedabnahme. Hier zeigt sich, das Handeln und Kommunizieren mit Gott eng miteinander verbunden sind. Der begleitende Holzschnitt einer Unterschenkelamputation (Abb. 4) demonstriert die Handlungsspielräume des Wundarztes und präsentiert Gersdorff als routinierten und erfahrenen Praktiker, der mit eigenen Händen Eingriffe vornimmt.35 Im Text betont Gersdorff demgegenüber erneut die Bedeutung des Schöpfers für die Genesung der Erkrankten. So soll der Wundarzt vor der Amputation die Messe besuchen, denn so gibt jm got glück zu seiner würckung.36 Diese Vorbereitungen verdeutlichen, dass man sich Gottes Beistand bei einem schwerwiegenden und lebensgefährlichen Eingriff wünschte. Starb ein Patient bei einer solchen Behandlung, konnte zugleich die göttliche Entscheidungsgewalt als Erklärungsmuster herangezogen werden.37

34  Zwickau, Ratsschulbibliothek, 22.10.41, fol. LXVv. Zur Praxis der Bildbeschriftung Peter SCHMIDT, Beschriebene Bilder. Benutzernotizen als Zeugnisse frommer Bildpraxis im späten Mittelalter, in: Klaus SCHREINER (Hg.), Frömmigkeit im Mittelalter. Politisch-soziale Kontexte, visuelle Praxis, körperliche Ausdrucksformen, München 2002, S. 348. 35   Gersdorff (Anm. 2), fol. LXXIr. 36   Gersdorff (Anm. 2), fol. LXXr. In diesem Kontext tritt Gersdorff wiederum als Wundarzt in Erscheinung, der mittels Erfahrung und Wissen handlungsfähig ist. Visuell in Szene gesetzt demonstriert Gersdorff, dass er seine beschränkten Handlungsmöglichkeiten ausnutzt und seine Handwerkskunst vorbildlich ausführt. 37   Die mittelalterliche Medizin kann nicht falsifiziert werden. Das humoralpathologische Deutungsmuster, die kosmischen Einflüsse, das menschliche Handeln und nicht zuletzt die göttliche Kraft bieten vielschichtige Erklärungsmuster für das Erkranken, Genesen oder auch Versterben eines Patienten. Ortrun Riha, Die subjektive Objektivität der mittelalterlichen Medizin, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 18 (1995), S. 7f.; Dies., Mikrokosmos Mensch. Der Naturbegriff in der mittelalterlichen Medizin, in: Peter Dilg (Hg.), Natur im Mittelalter: Konzeptionen-Erfahrungen-Wirkungen, Berlin 2003, S. 118; Dies., Gesundheit als Norm, Krankheit als Normalität. Die Ordnung des Lebens und die Ordnung der Welt in der mittelalterlichen Medizin, in: Doris Ruhe u. Karl-Heinz Spiess (Hgg.), Prozesse der Normbildung und Normveränderung im mittelalterlichen Europa, Stuttgart 2000, S. 84.

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Abb. 4: Amputation. Quelle: GERS­ DORFF (wie Abb. 1), fol. LXXIr.

Ijob: Kommunizieren mit Gott Besonders eindrücklich sind die Grenzen wundärztlichen Handelns angesichts unheilbarer Krankheit, wie der Aussatz-Erkrankung. Gersdorff betont bereits im ersten Absatz des Kapitels über die cura oder heylung lepre38: es ist noch lauff der natur nitt müglich daz man die maltzey curieren mög die do befestiget ist, man mage aber wol curam palliativam bruchen.39 Gersdorff präsentiert daher nach der ausführlichen Beschreibung der Krankheitszeichen präventive Maßnahmen, die den Ausbruch der Krankheit verhindern sollen und darauf abzielen, schlechte Säfte aus dem Körper zu leiten, um gemäß dem humoralpatholgischen Krankheitskonzept das Gleichgewicht 38 39

  Gersdorff (Anm. 2), fol. LXXVIIIr.  Ebd.

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der Säfte zu bewahren.40 Zur Regulierung der Säfte empfiehlt er so etwa den Aderlass oder die Purgation des Menschen. Anschließend stellt Gersdorff palliative Maßnahmen vor, die lindernd wirken und den Patientenzustand stabilisieren sollen, ohne die eigentliche Ursache der Erkrankung zu beseitigen.41 Dass der Wundarzt die Krankheit zwar lindern kann, allein die göttliche Gnade aber zu heilen vermag, unterstreicht der Holzschnitt der alttestamentarischen Figur Ijob, welcher dem Traktat über den Aussatz beigegeben ist (Abb. 5). Vollständig mit Geschwüren bedeckt sitzt Ijob entsprechend seiner traditionellen ikonographischen Darstellungsweise auf einem Aschehaufen.42 Er stützt seinen Kopf, der von einem Nimbus umgeben ist, auf die rechte Hand und wirkt in Trauer versunken.43 In dieser Weise fasst der Holzschnitt die Bibelgeschichte zusammen, in der Ijob die Prüfungen Gottes erduldet und versinnbildlicht, Hoffnung, Glauben, Durchhaltevermögen sowie Geduld. In der mittelalterlichen Theologie gelten die Leiden des Ijob auch als Präfiguration der Passion Christi, als Symbol für die Errettung der Seele und die Auferstehung.44 Im konkreten Text-Bild-Zusammenhang steht Ijob stellvertretend für Lepröse und die Aussatzerkrankung im Allgemeinen, die im göttlichen Kontext dargestellt wird. Das über Ijob schwebende menschlich-tierische Mischwesen, welches Elemente unterschiedlich negativ konnotierter Tiere aufweist,45 kann als Teufel, als Strafe und auch als Krankheit decodiert werden. Die Ruten des Wesens betonen den züchtigenden Charakter: Ijob wird mit Krankheit geschlagen.46 Die Darstellung des Satans impliziert ebenfalls Gott, da er als dessen Handlanger in der Bibelgeschichte auftritt. Allerdings veranschaulicht dies die leidbringende Seite Gottes, welche auch der bildbegleitende Merkvers akzentuiert:

40   Gersdorff unterteilt den Aussatz in anfang, merung, statum. vnd hinzyehung zu dem tod. Gersdorff (Anm. 2), fol. LXXIr. Entsprechend unterscheidet er bei der Behandlung nach dem Stand der Erkrankung. Gersdorff (wie Anm. 2), fol. LXXVIIIr: Zu den Einteilungen der Krankheit vgl. auch Luke E. Demaitre, Leprosy in premodern medicine. A malady of the whole body, Baltimore 2007, S. 175–176. 41   Pschyrembel. Klinisches Wörterbuch, 258. Aufl. Berlin 1998, S. 1185. 42  Géza Jászai, Job, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 5 (2002), Sp. 490. 43  Ulrich Kuder, Der Aussätzige in der mittelalterlichen Kunst, in: Jörn Henning Wolf (Hg.), Aussatz, Lepra, Hansenkrankheit. Ein Menschheitsproblem im Wandel der Zeit. Teil II: Aufsätze, Würzburg 1986, S. 231. 44  Rainer Budde, Job, in: Lexikon christlicher Ikonographie, Bd. 2 (1970), Sp. 414. 45   Wie etwa Schlange, Greif und Drache. Nigel Harris, Tiersymbolik, in: Theologische Realenzyklopädie 33 (2002), S. 547. 46   Siehe Fußnote 51 Belker-van-den Heuvel, S. 271.

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Abb. 5: Ijob. Quelle: GERSDORFF (wie Abb. 1), fol. LXXIIr.

Got gab, got nam huß, hoff, kind, gut, Vnd satzt mich vnders teüfels rut. Mein weyb, vnd blo­ tren47 peingten mich, noch lydt ichs alles gdultigklich.48

Der Merkvers fasst nicht nur das Buch Ijob kurz und einprägsam zusammen,49 sondern kann als Aufforderung an die Kranken und die Wundärzte verstanden werden,   Blatera meint Hautbläschen, Blattern, Pustel, Geschwüre; vgl. Jörg Riecke, Die Frühgeschichte der mittelalterlichen medizinischen Fachsprache im Deutschen, Bd. 1, Berlin, New York 2004, S. 295. Der Begriff der Blattern wird in diesem Kontext wohl als umfassende, übergeordnete Krankheitskategorie benutzt, die unterschiedliche Hautkrankheiten beschreibt, die mit Geschwürbildung einhergehen. 48   Gersdorff (Anm. 2), fol. LXXIIr. 49  Der gerechte und gottesfürchtige Ijob verliert nicht nur seinen Besitz, seine Dienerschaft und seine Kinder, sondern wird zusätzlich mit Aussatz geschlagen. Ludger Schwienhorst-Schönberger, Das Buch Ijob, in: Erich Zenger (Hg.), Einleitung in das Alte Testament, 7. Aufl. Stuttgart 2007, S. 989. 47

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sich an Ijobs Duldsamkeit zu orientieren, um Kraft und Hoffnung zu schöpfen. Obwohl Ijob seine Krankheit als Verlust seiner Kraft, Integrität und seiner gesamten Existenz erfährt,50 hält er in der Rahmenhandlung an Gott als Kommunikationspartner fest und nimmt sein Leid gottergeben an.51 Dieses Verhalten und Gottes Erbarmen sind die Gründe dafür, dass er schließlich körperlich unversehrt in irdischen Wohlstand zurückversetzt wird.52 Der Künstler greift also ausschließlich die Rahmenhandlung des Buchs Ijob auf, in der Ijob als Dulder auftritt. Die Figur des Rebellen in den späteren Dialogszenen blendet er hingegen absichtlich aus.53 Der Holzschnitt thematisiert letztlich die Theodizee, also die Rechtfertigung des Glaubens an einen allmächtigen, gütigen Gott angesichts von Schmerz und Elend und die Frage nach dem rechten Verhalten im Leid. Sowohl die Heilkundigen als auch die Patienten werden aufgefordert, Ijobs Beispiel zu folgen und aktiv mit Gott zu kommunizieren, denn Heilung und Genesung sind nur in Verbindung mit der Barmherzigkeit und Gnade Gottes möglich.

Zusammenfassung Die skizzierten Beispiel zeigen, dass sich das ›Feldbuch‹ nicht nur rein medizinischen Fragen zuwendet, sondern sind ein Ausdruck dafür, wie in der heilkundlichen Fachliteratur zahlreiche Diskurse nebeneinanderfließen konnten und ursprünglich antikheidnisches Wissen äußerlich mit dem christlichen Weltbild des Mittelalters verbunden wurde.54 Wundärztliches Handeln und göttlicher Beistand, das Kommunizieren und das Handeln mit Gott, sind, wie die Text- und Bildbeispiele demonstrieren, eng miteinander verknüpft. Der Erfolg der mittelalterlichen Heilkunde ist grundsätzlich an die Barmherzigkeit eines omnipotent gedachten Gottes gebunden. Der Schöpfer bestimmt das Wissen und die Grenzen der mittelalterlichen Medizin – er entscheidet über Leben und Tod eines Menschen. Sein Eingreifen kann demgemäß heilkundliche Erfolge wie auch Niederlagen erklären. Gersdorff inszeniert sich vor diesem Hintergrund als tugendhafter Christ, der demütig das göttliche Wissen empfängt und verbreitet, sich dabei aber seiner Grenzen stets bewusst ist. Er stilisiert sich als Vermittler wahren Wissens zwischen dem Schöp Jürgen Ebach, Streiten mit Gott. Teil 1: Hiob 1–20, Neukirchen 1995, S. 35.   Schwienhorst-Schönberger (Anm. 48), S. 341. 52  Jürgen Belker-van-den Heuvel, Aussätzige. »Tückischer Feind« und »Armer Lazarus«, in: BerndUlrich Hergemöller (Hg.), Randgruppen der spätmittelalterlichen Gesellschaft, Warendorf 2001, S. 272. 53   Zur Unterscheidung der beiden Figuren vgl. Schwienhorst-Schönberger (Anm. 48), S. 341. 54  Ortrun Riha, Der Naturbegriff in der mittelalterlichen Medizin, in: Wieland Berg, Sybille Gerstengarbe, Andreas Kleinert, u. a. (Hgg.), Vorträge und Abhandlungen zur Wissenschaftsgeschichte 2002/3 & 2003/4 (Acta Historica Leopoldina 48), Halle 2007, S. 63–78, hier S. 63. 50 51

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fer und seinem potentiellen Rezipienten und legitimiert in dieser Weise sein Werk der Wundarznei. Krankheiten vermag nur Gott allein zu heilen. Nichts desto trotz kann der Wundarzt durchaus nach seinem Vermögen Dienst am Kranken leisten. Er kann Knochen reponieren, auf humoralpathologischer Basis präventiv oder palliativ eingreifen, als Instrument göttlicher Milde Krankheiten lindern und in dieser Weise den menschlichen Körper als göttliche Schöpfung bewahren. Das Bitten um göttlichen Beistand soll seinen Arbeitsprozess begleiten und die Genesung der Kranken fördern. So soll der Wundarzt nicht nur regelmäßig beichten und zur Messe gehen, sondern auch Heilige um Fürsprache bitten. Die Figur des Ijob führt dem Leser das rechte Verhalten angesichts unheilbarer Krankheit vor Augen. Nur wer mit Gott kommuniziert und handelt, kann Krankheit erdulden und auf die Gnade Gottes hoffen.

Der abwesende Gott. Zur laientheologischen Grundlegung der êre im ›Eckenlied‹ (E2) Ralf Schlechtweg-Jahn

The ‘Eckenlied’ discusses the connection between two aspects of honour, the act itself establishing or supposedly establishing honour, and the talk about honour, establishing one’s ‘honourable reputation’. In Ecke’s opinion there should be a close connection between the act itself and the talk about it; yet the connection turns out to be much more complex. In the ‘Eckenlied’, talk about the honour of Dietrich is frequent and widespread, even though he may be a murderer. Dietrich himself has a courtly conception of honour, although Ecke regards him as a coward. In the end, Dietrich has to kill Ecke without applying concepts of honour, an act within the narrative that leaves the reader in a dilemma: Since Dietrich is now a murderer, can he still be an honourable man? In the end, honour is similar to faith – you have to believe in it.

In seinem Zweikampf mit Ecke hat Dietrich von Bern ein gewaltiges Problem, denn Ecke steckt in einer Rüstung, die für (fast) jedes Schwert undurchdringlich ist. Wie aber tötet man einen Gegner, der in einer undurchdringlichen Rüstung steckt, die jedem Schlag mit dem Schwert trotzt? Auf denkbar hässliche Weise: Dietrich reißt Ecke den Helm vom Kopf, schlägt ihn mit dem Schwertknauf bewusstlos, hebt dann die unteren Teile des Kettenpanzers hoch und stach das swert durch Eggen (Str. 140, 12).1 Im Kontext höfischer Literatur aber ist, was Dietrich hier tut, eine vollkommen ehrlose Tat und tatsächlich beurteilt auch Dietrich selbst das nicht anders: ich darf mich nut gelichen / ze kainem, der mit eren gar / lebt (Str. 141, 6–7).2 Eckes Suche nach Ehrgewinn führt einen so bekannten wie herausragenden Herrscher und Helden wie Dietrich von Bern in die paradoxe Situation, unverschuldet unehrenhaft handeln zu müssen. Mit dieser Problematik, und das ist die Ausgangsthese meiner Überlegungen,  Ich zitiere nach: Das Eckenlied. Mittelhochdeutsch/ Neuhochdeutsch. Text, Übersetzung und Kommentar v. Francis B. Brévart (Reclams Universal-Bibliothek 8339), Stuttgart 1986; vgl. auch Das Eckenlied. Sämtliche Fassungen, 3 Bde, hrsg. v. Francis B. Brévart (Altdeutsche Textbibliothek 111), Tübingen 1999. 2   Das bedeutet übrigens nicht, dass Dietrich als Figur insgesamt im Höfischen aufgeht, er trägt ja selbst deutlich heroische Züge (vgl. Udo Friedrich, Transformationen mythischer Gehalte im Eckenlied, in: ders. u. Bruno Quast [Hgg.], Präsenz des Mythos. Konfigurationen einer Denkform in Mittelalter und Früher Neuzeit, Berlin 2004, S. 275–298). 1

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versucht der Text durch Rückbindung der Ehre an ein laientheologisches Konzept des voraussetzungslosen Glaubens umzugehen.

1  Offene Ehrperspektiven Die Ehrthematik wird im ›Eckenlied‹ gleich zu Anfang kontrovers entfaltet. Drei riesenhafte Helden – Ecke, Vasolt und Ebenrot – sitzen in ihrer Burg am Rhein zusammen und erzählen von Tapferkeit und Heldenmut. Dabei kommt auch Dietrich von Bern zur Sprache, über dessen großen Ruhm sich alle drei zunächst einmal einig sind: sie retont al geliche, / das nieman kuener waer ze not, / den von Bern her Dietheri­ che (Str. 2, 8–10). Dann allerdings entwickelt jede Figur eigene Perspektiven auf Dietrich, die gegensätzlicher kaum sein könnten. Während nämlich Vasolt Dietrich zum vorbildlichen, ehrenhaften Helden stilisiert, erklärt Ebenrot ihn kurz und bündig zum feigen Mörder. Der Streit entzündet sich konkret am Tod Hildes und Grins, denn während Ebenrot behauptet, Dietrich habe die beiden im Schlaf erschlagen, beteuert Vasolt, es sei ein ehrenhafter und offener Kampf gewesen. Vasolt wie Ebenrot wissen aber von diesem Kampf nur von Hörensagen3 und können auch keine Beweise für ihre Standpunkte beibringen. Vasolt versucht deshalb, seine Argumentation mit einer Art Transzendenzbezug abzusichern: sit das nu den Bernaere/ vro Saelde hat an sich genomen (Str. 10, 6f.) – Frau Saelde persönlich soll Dietrichs Ehre garantieren. In diesem Streitgespräch wird deutlich, dass Ehre wesentlich aus zwei Komponenten besteht. Auf der einen Seite gibt es das Gerede über Dietrich, auf der anderen die Tat, die dem Gerede zugrunde zu liegen scheint.4 Trotz der Unklarheit über die Tat sind sich Vasolt und Ebenrot aber darin einig, dass Dietrich einen fulminanten Ruf hat. Das heißt aber nichts anderes, als dass Ehre hier weitgehend darauf basiert, dass über einen Helden geredet wird – ob die Tat, die dem Reden zugrunde liegt, nun tatsächlich ehrenhaft war oder nicht, tritt demgegenüber überraschend zurück. Ehre ist in der höfischen Literatur generell durch den Zusammenhang von Tat und Anerkennung der Tat durch eine adlig-höfische Öffentlichkeit bestimmt, die entweder 3 »   Die kontroverse Diskussion bringt zum Ausdruck, daß ritterlicher Kampf aus Mangel an Augenzeugen als mort mißdeutbar wird.« Marie-Luise Bernreuther, Herausforderungsschema und Frauendienst im Eckenlied, in: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 117 (1988), S. 173– 201, hier S. 180. Wie sich zeigen wird, geht die Problematik im ›Eckenlied‹ aber tiefer. 4   Oder wie Keller es formuliert hat: »Die Dietrichfigur des ›Eckenliedes‹ befindet sich von Anfang an im Spannungsfeld des Hörensagens, dessen Faktizität nicht per se gegeben ist.« Hildegard Elisabeth Keller, Dietrich und sein Zagen im ›Eckenlied‹ (E2). Figurenkonsistenz, Textkohärenz und Perspektive, in: Jahrbuch der Oswald-von-Wolkenstein-Gesellschaft 14 (2004), S. 55–75, hier S. 62. Vgl. ähnlich auch Michael Egerding, Handlung und Handlungsbegründung im Eckenlied, in: Euphorion 85 (1991), S. 397–408, hier S. 399.

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unmittelbar Zeuge ist, oder aber durch Zeugen oder Beweismittel Kenntnis erhält. In der Abhängigkeit von der Anerkennung durch Andere ist die höfische Ehre nichts anderes als der Gradmesser für den Ruf, den ein Ritter für seine Taten bei anderen Rittern genießt. In seiner Untersuchung zum ›Iwein‹ Hartmanns von Aue hat Hubertus Fischer diesen Zusammenhang umfassend beschrieben. Unter konkretem Bezug auf die Entführung Ginovers, die Artus nach gegebenem Versprechen um seiner Ehre Willen geschehen lassen muss, schreibt Fischer: Die Ehre erweist sich so als eine selbständige Macht gegenüber den Individuen, die sie auch das Verwerflichste geschehen zu lassen zwingt. Sie ist zwar ihre Reflexion auf ihre Selbständigkeit und abstrakte Unverletzlichkeit, verkehrt sich aber zu einer verselbständigten Macht gegenüber den Individuen, die nunmehr, statt daß sie sich in ihr durch nichts beschränkt wissen, sie gerade umgekehrt beschränkt und unfrei macht.5

Durch die Ehre wird Artus und jeder höfische Ritter »durch die Vorstellung, die er von sich hat und die ebenso in der Meinung der anderen sein soll, beherrscht. Sie bestimmt, was er zu tun und zu lassen hat.« Fischer spricht hier von einer »Verdoppelung des ehrbewußten Subjekts in ein reales und eines, das sich erst über die Meinung der anderen«6 konstituiert. An genau dieser Verdoppelung arbeitet das ›Eckenlied‹ sich dadurch ab, dass es diesen Zusammenhang von Tat und Ruf auf die Spitze treibt, indem es ihn zerreißt und den Ruf von der Tat trennt. Genau da setzt Ecke ein, wenn er in der Unterhaltung der Helden nun das Wort ergreift und darüber klagt, dass über die Taten, die er vollbracht hat, niemand redet.7 Er selbst sagt, er habe wol hundert man erfalt (Str. 15, 2), Taten, die von niemandem bestritten, aber auch von niemandem bestätigt oder zur Kenntnis genommen werden. In der epischen Welt des ›Eckenliedes‹ verbreitet sich der Ruhm nach der Tat nicht mehr wie von selbst,8 sondern muss verbreitet werden, und daran hat außer Ecke selbst nie Hubertus Fischer, Ehre, Hof und Abenteuer. Vorarbeiten zu einer historischen Poetik des höfischen Epos, München 1983, S. 141. 6   Fischer (Anm. 5), S. 142. 7   Bernreuther sieht Eckes Problem darin, dass für ihn nur der zweite Platz bliebe, solange Dietrich so gelobt werde. Tatsächlich ist Eckes Problem aber ganz fundamental, denn offenbar hat er gar keinen Platz in der Hierarchie der Ehre, nicht mal den zweiten (Bernreuther [Anm. 3], S. 175). Wenn Brévart Ecke naiv, besessen und eifersüchtig nennt, verfehlt er grundsätzlich den historischen Kontext von Ehre, vgl. Francis B. Brévart, Der Männervergleich im Eckenlied, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 103 (1984), S. 394–406, hier S. 397. 8   Bezugnehmend auf das Nibelungenlied schreibt Müller: Von der heroischen Welt »[...] gibt es offenbar ein ›Wissen‹, über das nicht nur einzelne ihrer Figuren wie Hagen gebieten, sondern das auch dem Epiker unausgesprochen zur Verfügung steht und das er bei seinen Hörern [...] voraussetzt [...]« (Jan-Dirk Müller, Woran erkennt man einander im Heldenepos? Beobachtungen an Wolframs ›Willehalm‹, dem ›Nibelungenlied‹, dem ›Wormser Rosengarten A‹ und dem ›Eckenlied‹, in: Gertrud Blaschitz u. a. [Hgg.], Symbole des Alltags, Alltag der Symbole. Festschrift für Harry Kühnel zum 65. Ge5

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mand ein Interesse. Eckes Auszug zum Kampf gerät damit in den Sog einer Ambivalenz der Ehre. Ecke sieht seinen Anspruch auf Ruhm in seinen Taten begründet – aber seine Taten haben ihm den erwünschten Ruhm nicht gebracht. Über Dietrichs Taten besteht Unklarheit – aber Dietrichs Ruf ist unbestritten. Für die Differenz von Ruhmrede und Tat hat Ecke aber letztlich keinen Sinn und so kann er auch in der Konfrontation mit Dietrich nur Eindeutigkeit suchen.

2  Dietrichs und Eckes Zweikampf Wie kommt bei alledem nun Gott ins Spiel? Ein direktes Eingreifen Gottes ist in der höfischen Literatur durchaus möglich, aber eher die Ausnahme9 und ist auch im ›Eckenlied‹ nicht zu finden. Auch der Erzähler ist auffallend zurückhaltend, wenn es darum geht, Gott ins Spiel zu bringen, Gott ist vor allem in der Figurenrede präsent. Darüber hinaus schlägt sich der Gottbezug aber auch strukturell im Aufbau der Kampfszene nieder, die durch einige auffällige Erzähldoppelungen gekennzeichnet ist: Str. 85; 92 Transzendenzbezug Immanenz- 1. Kampfein­ bezug tritt Eckes Feigheitsvorwurf

Str. 99 2. Kampfein­ tritt Eckes Gottesabsage

Str. 140 Str. 149 1. Kampfende Tod Eckes: Erstechen 2. Kampf­ ende Tod Eckes: Köpfen

Str. 155 1. Heilung Dietrichs: Babehilt

Str. 173/4

2. Heilung Dietrichs: Frauenrettung

Der Kampf beginnt zweimal und er endet zweimal, worauf sich eine zweimalige Heilung Dietrichs anschließt. Diese Doppelungen, lassen sich, scheint mir, einer weltlichen und einer religiösen Logik zuordnen. Für einen modernen Leser ist bei diesen Doppelungen sicher das zweimalige Sterben Eckes besonders irritierend, der doppelte Kampfeintritt wirkt demgegenüber »harmlos« und wird in der Forschung häufig sogar ganz übersehen, indem nur der zweite Kampfeintritt als Kampfbeginn überhaupt wahrgenommen wird.10 Nimmt man diese Doppelungen hingegen als Strukturmerkmal ernst, bedeutet das zunächst einmal, sich von modernen Vorstellungen von burtstag, Graz 1992, S. 87–111, hier S. 110). Solches heroisches Wissen steht im ›Eckenlied‹ nicht so umstandslos zur Verfügung. 9   Erinnert sei an das Gottesurteil im ›Tristan‹ oder Enites Rettung durch Gott im ›Erec‹; vgl. zu Letzterem neuerdings Susanne Knaeble, Politisches Hören und Sprechen – die zweigeteilte Stimme der vrouwe Enite in Hartmanns ›Erec‹, in: William Layher u. Ingrid Bennewitz (Hgg.), Klang als Repräsentation, Berlin u. a. (im Erscheinen). 10   Vgl. beispielsweise Bernreuther (Anm. 3), hier S. 194; Egerding (Anm. 4), S. 405; Matthias

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Figuren- oder Narrationskonsistenz zu verabschieden. Erzählt wird stattdessen in einer Form von Konzeptlogik, denn die Schwierigkeit, den Kampf zwischen Ecke und Dietrich überhaupt zu beginnen, liegt wesentlich in den spezifischen Ehrkonzepten begründet, auf die Ecke und Dietrich sich beziehen. In Eckes Perspektive ist eine ehrenhafte Tat das Töten eines als zumindest gleichrangig anerkannten Gegners und das Verbreiten des Wissens von dieser Tat. Der Tod eines ruhmreichen Gegners umfasst in Eckes Ehrkonzept nicht nur die Aneignung der Ehre des Getöteten, sondern konsequenterweise auch dessen unmittelbaren Besitz, wie Pferd, Rüstung und Waffen, die einen wesentlichen Teil der gegnerischen Kriegeridentität ausmachen. Heterogene Motive, wie Keller meint,11 sind das aber gerade nicht, Ehre und Beute folgen für Ecke der gleichen Besitzlogik. Tatsächlich ist Eckes Ehrbegriff in sich durchaus schlüssig, aber eben an seine ganz eigene Ehrauffassung gebunden. Im ›Eckenlied‹ ist, wie schon das anfängliche Streitgespräch deutlich macht, Ehre zwar nach wie vor das beherrschende ethische Prinzip des Adels, aber eben auch eines, das sich einer allgemeingültigen Definition ständig entzieht.12 Im Sinne seines Ehrverständnisses versucht Ecke dann, den zögernden Dietrich in den Kampf zu bringen, muss aber zu seiner Überraschung feststellen, dass weder der ehrenhafte Kampf auf Leben und Tod noch die verlockende Beute bei Dietrich als Argumente verfangen.13 Dietrichs Ehrvorstellung ist eine andere, sie ist zunächst einmal überhaupt nicht an den Tod eines Gegners gebunden, sondern kann auch in der Anerkennung der Überlegenheit des anderen mit anschließendem Bündnis enden. Auch Dietrich sucht durchaus ehrenhafte Ritter, aber er will sie als Vasallen oder gesellen, nicht als Tote.14 Beute ist für Dietrich irrelevant, weil sie in seinem Ehrkonzept keine Rolle spielt: ich fiht um niemans golt (Str. 92, 1). Meyer, Zur Struktur des ›Eckenliedes‹, in: Alain Kerdelhué (Hg.), Heldensage, Heldenlied, Heldenepos. Ergebnisse der 2. Jahrestagung der Reineke-Gesellschaft (Wodan 12), Amiens 1992, S. 178. 11   Keller (Anm. 4), S. 65. 12   Die Problematik des Kampfeintritts lässt sich nicht dadurch auflösen, wie Bleumer es versucht, bei Ecke ein Missverstehen von Ehre zu vermuten, denn das setzt einen allgemein und verbindlich definierten Begriff von Ehre voraus, vgl. Hartmut Bleumer, Narrative Historizität und historische Narration. Überlegungen am Gattungsproblem der Dietrichepik. Mit einer Interpretation des ›Eckenliedes‹, in: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 129 (2000), S. 125–154, hier S. 146. 13   Eckes Versuche, Dietrich zum Kampf zu bewegen, beginnen in Str. 73. Ecke verweist auf seine kostbare Rüstung, die es für Dietrich zu gewinnen gibt; als das nicht reicht, preist Ecke Helm und Schwert an. Noch in Str. 91 versucht Ecke Dietrich damit zu ködern, dass seine Rüstung und sein Schwert aus Gold gemacht seien, in Str. 93–95 mit einem kostbaren Schmuckstück, das er ausführlich beschreibt. 14   Dietrich bietet Ecke im Kampf, als der bereits das fünfte Mal am Boden liegt, an, sich unblutig zu unterwerfen: du wird geselle ald wird min man, / das ist das beste dir getan (Str. 131, 4f.). Darin liegt eine Anerkenntnis von Eckes manheit (Str. 129, 12) und stellt in Dietrichs Augen eine hohe und ehrenhafte Auszeichnung dar. Später wird er Vasolt für eine gewisse Zeit als Vasallen gewinnen.

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Wie kann angesichts solcher unvereinbarer Ehrvorstellungen der Kampf dann überhaupt zustande kommen? Der erste Kampfeintritt entzündet sich an einem den beiden Ehrkonzepten gemeinsamen Element, denn Ecke stellt zunächst Dietrichs Identität als Kämpfer und Herrscher von Bern in Frage und wirft ihm schließlich Feigheit vor.15 Aus Eckes Sicht ist das letztlich die einzig mögliche Erklärung für Dietrichs Kampfverweigerung. Feigheit allerdings ist auch in Dietrichs Konzept nicht hinnehmbar – da mag ein anderer Umgang mit Kampf und Tod möglich sein, der aber am Vorwurf der Feigheit, der seine Identität als Herrscher und adliger Krieger angreift, seine Grenze finden muss. Die beiden Ehrkonzepte berühren sich also wesentlich nur ex ne­ gativo, das gemeinsame Dritte ist das, was in beiden Ehrkonzepte keinen Platz haben kann. Dietrich nimmt den Kampf jetzt an, aber unter einem Vorbehalt: welt ir so lange biten / biz der tag git sinen schin (Str. 92, 10f.) Nicht sofort, sondern erst im Licht des Tages will Dietrich kämpfen. Ich lese diese Verschiebung als einen weiteren Versuch Dietrichs, die ganze Situation im Rahmen seines eigenen Ehrkonzepts zu halten. Dieses lässt sich als ein höfisches bezeichnen, das sich dann vor allem dadurch auszeichnet, Gewalt nur in einem gewissen ritualisierten Rahmen stattfinden zu lassen. Höfische Kämpfe sind sichtbar und affektiv begrenzt, der höfischen Kämpfer lässt sich nicht blind von seinem zorn mitreißen, sondern bleibt reflexionsfähig. Allein dadurch ist am Ende ein Ausstieg aus dem Kampf ohne Tote denkbar. In Eckes Perspektive ist solch ein höfischer Rahmen jedoch schlicht inexistent, weshalb jeder Aufschub aus seiner Sicht nicht anderes sein kann als ein erneutes, feiges Ausweichen Dietrichs. Ecke greift nun zu einem extremen Mittel: [Ecke:] ›e das ich von dir schaide, so erbaize nider und strit mit mir, das mich got hute velle und kum ze helfe dir.‹ (Str. 99, 10–13)

Was hier geschieht, ist allerdings dramatisch, Ecke sagt sich von Gott los und bringt damit eine transzendente Instanz ins Spiel, die bislang noch kaum eine Rolle spielte. 15   ich sih wol, dir ist fehten lait: / din lip vil tugende miden (Str. 85, 5f.). du maht wol haissen Diethe­ rich: / dem fursten da von Berne / tuost aber niht gelich (Str. 85, 11ff.). und ôwe, wie han ich ertobt, / das ich dich zagen gelobt! (Str. 87, 4f.). das du ein zage waere, / das het ich wol versworn (Str. 87, 12f.). Er wiederholt den Vorwurf der Feigheit in Str. 97; vgl. entsprechend auch Bernreuther (Anm. 3), S. 192. Man kann hier nicht genug betonen, dass die zagheit Dietrichs allein die Sichtweise Eckes ist, die sich als solche auch erst in der Begegnung mit Dietrich verfestigt. Generell gilt, dass auch in der Dietrich­ epik Konzepte das Handeln der Figuren beherrschen, nicht umgekehrt Charaktere die ethischen Konzepte: »Charakterzentrierte Deutungen einer (letztlich immer als konsistent angenommenen) Figur müssen zur Disposition gestellt werden [...], will man die zagheits-Konstruktion überprüfen« (Keller [Anm. 4], S. 60).

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Aus Eckes Figurenperspektive muss es einen zwingenden Zusammenhang zwischen Tat und Ehre geben. Dass ihm, trotz seiner Taten, diese Ruhmreden nicht zuteilwerden, ist die erste Irritation in Eckes Weltbild, das kontroverse Reden über Dietrich die zweite. Beide Irritationen aber ließen sich mit einem Schlag, mit einer Tat, auflösen, nämlich mit Dietrich zu kämpfen und ihn zu besiegen. Dietrichs Weigerung macht das aber unmöglich und damit liegt Eckes Weltbild in Trümmern. Es ist offenbar tatsächlich möglich, dass über einen Feigling wie Dietrich ehrenvoll geredet wird, dass man Ehre gewinnen kann ohne ehrenhafte Tat. Eckes Gottabsage ist deshalb auch kein irgendwie taktischer Schachzug, Dietrich zu provozieren, sondern Absage an eine aus Eckes Sicht verkehrte Welt. In Dietrichs Feigheit bricht für Ecke die ehrbezogene Grundlage seines eigenen Weltbildes und damit die Ordnung der Welt, so wie er sie sieht, in sich zusammen. Einem Gott, der so eine Welt erschaffen hat, kann Ecke nicht folgen. Die Gottabsage Eckes wiegt nun schwerer als alle weltlichen Ehrkonzepte, weshalb jetzt unmittelbar gekämpft werden muss,16 denn für Dietrichs Ehrauffassung ist der Gottbezug von Bedeutung und eine Absage an Gott nicht hinnehmbar. Dietrichs Antwort auf Eckes Gottesabsage enthält einen expliziten Christusbezug, den bereits Hildegard Keller herausgearbeitet hat. So sagt Dietrich von Christus: er sluog wol aine tusent schar / und wurde doch niemer haernaeschvar (St. 100, 4f.). »In Dietrichs Gottesaussage verbirgt sich die traditionsreiche Einkleidungsmetapher für die Inkarnation (die Menschnatur, die Christus bei der Inkarnation ›anzieht‹, verhüllt seine Gottheit).«17 Dieser Bezug macht, wie Keller zu Recht feststellt, Dietrich nicht zum miles christianus, bettet seine Handlungsweisen aber in einen religiösen Zusammenhang ein.18 Der Kampf ist dann letztlich überdeterminiert, denn es geht zugleich um die Frage der weltlichen, immanenten Ehre der beiden Krieger wie auch um die Frage des Verhältnisses dieser Krieger zu Gott und seiner Weltordnung. Innerhalb einer religiösen Logik ist Eckes Tod unvermeidlich, woran sich im Jenseits für den Gottleugner ewige Höllenqualen anschließen müssen. Wir haben es hier aber, bei aller religiösen Thematik, nicht mit einem religiösen Text zu tun, weshalb Eckes Tod auch in einer ganz und gar weltlichen Logik bleibt. In dieser aber geschieht Ecke das Schlimmste, was in seinem ehrfixierten Weltbild denkbar ist, er stirbt einen vollkommen ehrlosen Tod. Das aber affiziert auch Dietrich, denn so gerechtfertigt der   [Dietrich:] ich wil dar umbe dich bestan! (Str. 100, 11). »Erst mit dem Thema der göttlichen Hilfe gewinnt die Auseinandersetzung mit Ecke für Dietrich einen Wert, die den Berner in die Handlung eintreten läßt« (Bleumer [Anm. 12], S. 147). Vgl. auch Keller (Anm. 4), S. 66, die beide Kampfeintritte ebenfalls deutlich unterscheidet. 17   Keller (Anm. 4), S. 69. 18   Keller (Anm. 4), S. 56. Vgl. entsprechend bereits Bernreuther (Anm. 3), S. 194. Dietrich bezieht sich dann auch im Kampf immer wieder auf Gott: er kämpft im Vertrauen auf Gottes Hilfe (Str. 109), betet (Str. 112 u. 116), zweifelt (Str. 117) und gewinnt neue Kraft, die er auf Gott zurückführt (Str. 124). 16

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ehrlose Tod des Gottleugners Eckes in einer religiösen Perspektive auch sein mag, ändert das in weltlicher Hinsicht nichts daran, dass Dietrich einen bewusstlosen Mann auf vollkommen ehrlose Weise getötet hat. Damit aber hat Dietrich, gleichsam vor den Augen der Rezipienten, bestätigt, was Ebenrot anfänglich von Dietrich behauptet hat, nämlich ein feiger Mörder zu sein. Ecke zog ja auch deshalb aus, um Klarheit über Dietrichs Ehre zu gewinnen im Vertrauen auf die Eindeutigkeit der Tat. In diesem Vertrauen hat die Geschichte ihn nun allerdings nachhaltig widerlegt, denn auch die Tat bringt keinerlei Klarheit, da ihre Bewertung vom Kontext abhängt. Was in religiöser Hinsicht richtig ist, ist in weltlicher Hinsicht vollkommen ehrlos. Damit aber geraten die religiösen und weltlichen Aspekte der Ehre in einen Gegensatz und auch Dietrichs Weltbild droht zu zerfallen. Bemerkenswerterweise lässt die Erzählung Ecke aber nicht einfach als religiösehrlosen Gottesleugner abtreten, sondern gewährt ihm einen zweiten Tod. Kurz vor Dietrichs Aufbruch spricht ihn der bereits einmal getötete Ecke erneut an, und bittet Dietrich, ihm den Kopf abzuschlagen: [Ecke:] ›du slah mir ab das hobet – won ich entruwe doch niht genesen – durch aller vrowen ere.‹ (Str. 149, 10–12)

Gerade der Hinweis auf die frouwen macht hier deutlich, worum es geht, der zweite Tod Eckes findet in Übereinstimmung beider Helden in einem höfischen Rahmen statt.19 Durch das Schwert geköpft zu werden lässt sich durchaus als Bestrafung auffassen, es ist aber kein ehrloses Sterben und darauf kommt es hier an. Das Verb gene­ sen lässt sich dabei mit doppeltem Bezug, auf die körperliche wie auch auf die seelische Gesundung hin, lesen, die Ecke beide nicht mehr erreichen kann. Dass der Gottleugner sterben muss und verdammt ist, ist also unabwendbar, aber in Bezug auf seine weltliche Ehre ist eine gewisse Wiederherstellung möglich. Dies gilt dann aber auch für die Ehre Dietrichs, die damit eine weitere20 Restitution erlebt. Damit hat Ecke zu guter Letzt sein spezifisches Ehrkonzept aufgegeben. Laientheologisch formuliert ist Eckes zweiter Tod eine Art Bekehrung zur höfischen Ehre,   Es erscheint mir deshalb auch zu einfach, Dietrich in einem höfischen und Ecke in einem heldischen Gattungskonzept zu verorten, vgl. entsprechend Markus Greulich, »zaghait dich fliehen leret.« Zur Konstruktion und Funktion von Dietrichs »zagheit« im Eckenlied (E2), in: Études médiévales. Revue 6 (2004), S. 66–75. Eckes Worte machen auch deutlich, dass es hier nicht um den Tod eines Riesen geht, wie Miklautsch meint, vgl. Lydia Miklautsch, Zuerst die Rüstung, dann der Held. Männlichkeit und Maskerade am Beispiel des Eckenlieds, in: Johannes Keller und Florian Kragl (Hgg.), Mythos – Sage – Erzählung. Gedenkschrift für Alfred Ebenbauer, Göttingen 2009, S. 299–310, hier S. 309. 20   Zwischen Eckes beiden Sterbeszenen reflektiert Dietrich seine Situation und findet dabei einen ersten Weg zur Restauration seiner Ehre, vgl. dazu den nächsten Abschnitt. 19

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die die Gottabsage nicht aufhebt, aber immerhin einen Wiedergewinn weltlicher, höfischer Ehre ermöglicht.21 Mit diesem Begriff von Laientheologie greife ich auf Überlegungen zurück, wie sie in der Einleitung zum Tagungsband »Gott und Tod. Tod und Sterben in der höfischen Kultur des Mittelalters«22 ausformuliert worden sind. Höfische Texte entwerfen und diskutieren höfische Denkformen des Religiösen, sie sind Niederschlag einer höfischen Laientheologie, verstanden als Theologie von und für Laien. Als Laientheologie sind diese Denkformen insofern zu verstehen, als dass sie einen spezifisch religiösen Diskurs ausbilden, der sich von klerikalen Diskursen (etwa dem monastischen oder dem scholastischen) unterscheiden lässt, ohne allerdings in diesen Unterschieden aufzugehen (dies hieße die christliche Selbstbestimmung des höfischen Diskurses zu ignorieren) oder diese gar kritisch zu diskutieren (dies wäre nur von einem klerikalen Diskurs zu erwarten); als Laientheologie sind diese Denkformen insofern zu verstehen, als dass sie sich strukturieren und vor allem auch systematisieren lassen.23

Solche adlige Laientheologie verfährt jedoch erzählend und bildet, bei aller inhärenten Systematisierbarkeit, kein normatives System im strengen Sinne aus.24 Eckes doppeltes Sterben erhält seinen Sinn in diesem laientheologischen Zusammenhang und in Bezug auf die damit verhandelten Ehrkonzepte. Dass so ein doppeltes Sterben »im wirklichen Leben« nicht möglich ist und auch handlungslogisch unbegründet bleibt, ist dagegen irrelevant. Mit irgendeinem Realismusbegriff kommt man solchem Erzählen nicht bei. 21   Bereits zu Anfang des Textes wird Eckes Ehrauffassung mit einem höfischen Verständnis von Ehre konfrontiert, wenn Königin Seburc mit einem Auftrag gleichsam ergänzt. Sie fordert Ecke auf, ihr Dietrich an den Hof zu bringen, wovon sie sich einen Ehrgewinn verspricht. Leider ist hier nicht der Platz, diesen Aspekt der Ehre im ›Eckenlied‹ weiter auszuführen. 22  Susanne Knaeble, Silvan Wagner und Viola Wittmann (Hgg.), Gott und Tod. Tod und Sterben in der höfischen Kultur des Mittelalters (bayreuther forum TRANSIT – Kulturwissenschaftliche Religionsstudien 10), Münster 2011. 23   Knaeble u. a. (Anm. 22), S. 24. Dabei gilt einschränkend: »Manche religiösen Strukturen mögen lediglich für einen Text gelten, manche für eine Gattung, manche für einen begrenzten literaturhistorischen Abschnitt, manche für den gesamten Bereich der höfischen Literatur. Höfische Laientheologie als systematisierte Gesamtheit dieser religiösen Denkformen ist damit per se plural« (ebd., S. 24). Vgl. ebd., S. 25 auch die Überlegungen zur begrifflichen Differenz zu Laienfrömmigkeit und Laienreligiosität, die auszuführen an dieser Stelle zu weit führen würde. Diese Begrifflichkeit schließt an neuere Forschungen in der Religionswissenschaft an, die mittlerweile der Vorstellung von einem mehr oder weniger geschlossenen christlichen Weltbild des Mittelalters entschieden widerspricht, und auch mittelalterlicher Christlichkeit eine deutliche Pluralität zuspricht; vgl. Christoph Auffarth, Pluralismus, Religion und Mittelalter. Das Mittelalter als Teil der Europäischen Religionsgeschichte, in: Ders. (Hg.), Religiöser Pluralismus im Mittelalter? Besichtigung einer Epoche der Europäischen Religionsgeschichte, Berlin u. a. 2007, S. 11–23. 24   Knaeble u. a. (Anm. 22), S. 25.

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3  Dietrichs Dilemma und die Restauration seiner Ehre Anders als für Ecke gibt es für Dietrich einen Ausweg aus dem Dilemma, der mit einer ausführlichen, zwischen Eckes ersten und zweiten Tod angesiedelten Klage Dietrichs über seinen Ehrverlust25 eingeleitet wird. Zunächst einmal erwägt Dietrich dezidiert eine im durchaus kirchlichen Sinne religiöse Lösung, nämlich sich vermuren (Str. 144, 6) zu lassen, also in eine Klause zurückzuziehen. Das Eremitendasein als Buße für seine ehrlose Tat war nicht nur in der religiösen Praxis, sondern ist auch in der höfischen Literatur eine völlig anerkannte und legitime Handlungsweise.26 Dafür bietet das ›Eckenlied‹ sogar einen gewissen intertextuellen Bezug an, denn die Rüstung Eckes gehörte zuvor dem Helden Wolfdietrich, der sie abgelegt hat, um in einem Kloster für seine Taten Buße zu tun.27 Über diese Rüstung ist auf eine mögliche Lösung des Ehrproblems im Sinne eines Ausstiegs aus weltlicher Logik also ganz konkret angespielt.28 Diesen Schritt geht Dietrich jedoch dezidiert nicht, der religiöse Kontext des ›Eckenliedes‹ bleibt ein laientheologischer und Religiosität damit in der Welt. Er eignet sich stattdessen Eckes Rüstung an und zeigt damit aller Welt, dass er Ecke besiegt und getötet hat: Sit es ist aber mir geschehen / so wil ich al der welt ver­ jehen, / das ich in han erstochen (Str. 146, 1–3). Bleumer hat die Aneignung der Rüstung Eckes durch Dietrich in diesem Sinne als explizit weltliche Annahme des Ehrverlustes interpretiert, weil Dietrich mit der Rüstung seine Tat vor der Welt öffentlich macht29 und damit die Verantwortung auf sich selbst nimmt, statt sie auf Gott auszulagern. Der schwerverwundete Dietrich trifft kurz darauf auf eine höfische Frau, die sich an einer Quelle, einem typischen locus amoenus,30 aufhält. Nach entschieden höfi25   Meyer (Anm. 10), S. 181 zweifelt entgegen Dietrichs eigenen Worten an, dass hier ein Ehrverlust vorliege. Dietrich müsse ja nur seinen eigenen Bericht von den Geschehnissen an die Öffentlichkeit bringen. Mit dieser Überlegung allerdings scheint mir der spezifisch öffentliche Charakter höfischadliger Ehre ebenso verfehlt zu sein wie die Problematik von Tat und Gerede, die das ›Eckenlied‹ wesentlich kennzeichnet. 26   Vgl. grundsätzlich nach wie vor Volker Mertens, Gregorius Eremita. Eine Lebensform des Adels bei Hartmann von Aue, München 1978. 27   Königin Seburc erklärt die Geschichte der Rüstung und ihrer Träger in Str. 21 und 22. Friedrich hat darauf hingewiesen, dass bei Ornit und Wolfdietrich diese Rüstung sowohl in Bezug auf die Immanenz als auch die Transzendenz bereits doppelt versagt hat, bevor Ecke sie erhält (Friedrich [Anm. 2], S. 284). 28   Egerding versteht die Rüstung und ihre Geschichte auch als implizite Aufforderung an Ecke, seine Gegner im Kampf nicht zu töten (Egerding [Anm. 4], S. 402). In dessen Ehrlogik wäre das dann allerdings ein Hinweis, den er nicht verstehen kann. 29   Bleumer (Anm. 12), S. 148. 30   Brunnen sind darüber hinaus auch häufig Bereiche des Wunderbaren, Orte der Begegnung mit verschiedenen Formen des Transzendenten wie dem Brunnenwunder im ›Iwein‹ oder den unzähligen Personifikationen der allegorischen Dichtungen.

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scher Begrüßung enthüllt die Frau, die Dietrich umstandslos identifizieren kann, ihre Identität als Königin Babehilt. Ihr Reich, so sagt sie, liegt im Meer: im mer han ich ain schoenes lant (Str. 158, 5). Babehilt versorgt Dietrich mit einer Heilsalbe31 und sagt ihm dann seine Zukunft voraus, die erneut von der saelde bestimmt sein werde: vro saelde will din pflegen (Str. 160, 11). Die saelde ist ein in der höfischen Literatur immer wieder auftauchendes laientheologisches Konzept, das sich als eine Form der Begnadigung des Helden durch Gott verstehen lässt.32 Laientheologisch insofern, als die saelde nicht auf das jenseitige Heil im ewigen Leben zielt, sondern eine Art transzendenter Bestätigung des höfischen Glücks im Diesseits darstellt. Mit dieser SaeldeZusage, an der Dietrich nicht einen Moment zweifelt, sind religiöses und höfisches Handeln, das heißt konkret die ehrlose Tötung Eckes aus religiöser Notwendigkeit, in Dietrichs Sicht der Dinge miteinander versöhnt. Sein Entschluss, seine Tat in der Welt auf sich zu nehmen und sich nicht zu vermuren, wird mit erneuter saelde als die richtige Wahl anerkannt. Für den Rezipienten allerdings ist die Situation längst nicht so eindeutig, wie sie Dietrich interpretiert. Als Herrscherin über ein Meerreich lässt sich Babehilt nämlich mit dem Topos des merwunders in Beziehung bringen. Merwunder ist in der höfischen Literatur eine Art Sammelbegriff für Monstra der verschiedensten Art, die gar nicht notwendig etwas mit dem Meer zu tun haben müssen.33 Dazu gehören aber auch fischartige Wesen und Fischritter, über die man sich Babehilt ohne weiteres als Herrscherin vorstellen kann. Solche monstra sind nicht nur Teil der unhöfischen Gegenwelt, sie sind häufig genug auch mit dem Teufel assoziiert. Königin Babehilt wird im ›Eckenlied‹ nicht explizit als merwunder bezeichnet, ist als Herrscherin über ein Meerreich damit aber assoziierbar.34 Die transzendente Quelle der prophetischen Fähigkeiten Ba  Diese Salbe heilt nach drei Tagen Anwendung vollständig, sofern die Verwundung nicht zu nah am Herzen liegt (Str. 155). Nimmt man das wörtlich im körperlichen Sinne, müsste die Salbe Dietrich heilen, liest man das symbolisch, steht eine Heilung jedoch in Frage, sofern man das Herz als das zentrale Organ des Höfischen und damit auch der Ehre versteht. Die Deutung bleibt aber vollkommen offen. 32   Vgl. grundsätzlich Michael Cuntz u. Jan Söffner, Einige Betrachtungen zur Poetik der mittelalterlichen Personifikation, in: Rita Franceschini u. a. (Hgg.), Retorica. Ordnungen und Brüche. Beiträge des Tübinger Italianistentags, Tübingen 2006, S. 283–301, die vorschlagen, Personifikationen als spezifische »secondary agents« (Begriff nach Alfred Gell, Art and Agency. An Anthropological Theory, New York 1998) Gottes zu verstehen. 33  Claude Lecouteux, Le merwunder. Contribution à l’étude d’un concept ambigu, in: Etudes Germaniques 32 (1977), S. 1–11; vgl. auch Georges Zink, Eckes Kampf mit dem Meerwunder. Zu ›Eckenlied‹ L 52–54, in: Ursula Hennig und Herbert Kolb (Hgg.), Mediaevalia litteraria. Festschrift Helmut de Boor, München 1971, S. 485–492. 34   Dieser Assoziationsraum wird im ›Eckenlied‹ an anderer Stelle auch tatsächlich explizit eröffnet, wenn nämlich Ecke auf seine Suche nach Dietrich von einem merwunder angegriffen wird (Str. 52–54). Damit aber ist das merwunder als Assoziationsraum bereits eingeführt, wenn Dietrich dann auf Babehilt trifft. 31

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behilts bleibt damit aber unbestimmt, also auch die Autorität ihres Sprechens. Man kann hier Dietrich folgen und an dessen erneuerte saelde glauben oder aber es lassen. Der Rezipient steht damit letztlich vor dem gleichen Problem wie Vasolt und Ebenrot zu Beginn des Textes und muss sich entscheiden, ob er Dietrich als ehrenhaften oder unehrenhaften Kämpfer ansieht. Und obwohl der Rezipient als direkter Beobachter des Geschehens nun sehr viel mehr weiß als Vasolt und Ebenrot je gewusst haben, wird diese Entscheidung damit nicht ein Stück leichter. Noch innerhalb der Dreitagesfrist der Salbenheilung trifft Dietrich dann auf eine um Hilfe rufende vrouwe, die von Vasolt durch den Wald gejagt wird. Auch hier wird noch einmal ein Bezug zur Transzendenz hergestellt, denn die vrouwe bezeichnet sich explizit als gotes bilde (Str. 162, 6), was sie der Rettung würdig mache. Dietrich zeigt nun seine höfische Ehre, indem er die vrouwe auf sein Pferd nimmt und vor Vasolt beschützt (Str. 164). Hier aber kommt es nicht zum Kampf, weil auch Vasolt sich höfisch verhält und gegen einen verletzten Gegner nicht antreten will (Str. 168). Die so vorerst gerettete Frau heilt Dietrich nun ein zweites Mal mit Heilkräutern aus dem Wald. Erst danach kann und wird Dietrich gegen Vasolt antreten und ihn im Kampf besiegen. Ich interpretiere dies so, dass mit der Rettung der verfolgten vrouwe zumindest für Dietrich seine weltliche Ehre erneut öffentlich anerkannt ist. Die schmähliche Ermordung Eckes wird nie wieder erwähnt – nur der Rezipient weiß es besser.

4 Schlussüberlegung Wir haben es im ›Eckenlied‹ also mit wenigstens zwei recht unterschiedlichen Ehrkonzepten zu tun, von denen das eine, vor allem an die Person Eckes gebundene, auf einer zwingenden Bindung von Ehre und ehrenhafter Tat beruht. Diese ehrenhafte Tat kann in ihrer erwünschten Eindeutigkeit nur der Tod des Gegners sein, dessen Ehre und Besitz auf den dadurch umso ehrenhafter werdenden Sieger übergeht. Dieses Ehrkonzept scheitert im ›Eckenlied‹ gründlich.35 Das andere, erfolgreichere höfische Konzept, durch Dietrich vertreten, muss hingegen mit der unaufhebbaren Differenz zwischen der Ehre als öffentlicher Ruhmrede und der stets zweifelhaften, mehr oder eben auch weniger ruhmreichen Tat zurechtkommen. Diese Problematik macht Ecke gleichsam wie ein Katalysator deutlich, indem die dem Glauben an die höfische Ehre inhärenten Zweifel an seine Person gebunden werden.   Bernreuther hat dieses Scheitern eines Ehrkonzepts kritisch diskutiert, denn es liegt zunächst ja nahe, darin ein altes, archaisches gegen ein neueres, höfisches Ehrkonzept scheitern zu sehen. Sie weist aber ganz zu Recht darauf hin, dass die Dietrich- bzw. Heldenepik keineswegs archaisch zu nennen ist, sondern ebenfalls Dichtung aus der Zeit um 1200 sei (Bernreuther [Anm. 3], S. 199). Eckes Ehrauffassung wäre dann eben kein archaisches Modell von Ehre, sondern ein um 1200 durchaus mögliches. Auch wenn der Text, vom Ende her gelesen, ein bestimmtes Ehrkonzept präferieren mag, hantiert er doch mit pluralen Ehrkonzepten, mit denen auch seine Rezipienten sich herumschlagen müssen. 35

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Erzählerisch ist dieser Zusammenhang von Glaube und Zweifel eingebunden in eine episodenverdoppelnde Erzählweise, die sich dann als eine Art Strukturhinweise für den Rezipienten verstehen lässt. Müller hat in Bezug auf das Nibelungenlied solche variierenden Doppelungen als typische Elemente mündlicher Erzählkultur bezeichnet, die aber in schriftlich erzählten Texten neue Funktionen gewinnen können, denn sie können genutzt werden, um »komplexe Konstellationen darzustellen, die Gleichzeitigkeit antagonistischer Motive auszudrücken oder aber durch Wiederholung einer teils unveränderten, teils umbesetzten Konstellation ›Veränderung‹ sichtbar zu machen.«36 Die beiden letzten Funktionen, die Müller beschreibt, treffen auch im ›Eckenlied‹ zu. Gottbezug und Ehrbezug geraten in einen zunächst antagonistischen Gegensatz, wobei vor allem die Umbesetzung in der Tötungsart zugleich eine Veränderung im Sinne einer Auflösung des Antagonismus darstellt. Zumindest ist dies eine für Dietrich und den Rezipienten mögliche Lesart. Der doppelte Tod Eckes ist dann keine erzählerische Ungereimtheit, sondern eher eine Art episches Ausrufezeichen, welches den Rezipienten nachhaltig darauf stößt, dass es hier etwas zu entdecken gibt. Schließt man sich als Rezipient Dietrichs Sichtweise an, bedeutet das im Rahmen des ›Eckenliedes‹ letztlich nichts anderes, als das allgemeine Ruhmgerede über Dietrich als wahr zu akzeptieren. Weder Gott noch die Ehre sind aber beobachtbar, weshalb an die Ehre Dietrichs letztlich geglaubt werden muss. Einen eindeutigen Beweis dafür gibt es nicht einmal dann, wenn man Dietrich als Beobachter bei seinen Taten begleitet, denn die Beurteilung seiner Taten ist abhängig davon, welchen Deutungsrahmen man sich zu eigen macht. Das anfängliche Streitgespräch macht dabei deutlich, dass der Glaube an die Ehre, die ja ohnehin eine Sache wechselseitiger Anerkennung ist, eingebunden ist in eine Art höfischer-heldischer Glaubensgemeinschaft, denn die Ehre wird ja wesentlich durch das Ruhmgerede vieler bestimmt. Nicht der Glaube des Einzelnen macht letztlich die Ehre aus, sondern der Glaube der vielen und allein dieser Glaube kann den Riss zwischen Ruhmestat und Ruhmgerede überwinden. Sicherlich legt der Text die Perspektive Dietrichs nahe, ist doch die Gegenposition besetzt vom Gottleugner Ecke. Dennoch ist der Zweifel aus diesem Konzept nicht zu vertreiben. Nun ist christlicher Religiosität der Zweifel schon in Christus konstitutiv eingeschrieben, wird aber im ›Eckenlied‹ in einer adlig-höfischen Perspektive laientheologisch gleichsam heruntergebrochen auf die Ehrkonzepte seiner Figuren.

36  Jan-Dirk Müller, Spielregeln für den Untergang. Die Welt des Nibelungenliedes, Tübingen 1998, S. 137.

Die französischen Gralsromane: die Restitution der göttlichen Macht Friedrich Wolfzettel

Modern studies have tended to emphasize the autonomous fictionality of Arthurian romance and to interpret the concept of adventure as a secularized equivalent of chance and fate. Curiously though, Chretien’s last work, the ‘Conte du Graal’, reminds us of the notions of sin and grace, drawing our attention to God’s will and the hero’s predestination. This radical change of perspective which gave rise to the tremendous success of the Grail romances implies no less than the revocation of fictional autonomy and the restoration of the Divine omnipotence on the fictional level. As part of the history of Salvation, the Grail story forwards new forms of exemplary narration characterized by constant interventions of the Divine will which leaves no room for chance and adventure in the classical sense. The Grail thus becomes the epitome of a new aesthetics of the sacred marvellous and the instrument of the purposefulness of salvation to which everything is made subservient. This paper will illustrate some specific examples of the narratological consequences of the restitution of Divine power in Arthurian fiction.

Kennen alle literarischen Gattungen denselben Gott? Im Lichte des Tagungsthemas läge es vielleicht nahe, den mittelalterlichen Gottesbegriff auch in gattungs- und funktionsgeschichtlicher Perspektive zu betrachten und die übliche Homogenitätsvorstellung zu relativieren. So scheint der Gott der epischen Chanson de geste ein anderer zu sein als der des höfischen Romans, und insbesondere in den ludisch-satirischen Gattungen wie dem Roman de Renard1 ist die Forschung so weit gegangen, von einer Problematisierung, ja Negierung des Gottesbildes zu sprechen. Erinnert sei auch daran, dass die neueste mediävistische Geschichtswissenschaft die bislang übliche Vorstellung einer christlichen Einheitskultur einer Revision zu unterziehen scheint; so macht Bernd Schneidmeier in seiner 2011 erschienenen Monographie »Grenzerfahrung und monarchische Ordnung«2 die – wohl überzogene – These einer systematischen Einbeziehung der heidnischen Vielgötterreligion geltend, spricht also nicht nur von den

1   Vgl. die These einer subversiven dérision renardienne, die am Ende selbst Gott richtet, bei Jean R. Scheidegger, Le Roman de Renart ou le texte de la dérision (Publications romanes et françaises CLXXXVIII), Genève 1989, S. 405. 2  Bernd Schneidmeier, Grenzerfahrung und monarchische Ordnung 1200–1500, München 2011.

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Resten der paganen Vergangenheit, und Peter Dinzelbach3 hat kürzlich dem Phänomen des Unglaubens eine eigene Monographie gewidmet. Erhellend ist in diesem Kontext die Gegenüberstellung der Kreuzzugsepik seit der ›Chanson de Roland‹ und der höfischen Erzählliteratur, speziell dem Artusroman. Hier das fraglose Deus le vult (Gott will es so), welches ein ganzes Textkorpus dem göttlichen Heilsplan unterstellt; dort die in sich geschlossene höfische Ideologie, die Gott voraussetzt, aber als Mitwirkenden in dem geschilderten Drama eigentlich nicht mehr benötigt. Der aventure-Begriff, mithin der gelenkte Zufall, tritt im Artusroman bekanntlich an die Stelle einer alles lenkenden göttlichen Providenz, das Wilde, Unhöfische, Zauberische an die Stelle dämonischer Gegenwelten. Die sogenannten mer­ veilles bezeichnen Restbestände eines mythischen Substrats, die der Artusritter zu überwinden berufen ist. Erlösung ist immer die säkulare Tat eines Einzelnen; sie bezieht sich auf ein Erzählschema, nicht auf das vorausgesetzte theologische Argument. Unter dem Stichwort der Fiktionalität4 und Reflexivität5 hat besonders die angelsächsische und deutsche Forschung seit den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts die Autonomisierungstendenzen untersucht, die mit episch-religiöser Funktionalisierung des Erzählens unvereinbar sein dürften. Die sogenannte Episodenstruktur des Chrétien’schen Romans kann als hervorragender Ausdruck eines in sich geschlossenen exemplarischen Erzählvorgangs gewertet werden, der keiner umfassenden providentiellen Einbettung mehr bedarf. Die kaum noch historisch-episch, sondern in ihrer Gültigkeit präsentisch vorgestellte Artuswelt trägt ihre Legitimation in sich, ihre Aporien können in immer neuen Variationen und mit wechselnden Vertretern der Tafelrunde durchgespielt werden. In Frankreich bricht sich die neuartige Autonomie des Erzählens erstmals Bahn; zugleich formiert sich hier auch erstmals die Gegenbewegung im Zeichen einer heilsgeschichtlichen Rehistorisierung der Artuswelt und vor allem im Zeichen des eschatologischen Gralssymbols, das bekanntlich von Hans Bayer6 als Ausdruck einer hoch Peter Dinzelbach, Unglaube im »Zeitalter des Glaubens« – Atheismus und Skeptizismus im Mittelalter, Badenweiler 2009. 4   Am Anfang stehen in der angelsächsischen Forschung Peter Haidu, Distance in Chrétien de Troyes: Irony and Comedy in ›Cligès‹ and ›Perceval‹, Genève 1968, und Dennis Howard Green, Irony in the Medieval Romance, Cambridge, u. a. 1979; in der deutschen Mediävistik geht es vor allem um die Arbeiten von Hugo Kuhn, Hans Robert Jauss, Rainer Warning u. a.; vgl. Volker Mertens und Friedrich Wolfzettel (Hgg.), Fiktionalität im Artusroman, Tübingen 1993, und Gertrud Grünkorn, Die Fiktionalität des höfischen Romans um 1200, Berlin 1994; Ursula Peters u. Rainer Warning (Hgg.), Fiktion und Fiktionalität in den Literaturen des Mittelalters. Jan-Dirk Müller zum 65. Geburtstag, München 2009. Jetzt auch Annette Sosna, Fiktionale Identität im höfischen Roman um 1200, Stuttgart 2003. 5   Hierzu Peter Czerwinski, Der Glanz der Abstraktion. Frühe Formen von Reflexivität im Mittelalter, Frankfurt a. M., New York 1989. 6  Hans Bayer, Gral. Die hochmittelalterliche Glaubenskrise im Spiegel der Literatur, 2 Bde., Stuttgart 1983. 3

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mittelalterlichen Glaubenskrise gedeutet worden ist. Seine zugleich restaurative und utopische Finalität überholt jede innerweltlich innerfiktionale Spannung. Ähnlich wie die heilsgeschichtlich motivierte Chanson de geste als alternativer Wertentwurf neben dem ›moderneren‹ Roman fortbesteht, behauptet sich zwar der säkulare Artusroman neben den Varianten des Gralskorpus, doch die eigentlich progressive Gattung ist jetzt eben der Gralsroman, der sich als ideologisches Projekt der Rechristianisierung in seiner kerygmatischen Ausrichtung einer »communication religieuse à large échelle«7 von der fiktionalen Autonomie des klassischen Artusromans fundamental unterscheidet. Aber anders als letzterer erreicht das Gralsromankorpus gerade nicht die gattungs- bzw. formgeschichtliche Einheitlichkeit mehr, die den sog. klassischen Artusroman auszeichnet, auch wenn eine inhaltlich thematisch orientierte Grals-Forschung8 dies immer wieder suggeriert. In Wahrheit zerfällt dieses Gralskorpus in eine Reihe unterschiedlicher Ansätze, die nur durch das vage utopische Gralssymbol und einen neuen exemplarischen Anspruch zusammengehalten werden. Überaus deutlich sind die problematischen Auswirkungen der restituierten Allmacht Gottes bereits bei Chrétien selbst. Der vielleicht nicht zufällig unvollendete ›Conte du Graal‹ sprengt die traditionelle Geschlossenheit der arthurischen Verserzählung; die episodische Erfolgsgeschichte eines Artushelden wird durch die biographische Versagensgeschichte Percevals ersetzt; die Struktur des doppelten Kursus verliert ihren bisherigen Sinn, und mit dem Nebeneinander der Perceval- und der Gauvain-Handlung gibt die Romanstruktur selbst die tendenzielle Unvereinbarkeit von Artus- und Gralsroman zu erkennen. Die Überlegenheit der Gralswelt über die darniederliegende Artuswelt besiegelt das Ende des arthurischen Prestigeprojekts.9 Dass der Gralsroman gleichwohl von diesem Modell nicht wegkommt, belegen indessen nicht nur die späteren Artusversromane, sondern auch die schier endlosen Continuations, welche ähnlich wie der monströse Prosa-Gralsroman ›Perlesvaus‹ den Sieg der religiösen Gralsidee mit den Mitteln des Artusromans anstreben. Es geht im Folgenden also nicht darum, neue gattungsgeschichtliche Ergebnisse zu präsentieren, sondern das übliche problemlose Nebeneinander von Artus- und Gralswelt in Frage zu stellen. Der Versuch, die Säkularisierungs- und Autonomietendenz des klassischen Artusromans durch das dezidiert religiöse Gralselement rückgängig  Catalina Gîrbea, Communiquer pour convertir dans les romans du Graal (XIIe – XXIIIe siècles) (Bibliothèque d’Histoire Médiévale 2), Paris 2010, S. 27. 8   Erwähnt seien nur die neueren Arbeiten von Jean-René Valette, La Pensée du Graal. Fiction Littéraire et théologie (XIIe – XIIIe siècle), Paris 2008, sowie Catalina Gîrbea, Communiquer pour convertir (Anm. 7). 9   Zur Geschichte der Auseinandersetzung mit dieser problematischen Struktur vgl. auch Friedrich Wolfzettel, Der lange Weg zu einem ›anderen‹ Chrétien. Zur Nachkriegsforschung über den ›Conte du Graal‹, in: Matthias Meyer u. Hans-Jochen Schiewer (Hgg.), Literarisches Leben. Rollenentwürfe in der Literatur des Hoch- und Spätmittelalters. Festschrift für Volker Mertens, Tübingen 2002, S. 871–892. 7

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zu machen bzw. traditionelle Themen und Motive in intertextueller Perspektive religiös zu instrumentalisieren, zieht offensichtlich das Zerbrechen des traditionellen Gattungssystems nach sich, während die avancierten Formen der Gralsdichtungen umgekehrt die weiterbestehenden Gattungsformen zu einem epigonalen Status verurteilen. In dieser Perspektive kann man gerade nicht, wie es Catalina Gîrbea tut, programmatisch von einem einheitlichen arthurischen Textkorpus oder gar von einem allen Werken gemeinsamen christlich exegetischen Anliegen sprechen.10 Prononciert gesagt: Die Rückkehr Gottes stört das System. Ein Jahrhundert nach dem Einsetzen der Kreuzzugsbewegung und in der Achsenzeit zwischen monastischer Frömmigkeit und Hochscholastik geht es freilich nicht um die Repristinierung des vergleichsweise naiven Providentialismus im Gottesbild der Chansons de geste. Vielmehr trägt der elitäre Gralsgedanke alle Züge eines esoterischen Gottesbezuges, der sich von vornherein nicht an alle, sondern an wenige Auserwählte richtet und das Gotteserlebnis nicht selten visionär überhöht. Das heißt, Gott ist hier nicht mehr wie zuvor die selbstverständliche Voraussetzung ritterlichen Handelns; er ist das Ziel einer Suche (quête!), durch die die Suche nach der aventure in eine neue Bahn gelenkt wird; Letztere ist nicht mehr Mittel der Selbstbestätigung eines ritterlichen Helden, sondern verpflichtendes Ideal einer ritterlichen Gemeinschaft und ihrer gemeinsamen Sinnsuche. Das offen ausgesprochene Ziel der Suche nach dem sens du monde verweist zugleich auf die Rolle des Grals als Krisensymptom im gesellschaftlichen, aber auch im gattungsgeschichtlichen Bereich. Nicht zufällig inszeniert das vorletzte Teilstück des ›Lancelot en prose‹, ›La Quête du Saint Graal‹, diese ritterliche Suche als paralleles Abenteuerbündnis einer ganzen Gruppe der arthurischen Tafelrunde. Das Gralsideal hat so die paradoxe Aufgabe, das arthurische Projekt adliger Sinnsuche zugleich zu überhöhen und ad absurdum zu führen. Denn der gesuchte Gott entwertet auch alle bisherigen Ansätze und lässt das arthurische Gesellschaftsmodell bestenfalls als zu überwindender Vorstufe der zukünftigen Gralsgemeinschaft erscheinen. Religiöse Ideologeme legen immer auch soziale Funktionen nahe. Hatte der heilsgeschichtlich geprägt Kreuzzugsgeist um 1100 dazu beigetragen, den ritterlichen Stand zu überhöhen und zu legitimieren und Gott zum Mitwirkenden in einem heilsgeschichtlichen Epos zu machen, so legt der neue, esoterisch geprägte Kastengeist nahe, den Gral als Antwort auf eine Legitimationskrise des Adels zu interpretieren11 und die ›Unterwanderung‹ des Artusromans durch den Gral dem Bedürfnis nach zusätzlicher Legitimation zuzuschreiben.  Catalina Gîrbea, La couronne ou l’auréole: Royauté terrestre et chevalerie célestielle dans la légende arthurienne (XIIe – XIIIe siècles) (Culture et Sociétés médiévales 13), Turnhout 2007. Die These des folgenden Buches, Communiquer pour convertir, Paris 2010, ist in der genannten Arbeit mit ihrer These einer »grille de lecture de la grâce divine« (S. 123) und der ritterlichen Quête als Selbst-und Gottessuche (S. 514 ff.) bereits ansatzweise entwickelt. 11   Vgl. Pauline Matarasso, The Redemption of Chivalry. A Study of the ›Queste del Saint Graal‹, Genève 1979. 10

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Auf die Frage nach den religionsgeschichtlichen Quellen der Rechristianisierung der Artuswelt soll hier nicht eingegangen werden. Ungeachtet der Anklänge an katharisches und joachimitisches Gedankengut hat ja schon Myrrha Lot-Borodine die trinitarische Mystik auf zisterziensische Quellen und das daraus entwickelte Ritterideal auf den Templerorden zurückgeführt.12 Wesentlicher scheinen heute die Unterschiede der spirituellen Ansätze. Offensichtlich lässt sich die Problematisierung des klassischen Artusromans durch die verschiedenen Werke des Gralskorpus an einer Vielzahl von religiösen Einflüssen festmachen, die im Einzelnen noch gar nicht genau erforscht sind. Der inhaltlich strukturellen Vielfalt des Korpus entspricht so die Vielfalt der spirituellen Muster. In seiner Arbeit über »Elemente christlicher Spiritualität im altfranzösischen Gralskorpus« hat Thomas Ollig13 kürzlich die ganze Bandbreite der Lösungsansätze herausgearbeitet, deren Vielfalt, wie wir sehen werden, ihre Entsprechung in der Verschiedenartigkeit der formalen Lösungen findet. Sie indizieren die angesprochene Gattungs- und Formkrise, machen aber umgekehrt auch den literarischfiktionalen Rahmen als Bedingung der Möglichkeit geltend, theologische Spekulation jenseits der Orthodoxie oder an deren Rändern gleichsam experimentell durchzuspielen. Mit Alfred Adlers seinerzeit wegweisender synchronen Geschichte des französischen Epos könnte man vielleicht auch den Terminus »auszuspekulieren«14 bemühen. Über den Gottesbezug führt die Gattungskrise also zu der Funktionsfrage von Literatur – und das heißt: höfischer Literatur – zurück. Vor dem bekannten Hintergrund eines religiösen Aufbruchs um die Wende zum 13. Jahrhundert, aber auch des Wucherns esoterischer und häretischer Strömungen in eben diesem Zeitraum, erscheint das Gralskorpus als eine Möglichkeit, die Gegenwart Gottes anschaulich zu machen und in die höfische Literatur zurückzuholen. Dass diese in orthodoxer Hinsicht problematische und der Kirche zu Recht immer suspekte Form der propagandistischen und mythischen Überhöhung des Altarsakraments15 doch auch kirchlichen Bestrebungen und der antihäretischen Stoßrichtung des 4. Laterankonzils von 1215 entgegenkam, sei hier nur am Rande vermerkt. Schließlich ist die Anfang des 13. Jahrhunderts entstandene ›Quête du Saint Graal‹ nicht weniger als ein propagandistisches Meisterwerk. Denn gerade die genannte Unterschiedlichkeit der spirituellen und theologischen Quellen zeugt offenbar von der Faszination, die um 1200 und kurz danach von dem Gralsgedanken ausging. Tatsächlich liest sich die frühe Geschichte des Gralsromans  Myrrha Lot-Borodine, Autour du Saint-Graal, in: I und II. Romania 56 (1930), S. 526–557 und 57 (1931), S. 147–205. 13  Thomas Ollig, Elemente christlicher Spiritualität im altfranzösischen Gralskorpus (Corpus Victorinum 8), Münster 2012. 14  Alfred Adler, Epische Spekulanten. Versuch einer synchronen Geschichte des altfranzösischen Epos (Theorie und Geschichte der Literatur und der schönen Künste 33), München 1975. 15   Vgl. Hans Jorissen, Die Entfaltung der Transsubstantiationslehre bis zu Beginn der Hochscholastik, Münster 1965. 12

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wie eine Geschichte wachsender spiritueller Radikalisierung und Übersteigerung, die wiederum den Anstoß zu formalen Experimenten liefert. Der Gral bei Chrétien wurzelt ungeachtet seiner ritualistisch mythischen Ausgestaltung noch in der fortgeschrittenen Laienspiritualität des ausgehenden 12. Jahrhunderts. Er trägt die Spuren nicht-klerikal geprägter Laienfrömmigkeit, die sich – so Ollig – »von der kirchlichen Moraltheologie zu emanzipieren anschickt«16 und als wesentliches Moment auf dem Weg zu religiöser Selbstbewusstheit verstanden werden kann. Chrétien verzichtet auf kirchliche Beglaubigung und macht keine direkte göttliche Offenbarung geltend. Unter dem Stichwort »neue Innerlichkeit«17 geht Ollig so weit, von einer Verlagerung des Sakralen in die »persönliche Glaubenserfahrung« zu sprechen. Nur unter dieser Bedingung bleibt dann die arthurische Handlungsstruktur des Versromans zumindest äußerlich gewahrt. Perceval als »›moderner‹ Ritter«18 ist der Vertreter eines arthurischen Romans, der – mit Stéphanie Le Briz-Orgeur19 – als »offenes Werk« zugleich die Modernität des Autors bezeichnet. Anders der nach dem ›Conte du Graal‹, wohl vor 1201 entstandene »Gründungs­ roman«20, der ›Roman de l’Estoire dou Graal‹ von Robert de Boron. In einer Art apokryphem Evangelium schildert er die Vorgeschichte und Voraussetzungen des Artusrittertums, die in der Folge die ideologische Struktur des gewaltigen ›Lancelot-GralZyklus‹ und insbesondere der heilsgeschichtlich missionarischen ›Estoire del Saint Graal‹21 bilden, mit denen die Gralsdichtung zu ihren episch chronikalen Ursprüngen zurückkehrt. Die Unterschiede zu Chrétien könnten nicht größer sein. Ende des 12. Jahrhunderts entwirft Robert de Boron, gestützt auf das populäre apokryphe Nikodemus-Evangelium, ein alternatives Gralsevangelium22 und ersetzt die apostolische Sukzession durch die translatio des Grals, die bis in die Artuswelt hineinreicht. Trotz ihrer mystischen Tendenz ist die ›Estoire dou Graal‹ von Robert de Boron ein »Evangelium für Ritter«23, das die Grundlagen für die späteren Gralsromane bildet, indem sie eben den universellen Anspruch des Christentums zugunsten einer besonderen adligen Mission programmatisch zurücknimmt. Zwischen Joseph von Arimathäa und   Ollig (Anm. 13), S. 7.   Ollig (Anm. 13), S. 42. 18   Ollig (Anm. 13), S. 59. 19   Stéphanie Le Briz-Orgeur, ›Le Conte du Graal‹ de Chrétien de Troyes, une œuvre ouverte?, in: Cahiers de Civilisation médiévale 50 (2007), S. 341–378. 20   Ollig (Anm. 13), S. 68. 21   William A. Nitze (Hg.), Le Roman de l’Estoire dou Graal (Les Classiques français du Moyen Age), Paris 1827. 22   Hierzu Francesco Zambon, Robert de Boron e i segreti del Graal, Firenze 1984. Eine zweisprachige Ausgabe liegt vor von Monica Schöler-Beinhauer (Hg.), Robert de Boron: Le ›Roman du SaintGraal‹ (Klassische Texte des Romanischen Mittelalters 18), München 1981. 23  Friedrich Wolfzettel, Ein Evangelium für Ritter: ›La Queste del Saint Graal‹ und die ›Estoire dou Graal‹ von Robert de Boron, in: Speculum Medii Aevi 3, 1/2 (1997), S. 53–64. 16 17

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dem Artusreich garantiert die Schale mit dem aufgefangenen Blut Christi als neues ritterliches Sakrament das Wirken Gottes von den Anfängen bis in das arthurische Projekt, das ungeachtet seiner Geschichtlichkeit gegenwärtige und zeitgeschichtliche Relevanz besitzt, sich jedoch programmatisch dem Zugriff bestehender kirchlicher Institutionen entzieht. Die Mystik des Blutes verbindet die christliche Botschaft mit adligem Anspruch. Die arthurisch gesteuerte Verengung des universalen Erlösungsmodells verrät den Einfluss monastischer Vorstellungen, die auf die eine oder andere Weise auch für die folgenden Teile des Gralskorpus charakteristisch sein werden, ohne dass man freilich von einer einheitlichen spirituellen Konzeption sprechen könnte. Während etwa die ›Estoire del Saint Graal‹24 an die Erfahrungswelt der fahrenden Ritter geknüpft ist, ohne »heilsgeschichtliche Perspektiven für die Jetztzeit«25 zu eröffnen, stellt die der ›Mort Artu‹ und dem Untergang des Artusreiches vorausgehende ›Queste del Saint Graal‹ ungeachtet des Schemas der kollektiven Ausfahrt der fahrenden Ritter ein mystisch-allegorisches Model der Suche dar, das wohl kaum zufällig durch die rekurrenten Figuren der Einsiedler und Kleriker geprägt ist und im Übrigen nur dem auserwählten reinen Ritter Galaad offen steht. Dem Versuch Roberts de Boron, ein fünftes Evangelium zu entwerfen, entspricht hier der Hinweis auf eine zukünftige »unsichtbare Kirche«,26 an der Galaad in dem Eucharistiewunder auf dem Höhepunkt des Romans teilhat, die aber am Ende – ebenso wie der Held selbst – dem Geschehen wieder entzogen wird. Programmatisch wird damit die geschichtliche Dimension ausgeschlossen, die dem prominenten »Inkarnationsgedanken« der ›Estoire del Saint Graal‹ und ihrem missionarischen Anspruch zugrunde liegen wird. Indem, wie es einmal heißt, der lebenspendende Gral den sündigen Bewohnern des Royaume de Logres entzogen und der edelste Ritter Galaad in einer Apotheose fernab von diesem Königreich stirbt, qualifiziert sich die Gralshandlung in diesem Roman selbst als erbauliche Episode der Vergangenheit. Aus der Geheimlehre Roberts de Boron konnte sich so ein mystisches Modell der Gottsuche wie auch ein universalistisches neues Epos heilsgeschichtlicher Prägung entwickeln. Die immer wieder für den ›Lancelot en prose‹ geltend gemachte zisterziensische »Handschrift«27 gilt also, wenn überhaupt, keineswegs für alle Versuche, die arthurische Welt mit christlichem Gedankengut zu verbinden. Bestimmend bleibt nur das ›fünfte‹ Evangelium nach Joseph von Arimathäa als Gründungslegende einer Gralsthematik, die von jetzt an nicht mehr unabhängig vom arthu-

 Michelle Szkilnik, L’Archipel du Graal. Étude de l’›Estoire del Saint Graal‹, Genève 1991.   Ollig (Anm. 13), S. 137. 26   Ollig (Anm. 13), S. 208. 27   Hierzu Albert Pauphilet, Études sur la ›Queste del Saint Graal‹, Paris 1968; vgl. hierzu jetzt Virginie Green, Le sujet et la mort dans ›La Mort Artu‹, Paris 2002, S. 83–104. 24 25

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rischen Sagenkreis denkbar ist und die Zwanghaftigkeit und Einseitigkeit der neuen Symbiose von Artuswelt und göttlicher Macht belegt. Dies führt zu dem eigentlichen Thema dieser Überlegungen, der gattungsgeschichtlichen Problematik, die sich aus dem betonten Wirken Gottes durch das esoterische Gralsgeschehen ergibt. Zwei signifikante und zugleich konträre Beispiele, den ›Perlesvaus‹28 und die ›Queste del Saint Graal‹,29 beide Anfang des 13. Jahrhunderts entstanden, sollen das Gemeinte verdeutlichen, weil diese beiden Werke zentrale Beispiele des Versuchs darstellen, die klassische Tradition des Artus-Romans mit den neuen Gegebenheiten der Gralssuche zu versöhnen und den geschlossenen Raum des arthurischen Versromans auf die Prosa-Heilsgeschichte hin zu öffnen30 und das Modell des klassischen Artusromans mit dem Postulat der Gralssuche zu verbinden. Beide Werke können zugleich als Belege für die wachsende Funktionslosigkeit des arthurischen Abenteuers und die Ersetzung der arthurischen merveilles durch die zeichenhaften göttlichen Wunder gelten. Das heißt, dass die Welt der arthurischen Sinnsuche programmatisch zum Schauplatz göttlichen Wirkens wird. Die Auswirkungen auf die formale Struktur sind jeweils mit Händen zu greifen: in dem einen Fall in der Multiplikation und amorphen Akkumulation der Abenteuer, die nur im Fall des Gralsritters Perceval zum Erfolg führen, in dem anderen Fall in der Steigerung der parallelen und kollektiven Gralssuche-Abenteuer zu dem, was Brigitte Burrichter einen labyrinthischen Text genannt hat.31 Es ist ein labyrinthischer Text, der in seinem belehrenden Eifer die arthurische Welt zur Bedeutungslosigkeit verurteilt. Schon vom Titel her gibt sich der ›Perlesvaus‹, der mit Percevals Gralsherrschaft endet, ebenfalls als Fortsetzung oder Ergänzung des Perceval-Romans von Chrétien de Troyes zu erkennen, doch ist es eine amorphe Fortsetzung, deren Abenteuerhäufung die Schwierigkeit des Autors verrät, arthurisches Abenteuer und göttlichen Heilsplan miteinander in Einklang zu bringen und die herkömmliche Struktur des Artusromans zumindest ansatzweise zu retten. Denn alles gehorcht hier dem Prinzip der Proliferation, welchem die nunmehr delegitimierte und dezentrierte, in Auflösung befindliche Artuswelt unterliegt. Erst vor dem Hintergrund der krass beschrie28   Zitate nach der Ausgabe von Armand Strubel (Hg.), ›Le Haut Livre du Graal. Perlesvaus‹ (Lettres gothiques), Paris 2007; vgl. auch Nigel Bryant (Hg.), The High Book of the Grail. A translation of the thirteenth century romance of Perlesvaus, Cambridge 1978. 29   Zitate nach der Ausgabe von Fanni Bogdanow (Hg.), ›La Quête du Saint-Graal‹. Roman en prose du XIIIe siècle (Lettres gothiques). Traduction par Anne Berrie, Paris 2006. 30  Vgl. Friedrich Wolfzettel, Der Lancelot-Roman als Paradigma. Vom geschlossenen symbolischen Stil des Chrétienschen Versromans zur offenen Welterfassung der Prosa, in: Klaus Ridder u. Christoph Huber (Hgg.), Lancelot. Der mittelhochdeutsche Roman im europäischen Kontext, Tübingen 2007, S. 13–26. 31  Brigitte Burrichter, Erzählte Labyrinthe und labyrinthisches Erzählen. Romanische Literatur des Mittelalters und der Renaissance (Pictura et poesis18), Köln, Weimar, Wien 2003, Kap. VI.

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benen weltlichen Dekadenz und ritterlicher Gewalt scheint also das Wirken Gottes veranschaulicht werden zu können. Wie schon bei Chrétien de Troyes bezeichnet die Gralsherrschaft eine geistliche Gegenwelt, nicht die Überhöhung einer erfüllten, sinnhaften ritterlichen Welt, und wie schon im Ansatz bei Chrétien erfüllen sich individuelle Sinnsuche und individuelles Handeln nicht vor dem Hintergrund und in der Gemeinschaft, sondern in einer neuartigen Dichotomie von Ich und Gemeinschaft, die die – von Erich Köhler postulierte – Dialektik von Ich und Welt32 in dem doppelten Kursus von Ichverwirklichung und gesellschaftlicher Integration obsolet macht. Das Zerbröckeln der Artuswelt ist im ›Perlesvaus‹ oder anders: ›Le Haut Livre du Graal‹ die Voraussetzung für die parallelen Abenteuer von Lancelot, Gauvain und Perceval, ohne dass man von einem strukturierenden Prinzip sprechen könnte. Es ist, als könnte Gott nur in einer derartig amorphen Welt wirken, in der zumindest die Gralssuche und Sinnsuche von zweien der drei Helden, nämlich Lancelot und Gauvain, notwendig zum Scheitern verurteilt sind. Nicht in einer wie immer gearteten Struktur wird das Anliegen sichtbar, göttliche Wirkmacht in die ritterliche aventure-Suche zu integrieren, sondern bezeichnenderweise in den einzelnen, zufällig aneinandergereihten Abenteuerepisoden selbst, die jeweils warnenden, exemplarischen, ja nicht selten visionären Charakter annehmen.33 In dieser ›Summe‹ der Tradition wird Gott allgegenwärtig und entlarvt autonomes ritterliches Handeln als Illusion, freilich ohne eine heilsgeschichtliche Dimension wie ansatzweise in der ›Estoire del Saint Graal‹ zu begründen. Die Gralssuche findet noch immer in einer geschlossenen arthurischen Welt statt. Vorrangig ist aber nicht das Geschehen selbst, sondern seine Verwandlung in eine vage senefiance, die den ritterlichen Protagonisten nicht zufällig zum ohnmächtigen Zuschauer und die Deutungskompetenz des berufenen Dieners Gottes zu einem zentralen Element innerfiktionaler Hermeneutik macht.34 Das heißt, der wiederentdeckten Allmacht Gottes entspricht umgekehrt die Ohnmacht des Helden. Die Bedeutung des visionären Elements bedingt die Entmachtung dessen, der nur mehr lernen und verstehen soll, ohne handeln zu können. Nur ein – willkürlich gewähltes – Beispiel, das zugleich die sakrale Refunktionalisierung arthurischer Folklore veranschaulicht: Am Anfang der 6. Branche35 reitet Gauvain eines Tages durch den schrecklichsten Wald der Welt und kommt zu einem kostbaren Brunnen, über dem eine Statue steht, die sich alsbald in die Tiefe stürzt. Als Gauvain das goldene Gefäß ergreifen oder halten will, das auf dem Brun Erich Köhler, Ideal und Wirklichkeit in der höfischen Epik. Studien zur Form der frühen Artusund Gral-Dichtung (Beihefte zur Zeitschrift für romanische Philologie 97), Tübingen 1956, Kap. III und IV. 33  Zur Rolle der Visionen im Gralskorpus vgl. Catalina Gîrbea, Communiquer pour convertir… (Anm. 7), S. 137–151. 34   Hierzu Catalina Gîrbea (Anm. 7), S. 378–384. 35   Le Haut Livre du Graal, S. 304–307. 32

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nenrand steht, warnt ihn eine Stimme, dass er nicht der vorherbestimmte gute Ritter sei, der mit diesem Gefäß geheilt werde. Unterdessen nähert sich ein weißgekleideter, priesterlicher Kleriker mit einem eigenen Gefäß und gießt den Inhalt des goldenen Gefäßes hinein. Drei außergewöhnlich schöne, ebenfalls weiß gekleidete Jungfrauen bringen Brot, Wein und Fleisch, doch scheint es Gauvain nach kurzer Zeit, die drei seien in Wahrheit nur eine Person. Von dem jungen Kleriker erhält er die Auskunft, dass die Nahrung für die Eremiten im Wald bestimmt sei, dass es für ihn jedoch nicht der Augenblick sei, an dieser Speisung teilzunehmen. Das ohne Zweifel ursprünglich folkloristisch-mythische Motiv des heilkräftigen Zauberbrunnens wird mithin zu einem visionären Versatzstück mit liturgischem Charakter, der den Betrachter zu ohnmächtigem Staunen verurteilt, dessen Symbolik aber keine vollständige Auflösung erfährt und auch keine handlungsrelevante Funktion entfaltet. Bis zur Ankunft auf dem Gralsschloss wird Gauvain der staunenden Zuschauer einer religiösen Wunderwelt bleiben und nur noch in Ausnahmefällen die eigene Tapferkeit unter Beweis stellen. Das visionäre Gralsgeschehen wirft seine Schatten voraus und verwandelt alle Episoden in Vorstufen des finalen Heilsgeschehens, das im Übrigen auf die Wiederbegründung der Gralsherrschaft auf dem erneut in Besitz genommenen Gralsschloss beschränkt bleibt. Indem das in Branchen gegliederte Werk die drei zentralen Helden des Artusgeschehens, Gauvain, Lancelot und Perlesvaus, in einem Abenteuerreigen vereint, kann es die bislang getrennten Überlieferungsstränge und Handlungsmotive im Zeichen des heiligen Gralsgeschehens bündeln und einem einheitlichen Deutungsmuster unterwerfen. Dabei werden die Abenteuer nicht selten allegorisiert, wie etwa – am Anfang der 9. Branche36 – in der berühmten Episode der bête glatissante, die auf einer Waldlichtung Junge zur Welt bringt und von diesen verzehrt wird. Die viel kommentierte Szene beeindruckt durch ihre dramaturgisch gekonnte Inszenierung: Vor einem roten Kreuz mitten im einsamen Wald und in Anwesenheit eines schönen Ritters mit einer goldenen Schale und einer schönen Jungfrau ebenfalls mit einer goldenen Schale wird der junge Perceval Zeuge des auf den ersten Blick unerklärlichen Geschehens. Wie hinter einem Theatervorhang bricht die Erscheinung des schneeweißen Tieres aus dem Dickicht hervor und spielt ein geheimnisvolles Opfergeschehen vor, dessen senefiance erst später kommentiert wird. Das innerliterarische Heilsgeschehen bedarf der innerliterarischen Exegese; der Zuschauer aber nimmt das göttliche ›Theater‹ wie auf einer Bühne wahr. Die ›Summe‹ der Artuswelt ist zugleich ein Akt der Bemächtigung und der retrospektiven Korrektur der weltlich arthurischen Tradition. Priester und Einsiedler deuten von Fall zu Fall das Geschehen, das weit in die Vorgeschichte zurückgreift, aber jeden Teil im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes beginnen lässt. Aufgabe dieses Geschehens, dessen eigentlicher Akteur Gott selbst ist, ist ein Hören, das zugleich Verstehen ist: et de Dieu si muet li 36

  Le Haut Livre du Graal, S. 622–625.

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hauz contes du Graal; et tuit cil qui l’oent le dovent entendre e oblier totes les vilenies qu’il ont en leur cuers (und von Gott handelt die hohe Erzählung des Grals, und alle, die sie hören, sollen sie verstehen und alle Niedertracht in ihren Herzen vergessen),37 wie es einleitend heißt. Am Ende des fünften Evangeliums von Joseph von Arimathäa steht die Umwertung der Gesamtgeschichte im Zeichen Gottes, einer Gesamtgeschichte, nach der eigentlich keine Artusdichtung mehr möglich ist. Die mythische Insel Avalon ist am Ende nicht zufällig auch zum Depositorium des Heiligen Buches geworden, durch welches die mythische Überlieferung im Lichte des Gralsevangeliums eine neue Bedeutung erhält. Der ›Haut Livre du Graal‹ reinterpretiert die Artusgeschichte im Lichte der Heilsgeschichte, deren erlösende Perspektive dem depressiven Anfangsszenario einer in Auflösung begriffenen ritterlichen Welt und ihres machtlos melancholischen Herrschers entgegenwirkt. Die dem ›Roman de Renard‹ aber auch den Alexanderdichtungen nachempfundene Einteilung in Branchen suggeriert einen großen epischen Zusammenhang, der durch die Zielvorstellung der Gralssuche hergestellt wird und die Vorgeschichte durch zahlreiche Rückblenden diesem heilsgeschichtlichen Ziel unterordnet, doch auch eine gewisse Zufälligkeit andeutet. Dabei lassen die Einzelepisoden und Abenteuer, die den drei Protagonisten nacheinander zugeordnet werden, fast in Vergessenheit geraten, dass das iterative und enumerative Schema mit der kohärenten Struktur des klassischen Artusromans nichts mehr zu tun hat. Die pfingstliche ›Queste del Saint Graal‹ nun radikalisiert solche Vorgaben, indem sie den kollektiven Aufbruch der Tafelrunde an die Stelle der Ausfahrt der drei Haupthelden setzt und die heilsgeschichtliche Dimension der Gralssuche auf den einzig würdigen Pro­ tagonisten, Galaad, den Sohn Lancelots, ausrichtet. Das Gralsschloss, in das Lancelot kommt, wird zur Episode; keine irdische Gralsherrschaft fungiert mehr als Gegengewicht zum weltlichen Artusreich. Die beinahe propagandistisch zu nennende, visionäre Übersteigerung des heiligen Altarsakraments durch den Gral erreicht allein Galaad und seine Gefährten, Perceval und Bohort, die dem Artusgeschehen schließlich entrückt werden. Am Ende sind die übrigen Ritter der Tafelrunde wieder vereint und hören von Bohort die Geschichte der ›Aventures du Saint-Graal‹; an die Stelle des erfolgreichen Abschlusses eines Aventüreweges tritt der rückblickende Bericht einer religiösen Apotheose, die den Artushof – kurz vor seinem Untergang – an den Ausgangspunkt zurückversetzt. Die im Gegensatz zum ›Perlesvaus‹ kreisförmige Struktur des Gralsromans scheint eine ideologische Botschaft vermitteln zu wollen. Der Versuch, die Abenteuersuche des klassischen Artusromans auf eine kollektive, heilsgeschichtlich verbindliche Ebene zu heben, ist offensichtlich misslungen. Kurz vor dem Ende des ›Lancelot‹Zyklus in ›La Mort le Roi Artu‹ und dem historischen Zusammenbruch des Artus37

  Le Haut Livre du Graal, S. 126.

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reiches signalisiert die ›Queste‹ ungeachtet ihrer propagandistischen Übersteigerung eine Perspektive der Vergeblichkeit. Die Wiedereinsetzung des göttlichen Heilsplans in die ritterlich arthurische Welt gipfelt in der visionären Vereinzelung, die den auserwählten Ritter gerade nicht zum Gründer einer neuen, von Gott legitimierten Königsherrschaft macht, sondern ihn symbolisch von der Artusgemeinschaft absondert. Die heilsgeschichtlich typologische Perspektive, die Galaad zum Vollender alttestamentlicher Verheißungen macht, kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass gerade die Erlösung der Artusgemeinschaft als solcher nicht gelungen ist. Der Sieg Gottes lässt noch exemplarisches Handeln zu, verbürgt aber weder eine kohärente arthurische Perspektive noch eine heilsgeschichtliche Gesamtsicht. Denn der neue Artusritter weiß um die Gefährdung der chevalerie terrienne, deren Sieg ohne die Hilfe Gottes nicht möglich ist. So wird er zum Gehilfen Gottes, nicht zum eigenständig handelnden Helden, wie in der Szene, als Perceval auf eine – natürlich ebenfalls symbolische – Höhe kommt, einen Drachen und einen Löwen miteinander kämpfen sieht und zugunsten des Löwen in diesen Kampf eingreift. Doch anders als in Chrétiens ›Chevalier au lion‹ hat die Szene keine pragmatische Bedeutung. Abschließendes Handeln steht im Dienste einer Vision, die keine selbständige Handlungsfunktion hat, sondern nur über Gebet und Traum zu weiteren visionären Erkenntnissen führt. Der Artusritter ist zum bloßen Betrachter der Heilspläne Gottes geworden. In solcher Perspektive aber erscheint die Gralssuche selbst nur als symbolische Verdichtung für eine quête oder Suche, die das In-der-Welt-Sein selbst des Artusritters umgreift und problematisiert. In der genannten Szene blickt Perceval nach dem Kampf von der Höhe auf das Meer und hält nach dem Schiff Salomos Ausschau; er spricht ein langes Gebet, in dem er Gott um Aufschluss und Erkenntnis bittet; er sieht im Traum zwei Frauen auf sich zukommen, eine auf einen Löwen und die andere auf einem Drachen reitend. Die aventure merveilleuse38 verleiht dem Kampf der beiden Fabeltiere noch nachträglich eine tiefere Bedeutung, und tatsächlich wird bald darauf ein prud’hom des inzwischen eingetroffenen Schiffes das Rätsel lösen und die sene­ fiance nachliefern, nämlich den Sieg des Neuen Testaments über den Alten Bund. So ist der Artusritter selbst da, wo er noch handelnd in ein Geschehen oder eine Szene eingreift, ein Suchender und Fragender, für den die Bedeutung immer schon weit über das konkrete Erlebnis hinausweist, und selbstverständlich kommt die Aufklärung jeweils aus berufenem klerikalen oder heiligmäßigen Mund. Die leitmotivische Funktion der Träume ist so einsichtig, ersetzt der Traum doch den Umweg über eine gleichnishafte Handlung. Ohnehin bewirken die zahlreichen Verkleidungen und Täuschungen des Teufels (Enemi) ja eine Entwirklichung des Geschehens, das umso eindrucksvoller topographisch gerahmt wird, je weniger diesem Rahmen mehr als eine symbolische Funktion zukommt. Die Suchfahrt nicht nur Lancelots, des unwürdigen 38

  La Queste, S. 276.

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Vaters von Galaad, steht nicht zufällig unter dem Gesetz rhythmischer Abwechslung von Erlebnis und Einkehr, Handeln und nachträglicher Deutung des Erlebten durch einen Berufenen. Der chevalier errant des Gralsgeschehens hat nichts mehr gemein mit dem der Abenteuersucher der Artusdichtung. Wie Bohort einmal sagt: ge sui li cheva­ liers erranz qui sui men en une queste dont je vodroie bien que Natre Sires un conseil­ last (ich bin ein fahrender Ritter und befinde mich auf einer Suchfahrt, in der ich Gottes Hilfe wünsche).39 Im Zeichen des Pfingstfestes und der Leitmotivik der Erleuchtung durch den Heiligen Geist sind alle Ereignisse des Romans gleichsam auf einer höheren, parabolischen Ebene angesiedelt, eben der der chevalerie celestiele, wie der Ritter Meliant gleich am Anfang erfahren muss, als er sich deceuz par entendement (im Verstehen getäuscht)40 in der Interpretation eines Kreuzwegs irrte und traditionellem weltlichen Vorgaben folgte. Die dergestalt in das Romangeschehen selbst eingeflochtene Deutungsinstanz macht den Roman zu einer fortgesetzten Sinnsuche in einzelnen Schritten, die grundsätzlich über die vorgeführte Handlung hinausführen und hinausweisen und ein prinzipiell offenes, doch immer exemplarisches und parabolisches Erzählmodell begründen. Die Offenheit dieser Erzählmodelle ist aber von Fall zu Fall verschieden und weist die Grals- und Sinnsuche zugleich als Suche nach einem Gattungsmodell aus. So öffnet sich der typische, dilemmatische Kreuzweg des 13. Jahrhunderts, welcher dem Autor die Wahl lässt zwischen einem selbstbestimmten und kohärenten, aber epigonalen Erzählen ohne Gott und einem fremdbestimmten, offenen und gleichsam experimentellen Erzählen im Zeichen Gottes. Denn im Lichte der chevalerie celestiele kann es keine innerweltliche, erzählerische Autonomie mehr geben, sondern nur eine Vielzahl von Wegen zu Gott und eine Vielzahl von Erzählmodellen.

  La Queste, S. 414.   La Queste, S. 174.

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Rituelle Vollzüge

Das Weltgerichtsportal als Ort der Selbsterforschung: Sünde, Krankheit und Buße als Elemente religiöser Kommunikationon Matthias Vollmer The study of medieval books of penitence reveals significant changes in the practice of penance, indicating a shift in the perception of sin in terms of an increasingly individual and introspective search for personal guilt. The analysis of sin turned from focusing on the outward action to investigating the intentionality behind the action. The article will trace the possible connection between this development and the emergence of the Romanesque Last-Judgement-Tympana in France at the beginning of the 12th century. The sight of the expressive sculptures aimed to initiate a healing process within the beholder empathising with the condemned suffering punishment. The visual poignancy of the portals stimulated a process of internalisation of ruefulness on a more direct level than the books of penitence. The beholder could entertain a much more direct communication with the sacred and was relegated to appropriate remedies against the wounds of sin.

Das Studium der mittelalterlichen Bußliteratur offenbart signifikante Veränderungen in der Bußpraxis, die auf eine sich verändernde Wahrnehmung von Sündhaftigkeit im Sinne einer individuellen introspektiven Suche nach persönlicher Schuld hinweisen. Im Folgenden soll gezeigt werden, wie diese Entwicklung in Verbindung gebracht werden kann mit dem Aufkommen der Weltgerichts-Tympana in Frankreich zu Beginn des 12. Jh.

1. Sünde und Krankheit und die Entwicklung der introspektiven Schulderfahrung Die durch den Sündenfall Adams, des fabricator peccati, prinzipiell verdorbene Natur des Menschen1 ist ständig moralischen Anfechtungen ausgesetzt. Das zwangsläufige Fehlverhalten, die Sünde, wurde bereits in der Bibel und der Kirchenväterliteratur mit medizinischen Begriffen und Metaphern erfasst.

1  Klaus Schreiner, Si homo non pecasset ... Der Sündenfall Adams und Evas in seiner Bedeutung für die soziale, seelische und körperliche Verfasstheit des Menschen, in: ders. u. Norbert Schnitzler (Hgg.), Gepeinigt, begehrt, vergessen. Symbolik und Sozialbezug des Körpers im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit, München 1992, S. 41–84.

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Für Paulus war Sünde die Ursache des Todes (Röm 5–8; bes. Röm 5, 12–14). Es leidet nicht nur der Mensch an der Schwäche der Sünde (Röm 5, 6), sondern die gesamte Schöpfung ist davon betroffen (Röm 8, 21). »Denn wie die Sünde herrschte und zum Tod führte, so soll auch die Gnade herrschen« (Röm 5, 21). Augustinus († 430) erklärte mit therapeutischen Termini die Notwendigkeit der Inkarnation Christi. Er sah das Leiden Jesu als Medikament gegen die prinzipiell sündhafte Natur des Menschen an. Der Gekreuzigte sei medicus und medicamentum, der Mensch sei Patient, der wie Christus den Kelch der bitteren Arznei des Lebens zu leeren hätte.2 Für den Bischof von Hippo ist der Tod eine Strafe für die Sünde Adams, die alle Menschen zu erleiden hätten.3 Doch von welchen Sünden wird hier gesprochen? Was macht den Menschen krank? Zunächst einmal sind es die Begierden: »Jeder wird von seiner eigenen Begierde, die ihn lockt und fängt, in Versuchung geführt. Wenn die Begierde dann schwanger geworden ist, bringt sie die Sünde zur Welt; ist die Sünde reif geworden, bringt sie den Tod hervor« (Jak 1, 14–15). Im 6. Jh. formulierte Gregor der Große († 604) seine einflussreiche Liste der sieben Hauptsünden, die septem principaliba vitiia, die nur durch das Bußsakrament vergeben werden können.4 Superbia (Stolz) als Wurzel der Hauptsünden führt Gregors Todsündenhierarchie an, es folgen: Invidia (Neid), Ira (Zorn), Tristitia (Traurigkeit), Avaritia (Gier), Gula (Völlerei), und Luxuria (Wollust).5 Im Mittelalter wurden Auflistungen dieser Art als regulative Summen menschlicher Verfehlungen angesehen, die das Wesen der sündhaften menschlichen Natur erfassten und Anleitungen zur (Selbst)Kontrolle und Buße boten.6 Handlungsanweisungen dieser Art finden sich auch in den frühen Bußbüchern (libri paenitentiales) des 6. und 7. Jh.7 Ursprünglich in irischen, angelsächsischen und schottischen Klöstern kompiliert, wurden diese katalogartigen Auflistungen von Sünden mit der jeweiligen

  Augustinus, Sermo 329, 1–2, hrsg. v. Jacques P. Migne (Patrologia Latina 38), Paris 1844–1855; Sermo 175, 3, ebd. 3   Augustinus, De Genesi adversus Manichaeos 2, 32, hrsg. v. Dorothea Weber (Corpus scriptorum ecclesiasticorum latinorum 91), Wien 1998, S. 67–172. 4  Carole Straw, Gregory, Cassian, and the Cardinal Vices, in: Richard Newhauser (Hg.), In the Garden of Evil. The Vices and Culture in the Middle Ages, Toronto 2005, S. 35–73, bes. S. 39–41. 5   Gregor der Große, Moralia in Iob, Lib. XXXI, 45. 87–90, hrsg. v. Marc Adriaen (Corpus Christianorum Series Latina 143b), Turnhout 1985, S. 1610–1611. (Auch Patrologia Latina 86, S. 621–623). 6  Barbara Rosenwein, Controlling Paradigms, in: Dies. (Hg.), Anger’s Past: The Social Uses of an Emotion in the Middle Ages, London 1998, S. 233–247, hier S. 241; Jennifer O’Reilly, Studies in the Iconography of the Virtues and Vices in the Middle Ages, New York, London 1988. 7  Das ›Paenitentiale Vinniani‹ ist wohl das älteste Bußbuch und wurde wahrscheinlich von Abt Finnian von Clonard († 549) verfasst; Paul Byrne, Finnian, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 4 (1999), Sp 476–477. 2

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Angabe der Buße gemeinsam mit der Ohrenbeichte von missionierenden Mönchen auf den Kontinent gebracht,8 wo sie rasche Verbreitung fanden. In den Bußbüchern finden sich zahlreiche Krankheitsmetaphern, die durchaus als medizinalisches Bußverständnis bezeichnet werden können.9 Im ›Bigotianum‹, einem englisch und irisch beeinflussten, um 800 in Franken verfassten Paenitentiale, wird der Priester im Kontext der Sündenkrankheit als Arzt der Seele bezeichnet.10 Auch der altkirchliche Terminus des christus medicus wird häufig verwendet.11 Sünde und Krankheit werden oft in einem Atemzug genannt; die Todsünde des Stolzes bezeichnet Columban († 597) als morbus superbiae und sein Lehrer Finnian († 549) vergleicht die Sünde des Neides mit der Lepra.12 Im ›Paenitentiale Cummeani‹ (7. Jh.) wird im Hauptteil eine Verbindung zu den Hauptlastern hergestellt, um möglichst viele sündhafte Vergehen zu erfassen,13 und es wird summarisch auf die durch die Kirchenväter überlieferten Remedia hingewiesen: Und so bestimmen sie, dass die acht Hauptsünden, die dem menschlichen Heil entgegenstehen, durch die acht gegenteiligen Gegenmittel geheilt werden sollen. Denn es gibt ein altes Sprichwort: Die Gegenteile werden durch Gegenteile kuriert.14

Jeder Sünde wird eine als angemessen ausgewiesene Bußstrafe zugeteilt, wobei der reinigenden Wirkung der Fastenbuße ein deutliches Übergewicht gegenüber anderen Bußstrafen eingeräumt wird.

8  Raymund Kottje, Bussbücher, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 2 (1999), Sp. 1118–1121; Cyrille Vogel, Les ›Libri Paenitentiales‹ (Typologie des sources du moyen âge occidental 27), Turnhout 1978. 9  Hubertus Lutterbach, Intentions- oder Tathaftung? Zum Bußverständnis in den frühmittelalterlichen Bußbüchern, in: Frühmittelalterliche Studien 29 (1995), S. 120–143, S. 123. 10  Ludwig Bieler (Hg.), The Irish Penitaentials (Scriptores Latini Hiberniae V), Dublin 1975, S. 198: Paenitentiale quod dicitur Bigotianum. 1. Tanto maior potentia medici quanto magis creuit morbus egroti. 2. Hinc procurantibus aliorum sanare vulnera solerter intuendum est cuius aetatis et sexus sit peccans, qua eruditione inbutus, qua fortitudine exstat, quali gravatione conpulsus est peccare, quali pasione inpugnatur, quanto tempore in diliciis remansit, quali lacrimabilitate et labore affligitur et qualiter a mundialibus separatur. 11   Jan Ulrich Büttner, Sünde als Krankheit – Buße als Heilung in den Bußbüchern des frühen Mittelalters, in: Cordula Nolte (Hg.), Homo debilis. Behinderte, Kranke, Versehrte in der Gesellschaft des Mittelalters, Korb 2009, S. 57–78, S. 60–63. 12   ... et invidia lepra esse in lege iudicatur, ... Bieler (Anm. 10), S. 84. 13   Viele Bußbücher werden nach den Hauptsünden in die entsprechenden Hauptkapitel gegliedert. Ludger Körntgen, Studien zu den Quellen der frühmittelalterlichen Bußbücher, Sigmaringen 1993, S. 36–37. 14   Paenitentiale Cummeani Prol. 15. Statuunt itaque ut octo pricipalia vitia humanae saluti contraria his octo contrariis remidiis sanantur. Vetus namque proverbium est: Contraria contrariis sanantur. Qui enim inlicita licenter commisit, a licitis licet cohercere se debuit. Bieler (Anm. 10), S. 110, Z. 18–21.

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Verfolgt man in den Bußbüchern die Reflexion über den Ablauf der Beichte und die Natur der Sünden, dann lässt sich erkennen, dass dem Sünder eine zunehmend aktive Rolle bei der (Selbst)erkenntnis und Bekämpfung der Sünden zukam. Die auf dem Prinzip der Tathaftung beruhenden irischen Paenitentialien setzten vornehmlich den jeweiligen Bußtarif fest,15 eine Personalisierung in der Anleitung zum Bekenntnis findet sich nicht. Unter den kontinentalen iro-fränkischen Bußbüchern gibt es hingegen Werke, welche den Eindruck vermitteln, dass die Buße als kommunikativer Vorgang zwischen dem medicus-Priester und dem Poenitenten angesehen werden kann,16 indem der Priester gewissermaßen als Vermittler den medicus Christus bittet, die Wunden der Sünde zu heilen.17 In diesem Prozess wurde dem Büßer ein hohes Maß an Selbstreflexion in Bezug auf seinen sündhaften Status zugesprochen, was durchaus als Hinweis auf ein subjektives »forum internum«18 gedeutet werden kann. Das ›Confessionale Pseudo-Egberti‹ (England, 8. Jh.) leitet den Büßer an, seine Sünden zu reflektieren und schließlich zu bekennen. Die Aufforderung des Priesters fasst bereits in Worte, was später die Portalprogramme zeigen: Ich bitte dich, dass du mir alles erzählst, was du irgend einmal an Bösem getan hast; denn es ist für Dich besser, jetzt hier vor mir, einem allein dastehenden Armen, beschämt zu werden als später vor Gott im großen Gericht (in magno iudicio), wo alle Bewohner des Himmels und der Erde sowie alle Bewohner der Unterwelt versammelt sein werden und wo uns unser Herr errettet.19

Im ›Paenitentiale Vallicellanum‹ E 62 (9. oder 10. Jh) und auch in den ›Canones Pseudo-Edgari‹ (10. Jh.) wird der Poenitent nach hinweisenden Worten zur Introspektion aufgefordert, dem Priester ganz summarisch ein Sündenbekenntnis nachzusprechen, welches die Hauptsünden genauestens aufführt. Es ist nicht nur ein persönliches, sondern auch ein erschöpfendes Bekenntnis gefragt.20 Im ›Decretum‹ des Burchard von Worms († 1025) wird eine regelmäßige Beichte vor den wichtigsten Feiertagen gefordert.21   Lutterbach (Anm. 9), S. 136–139.  Hubertus Lutterbach, Die Bußordines in den fränkischen Paenitentialien. Schlüssel zur Theologie und Verwendung der mittelalterlichen Bußbücher, in: Frühmittelalterliche Studien 30 (1996), S. 150– 172, S. 162. 17   So in der 5. Oratio des ›Ordo Halitgarii‹. Hermann Josef Schmitz (Hg.), Die Bussbücher und die Bussdisciplin der Kirche, Bd. 2, Mainz 1883–1898, S. 293. 18  Alexander Murray, Confession before 1215. Transactions of the Royal Historical Society, in: Sixth Series 3 (1993), S. 51–81, hier S. 51. 19   Zitiert nach der Übersetzung von Lutterbach (Anm. 16), S. 164. 20   Ebd., S. 168–169. 21   Burchard von Worms, Decretum libri XX, hrsg. v. Jacques Paul Migne (Patrologia Latina 140), Sp. 756–757; Martin Ohst, Pflichtbeichte. Untersuchungen zum Bußwesen im Hohen und Späten Mittel15 16

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Die meisten dieser Vorschriften wurden zunächst für klösterliche Lebensgemeinschaften formuliert und kamen nur zögerlich auch außerhalb dieser zur Anwendung, ein laikales Bußverständnis musste erst noch geschaffen werden.22 In den Bußbüchern zeichnet sich eine Tendenz zur Selbsterforschung ab, die unterstrichen wird durch die eindeutigen Hinweise auf eine Reflexion (mit altkirchlich-medizinischer Terminologie) der Intentionalität im Hinblick auf die Strafe, auch wenn die Bußkataloge selbst vindikativ auf eine Tathaftung abzielen. »Die Identifizierung des Selbst erfolgt nun immer öfter im Innenleben des Menschen, das die Quelle der Erkenntnis dessen, was die Tugend ausmacht, verinnerlicht hat.«23 Das neue Bußverständnis lag dann auch der Konzeption der nächsten Gattung von Bußbüchern, den Summae confessionum des 12. Jh. zugrunde. Diese verlagerten »den Schwerpunkt der Sündenanalyse von den äußeren Akten auf die jeweils zugrundeliegende Intention. Vor allem aber sind die Summae confessionum selbst ein Resultat sozialer Kontrollprozesse, aus denen allein die Fähigkeit zur Subjektivität erwächst, als ein vorwärtsweisender Meilenstein auf dem Weg der weiteren Subjektivierung zu verstehen, welche im 16. Jahrhundert die Generalbeichte hervorbrachte«.24 Diese Tendenz, im Rahmen einer inneren Einkehr auch die Intentionalität einer Handlung in Bezug auf das Strafmaß zu berücksichtigen, wird schließlich in den gelehrten Debatten des 11. und 12. Jh. auf eine moraltheologische Ebene gehoben.25 Mit Petrus Abaelard († 1142) ist der große Umbruch des 12. Jh. erreicht, in dem sich der Charakter der Buße grundlegend verändert. In den Vordergrund tritt nun die innere contritio animi ex amore Dei,26 die Zerknirschung der Seele aus Liebe zu Gott, als Voraussetzung der göttlichen Vergebung. Allerdings müssen die Sündenstrafen mit Hilfe des Priesters gebeichtet und durch Ableistung von Bußwerken getilgt werden. Die Beichte selbst ist wesentlicher Bestandteil des eigentlichen Bußaktes. Abaelard interessiert nicht in erster Linie die Bestrafung des Sünders, sondern er reflektiert die alter, Tübingen 1995, S. 22; Ludger Körntgen, Canon Law and the practice of penance: Burchard of Worms’s penitential, in: Early Medieval Europe 14 (2006), S. 103–117. 22  Robert Meens, Penitentials and the Practice of Penance in the Tenth and Eleventh Centuries, in: Early Medieval Europe 14 (2006), S. 7–21. 23  Richard Newhauser, Zur Zweideutigkeit in der Moraltheologie. Als Tugenden verkleidete Laster, in: Peter von Moos (Hg.), Der Fehltritt. Vergehen und Versehen in der Vormoderne, Köln u. a. 2001, S. 377–402, hier S. 391. 24   Lutterbach (Anm. 16), S. 172. 25  Johannes Gründel, Die Lehre von den Umständen der menschlichen Handlung im Mittelalter, Münster 1963, bes. S. 102–258; Michael v. Dougherty, Moral Dilemmas in Medieval Thought: From Gratian to Aquinas, Cambridge 2011. Zur Entwicklung von der öffentlichen zur privaten Beichte: Murray (Anm. 18); sowie Sarah Hamilton, The Practice of Penance, 900–1050, Woodbridge, New York 2002. 26   Peter Abaelard, Scito te ipsum (Ethica). Erkenne dich selbst, übers. und hrsg. v. Philipp Steger, Hamburg 2006, § 58, S. 110f.

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subjektiven Beweggründe (intentiones) menschlicher Handlungen, die Bewertungskriterien für die sittliche Zuordnung von Handlungen in gute und böse Taten. »Es ist jedoch bekannt, dass Werke, die man tun oder am wenigsten tun soll, ebenso von guten wie von bösen Menschen ausgeführt werden, allein die intentio unterscheidet sie voneinander.«27 Abaelard formulierte eine Ethik, nach der eine äußere Handlung erst nach einer genauen Analyse der inneren Beweggründe zu bewerten ist. Von nun an wird der subjektive Aspekt der Intentionalität als Bewertungskriterium für die Moralität einer Handlung einen wichtigen Platz in der Ethik des Mittelalters einnehmen.28

2. Die Aufgabe des Bildes In der Tradition der so überaus einflussreichen Bestimmung des Bildes als Lektüre für die Unwissenden durch Papst Gregor den Großen († 604)29 wird das ganze Mittelalter hindurch über die Funktion und die Aufgabe von Bildern nachgedacht. Immer wieder wird die Gefahr der Anbetung von Bildern thematisiert30 und genauso oft wird auf den erzieherischen, den memorativen und den schmückenden Nutzen der Bildwerke verwiesen.31

27   Ebd., § 17, 36–39, S. 34f.: Constat quippe opera, quae fieri convenit aut minime, eque a bonis sicut a malis hominibus geri, quos intencio sola separat. Besonders auch die §§ 34–38; hier wird die Gewissensbindung zum ethischen Prinzip erhoben. Willemien Otten, In Conscience’s Court: Abelard’s Ethics as a Science of the Self, in: István P. Bejczy u. Richard Newhauser (Hgg.), Virtue and Ethics in the Twelfth Century, Leiden, Boston 2005, S. 53–74. 28   Dazu auch: Kurt Flasch, Das philosophische Denken im Mittelalter. Von Augustin bis Machiavelli, Stuttgart 2000, S. 248f. 29   Gregor der Große, Registrum epistolorum, Ep. XI, 10 vom Oktober 600, hrsg. v. Dag Norberg (Corpus Christianorum Series Latina 140A), Turnhout 1982, S. 873–876: Aliud est enim picturas adorare, aliud picturae historia, quid sit adorandum, addiscere. Nam quod legentibus scriptura, hoc idiotis praestat pictura cernentibus, quia in ipsa ignorantes vident, quod sequi debeant, in ipsa legunt qui litteras nesciunt; unde praecipue gentibus pro lectione pictura est; Lawrence G. Duggan, Reflections on »Was Art Really the ›Book of the Illiterate‹?« in: Marielle Hageman u. Marco Mostert (Hgg.), Read­ ing Images and Texts, Turnhout 2005, S. 109–121. 30  Conrad Rudolph, The »Things of Greater Importance«. Bernard of Clairvaux’s Apologia and the Medieval Attitude Toward Art, Philadelphia 1990. 31  Martin Büchsel, Materialpracht und die Kunst für die Litterati. Suger gegen Bernhard von Clairvaux, in: ders. u. Rebecca Müller (Hgg.), Intellektualisierung und Mystifizierung mittelalterlicher Kunst. »Kultbild«: Revision eines Begriffs, Berlin 2010, S. 155–182. Zum Folgenden siehe auch: Bruno Boerner, Bildwirkungen. Die kommunikative Funktion mittelalterlicher Skulpturen, Berlin 2008, bes. S. 33–42.

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Als der zunächst skeptische Bernhard von Angers über seine Besuche des Reliquiars der heiligen Fides in den Jahren zwischen 1013 und 1020 in Conques berichtet32, unterscheidet er genau zwischen dem Bildwerk und der Reliquie. Diese repräsentiere zwar für den Gläubigen die Heilige, jedoch sei sie nicht mit der Person identisch, die er um Beistand bittet.33 Etwas zögerlich räumt er ein, dass es sich keinesfalls um ein Götzenbild handle, sondern um ein heiliges Bildnis, welches das fromme Gedächtnis an eine heilige Jungfrau befördere, die dem Sünder zu helfen vermöge und das nicht zerstört oder geschmäht werden dürfe.34 Im 1. Viertel des 12. Jh. schreibt Theophilus Presbyter in seiner ›Schedula de diversis artibus‹ »Wenn aber zufällig die gläubige Seele die Darstellung des Leidens unseres Herrn, wie es sich in seinen Gesichtszügen ausdrückt, erblickt, wird sie von Reue erfasst; wenn sie sieht, wie viele Martern die Heiligen an ihren Leibern ertrugen und welchen Lohn des ewigen Lebens sie erhielten, bemüht sie sich um die Beachtung eines besseren Lebenswandels, wenn sie betrachtet, wie groß die Wonnen im Himmel, und wie groß die Qualen im Höllenfeuer sind, dann wird sie vom Vertrauen auf ihre guten Taten belebt und bei Betrachtung ihrer Sünden von Furcht erschüttert.«35 Sicardus von Cremona († 1215), verweist in seinem liturgischem Werk ›Mitralis de officiis‹36 auf die alttestamentliche Beschreibung des Tempels im Buch der Könige (1 Kön 6, 29; 7, 23. 25; 3 Kön 18 und 29), um die Ausstattung der christlichen Gotteshäuser zu rechtfertigen. Die Bildwerke in den Kirchen seien nicht nur schmückender Zierrat, sondern sie dienten auch als Schrift für die Laien, mit welcher die Glaubensinhalte erinnerbar und instruktiv präsentiert würden. Die Präsentation von Tugenden und Lastern verwiesen schließlich auf die heilsgeschichtliche Zukunft, auf die Beloh-

 Beate Fricke, Ecce fides. Die Statue von Conques, Götzendienst und Bildkultur im Westen, München 2007; Boerner (Anm. 31), S. 36–38. 33   Bernhard von Angers, Liber miraculorum sancte Fidis, hrsg. v. Auguste Bouillet, Paris 1897, S. 46–49. Bernhard schrieb zwischen 1013 und 1025 die ersten beiden Bücher des Wunderbuches, die anderen beiden wurden vor 1050 in der Abtei in Conques verfasst. 34   Ebd., S. 49: ... neque id esse spurcissimum ydolum, ubi nefarius immolandi consulendive ritus exerceatur, sed sancte virginis piam memoriam apud quam multo decentius ac copiosiore fidelis cordis compunctione, eius pro peccatis efficax imploretur intercessio. [...] Ergo sancte Fidis imago nichil est quod destrui vel vituperati debeat, ... 35  Erhard Brepohl, Theophilus Presbyter und die mittelalterliche Goldschmiedekunst, Leipzig 1987, darin: Prolog zu Lib. III, S. 40: Quod si forte Dominicae passionis effigiem liniamentis expressam conspicatur fidelis anima, compungitur; si quanta sancti pertulerunt in suis corporibus cruciamina quantaque vitae eternae perceperunt praemia conspicit, vitae melioris observantiam arripit; si quanta sunt in coelis gaudia quantaque in Tartareis flammis cruciamenta intuetur, spe de bonis actibus suis animatur et de peccatorum suorum consideratione formidine concuitur. 36   Sicardi Cremonensis Episcopi. Mitralis de officiis, hrsg. v. Jacques Paul Migne (Patrologia Latina 213), Sp. 9–436, bes. das Kapitel ›De ornatu ecclesiae‹, Sp. 40–44. 32

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nungen und Strafen des Jüngsten Gerichtes, die den Betrachter in Vorfreude auf die himmlischen Freuden und in ängstliche Erwartung der Höllenpein versetzen sollen.37 Dem christlichen Bildwerk werden somit Funktionen zugesprochen, die es über den Idolatrie-Verdacht erheben: Es wird nicht als Gegenstand der Verehrung selbst angebetet, sondern es ist ein überaus vielschichtiges religiöses Verweis- und Erkenntnismittel. Es vermag zu zeigen, was hinter dem körperlich Sichtbaren liegt, und es vermag auf das Wesenhafte einer Sache zu verweisen, das allein aus der sinnlichen Wahrnehmung nicht erkennbar ist. Das äußere, körperliche Auge (oculus carnis) des Menschen ist in der Räumlichkeit und der Gegenwärtigkeit eingebunden; angeregt durch ein Bildwerk ist es in der Lage, zeitunabhängig Bilder vor das innere, geistige Auge (oculus cordis)38 zu stellen. Es operiert mit der visuellen Manifestation komplexer Gedankengänge und Glaubensinhalte.39 Hierfür eignet sich das Weltgericht als Vermittler zwischen der irdischen Welt und der Erfüllung in der jenseitigen Welt ganz besonders; es vermag auf das Eindringlichste den Betrachter persönlich anzusprechen und ihn an seine eigentliche Bestimmung zu erinnern. Ein Bildwerk kann erkenntniserweiternd aktiviert werden und sowohl eine Veranschaulichung der inneren Erkenntnis als auch eine Anleitung zum emotionalen Nachvollzug derselben sein. Diese innere Visualität40 korrespondiert auch mit der Introspektivität der Sündenerkenntnis des Poenitenten. Nachdem einige Indizien für die Entwicklung des Gewissens vorgestellt und die Aufgaben des Bildes in aller Kürze angedeutet worden sind, soll nun anhand der Tympana von Conques und Autun gezeigt werden, dass die poenitentiale Praxis ihre Erweiterung in der visuellen Eindrücklichkeit der romanischen Weltgerichte findet. Dabei wird sich die Aufmerksamkeit hauptsächlich auf die Höllendarstellung der Weltgerichte konzentrieren, da hier die Verbindung zum Buß-Anspruch im Vordergrund steht.   Sicardus, Mitralis de officiis, hrsg. v. Jacques Paul Migne (Patrologia Latina 213), Sp. 9–436, De ornatu ecclesiae, Sp. 43: Quandoque in ecclesiis paradisus et infernus depingitur, ut ille nos allicat ad delectationem praemiorum; hic vero deterreat a formidine tormentorum. 38   Zum inneren Auge: Gudrun Schleusener-Eichholz, Das Auge im Mittelalter, 2 Bde, Münster 1985, bes. Bd. 2, S. 931–947. 39   Dazu: Mary Carruthers, Moving Images in the Mind’s Eye, in: Jeffrey F. Hamburger u. AnneMarie Bouché (Hgg.), The Mind’s Eye. Art and Theological Argument in the Middle Ages, Princeton, Oxford 2006, S. 287–305. Thomas Lentes, Inneres Auge, äußerer Blick und heilige Schau, in: Klaus Schreiner (Hg.), Frömmigkeit im Mittelalter. Politisch-Soziale Kontexte, visuelle Praxis, körperliche Ausdrucksformen, München 2002, S. 179–220. 40   In diesem Sinn auch Gerardus von Cambrai († 1051): per illam visibilem imaginem mens interior hominis excitatur ... in: Acta synodi Atrobatensis, anno 1025, hrsg. v. Jacques Paul Migne (Patrologia Latina 142), Paris 1880, Sp. 1279–1312, Sp. 1306. Siegfried Mattl, Sichtbares und Unsichtbares. Konzepte zum Sehsinn, in: Elisabeth Vavra (Hg.), Bild und Abbild vom Menschen im Mittelalter, Klagenfurt 1999, S. 31–48, S. 37. 37

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3. Die Tympana von Conques und Autun »Am

Portal erfolgt die Konfrontation mit dem Betrachter, und gerade weil sie [die Skulptur] sich als Relief monumental gegenüberstellt, kommt er nicht an ihr vorbei, er muß sich ihr stellen, sei es in der Anschauung, sei es der inhaltlichen Forderung dieser Bildwerke. An den großen Hauptportalen wendet sich diese Skulptur nach außen, der Betrachter ist nicht nur mehr der ›Insasse‹ von Kloster und Kirche, statt Mönch und Kleriker allein ist jetzt der ›Jedermann‹ des 12. Jahrhunderts, die Öffentlichkeit jener Zeit schlechthin, aufgerufen.«41 Öffentlich sind die beiden Tympana vor allem, weil sie sich über den Portalen von Pilgerkirchen auf dem Weg nach Santiago de Compostela42 befinden und darüberhinaus überregionales Ziel einer lokalen Heiligenverehrung sind.

3.1 Conques-en-Rouergue, Abteikirche Sainte-Foy Die französische Stadt Conques liegt am großen Pilgerweg zwischen Le Puy und Moissac nach Santiago de Compostela. Das ansässige Kloster beherbergt das berühmte Reliquiar der Hl. Fides43 und nicht weniger bemerkenswert ist das romanische Tympanon44 aus dem 2. Viertel des 12. Jh. über dem Westportal der Abteikirche. Das Bogenfeld zeigt in drei Registern ein in der Skulptur bis dahin nicht gesehenes Weltgericht, das den Betrachter in all den oben angedeuteten Zusammenhängen zu affizieren vermag. Paradiesische Seligkeit zur Linken des Betrachters, und höllische Qualen45 als Strafe für einen lasterhaften Lebenswandel zur Rechten werden auf das Anschaulichste ausgebreitet (Abb. 1). Im Zentrum der Komposition thront der Weltenrichter in einer Mandorla, sein Kreuznimbus umschließt das Wort Judex. Seine erhobene rechte Hand weist auf die Seite der Seligen und Fürbittenden und des Paradieses, während seine linke auf die gegenüberliegende Seite mit den in der Hölle Gemarterten zeigt. Auf den Profilen der  Bernhard Rupprecht, Romanische Skulptur in Frankreich, München 1984, S. 22.   Zum Zusammenhang zwischen der französischen und spanischen Romanik mit dem Pilgerwesen nach Santiago de Compostela siehe: Horst Bredekamp, Wallfahrt als Versuchung, in: Clemens Fruh u. a. (Hgg.), Kunstgeschichte – aber wie? Zehn Themen und Beispiele, Berlin 1989, S. 221–258. 43   Maßgeblich dazu: Fricke (Anm. 32). 44  Willibald Sauerländer, Omnes perversi sic sunt in Tartara Mersi. Skulptur als Bildpredigt. Das Weltgerichtstympanon von Sainte-Foy in Conques, in: Ders. (Autor) u. Werner Busch (Hg.), Geschichte der Kunst – Gegenwart der Kritik, Köln 1999, S. 67–90; Don Denny, The Date of the Conques Last Judgment and Its Compositional Analogues, in: The Art Bulletin 66 (1984), S. 7–14. Rupprecht (Anm. 41), S. 98–100. 45   Zur Herkunft des Höllenbildes: Hans-Dietrich Altendorf, Die Entstehung des theologischen Höllenbildes in der Alten Kirche, in: Peter Jelzer (Hg.), Himmel, Hölle, Fegefeuer. Das Jenseits im Mittelalter, Zürich 1994, S. 27–32. 41

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Abb. 1: Conques-en-Rouergue, Abteikirche Sainte-Foy, Weltgerichts-Tympanon. Quelle: Bernhard Rupprecht, Romanische Skulptur in Frankreich, München 1984, Abb. 114.

horizontalen Registereinteilungen, auf den Giebeln über Himmel und Hölle im untersten Register und unmittelbar auf dem schmalen Türsturz wird der Lesekundige mit Inschriften angesprochen.46 Die rechte Tympanonseite ist der Hölle gewidmet. Hier werden die Sünder entsprechend ihrer Natur gezeigt und gepeinigt. Der obere Höllenteil, auf der Höhe der Etage mit den Seligen, ist programmatisch mit den Worten »Alle Bösen werden so in die Hölle versenkt«47 überschrieben. Dementsprechend werden in diesem Register von links her die Verdammten von bewaffneten Engeln der Höllenstrafe überantwortet. Einer dieser Engel hält mit gezücktem Schwert seinen Schild den Unseligen entgegen; darauf ist zu lesen: »Die Engel werden ausgehen und die Bösen von den Gerechten scheiden.«48 Rechts davon drängen sich die Verdammten in vier Feldern. Im oberen Bereich sind Geistliche in einem Netz gefangen, der vorderste ist vornüber gefallen und wird zerfleischt,49 eine weitere Gestalt mit einem Buch wird von einem Dä-

46   Zu den Inschriften Calvin Kendall, The allegory of the Church: Romanesque Portals and their Verse Inscriptions, Toronto 1998, S. 217–219, hier S. 217. 47   Omnes perversi sic sunt in tartara mers(i). Sauerländer (Anm. 44), S. 83; Kendall (Anm. 46), S. 218. 48   Exibun(t) angeli et sepera(bunt). Sauerländer (Anm. 44), S. 83 (Mt 13, 49). 49   Jean Claude Bonne, L’art roman de face et de profil. Le tympan de Conques, Paris 1985, S. 287.

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mon zu Boden gedrückt, von unten wird ihr in den Kopf gebissen (ein Häretiker?).50 Rechts daneben macht sich ein Teufel an einem im Feuer liegenden Falschmünzer zu schaffen.51 In der unteren Abteilung dieses Registers werden Repräsentanten des feudalen Standes bestraft und daneben wird ein Stoff-Betrüger (?) mit einem Flaschenzug an den Beinen aufgehängt.52 Über dem untersten Register der Hölle ist zu lesen: »Durch Strafen werden die Ungerechten gepeinigt, in Feuern verbrannt, sie zittern vor Dämonen und Seufzen immerzu.«53 Der Ort der tiefsten Hölle ist von einem Giebel überfangen, auf dem die Verurteilung der verschiedenen Sünder ankündigt wird: »Diebe, Lügner, Heuchler und gierige Räuber, so sind sie gleichermaßen verdammt und verrucht.«54 Die äußerste linke Seite des untersten Höllenregisters zeigt die Vorkammer zur Hölle. Links von ihr empfängt Petrus vor der geöffneten Himmelstür die glücklichen Neuankömmlinge. Ein Steg trennt die beiden Abteilungen. Einer der Glücklichen schaut sich in Richtung Hölle um und zieht einen Anderen zu sich heran, als wolle er sicherstellen, dass dieser nicht doch noch auf der höllischen Seite endet. Ein Teufel, dessen flammender Haarschopf die Schriftleiste des Giebels überschneidet und dessen Knüppel in die höhere Höllenetage ragt, scheint den Blick des zurückschauenden Seligen drohend zu erwidern.55 Hinter ihm werden die Verdammten in den Höllenrachen getrieben. Unmittelbar nach dem Höllentor wird ein stolzer Reitersmann (Superbia) von Dämonen zu Fall gebracht, kopfüber stürzt er vom Pferd. Als nächstes wird ein halbnacktes Paar (Luxuria) mit Stricken um den Hals dem im Zentrum thronenden Höllenfürsten zugeführt, unter dessen Füßen der Reiche im Feuer liegt, der dem armen Lazarus die Hilfe verweigerte56. Möglicherweise wird hier aber auch die

 Jérome Baschet, Les Justices de l’au–delà. Les représentations de l’enfer en France et en Italie (XIIe–XVe siècle), Rom 1993, S. 152. 51   Als solcher identifiziert durch Paul Deschamps, Les sculptures de l’église Sainte–Foy de Conques et leur décoration peinte. L’Académie des Inscriptions et Belles–Lettres, Monuments et Mémoires, Paris 1941, S. 156–185, hier S. 171. 52  Silke Büttner, Die Körper verweben. Sinnproduktion in der französischen Bildhauerei des 12. Jahrhundert, Bielefeld 2010, S. 272. 53   Penis injusti cruciantur in ingnibus usti / demonas atque tremunt perpetuoque gemunt. Sauerländer (Anm. 44), S. 84; Kendall (Anm. 46), S. 218. 54   Fures mendaces falsi cupidique rapaces / sic sunt dampnati cuncti simul et scelerati. Kendall (Anm. 46), S. 219; Sauerländer (Anm. 44), S. 84; Bruno Boerner, Lasterdarstellungen in der mittelalterlichen Monumentalkunst Frankreichs, in: Christoph Flüeler u. a. (Hgg.), Laster im Mittelalter – Vices in the Middle Ages, Berlin, New York 2009, S. 65–104, S. 78–79. 55   Dieser Blickkontakt ist tatsächlich um den Steg herumgeführt. Beide Köpfe scheinen sich etwas stärker aus der Fläche des Reliefs vorzuschieben. Auch der Kopf des Seligen scheint die obere Leiste leicht zu überschneiden. 56   So die Deutung bei Sauerländer (Anm. 44), S. 85. 50

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Faulheit (Acedia) bestraft.57 Zur unmittelbaren Linken Satans wird der Geizige (Avarus – Avaritia), durch einen schweren Geldsack um seinen Hals beschwert, erhängt. Am Fuße des Galgens wird einem Lügner die Zunge herausgerissen (Verleumdung, Neid, Invidia). Es folgt die Bestrafung der Wollüstigen (Luxuria), auf die Satan mit seiner Linken hinzuweisen scheint, als wolle er dem gerade herbeigeführten Paar zu seiner Rechten zeigen, was sie zu erwarten haben: Ein Mann wird von hochschlagenden Flammen umhüllt, allein sein Kopf ist noch zu sehen, auf seinen Schultern sitzt eine Frau, die ihrerseits von einem Teufel herabgedrückt wird.58 Zum Abschluss wird ganz rechts ein beleibter Unseliger mit zappelnden Beinen in einen großen Kessel gestoßen, was als Bestrafung der Völlerei angesehen werden kann.59 In den Zwickeln über den Giebelleisten der unteren Hölle sind weitere Qualen zu erkennen. Rechts neben der Seelenwägung60 Michaels, die unmittelbar unter Christus und exakt über der Trennwand zwischen Paradies und Hölle stattfindet und die ein Teufel zu beeinflussen versucht, stößt sich ein Verdammter einen Dolch in den Hals (Ira, Desperatio)61, während ein weiterer Teufel auf seinem Rücken sitzt und ihn in den Kopf beißt. Ein Troubadour (?) wird stellvertretend für die zahlreichen Minnesänger dieser Zeit62 gepeinigt und ganz rechts wird ein Unseliger an einem Spieß von zwei Teufeln in die Flammen gehalten, möglicherweise eine weitere Variante der Gula oder aber ein Wilddieb.63 Die überaus anschauliche Bestrafung der dichtgedrängten Sünder erzeugt einen eindringlichen emotionalen Apell, der im Kontrast steht zu der ruhigen, übersichtlichen Präsentation des Himmels. Die himmlische Seite zeigt sich geordnet und statisch, ihre Bewohner erscheinen in der Schönheit einer sündenfreien Menschlichkeit. Das höllische Pendant erscheint chaotisch und bewegt, die Insassen sind charakterisiert durch die körperlichen Deformationen ihrer sündhaften Naturen.64 Nach unten abgeschlossen wird das Tympanonfeld schließlich durch die zwei leoninischen Hexameter: »O Sünder, wenn ihr Euren Lebenswandel nicht ändert, wisst, dass Euch ein hartes Gericht bevorsteht.«65   Büttner (Anm. 52), S. 243.   Möglicherweise ein Verweis auf Aristoteles und Phyllis. Sauerländer (Anm. 44), S. 86. 59   Büttner (Anm. 52), S. 245. 60   Zum Motiv der Seelenwaage: Leopold Kretzenbacher, Die Seelenwaage. Zur religiösen Idee vom Jenseitsgericht auf der Schicksalswaage in Hochreligion, Bildkunst u. Volksglaube, Klagenfurt 1958. 61  Jacques Bousquet, La sculpture à Conques aux XIe et XIIe siècles. Essai de chronologie comparée, Toulouse 1973, S. 148, 221. Bonne (Anm. 49), S. 305–306. 62   Ebd., S. 148. 63   Büttner (Anm. 52), S. 231, Anm. 15, S. 232; Bonne (Anm. 49), S. 305. 64   Zur Sünde als Seinsverlust siehe die Eriugena-Rezeption bei Hugo van St. Viktor († 1141) und im Viktorinerkreis. Stephan Otto, Die Funktion des Bildbegriffes in der Theologie des 12. Jahrhunderts, Münster 1963, S. 125–127. 65   O peccatores trasmutetis nisi mores / judicium durum vobis scitote futurum. Kendall (Anm. 46), S. 219; Sauerländer (Anm. 44), S. 78. 57 58

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Im Tympanon von Conques sind Bildwerk und Inschrift mit einer eindeutigen didaktisch-paränetischen Absicht zusammengefügt: Angewiesen durch den Weltenrichter soll der Pilger, auch wenn er des Lesens nicht kundig ist,66 unter dem emotional aufwühlenden Eindruck der Bestrafung ungebüßter Sünden die Falschheit seiner Handlungen nebst den daraus erfolgenden Konsequenzen erleben und durch innere Erkenntnis und unmittelbare Reue eigenständig den Weg zur Läuterung beschreiten. Durch Anblicken des Geschehens soll der Heilungsprozess beginnen, das Leiden der Verdammten wird am eigenen Leibe nachempfunden, da durch die Internalisierung des Gesehenen das emotionale und rationale Vermögen des Betrachters affiziert wird. Auf diese Weise ermahnt und hoffentlich geläutert, betritt der Gläubige schließlich die Kirche, um möglicherweise auch vor dem Priester seine Reue zu bekunden und die Sakramente zu empfangen; der Bibelfeste mag dabei auch schaudernd an Gen 28, 17 denken: »Wie furchtbar ist dieser Ort. Hier ist gewiss der Wohnsitz Gottes und das Tor des Himmels.«67

3.3 Autun, Kathedrale Saint-Lazare Weltgerichts-Tympanon des Langhauses Ganz anders als in Conques präsentiert sich das Weltgericht über dem Langhausportal in Autun aus der Zeit zwischen 1130–114568. Während sich dort die Figuren dichtgedrängt in die Struktur der Register fügen, scheint hier der zentrale, riesenhafte Weltenrichter in der von Engeln gestützten Mandorla jedes Maß sprengen zu wollen und die Registereinteilung in Frage zu stellen.69 (Abb. 2) Das zentrale Ereignis der rechten Seite ist die Seelenwägung. Mit dem Rücken zur Mandorla widmet sich Michael seiner Aufgabe, hinter ihm steht eine nimbierte Gestalt mit einem Buch und schaut auf Christus. Furchterfüllte Auferstandene versuchen sich vor einer mehrköpfigen Schlange unter dem Gewand des Engels zu verbergen. Die Waage, die an der Leiste des oberen Bildfeldes befestigt ist, nimmt den zentralen 66   Im Allgemeinen sind Schriftkenntnisse der Laien nicht vorauszusetzen; dies wird in einigen Bußbüchern explizit berücksichtigt. Siehe Franz Hautkappe, Über die altdeutschen Beichten und ihre Beziehungen zu Caesarius von Arles, Münster 1917, S. 114, Anm. 1 und S. 119. 67   Das Portal und Christus in der Mandorla können auch aufeinander bezogen werden: »Ich bin die Tür; wer durch mich hineingeht, der wird gerettet werden« (Joh 10, 9 sowie Ps 117, 20). Dazu: Kendall (Anm. 46), S. 109–121. 68   Rupprecht (Anm. 41), S. 112. Don Denny, The Last Judgment Tympanum at Autun: Its Sources and Meaning, in: Speculum 57 (1982), S. 532–547. 69  Willibald Sauerländer: Über die Komposition des Weltgerichts-Tympanons in Autun, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 29 (1966), S. 261–294, S. 275. Jochen Zink, Zur Ikonographie der Portal­ skulptur der Kathedrale Saint–Lazare in Autun (Jahrbuch des Zentralinstituts für Kunstgeschichte 5/6), München 1989/90, S. 7–160.

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Abb. 2: Autun, Kathedrale Saint-Lazare, Weltgerichts-Tympanon. Quelle: wie Abb. 1, dort Abb. 170.

Bereich dieses Feldes ein. Michael umfasst auf seiner Seite die gesenkte Schale mit einer betenden Seele, die wohl die guten Taten verkörpert. Der Gerichtete selbst ist bereits aus der Waage in Richtung Himmel emporgestiegen, sein Blick ist auf den Judex und das Paradies gerichtet. In der anderen Schale kreischt ein Teufel seine Wut ob der Entscheidung dem Betrachter entgegen. Diese Seite der Waage wird von weiteren höllischen Wesen umstellt. Ein Teufel, dessen Körperhaltung verzerrt die des Engels widerspiegelt, hat vergeblich versucht, die Wägung zu beeinflussen. Weitere Auferstandene, die aus dem Türsturz emporgehoben worden sind, werden von einem Höllenwesen, das sich aus einem Höllenrachen beugt, an Ketten herbeigezerrt und mit einem Halseisen den grotesk gestreckten Teufeln an der Seelenwaage zugetrieben. Oberhalb dieser Szene werden entlang des rechten Tympanonbogens von anderen Dämonen die Seelen der Verdammten in einen Höllenschlund gestoßen.

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Auf dem Türsturz erscheinen die Auferstehenden, bereits sortiert in die Seligen auf der linken Seite und die Verdammten auf der rechten Seite. Getrennt wird diese Reihe in der Mitte durch einen ein Schwert schwingenden Engel. In der Mitte der rechten Seite des Türsturzes wird ein Unseliger von zwei riesigen Klauen zu dem Dämon mit den Ketten und dem Halseisen auf die Ebene seiner Bestimmung befördert. Die Unglücklichen in diesem Abschnitt wenden sich diesem zentralen Geschehen von links und von rechts mit sich steigernden Ausdrücken der Verzweiflung zu. Die Verdammten, die den Klauen am nächsten stehen sind links durch den Geldsack als Avaritia und rechts durch die Schlangen an den Brüsten als Luxuria zu erkennen. Wie in Conques wird diese expressive Visualisierung durch Inschriften begleitet. Auf dem linken Rand der Mandorla ist zu lesen: »Ich allein richte alles, ich kröne diejenigen, die sich Verdienste erworben haben« und rechts: »mit mir als Richter wird diejenigen die Strafe ereilen, die sich in der Gewalt der Sünde befinden.«70 Über den Auferstandenen im Türsturz finden sich links über den zur Seligkeit Bestimmten die Worte: So wird jeder auferstehen, der nicht ein unfrommes Leben führt / Und für ihn wird auf ewig das Licht des Tages leuchten und über den Verdammten heißt es: Dass hier der Schrecken jene schreckt, die der irdische Irrtum fesselt / Denn es wird sich in Wahrheit so verhalten, wie es die Schrecken dieser Bilder zeigen.71

Auch in Autun wird der Betrachter in Bild und Schrift angesprochen. Laien und Kleriker sind gleichermaßen angesprochen und die Schriftaussage entspricht in ihrem drohenden Ton der visuellen Fassung. Diese allerdings ist in Autun von einer außerordentlichen kompositionellen Erfindungsgabe und emotionalen Expressivität geprägt. Auch der heutige Betrachter vermeint das Kreischen der Teufel und das Klagen der Verdammten zu hören. Der Weltenrichter als christus-medicus in Autun scheint seine Heilmittel noch unerbittlicher zuzumessen als der in Conques. Seine mächtige Dimension hat das Weltgerichtsbild neu strukturiert und den Künstler dazu gebracht, gerade die Seelenwägung in nie gesehener Weise zu verbildlichen. Der Fokus liegt nicht auf der anschaulichen Bestrafung der einzelnen Sünder wie in Conques, sondern auf der Phase der Gerichtsentscheidung. Die Angst vor dem, was kommen wird oder kommen könnte, der Moment der Entscheidung selbst und die möglicheVerdammnis vermögen ein ganz eigenes Grauen zu erzeugen, ohne eine eigentliche Höllenstrafe zu zeigen. Im visuellen Miterleben erfährt der sympathetische Betrachter, was namenlose Angst ist. In emotionalen Aufruhr versetzt, soll der Sünder für sich selbst seine Sünden erkennen. 70   Omnia disponuo solus meritosq(ue) corono / Quos scelus exercet. me iudice pena coercet. Kendall (Anm. 46), S. 207. 71   Ebd., S. 207: Quisq(ue) resurget ita: quem n(on) trahit impia vita / Et lucebit ei sine fine lucerna diei und Terreat hic terror quos terreus alligat error / Nam fore sic verum notat hic horror specieru(m).

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An den Portalen werden die unwiderruflichen Konsequenzen von guten und schlechten Taten vorgeführt. Dass dabei die höllische Seite eindrucksvoller erscheint, liegt gewissermaßen in der Natur der christlichen Sache: Jeder ist ein Sünder, die Neigung zur schlechten Tat ist prinzipiell stärker als die zur guten und deshalb muss besonders anschaulich und abschreckend72 vor den Sünden gewarnt werden – ein Ansatz, der sich auch in den Bußbüchern findet. Bemerkenswert ist auch, wie die bildlichen Darstellungen auf die Lebenswelt des Betrachters reagieren. Die mönchische Ordnung der Laster beginnt meistens mit der Superbia als Wurzel allen Übels, das Tympanon in Conques, das sich explizit an alle Stände wendet, führt alle Laster auf; der stolze Reiter (Superbia) kommt gleich hinter dem Höllentor zu Fall und eröffnet in Leserichtung die Bestrafung der Sünder, allerdings nicht mehr in der Reihenfolge der gregorianischen Lasterpsychologie.73 Die »Hauptlaster haben für die christliche Welt immer existiert, aber erst in romanischer Zeit wurden sie zu zentralen Themen gemalter oder in Stein gehauener moralischer Homilien«.74 In Autun ist die Lasterdarstellung auf Avaritia und Luxuria beschränkt. Offensichtlich wurden sie als besonders verbreitete Sünden angesehen, die in jeder Gesellschaftsschicht gefunden werden konnten. In der erschreckenden Drastik der Deformierung des Sündhaften wendet sich die Portalplastik besonders an die buntgemischte Gesellschaft der Bußwallfahrer, die jedes nur denkbare Verbrechen repräsentierten.75 Doch die Bildwerke sind nicht bloße Illustrationen bestimmter Praktiken oder Vorstellungen. Es wird auf die Imagination des Betrachters abgezielt, die immer auch subjektive Züge trägt. Durch die unmittelbare visuelle Konfrontation wurde eine laikale Bildkompetenz geschaffen, die auf Elemente der Bußerfahrung zurückgriff und diese gleichzeitig intensivierte. Das Abrücken von der Tarifbuße und das Erreichen einer inneren Buße sollte durch die individuelle Gewissenserfahrung des Sünders angesichts seiner persönlichen Verfehlungen durch die eigenständige und verstörende visuelle Wahrnehmung der romanischen Weltgerichte unterstützt und durch priesterliche Anleitung vollendet werden. Die Portalprogramme76 reagierten damit auf die theologischen und seelsorgerischen Entwicklungen und Bedürfnisse der pastoralen Praxis,77 denn in zunehmendem Maße 72  Peter Dinzelbacher, Angst im Mittelalter. Teufels-, Todes- und Gotteserfahrung: Mentalitätsgeschichte und Ikonographie, Paderborn u. a. 1996, S. 81–95. 73  Meyer Schapiro, Vom mozarabischen Stil in Silos (1939), in: Ders., Romanische Kunst. Ausgewählte Schriften, Köln 2003, S. 77–79 u. Anm. 21, S. 143–144. 74   Ebd., S. 78. 75  Klaus Herbers, Der Jakobsweg, Tübingen 1986, S. 62–65. 76 »   Um 1100 ereignet sich das für die europäische Skulpturgeschichte entscheidende Faktum: am Bau tritt Skulptur im großen Format auf.« Rupprecht (Anm. 41), S. 48. Zur Rolle der Künste im 12. Jh.: Meyer Schapiro, Über die ästhetische Bewertung der Kunst in romanischer Zeit (1947), in: Ders., Romanische Kunst. Ausgewählte Schriften, Köln 2003 S. 24–63. 77   Murray (Anm. 18), S. 63.

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galt: »Sünde ist daher nur, was gegen das Gewissen ist.«78 Die Absicht war, durch Reue zu heilen, »... denn der durch die Sünde verwundete Mensch suchte ein Heilmittel für seine Krankheit.«79 Die visuelle Eindringlichkeit der Portale förderte die Internalisierung der Reue auf einer unmittelbareren Ebene als die Bußbücher, sie eröffneten dem Betrachter – dem Geistlichen wie dem Laien – eine sehr persönliche Kommunikationsebene mit dem Heiligen. An den gotischen Portalen des 13. Jh. finden sich derartige Lasterkonzentrationen in dieser Form nicht mehr, es werden eher schlechte Handlungen als solche im Kontext des alltäglichen Lebens gezeigt (Paris, Amiens, Reims) und nicht mehr deren Bestrafung. Die gotischen Portale beziehen sich mit ihren Programmen nun stärker auf theologische Lehrinhalte der Kathedralschulen oder offizielle Glaubenslehren, wie sie besonders unter Papst Innozenz III. formuliert wurden.80 Die Weltgerichtsportale mit ihren Lasterdarstellungen verkörperten ein wichtiges Element in der Entwicklung zur Pflichtbeichte, wie sie 1215 auf dem Vierten Laterankonzil81 vorgeschrieben wurde. Die Entstehung eines individuellen Bußverständnisses durch die allmähliche Ausformung einer inneren Frömmigkeit und Eigenverantwortlichkeit des Einzelnen, die gekoppelt war an den Ausbau und die Internalisierung sozialer Kontrollprozesse, geschah vor dem Hintergrund der religiösen Reformen des 12. Jh., verbunden mit den immer stärker spezifizierten kirchlichen Rechtsvorstellungen, der zunehmenden Urbanisierung und der Ausbildung einer Laienkultur.82

 Kurt Flasch (Hg.), Geschichte der Philosophie in Text und Darstellung. Mittelalter, Stuttgart 1994, Kap. 8, Petrus Abaelard, S. 220–279, hier S. 225. 79   Gründel (Anm. 25), S. 80. 80   Exemplarisch bei Bruno Boerner, Par caritas par meritum. Studien zur Theologie des gotischen Weltgerichtsportals in Frankreich – am Beispiel des mittleren Westeingangs von Notre-Dame in Paris, Freiburg (Schweiz) 1998, bes. S. 80–90. 81  Carl Andresen, Geschichte der abendländischen Konzile des Mittelalters, in: Hans Jochen Margull (Hg.), Die ökumenischen Konzile der Christenheit, Stuttgart 1961, S. 75–200, bes. 115–124. 82   Dazu auch Peter Dinzelbacher: Das erzwungene Individuum. Sündenbewusstsein und Pflichtbeichte, in: Rainer von Dülmen (Hg.), Entdeckung des Ich. Die Geschichte der Individualisierung vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Köln u. a. 2001, S. 41–60. Susan R. Kramer u. Caroline W. Bynum, Revisiting the Twelfth-Century Individual. The Inner Self and the Christian Community, in: Gert Melville u. a. (Hgg.), Das Eigene und das Ganze. Zum Individuellen im mittelalterlichen Religiosentum, Münster 2002, S. 57–88. 78

wande ez ist der gotes slac über mich ergangen – Einige Überlegungen zum christlichen Deutungshorizont der ›Klage‹1 Nadine Hufnagel The ‘Nibelungenklage’ retells and continues the end of the famous ‘Nibelungenlied’ and explains the previous events – inter alia by relating them to the will of God. Although the study presented here focuses on these religious interpretations, it does not aim to identify philosophical or theological functions of the text or theological influences on its author but tries to regard the ‘Klage’ as a text related to courtly culture. By examining how characters and the narrator explain the catastrophe, it becomes obvious that the religious interpretations vary and are bound to the different perspectives of the characters, while the narrator rejects taking a clear position himself. Instead of merely giving a religiously instructive message, the ‘Klage’ provides several explanations for the recipients in which aristocratic-courtly and Christian elements are indistinguishably combined. This combination is also constitutive in the presentation of God and that of the characters Ute and Pilgrim. In summary, Christianity is fundamental for the restitution not only of a divine but simultaneously of a courtly order in the ‘Klage’. This has consequences for the characterization of the religious way of thinking found in the text.

Die Geschichte vom Untergang der Nibelungen hat nicht nur Generationen moderner Interpreten beschäftigt, die ›Klage‹ gibt davon Zeugnis, dass offenbar auch für mittelalterliche Rezipienten das Bedürfnis nach einer Fortsetzung, einem Kommentar2 oder einer Korrektur3 des ›Nibelungenliedes‹ oder einer zweiten Art von Bearbeitung

  Dem vorliegenden Aufsatz liegt ein Vortrag zum Mediävistensymposium »Gottes Werk und Adams Beitrag« 2011 in Jena zugrunde. Die Vortragsform wurde für die Veröffentlichung weitgehend beibehalten. Die Untersuchung beschränkt sich, um den vorgegebenen Rahmen nicht zu sprengen, auf die *B-Fassung der ›Klage‹, Textzitate sind folgender Ausgabe entnommen: Die ›Nibelungenklage‹. Synoptische Ausgabe aller vier Fassungen, hrsg. v. Joachim Bumke, Berlin, New York 1999. 2  Marianne Sammer betrachtet ›Nibelungenlied‹ und ›Klage‹ sogar »als eine zusammengehörige, zweiteilige Dichtung« (Marianne Sammer, Nibelungenlied und Klage zwischen Moraltheologie und Liturgie, in: Dietz-Rüdiger Moser u. Marianne Sammer [Hgg.], Nibelungenlied und Klage. Ursprung – Funktion – Bedeutung. Symposium Kloster Andechs 1995 mit Nachträgen bis 1998, München 1998, S. 169–200, hier S. 169). 3  Jan-Dirk Müller beispielsweise spricht von einer »Korrektur des Epengeschehens« (Jan-Dirk Müller, Das Nibelungenlied, 3. Aufl. Berlin 2009, S. 169) und davon, dass die ›Klage‹ das Geschehen des ›Nibelungenlieds‹ in vertraute Zusammenhänge einordne (vgl. S. 171). Als Korrektur »an bestimmten Einzelheiten des Nibelungenliedes« begreift auch Christoph Fasbender die ›Klage‹ in seiner Einlei1

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des Stoffes4 bestand. Die Überlieferungssituation5 legt nahe, dass die ›Klage‹ im Mittelalter zur Wahrnehmung und Perspektivierung des Nibelungenstoffes in irgendeiner Form dazu gehörte.6 Kontrovers diskutiert wurden in der Forschung vor allem der ästhetische Wert der ›Klage‹, ihre Datierung, ihre Gattung sowie die Beziehung zum ›Nibelungenlied‹.7 Auch das Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit wurde anhand des ›Nibelungenliedes‹ und der ›Klage‹ erörtert.8 Diese Untersuchung baut hingegen auf der Beobachtung auf, dass am Ende des Festes am Etzelhof höfische Normen und Werte, statt Gewalt zu reglementieren und friedlichen Umgang zu ermöglichen, versagt oder sogar zur Provokation des Konflikts beigetragen haben. Dieses geradezu paradoxe Geschehen wird in der ›Klage‹ – mit anderen Akzenten – noch einmal erzählt, fortgesetzt und scheinbar erklärt, u. a. dadurch, dass es mit dem Wirken Gottes in Verbindung gebracht wird. Die ›Klage‹ zeichnet, wie es Jan-Dirk Müller formuliert hat, »eine christliche Deutungsperspektive mit unmissverständlichen moralischen Schuldzuweisungen« aus.9 Diese Deutungsperspektive steht im Zentrum einiger Studien und auch der folgenden Überlegungen. In der ›Klage‹ wird – exemplarisch sei hier wiederum Müller zitiert – »gesagt, wer gen Himmel, wer zur Hölle fuhr, wer Täter, wer Opfer war«.10 Die Figur der Kriemhild wird in dieser Forschungsperspektive in der ›Klage‹ gegenüber dem ›Nibelungen-

tung zu Christoph Fasbender (Hg.), Nibelungenlied und Nibelungenklage. Neue Wege der Forschung, Darmstadt 2005 (hier S. 11). 4  Vgl. Cordula Kropik, Reflexionen des Geschichtlichen. Zur literarischen Konstituierung mittelhochdeutscher Heldenepik, Heidelberg 2008, S. 148–152. 5  Die ›Klage‹ ist in 14 Handschriften überliefert, alle vollständigen tradieren auch das ›Nibelungenlied‹, sodass auch für diejenigen Fragmente, bei welchen dies nicht mehr sicher nachweisbar ist, eine Überlieferungsgemeinschaft anzunehmen ist. Umgekehrt enthalten beinah alle Handschriften des ›Nibelungenliedes‹ auch den Text der ›Klage‹ (vgl. Joachim Bumke, Die vier Fassungen der Nibelungenklage. Untersuchungen zur Überlieferungsgeschichte und Textkritik der höfischen Epik im 13. Jahrhundert, Berlin, New York 1996, S. 137–211). 6   Vgl. z. B. Müller (Anm. 3), S. 169 oder Nikolaus Henkel, Nibelungenlied und Klage. Überlegungen zum Nibelungenverständnis um 1200, in: Nigel F. Palmer u. Hans-Jochen Schiewer (Hgg.), Mittelalterliche Literatur und Kunst im Spannungsfeld von Hof und Kloster, Tübingen 1999, S. 73–98, neu abgedruckt in: Fasbender (Anm. 3), S. 210–237, hier S. 210–217. Dennoch hat ein Großteil der Germanistik sich ausschließlich für das ›Nibelungenlied‹ interessiert, während die ›Klage‹ lange Zeit eher vernachlässigt wurde (vgl. Monika Deck, Die Nibelungenklage in der Forschung. Bericht und Kritik, Frankfurt a. M., u. a. 1996, S. 9f.). 7   Überblicke finden sich in Deck (Anm. 6) u. Bumke (Anm. 5). 8   Hervorzuheben ist hier sicherlich die 2008 publizierte Dissertation von Cordula Kropik (Anm. 4). 9   Müller (Anm. 3), S. 171. 10  Jan-Dirk Müller, Die Klage – Die Irritation durch das Epos, in: Gerold Bönnen u. Volker Gallé (Hgg.), Der Mord und die Klage. Das Nibelungenlied und die Kulturen der Gewalt, Worms 2007, S. 169.

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lied‹ moralisch aufgewertet und rehabilitiert,11 zum Werkzeug Gottes12 oder trotz Abwertung entschuldigt.13 Der Burgundenuntergang wird meist monokausal auf deren und v. a. Hagens übermuot zurückgeführt. Im ›Nibelungenlied‹ sei dieser Begriff ambivalent und charakterisiere Handlungen, die gegen ethische Normen und Regeln verstoßen, bezeichne aber auch das überschäumende Selbstgefühl des Heros, der auf seine Kraft vertraut und in deren Vollbesitz sich nicht um ängstliche Rücksichten zu scheren braucht; der damit manchmal scheitert, aber noch im Scheitern seine Außerordentlichkeit beweist.14

Die ›Klage‹ hingegen kenne diese Ambivalenz nicht und gebrauche übermuot nur negativ konnotiert und im Sinne von superbia,15 die in zahlreichen theologischen Schriften eine der schwersten Sünden darstellt.16 Vor diesem Hintergrund wurden bei allen Hauptakteuren des ›Nibelungenliedes‹ zahlreiche Sünden identifiziert. Marianne Sammer möchte das ›Nibelungenlied‹ zusammen mit der ›Klage‹ deshalb sogar als klerikales, anti-höfisches Werk verstanden wissen: Bei denjenigen Taten, die freudig und >>hochgemout