Gott und Raum - Theologie der Weltgegenwart Gottes 9783666564000, 9783525564004, 9783647564005


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Gott und Raum - Theologie der Weltgegenwart Gottes
 9783666564000, 9783525564004, 9783647564005

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© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-56400-4 — ISBN E-Book: 978-3-647-56400-5

Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie Herausgegeben von Christine Axt-Piscalar und Gunther Wenz

Band 127

Vandenhoeck & Ruprecht

© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-56400-4 — ISBN E-Book: 978-3-647-56400-5

Ulrich Beuttler

Gott und Raum – Theologie der Weltgegenwart Gottes

Vandenhoeck & Ruprecht

© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-56400-4 — ISBN E-Book: 978-3-647-56400-5

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN der gedruckten Ausgabe: 978-3-525-56400-4 ISBN der elektronischen Ausgabe: 978-3-647-56400-5

© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen/ Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Oakville, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne vorherige schriftliche Einwilligung des Verlages öffentlich zugänglich gemacht werden. Dies gilt auch bei einer entsprechenden Nutzung für Lehr- und Unterrichtszwecke. Printed in Germany. Druck und Bindung: Ñ Hubert & Co, Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

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Vorwort Vorwort

Vorwort Das Thema „Gott und Raum“ ist so unerschöpflich und unauslotbar wie „Gott“ und „Raum“ für sich. Vorliegende Arbeit, die im Wintersemester 2008 vom Fachbereich Theologie der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg als Habilitationsschrift für das Fach Systematische Theologie angenommen wurde, bearbeitet die historisch wie systematisch vielschichtige Frage, wie die Gegenwart Gottes im Raum in der philosophisch-theologischen Tradition gedacht wurde und wie sie unter heutigen Begriffen von Raum gedacht werden kann. Hierfür musste methodisch und materialiter etliches Neuland beschritten werden und eine Vielzahl von Konzepten aufgearbeitet werden, die in der theologischen Diskussion bisher kaum gewürdigt wurden. Die kritische und konstruktive Rezeption der verschiedenen, untereinander weit divergierenden metaphysischen, phänomenologischen und naturphilosophischen Raumtheorien erfordert einigen theoretischen Aufwand. Dieser dient jedoch dazu, die scheinbar einfache, für die praktische Frömmigkeit gleichwohl höchst relevante Frage zu bearbeiten, wie man die Überzeugung des gläubigen Menschen, dass Gott „da“ ist – in Raum und Räumen dieser Welt –, auch raumtheoretisch rechtfertigen kann. Die Gliederung der Arbeit in zweimal acht Kapitel von je sechs Abschnitten mag ein Hinweis darauf sein, dass das Verhältnis des weltlichen Raums („irdische Zahl vier“) zum trinitarischen Gott („Zahl drei“) auch verdoppelt und miteinander multipliziert nicht abschließend verstanden ist. Einen ersten Überblick über die Gedankenführung gibt der Ertrag am Schluss der Arbeit. Dass dieser Neuentwurf einer theologischen Raumtheorie entstehen konnte, bedurfte günstiger Arbeitsbedingungen, für die ich mich herzlich bedanken möchte: Zuallererst bei Prof. Dr. Walter Sparn, von dessen Kenntnis und Verständnis der historischen wie systematischen Zusammenhänge ich als sein Assistent am Institut für Systematische Theologie I in Erlangen über Jahre hinweg profitieren konnte, bei Prof. Dr. Wolfgang Schoberth, der mich als Assistenten übernommen hat und sich ganz selbstverständlich am Habilitationsmentorat beteiligte, ebenso wie Prof. Dr. Harald Seubert, Posen/Nürnberg, als philosophischer Fachvertreter.

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Vorwort

Mein Dank gilt außerdem Prof. Dr. Dr. h.c. Hans Schwarz, Regensburg, und Prof. Dr. Jürgen Hübner, Heidelberg, die bereitwillig externe Gutachten erstellten. Eine besondere Ehre ist die Auszeichnung durch die Universität ErlangenNürnberg mit dem Habilitationspreis 2009. Eine Auszeichnung ist auch, dass die Deutsche Forschungsgemeinschaft die Arbeit für förderungswürdig begutachtet und die Druckkosten übernommen hat. Dass Zeit und Kraft ausreichten, um die Arbeit abzuschließen, verdanke ich zu großem Teil meiner Frau Helga Gauder-Beuttler, der das Buch gewidmet ist. Erlangen, Erntedank 2009

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Ulrich Beuttler

Inhalt Inhalt Inhalt Einleitung: Situationsbeschreibung und Aufgabenstellung . . . . . . . . .

13

1. Der allgegenwärtige Raum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

13

2. Die strittige Gegenwart Gottes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

18

3. Die Relevanz der Frage „Wo ist Gott?“ . . . . . . . . . . . . . . . . . .

22

4. Raumkritische Theologie der Gegenwart Gottes (Tillich) . . . . .

27

5. Allgemeine und besondere Gegenwart Gottes (Barth) . . . . . . .

29

6. Aufbau und Gliederung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

31

I. HISTORISCHER TEIL: GOTTES ALLGEGENWART UND DIE METAPHYSIK DES RAUMES Kapitel 1. Die Lehre der Allgegenwart Gottes . . . . . . . . . . . . . . . . .

35

1.1 Der systematische Ort: Die Eigenschaften Gottes . . . . . . . . . .

35

1.2 Die Allgegenwart als immensitas, adessentia und omnipraesentia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

38

1.3 Das Verhältnis zu Raumtheorie und Kosmologie . . . . . . . . . .

42

1.4 Exkurs: Das geozentrische Weltbild . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

49

1.5 Essentiell-operative Allgegenwart und die Ursachenlehre . . . .

51

1.6 Die Allgegenwart und die Providenz- und Konkurs-Lehre . . .

56

Kapitel 2. Die antiken Raumtheorien und der Ort Gottes . . . . . . . . . .

65

2.1 Raum als passiv-leerer Zwischenraum (Atomisten) . . . . . . . .

65

2.2 Raum als dynamischer Aufnehmer des Werdens (Platon) . . . .

69

2.3 Ort als das unbewegte Umfassende der Körper (Aristoteles) . .

74

2.4 Kritik des aristotelischen Raumbegriffs (Eudemos, Theophrast)

82

2.5 Raum als pneumatisches Spannungs-Kontinuum (Stoa) . . . . .

84

2.6 Dynamisch-kosmischer Raumbegriff (Philoponos, Simplikios)

86

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Inhalt

Kapitel 3. Gottes Allpräsenz im endlichen Raum . . . . . . . . . . . . . . .

91

3.1 Gott als allumfassender Raum (Philo, Rabbinen) . . . . . . . . . .

91

3.2 Die Ausstrahlung des Einen (Plotin, Proklos, Jamblichos) . . .

94

3.3 Die unermessliche Gottesgegenwart (Augustin, Confessiones)

97

3.4 Die überall ganze Präsenz Gottes (Augustin, De praesentia Dei) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 3.5 Unörtliche Ubiquität (Gregor der Große) . . . . . . . . . . . . . . . . 103 3.6 Essentiell-operative Omnipräsenz der prima causa (Th. v. Aquin) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 Kapitel 4. Das göttliche Licht im kosmischen Raum . . . . . . . . . . . . . 109 4.1 Lichtsymbolik und Lichtmetaphysik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 4.2 Gott als überlichter trinitarischer Raum (Dionysius Areopagita) . 111 4.3 Die Ausstrahlung des göttlichen Lichts in den Raum . . . . . . . 114 4.4 Das Licht als erste Form der Körper (Robert Grosseteste) . . . . 116 4.5 Das Licht als kosmogonisches Prinzip: Eine mittelalterliche Urknalltheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 4.6 Das Licht als erste Substanz und Raum (Liber de intelligentiis) . 121 Kapitel 5. Gott als unendliche Sphäre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 5.1 Das Buch der vierundzwanzig Philosophen . . . . . . . . . . . . . . 127 5.2 Die Figur der unendlichen Sphäre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 5.3 Die dynamische Ubiquität der ausstrahlenden Einheit . . . . . . 131 5.4 Die Verschränkung von immanenter und ökonomischer Trinität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 5.5 Verdichtung zur trinitarischen Seinspräsenz (Eckart, Seuse) . . . . 135 5.6 Reduktion zur ortlosen Sphäre (Alanus de Insulis) . . . . . . . . . 138 Kapitel 6. Der unermessliche Raum als Ausfaltung Gottes . . . . . . . . . 140 6.1 Mathematisch symbolisierte Transzendenz Gottes (Cusanus) . 140 6.2 Kosmologische Ausfaltung der Immanenz Gottes . . . . . . . . . 146 6.3 Die Einheit des Kosmos in der paradoxen Ubiquität Gottes . . . 152 6.4 Der Prophet des Unendlichen (Bruno) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 6.5 Metaphysik und Kosmologie der Unendlichkeit . . . . . . . . . . . 156 6.6 Übersteigerte Immanenz und Transzendenz Gottes . . . . . . . . 159

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Inhalt

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Kapitel 7. Gottes soteriologische Ubiquität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 7.1 Allwirksame und wesentliche Allgegenwart (Luther) . . . . . . . 165 7.2 Das Verhältnis zur metaphysischen Ubiquität . . . . . . . . . . . . 170 7.3 Die Ubiquität Christi und die kosmologischen Konsequenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 7.4 Soteriologische Ubiquität und Realpräsenz Christi (Brenz) . . . 179 7.5 Kosmologische Implikationen von Brenz’ Spätchristologie . . . 182 7.6 Eschatologisch orientierte Ubiquität und Himmelsverständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 Kapitel 8. Der Raum als Repräsentation Gottes . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 8.1 Der Kampf um den Raum in der Metaphysik der Neuzeit . . . . 192 8.2 Exkurs: Die Raumtheorien der frühen Neuzeit (14.–17. Jh.) . . 194 8.3 Der Raum als ubiquitäre Substanz (More vs. Descartes)? . . . . 1. Der Raum als körperliche Ausdehnung (Descartes) . . . . . . 2. Der Raum als immaterielle Substanz (More) . . . . . . . . . . . 3. Der Briefwechsel: Streit um die Ubiquität Gottes . . . . . . . . 4. Der Raum als göttliche Ausdehnung . . . . . . . . . . . . . . . . .

203 203 206 210 214

8.4 Newtons absoluter Raum und der voluntative Gottesbegriff . . 218 8.5 Der Raum als „Sensorium“ Gottes (Clarke vs. Leibniz)? . . . . 225 8.6 Raphsons Vergöttlichung des Raumes . . . . . . . . . . . . . . . . . 228

II. SYSTEMATISCHER TEIL: DER WELTLICHE RAUM UND DIE GEGENWART GOTTES Kapitel 1. Raumlosigkeit vs. Raumbezogenheit Gottes . . . . . . . . . . . 234 1.1 Der Raum als göttliches „Phänomen“ bzw. als „Form“ (Kant) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 1.2 Die raumlose Allgegenwart Gottes (Schleiermacher) . . . . . . . 241 1.3 Die Aporie des empirisch/transzendentalen Raumbegriffs . . . . 244 1.4 Die problematische Forderung, Gott raumlos zu denken (Brom) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246 1.5 Die Begründung, Gott raumbezogen zu denken (Dalferth) . . . 249 1.6 Positiver Bezug Gottes auf den Raum (Moltmann, Evers) . . . . 252

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Inhalt

Kapitel 2. Der gelebte Raum und religiöse Dimensionen . . . . . . . . . . 257 2.1 Phänomenologische Methode und Begriff „gelebter Raum“ . . 257 2.2 Der gelebte Raum als Worin des Daseins, sein widerfahrendes Erleben und Gott als Worin und Fundament des Seins . . . . . . 1. Die Räumlichkeit menschlichen Daseins . . . . . . . . . . . . . . 2. Widerfahrnis und präreflexive Präsenz des gelebten Raums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Der gelebte Raum als das Worin menschlichen Daseins . . . 4. Die elementare Orientiertheit des gelebten Raumes . . . . . .

266 269 270

2.3 Der getönte Raum und seine mythisch-polaren Qualitäten 1. Der affektiv gestimmte Raum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. „Lichter“ Tag-Raum und „schwarzer“ Nacht-Raum . . . 3. Die mythisch-religiöse Tag-Nacht-Polarität . . . . . . . . .

. . . .

264 264

. . . .

. . . .

273 273 277 282

2.4 Der leiborientierte Raum und die religiöse Raumorientierung 1. Das Koordinatensystem des Leibes . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Das Einräumen von Raum durch das räumliche Dasein . . . 3. Die Dimensionen des orientierten Raumes . . . . . . . . . . . . 4. Religiöse Raumorientierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Was heißt, sich im Raum, im Leben, „im Denken orientieren?“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . . .

284 284 286 287 289

. 292

2.5 Der Tiefenraum und Gott als Tiefe des Seins . . . . . . . . . . . . . 296 1. Breite und Tiefe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296 2. Religionsphänomenologie der Tiefenerfahrung . . . . . . . . . 300 2.6 Die existentiellen und religiösen Schichten des gelebten Raums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 Kapitel 3. Der gestimmte Raum und die göttlichen Atmosphären . . . . 308 3.1 Räumliche Gotteserfahrung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 308 3.2 Leibhaft-pathische Wahrnehmungslehre . . . . . . . . . . . . . . . . 314 3.3 Ästhetische Theorie der räumlichen Atmosphären . . . . . . . . . 317 3.4 Phänomenologie der göttlichen Atmosphären . . . . . . . . . . . . 326 3.5 Kritische Reflexion: Gott als Person und der Personbegriff . . . 336 3.6 Personale Atmosphären und Gottes personal-atmosphärische Gegenwart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347 Kapitel 4. Der physische Raum und das Wirken Gottes . . . . . . . . . . . 354 4.1 Das Modell der praesentia operosa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 354 4.2 Das Geistwirken als resonantes Feld von Feldern (Welker) . . . 358

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Inhalt

4.3 Der Geist als Vollzug des Gott-Feldes (Dalferth, Moltmann) . 364 4.4 Das Kraftfeld als pneumatisches Wirkfeld Gottes (Pannenberg) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 368 4.5 Offener Weltbegriff und Kontingenz der Naturordnung . . . . . 374 4.6 Zeitstruktur und Gottes Wirken in der Zeit . . . . . . . . . . . . . . 380 Kapitel 5. Das Werden des Raums und Gottes Anfangen . . . . . . . . . . 386 5.1 Weltraum und Weltschöpfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 386 5.2 Die theologische Relevanz der Frage nach dem Weltanfang . . 391 5.3 Der Weltanfang als Schöpfungsakt? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 397 5.4 Anfanglose und ursachlose Welt? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 403 5.5 Die theologische Rede von der Schöpfung als Anfang . . . . . . 410 5.6 Die endliche Welt und ihr unendlicher Grund . . . . . . . . . . . . 417 Kapitel 6. Kosmologischer Raum und kosmischer Sinn . . . . . . . . . . . 423 6.1 Das Verhältnis von gelebtem und kosmischem Raum . . . . . . . 424 6.2 Die mathematische Konstitution des kosmologischen Raums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 426 6.3 Die vorempirischen kosmologischen Prinzipien . . . . . . . . . . . 437 6.4 Die Bedeutung der Lebenswelt für die Kosmologie . . . . . . . . 444 6.5 Kosmischer Sinn? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 452 6.6 Der lebensweltliche Sinn im sinnleeren Kosmos . . . . . . . . . . 463 Kapitel 7. Der Geschöpfliche Raum und die Transparenz der Natur . . 469 7.1 Der mythische Raum und seine symbolische Prägnanz . . . . . . 469 7.2 Hermeneutik und Raumordnung des biblischen Weltbilds . . . 476 7.3 Mechanisierung und Entsinnlichung der Natur . . . . . . . . . . . . 484 1. Dekonstruktion des mechanistischen Paradigmas . . . . . . . . 486 2. Die verlorene Lesbarkeit der Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . 489 7.4 Korresponsive Erkenntnishaltung und Natur als Bedeutung 1. Das Gestaltkreiskonzept von V.v. Weizsäcker . . . . . . . . 2. Der Funktionskreis von J.v. Uexküll . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die semiotische Theorie der Natur als Bedeutung . . . . .

.. .. .. ..

493 493 496 497

7.5 Ästhetik der Natur und religiöse Kosmologie . . . . . . . . . . . . 499 7.6 Die Transparenz der Natur für eine Ästhetik der Schöpfung . . 505

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Inhalt

Kapitel 8. Welt-Raum und Raum-Gegenwart Gottes . . . . . . . . . . . . . 512 8.1 Der Welt-Raum und der immanent-transzendente Gott . . . . 8.2 Gott als Grund und Horizont des offenen Raums . . . . . . . . 8.3 Gott als Raum der Welt? Die Welt als Raum der Selbstentgrenzung Gottes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.4 Trinitarische Selbstvermittlung und Weltgegenwart Gottes . 8.5 Phänomenal-relationale Ontologie der geteilten Innenräume 8.6 Die zugesagten Gottes-Räume: Haus, Himmel, Gottesdienstraum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Das Haus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der Himmel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Der Gottesdienstraum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. . 512 . . 521 . . 530 . . 537 . . 544 . . . .

. . . .

551 551 555 559

Ertrag: Gottes Gegenwart in den Räumen der Welt . . . . . . . . . . . . . . 564 1. Von der Allgegenwart Gottes zur Metaphysik des Raumes 2. Die systematische Aufgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Der gelebte und gestimmte Raum . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Der physisch-kosmische Raum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Der geschöpfliche und der konkrete Raum . . . . . . . . . . . 6. Methodischer Rück- und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . . . .

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. . . . . .

. . . . . .

564 566 567 568 569 570

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 573 1. Quellen (bis 1900) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 573 2. Forschungsliteratur (ab 1900) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 585 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 621

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Einleitung: Situationsbeschreibung und Aufgabenstellung

Um die Aufgabenstellung und Vorgehensweise für diese Arbeit entwickeln zu können, beginnen wir mit einer Beschreibung der mehrschichtigen Situation, in der das Thema „Gott und Raum“ gegenwärtig virulent ist. Das Thema hat einen kulturwissenschaftlichen (1.), einen religiösen (2.), einen kosmologischen (3.) und einen theologiegeschichtlichen Ort (4f.). Jede dieser Lozierungen hat einen historischen und einen systematisch-theologischen Aspekt, woraus sich der Aufbau der Arbeit ergibt (6.).

1. Der allgegenwärtige Raum Der Raum ist allgegenwärtig. Die menschliche Existenz ebenso wie die der Dinge und Ereignisse vollziehen sich im Raum. Alles Leben benötigt Raum; Bewegung und Veränderung, selbst Stillstand: bloßes Existieren erfordert Raum. Alles Sein ist räumlich. Ohne Raum kein Sein, kein Fürsich-Sein, kein Mit-Sein, kein Zusammensein. Ohne Raum kein Sein-Für, kein Ausdruck, keine Darstellung, keine Bedeutung. Alle Bereiche und Vorgänge des öffentlichen und des privaten Lebens, nicht nur die mediale Präsentation, erfordern Raum. Sogar die Gedankenbewegung und innere Vorstellungen vollziehen sich räumlich, denn „wir denken fast immer räumlich“1. Auch Sprache und Begriffsbildung rekurrieren auf Räumliches und metaphorisieren räumliche Relationen. Alles, was ist, steht im Verhältnis zu anderem und kann nur in räumlich bestimmten Verhältnissen benannt und begriffen werden. Alles, was ist, ist räumlich, und nur Räumliches kann wahrgenommen und verstanden werden, weil man nur verstehen kann, was man auf anderes beziehen kann, und weil man nur wahrnehmen kann, was im Gesichtsfeld liegt. Was sich dem Blick – dem äußeren oder dem inneren – entzieht, was nicht im Horizont der Wahrnehmung existiert, das existiert nicht für uns. Wenn einst galt: „Sein, das verstanden werden kann, ist ————— 1 „Wir drücken uns notwendig durch Worte aus, und wir denken fast immer räumlich. Mit anderen Worten, die Sprache zwingt uns, unter unsern Vorstellungen dieselben scharfen und genauen Unterscheidungen, dieselbe Diskontinuität herzustellen wie zwischen den materiellen Gegenständen“ (H. Bergson, Zeit und Freiheit, 7).

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Gott und Raum

Sprache“2, so gilt heute: Sein, das verstanden werden kann, ist Sein, das beobachtet werden kann,3 und das ist räumlich. Nach dem „linguistic turn“ folgt konsequent der „spatial turn“4. Nachdem Natur- und Geowissenschaften von der frühen Neuzeit an den Raum entdeckten und nachdem die Philosophie des 20. Jh., sofern sie anthropologisch, phänomenologisch und hermeneutisch orientiert war, schon „Sein und Raum“ zum Thema hatte,5 erfasst der Raum nun auch Soziologie, Kultur- und Gesellschaftswissenschaften.6 Dass der Raum zum Paradigma zunächst der gegenständlichen Wissenschaften, dann auch der Erkenntnistheorie und sogar der Ontologie und Hermeneutik wurde, ist eine Entdeckung des neuzeitlichen Geistes, die mit seinem veränderten Bewusstsein, seiner Lebensweise und Kulturtätigkeit zusammenhängt. Die Antike kannte den Ort und den umfassenden Zusammenhang: die Kugel. Beide repräsentierten die zwei möglichen Geisteshaltungen, das Verhältnis von Allgemeinem und Besonderem zu bestimmen, die platonische und die aristotelische: die eine dachte das Besondere vom Umfassend-Allgemeinen her, die andere sah das Allgemeine im Besonderen präsentiert. Die Neuzeit entdeckte das Einzelne im Zusammenhang zu anderem und sah in diesem Zusammenhang, der Struktur, das Allgemeine repräsentiert. Für die Neuzeit rückt das spatium, der Raum, gegenüber dem Ort in den Vordergrund, und das offene, unendliche Universum ersetzt den geschlossenen Kosmos. Mit der räumlichen Revolution war eine geistige und kulturelle verbunden. Nicht nur die kantsche „Revolution der Denkart“7 versteht sich gleich der kopernikanisch-brunoischen, auch die Eroberung des Raumes selbst bedeutet eine geistesgeschichtliche Umwälzung. Raum ————— 2 Zu diesem Grundsatz H.-G. Gadamers vgl. R. Bubner u.a., „Sein, das verstanden werden kann, ist Sprache“. Hommage an Hans-Georg Gadamer. 3 Vgl. P. Fuchs, Der Sinn der Beobachtung, der als „Minimalontologie der Systemtheorie“ die Beobachtung versteht, dass „BEOBACHTUNG“ und „SYTEM“ ko-extensiv sind: „Observatum est, ergo: Es gibt Systeme“. Anders gesagt: „Die Welt, wie sie für Sinnsysteme vorkommt, ist beobachtete Welt“ (11–13). 4 Grundlegend zu dieser Wende vgl. D. Bachmann-Medick, Spatial Turn; K. Schlögel, Kartenlesen, Augenarbeit. Über die Fälligkeit des spatial turn in den Geschichts- und Kulturwissenschaften; J. Döring/T. Thielmann, Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften; B. Warf, The Spatial Turn: Interdisciplinary Perspectives. 5 P. Sloterdijk hält Heideggers „Sein und Zeit“ mit gewissem Recht zu wesentlichem Aspekt für „Sein und Raum“ und sein eigenes Sphären-Projekt für eine Aufdeckung und Fortsetzung desselben (Sphären, Bd. I, Blasen, 345), hierzu und zur Raumphänomenologie s.u. II.2.; II.8.5. 6 Als exemplarische Entwürfe und Texte vgl. M. Löw, Raumsoziologie; K. Schlögel, Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik; M. Schroer, Räume, Orte, Grenzen. Auf dem Weg zu einer Soziologie des Raums; J. Dünne/S. Günzel (Hg.), Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften; T. Schindl, Räume des Medialen: Zum spatial turn in Kulturwissenschaften und Medientheorien. 7 I. Kant, Kritik der reinen Vernunft (=KrV), B XI.

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Einleitung

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ist für den neuzeitlichen Menschen freier Bewegungsraum des Körpers und des Geistes, erweiterbares Territorium und ad infinitum reichender Möglichkeitsraum. Spatium wird immer weniger als begrenzter Zwischen-Raum und immer mehr als territorialer Frei-Raum, als „gegebene stätte für eine ausbreitung oder ausdehnung“8 verstanden. Der mittelalterliche, geschlossene Kosmos und ordo des Seins9 – oft gebraucht ist die Metapher vom bergenden „Welthaus“10 – wird nun als einengend empfunden. Leitender Impuls für die Neuzeit ist die curiositas,11 die mehr als nur praktische Wissensbegierde ist, sondern ein Erkenntnisdrang, eine „rücksichtslose Neugierde“ (Nietzsche)12, unabhängig von jeder Autorität, allein durch Leitung des eigenen, autonomen Verstandes, über das bisher Gegebene hinauszudringen. Was dem antiken Menschen als Frevel gegen die Götter erschien, unternimmt der neuzeitliche: wie „Odysseus über die Säulen des Herkules – das heißt die Meerenge von Gibraltar – hinaus ins offene Meer zu fahren“13. Die Neuzeit entdeckt neue Räume – geographisch, kosmisch und geistig – nimmt sie in Besitz, dehnt sie bis ins Äußerste aus: Der Erweiterung des Kosmos um den außerkosmischen Raum (Bradwardine, Oresme) und der Unendlichwerdung des einen, kosmischen Raums (Cusanus, Bruno)14 korrespondiert die „achte Kunst“: die Zentralperspektive, welche mittels Geometrie die „Messung des Unendlichen auf objektiv-mathematischer Grundlage“15 erlaubt. ars wird zur scientia und die geometrische Methode, der mos geometricus, zur Universalmethode der Wissenschaft. Die Geometrisierung und Rationalisierung des Raumes16 ist Grundlage für die Geometrisierung der Kunst und Architektur, ebenso wie der Astronomie, der Physik, der Mechanik, der Technik, der Landvermessung und der Seefahrt. Man erobert neue Kontinente mit denselben Methoden, mit denen man die Welt im Kopf rekonstruiert und neue Welten konstruiert. Die Verräumlichung der Welt durch Inbesitznahme ist eine Einebnung des den Menschen einschließenden, aber auch umgreifenden und übersteigenden Kugel-Kosmos zur von ihm überschaubaren und beherrschbaren Fläche. Der Raum ist nicht mehr allumfas————— 8 Art. Raum, in: J. u. W. Grimm, Deutsches Wörterbuch, Bd. 14, 275–283, 276. 9 Zusammenfassend vgl. N.M. Wildiers, Weltbild und Theologie, bes. 102ff. 10 R. Guardini, Das Ende der Neuzeit, 28; M. Buber, Das Problem des Menschen, 33; H. Gollwitzer, Krummes Holz – aufrechter Gang, 92. 11 Vgl. H. Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit, 261ff: Der Prozess der theoretischen Neugierde. 12 F. Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, §188, in: Werke in drei Bd., Bd. 2, 646. 13 Guardini, Das Ende der Neuzeit, 34; vgl. H. Blumenberg, Schiffbruch mit Zuschauer, 13, zur Seefahrt als „frivoles, wenn nicht blasphemisches“ Unternehmen. 14 Ausführlich vgl. unten I.6.; I.8.2. 15 H.-B. Gerl, Einführung in die Philosophie der Renaissance, 133. 16 Vgl. H. Heimsoeth, Der Kampf um den Raum in der Metaphysik der Neuzeit, sowie unten Kap. I.8.1; II.6.2.

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Gott und Raum

sendes Ganzes, sondern euklidisch ebener Anschauungs- und Ausdehnungsraum mit drei Richtungen. Die Verräumlichung der Welt, die sich in der Vorherrschaft räumlicher Wissenschaft und Technik, der Natur- und Ingenieurwissenschaften ebenso wie der ökonomischen und Sozialwissenschaften widerspiegelt, bewirkt konsequent den spatial turn: das leitende Paradigma, alles, was ist und sein kann, zu erfassen und zu konstruieren, ist der Raum, genauer der offene, geometrisch und ökonomisch beherrschte Raum. Zuletzt, in der Spät- und Postmoderne führt die Verräumlichung zur Globalisierung, zum Zusammenschluss national und ökonomisch getrennter Gebiete zum einen, geographisch und politisch zunehmend grenzenlosen Wirtschaftsraum. Unverzichtbares Hilfsmittel, geradezu Ermöglichungsraum hierfür, ist die Erfindung des virtuellen, für jedermann von jedem Ort instantan erreichbaren Cyberspace.17 Der relevante Kosmos mutiert wieder zur flachen Welt,18 die rasend stillsteht.19 Der moderne „Atlas“ enthält vor allem globale, virtuelle und vernetzte Räume.20 Der moderne Raum, das offene, flache, nur virtuell geschlossene System von Relationen beherrscht das Leben. Raum in diesem Sinn ist ein dynamischer Prozess der relationalen Anordnung, Umordnung und Neuanordnung von Dingen, Gütern und Menschen an Orten.21 Der Raum ist nicht mehr das receptaculum aller Dinge, der alles bewahrt und in starken, stabilen Ordnungen zusammenhält. Die globalen und die virtuellen Raumordnungen sind flüchtig, derart flüchtig, dass sich zwischen ihnen eine neue Art von Räumen herausbildet: NichtOrte. Nicht-Orte sind leere Räume, an denen man nicht verweilen, nicht zu Hause sein kann, die man aber notgedrungen einnehmen muss, um leeren Zwischenraum zu überbrücken, Autobahnen z.B., S-Bahnen, Flughäfen oder anonyme Hotelzimmer. Leer sind diese (zumeist überfüllten) Räume, weil sie „ohne Sinn und Bedeutung sind. […] Sie erscheinen leer, weil sie keine Bedeutung tragen, weil man sich nicht vorstellen kann, dass sie jemals bedeutungsvoll sein könnten.“22 Die Räume der Globalisierung sind leere Räume, einerseits, weil sie nichts mehr enthalten als die nackten Fakten, und andererseits, weil ihre leere Ausdehnung eine Ausdehnung von nichts ist. Die Globalisierung lässt die Entfernungsräume auf Leerräume ————— 17 Zu den „Global-Cities“, den transnationalen und virtuellen Räumen vgl. Schroer, Räume, Orte, Grenzen, 208–214; 252ff; Löw, Raumsoziologie, 92–108. 18 Als Analyse der konkreten Realität der globalisierten Flach-Welt vgl. T. Friedman, Die Welt ist flach. Eine kurze Geschichte des 21. Jahrhunderts. 19 Vgl. P. Virilio, Rasender Stillstand. 20 Vgl. M. Serres, Atlas. 21 Vgl. die soziologische Raumdefinition von M. Löw, Raumsoziologie, 160ff; 224ff: „Raum ist eine relationale (An)Ordnung sozialer Güter und Menschen (Lebewesen) an Orten.“ 22 Z. Baumann, Flüchtige Moderne, 123.

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und die Distanzen auf Null schwinden, so dass man schon von der „RaumZeit-Kompression“, von der „Schrumpfung des Raumes“, sogar vom „Ende des Raums“ und der „atopischen Gesellschaft“ gesprochen hat.23 Die Allgegenwart des Raumes ist eine leere Gegenwart, eine Allleerheit. Man verliert sich in ihr, wird heimatlos oder geht der Realität und Bodenhaftung verlustig. Weder die flache, globalisierte Welt noch der unendliche, leere Kosmos können mehr umfassende Orientierung und Weltbeheimatung bieten. Wie schon die Unendlichwerdung des Universums ist auch die Verflachung und Beschleunigung der globalen Räume ambivalent. Bereits der barocke „Rausch der Weite“24 führte einen Schatten mit sich: die Angst vor den unendlichen Räumen, die Pascal schaudern machte. Die Zerschlagung des Welthauses hat auch einen „Schock“ ausgelöst, einen „kosmischen Nihilismus“25 und „transzendentale Obdachlosigkeit“26. „Der Himmel hatte länger keine Schranke, die Unendlichkeit tat sich drohend auf, und Pascal rief, ergriffen von kosmischer Platzangst, ein Jahrhundert später aus: ‚Le silence éternel de ces espaces infinis m’effraie.‘ […] Der homo sapiens hatte in einem Universum gewohnt, das die Gottheit wie ein Mutterschoß umschloss; aus diesem Schoß wurde er nun hinausgetrieben.“27 Und das offene Meer, das unendlich „offne Meer“, das nun, nach dem Tod Gottes, „wieder offen da“ liegt und Nietzsche und die „freien Geister“ endlich frei auslaufen lässt,28 ist ebenso ambivalent. Einmal liegt der Ozean ruhig da, „wie Seide und Gold und Träumerei der Güte. Aber es kommen Stunden, wo du erkennen wirst, dass er unendlich ist und dass es nichts Furchtbareres gibt als Unendlichkeit.“29 Ist nach dem Verlust des allgegenwärtigen Gottes überhaupt noch kosmische Orientierung möglich? Ohne absolutes Oben und Unten scheint alles richtungs- und orientierungslos. „Wohin ist Gott? […] Wohin bewegen wir uns? Fort von allen Sonnen? Stürzen wir nicht forwährend? Und rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach allen Seiten? Gibt es noch ein Oben und ein Unten? Irren wir nicht wie durch ein unendliches Nichts? Haucht uns nicht der leere Raum an?“30

————— 23 Schroer, Räume, Orte, Grenzen, 161f. 24 O.F. Bollnow, Mensch und Raum, 84. 25 W. Philipp, Das Zeitalter der Aufklärung, XXXVf; Philipps These vom These vom „kopernikanisch-brunoischen Schock“ (ebd., XXVII; 2) ist für das 16.–18. Jh. nicht gestützt (vgl. U. Krolzik, Säkularisierung der Natur. Providentia-Dei-Lehre und Naturverständnis der Frühaufklärung, 135f u.ö). Das Schaudern Pascals vor dem „Schweigen dieser unendlichen Räume“ (Pensées/Gedanken, Fr. 206, 37; vgl. Fr. 72. 205, 29) ist gegenüber dem Gefühl der Weite die Ausnahme, und der Pessimismus von Barock und Romantik ist begleitet von Weltvergottung und Unendlichkeitssehnsucht. Die „Weltangst“ (Spengler) wird aber im fin de siècle bestimmend, vgl. Körtner, Weltangst und Weltende, 88–95. 26 J. Moltmann, Wissenschaft und Weisheit. Zum Gespräche zwischen Naturwissenschaft und Theologie, 145. 27 A. Koestler, Die Nachtwandler. Die Entstehungsgeschichte unserer Welterkenntnis, 217.219. 28 F. Nietzsche, Die Fröhliche Wissenschaft, §343, Werke in drei Bd., Bd. 2, 206. 29 Ebd., §124, 126. 30 Ebd., §125, 127.

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Die leere Allgegenwart des Raumes erinnert wie der orientierungslose Raum aber noch im Verlust an die Allgegenwart, deren Träger er einmal war: der Allgegenwart Gottes als allumfassender Präsenz von Ordnung, Sinn und Ziel geschöpflichen Lebens. Die auf Lichtgeschwindigkeit beschleunigten virtuellen Räume und Leerorte, an denen man nicht mehr zu Hause ist, lassen die Sehnsucht nach Beheimatung wachsen, einer Sehnsucht, die einmal der runde Kosmos befrieden konnte. Die Allgegenwart des Raumes ist, psychoanalytisch betrachtet, eine säkularisierte Allgegenwart, die nun konträr, als Antithese und Verlustkompensation alternativ und nicht mehr parallel zur Gegenwart Gottes steht. Wenn der Raum heute auch nicht mehr die großen Sinnordnungen und Orientierungen zu tragen vermag, so sind doch auch die kleinen Sinnentwürfe auf orientierten Raum angewiesen. Nach wie vor muss sich der Mensch orientieren in der Welt, muss seine Sinnentwürfe beziehen auf gelebtes Leben und Ordnungen einzeichnen in die Räume seiner Lebenswelt. Auch der mobile Pendler der neuen Welt ist auf lokale Orte der alten Welt angewiesen, an denen er „Da sein“31 hat. Ohne Haus und Heimat, ohne Lebensfundament und Basisstation kann auch der global player nicht überleben. Nach wie vor ist der Mensch auf sinnhafte Raumstrukturen und Orientierungen angewiesen. Und nach wie vor leistet dem religiösen, dem gläubigen Menschen der Raum genau dies: Struktur zu geben, Sinn zu tragen und auf transzendente Sinn-Ordnung zu verweisen. Es ist vielleicht nicht mehr der kosmische Raum, es sind eher die kleinräumigen gelebten und gestimmten Räume, in denen Sinn, auch religiöser Sinn aufgesucht werden kann. Da diese aber immer auch im Horizont der mesokosmischen Räume, sogar des kosmologischen Weltraums stehen, hat eine Theologie des Raumes mindestens zwei Aufgaben: die vormalige Sinnordnung des kosmischen Raumes und der in ihn eingezeichneten Allgegenwart Gottes zu rekonstruieren, und Transformationen und Umdeutungen dieser Ordnung in den gelebten Räumen aufzuschließen. Erfahrungen der Gegenwart Gottes werden am Ort des eigenen Lebens gemacht und sind daher immer räumlich vermittelt. Es gibt keinen religiösen Sinn am leibhaften und räumlich gelebten und orientierten Leben vorbei.

2. Die strittige Gegenwart Gottes Es ist eine Grundüberzeugung des glaubenden Menschen, dass Gott da ist, hier und jetzt, in den Räumen und Beziehungen meiner Welt, die auch Räume für andere sind. Gott ist da, meint: er ist für mich da, und zwar so, dass sein Dasein Gültigkeit hat, dass er wirklich da ist. Die Wahrheit des ————— 31

Serres, Atlas, 37ff.

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Glaubens an die Gegenwart Gottes im eigenen Leben „hängt nicht daran, dass sie geglaubt wird, sondern dass die Wirklichkeit so ist, wie geglaubt wird. Wenn aber wahr ist, dass Gott so gegenwärtig ist, wie der Glaube bekennt […], dann gilt das universal, überall und immer unbeschadet dessen, was wir davon halten oder wie wir uns dazu verhalten.“32 Der christliche Glaube lebt aus der Gegenwart Gottes, die sich in Christus als erbarmende Liebe erschlossen hat, und die sich im Wirken des Geistes immer wieder erschließt. Ja, der Glaube selbst versteht sich als der Gegenwart Gottes verdankt, die sich ihm dadurch, dass sein Glaube für ihn jetzt und hier wahr ist, als wirksam erweist. Die Erfahrung „Gott ist da“ und die darin implizierte Wahrheit und Wirklichkeit der Gegenwart Gottes am Ort des eigenen Lebens, ist mit dem christlichen Glauben und seinen Erfahrungen grundlegend verbunden.33 Das Erschlossensein Gottes, „Gott-in-seinerOffenbarung ist […] räumlich; er erschließt sich in der konkreten Begegnung an einem bestimmten Ort (und zu einer bestimmten Zeit).“34 Man wird aber nicht mehr einfachhin die Allgegenwart Gottes apriorisch behaupten und aus einer Theorie des Raumes metaphysisch begründen können. Zu stark sind im religiösen und kulturellen Bewusstsein der Moderne auch die Erfahrungen der Abwesenheit Gottes gespeichert. Und auch für den christlichen Glauben und sein Selbstverständnis gilt, dass es „keine Gotteserkenntnis ohne die Wahrnehmung der spezifischen Verborgenheit Gottes gibt: Die Gegenwart Gottes kann nur unter Berücksichtigung seiner Verborgenheit wahrgenommen werden, und die Verborgenheit Gottes nur unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Gegenwart und Verborgenheit Gottes in Kreuz und Auferweckung Jesu Christi und in der Welt.“35 Es gibt über den Raum hinweg auch Orte, an denen Gott nicht oder nicht mehr aufgefunden wird, sozusagen „gottlose Arreale, Gottes‚löcher‘, Gottesleere, Gottes schmerzhafte Abwesenheit, […] ‚Gottesfinsternis‘ (M. Buber), Höllenorte. Man könnte sogar formulieren: Die Frage, wo Gott wohnt, ist so dringend, weil Gott an vielen Orten nicht/nicht mehr/noch nicht gegenwärtig ist.“36 Es gibt verschiedene Dichten der Anwesenheit Gottes und unterschiedliche Orte seiner Erfahrung. Nicht überall und zu jeder Zeit wird Gott in höchstem Maße dicht erfahren, oft bleibt seine Gegenwart mehr im Hintergrund oder unbestimmt. Aber doch ist die Erfahrung „Gott ist da“ fundamental mit dem Christsein verbunden und im Hintergrund solcher Erfah————— 32 I. Dalferth, Gedeutete Gegenwart, 277. 33 Vgl. I. Dalferth, Becoming Present. An Inquiry into the Christian Sense of the Presence of God, 28–31. 34 O. Weber, Grundlagen der Dogmatik I, 496. 35 Dalferth, Gedeutete Gegenwart, 276. 36 G.M. Martin, Lebensräume – Gottesräume, 23.25.

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rung meldet sich die Allgegenwartsvorstellung, dass Gott jedenfalls an jedem Ort potentiell gegenwärtig sein kann. Selbst die Mystiker, für die Gottes Allgegenwart das „Natürlichste“ ihres Glaubens war, verlangen die Einübung und Bewusstmachung der Gegenwart Gottes. Für G. Tersteegen besteht die „Einübung der liebreichen Gegenwart Gottes“ darin, „dass wir einfältig und andächtig glauben, dass Gott überall und auch in unserm Herzen gegenwärtig sei“37, und für F. v. Sales beginnt jedes Gebet damit, sich „in Gottes Gegenwart zu versetzen“. Dies meint „das lebendige und aufmerksame Erfassen der Allgegenwart Gottes. Gott ist ja in allem und überall, es gibt keinen Ort und kein Ding, wo er nicht wirklich gegenwärtig wäre. […] obwohl uns der Glaube dessen versichert, vergessen wir auf [sic!] seine Gegenwart oft und benehmen uns, als wäre Gott weit entfernt von uns […]“38

Eine allgemeine, vom realen Vollzug des Christseins unabhängige und vorgängige Allgegenwartsbehauptung kann man nicht mehr begründet aufstellen. Weder die Welt, noch der Kosmos, noch die Natur oder die Menschenwelt sprechen mehr offensichtlich, wenn sie es je getan haben, von Gottes Gegenwart, geschweige denn von seiner Allgegenwart. Höchstens soteriologisch und christologisch und unter Berücksichtigung der eschatologischen Zeitdifferenz zwischen alter und neuer Schöpfung kann man eine Ubiquität Gottes begründen.39 Die Allgegenwart Gottes „gibt es“ nur als Verheißung, als Zusage der letztgültigen und nicht mehr strittigen Gegenwart Gottes als der Liebe, die sich in Christus für die Welt gezeigt hat und im Geist unter den Geschöpfen gegenwärtig ist. Nur als österlich-eschatologische Verheißung kann man sagen, „dass es in der Welt keinen von Gott verlassenen Ort gibt, sondern dass jeder Ort dazu bestimmt ist, zur Wohnung der Liebe zu werden.“40 Die trinitarische Wirklichkeit Gottes verbietet es, die Allgegenwart außerchristologisch zu denken, bevor man von der Gegenwart Gottes als Dasein für uns in seiner Offenbarung gesprochen hat. Es ist nicht so, dass Gott in seiner Offenbarung nur besonders „konzentriert“ und „zugewandt“ da ist, aber „eigentlich“ überall allgegenwärtig ist. „Geht man von Gott-imallgemeinen aus, so ist es nicht mehr möglich, Gottes Gegenwart in seiner Offenbarung noch völlig ernst zu nehmen. […] Wir können, wenn wir von Gottes Allgegenwart sprechen wollen, nur von seiner Gegenwart ausgehen.“41 Seine Allgegenwart ist die Verheißung, die unter der Erfahrung von Gottes Gegenwart erhofft, geglaubt und entdeckt werden kann. Nur unter ————— 37 G. Tersteegen, Weg der Wahrheit, 399f, zit. nach: Ders., Ich bete an die Macht der Liebe. Eine Auswahl aus seinen Werken, 113. 38 F.v. Sales, Philothea. Einführung in das Leben aus christlichem Glauben, 68.70. 39 Vgl. unten das Kap. I.7.3./6. zu Luther und Brenz. 40 W. Härle, Dogmatik, 265. 41 O. Weber, Grundlagen der Dogmatik I, 495.

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den wirksamen Zeichen von Wort und Sakrament und unter den realen Erfahrungen der Gegenwart Gottes im Glauben hat die „Zusage der Gegenwart Gottes in, mit und unter diesen Zeichen […] den Charakter einer zuverlässigen Verheißung. Als solche ist sie eine Anleitung dazu, Gottes Allgegenwart in der Welt zu entdecken und wahrzunehmen.“42 Die Glaubenserfahrung, zu der auch die Abwesenheit Gottes an bestimmten Orten und zu bestimmten Zeiten sowie seine präzise, mit der Anwesenheitserfahrung des Glaubens verbundene (Noch-)Verborgenheit gehört, weiß um Gottes „Multivolipräsenz“, um die potentielle Gegenwart dessen an allen Orten, der an keinen Ort gebunden ist als an den, an den er sich in Freiheit bindet. Die Allgegenwart ist Ausdruck der Selbstzusage Gottes. Sie ist nicht einfach vorhanden. Ihr Sitz im Leben ist zu beachten. Die klassischen dicta probantiae der Allgegenwartsvorstellung sind sogar Gerichtsdrohung (Jer 23,23f), verlangen jedenfalls das vertrauensvolle Verlassen auf Gottes Gegenwart (Ps 139,7–10) und die Bitte um Gottes NichtAbwesenheit (Ps 143,7). Eine metaphysische Begründung von starker und unbezweifelbarer Allgegenwart, die dazu noch mit der Allgegenwart des Raums zusammenfällt, ist nicht mehr möglich. Aber der Raum darf, damit die mögliche Gegenwart Gottes gedacht werden kann, diese nicht ausschließen. Der offenbarte Gott zeigt sich räumlich, er erschließt sich an konkretem Ort in Raum und Zeit. Unsere systematische Aufgabe besteht – nach der historischen Rekonstruktion der metaphysischen Konzeptionen, um zu verstehen, was unter Gottes (All)Gegenwart im Raum einmal gemeint war, und um deren Transformationen und Äquivalente in heutigen Räumen aufspüren zu können (Hauptteil I.) – darin, eine solche Beschreibung des Raumes zu entwickeln, dass die Erfahrung „Gott ist da“ möglich ist (Hauptteil II.). Der Ausgangspunkt ist die religiöse Erfahrung der Gegenwart Gottes, die auf das in ihr implizierte Raumverständnis befragt wird. Welche Struktur haben Räume, in denen Gott als gegenwärtig erfahren wird? Komplementär dazu besteht unsere Aufgabe darin, den Raum, wie er in moderner Theoriebildung konzeptualisiert wird, daraufhin zu befragen, ob und inwiefern in ihm Gott gegenwärtig sein kann. Dabei konzentrieren wir uns auf diejenigen Räume, in denen Gott der christlich-metaphysischen Tradition gemäß als allgegenwärtig vorgestellt gewesen war, den kosmischen und den natürlichen Raum. Dazu kommt, als spezifisch nachmetaphysisch-phänomenologischer Zugang zum theologischen Raumproblem, der gelebte Raum und seine Rolle für die ————— 42 Härle, Dogmatik, 266; zur Problematik der Erfahrung Gottes in der Schöpfung vgl. unten II.7.3–6.

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Gott und Raum

Erfahrungen Gottes im Raum. Die Doppelfrage, die im systematischen Teil zur Bearbeitung kommt, lautet: was trägt der Raum zur religiösen Orientierung und der möglichen Erfahrung der Gegenwart Gottes bei, und was ist der Raum, wenn in ihm Gott gegenwärtig ist? Wie kann der Raum vor dem modernen Raumdenken verantwortet so gedacht werden, das die Gegenwart Gottes im Raum gedacht werden kann, und wie kann die Gegenwart Gottes so gedacht werden, dass sie auf moderne Raumbegriffe und –theorien bezogen werden kann?

3. Die Relevanz der Frage „Wo ist Gott?“ Dieser Aufgabenbeschreibung aufgrund der religiösen Situation stellt sich ein möglicher systematisch-theologischer Einwand entgegen: Handelt es sich bei dem Verhältnis von Gott und Raum überhaupt um ein systematisch-theologisch relevantes Problem? Ist die Frage nach dem Wo Gottes nicht sekundär gegenüber den – viel fundamentaleren – Fragen, ob, wer und wie Gott ist? Man könnte die Wer-Frage nur dann unabhängig von der Wo-Frage behandeln, wenn man metaphysisch, apriorisch von Gott reden könnte. Sobald man konkret von Gott reden will, hängen Wer- und Wo-Frage unlösbar zusammen. Die metaphysische Abhandlung der Gottesfrage im scholastischen Dreischritt „An sit, quid sit, qualis sit Deus?“ braucht nicht auf die Wo-Frage zu rekurrieren, weil der Gott, von dem in Frage steht, ob, wer und wie er ist, von vornherein als überall existierend angenommen wird. Die Allgegenwart ist mit dem metaphysischen Begriff von Gott als dem vollkommensten bzw. dem höchsten oder dem überseienden Wesen etc. bereits mitgesetzt. Wäre er nicht allgegenwärtig, so wäre er, selbst wenn er existierte, nicht Gott. Darum brauchen die Gottesbeweise nur die Ob-, nicht aber die Wo-Frage stellen. Auch im Fall negativer Beantwortung ist dies so: der Atheismus wird, wenn er die Gottesbeweise für nicht stichhaltig hält, die Nichtexistenz Gottes für eine ubiquitäre Nichtexistenz halten. Wenn Gott nicht existiert, dann existiert er überall nicht. Ganz anders der angefochtene Atheismus ebenso wie der angefochtene Glaube: Das Wo der Abwesenheit Gottes ist hier der entscheidende Faktor. „Wäre doch Gott nur hier da, dann könnte und wollte ich an ihn glauben!“ Die Existenz hängt für die Moderne am Wo. „Wenn man nach Gott fragt, dann fragt man im Unterschied zur klassischen metaphysischen Tradition jetzt nicht mehr so sehr, ob ein Gott sei und wer oder was Gott sei, sondern viel eher: wo denn Gott sei. In der Frage ‚Wo ist Gott?‘ sind die alten quaestiones, die dem Wesen und der Existenz Gottes galten, in einer neuen und

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eigenartigen Weise zusammengefasst. Ob überhaupt ein Gott ist und was das eigentlich ist: ein Gott – das entscheidet sich für den heute fragenden Menschen daran, wo Gott anzutreffen und wo er als Gott anzusprechen ist.“43 Ebenso wie die Frage ist die Wer-Identifizierung Gottes nicht von der Wo-Identifizierung ablösbar.44 Während die Wer-Identifikation im Medium des Allgemeinen bzw. des Verallgemeinerbaren, also des Begriffs und des Arguments erfolgt, erfolgt die Wo-Identifikation immer konkret, nämlich an dem Ort, an dem Gott widerfährt, an dem er sich als der „Ich bin hier für euch da“ bekannt macht und sich identifiziert. Biblisch ist die Wer-Frage allemal an die Wo-Frage gebunden, denn die Namensoffenbarung geschieht am bestimmten – am unvermuteten oder am vermuteten – Ort (vgl. Ex 3 mit Dtn 12,5; 1.Kö 8,12)45 und die schmerzliche Erfahrung der Abwesenheit Gottes hat immer einen konkreten Ort (Ps 22,2 etc.). Es ist die Gottheit Gottes, nicht allein die religiöse Notwendigkeit der Verortung, dass Gott der sich am konkreten Ort offenbarende und nicht der immer schon überall offenbare ist. Als Selbst-Identifikation ist die Wer- an die Wo-Identifizierung gebunden. Dass die Frage „Wo ist Gott?“ und die Frage nach dem Wie des Wo seiner potentiellen An- oder Abwesenheit auch geistesgeschichtlich unausweichlich geworden ist, resultiert zweitens daraus, dass nach dem Ende der auch kosmologisch eindeutigen Metaphysik der ehemals allgegenwärtige Gott nicht einmal mehr dort aufgefunden werden kann, wo man ihn fraglos hatte finden können: ganz oben. Seit die absolute Orientierung des Kosmos verlorenging, „seit wir die Welt nicht mehr als abgeschlossenes Gehäuse, sondern als ein unendliches Ganzes betrachten müssen, hat der Gedanke der Jenseitigkeit Gottes seinen ursprünglichen, klar definierbaren, räumlichen Sinn verloren.“46 Wenn Gott nicht mehr ganz oben ist, dann ist er ohne bestimmten Ort und es bleiben auf die Frage „Wo ist Gott in deinem Weltsystem?“ nur die beiden Antworten, die B. Brecht Galilei in den Mund gelegt hat: „In uns oder nirgends!“47 Der ortlose Gott ist nur unbestimmt nirgends oder unbestimmt überall. „Es scheinen jetzt nur noch zwei Möglichkeiten offenzustehen. Die eine ist der Nihilismus, der die Transzendenz Gottes für einen unvollziehbaren Gedanken erklärt. Die andere ist der Pantheismus, der Gott und Welt in eins setzt. Damit ist die Frage entstanden: ————— 43 E. Jüngel, Gott als Geheimnis der Welt, 63. 44 Vgl. H.-J. Sander, Einführung in die Gotteslehre, 9–11. 45 Die Aussage „Gott bewohnt einen anderen Ort als den, an dem man ihn erwartet“ (Sander, Einführung in die Gotteslehre, 13) ist nur die eine Hälfte der Sache. Es gibt auch den erwählten, den zugesagten Ort, an dem sich Gott finden lässt. 46 K. Heim, Glaube und Denken, 219. 47 B. Brecht, Das Leben des Galilei, 33.

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Was meint der Glaube, wenn er auch im nachkopernikanischen Zeitalter noch von der Jenseitigkeit Gottes spricht?“48 Der monistische Pantheismus des unbestimmten Überall – den historisch so niemand vertreten hat – unterscheidet sich nicht von einem monistischen Atheismus des Nirgendwo, er ist, wie Schopenhauer bemerkt hat, nur eine „höfliche Wendung, dem Herrgott den Abschied zu geben“49. Was nämlich „überhaupt keinen Ort hat, hat nach den Regeln des Denkens kein bestimmbares Sein. Es lässt sich nicht bestimmen. Hat Gott überhaupt keinen Ort? Verschwindet er im Unbestimmten? Ist er überall – oder nirgends? Das Unbestimmte lässt sich weder als anwesend noch als abwesend lokalisieren. Ist Gott also weder anwesend noch abwesend?“50 Dass Gott im neuzeitlichen Weltbild weder anwesend noch abwesend ist, hat drittens seinen doppelten Grund in der Unendlichwerdung des Kosmos, der zuerst in der frühen Neuzeit die Unendlichkeit Gottes darstellen konnte, dann aber in der späten Neuzeit agnostisch gegen sie wurde. Es ist nicht so, dass das unendliche Universum das Empyreum einfach aufgeschluckt und damit Gott in eine „Wohnungsnoth“ geraten sei, wie D.F. Strauß spottete.51 Die naive Polemik, Gott habe einmal exklusiv „im Himmel“ gewohnt, ist genauso Ausdruck des szientistischen Missverständnisses wie die Folgerung, dass die empirische Unsichtbarkeit seine Nichtexistenz belege.52 Das Empyreum war ein unörtlicher suprastellarer Licht-Raum, der zwar zur geschaffenen Welt gehörte, von den Engeln und Seelen aber diffinitive, nicht locative bewohnt war und von dem repletive alles durchdringenden Gott unterschieden war.53 Die Unendlichwerdung des Kosmos bringt Gottes Allgegenwart zunächst mit Nachdruck zur Geltung, indem das seit Gregor v. Nyssa zentrale Got————— 48 Heim, Glaube und Denken, 219; Heims Lösung haben wir ausführlich diskutiert in U. Beuttler, Gottesgewissheit in der relativen Welt. Karl Heims naturphilosophische und erkenntnistheoretische Reflexion des Glaubens, bes. Kap. VI.–VIII., sie soll in dieser Arbeit nicht noch einmal aufgearbeitet werden. 49 A. Schopenhauer, Aus Arthur Schopenhauer’s handschriftlichem Nachlass, 441f. 50 Jüngel, Gott als Geheimnis der Welt, 70. 51 D.F. Strauß, Der alte und der neue Glaube, 105: „Als die Welt sich in eine Unendlichkeit von Weltkörpern, der Himmel in einen optischen Schein auflöste: da erst trat an den alten persönlichen Gott gleichsam die Wohnungsnoth heran“. 52 Vgl. T. Rentsch, Gott, 11f: „Im szientistischen Denken über Gott und von Gott […] wurde die traditionelle Rede vom Ort Gottes ‚im Himmel‘, oben ‚in der Höhe‘ als empirische Lokalisierung missverstanden. Was sich in der religiösen Sprache bildlich starken Ausdruck verschafft, wird somit kategorial falsch als konkrete Ortsbestimmung mit Verifikationsmöglichkeit interpretiert. Auf der Linie einer solchen Trivialisierung liegt noch die Auskunft des sowjetischen Kosmonauten Gagarin nach seiner Rückkehr aus dem All – er hätte nachgesehen, aber es wäre da oben kein Gott anzutreffen gewesen.“ 53 Genauer s.u. I.1.3.4.

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tesprädikat auf die Welt übertragen wird.54 „Auf die Welt fällt nun der Glanz der Unendlichkeit, der dem Altertum fremd und im Mittelalter Gott vorbehalten war.“55 Der Pantheismus ist im 17./18. Jh. in all seinen Schattierungen die konsequente Weise, Gott statt als intelligentia extramundana (Leibniz, Jacobi) allgegenwärtig in der selbst unendlichen Welt zu denken, so Herder an Jacobi: „Was Ihr, lieben Leute, mit dem ‚außer der Welt existieren‘ wollt, begreife ich nicht: existiert Gott nicht in der Welt, überall in der Welt, und zwar überall ungemessen, ganz und unteilbar (denn die ganze Welt ist nur eine Erscheinung seiner Größe für uns erscheinende Gestalten), so existiert er nirgend. Außer der Welt ist kein Raum.“56 Erst als die Unendlichkeit der Welt in einem zweiten Schritt im 19. Jh. radikal säkularisiert wird, kann sie die religiöse Qualität, Repräsentanz der göttlichen Unendlichkeit zu sein, so dass man im „Anschauen des Universums“ das allgegenwärtige Göttliche von jedem (individuellen) Punkt aus und in jedem Teil erschauen und erfühlen konnte, da „alles Beschränkte als eine Darstellung des Unendlichen“ gelten konnte,57 nicht mehr tragen. Das hat damit zu tun, dass Bolzano und Cantor versuchten, einen konsistenten mathematischen Begriff von aktualer Unendlichkeit zu formulieren58 und diesen auch auf die physikalische Welt zu übertragen.59 Für Cantor kommt das aktual Unendliche, das er auch „Transfinitum“ nannte, nicht nur „in abstracto“ (mathematisch), sondern auch „in concreto“ (physikalisch) vor. Da letzteres im Unterschied zur absoluten Unendlichkeit Gottes aber ein ————— 54 Vgl. E. Mühlenberg, Die Unendlichkeit Gottes bei Gregor von Nyssa, 26; zur Transformationsgeschichte vgl. knapp Beuttler, Gottesgewissheit in der relativen Welt, 269f; ders., Art. Heliozentrisches Weltbild; ders., Art. Naturwissenschaft und Religion; zum neuzeitlichen Initiator dieser Transformation, G. Bruno, s.u. I.6.5f. 55 C.F.v. Weizsäcker, Die Unendlichkeit der Welt. Eine Studie über das Symbolische in der Naturwissenschaft, in: Zum Weltbild der Physik, 118–157, 135. 56 J.G. Herder an F.H. Jacobi (6.2.1784), Aus Herders Nachlass, hg. H. Düntzer/F.G.v. Herder, Bd. II, 254f, zit. nach H. Scholz, Die Hauptschriften zum Pantheismusstreit zwischen Jacobi und Mendelssohn, XCII. 57 F. Schleiermacher, Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern, Zweite Rede, 38f. 58 „Was ich behaupte und […] bewiesen zu haben glaube, ist, dass es nach dem Endlichen ein Transfinitum (welches man auch Suprafinitum nennen könnte), d.i. eine unbegrenzte Stufenleiter von bestimmten Modis gibt, die ihrer Natur nach nicht endlich, sondern unendlich sind, welche aber ebenso wie das Endliche durch bestimmte, wohldefinierte und voneinander unterscheidbare Zahlen determiniert werden können. […] An Stelle des Aristotelisch-scholastischen Satzes [‚infinitum actu non datur‘] setze ich daher den andern: Omnia seu finita seu infinita definita sunt et excepto Deo ab intellectu determinari possunt“ (G. Cantor, Über unendliche lineare Punktmannigfaltigkeiten, in: Gesammelte Abhandlungen mathematischen und philosophischen Inhalts, 176). Die unendlichen Mengen können nach Cantor nach Mächtigkeiten ʠ0, ʠ1, ʠ2 […] geordnet werden. 59 B. Bolzano meinte, man könne „auch auf dem Gebiete der Wirklichkeit selbst […] manches Unendliche nachweisen […] Denn schon die Menge dieser Wesen muss eine unendliche sein; ingleichen die Menge der Zustände, die jedes einzelne dieser Welsen währen einer auch noch so kurzen Zeit erfährt, muss […] unendlich groß sein usw.“ (Paradoxien des Unendlichen, §25, 36).

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dem Endlichen verwandtes Aktual-Unendliches ist,60 ist die unendliche Welt genau wie die späteren offenen oder geschlossenen EinsteinFriedmann-Universen eine weltliche Unendlichkeit, die Gott weder repräsentiert noch ausschließt. Sie ist agnostisch gegen die Anwesenheit Gottes. Im heutigen Universum, das vermutlich geschlossen-unendlich ist, ist Gott weder an- noch abwesend.61 Da der Pantheismus angesichts dieses weltlich unendlichen, d.h. absolut gesehen endlichen Kosmos keine Option mehr ist, es aber auch keinen lokalisierbaren außerkosmischen Raum und keine jenseitige Welt II gibt, lautet die Aufgabe, in der Welt für Gott einen „Raum“ zu finden, in dem er als anwesend gedacht werden kann, ohne den säkularisierten Raumbegriff der Kosmologie bloß metaphorisch oder poetisch zu überhöhen oder neognostisch in einen Kosmotheismus zu überspringen. Den „Abschied von der Kosmologie“ zu vollziehen und das Gottesverhältnis des Menschen von einer vom Kosmos isolierten Subjektivität zu einem raum- und zeitlosen Gott zu denken,62 ist auch keine zureichende Option. Auch und gerade der religiöse Mensch steht in seinem Gottes-, Welt- und Selbstverhältnis, mit seinem gelebten Leben in der Welt, deren maximale gegenständliche Ausdehnung der kosmologische Kosmos ist. Das Gottesverhältnis steht im realen Vollzug in einem raumzeitlichen Weltbezug, für den die Kosmologie den wissenschaftlichen Erklärungsrahmen bildet. Die Kosmologie bildet sozusagen „den schweigenden Hintergrund theologischer Arbeit“63 und „die Trennung von Anthropologie und Kosmologie und die Konzentration theologischer Denkbemühungen auf anthropologische Fragestellungen erscheinen deshalb als Engführung. Der Mensch ist in den Kosmos verwoben und kann seinen Ort in der Welt nicht angemessen bestimmen ohne Verweis auf ————— 60 Das Transfinite existiert nach Cantor „erstens sofern es in der höchsten Vollkommenheit, im völlig unabhängigen, außerweltlichen Sein, in deo realisiert ist, wo ich es Absolut Unendliches oder kurzweg Absolutes nenne; zweitens sofern es in der abhängigen, kreatürlichen Welt vertreten ist; drittens sofern es als mathematische Größe, Zahl oder Ordnungstypus vom Denken in abstracto aufgefasst werden kann. In den beiden letzten Beziehungen, wo es offenbar als beschränktes, noch weiterer Vermehrung fähiges und insofern dem Endlichen Verwandtes A.-U. sich darstellt, nenne ich es Transfinitum und setze es dem Absoluten strengstens entgegen“ (Mitteilungen zur Lehre vom Transfiniten, zit. nach Meschkowski, Probleme des Unendlichen, 111); vgl. den Brief Cantors vom 13.10.1895 an Pater I. Jeiler O.S.F.: „Ein solches Transfinitum, sowohl wenn es in concreto, wie auch in abstracto gedacht wird, ist widerspruchsfrei, also möglich und von Gott erschaffbar, so gut wie ein Finitum“ (zit. nach Meschkowski, 258). 61 Vgl. unten Kap. II.6.5/7.3. 62 Vgl. U. Barth, Abschied von der Kosmologie – Befreiung der Religion zu sich selbst, mit Bezug auf Schleiermachers Transformation der Schöpfungslehre von der Weltentstehungserklärung (die sie in der Tat heute nicht mehr sein kann, vgl. Kap. II.5.) zur Endlichkeitsreflexion (die sie auch ist, aber nicht nur, vgl. Kap. II.7.). 63 D. Ritschl, Zur Logik der Theologie, 29.

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die kosmischen Bezüge.“64 Wenn der Welt-Raum alles umfasst, was gegenständlich existiert, und sich alle physischen Prozesse darin abspielen, dann hat „die Frage, ‚wo‘ Gott ist, einen theologischen Gehalt: welches Symbol für das Dasein Gottes an sich und in der Welt eingesetzt werden müsse, wenn die des Jenseitsraumes um die Welt und der offenen Stellen in ihr nicht mehr brauchbar sind.“65

4. Raumkritische Theologie der Gegenwart Gottes (Tillich) Ist der Versuch, Gott konstruktiv auf den Raum zu beziehen, theologisch überhaupt sachgemäß, der Gottheit Gottes angemessen? „Gott wohnt in der Zeit“66, formuliert D. Ritschl emphatisch und fasst damit eine lange Tradition evangelischer Theologie zusammen, die Gott exklusiv mit der Zeit und nicht mit dem Raum in legitimen Zusammenhang zu bringen meinte. In solcher Gegenüberstellung wird ein Gegensatz zwischen Raum und Zeit konstruiert. – Wir diskutieren knapp und exemplarisch zur theologiegeschichtlichen Situationsbeschreibung den raumkritischen Entwurf von P. Tillich sowie den positiveren von K. Barth als die beiden wichtigsten Vertreter der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Aktuelle Entwürfe sollen dann im Eingangskapitel des systematischen Hauptteils II.1. zur Sprache kommen. Besonders P. Tillich hat in religions- und kulturkritischer Absicht Raum und Zeit als zwei „gegeneinander streitende Kräfte“67 betrachtet. Alles Existierende sei Raum und Zeit unterworfen, Raum und Zeit seien existenzbeherrschende Mächte. Während die Zeit aber irreversibel eine Richtung hat, so dass ihre Herrschaft darin besteht, dass nichts wiederkehrt, weil Werden und Vergehen eine unumkehrbare Richtung haben, hat im Gegensatz dazu der Raum keine Richtung. Seine Herrschaft besteht darin, dass sich alles nach Naturgesetzen wiederholt. Die Übermacht des Raumes, die alles unter das ewige Gesetz der Wiederkehr zwingt, beraubt die Zeit ihrer Macht. Der Raum sei daher religiös Inbegriff des Heidentums, welcher einen bestimmten Raum zu letztgültigem Wert erhebt und den Gott gegen andere Götter an einen Ort bindet. Das Heidentum setze sich fort im Nationalismus, der ebenfalls räumliche Kategorien wie Blut, Klasse etc. zum letztgültigen Wert erhebt. Nur im jüdisch-christlichen Monotheismus sei die Macht des Raumes über die Zeit gebrochen. Die vom Raum beherrschte Existenz sei eine tragische, da sie keine geschichtliche Dynamik, sondern nur das ewig unveränderliche Sein des geschlossenen Kugel-Kosmos kennt, ebenso die Mystik, welche die Erlösung jenseits der Zeit in einer räumlichen ewigen Gegenwart sucht und die subtilste Form der Übermacht des Raumes darstellt. Der wahre

————— 64 D. Evers, Das Verhältnis von physikalischer und theologischer Kosmologie als Thema des Dialogs von Theologie und Naturwissenschaft, 50. 65 R. Guardini, Welt und Person, 56. 66 Ritschl, Gott wohnt in der Zeit; vgl. ders., Logik der Theologie, 84. 67 P. Tillich, Der Widerstreit von Zeit und Raum, 187.

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Gott der prophetischen Tradition hingegen sei nicht der Gott des Raumes, sondern der Gott der Geschichte und als solcher der Gott der Zeit, die eine Richtung hat, in der und durch die Gott Neues schaffen will. Der Herr der Geschichte wird sich im Kommen des Reiches Gottes als Gott der Zeit erweisen und die Macht und die Götter des Raumes besiegen.

Die zeitkritische Polemik Tillichs, das Judentum von seinem Gottesbegriff her als „Volk der Zeit“ wertzuschätzen und den es zu vernichten suchenden ideologischen Nationalismus als Heidentum des Raumes zu denunzieren, ist aller Ehren wert, die Begründung hingegen mehr als einseitig. Abgesehen davon, dass der Gegensatz zwischen dem mythischen Raum des Polytheismus und des alttestamentlichen Kultes, der überdies nicht nur gegen die prophetische Tradition steht, weit weniger scharf ist als unterstellt,68 und abgesehen davon, dass die antizeitliche Rekonstruktion der griechischen Ontologie und der platonisch-christlichen Mystik eine extreme Zuspitzung darstellt – der aristotelische Gott ist konstitutiv mit der Zeit verbunden, die Platoniker kennen ein dialektisches Verhältnis von Sein und Werden, von Kosmos und Zeit und die christliche Theologie hat seit Irenäus und Augustin die biblische Geschichtszeit mit der griechischen Kosmologie verbunden und Gott als ebenso räumlich-kosmisch allgegenwärtig wie zeitschöpferisch wirksam vorgestellt – resultiert die Entgegensetzung von Raum und Zeit bei Tillich aus einer Reduktion des Raumes auf den homogenen, istotropen und reversiblen geometrisch-physikalischen Begriff. Unter diesem, die Zeit ausschließenden, Raumbegriff kann die Gegenwart und schöpferische Wirksamkeit Gottes in der Tat nicht gedacht werden. Glücklicherweise hat Tillich an anderer Stelle Gott nicht in Gegensatz zum Raum gesetzt, sondern gesehen, dass die Betonung von Transzendenz und Immanenz Gottes ein dialektisches Verhältnis zum Raum erfordert. Gott kann nicht als einfache Jenseitigkeit, als nicht-räumliche, aber darin dann eben doch wieder räumlich vorgestellte, über-weltliche Realität gedacht werden, sondern ist als das Sein-selbst die transzendente Macht in allem, was ist, insofern alles Endliche an seiner Unendlichkeit, an Gott als schöpferischem Grund, partizipiert, Gott als Macht des Seins aber das Seiende transzendiert.69 Die transzendente Immanenz Gottes ist nicht gegenständlich fassbar, sondern nur als ungegenständliche Tiefe und als Grund des Seins.70 Diese Verhältnisbestimmung aber ist eine räumliche Metapher, die dem modernen Immanenzdenken entgegenkommt, ohne die Transzendenz-Vorstellung der metaphysischen Tradition aufzugeben. Läuft damit Tillich in seine eigene Raumfalle und stellt sich „Transzendenz wie Ge————— 68 69 70

Hierzu vgl. unten II.7.2. P. Tillich, Systematische Theologie, Bd. I (=ST I), 275f. Ausführlich unten II.2.2–6/5.6/8.2.

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genwart Gottes im Grunde zeitlos“ vor, so dass man mit F. Mildenberger gegen Tillich votieren müsste: „Gottes Transzendenz ist nicht ein Jenseits unseres gegenwärtigen Raumes; sie ist ein Jenseits unserer gegenwärtigen Zeit. Gott ist in dem, was noch nicht ist. Und redet das alte Transzendenzschema davon, dass Gott aus seinem Jenseits ins Diesseits hineinwirke, so muss man statt dessen nun sagen: Aus seiner Zukunft wirkt dieser Gott in die Gegenwart hinein.“71 Die Tillich-Interpretation Mildenbergers dahingestellt,72 erscheint uns die bessere Alternative nicht die Raumlosigkeit Gottes zu sein. Gott in dieser Weise nur mit der Zeit und nicht mit dem Raum in Verbindung zu bringen, würde bedeuten, die Transzendenz Gottes in eine nicht mehr immanent vermittelte Zukünftigkeit zu verflüchtigen und seine Gegenwart nicht mehr hier und jetzt denken zu können. Gott ist nicht nur in dem, was noch nicht ist, sondern auch in dem, was ist, was war und wird. Dazu muss seine Gegenwart räumlich vermittelt gedacht werden, allerdings muss ein zureichendes, sich vom geometrischen Begriff fundamental unterscheidendes, auch nichtgegenständliche und zeitdynamische Raumdimensionen einbeziehendes Konzept entwickelt werden (s. Kap. II.2.–4./8.). Ob es allerdings möglich ist, den Raum, definiert als „Gleichzeitigkeit des Verschiedenem“, mit W. Pannenberg auf die Zeit zu reduzieren, weil alleine die „Reduktion des Raumes auf die Zeit […] Bedingung für eine theologische Interpretation der Gegenwart im Raum“73 sei, ist naturphilosophisch fraglich, weil auch die vierdimensionale Raumzeit nicht die irreduzible Differenz von Raum und Zeit beseitigt hat. Es ist auch theologisch problematisch, weil dies Gottes Gegenwart in die „absolute Zukunft“74 verflüchtigt. Dass der Raum jedoch nicht isoliert von der Zeit die Interpretation der Gegenwart Gottes erlaubt, ist bei Pannenberg wie bei Mildenberger richtig gesehen.75

5. Allgemeine und besondere Gegenwart Gottes (Barth) Positiv gesehen, dass man im Umkehrschluss gegen eine mystisch-zeitlose Präsenz die Gegenwart Gottes auch nicht unräumlich denken kann, aber dennoch einem nicht zureichenden Raumbegriff verhaftet geblieben, ist K. Barth. Die Gegenwart Gottes darf nach Barth gegen Schleiermacher (s.u. II.1.2) und Biedermann nicht raumlos gedacht werden, da sonst der christliche, trinitarische Gottes-

————— 71 F. Mildenberger, Gotteslehre, 157. 72 In der Tat hat Tillich mit der klassischen Metaphysik Gott als zeitloses Sein-Selbst begriffen, jedoch nicht als Gegensatz von Sein zum Werden, sondern als diesen Gegensatz noch einmal übergreifendes, aber auch dynamisch bedingendes, transzendent-immanentes Sein: als lebendiger Gott, vgl. ST I, 284f. 73 W. Pannenberg, Systematische Theologie, Bd. 2 (=ST 2), 111. 74 Pannenberg, ST 1, 443. 75 Zu Begründung und Durchführung s.u. II.4.4.–6.

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begriff aufgelöst würde. Denn Raumlosigkeit bedeute Distanzlosigkeit und damit Identität. Wäre Gott raumlos, so wäre er mit allem identisch. Gegenwart schließt als Zusammensein, im Unterschied von Identität, Distanz ein. Distanz bedeutet Unterschiedenheit des Ortes. Die Unterscheidung Gottes von der Welt bedingt, dass Gott als gegenwärtiger einen Ort, nämlich seinen eigenen Ort, seinen eigenen Raum hat.76 Die Allgegenwart Gottes ist biblisch keine Raumlosigkeit, sondern meint negativ die Verschiedenheit und Überlegenheit gegenüber allen Räumen und positiv, dass Gott in sich selbst seinen Raum hat. Nur insofern Gott in sich Raum, und damit Nähe und Ferne hat, kann er in Raum-Relation, in Nähe und Ferne zum Geschöpf stehen. Hätte Gott keinen Raum in sich, wäre er der mit sich identische Alleine, nicht der Dreieine. Als der Eine, der Raum in sich hat, ist Gott das Prinzip des Raumes: der Raum in allen Räumen, der allem gegenwärtig sein und dem Anderen Raum schaffen und geben kann, weil er selbst Raum hat auch ohne das Andere. Gott hat Raum bedeutet negativ, er ist nirgends nicht bzw. nirgends weniger als anderswo, und positiv, „dass er dort und hier und überall, dass er also immer irgendwo und nicht nirgends, dass er in seinem göttlichen Wesen räumlich ist.“77 Die (innertrinitarische) Räumlichkeit begründet für Barth die (trinitarische) Allgegenwart Gottes, die dann mit der Tradition in die allgemeine und die besondere Gegenwart unterschieden werden kann, wobei entgegen dem metaphysischen Gottesbegriff sich die allgemeine von der besonderen, in konkretem Hier- und Dortsein als versöhnendem Handeln in der Schöpfung offenbaren Gegenwart Gottes ergibt.78

Den biblischen Aussagen folgend hat Barth richtig die allgemeine nur in und mit der besonderen Gegenwart verstanden. Hierdurch wird Gott nicht apriorisch auf den Raum als Ganzen bezogen, sondern seine Gegenwart konkret wahrgenommen, als deren Grund und konstituierende Mitte die eigentliche, singuläre Gegenwart Gottes in Jesus Christus gilt. Da Barth aber das Wie der Gegenwart Gottes von einem allgemeinen, trinitarisch immanent, d.h. transzendentaltheologisch eingeführten Raumbegriff her definiert, hat er in der Durchführung doch die besondere von der allgemeinen Gegenwart her bestimmt. Dass Gott allgegenwärtig ist und es keine Nicht-Gegenwart Gottes in der Schöpfung gibt, ergibt sich nämlich daraus, dass Gottes Raum den Raum der Schöpfung umgreift und umschließt, so dass wir, wenn wir in unserm Raum sind, „zugleich ganz und gar im Raume Gottes, ja sogar viel mehr im Raume Gottes als in unserem geschöpflichen Raume sind.“79 Das Besondere wird doch vom Allgemeinen, vom Allgemeinsten her bestimmt, vom Raum Gottes als Inbegriff, Grund und Umraum aller Räume. Das Verhältnis vom Raum Gottes zum weltlichen Raum wird aber nur in abstrakter Räumlichkeit, als räumlich unbestimmte Relation der Verschiedenheit bestimmt. Dadurch bekommt ————— 76 77 78 79

K. Barth, Kirchliche Dogmatik, Bd. II/1 (=KD II/1), 527. Ebd., 531. Ebd. Ebd., 536.

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Gottes Gegenwart gerade keinen bestimmten Ort in der Welt, sondern bleibt bloß negativ bestimmt. Der Raumbegriff der Differenz von Orten ist wieder der geometrische Raumbegriff, der faktisch zu einer Raumlosigkeit Gottes führt, weil man Gottes innertrinitarische Räumlichkeit schwerlich als einfache Differenz von nebeneinander stehendem Verschiedenem auffassen kann, und weil Barth Gottes Raumhaftigkeit nicht in thomistischer Analogie oder tillichscher Univozität des Seins im Welt-Raum einwohnend denken, sondern wesentlich davon unterscheiden will. Dann haben Raum Gottes und weltlicher Raum aber keinen gemeinsamen Bezugsrahmen als den äquivoker Unterschiedenheit voneinander. Wenn Gottes Raum aber überhaupt kein Raum in irgendeiner für uns denkbaren Form ist, dann ist es eben die raumlose Differenz von der Welt. Der Raumbegriff der örtlichen Differenz von Verschiedenem ist weder zureichend, die innertrinitarischen Verhältnisse zu beschreiben, noch das dialektische Verhältnis von Transzendenz und Immanenz Gottes in der Welt zu denken, noch ist er als Raumbegriff der geschöpflichen Welt und des menschlichen Lebens ausreichend. Das zweifache Problem, dass weder ein konkret spezifizierter noch der geometrische Raumbegriff der Verschiedenheit von Orten die Gegenwart Gottes in der Welt zureichend ausdrücken können, werden wir an weiteren der (wenigen) aktuellen Entwürfe kennenlernen, die sich überhaupt dem theologischen Raumproblem gestellt haben.80 Deren Würdigung soll jedoch erst im systematischen Hauptteil II.1. erfolgen, um daraus die Notwendigkeit einer umfassenden Neuuntersuchung zu motivieren. Schon aus der theologiegeschichtlichen Erinnerung an Tillich und Barth folgt die systematische Aufgabe, einen angemessenen, nicht geometrischen Raumbegriff zu entwickeln. Es geht darum, übersehene Raumdimensionen aufzugreifen, um aus der Vielzahl der Modi von Raumerfahrungen das Wo und Wie der Raumgegenwart Gottes formulieren zu können.

6. Aufbau und Gliederung Die kulturwissenschaftliche, die religiöse, die kosmologische und die theologiegeschichtliche Situierung des Themas „Gott und Raum“ hat ergeben, dass jeder dieser Aspekte einen historischen und einen systematischtheologischen Anteil hat. Die gegenwärtige Fragestellung ergibt sich aus der geistesgeschichtlichen Entwicklung der Neuzeit, so dass mögliche Lösungen zumindest implizit mit den Lösungen der Tradition verbunden sind. Frühere Lösungen erfüllten eine vergleichbare Funktion, nämlich die Ge————— 80 Ausführlich zu L.v.d. Brom, I. Dalferth, D. Evers, E. Joos, J. Moltmann, W. Pannenberg vgl. unten II.1.5f/4.3f.

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genwart Gottes im Raum denkbar zu machen, so dass eine gegenwärtige Lösung nicht hinter das Problembewusstsein zurückfallen darf, das die Tradition unter anderen Bedingungen vorgelegt hatte. Daher ist eine ahistorische Behandlung des Themas nicht möglich. Die Tradition hatte im Rahmen ihrer metaphysischen und kosmologischen Bedingungen eine Reihe von Lösungen entwickelt, um Gott und Raum in ein dialektisches Verhältnis zu setzen, das Transzendenz und Immanenz berücksichtigt. Diese Lösungen können nicht einfach in veränderter Situation unverändert übernommen werden, sie sind aber auch nicht obsolet, da sie Typen von Lösungen darstellen, die einmal unter bestimmten Bedingungen in Geltung standen und daher auch noch mit ihrem problematisch Werden maßstäblich dafür sind, welches Differenzierungsniveau eine gegenwärtige Problembearbeitung erreichen muss. Der systematischen, eigenen Bearbeitung muss eine Aufarbeitung der niveauvollsten Lösungstypen der Tradition vorangehen. Aufbau und Vorgehen dieser Arbeit sind mit diesen Überlegungen vorgezeichnet. Die Arbeit gliedert sich in zwei Hauptteile, einen historischen und eine systematischen Hauptteil. Der erste, historische Hauptteil reicht bis an den Punkt heran, an dem der metaphysische Raumbegriff und die damit verbundene vor- und frühneuzeitliche Kosmologie fraglich geworden sind. Die Allgegenwart Gottes war bis dahin über den metaphysischen Raum vermittelt und dadurch theologisch und naturphilosophisch wohl begründet. Wir setzen mit der klassischen, ausgereiften Gestalt der Lehre von der Allgegenwart Gottes in der altprotestantischen Orthodoxie ein (I.1.) und zeichnen daran anschließend die Entwicklung des Raumbegriffs und des Verhältnisses von Gott und Raum von den antiken Raumtheorien (I.2.) über die altkirchliche Theologie (I.3.), die neuplatonische Lichtmetaphysik (I.4.), die mathematische Mystik (I.5.), den Renaissanceplatonismus (I.6.), die lutherische Theologie (I.7.) und die Raumtheorien der frühen Neuzeit bis hin zum absoluten Raum als physischer und metaphysischer Repräsentation der Allgegenwart Gottes (I.8.) nach. Eine Vollständigkeit des weit verzweigten Entwicklungsgangs ist nicht beabsichtigt, es werden die u.E. wesentlichen Haupttypen der Tradition besprochen. Sie sind teilweise miteinander verwandt, so dass sich zwei Hauptlinien ergeben: die scholastischaristotelische Linie einerseits, die bis zu ihrem Ende im Barock kosmologisch konservativ blieb und die platonische Linie andererseits, die sich in der Neuzeit kosmologisch und metaphysisch transformieren konnte, aber mit Kant ebenfalls ihr Ende findet. Die nicht auf den beiden orthodoxen Hauptlinien liegenden Alternativkonzepte der frühen Neuzeit wie die Hermetik, die Kabbala, die Theosophie (einschließlich der Schwabenväter Oetinger und Hahn), der Pantheismus und seine Antipoden (einschließlich Herder, Hamann, Goethe) sowie der anschließende Idealismus (Schelling, Hegel) und die Prozessphilosophie würden eigene umfangreiche Untersu-

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chungen benötigen und können nur am Rande berücksichtigt werden. Die klassische theologische und metaphysische Lehrbildung erreichen jeweils bis ca. 1740 ihren Höhepunkt und Abschluss und brechen mit dem kritischen Kant völlig ab, der deshalb als Ausgangspunkt für den zweiten, systematischen Hauptteil genommen wird. Fortan gibt es keine Äquivalenz von metaphysischem, kosmologischem und theologischem Raumbegriff mehr, wie an Schleiermacher und gegenwärtigen Entwürfen gezeigt wird (II.1.). Wir müssen völlig neu ansetzen, um das Verhältnis von Gott und Raum zu bestimmen und gehen dazu von der Phänomenologie des gelebten Raumes aus, in den wir schrittweise religionsphänomenologische (II.2.), ästhetische und erfahrungstheologische (II.3.), physikalisch-naturphilosophische (II.4.) und kosmologische (II.5.–6.) sowie schöpfungstheologische (II.7.) und trinitätstheologische Aspekte (II.8.) einzeichnen wollen. Wir stellen uns damit der bisher nicht bewältigten Aufgabe, den existentiellen und den kosmologischen Dimensionen von Raum theologisch gerecht zu werden und die Gegenwart Gottes auf diese Raumbegriffe zu beziehen. Wenn die metaphysische Begründung der Allgegenwart Gottes nicht mehr möglich ist, dann kann man nur vom Ort des Menschen und seinen Räumen aus, dem gelebten, dem natürlichen und dem auf den lebensweltlichen aufbauenden kosmologischen Raum, Transzendenz und Immanenz Gottes auf die Welt relationieren. Einen ersten Überblick über den Gedankengang und die Resultate gibt der Ertrag am Schluss der Arbeit.

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I. HISTORISCHER TEIL: GOTTES ALLGEGENWART UND DIE METAPHYSIK DES RAUMES

Kapitel 1: Die Lehre der Allgegenwart Gottes

1.1 Der systematische Ort: Die Eigenschaften Gottes Auch wenn die Lutherische Dogmatik zwischen 1580 und 1720 entgegen der Annahme Heinrich Schmids keineswegs als Einheit betrachtet werden kann und der Unterschied zwischen der Früh-, der Hoch und der Spätorthodoxie1 weit größer ist, als Schmids harmonisierende Darstellung glauben macht, ist doch im Blick auf die Allgegenwart Gottes tatsächlich „der Unterschied zwischen den frühen und den späten Dogmatikern […] nicht so groß, wie man ihn oft darstellt.“2 Das Lehrstück von der Allgegenwart Gottes ist im Ganzen und Wesentlichen unumstritten, soweit es die Gotteslehre im engeren Sinn betrifft. Umstritten ist zwischen Lutheranern und Reformierten die Ubiquität der menschlichen Natur Christi, umstritten ist zwischen den alt- und neuprotestantischen Lutheranern bis in die heutige Lutherforschung die Einwohnung Gottes in den Gläubigen, aber unumstritten ist die Allgegenwart als Majestätseigenschaft Gottes. Um den systematischen Ort des Lehrstücks klarzulegen, muss kurz auf die Lehre von den göttlichen Eigenschaften eingegangen werden. Die Altprotestantische Orthodoxie unterschied mit den Scholastikern drei Arten von göttlichen Eigenschaften. Die proprietates bezogen sich auf die trinitarischen Verhältnisse der göttlichen Personen relativ zueinander, die praedicata auf die bestimmten Handlungen Gottes an der Welt und den Menschen als Schöpfer, Versöhner und Vollender. Die attributa hingegen sind nähere Beschreibung des göttlichen Wesens. Allerdings besteht zwischen den Attributen und dem göttlichen Wesen selbst keine substantielle, sondern nur eine Differenz der Erkenntnis und Betrachtung. Das eine, un————— 1 Zu Begriff und Periodisierung vgl. M. Mathias, Art. Orthodoxie I. Lutherische Orthodoxie, TRE, 465f. 2 H. Schmid, Die Dogmatik der evangelisch-lutherischen Kirche, 17.

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endliche göttliche Wesen, die essentia spiritualis infinita,3 erscheint in der zergliedernden menschlichen Betrachtung, die unfähig ist, die unendliche Vollkommenheit in einen adäquaten Begriff zu fassen, in einer Vielzahl von Vollkommenheiten:4 „Wenn wir im eigentlichen und angemessenen Sinn reden wollen, hat Gott keine Eigenschaften, sondern ist ein reines und vollkommen einfaches Wesen, dem weder eine reale Differenz, noch irgendeine Zusammensetzung, sei es der Sache oder der Art und Weise nach beigefügt ist. Weil wir das höchst einfache Wesen Gottes nicht durch einen angemessenen Begriff erfassen können, daher begreifen wir das göttliche Wesen unangemessen durch nichtentsprechende und distinkte Begriffe aus seinen Repräsentationen – diese unangemessenen Begriffe nennen wir Attribute. Und so unterscheidet unser Intellekt, was der Sache nach nicht unterschieden ist.“5 Die Differenz zwischen Wesen und Eigenschaften besteht also nur für unser diskursives Denken und Erfassen Gottes, dennoch besteht für die begriffliche Unterscheidung eine sachliche Grundlage. Die Differenz ist nicht rein nominell ein bloßer Unterschied der Bezeichung (distinctio nominalis oder rationis), wie die altprotestantischen Dogmatiker gegen die Nominalisten W. Occam und G. Biel betonten, sondern hat ein fundamentum in re, das jedoch keine reale Zerteilung (distinctio realis) des göttlichen Wesens bedeutet. Die Differenz, so sagten die Dogmatiker mit Duns Scotus, ist eine ————— 3 Genauer wird zwischen dem allgemeinen und dem besonderen Begriff des Wesens Gottes unterschieden. Im allgemeinen Sinn (conceptus quidditativus communis) wird Gottes Wesen nichtexklusiv als essentia spiritualis definiert (so seit Ph. Melanchthon, Loci praecipui theologici, StA II/1, 177, aufgenommen bei L. Hutter, Compendium locorum theologicorum, loc.II, qu.2, 4, u.v.a.: „Deus est essentia spiritualis […]“), der conceptus proprius hingegen bestimmt das Wesen Gottes exklusiv als „infinitas, qua deus omnes essentiae terminos respuit“ (J.F. König, Theologia positiva acroamatica, p.I, §36). Die Unendlichkeit als Grenzenlosigkeit und Unbegrenzbarkeit bedeutet die Unmöglichkeit aller definitorischen Wesensbezeichungen. Gottes absolutes Wesen ist streng genommen „nur der Kontemplation, aber nicht der Definition zugänglich“ (K.-H. Ratschow, Die lutherische Dogmatik zwischen Reformation und Aufklärung, Bd. II, 60). 4 J. Gerhard, Loci theologici, tom.I, loc.II, c.VII, §104f, III.84f, 295f: „Attributa divina in se ac per se considerata sunt realiter et simplicissime unum cum divina essentia. […] Attributa divina docendi causa et propter conceptus nostri infirmitatem variis modis distinguuntur.“ Übereinstimmend formuliert der Reformierte J.H. Alsted, Methodus ss. theologiae, lib.I, c.III, 62: „Attributa divina in se & absolute considerata, non differunt realiter sed sunt ipsa Dei essentia“, denn: „Deus est indivisibilis“, er besteht nicht aus Teilen, um ein unendliches Ganzes zu sein. 5 A. Quenstedt, Theologia didactico-polemica, p.I, c.VIII, sect.II pol., qu.2, 296f: „Si proprie et accurate loqui velimus, Deus nullas habet proprietates, sed mera et simplicissima est essentia, quae nec realem differentiam, nec ullam vel rerum vel modorum admittit compositionem. Quia vero simplicissimam Dei essentiam uno adaequato conceptu adaequate concipere non possumus, ideo inadaequatis et distinctis conceptibus inadaequate essentiam divinam repraesentionibus, eam apprehendimus, quos inadaequatos conceptus […] attributa vocamus. Et sic intellectus noster dinstinguit, quae ex parte rei distincta non sunt.“

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distinctio formalis6: „Die Unterscheidung erscheint nur im erkennenden Verstand als Unterschiedenheit der intentionalen Gehalte, doch ist diese Verschiedenheit der Tätigkeit des Verstandes vorgängig und in der Sache selbst begründet“7. Die sachliche Verschiedenheit der Begriffe essentia und attributa, d.h. ihr nicht aufeinander reduzierbarer Sachgehalt, lässt sich daraus erschließen, dass die Wirkungsweise des göttlichen Wesens kraft seiner Eigenschaften nach außen unterschiedlich ist. Als Barmherzigkeit rettet er, als Gerechtigkeit verdammt er, als Weisheit und Güte erhält er etc. Die Differenz im effectus lässt darauf schließen, dass auch der Sachgehalt (quidditas oder formalitas) von Wesen und Eigenschaften unterschiedlich sein müssen, da das göttliche Wesen selbst nur als schlechthin einfach (simplicissime) gedacht werden kann. Die Differenz entsteht nicht erst durch die Begriffsunterscheidung des Intellekts, sondern hat ihr Fundament im Unterschied zwischen der Diversität der göttlichen Attribute nach außen von der Einfachheit des Wesens in sich selbst. Die distinctio formalis von essentia und attributa spiegelt die Verschiedenartigkeit der möglichen Beziehungen Gottes auf die Welt wider und erlaubt es, das Verhältnis von Gott und Welt jeweils nach der einen oder nach der anderen Seite zu betrachten. Die absoluten, immanenten oder ruhenden Eigenschaften meinen Gottes Abgezogenheit von der raumzeitlichen Welt, die respektiven, relativen oder wirksamen Eigenschaften seine Bezogenheit auf die Welt, und zwar einerseits als Eigenschaften Gottes selbst und andererseits als Eigenschaften des Wirkens an der Welt. Auch die abgezogenen, absoluten Eigenschaften haben daher drei Aspekte: Die attributa absoluta meinen einerseits Gottes ruhende Wesenseigenschaften rein als solche, dann dieselben in ruhender Bezogenheit auf die Welt und schließlich als Potenz der Wirksamkeit an der Welt. Daraus ergibt sich zwanglos eine dreifache Unterscheidung in der Eigenschaft der Allgegenwart: Sie meint als Wesenseigenschaft der Abgezogenheit die Unermesslichkeit und Unbegrenztheit des göttlichen Wesens, als Eigenschaft der ruhenden Bezogenheit seine wesentliche Anwesenheit und als potentiell operative Eigenschaft der dynamischen Bezogenheit seine Omnipräsenz. Die Unterscheidung zwischen immensitas, adessentia und ————— 6 D. Hollaz, Examen theologicum acroamaticum, p.I, c.I, qu.21, Bd. 1, 333: „Attributa divina ab essentia divina et a se invicem distinguuntur non nominaliter nec realiter sed formaliter secundum nostrum concipiendi modum, non sine certo distinctionis fundamento.“ Die distinctio formalis bezeichnet in der scotischen Tradition die Verschiedenheit der intendierten Sachgehalte (formalitates = quidditates) zweier Begriffe, die in einem Ding verwirklicht sind, wobei die Differenz weder zwei Sachen (distinctio realis), noch bloß zwei Namen durch Begriffsunterscheidung (distinctio rationis) des diskursiven Intellekts bedeutet, sondern dem Intellekt aus dem Wesen der einen Sache (ex natura rei) vorgängig ist, vgl. O. Muck, Art. Distinctio formalis. 7 L. Honnefelder, Duns Scotus, 43.

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omnipraesentia ist am knappsten bei König formuliert, den wir zuerst vorstellen und dem Quenstedt und Hollaz folgen. Wir fassen deren Ausführungen, Unterscheidungen und Begründungen zusammen und vertiefen und ergänzen sie aus der ausführlichsten und methodisch durchgestalteten Darstellung J. Gerhards, dessen 22 enge Quartspalten lange Sacherörterung (Pragmatologie) „De Dei immensitate“ nach einer thetischen Realdefinition Beweise ex scriptura, ex rationibus und aus Väterzitaten gibt, sodann Einwände widerlegt und in acht topischen Fragen (an sit […]) Detailprobleme erörtert, z.B. ob Gott in allen Orten präsent ist, ob er im eigentlichen Sinn den Ort erfüllt, ob er realiter in einem außerkosmischen Raum existiert u.a.m.8

1.2 Die Allgegenwart als immensitas, adessentia und omnipraesentia J.F. König bestimmt in den §§51–53 des pars prima seiner „Theologia positiva acroamatica“ von 1664 u.a. folgende attributa Dei absoluta (§§40– 55): §51. Die Unermesslichkeit ist die einfache Unbegrenzbarkeit des göttlichen Wesens durch jedes geschaffene Wo, 1.Kö 8,27 (Immensitas est simplex essentiae divinae interminabilitas ab omni pou? creato, 1Reg 8,27).9 §52. Unmittelbare Folge der Unermesslichkeit ist die Fähigkeit, auf nichtlokale Weise allen Dingen an jedem Wo anwesend zu sein (Consequens immensitatis immediatum est potentia illocaliter adessendi omnibus omnino UBI).10 §53. Daraus folgt mittelbar die Allgegenwart, insofern sie einerseits die wesenhafte göttliche Anwesenheit bei den Kreaturen einschließt. Eigentlich aber bezeichnet jene nicht eine intrinsische Wesenseigenschaft Gottes, sondern ist die Wirkung bestimmter Eigenschaften, so dass sie besser im Abschnitt von der Vorsehung gehandelt wird (Consequens remotum est omnipraesentia, in quantum ea ex una parte adessentiam ad creaturas substantialem divinam involvit. Verum quum illa non attributum essentiam dei intrinsece denominans, sed attributorum certorum effectus sit, rectius de ea in loco de providentia agetur).11

————— 8 Gerhard, Loci theologici, tom.I, loc.II, c.VIII, sect.VIII, §§171–189, III.122–138, 320– 331. 9 Vgl. Hollaz, Examen theologicum acroamaticum, p.I, c.I, qu.30, Bd.1, 355: „Immensitas est attributum divinum, secundum quod essentia DEI nullis locorum terminis circumscribi potest, sed ubiqve existere intelligitur.“ 10 Vgl. Hollaz, ebd.: „Consequens immediatum immensitatis divinae est potentia illocaliter adessendi omnibus omnino ubi.“ 11 Vgl. Hollaz, ebd.: „Consequens vero remotum est actualis omnipraesentia, qua DEUS omnibus creaturis actu adest.“

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1. Immensitas: Die Unermesslichkeit ist zunächst negativ dadurch bestimmt, dass das göttliche Wesen nicht von irgendeinem Ort oder Raum begrenzt, enthalten, umschrieben oder eingeschlossen werden kann („nullo loco contineatur, circumscribatur, concludatur vel definiatur“12). Den Schriftbeweis gibt 1.Kö 8,27 (Coeli coelorum te capere non possunt) a majore ad minus: Wenn Gott schon durch die Himmel der Himmel nicht gefasst werden kann, dann auch durch keinen anderen geschaffenen Ort oder Raum. Die metaphysische Begründung ergibt sich aus dem göttlichen Wesen als essentia spiritualis infinitas. Zwar meint die Wesensbestimmung Gottes (conceptus quidditativus proprius) als infinitas keine räumlichquantitative Ausdehnung, sondern die Unendlichkeit und Vollkommenheit des Wesens,13 die negativ seine Unbegrenztheit und Unbegrenzbarkeit bedeutet. Doch kann daraus in Bezug auf die Welt von Quenstedt und Hollaz die Unermesslichkeit auch positiv via doppelter Negation abgeleitet werden: Gottes einfaches, geistiges und unendliches Wesen kann nicht nicht überall sein („Deus non potest non essentia sua ubique esse“14). Wenn schon kein geschaffener Geist örtlich begrenzbar ist, dann erst recht nicht Gott als ungeschaffener unendlicher Geist.15 Die Unermesslichkeit folgt aus der Unendlichkeit Gottes hinsichtlich des Raumes, d.h. aus der Unendlichkeit als Grenzenlosigkeit („Infinitas est attributum divinum, per quod Essentia & perfectiones DEI nullos habent terminos“16), wie die Ewigkeit die Unbegrenzbarkeit der Unendlichkeit durch die Zeit meint („Aeternitas est interminabilis & permanens essentiae divinae duratio“17). Diese parallele Folgerung ist gängige metaphysische Tradition.18 Die Unermesslichkeit folgt also aus der Unendlichkeit aus der Unmöglichkeit des Gegenteils. Wäre Gott nicht unendlich, wäre er auch nicht unermesslich, sondern durch einen Ort beschränkt oder begrenzt. Da aber Gottes Natur und Wesen unendlich ist, ist Gott weder durch Ort, Zeit oder eine andere Sache begrenzbar oder bemessbar. In diesem weiteren Sinn fallen infinitas und immensitas zusammen. Im strikten Sinn sind sie jedoch verschieden, da es zwei Spezifikationen („duae quasi species“) der Unendlichkeit gibt: Aeternitas und immensitas.19 ————— 12 Gerhard, Loci theologici, ebd., §183, qu.3, III.133, 327. 13 Quenstedt, Theologia didactico-polemica, p.I, c.VIII, sect.I did., th.2, 284. 14 Ebd., th.18, 288. 15 Hollaz, Examen theologicum acroamaticum, ebd., 356f. 16 Ebd., qu.28, 348. 17 Ebd., qu.29, 351. 18 Vgl. etwa C. Scheiblers Bestimmung der Unendlichkeit Gottes, die „1. in essentia […], 2. in perfectionibus […], 3. in virtute et operatione, quia non habet terminum, ultra et extra quem operari non possit, 4. […] in duratione et praesentia“ besteht (C. Scheibler, Epitome metaphysica, lib.II, disp.II, §28). 19 Gerhard, Loci theologici, ebd., §171 Th., III.122, 320: „infinitas significans Deum nec loco nec tempore nec ulla re alia finiri et mensurari per se, sed esse sua natura et essentia infinitum

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2. Adessentia: Aus der negativen Wesenseigenschaft der Unermesslichkeit folgt positiv die eminente Eigenschaft, allen Dingen an allen Orten zugleich und ganz gegenwärtig zu sein.20 Die Allpräsenz besteht nicht nur in der Allwirksamkeit virtute et efficacia, nicht nur im Allwissen visione et scientia, sondern auch in der Wesensgegenwart per totam et individuam suam essentiam.21 Gleichwohl wird der Verdacht des Spinozismus im Keim erstickt und die adessentia auf die interminabilitas rückbezogen: Gottes wesenhafte adessentia ist illokal. Gott ist an allen Orten, aber nicht lokalisiert („Deum esse in locis omnibus praesentem non locali, sed illocali praesens“22). Gott ist in allem, aber nicht eingeschlossen, außer allem, aber nicht ausgeschlossen („intra omnia, sed non inclusus, extra omnia, sed non exclusus“23), nicht extensive, wie die Luft sich überall hin erstreckt, nicht inclusive, wie die sublunarischen Körper vom Himmelsfirmament eingeschlossen sind, nicht vermischt mit den am selben Ort befindlichen Körpern, nicht zerstreut wie das ausgedehnte Meer. Sondern Gottes adessentia omnibus omnino ubi bedeutet positiv, dass Gott, das höchst einfache Wesen, das keine Teile hat, überall ganz ist („ubique totus“). Er erfüllt alle und jeden einzelnen Ort ohne Vervielfachung, ohne Ausdehnung, ohne Einschluss, ohne Teilung seines Wesens („omnia et singula loca citra essentiae suae multiplicationem, extensionem, inclusionem ac divisionem penetra[t] ac reple[t]“24). Gottes Allgegenwart ist also nicht circumscriptive und nicht definitive, sondern repletive, wie die gängige scholastische Unterscheidung lautet. Gott ist nicht lokal überall, wie die Körper vom Ort umschränkt in loco sind, er ist nicht an einem bestimmten Ubi, wie die Engel und Geister, die ————— ac immensum […] Infinitatis enim duae quasi species statuuntur: Aeternitas et immensitas. Aeternitas est talis Dei proprietas, per quam nullo tempore finiri nec principium nec finem existendi habere […] Immensitas est talis Dei proprietas, per quam nullo loci mensurari ac circumsribi […]“ 20 Einschlägige Schriftbeweise für die Ubiquität Gottes („Proba Deum ubique esse praesentem“) sind: Hi 11,8; Ps 139,7; Jes 6,3; 66,1; Jer 23,23; Act 17,27; Eph 4,6 (M. Haffenreffer, Loci theologici, lib.I, loc.I, 34). 21 Gerhard, Loci theologici, ebd., §172: „immensitas et essentialis Dei omnipraesentia ita intelligenda est, quod Deus non tantum virtute et effiacia, nec tantum visione et scientia, sed etiam tota et individua sua essentia sit omnibus rebus praesens, neque enim tantum potentia et scientia, sed etiam essentia est immensus et infinitus.“ 22 Gerhard, Loci theologici, ebd., §183 qu.3, III.133, 327, auf die Frage, ob es recht gesagt sei, dass Gott an allen Orten präsent ist. 23 Hollaz, Examen theologicum acroamaticum, ebd., qu.30, Bd.1, 355; vgl. B. Meißner, Philosophia sobria, sect.III, c.1, qu.1, 679f: „Deus ist extra cuncta; intra cuncta; supra cuncta; infra cuncta; Extra cuncta, non exclusus; intra cuncta, non inclusus; supra cuncta, non elatus; infra cuncta, non prostratus. Extra cuncta continendo, intra cuncta adimplendo, supra cuncta praesidendo, infra cuncta sustinendo.“ Die Reihung der räumlichen Paradoxe in Gegensatzpaaren erinnert an das unten I.3.5 gegebene Zitat Gregors des Großen. 24 Gerhard, Loci theologici, ebd., §171 Th., III.122, 320.

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zwar nicht lokal beschränkt, aber gleichwohl an einem bestimmten Ubi sich befinden, sondern er erfüllt alle Orte modo divino ohne die am selben Ort befindlichen Körper zu behindern, zu verdrängen oder sich mit ihnen zu vermischen. Die repletive Allgegenwart ist kraft der unbeschränkbaren immensitas der essentia divina spiritualis alles durchdringend, erfüllend und enthaltend.25 Gott, der durch keinen Ort eingeschlossen wird, schließt wegen der Unermesslichkeit seines Wesens alle Orte ein und gibt selbst dem Ort und den Dingen, die an einem Ort sind, ihr Sein. Die hier anklingende Emanationsvorstellung wird allerdings von J. Gerhard sofort zurückgewiesen. Gleichwohl ist die Allpräsenz essentialiter und effective.26 3. Omnipraesentia: Die Allgegenwart ist daher nicht nur anenergetisches Attribut der ruhenden adessentia, sondern auch der energetischen omnipraesentia. Die Omnipräsenz ist nach König Gottes substantielle Gegenwart, jedoch nicht intrinsisch den Dingen selbst als solchen innewohnend, sondern aktual und per effectus providentiae. Die operationale Wirkpräsenz Gottes ist auch Wesenspräsenz, durch die Gott immediate wirkt. Sie ist nötig, weil sich die geschaffenen Dinge nicht selbst im Sein halten können. Dennoch ist die immensitas des göttlichen Wesens nicht vollständige oder einzige Ursache der Omnipräsenz, wie Gerhard auf die entsprechende Frage erläutert, sonst würde die absolut unermessliche Wesenspräsenz den Dingen Ewigkeit verleihen. Die Omnipräsenz als wesenhafte Allwirksamkeit ist zwar den Dingen intime präsent, entspringt aber nicht allein dem Wesen, sondern auch dem freien Willen Gottes.27 Daraus folgt, dass die omnipraesentia mit der immensitas in gewisser Weise identisch ist, so führt Gerhard auf diese Frage aus, nämlich im Blick auf Gottes Wesen selbst, nicht jedoch in Bezug auf die Kreatur, da die Omnipräsenz die aktuale Präsenz der providentia, also der conservatio, des concursus divinus und der gubernatio, ist. Sie ist nicht untätig ruhend (otiosa), sondern höchst lebendige und wirksame „potentissima actio, qua DEUS omnibus creaturis praesens potentissime eas conservat et gubernat“28. Im Unterschied zur immensitas ist die omnipraesentia actualis nicht ruhendes und negatives, sondern effektives und tätiges, nicht absolutes und notwendiges, sondern freies und respektives Attribut Gottes, sie ist nicht von Ewigkeit her, sondern seit der Erschaffung ————— 25 Haffenreffer, Loci theologici, lib.I, loc.I, 34: „Quomodo vero Deus est omnipraesens? Non mole corporea per intervalla distentus: corporeus namque, non est. Sed, ut Spiritus infinitus, omnia permeans & continens, contentur a nullo.“ 26 Gerhard, Loci theologici, ebd., §172, III.122, 320: „Deus ubique praesens sit sua essentia […] effective, ut principium et causa praesto est rei quam efficit; Deus enim loco non continetur, sed ipse potius dat loco et rebus, quae sunt in loco, suum esse.“ 27 Ebd., §184 qu.4, III.134, 328. 28 Ebd., §181 qu.1, III.131, 326.

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von Zeit und Schöpfung, nicht statisch unveränderlich, sondern in verschiedenen Graden und Modi abgestuft wirksam.29 Mit der Tradition werden drei Modi und Grade der Präsenz Gottes unterschieden:30 Die praesentia generalis meint die dauernde, allgemeine und je aktual wirksame Präsenz, durch die Gott allen Kreaturen anwest, sie erhält und lenkt; die praesentia specialis zerfällt in praesentia gratiae et gloriae und meint die Präsenz, durch die Gott in seiner Gnade in diesem Leben seiner Kirche und den Gläubigen in ihren Herzen beiwohnt sowie im ewigen Leben mit seiner Herrlichkeit den Seligen anwest; die praesentia singularis meint die Einwohnung der Fülle der Gottheit in der angenommenen menschlichen Natur Christi. Die letztere Einwohnung kann nicht in mehr oder weniger quantifiziert werden und auch nicht mit den anderen verglichen werden. Sie ist schlechthin singulär. Die praesentiae generalis et specialis hingegen können nach Grad, Stärke, Dichte und Wirksamkeit der göttlichen Präsenz variieren. Sie sind quantitativ und zeitlich variabel und können von ihrem Objekt abgetrennt werden, während die christologische praesentia unabtrennbar ist. In jedem Fall aber, unabhängig von Modus und Grad, ist die Präsenz Gottes immer wesentlich und wirksam. Aus den drei göttlichen Attributen der immensitas, der adessentia und der omnipraesentia folgt zusammengefasst die dreifache Allgegenwart per essentiam, praesentiam et potentiam, wie Gerhard mit Lombardus, Thomas und dem geläufigen Merksatz sagt: „Enter praesenter Deus hic et ubique potenter.“31

1.3 Das Verhältnis zu Raumtheorie und Kosmologie 1. Gott und Raum: Abschließend erörtert Gerhard die zentrale naturphilosophische Frage nach dem Verhältnis von Gott und Raum. Es wird gefragt, ob Gott selbst ein Ort zukommt und ob und in welchem Raum er existiert.32 Um die naturphilosophische Relevanz dieser Fragestellung würdigen zu können, ist knapp die vorausgesetzte philosophische Raumtheorie darzustellen. Eine repräsentative Darstellung des barockscholastischen Raumverständnisses gibt Francesco Suarez in der 51. Disputation „De ubi“ der „Metaphysicarum disputationum“33. Innerhalb der Kategorienlehre, des pars ————— 29 Hollaz, Examen theologicum acroamaticum, ebd., qu.30, 355f. 30 Seit Petrus Lombardus, Sententiae, p.I, dist.37, c.1,2. 31 Gerhard, Loci theologici, ebd., §172, III.122, 320; vgl. Petrus Lombardus, Sententiae, p.I, dist.37, c.1,5; Thomas, STh I, qu.8, a.3 resp.; G. Biel, Collectorium circa quattuor librorum sententiarum, p.I, dist.37, qu.1, a.1 B und a.2 D; vgl. zu Thomas Kap. I.3.6. 32 Gerhard, Loci theologici, ebd., §186 qu.6, III.134f, 328. 33 Zum Folgenden vgl. W. Gent, Die Philosophie des Raumes und der Zeit, 96–100.

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specialis der Metaphysik, wird das Wo nach aristotelischem Vorbild als eine der Akzidentien des Seienden neben der Quantität, der Qualität, dem Vermögen, den Zuständen, der Relation, der Aktion/Passion, des Wann und der Lage behandelt (Disp. 40–53).34 Die aristotelische Raumdefinition des Ortes als unmittelbare, unbewegte Grenze des Umfassenden vorausgesetzt, die Suarez mit allen Scholastikern als im Grundsatz richtig unterstellt, muss zwischen dem Ort (locus) und dem Wo (ubi) unterschieden werden, und zwar wegen des Problems des Ortes der letzten Sphäre einerseits und des Wo der Geister und Gottes andererseits. Die letzte Sphäre, die ultima sphaera coelestis, ist ein realer Körper, also hat sie „eine wahre und reale Präsenz, [ein] dort, das ist ein Wo“, aber sie hat keinen Ort im aristotelischen Sinn, da kein sie umschreibender Körper existiert, wie ja auch schon Aristoteles selbst feststellte: Der Himmel ist nicht mehr in einem anderen. „Nam illud corpus habet veram et realem praesentiam ibi, ubi est, et tamen non habet aliud corpus quo circumscribitur.“35 Diese Art der Präsenz bezieht sich nicht auf die umschreibende Oberfläche und hängt nicht von ihr ab. „Hic modus praesentiae per se non requirit superficiem circumscribentem, neque ab ea pendet.“36 Daher muss mit den frühen Aristoteleskommentatoren (Theophrast) – und schon der aristotelischen Kategorienschrift – zwischen der räumlichen Ausdehnung eines Körpers, die das Volumen innerhalb seiner Oberfläche meint, und seiner Lozierung im Raum, unterschieden werden37. Ein Körper zu sein und an einem Ort zu sein, sind nicht dasselbe, beides bedingt einander nicht zwingend, wie exemplarisch B. Meißner in seiner „Philosophia sobria“ folgert: Es sei keine contradictio, zu sagen „corpus esse et in loco non esse“, im Gegenteil, nicht jeder Körper muss notwendig an einem Ort sein: „non omne corpus necessario esse in loco“38. Die Unterscheidung zwischen Räumlichkeit und Raum, zwischen dem aristotelischen Ort und der Kategorie des Wo, zwischen dem alicubi esse und dem ubi esse, ist jedoch mit ————— 34 Vgl. die gegliederte Übersicht der Loci der ähnlich strukturierten Epitome metaphysica von C. Scheibler bei R. Schröder, Johann Gerhards lutherische Christologie und die aristotelische Metaphysik, 18f. 35 F. Suarez, Metaphysicarum disputationum, tom.II, disp.LI, sect.I, XXI, 675a. 36 Ebd. 37 S.u. Kap. I.2.4. 38 Meißner, Philosophia sobria, sect.III, c.I, qu.I, 705, hierzu vgl. P. Petersen, Geschichte der aristotelischen Philosophie im protestantischen Deutschland, 163f; W. Sparn, Wiederkehr der Metaphysik, 58. Meißner hat die Unterscheidung zwischen dem Körper-sein und dem Am-Ortsein aus christologischen Gründen gegen die Calvinisten stark gemacht, um die repletive Präsenz der menschlichen Natur Christi, eines corpus also, an jedem Ort behaupten zu können, ohne ihn an einem definiten, exklusiven, umschriebenen Ort lozieren zu müssen, vgl. Meißner, ebd., 670: „humana Domini caro […] in dextra Dei sedet, est in loco, aut locatum quid, sed illocali modo.“

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Ausnahme des Ortes der letzten Sphäre für alle materiellen Körper nicht real möglich, sondern nur begrifflich. Denn innerhalb des Kosmos sind Räumlichkeit und Raum immer verbunden, da es kein Vakuum gibt und jeder Körper von einem anderen umgeben ist. Jeder Körper ist ausgedehnt und im Verhältnis zu einem Umschreibenden loziert. Das Wo wird von Suarez genauer als ein intrinsischer Raum, als spatium intrinsecum, bestimmt, der mit dem Körper selbst, genauer seiner Ausdehnung, seinem Eigen-Raum, identisch ist.39 Jedoch ist das Wo kein Gefäß, kein receptaculum locati, sondern ein intrinsischer Modus (modus intrinsecus), eine Akzidenz von Seiendem.40 Vom intrinsischen Raum, dem Wo, ist der extrinsische Ort (extrinsecus locus) unterschieden. Dieser ist mit Aristoteles als die unbewegte, enthaltende Oberfläche zu denken, wobei die Unbeweglichkeit anzeigt, dass der Ort selbst nicht körperlich-materiell gemeint ist. Um das Problem des Ortes der letzten Sphäre, die nach dieser Definition keinen realen, physikalischen Ort hat, so dass ihr Ort physikalisch undefinierbar ist, zu lösen, muss der Begriff (!) des imaginären Raumes (spatium imaginarium) eingeführt werden. Der imaginäre Raum ist ein gedachter, leerer Raum, der sich auch außerhalb der Welt erstreckt, aber er ist nicht real, denn „extra hunc mundum nihil est, nam spatium imaginarium non est, sed imaginatione fingitur“41. Der imaginäre Raum ist jedoch denknotwendig, da sonst nicht von der Bewegung der letzten Sphäre und des Weltganzen die Rede sein könnte. Er entspricht funktional dem atomistischen und stoischen keßnon, ist aber nicht real, sondern besteht aus geometrischen Punkten, Linien und Flächen.42 Der imaginäre Raum entspricht funktional dem späteren newtonschen absoluten Raum: ein absolutes Koordinatensystem, welches die Möglichkeit der Lozierung der Körper im Raum und der Relationierung relativ zueinander ermöglicht. Der physikalische Ortsbegriff, der locus extrinsecus, meint bei Suarez und Meißner wie später bei Leibniz nicht den absoluten Ort an sich, sondern die reale Beziehung der Körper zueinander, also die relative Lage und Koordination oder den newtonschen relativen Raum („locum non esse ens quoddam absolutum, […] sed extensivam situationem corporis, relatam ad aliud corpus vicinum“43). Der absolute Raum ist zusammengefasst zwar nicht real, aber ein notwendiger Begriff (ens ratione). Auch das Ubi als intrinsischer Raum ist kein selbständig Seiendes, sondern ein Modus, eine Akzidentie des Kör————— 39 Vgl. C. Scheibler, Liber de Philosophia, tract.II, c.XIII, 423: „Ubi est accidens secundum quod Ens creatum dicitur esse praesens suo spatio.“ 40 Suarez, Metaphysicarum disputationum, ebd., sect.II, IV, 676b. 41 Ebd., tom.II, disp.XXX, sect.VII, XXVIII, 72a. 42 Ebd., tom.II, disp.LI, sect.II, VI, 677a. 43 Meißner, Philosophia sobria, sect.III, c.1, qu.1, 707.

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pers. Der extrinsische Ort bezieht die physikalische Realität ebenfalls von der Kontinuität der materiellen Körper. Daher gibt es keinen metaphysischen selbständigen Raum neben den Körpern, nur einen mathematischen, gedachten absoluten Raum. Folglich gibt es aber auch keine realen absoluten Örter. Die aristotelische Raumtheorie, die konsequent durchgedacht die Unterscheidung zwischen den drei Raumbegriffen, dem spatium imaginarium, dem Ubi als spatium intrinsecum und dem Ort als locus extrinsecus, erzwingt, führt ebenso notwendig zur Aufgabe der Theorie der absoluten Örter, da der Kosmos als Ganzer nur intern, nicht extern eine absolute Orientierung hat. Oben und unten sind Relationsbegriffe. Nur metaphorisch, wie Suarez sagt, d.h. unter der Voraussetzung einer Orientiertheit des ganzen Kosmos, gibt es absolute Örter. Dann kann man auch sagen, dass Gott und die Engel sich an einem „Ort“ befinden: „Angelos esse in loco metaphorice“44. Dieser locus metaphorice der geistigen Wesen ist kein locus extrinsecus, kein physikalischer Ort, wohl aber ein Ubi. Wenn Körper-Sein und Am-Ort-Sein nicht identisch dasselbe sind, können körperliche geistige Wesen wie Engel an mehreren Orten gleichzeitig sein und dennoch ein definiertes Ubi, ein Ubi definitive, haben. Entsprechend kommt dem unkörperlichen, unendlichen Gott zwar kein fixierter Ort zu, wohl aber ein unendliches, alles umfassendes und durchdringendes repletives Ubi. 2. Diese Raumtheorie war gemeine Überzeugung des 17. Jahrhunderts, wie ein Blick in die gebräuchlichen Physiklehrbücher des reformierten Johann Heinrich Alsted, das Compendium Physicae von 1610, und des lutherischen Jacob Thomasius, die Philosophia instrumentalis et theoretica von 1705, zeigt. Alsted unterscheidet im Kapitel 6 „De loco“ zwischen dem locus internus und dem locus externus. Der externe Ort wird mit Aristoteles45 als Kontinuum (ubi continuatum) und als Grenze des lozierten Körpers („locus externus est terminus corporis locati“46) bestimmt, jedoch nicht als die externe, den Körper umgebende Oberfläche, sondern als das, innerhalb dem die Oberfläche enthalten ist („locus non est exterioris corporis ambiens superficies sed id quod intra eam superficiem continetur“47). Der interne Ort ist der Ort des Körpers, durch den er Körper ist („internus locus est corporis, qua corpus est“48), also das Volumen. Er wird gegen Aristoteles bewiesen daraus, dass der Himmel ein quantitativ ausgedehnter Körper ist und also wie jeder Körper einen Ort braucht. Da er keinen externen Ort hat, hat ————— 44 45 46 47 48

Suarez, Metaphysicarum disputationum, ebd., sect.IV, XXIV, 687a. Zu Aristoteles’ Raumtheorie ausführlich vgl. I.2.3. J.H. Alsted, Compendium Physicae, c.6, 34. Ebd., 35. Ebd., 33.

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er zwingend einen internen. Ebenso war die ungestaltete, unabgegrenzte Materie des ersten Schöpfungstages in loco, aber nicht an einem externen Ort, da sie solitarium war. Mit der Tradition unterscheidet Thomasius die drei Weisen, an einem Ort zu sein (esse in loco), die repletive, definitive und circumscriptive Weise. Die circumscriptive Weise ist die physikalische, in der nicht von Gott oder den Engeln, sondern von Körpern mit quantitativem Maß gehandelt wird. Ein physikalischer Ort ist entweder ein locus internus oder ein externus. Der interne Ort meint die Quantität, also das Volumen des lozierten Körpers, der externe seine Oberfläche. Ein externer Ort – die aristotelische Definition (die innere Oberfläche des umgebenden Körpers) ist hier zu Lehrbuchzwecken aufs Äußerste simplifiziert („Oberfläche“), wird aber in qu. 52 des cap. 8 wörtlich nachgereicht – kommt allen sublunarischen und stellaren beweglichen Körpern zu, der allgemeinste externe Ort (locus communissimus) ist der die sublunarischen Körper enthaltende, also die konkave Mondsphäre.49 Das definitive esse in loco der Engel und Seelen bedeutet, ganz an einem ganzen Ort und ganz in jedem beliebigen Teil des Ortes zu sein. Die repletive Räumlichkeit, das repletive esse in loco (weniger genau als bei Suarez wird hier nicht begrifflich zwischen ubi und locus unterschieden), das Gott allein zukommt, bedeutet, so an einem Ort zu sein, dass er zugleich an allen anderen Orten ist („ita esse in uno loco, ut simul sit in caeteris locis omnibus“), ohne von einem oder allen eingeschlossen oder enthalten zu sein, sondern vielmehr innerhalb und außerhalb aller Orte („intra loca omnia et extra“50). 3. Der Ort Gottes: Diese naturphilosophischen Überlegungen im Hintergrund kann nun die Frage nach dem Ort Gottes wieder aufgenommen werden, die Johann Gerhard als eine seiner topischen Fragen in der sectio VIII „De Dei immensitate“ des cap. VII „De attributis Divinis in genere“ des zweiten Locus aufwirft: „An recte dicitatur Deus realiter exsistere extra mundum in spatio imaginario?“51 Aufgrund der Unkörperlichkeit und schlechthin einfachen Geistigkeit hat Gott weder einen konkreten, noch einen metaphysischen, noch einen imaginären Ort. Würde er an einem Ort oder in einem Raum existieren, so wäre dieser entweder geschaffen oder ungeschaffen, entweder substantiell oder akzidentiell, entweder real oder imaginär. Bei allen drei Alternativen sind jeweils beide Möglichkeiten ausgeschlossen: Wäre der Raum Gottes ————— 49 50 51

J. Thomasius, Philosophia instrumentalis et theoretica, c.8, qu.5; 24–28; 36f; 49f; 52. Ebd., qu.6–9. Gerhard, Loci theologici, ebd., §186 qu.6, III.134f, 328.

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geschaffen, so wäre der ungeschaffene Gott von einem Geschöpf enthalten. Wäre er ungeschaffen, wäre etwas anderes außer Gott ungeschaffen. Beides ist ausgeschlossen. Wäre dieser Raum substantiell, dann entweder körperlich oder unkörperlich. Eine körperliche Substanz kann es nicht sein, weil diese kein Ort, sondern ein lokalisierter Gegenstand wäre, eine unkörperliche aber auch nicht, weil Raum (nach Aristoteles) das Umfassende eines Körpers ist, Gott aber unkörperlich. Akzidentiell kann dieser Raum auch nicht sein, sonst wäre Gott eine Akzidenz inhärent, die ihn umschreibt und enthält. Existiert Gott dann in einem imaginären Raum extra mundum oder extra coelorum? Nein, ein Ort kommt Gott nur improprie et metaphorice zu. Er existiert genauso in mundo wie extra mundo, genauso in coelo supremo, wie in oder sub coelo. Gerhard wendet sich gegen die Annahme eines imaginären Raumes außerhalb aller kosmologischen Räume. Wenn die Himmel der Himmel Gott nicht fassen können, so folgt daraus nicht, dass es ein außerhalb der Himmel gibt, sondern nur, dass Gott eine alles überragende Größe hat. Radicaliter sei zwar richtig gesagt, dass Gott „außer“ oder „über“ allem existiert, da sein Wesen „höher“ (excelsior) als alles Seiende ist. Relative jedoch, in Bezug auf die Kreaturen, ist Gott nicht extra, sondern in mundo. In der Welt ist Gott präsent durch sein unermessliches Wesen und durch seine wirksame Erhaltungstätigkeit, außerhalb der Welt nur durch sein Wesen, nicht durch die Omnipräsenz. Die immensitas erstreckt sich daher jenseits der Welt und des höchsten Himmels ins Unendliche,52 aber nicht in einem imaginären leeren Raum, sondern in Gott selbst. Gerhard löst das Problem des Raumes und Ortes Gottes durch die von Suarez und Meißner her geläufige naturphilosophische Unterscheidung zwischen der internen und externen Weise, wie etwas an einem Ort und in einem Raum sein kann. Eines ist die intrinsische und absolute Präsenz, nach der eine Sache ihren Ort in sich selbst hat („intrinseca et absoluta praesentia, quam res ibi habet in se“), ein anderes der Bezug auf einen Raum, in oder an dem es ist („alterum est habitudo seu relatio ad ipsum spatium, in quo est“53). Nur im ersten Sinn, im Bezug auf sich selbst, nicht aber im zweiten, auf einen realen Raum bezogenen Sinn, kann gesagt werden, dass Gott realiter in einem „Raum“ außerhalb der Welt existiert. In diesem absoluten Sinn existiert Gott wie schon vor Gründung der Welt in sich selbst. Er ist sich selbst Welt, Ort und alles. Absolut ist Gott nicht räumlich an einem Ort oder in einem Raum, weder „in“ noch „außerhalb“ der Welt, denn er hat seinen Ort und Raum in sich selbst, ja er ist sein eigener Raum und Ort. ————— 52 Hollaz, Examen theologicum acroamaticum, ebd., qu.30, 356: „Immensitas ultra mundum, ultra supremum coelum & in infinitum sese porrigit.“ 53 Gerhard, Loci theologici, ebd., III.135, 328, mit zustimmendem Zitat von Becanus.

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Insofern existiert Gott in seinem Raum, der er selbst ist („est in se ipso, ipse sibi et mundus et locus et omnia“54). Er erhält seine Räumlichkeit jedoch nicht durch den Raum, in dem er existiert, sondern durch seine intrinsische Präsenz in sich. 4. Das coelum Dei majestaticum, die ewige, ungeschaffene, unendliche Majestät und Glorie, die Gott seit Ewigkeit in sich trägt, ist, so nimmt Hollaz den Faden auf, kein locus, sondern Gott selbst: „Ante omnia Deus erat solus ipse sibi et mundus et locus.“55 Selbst das coelum angelorum, animarum et beatorum, das von den Heiden (den Neuplatonikern) Empyreum (Feuerhimmel)56 genannt wird, ist kein „determinatus locus supra coelum sidereum“57. Denn die geistigen Wesen sind nicht an einem Ort, sondern an einem Ubi definitivum, „non sunt in loco, sed in ubi definitivo.“58 Dieses ist zwar ein bestimmte Wo, ein certum pouq, aber kein selbständiges Seiendes, kein ens, sondern ein modus entis. Das definitive Ubi der Engel und Seelen ist zwar im Unterschied zum repletiven Ubi Gottes geschaffen mit den Engeln, es hat aber keinen räumlich-körperlichen Ort. Denn gegen die Scholastiker wurde nicht am ersten Tag das Empyreum geschaffen, dem dann am zweiten Tag der ätherische und der sublunarische aerische Himmel eingeschrieben wurden. Der Himmel des ersten Schöpfungstages differiert nicht substantiell von dem des zweiten, es gibt keinen kosmologisch lokalisierbaren Himmelsort der Engel. Sondern die Differenz zwischen dem coelum naturae und dem coelum gratiae et gloriae besteht nicht bezüglich der Lage oder des Ortes, sondern bezüglich des Status („non ratione situs aut loci, sed ratione status“59). Die Unterscheidung zwischen Ubi und Locus ermöglichte die Aufgabe der Annahme nichtphysikalischer kosmologischer Örter. Obwohl die Luthe————— 54 Ebd., der Schluss ist Zitat von Tertullian, Adversus Praxean, c.5, MPL 2, 160A = CSEL 47, 233, der auf den Zustand vor der Schöpfung rekurriert: „Ante omnia enim Deus erat solus, ipse sibi et mundus et locus et omnia, solus autem, quia nihil aliud extrinsecus praeter illum.“ 55 Hollaz, Examen theologicum acroamaticum, p.I, c.III, qu.17, Bd. 1, 530. 56 Die Bezeichnung Empyreum wurde von Porphyrius für den ätherischen Himmel der Engel und Geister verwendet (Augustin, De civitate Dei X,9, MPL 41, 287 = CSEL 40/1, 461,14), nachdem schon Plotin im Anschluss an die Stoa und gegen Aristoteles’ Annahme einer quinta essentia als Element des Himmels reinstes Feuer angenommen und dieses mit dem reinsten Licht gleichgesetzt hatte (Enneaden II,1, 2–4.7–8, bes. 7,58 = Schriften IVa, 80,33f). Wirkungsgeschichtlich bedeutsam übernahm Petrus Lombardus im Anschluss an eine Bemerkung Strabus’ zu Gen 1,1 das coelum empyreum für den dritten Himmel oberhalb des sichtbaren und des kristallinen Fixstern-Himmels in die christliche Tradition (Sententiae, lib.II, dist.II, c.V, 340,1–4: „Caelum non visibile firmamentum, sed empyreum, id est igneum vel intellectuale, quod non ab ardore, sed a splendore dicitur, quod statim factum, repletum est angelis.“) 57 Hollaz, Examen theologicum acroamaticum, ebd., Bd. 1, 531. 58 Ebd., 532. 59 Ebd.

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raner bis zum Anfang des 18. Jahrhunderts vornehmlich aus physikalischen Gründen das kopernikanische System ablehnten, hatten sie längst die naturphilosophische Voraussetzung dafür übernommen, dass die Unendlichwerdung des Kosmos im 18. Jahrhundert kein Schlag gegen die Vorstellung der räumlichen Allgegenwart Gottes darstellte, sondern als ein Ubi von der Lozierung an einem kosmologischen Ort völlig unabhängig war.60

1.4 Exkurs: Das geozentrische Weltbild61 Das heliozentrische System des Kopernikus von 154362 setzte sich nur sehr zögerlich gegen das geozentrische durch.63 Bis 1600 gab es gerade eine Handvoll Kopernikaner (J. Rheticus, M. Maestlin, J. Kepler, G. Galilei), bis zum Ende des 17. Jh. wurde das geozentrische Modell als astronomisch völlig gleichwertig diskutiert, erst ab 1760 war der Kopernikanismus unangefochten.64 Empirisch unwiderlegbar war er erst mit dem Nachweis der Fixsternparallaxe durch Bessel 1838.65 Das geozentrische Weltbild wurde der frühen Neuzeit seit Thomas v. Aquin als christlicher Aristotelismus, d.h. als Verbund ptolemäischer Kosmologie, aristotelischer Physik, scholastischer Metaphysik und christlicher Theologie, angereichert um neuplatonische, stoische und hermetische Elemente, überliefert, der seine grandiose Geschlossenheit, Autorität und Stabilität erklärt.66 Sinnenfälligen Ausdruck fand es in zahlreichen (meist auf das konzentrische Sphärenmodell des Eudoxos reduzierten) Kosmographien des 15./16. Jh. (Riesenfresko von P. di Puccio da Ornieto auf dem Campo de Fiori in Pisa von 1390; Darstellung des siebten Schöpfungstages von M. Wolgemut in H. Schedels Liber Chronicarum von 149367); in den StandardLehrbüchern der Physik und Astronomie wird es übereinstimmend erläutert und begründet.68

————— 60 Zum unräumlichen Himmelsverständnis schon von Luther und Brenz s.u. ausführlich I.7.2f; I.7.5f. 61 Hier ein Auszug meines Artikels Geozentrisches Weltbild in der Enzyklopädie der Neuzeit (EdN), weitere Information in meinen Artikeln Astronomy/Astrology, Enyklopedia of the Bible and its Reception; Heliozentrisches Weltbild, EdN; Naturwissenschaft und Religion, EdN; Theologie und Naturwissenschaft, EdN. 62 N. Copernicus, De revolutionibus orbium coelestium, 1543. 63 Vgl. E. Zinner, Entstehung und Ausbreitung der copernikanischen Lehre. 64 Z.B. P.S. de Laplace, Exposition du système du monde, 1796. 65 Vgl. J. Teichmann, Wandel des Weltbildes. Astronomie, Physik und Messtechnik in der Kulturgeschichte, 113–124. 66 Vgl. N.M. Wildiers, Weltbild und Theologie, 60–146. 67 H. Schedel, Liber Chronicarum, 1493, Bl. V v.; ähnlich S. Münster, Cosmographia oder Entwurf der gantzen Welt, 1544; P. Apian, Cosmographia, 1574, zw. Bl. 3v. u. 4r. 68 Johannes de Sacrobosco, Liber de Sphaera, 1250, ed. Melanchthon 1531; G. Peuerbach, Theoricae novae planetarum, 1455, ed. Melanchthon 1535, ed. E. Reinhold 1542; G. Peuerbach/ J. Müller Regiomontanus, Epitomae in Ptolemaei Almagestum, 1474; C. Clavius, In sphaeram Ioannis de Sacro Bosco, 1535; P. Apian, Astronomicum Caesareum, 1540; Ph. Melanchthon, Initia Doctrina Physicae, 1549.

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In mundi medio und daher (nahe) in centrum mundi befindet sich die unbewegte Erde, umgeben von sieben kristallinen Planetensphären, dem firmamentum der Fixsterne, einem coelum cristallinum zum Ausgleich der Fixsternpräzession um den Himmelsnordpol, der zehnten Sphäre des primum mobile, sowie umschlossen vom nichtweltlichen, imaginären Raum des (neuplatonischen) coelum empyreum, dem habitaculum Dei et omnium electorum. Die vollkommene, geordnete Harmonie des Kosmos spiegelt den gegliederten ordo des Seins, den der unräumliche, unendliche Gott in seiner Weisheit, Güte und Providenz als primum movens mittels den causae secundae, den supralunaren Sphären und den sublunaren vier Elementen, bewegt, regiert und im Sein erhält. Das räumlich und zeitlich endliche, geozentrische „Welthaus“ – die Ausdehnung wird mit 20000 Erdradien von 5400 deutschen Meilen, sein (biblisches) Alter mit 5500 Jahren angegeben69 – ist zugleich kosmologisch, ontologisch und teleologisch anthropozentrisch. Die in der Erde zentrierte Welt ist die gemäß der stoisch-christlichen Providenzlehre auf den Menschen und zu seinem Nutzen hin geschaffene Welt.70 Da die kinematische Gleichwertigkeit der geozentrischen mit der heliozentrischen Astronomie seit N.v. Oresme und früher bekannt war (so auch Luthers Kommentar zu Kopernikus71), so dass in den lutherischen (und bis zum Fall Galilei auch in den katholischen) Territorien aufgrund des Vorwortes von A. Osiander Kopernikus als Hypothese, d.h. als mathematisches Modell mit Wahrscheinlichkeits- (verisimilis et commune vera), nicht als physikalisches mit Realitätsanspruch (universaliter vera), zum Zwecke der astronomischen und astrologischen Berechnungen von Sternkonstellationen problemlos verwendet und die empirische, neue Astronomie in Wittenberg und Altdorf also nicht nur nicht verhindert, sondern ausdrücklich gefördert wurde.72 Dennoch blieb das geozentrische System vornehmlich aus astronomisch-physikalischen Gründen weiter in Geltung. Die Erde muss nach Aristoteles unbewegt sein, weil die Kreisbewegung der Himmelskörper ein ruhendes Zentrum erfordert und weil aufgrund der Physik der natürlichen Örter sublunarische Körper zum Weltzentrum streben, das mit dem Erdmittelpunkt (nahezu) identisch sein muss, da sie, vertikal geworfen, zum Ausgangspunkt zurückkehren. Eine bewegte Erde würde, da keine Fixsternparallaxe gemessen wurde, einen unermesslichen Abstand zwischen Saturn und Fixsternsphäre erfordern, der mit

————— 69 Vgl. Melanchthon, Initia Doctrina Physicae, CR XIII, 221. 70 Vgl. U. Beuttler, „Denn Zweck der Welt ist der Mensch“. 71 „Es ward gedacht eines neuen Astrologi, der wollte beweisen, dass die Erde bewegt würde und umginge, nicht der Himmel oder das Firmament, Sonne und Monde; gleich als wenn einer auf einem Wagen oder in einem Schiffe sitzt und bewegt wird, meinete, er saße still und ruhete, das Erdreich aber und die Bäume gingen um und bewegten sich. […] Der Narr will die ganze Kunst Astronomie umkehren. Aber wie die heilige Schrift anzeiget, so hieß Josua die Sonne still stehen und nicht das Erdreich“ (WA TR 1, 419; eine lat. Fassung, datiert auf den 4.6.1539, TR 4, 412); dazu vgl. Elert, Morphologie des Luthertums I, 371f; H. Bornkamm, Kopernikus im Urteil der Reformatoren; D. Wattenberg, Martin Luther und die Astronomie; W. Maaser, Luther und die Naturwissenschaften – systematische Aspekte an ausgewählten Beispielen. 72 E. Reinhold, Prutenicae Tabulae coelestium motuum, 1551; K. Peucer, Elementa doctrinae de circulis coelestibus et primo motu, 1551, beide Wittenberg, dazu J. Praetorius, Altdorf.

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unvorstellbarer Äthermenge gefüllt sein müsste, da der „horror vacui“ einen leeren Raum vor O. v. Guericke (1653) nicht erlaubte. Neben die argumenta physica traten, eher bestätigend, das Argument aus dem Augenschein und natürlich das argumentum ex scripturis sacris für das Ruhen der Erde resp. die Bewegung der Sonne und die raumzeitliche Endlichkeit der Welt (Jos 4,12; Ps 19,5; 104,5; Pred 1,4f).73 Diese Argumente für das geozentrische System wurden auch von Tycho de Brahe trotz seiner Beobachtung, dass die Himmel nicht unveränderlich (Nova Stella 1572, vermutlich ein Supernova-Ausbruch) und die Sphären nicht starr sind, da er den Kometen von 1576 gegen die tradierte stoische sublunare Verortung supralunar beobachtete, und mit kirchlicher und philosophischer Autorität gegen Galilei festgehalten. Dessen Beobachtung der Venusphasen und der Jupitermonde waren auch mit dem geozentrischen tychonischen oder semi-tychonischen Modell verträglich, das darum im 17. Jh. von den jesuitischen Astronomen74 und den lutherischen Theologen75 favorisiert wurde. Auch als mit Newton die Äquivalenz von himmlischer und irdischer Physik erwiesen war,76 blieb das endliche geozentrische Weltbild und die Unterscheidung von Himmel und Erde noch ins 18. Jh. wirksam. Die barocken Deckengemälde zeigen als Himmel keineswegs das unendliche Universum, sondern den sublunaren, bewölkten Bereich,77 während das coelum empyreum unsichtbar blieb, unabhängig davon, ob es mit den Scholastikern (Suarez) und Calvinisten weiterhin im plus ultra jenseits des primum mobile lokalisiert oder mit den Lutheranern unräumlich verstanden (J. Brenz, Ph. Nicolai) bzw. spiritualisiert wurde (V. Weigel).

1.5 Essentiell-operative Allgegenwart und die Ursachenlehre Zum genaueren Verständnis der altprotestantischen Lehre von der Allgegenwart Gottes ist im Folgenden das Verhältnis Gottes zum Raum zusammenzufassen (1.) sowie noch detailliert das Verhältnis zur Ursachen- (2.–3.) und Vorsehungslehre (1.6) zu betrachten.

1. Die Unterscheidung zwischen immensitas, adessentia und omnipraesentia bedeutet vor dem Hintergrund der Unterscheidung zwischen unendlichem Wesen, ruhenden und wirkenden Attributen eine dreifache Relationierung von Gott und Raum. ————— 73 Melanchthon, Initia Doctrina Physicae, CR XIII, 216f; vgl. auch H. Blumenberg, Melanchthons Einspruch gegen Kopernikus. 74 P. Gassendi, Institutio astronomica, 1647; G. Riccioli, Almagestum novum, 1651; A. Kircher, Itinerarium exstaticum quo mundi opificium, 1656; ders., Iter exstaticum, 1660. 75 J. Thomasius, Philosophia instrumentalis et theoretica, 1705; D. Hollaz, Examen theologicum acroamaticum, 1707, 540; F. Budde, Elementa philosophicae theoreticae, 1724, 226f. 76 I. Newton, Philosophiae naturalis principia mathematica, 1687. 77 Vgl. B.W. Lindemann, Bilder vom Himmel. Studien zur Deckenmalerei des 17. u. 18. Jh.

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Das negative Attribut der Unermesslichkeit meint die reine Selbstbeziehung Gottes, die als solche völlig frei von jeder Raumbeziehung ist. Die unendliche Unermesslichkeit Gottes erstreckt sich nicht in einem Raum „neben“ oder „außer“ Gott – weder in einem logischen, imaginären oder extensiven Raum –, sondern intrinsisch rein im (unendlichen) Wesen Gottes selbst. Davon unterschieden78 meint die generelle, statisch-ruhende Adessenz die Beziehung Gottes zum intramundanen Raum, durch die er, ohne von irgendeinem Ort begrenzt oder umschrieben zu werden, alle Räumlichkeit im Ganzen und im Einzelnen ohne Vervielfältigung, Ausdehung, Einfaltung oder Teilung seiner Essenz wesentlich durchdringt und erfüllt. Diese repletive Allgegenwart ist die Voraussetzung für die dynamische Allgegenwart, die eine schöpferische, erhaltende und lenkende Wirkbeziehung zu den Dingen im Raum meint. Die Adessenz wird zur Omnipräsenz durch einen Akt, durch eine actio Dei efficax. Durch einen freien Willensakt wird die ruhende zur operativen und effektiven Allgegenwart. Die Adessenz ist relativ zum Raum, ohne selbst räumlich zu sein und als solche die Potenz des göttlichen Wesens, nach seinem Willen in operativen Akten im Raum und in den Dingen im Raum tätig zu werden, und zwar einerseits immediate, d.h. substantialiter und essentialiter, und andererseits mediatione virtutis, d.h. durch eine über Kräfte als Zweitursachen vermittelte operatio efficax. Durch diese dreifache Relationierung wird sowohl die Unterscheidung als auch die Zuordnung von Gott und Raum bzw. den Dingen im Raum ausgedrückt, sowie unter Abwehr aller möglichen Formen des Pantheismus positiv die conservatio, der concursus und die gubernatio aller räumlichen Dinge durch den raumlos im Raum allpräsenten Gott denkbar gemacht. Die Gotteslehre ist über die Eigenschaft der Allgegenwart auf die Providenzlehre bezogen und ausgerichtet, d.h. Gott als wesenhaft auf die Welt bezogen gedacht. Obwohl das Lehrstück innerhalb der metaphysischen, absoluten Attributenlehre entwickelt wird, ist es doch so angelegt, dass es in der Providenzlehre und auch in der Soteriologie schöpfungstheologisch, christologisch und pneumatologisch wieder aufgenommen werden kann. Kurz gesagt: Die Allgegenwart ist wie die ganze metaphysische Gotteslehre schon im Ansatz trinitarisch angelegt und auf die opera ad extra ausgerichtet.79 Die Ausrichtung der Allgegenwart Gottes als wesenhafte und wirksame Weltgegenwart verhindert, dass die raumlose Unendlichkeit zur schlecht————— 78 Die Lutheraner haben aus christologischen Gründen gegen die Calvinisten und die Jesuiten für die klare Unterscheidung zwischen infinitas bzw. immensitas einerseits und adessentia bzw. omnipraesentia andererseits plädiert, da sonst im Umkehrschluss folgte, dass Christus „secundum humanam naturam non esse omnipraesentem, quia humana natura non est infinita vel immensa“ (Gerhard, Loci theologici, ebd., §182 qu.2, III.131, gegen Polanus und Becanus). 79 Vgl. Ratschow, Die lutherische Dogmatik, Bd. II, 59f.

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hinnigen Transzendenz, zum schlechthinnigen Nirgendwo, d.h. zum pantheistischen Nihil wird. Die raumlose Unendlichkeit hingegen verhindert umgekehrt, dass die wesenhafte und wirksame Weltgegenwart selbst räumlich, also zum Deus sive natura extensa würde. Die Unterscheidung zwischen anenergetischer und energetischer Allgegenwart schließlich verhindert, dass die essentiale Präsenz göttliches Sein verleihen würde, und sie verhindert, dass die operative Präsenz bloß die vermittelte Kraftentfaltung über die causae secundae und nicht auch die operatio immediata der causa prima meinte. Die operative Präsenz ist immer auch essentiell und die essentielle je und je nach dem freien Willen Gottes operativ. „Potentia, qua Deus in omnibus operatur, est ipsa eius essentia, ac Deus agit in res creatas immediatione virtutis et suppositi.“80 Die Koinzidenz von essentialer und operationaler Weltgegenwart Gottes ermöglicht es, die conservatio und den concursus divinus sowohl generell, als auch aktual, sowohl vermittelt als auch unvermittelt, sowohl notwendig als auch kontingent zu denken. Um die Tragweite der eben gegebenen Unterscheidungen würdigen zu können, muss wenigstens knapp auf die vorausgesetzte aristotelischscholastische Bewegungs-, Ursachen- und Konkurs-Lehre sowie auf die Entwicklung der Providenzlehre innerhalb der altprotestantischen Orthodoxie eingegangen werden. 2. Der Grundsatz der aristotelischen Bewegungslehre, der für die ganze mittelalterliche und frühneuzeitliche Physik maßgebend blieb, lautet: „Omne, quod movetur, ab alio movetur.“81 „Alles, was in Bewegung ist, wird von etwas in Bewegung gesetzt (paqn to? kinoußmenon kinhßsetai uÖpoß tinow).“82 In Bewegung versetzt werden – Bewegung ist in umfassenden Sinn der Veränderung des Ortes, der Quantität, der Qualität, der Eigen————— 80 Gerhard, Loci theologici, ebd., §184, III.134, 328. 81 Z.B. Thomas v. Aquin, STh. I, qu.3, a.3, resp.; Melanchthon, Initia Doctrina Physicae, CR XIII, 372. 82 Aristoteles, Physik VII, 242a, 37f, vgl. Physik VIII, 256a, 37f. Während Aristoteles unter dem Natürlichen das bewegte Sich-bewegende verstand und im Unterschied zu den bloß passiv bewegten Artefakten aktives und erleidendes Bewegen der Natur gleichermaßen bedachte, betonte die christliche Theologie stärker die Passivität der Bewegung, um die Selbstursächlichkeit und Selbsterhaltung der natürlich-kreatürlichen Bewegung und insbesondere die Ewigkeit der Bewegung und der Welt zu verhindern. Zur aristotelischen Bewegungslehre vgl. W. Wieland, Die aristotelische Physik, 231–253, zur protestantisch-theologischen Rezeption der aristotelischen Physik vgl. Petersen, Geschichte der aristotelischen Philosophie im protestantischen Deutschlang, 74–80;147–166; 241–248, speziell bei Melanchthon auch Hirsch, Geschichte der neuern evangelischen Theologie, Bd. I, 117–123; E. Rudolph, Zeit und Gott bei Aristoteles aus der Perspektive der protestantischen Wirkungsgeschichte, 169–191; Link, Schöpfung, Bd. 1, 94–100; W. Sparn, Die Welt als Natur und Geschichte; G. Frank/S. Rhein, Melanchthon und die Naturwissenschaften seiner Zeit.

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schaft, des Zustandes, der Gestalt etc. gemeint83 –, kann etwas unmittelbar oder mittelbar. Das mittelbare In-Bewegung-Versetzen geschieht entweder durch Kraft, also durch Druck oder Stoß, oder durch ein Medium, wie das Feuer das Wasser im Topf vermittels des Gefäßes erwärmt. In beiden Fällen, mediatione virtutis et suppositi, ist ein Übertragendes „zwischen“ Ursache und Wirkung. Bei der unmittelbaren Bewegung hingegen liegt nichts zwischen Bewegendem und Bewegtem. „Das unmittelbar In-BewegungSetzende […] ist an gleicher Stelle wie das, was bewegt wird, – mit ‚an gleicher Stelle‘ meine ich, dass nichts zwischen ihnen liegt (ouöden eöstin auötvqn metacuß).“84 Unmittelbar bewegt werden kann etwas durch sich selbst, dann ist es ein Selbstbewegendes (wie insbesondere die Seele), oder durch ein erstes Bewegendes (prvqton kinouqn), das wiederum ein Weswegen oder ein Vonwoher, d.h. eine Final- oder eine Kausalursache sein kann. Ein Beispiel für Letzteres ist das Feuer, das unmittelbar auf den Topf wirkt, den es mit seiner Flamme umschließt. J. Gerhard versteht im oben zuletzt gegebenen Zitat Gottes Wirken unmittelbar, und zwar ohne Vermittlung anderer Kräfte und ohne Vermittlung anderer Supposita oder Kausalgrößen („immediatione virtutis et suppositi“85). Zwischen Gott als dem unmittelbar Bewegenden und dem Bewegten befindet sich kein räumliches, energetisches oder mediales „Zwischen“. Gott als die prima causa wirkt unmittelbar, aber nicht gegen die natürlichen Ursachen, sondern gleichzeitig mit ihnen, den Effekt. 3. Concursus divinus immediate: Darin folgt Gerhard (wie auch nach ihm Calov, König, Quenstedt, Hollaz, Budde u.a.) der scholastischen Ursachenund Konkurs-Lehre des F. Suarez, der die 22. Disputation seiner „Metaphysicarum disputationum“ unter die Frage stellte: „De prima causa, et alia eius actione, quae est cooperatio, seu concursus cum causis secundis.“ Suarez entwickelte seine „kongruistische Akkomodationstheorie“ gegen die bloß mediate concursus-Lehre von J.P. Olivi (1248–98) und Durandus de S. Porciano (†1334).86 Diese hatten im Widerspruch gegen das aristotelische Bewegungsaxiom „Omne, quod movetur, ab alio movetur“ das geschöpfli————— 83 Aristoteles kennt drei Formen der Veränderung: die Veränderungen hinsichtlich des Ortes, der Qualität und der Quantität, die sich durch Anwendung des Schemas von Tun und Erleiden in sechs Arten differenzieren: die Bewegungsarten des Entstehens und Vergehens, des Wachsens und Schwindens, des qualitativen und des örtlichen Anderswerdens, vgl. Wieland, Die aristotelische Physik, 247f. 84 Aristoteles, Physik, VII, 243a, 34. 85 Gerhard, Loci theologici, ebd. §184, III.134, 328. 86 Vgl. B. Jansen, Olivi, der älteste Vertreter des heutigen Bewegungsbegriffs; J. Stufler, Die Konkurslehre des Petrus Olivi; P.J. Kaup, Zur Konkurslehre des P. Olivi und des hl. Bonaventura; E.J. Dijksterhuis, Die Mechanisierung des Weltbilds, 199–203; M. Plathow, Das Problem des concursus divinus, 31–36.

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che Eigenwirken betont und eine Art Vorform der nominalistischen Impetus-Theorien des 14. Jahrhunderts (J. Buridanus, N.v. Oresme)87 ausgebildet, nach der den Körpern mit dem Anstoß der Bewegung eine Kraft eingeprägt wird (vis impressa oder impetus), die dem sich bewegenden Körper inhärent ist und die Bewegung selbsttätig steuert – ein Vorläufer des newtonschen Trägheitsgesetzes und Impulserhaltungssatzes. Das Verhältnis Gottes als Erstursache zu den Zweitursachen wird dementsprechend nur essentiell, nicht aber operational gesehen. Das mediate concursus-Verständnis besagt, „dass Gott die geschöpflichen Kausalgrößen ins Sein setzt und erhält, sie aber selbst eigentätig die Handlungen hervorbringen.“88 Gott gibt als „principium remotum“ lediglich die Möglichkeit zur Bewegung und zu Handlungen der causae secundae und wirkt nur mediate, durch die Zweitursachen, nicht aber durch Krafteinwirkung von außen auf sie noch durch Mitwirkung in ihnen. Suarez hat dem mediaten concursus divinus darin recht gegeben, dass das aristotelische Bewegungsaxiom nicht das ständige, neue, äußere Eingreifen der causa prima auf das Wirken der causae secundae bedeute. Eine causa secunda braucht keine neue göttliche Aktion, um von der Möglichkeit in den Akt der Bewegungswirkung überzugehen. Gleichwohl bleibt sie im Sein und in der Wirkkraft, im esse und im operari, von der causa prima abhängig. Als entia hängen die causae secundae wie alles geschöpfliche Seiende von der conservatio, also der Erhaltung im Sein, ab, und in ihrem Wirken als agentia vom Mitwirken Gottes im concursus. Die Dependenz und Partizipation der Zweitursachen von der causa prima bedeutet, dass die Zweitursache in der Kraft der ersten handelt („causa secunda agit in virtute primae“89), und zwar so, dass sie per Dependenz und Partizipation in allem Wirken an der Kraft der Erstursache teilhat,90 die auf diese Weise innerlich im Wirken der causa secunda mitwirkt. Die causae secundae hängen unmittelbar von der causa prima ab und haben an ihr teil. Also wirkt Gott den Effekt in den Geschöpfen immediate, und zwar „immediatione virtutis“ und „immediatione suppositi“91, wie J. Gerhard wörtlich aufnimmt.92 Das geschöpfliche Eigenwirken wird dabei nicht aufgehoben. Gott wirkt in seinem ————— 87 Vgl. A. Maier, Studien zur Naturphilosophie der Spätscholastik, Bd. 2, 111–314; A.C. Crombie, Von Augustinus bis Galilei, 283–320; M. Wolff, Geschichte der Impetustheorie. 88 Plathow, Das Problem des concursus divinus, 34. 89 Suarez, Metaphysicarum disputationum, disp.XII, sect.II, LI, 565; vgl. schon das Liber de causis, prop.I, 16: „Et non figitur causatum causae secundae nisi per virtutem causae primae.“ 90 Vgl. Suarez, ebd.: „Agere ergo in virtute nihil aliud est, quam agere per virtutem participatam a superiori virtute et dependenter in sua actione ab actuali influxus eius.“ 91 Ebd., sect.I, XVII, 553. 92 Die immediate Wirktätigkeit Gottes (immediatione virtutis et suppositi) davor schon bei Thomas, hierzu vgl. H. Stirnimann, Zur suppositalen und virtuellen Unmittelbarkeit (Immediatio suppositi et virtutis).

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innerlich-unmittelbaren Mitwirken (intime, immanens, intrinsece93) so mit den Zweitursachen zusammen, dass er sich ihren jeweiligen Besonderheiten anpasst und sie von innen her in Kongruenz zu seinem Willen bringt. Kraft dieser akkomodierten Kongruenz wirken Erst- und Zweitursachen untrennbar, innerlich und unmittelbar verbunden zusammen.

1.6 Die Allgegenwart und die Providenz- und Konkurs-Lehre 1. Freie Providenz: Diese ausgewogene, die Extreme des mediaten concursus einerseits und der blanken deterministischen Alleinwirksamkeit andererseits vermeidende concursus-Lehre hat das Luthertum des 17. Jahrhunderts als Mittel- und Herzstück des Locus „De providentia“ zwischen die auf die Schöpfung bezogene conservatio und die auf die menschlichen und geschichtlichen Geschicke bezogene gubernatio eingefügt.94 Die Gliederung der Providenzlehre in die drei Akte conservatio, concursus oder cooperatio und gubernatio findet sich zwar erst seit Calov, mit dem concursus als zentrale Mitte seit König und Quenstedt, sachlich geht die immediate Konkurs-Lehre aber auf Melanchthons sustentatio-Lehre zurück, der als erster die Vorsehungslehre aus der Gottes- und Prädestinationslehre herausgenommen, in den naturphilosophischen Kontext gestellt und auf das Verhältnis von Naturordnung und Wirken Gottes zugespitzt hatte.95 Unter der Vorsehung Gottes wollte Melanchthon, wie er zuerst in seinem PhysikLehrbuch in Auseinandersetzung mit Aristoteles, den Stoikern und Epikuräern anführte und von dort z.T. wörtlich in die dritte Aetas der Loci übernahm,96 nicht nur das ewige Wissen und Vorhersehen Gottes, sondern auch (und v.a.) seine Bewahrung, Ordnung und Regierung der natürlichen und politisch-sozialen Ordnungen verstehen: ————— 93 Ebd., sect.II, L, 565. 94 Zu Lehrinhalt und Entwicklung der altprotestantischen Providenzlehre vgl. Schmid, Die Dogmatik der evangelisch-lutherischen Kirche, 120–133; Ratschow, Die lutherische Dogmatik, Bd. II, 208–247; Hägglund, De providentia; Kolzik, Säkularisierung der Natur, 68–81; Mildenberger, Biblische Dogmatik, Bd. 3, 86–93; Bernhardt, Was heißt „Handeln Gottes“?, 123–149. 95 Zu Melanchthons Vorsehungslehre vgl. Büttner, Regiert Gott die Welt?, 49–58; Link, Schöpfung, Bd. 1, 81–94; zur begrifflichen und sachlichen Vorgeschichte des lutherischen Lehrstücks vgl. Krolzik, Säkularisierung der Natur, 39–68; J. Köhler, Art. Vorsehung. 96 Die „Initia Doctrina Physicae“ (1549) geben nach drei grundlegenden Kapiteln natürlicher Theologie und Naturphilosophie „De deo“, „De providentia“ und „De contingentia“ eine Darlegung der aristotelischen Kosmologie und Physik, entsprechend „De caelo“, den acht Büchern der Physik und dem pseudoaristotelischen „De mundo“ (vgl. Petersen, Geschichte der aristotelischen Philosophie im protestantischen Deutschland, 74–80), die „Loci praecipui theologici“ (1559) behandeln die Providenzlehre im Locus „De creatione“, gefolgt von „De causa peccati et de contingentia“ zwischen Gotteslehre und Anthropologie/Hamartiologie.

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„Gemeinhin versteht man unter Providentia sowohl die Kenntnis (cognitio), durch die Gott alles weiß und vorhersieht (cernit et prospicit), als auch die Steuerung (gubernatio), durch die er die gesamte Natur bewahrt (naturam universam servat), nämlich die Ordnung der Bewegungen, den Wechsel der Zeiten, die Fruchtbarkeit der Erde und der Lebewesen, das menschliche Geschlecht besorgt und bewahrt (curat et servat), die politische Ordnung, die Reiche, Gerichte, die Rechtsprechung bewacht (custodit), die Bösen bestraft, die dem Naturgesetz (lex naturalis), in dem er uns seinen Willen zeigt, widerstreiten und schließlich die zu Unrecht Unterdrückten befreit.“97

Indem Melanchthon die Providenz im Sinne der procuratio, servatio und sustentatio verstand, verschob er den Akzent der Vorsehungslehre vom gottinternen98 zum weltzugewandten, vom intellektiven zum voluntativen und machtvoll-tätigen Akt.99 Entsprechend deutet er die göttliche Eigenschaft der adessentia im Sinne der sustentatio, moderatio und gubernatio und versteht diese dezidiert als actio Dei generalis. Die dauernde, kontinuierliche und operative Adessenz bei den Kreaturen bewirkt die Erhaltung, Bewahrung und Lenkung der von Gott gesetzten Ordnung. Dabei begibt sich Gott nicht wie der stoische Gott in die Fesseln der Zweitursachen, sondern bleibt freier Agent: „Die Erhaltung oder Bewahrung dieser Dinge wird nach gebräuchlicher Rede eine generelle Tat Gottes genannt, die ihn dennoch nicht so an die Zweitursachen fesselt, dass er nichts anderes tun könnte, als wie die Zweitursachen zwingen. Sondern Gott ist völlig frei Handelnder, wenn er die Ordnung seines Werkes bewahrt. […] Gott ist seinen Kreaturen anwesend, aber nicht wie der stoische Gott, sondern wie ein völlig frei Handelnder, indem er die Kreatur erhält und durch seine grenzenlose Barmherzigkeit leitet, das Gute gibt, die Zweitursachen unterstützt und hindert.“100 Nicht nur um das außerordentliche Wunder für mög————— 97 Melanchthon, Initia Doctrina Physicae, CR XIII, 203. 98 Seit Cicero meint providentia (De natura deorum, lib.I, §18, 22; lib.II, §87, 194) das göttliche Vorhersehen und Vorherwissen in Aufnahme der stoischen proßnoia und der platonischen proßgnvsiw, vgl. Köhler, Art. Vorsehung, 1208. 99 Die lutherische Orthodoxie ist diesem voluntativen Providenz-Verständnis gefolgt. Sie hat zwar das Lehrstück in einem weiteren Sinn (late) dreigeteilt in den intellektiven Akt der proßgnvsiw oder praescientia, den voluntativen Akt des ewigen Ratschlusses (proßjesiw oder decretum) und den tätig-machtvollen Akt der dioißkhsiw bzw. actus (seit Gerhard, Loci theologici, tom.II, loc.VI, c.II, §15, IV.55, 19), hat diese Dreiteilung aus dem Wortsinn (onomatologisch) aber überlagert durch die Dreiteilung nach dem engeren (stricte) Sachsinn (pragmatologisch): conservatio – cooperatio seu concursus – gubernatio, und alle drei ganz ausschließlich als dioißkhsiw, d.h. als actio Dei, expliziert (Gerhard, Loci theologici, ebd., c.VI, §61, IV.83, 27; König, Theologia positiva acroamatica, p.I, §262f, dazu Ratschow, Die lutherische Dogmatik, Bd. II, 218). Im Gegensatz dazu haben die Reformierten den concursus auch als prämovierenden und prädeterminierenden Akt verstanden (vgl. Krolzik, Säkularisierung, 77). Die FC hat einen Ausgleich versucht und die Vorsehung mit der praescientia gleichgesetzt und der Gotteslehre zugewiesen, sie jedoch klar von der praedestinatio unterschieden (Epit. XI, 1ff, BSLK, 817). 100 „Haec rerum sustentatio seu conservatio usitata appellatione vocatur actio Dei generalis, quae tamen non ita alligat eum causis secundis, ut nihil faciat aliter, quam ut causae secundae

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lich zu halten („Deus hunc ordinem instituit et mutare potest“101), sondern auch um den naturgesetzlichen Determinismus der regulären Naturordnung aufzubrechen, wird die Freiheit der prima causa beim Wirken durch die kreatürlichen Zweitursachen festgehalten. Gott überlässt die Natur aber auch nicht wie der epikuräische Gott dem Zufall, noch handelt er durchweg gegen die Naturordnung. Seine Freiheit ist weder Willkür noch Zwang, sondern von Fürsorge und Barmherzigkeit geprägt, so dass die ganze Naturordnung um des Menschen willen eingerichtet wurde und erhalten wird102. „Omnia in natura rerum propter homines nasci“, lautet ein „dictum Stoicorum“103. Die zweifache Front der Ablehnung sowohl des epikuräischen, materialistischen Zufalls104 als auch des stoischen, fatalistischen Kausalnexus (fatalis ordo causarum105) führt dazu, dass Melanchthon die Notwendigkeit der Naturordnung und des Kausalzusammenhangs der Zweitursachen (physica necessitas) als eine kontingente, bedingte Notwendigkeit (necessitas consequentiae im Unterschied zur necessitas consequentis oder absoluta106) versteht. Die Freiheit des göttlichen Willens ist die Quelle der Kontingenz.107 Die Zweitursachen können nicht ohne die prima causa agieren108 und die Beständigkeit der Naturordnung (ordo perpetuum) ist ohne Gottes Einrichtung und Erhaltung undenkbar. Die Intention ist weniger, im Sinne natürlicher Theologie mittels des vernünftigen „lumen naturale“ von der Ordnung auf den Ordner zu schließen,109 als vielmehr die Bedingung dafür zu nennen, dass die dauerhafte Erhaltung der Ordnung gedacht werden kann. Die teleologischen Gottesbeweise sind v.a. Providenzbeweise: „Haec argumenta non solum testantur ————— cient. Sed Deus est liberrimum agens, servat sui operis ordinem. […] Adest Deus suae creaturae, sed non adest ut Stoicus Deus, sed ut agens liberrimum, sustentans creaturam et sua immensa misericordia moderans, dans bona, adiuvans aut impediens causas secundas.“ (Melanchthon, Loci praecipui theologici, StA II/1, 216; ähnlich 235; Initia Doctrina Physicae, CR XIII, 207; 210; auch Chemnitz, Loci theologici, tom.I, loc.VI, 143b). 101 Melanchthon, StA II/1, 234. 102 Zu diesem von der Stoa bis ins 17. Jahrhundert unumstrittenen Topos der teleologischen Zentralstellung des Menschen im Kosmos vgl. U. Beuttler, „Denn Zweck der Welt ist der Mensch“. 103 Melanchthon, Initia Doctrina Physicae, CR XIII, 214. 104 „Impossibile est ordinem perpetuum in natura casu ortum esse et casu manere aut tantum a materia ortum esse. […] Ergo natura non extitit casu, sed a mente aliqua orta est, quae ordinem intelligit“ (Melanchthon, ebd., CR XIII, 200 = Loci praecipui theologici, StA II/1, 220f, als erstem und wichtigsten von neun Providenz- und Gottesbeweisen). 105 Melanchthon, Loci praecipui theologici, StA II/1, 216f, Grammatik angepasst. 106 Ebd., 233f. 107 „Libertas voluntatis divinae primus fons est contingentiae“ (Melanchthon, Initia Doctrina Physicae, CR XIII, 206). 108 Ebd., 210. 109 Gegen W. Dilthey, Das natürliche System der Geisteswissenschaften im 17. Jh., Schriften, Bd. II, 171.

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esse Deum, sed etiam sunt indicia providentiae“110. Die Bedingung dafür ist die operative Adessenz Gottes, der die Naturordnung und die ihm unterstellten Zweitursachen in einem generellen, permanenten Akt erhält und durch sie wirkt. Damit sind die theologische Funktion und der systematische Ort der Lehre von der Allgegenwart Gottes bei Melanchthon klar herausgearbeitet. 2. Subordinativ-simultaner Konkurs: Melanchthon folgend vertritt die lutherische Orthodoxie ein subordinatives concursus-Verständnis. Indem die dependenten Zweitursachen der independenten Erstursache klar untergeordnet wurden, betonte man weniger das Eigenwirken der Natur, als vielmehr im Gefolge Luthers die Allwirksamkeit Gottes, jedoch in der melanchthonischen Brechung als potentia ordinata, d.h. als Erhaltungstätigkeit. Die Adessenz wurde daher strikt operational und auf die Providenz als Erhaltung und Lenkung der Naturordnung bezogen gedacht. Besonders M. Chemnitz (Loci theologici, 1591) folgte Melanchthon: „Die Providenz ist die allgemeine Tätigkeit Gottes, durch die er seinen Kreaturen anwest, sie erhält und bewahrt, solange er sie erhalten will und die Ordnung seines Werkes, die er von sich auf eingerichtet hat, bewahrt und unterstützt, nicht durch irgendeine schicksalhafte Notwendigkeit sondern als völlig frei Handelnder, so dass er um der Menschen willen alles leitet, vieles in den Zweitursachen besänftigt, verändert und verhindert.“111

Die operationale Erhaltung wurde jedoch im 17. Jahrhundert zum Problem, als in der Physik mehr und mehr die Eigentätigkeit und Selbsterhaltung der Materie behauptet wurde. Der eine Ausweg, das Wirken Gottes nur als Erhaltung im Sein und die Erhaltung im Wirken nur mediat zu denken, das Wirken selbst aber der Eigentätigkeit der Kausalitäten zu überlassen, verbot sich aus Gründen der Allwirksamkeit. Der andere Ausweg, den con-cursus aufzuheben und das Allwirken Gottes als die Zweitursachen vergewaltigendes Alleinwirken zu denken, verbot sich ebenfalls aus theologischen und physikalischen Gründen. Das (relative) Eigenwirken der Kreatur und das Allwirken Gottes konnten aber vermittelt werden, indem die Unterscheidung zwischen adessentia und omnipraesentia eingeführt und die beiden von Gott her unterschiedenen Eigenschaften im Weltwirken koinzidierend gedacht wurden, so dass Gottes Weltgegenwart sowohl generell als auch ————— 110 Melanchthon, Loci praecipui theologici, StA II/1, 223, als Resümee der genannten neun Beweise („demonstrationes“, 220). 111 Vgl. M. Chemnitz, Loci theologici, tom.I, loc.VI, 140: „Providentia est actio Dei generalis, qua adest suae creaturae, sustentans et conservans eam, donec vult eam conservari et ordinem sui operis a se intitutum servat et adjuvat, non fatali aliqua necessitate sed ut agens liberrimum, ita ut propter homines omnia moderetur, multa mitiget, mutet, impediat in causis secundis.“

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aktual, sowohl unvermittelt als auch vermittelt, das weltliche Wirken sowohl kontingent als auch physikalisch (d.h. bedingt-) notwendig gedacht werden konnte. Dies gelang, indem Adessenz und Omnipräsenz im Weltwirken zusammengeführt wurden zur Figur des influxus generalis, der sowohl Gottes essentielle als auch seine operationale Präsenz meint.112 Während J. Gerhard noch stärker die Permanenz des influxus betonte und auf die conservatio, die Erhaltung der Dinge im Sein, bezog,113 die sie vor dem Rückfall ins Nichts, vor der annihilatio rettet, wurde dieser im Lauf des 17. Jahrhunderts mehr und mehr auf den concursus hin expliziert. Die causae secundae sind nicht nur im Sein vom „kontinuierlichen Einfließen der göttlichen Erhaltungsmacht“ abhängig, sondern bedürfen auch im Wirken der göttlichen Mitwirkung, des concursus divinus. A. Calov wählte, Suarez und Gerhard folgend, hierfür den dritten Weg („media via“114) jenseits des mediaten concursus-Verständnis des Durandus und des Determinismus der Stoiker und Astrologen. Der concursus divinus immediate gibt folgende Antwort auf die (zwar nicht didaktisch, aber apologetisch relevante) Frage nach dem Verhältnis von Erst- und Zweitursachen:115 Eine Aktion wird koinzident von der causa prima und den causae secundae bewirkt, und zwar so, dass die causa prima „in actionem eius, et cum actione in effectum influat.“116 Der concursus ist einerseits subordinativ und andererseits simultan verstanden. Der influxus ist keine vorhergehende Determination oder auch nur Prämotion – ein prämovierender concursus wäre eine contradictio in adjecto117 –, sondern mit dem Effekt gleichursprünglich. Es handelt sich um ein gleichzeitiges gemeinsames Erwirken. Der concursus ————— 112 Die Figur des influxus geht auf das neuplatonisch konnotierte Liber de causis zurück, deren erster Lehrsatz behauptet, dass jede vorrangige Ursache mehr Einfluss auf das Verursachte hat als die umfassendste Zweitursache (Omnis causa primaria plus est influens super causatum suum quam causa universalis secunda, prop.I, 1). Während im Liber de causis der influxus durchaus ontologisch-emanativ vom höheren, guten, ewigen zum niedrigeren, weniger guten, zeitlichen Sein fließt (prop.II, 19f), ist in der altprotestantischen Orthodoxie der Emanationsgedanke und die ontologische Abwertung des Geschaffenen ganz zurückgedrängt. Der influxus bewirkt Erhaltung des ex nihilo Geschaffenen und energetischen Kraft-, nicht Seinsübertrag. 113 Gerhard, Loci theologici, tom.II, loc.VI, c.VI, §62, IV.83,27: „Ergo continuus est quasi divinae potentiae omnia conservantis in res exsistentes omnes influxus, quo vel ad momentum subtracto nec agere, imo nec esse possunt.“ 114 A. Calov, Systema locorum theologicorum, tom.III, a.VI, c.II, qu.2, 1204. 115 Der concursus, der von Calov nicht in der sectio didactica, sondern in der sectio apologetica des actus providentiae behandelt wird, ist hier von der gubernatio, also dem Verhältnis Gottes zum menschlichen und geschichtlichen Wirken, völlig getrennt und nur noch auf das Kausalproblem bezogen. Auch ist das Mitwirken Gottes bei der Sünde und dem Bösen, das man immer (recht künstlich) so gelöst hatte, dass Gott zwar den effectus, nicht aber den defectus mitwirkt, aus dem concursus ganz ausgeblendet. 116 Calov, ebd., 1205. 117 Ebd., 1206: „Verum concursus praevius est contradictio in adjecto. Si concurrit, ergo non praecurrit: Si coagit, ergo non praeagit, si cooperatur, ergo non praemovet et praeoperatur Deus.“

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entsteht simultan mit der Aktion (concursus simultaneus). „Concursus vero non antecedit, sed fit, cum actio ipsa producitur.“118 Die operose Omnipräsenz ist die Bedingung dafür, die Simultaneität beider Ursachen, das unmittelbare Mitwirken der causa prima in den Handlungen der causae secundae und die Subordination und Dependenz der Zweitursachen unter die causa prima zusammenzudenken, ohne deren Eigenständigkeit aufzuheben. Der influxus ist eine ordinative Präsenz und Potenz, die je und je aktual wirksam werden und zur Aktion der Naturkausalitäten hinzutreten kann. „Der concursus Gottes ist der aktuelle Einfluss, durch den Gott allernächst beim Bewirkenden auf das, was auch die Partikularursache hervorbringt, Einfluss nimmt.“119 Zwar wird der concursus als influxus actualis expliziert, also bezogen auf die alte (onomatologische) Dreiteilung strikt als actus entfaltet,120 jedoch wird der concursus nicht ent-essentialisiert,121 sondern der concursus simultaneus als Aktualisierung und Konkretisierung des essentiellen und operativen influxus generalis verstanden. Damit ist die naturphilosophische Relevanz der Unterscheidung von adessentia und omnipraesentia erreicht, die wir zum Abschluss noch einmal anhand der besonders klaren Ausführungen von J.F. König zusammenfassen wollen.122 3. Konkurs und Omnipräsenz: Die Zweitursachen hängen im Sein von der essentiellen Adessenz und im Wirken von der operativen Omnipraesenz der Erstursache ab. Ersteres leistet die conservatio, welche die Erhaltung der Kreaturen in ihrer Natur und ihren natürlichen Eigenheiten und Kräften meint,123 letzteres der concursus, der daher mit der omnipraesentia divina in der sachlichen Wirkung zusammenfällt.124 Dabei ist der Konkurs aber als ————— 118 Ebd., 1205; vgl. Quenstedt, Theologia didactico-polemica, p.I, c.VIII, sect.I, th.XV, 531: „Deus […] immediate influit in actionem et effectum creaturae, ita ut idem effectus non a solo Deo, nec a sola creatura, nec partim a Deo, partim a creatura, sed una eademque efficientia totali simul a Deo et creatura producatur.“ Barths Befürchtung, es könne bei der Simultaneität der una eademque actio eine Umkehrung eintreten und statt des „göttlichen concursus mit der Kreatur ebenso gut […] ein[] concursus der Kreatur mit Gott“ verstanden werden, so dass verwischt werde, wer „in dieser einen Aktion der Herr ist und wer nicht“ (KD III/3, 152), ist ganz unbegründet, da die Zweitursachen in Sein und Möglichkeit ihres Wirkens von der Erstursache dependent bleiben. 119 „Concursus dei est influxus actualis, quo deus proxime ad producendum hoc, quod etiam producit causa particularis, influit“ (Calov, ebd., 1206, mit Verweis auf Lombardus, Thomas, Suarez, J. Martini, Scheibler, Vasquez). 120 Vgl. oben Anm. 99. 121 Gegen Bernhardt, Was heißt „Handeln Gottes“?, 129. 122 Vgl. Ratschow, Die lutherische Dogmatik, Bd. II, 209.218–222. 123 König, Theologia positiva acroamatica, p.I, §264: „Conservatio est actus providentiae divinae, quo deus creaturas in sua natura et naturalibus proprietatibus ac viribus in creatione acceptis, conservat, quousque vult.“ 124 Ebd., §266: „Coincidit cum concursu isto quoad rem omnipraesentia divina.“

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immediates, simultanes und intimes Einfließen gedacht, welches die Eigenheiten der Zweitursachen berücksichtigt (akkomodierter Kongruismus, Suarez folgend).125 Der influxus generalis ist suaviter, zärtlich, was, wie Hollaz präzisiert, inkludierend (inclusive), nicht exkludierend (exclucive) gemeint ist, und er ist mit Suarez und Gerhard und gegen die Pelagier, Durandus und die Arminianer „immediatione virtutis et suppositi“126. Der concursus divini immediatione suppositi äußert sich nach König als substantielle, illokale, ungeteilte und umumschriebene Allgegenwart bei den Kreaturen („adessentiam ad creaturas substantialem, illocalem, impartibilem, incircumscriptibilem“), der concursus immediatione virtutis als effektive und allmächtige Wirksamkeit („efficacem ac omnipotentem operationem”).127 Ersteres hat sein sachliches Fundament (fundamentum remotum) in der „potentia adessendi creaturis“, die entweder aus Gottes immensitas fließt oder aus seiner Ubiquität in Christus, letzteres in der göttlichen Omnipotenz, deren Kraft die wirksame Omnipräsenz ist. Der letzte Grund des concursus jedoch, das fundamentum propinquum, ist der absolut freie Wille Gottes.128 Die Allgegenwart Gottes bei und im Kausalnexus ist also von doppelter Unmittelbarkeit, nämlich substantiell kraft der Adessenz und effektiv kraft der Omnipräsenz. Gleichwohl handelt es sich beim influxus generalis nicht um eine Emanation, sondern um einen „actus, quo deus influit“129, und bei der Adessenz, wie Quenstedt präzisiert, nicht um eine „sensu philosophico“ verstandene „nuda et otiosa adessentia“, sondern um eine „sensu et stylo Biblico“ verstandene „operosa et actuosa praesentia“ gemäß Ps 139, Act 17 usw.130 Die christologische Begründung der Allgegenwart macht zugleich deutlich, dass es sich bei der unmittelbaren Nähe und Präsenz Gottes um eine gnädige und auf das Heilsgeschehen hin orientierte handelt (die ades————— 125 Ebd., §265: „Concursus est actus providentiae divinae, quo deus influxu generali in actiones et effectus causae secundae, qua tales, se ipso immediate et simul cum ea et iuxta exigentiam uniuscuiusque, suaviter influit.“ 126 Hollaz, Examen theologicum acroamaticum, p.I, c.VI, qu.17, Bd. 1, 650. 127 König, Theologia positiva acroamatica, p.I, §267: „Et haec actus providentiae divinae et formaliter ac definitive, in sensu scilicet ac stilo biblico, tum adessentiam ad creaturas substantialem, illocalem, impartibilem, incircumscriptibilem, quam scholastici in descriptione concursus divini cum creaturis, immediationem suppositi dicunt: tum efficacem ac omnipotentem operationem, quam immediationem virtutis his vocant, importat, Gen 1,2; Ps 139,7ff; […] Act 17,27f […]“ 128 Ebd., §268: „Eius fundamentum remotum est partim potentia adessendi creaturis, competens enti omnipraesenti vel per naturam, quomodo ex immensitate fluit, et deo, qua tali tribuitur, vel per unionis personalis gratiam, quomodo naturae humanae loßgou incarnati competit, partim omnipotentia divina, vi cuius efficax omnipraesentia est. Propinquum, liberrima dei voluntas, Ps 104, 28f.“ 129 K. Barths Befürchtung, es könne beim Ausdruck influxus „zu einer bedenklichen Nähe zu den gnostischen und gnostizierenden Emanations- und Infusionslehren aller Zeiten kommen“ (KD III/3, 155), ist daher völlig unbegründet. 130 Quenstedt, Theologia didactico-polemica, p.I, c.XIII, sect.I, th.XVI.

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Die Lehre der Allgegenwart Gottes

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sentia bzw. providentia generalis als unmittelbares Nahesein bei allen Kreaturen und die providentia specialis als Fürsorge für alle Menschen wird konkretisiert und spezifiziert in der omnipraesentia bzw. providentia specialissima bei den Gläubigen),131 was sich auch daran zeigt, dass Gott in absoluter Freiheit gemäß Ps 104,28f seine Omnipräsenz geben, zurückziehen, verbergen oder gar verweigern kann. Seine Ausrichtung und Konkretion erhält der concursus in der gubernatio, die eine teleologische Ordnung und Lenkung hin zum Guten und Heil bzw. die Zulassung (permissio) und teilweise Verhinderung (impeditio) des Bösen, also die Ausrichtung (directio) und Begrenzung (determinatio) des menschlichen Handelns überhaupt meint. Auch wenn die drei Akte der Vorsehung nicht auf einer Ebene liegen, so sind doch alle nach dem aristotelischen Kausalschema entwickelt und Gott als die primäre causa vorgestellt. In der conservatio wirkt er als permanente Erhaltungsursache, im concursus als kooperierende Wirkursache und in der gubernatio als teleologische Finalursache. Ersteres betrifft das geschöpfliche Sein, mittleres sein Wirken und letzteres die Wertigkeit und Ausrichtung menschlichen Handelns. In allen drei Akten ist Gott, wie besonders am zentralen Mittelstück des concursus divinus deutlich wurde, als eine absolute und letzte Kausalität vorgestellt, dessen Handeln nach dem Modell menschlichen kausativen und intentionalen Handelns gedacht ist. Die Allgegenwart Gottes ist in der altprotestantischen Orthodoxie zusammengefasst die in verschiedenen Graden und Dichten spezifizierte permanente und aktual wirktätige kausative, kooperative und teleologischintentionale Wesens-, Wirk- und Handlungspräsenz des dreieinigen Gottes. Es handelt sich um eine Personalpräsenz im umfassenden Sinne, die sowohl essentiell als auch operativ und dabei kausal, kommunikativ und final orientiert ist. Die Allgegenwart ist präsent und wirksam generell in den Kreaturen, speziell im Leben der Gläubigen und singulär in Christus. Die Allgegenwart Gottes ereignet sich permanent und aktual in Schöpfung, Erlösung und Erneuerung, sie kann sowohl dem Vater als auch dem Sohn als auch dem Heiligen Geist appropriiert werden.132 ————— 131 König, Theologia positiva acroamatica, p.I, §§253–261. Genauer wird unterschieden zwischen der materia circa quam, also den Objekten und Bereichen der Vorsehung und den Formen oder Akten. Die Objektbereiche: Kreaturen, Menschen, Gläubige, liegen wie konzentrische Kreise ineinander, so dass sich von außen nach innen (von generale über speciale zu specialissime) eine Verdichtung der Vorsehung ergibt, während die drei Formen oder Akte conservatio, concursus, gubernatio auseinander hervorgehen wie Grundlage, Mittel und Ziel des Vorsehungshandelns Gottes. 132 Vgl. Hutter, Compendium locorum theologicorum, loc.II, qu.11, 7; loc.III, qu.31, 17.

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Diese ausgereifte Gestalt der Allgegenwartsvorstellung stellt einen Endpunkt und einen Ausgangspunkt der Entwicklung dar. Sie schließt theologisch die altkirchliche, scholastische und lutherische Lehrbildung (I.3./I.7.) ab und bildet die Lehrgestalt, von der die metaphysische Weiterentwicklung des Raumbegriffs ausgeht (I.8.). Nach Darstellung der antiken Raumtheorien (I.2.), besonders der platonischen und der aristotelischen, auf die sich die beiden Hauptstränge der Tradition beziehen, sollen auch den (neu)platonischen verwandte, aber nicht identische metaphysische Konzeptionen zur Sprache kommen (I.4.–6.).

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Kapitel 2: Die antiken Raumtheorien und der Ort Gottes

Die Vielfalt der antiken Raumverständnisse spiegelt sich schon in der Vielzahl der verwendeten Begriffe: xvßra, toßpow, to? perießxon, diaßsthma, keßnon, aäpeiron, auch xaßow und aörxhß. Aber erst in der Generation vor Platon ist die griechische Philosophie von mythischen Raummetaphern im Zusammenhang theogonischer und kosmogonischer Spekulation zu einem epistemisch fundierten Raumbegriff gelangt. Eine systematische und begrifflich genaue Behandlung des Raumproblems hat, wie Aristoteles kritisch bemerkt, vor ihm nur Platon unternommen. Dass es so etwas wie „Ort“ (toßpow) oder „Raum“ (xvßra) geben muss, sagen zwar alle, was das aber ist (tiß d’eöstißn), habe allein Platon zu sagen versucht.1 Wir übergehen die frühe Entwicklung vom Hesiodischen Chaos bis zu den ersten Raumbegriffen der vorsokratischen Naturphilosophen2 und konzentrieren uns auf die drei ausgearbeiteten und für die mittelalterliche und frühneuzeitliche Rezeption wichtigsten antiken Raumtheorien der Atomisten (2.1), von Platon (2.2) und Aristoteles (2.3). Danach sollen bedeutende Einwände und Weiterführungen zur aristotelischen Raumtheorie bei den Peripatetikern (2.4), der Stoa (2.5) und aus dem Streit zwischen Philoponos und Simplikios (2.6) genannt werden. Die platonische Linie wird mit Philo von Alexandrien (3.1) und mit Plotin und seinen Schülern weitergeführt (3.2).

2.1 Raum als passiv-leerer Zwischenraum (Atomisten) 1. Das Axiom der Atomisten Leukipp (um 450 v. Chr.) und Demokrit (ca. 460–360 v. Chr.) – gegen den Augenschein behauptet – lautet: „In Wirklichkeit gibt es nur Atome und Leeres (eötehq# deß aätoma kai? kenoßn).“3 Um diese Wahrheit zu erkennen, muss man die „dunkle“ Sinneserkenntnis hinter sich lassen und jenseits der Sinneswahrnehmung zur „echten“ Erkenntnis durch die Vernunft vorstoßen4. Die Behauptung, dass dem Leeren (keßnon) und damit dem Nichts (to? mhdeßn) eine reale Existenz zukomme: ————— 1 Aristoteles, Physik IV, 2, 209b 17. 2 Hierzu vgl. K. Deichmann, Das Problem des Raumes in der griechischen Philosophie bis Aristoteles; E. Fink, Zu ontologischen Frühgeschichte von Raum – Zeit – Bewegung; A. Gosztonyi, Der Raum, Bd. 1, 58–76; T. Kratzert, Die Entdeckung des Raums. Vom hesiodischen „xaßow“ zur platonischen „xvßra“. 3 Demokrit, Die Fragmente der Vorsokratiker, hg. v. H. Diels u. W. Kranz, DK 68, B 125. 4 Demokrit, Die Vorsokratiker, hg. J. Mansfeld, Bd. II, R 113 = DK 68 B 11b.

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„Das Nichts existiert um nichts weniger als das Seiende“5, steht in krassem Widerspruch zur überkommenen Auffassung vom Seienden, v.a. bei Parmenides, kann aber in gewisser Weise an Parmenides selbst, sowie an einige Vorformen eines Leeren bei Anaximander und den Pythagoräern anknüpfen. Die Atome (aötoßmoi), auch iödeßai (Gestalten), hß oÖmoioßthw (das Gleichförmige), morfhß (Form), eiQdow (Gestalt), to? eölaßxiston svqma (kleinster Körper) genannt,6 – unsichtbare, mikroskopisch kleinste Partikeln, von denen es unzählige verschiedene gibt, die sich aufgrund der verschiedenen geometrischen Formen (eckig, konkav, konvex […]) und der Haken, mit denen sie ausgestattet sind, aneinanderlagern, zusammenballen, festkrallen und wieder lösen, so dass durch Verwirbelungen, „gesteuert“ durch die blinde Notwendigkeit (aönaßgkh) der mechanischen Kräfte und Gesetze die sichtbaren Körper und Bewegungen entstehen7 – bilden im Kollektiv das Seiende (to? oän), das Demokrit auch das Feste und das Etwas (deßn = etwas im Gegensatz zum ouödeßn = nichts) nennt.8 Die Atome sind unveränderlich, unteilbar, unzerstörbar, unverletzbar, qualitätslos, für Einwirkung unempfänglich, unentstanden und ewig. Ihnen kommen die Eigenschaften des parmenideischen Seienden zu. Das Seiende (t’ eöo?n) ist bei Parmenides unentstanden, unveränderlich, unzerstörbar, unteilbar, stetig geschlossen zusammenhängend, alles lückenlos erfüllend, kurz, es ist das vollkommene Eine (eÄn) und Ganze (paqn).9 Daher ist es auch ewig und unbeweglich, es ruht in sich und gleicht der vollkommenen, vollendeten Kugel, so dass es keinen leeren Raum, weder innerhalb noch außerhalb des All, und also auch kein Nichtseiendes (ouök eöo?n) geben kann. Das Seiende fällt räumlich mit dem kugelförmigen, stetig erfüllten All-Raum und ontologisch mit dem Sein überhaupt zusammen. Indem Demokrit die Eigenschaften des parmenideischen Seienden auf die einzelnen Atome überträgt, muss er, um die Bewegung nicht zum Schein zu erklären, ihr Sein nicht in sich, sondern in einem leeren Raum verorten. Der Ort (toßpow) der regellosen Atombewegung ist das Leere, das Nichts, das Unbeschränkte (to? kenoßn, to? ouödeßn, to aäpeiron)10. Dieser, wegen der unendlichen Anzahl der Atome unendlich ausgedehnte, stofflose bzw. eher gänzlich ausgedünnte Raum, ist von der Materie dualistisch geschieden. Das Volle und Harte als das Seiende und das Leere und Feine als das Nicht————— 5 6 7 8 9 10

Demokrit, Fragmente der Vorsokratiker, DK B 156. Demokrit, Vorsokratiker II, R 49f = DK 68 A 57; 68 A 141. Leukipp, Vorsokratiker II, R 4 = DK 67 A 1. Demokrit, Vorsokratiker II, R 52 = DK 68 A 37. Parmenides, Vorsokratiker I, R 11 = DK 28 B 8. Demokrit, Vorsokratiker II, R 52.

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Die antiken Raumtheorien

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seiende bilden die beiden Elemente (stoixeiqa)11. Der leere Raum existiert, obwohl er das Nichtseiende ist, nicht weniger als die Atome. Er hat teilweise diesselben Eigenschaften. Wie das parmenideische Seiende (!) ist er ewig, unbeweglich und unveränderlich. Er ist kontinuierlich ausgedehnt, aber er ist anders als die Atome nicht unteilbar und nicht undurchdringlich hart. Die Natur besteht, so fasst der Epikuräer Lukrez zustimmend die atomistische Kosmologie zusammen, aus zwei Dingen: den Körpern und dem Leeren, wobei das Leere dasjenige ist, in dem sich die Körper befinden und das ihre Bewegung ermöglicht. „Omnis, ut est igitur per se, natura duabus constitit in rebus; nam corpora sunt et inane, haec in quo sita sunt et qua diversa moventur.“12 Der Raum hat, obwohl er selbst statisch unbeweglich ist, eine gewisse passive Potenz, die Lagerung und Bewegung der Atome zu ermöglichen, insofern er ihnen keinen Widerstand entgegensetzt und ihre Strukturbildung ermöglicht. Der Raum ist real, aber er existiert nicht für sich, sondern in der Relation zu den Atomen. Er ist nicht, modern gesagt, ein geometrisches Kontinuum, sondern das strukturermöglichende Medium. Der Raum ist nicht zuerst da als leerer Behälter, in den dann die Atome gefüllt werden, sondern er ist koexistent mit der Materie. Präzise gesagt, meint Raum nicht Erstreckung überhaupt, sondern den Zwischenraum (diaßsthma) zwischen den Atomen. Der Raum ist, wie Leukipp sagt, porös13. Die Stetigkeit wird also nicht durch das Leere an sich, sondern durch die Koexistenz von Vollem und Leerem garantiert, woraus noch einmal deutlich wird, dass die beiden Elemente der Atomisten, das nichtseiende Leere und Weiche und das seiende Volle und Harte, zusammen das Seiende des Parmenides bilden. Allerdings nehmen die Atomisten nicht ein einziges All, sondern eine unbeschränkte Vielzahl von Welten – belebte und unbelebte, mit Sonnen und ohne – unterschiedlicher Ausdehnung an, die sich wie die Atome in einem Spiel von Wachstum, Zusammenlagerung und Auflösung befinden. Der Raum dehnt sich daher nicht nur in unserer Welt, sondern auch außerhalb ihrer zwischen den Welten unendlich aus.14 2. Weitere Vorsokratiker: Der atomistische Raumbegriff des stofflich ausgedünnten, unendlich ausgedehnten Leeren konnte anknüpfen an Anaximanders aäpeiron, das den räumlich wie zeitlich unbegrenzten Urstoff (aörxhß) wie auch das Element der seienden Dinge darstellt, aus dem uner————— 11 Demokrit, Vorsokratiker II, R 53 = DK 67 A 6; Leukipp, Vorsokratiker II, R 3 = DK 67 A 7. 12 „Alle Natur, wie sie durch sich selbst ist, besteht in zwei Dingen; denn Körper gibt es und Leeres. In diesem sind sie verortet und durch es werden sie vielfältig bewegt“, Lukrez, De rerum natura I, 420. 13 Leukipp, Fragmente der Vorsokratiker, DK 67 A 19. 14 Demokrit, Vorsokratiker II, R 60 = DK 68 A 40.

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schöpflich die unzähligen Welten und ihre Ordnungen hervorgehen („ouWtow aörxh?n eäfh tvqn oäntvn fußsin tina? touq aöpeißrou, eöc hWw gißnesjai tou?w ouöranou?w kai? to?n eön auötoiqw koßsmon“15), und an das pythagoräische keßnon, das nach dem Referat des Aristoteles ein feinstoffliches, unendliches Pneuma darstellt, welches das Weltall umgibt, in die materielle Welt eindringt, indem der Himmel es einatmet, und als kontinuierliches Zwischenmedium die Diskretisierung, also die Trennung und Abgrenzung der Dinge voneinander, bewirkt.16 Von Anaximander fließt in den atomistischen Raumbegriff die Unbegrenztheit und Ewigkeit, von den Pythagoräern die Funktion der Unterscheidbarkeit und Zählbarkeit der Dinge ein. Jedoch ist der Raum bei den Atomisten vollkommen entmythologisiert und naturalisiert. Während bei Parmenides das Seiende AllGanze göttliche Attribute trägt, bei Anaximander das Apeiron das schöpferische Urprinzip darstellt, bei Pythagoras das Leere als pneuqma aäpeiron den unerschöpflichen, belebenden Weltgeist darstellt, trägt der leere Raum bei den Atomisten wie auch die Materie zwar das Attribut der Ewigkeit, er hat aber keinerlei göttliche Substanz, denn er ist passiv, ohne schöpferische Kraft. Schöpferisch wirktätig und die Natur- und Lebensprozesse initiierend ist allein der „ewige Stoff“, der „Samen des Weltalls“. In der materialistischen Natur geschieht alles „ohne die Hilfe der Götter“: „Nichts kann je aus dem Nichts entstehen durch göttliche Schöpfung. Nullam rem e nilo gigni divinitus umquam.“17 Für die Existenz und Unbegrenztheit des leeren Raumes geben die Pythagoräer und ihnen folgend Lukrez einige teils logische, teils empirische Beweise, die von Aristoteles zurückgewiesen, aber von den Antiaristotelikern der frühen Neuzeit (G. Bruno) wieder aufgegriffen wurden. Darum wollen wir sie kurz nennen. Xythos bewies den leeren Raum aus der Kraft des Unterdrucks in einem Schlauch, was nach Aristoteles aber nur beweist, dass die Luft stofflich, verdichtbar und ausdünnbar ist.18 Aus dem Argument des Archytas, dass es keinen Rand der Welt geben könne, da es sonst einen Ort gebe, von dem aus man nicht mehr die Hand ausstrecken oder einen Speer ————— 15 „Dieser [Anaximander] bezeichnete als Prinzip der seienden Dinge eine bestimmte Natur, die des Unbeschränkten, aus der die Welten und die Ordnung in ihnen entstanden sei“, Anaximander, Vorsokratiker I, R 10 = DK 12 A 11. 16 Aristoteles, Physik, IV, 6, 213b. 17 Lukrez, De rerum natura I, 221; 59; 155; 150, vgl. 205, 265. 18 Aristoteles, Physik IV, 9, 216b; Anaxagoras wollte das Vakuum mit der Klepshydra widerlegen, dem „Wasserstehler“, einem Gefäß mit Löchern oben und unten, aus dem, wenn das obere Loch zugehalten wird, unten kein Wasser austritt, was nach Aristoteles (Physik IV, 6, 213a) nicht die Nichtexistenz des Vakuums, sondern nur die Stoffhaltigkeit der Luft und die gegenseitige Verdrängbarkeit von Luft und Wasser beweist.

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werfen könnte,19 folgerte Lukrez: „Grenzen besitzt das Weltall nach unsrer Erfahrung in keiner Richtung. Sonst müsste es einen äußersten Endpunkt besitzen. […] Da sich nun jenseits Weltalls nichts findet nach unserer Einsicht, hat auch das Weltall kein Ende, fehlen ihm Grenzen wie Maße. […] Wo auch ein jeder sich hinstellen mag, ihm erstreckt sich nach allen Richtungen unterschiedslos das All in unendliche Weiten.“20 Wenn das All keinen Rand hat, hat es auch kein Zentrum: „Kann es doch einen Mittelpunkt schwerlich geben in einer endlosen Weite.“21 Der unendliche leere Raum – leer bzw. feinststofflich muss er sein, da er sonst der Bewegung der Materie Widerstand entgegensetzte, – ist also homogen und isotrop. Die Isotropie nimmt Lukrez anders als Demokrit allerdings selbst wieder zurück mit der Leukipp, Aristoteles und Epikur folgenden Annahme einer ausgezeichneten Gravitationsrichtung22 und der seltsamen Folgerung, dass wenn der Raum nicht unendlich wäre, die seit Ewigkeit existierende Materie längst auf dem Boden des Weltalls sich abgesetzt hätte.23 Solange die Gravitation an die Raumrichtung gebunden war, war ein isotroper unbegrenzter Raum undenkbar. Daher konnte das atomistische Raumverständnis erst im späten Mittelalter und früher Neuzeit an Akzeptanz gewinnen, als die Gravitation von den Raumrichtungen abgekoppelt und an die Masse der Körper gebunden wurde und physikalische Beweise des leeren Raumes den horror vacui überwanden.24 Der Hauptwiderstand der Antike betraf jedoch den Atheismus und Materialismus der Atomisten, der des Christentums dazu die Ewigkeit der Materie und des Raumes.

2.2 Raum als dynamischer Aufnehmer des Werdens (Platon) 1. Die ontologische Funktion: Dem Chorismos-Vorwurf des Aristoteles,25 dass zwischen den Ideen und der phänomenalen Welt ein geradezu räumlicher Abstand bestehe, so dass die Welt dualistisch in zwei Bereiche zerfalle, ist bereits Platon in seiner Spätschrift Timaios zuvorgekommen durch Einführung einer dritten, vermittelnden Größe, dem Raum (xvßra). Der Raum vermittelt zwischen dem Idealen und dem Realen, indem er das auf————— 19 Archytas, Fragmente der Vorsokratiker, DK 47 A 24. 20 Lukrez, De rerum natura I, 958–967. 21 Ebd., 1070f. 22 Leukipp, Fragmente der Vorsokratiker, DK 66 A 24; Demokrit, DK 68 A 56; zu Aristoteles s.u. 23 Lukrez, De rerum natura I, 990f. 24 Zu dieser Entwicklung vgl. A. Crombie, Augustinus bis Galilei, 270–282. 25 Aristoteles, Metaphysik I, 9, 991b; XIII, 1078b, 31; 1086a, 33; vgl. H. Meinhardt, Art. Chorismus, HWPh.

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nehmende Medium darstellt, das Substrat, in dem die Ideenabbilder materielle Gestalt gewinnen können. Der Raum ist die dritte Gattung (trißton geßnow) zwischen dem unveränderlichen Sein der Ideen und dem mannigfachen Wandel der Phänomene. Der Raum vermittelt zwischen Sein und Werden. Die drei Gattungen sind: „Das, was wird, das worin dies Werden stattfindet und das, nach dessen Abbild das Werdende in der Natur wächst (to? gignoßmenon, to? d’e?n v#W gißgnetai, to? d’oqjen aöfomoioußmenon fußetai to? Gignoßmenon).“26 Der Raum ist also das Worin (to? eön vW#), in dem die im Werden in die Natur eintretenden Ideenabbilder sich manifestieren. Der Raum gibt eine Antwort auf die Frage, wie man sich die Teilhabe des veränderlichen und vergänglichen Werdenden am unwandelbaren und unvergänglichen wahren Sein vorstellen kann. Die Manifestation der abstrakten Ideen in der konkreten Sinnenwelt verlangt nach einem Medium der Erscheinung, das auf die Ideen und die Phänomene gleichermaßen bezogen, aber von beiden unterschieden ist. Der Raum ist eine „schwierige und dunkle Form“27, weder durch deduktiv-begriffliches Denken, noch durch Induktion aus den Phänomenen, noch durch Sinneswahrnehmung direkt, sondern nur durch einen unechten Schluss, eine „Art Bastard-Schluss, kaum zuverlässig“, erschließbar bzw. durch „Träumen“28, also einem dritten Geisteszustand zwischen dem sicheren reinen Denken des Ideal-Wirklichen und der unsicheren Sinnesempfindung des Konkret-Wirklichen. Mit der Sinneswahrnehmung hat der Traum gemeinsam, dass seine Gegenstände schwankend, unsicher und verzerrt sind, mit dem Denken bezieht er sich nicht auf die realen, sondern auf ideale Gegenstände. Die Raumvorstellung schließt an an das „träumende Zwischen“, sie ist anschaulich gegeben, aber auch, wenn auch unzulänglich, begrifflich bestimmt.29 Alles Seiende ist ja an einem bestimmten Ort und nimmt einen gewissen Raum ein (to? oän aÄpan eän tini to?pv# kai? kateßxon xvßran tinaß), also muss es ein Etwas geben, das je und je Raum gibt und Platz gewährt für alles, was wird (oün to? thqw xvßraw aöeiß, eÄdran de? pareßxon oÄsa eäxei geßnesin paqsin)30. Dieses Etwas ist nur via negationis oder durch vieldeutige Metaphern zugänglich. Via negationis ergibt sich der Raum einerseits durch Abgrenzung vom Ort: der Ort ändert sich, der Raum bleibt, also ist präzise „der Ort (toßpow) das So-Beschaffene (to? toiouqton) des Raums (xvßra) als Dieses (to? touqto)“31, andererseits durch Privation aller positi————— 26 27 28 29 30 31

Platon, Timaios, 50d. Platon, Timaios, 49a. Platon, Timaios, 52b. Vgl. K. Gloy, Studien zur Platonischen Naturphilosophie im Timaios, 96. Platon, Timaios, 52a–b. Kratzert, Entdeckung des Raums, 99, mit Bezug auf Timaios, 49d–50a.

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ven Prädikate: der Raum ist ungestaltet, formlos, unsichtbar, nicht wahrnehmbar, aber auch unwandelbar und unvergänglich. Die Natur und Wirkweise (fußsiw kai? dußnamiw) der Chora erläutert Platon in einer Reihe von Metaphern und (biologischen und technischen) Bildern:32 Die Chora ist die Aufnehmerin allen Werdens, vergleichbar einer Amme; sie ist vergleichbar der empfangenden Mutter neben dem (zeugenden) „Urbild“ Vater und dem gezeugten, werdenden „Abbild“ Sprössling; sie ist das, worin die Einprägung stattfindet, also die Abdruckform für den Abdruckstoff; sie ist eine unsichtbare, ungestaltete, alles erfassende Form, die auf seltsame, schwer greifbare und begreifbare Weise am Gedachten teilhat, nach Art einer ungestalteten, formlosen, feuchten Grundmasse wie die, aus der man Salben herstellt. Der „Stoff“ des Raumes ist keines der vier Elemente, obwohl er „entfacht“ als Feuer, „verflüssigt“ als Wasser erscheinen und auch die Form von Erde und Luft annehmen kann, aber er hat keine Materialität. Er ist die formlose Form, die in dynamischer Passivität die Ideenabbilder aufnimmt. Der Raum ist kein passiv Leeres wie bei den Atomisten, sondern eine dynamisch aufnehmende, sogar in gewissem Maße ordnende und strukturierende Größe. Der Raum ist eine Art Katalysator, Anreger und Ordner der elementischen Bewegung und Veränderung, und zwar, was oft übersehen wird, schon für das Entstehen der Welt. Er gleicht in gewisser Weise dem hesiodischen Chaos, dem undifferenzierten gähnend-klaffenden Ur-Raum (bei Hesiod noch stärker göttlich-fruchtbar und außerdem stofflich vorgestellt), welcher Urgrund und Aufnehmer aller Dinge ist.33 Die platonische Chora ist aber weniger mythologisch, als vielmehr funktional gedacht. Die unvergängliche und unzerstörbare platonische Chora, das dem Werden Raumgebende, existierte als dritte Gattung bereits vor der Weltschöpfung. Bevor der Demiurg aus dem Abbild der regulären Polyeder die regelmäßigen Elementarkörper bildete, fand eine vorläufige Ordnung und Strukturierung der anfangs gänzlich ungeordneten und unstrukturierten Materie statt. Dies geschah durch die Chora, die wie ein Rüttelgerät34 die ungestalteten, chaotischen Elemente voneinander separierte und in ein Kräftegleichgewicht brachte, bevor sie im zweiten Schritt von der Vernunft „nach Formen und Zahlen“35 gestaltet wurden. „Das Werden dieser Weltordnung ist auf diese Weise aus dem Zusammentritt von Notwendigkeit und Vernunft entstanden (touq koßsmou geßne————— 32 Platon, Timaios, 49aff; 50dff; 51bff; 52dff. 33 Hierzu vgl. A. Ganoczy, Chaos – Zufall – Schöpfungsglaube, 15f; Kratzert, Entdeckung des Raums, 6–23. 34 Platon, Timaios, 53a. 35 Platon, Timaios, 53b.

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siw eöc aönaßgkhw te kai? nouq sustaßsevw eögennhßjh).“36 Zur rationalen Ordnung der Welt ist also nicht nur die Vernunft erforderlich, sondern auch das Mitwirken einer arationalen Notwendigkeit. Diese ist zwar nicht antirational, sie ist immerhin der Indienstnahme, der „Überredung“ und Beherrschung durch die Vernunft fähig, die Notwendigkeit meint hier doch aber eher „das vernunftlos und blind-mechanisch wirkende Gesetz der Materie und alles physischen Geschehens.“37 Damit die Vernunft des Demiurgen die blinde Naturgewalt der elementischen Kräfte überreden/überzeugen/ beherrschen kann, das Entstehen zum bestgeordnetsten Zustand hin zu lenken, muss er ihr die Blindwütigkeit nehmen und eine minimal ordnende Kraft nach „der Art der umherschweifenden Ursache beimischen“38. Diese Funktion des Bewegungsanstoßes, der vorläufigen Ordnung und minimalen Strukturbildung übernimmt m.E. die Chora. Es ist allerdings in der Timaios-Interpretation umstritten, ob nicht die Ananke mit der umherschweifenden Ursache identisch und entsprechend das die Vernunftordnung Aufnehmende mit dem ungestalteten Stoff identisch gedacht ist. So hat zuerst Aristoteles interpretiert und das „Teilnahmefähige“, also die Chora, mit dem Stoff (uÄlh) gleichgesetzt.39 Die platonische Materie konnte dann entweder als qualitätsloser, unstrukturierter Körper (Stoiker, Plutarch) oder als materielle Möglichkeitsbedingung der geometrisch geformten Körper (Chalcidius, Neuplatoniker) verstanden werden.40 Die Gleichsetzung von Raum und Materie ist in der Platon-Forschung v.a. von E. Zeller vertreten worden41 und es deuten etwa die Ausdrücke „formbare Masse“ oder „Abdruckstoff“ für die dritte Gattung darauf hin,42 ihr kann aber mit guten Gründen widersprochen werden.43 Zwar sind die Materie als Substrat der gestalteten Körper und der Raum als Substrat der gestalteten Formen funktional äquivalent, doch sind die geformten Körper nicht mit dem geformten Stoff identisch. Der Stoff, auch der geformte, bedarf des „Raumes“, der „unsichtbaren“, d.h. unstofflichen und „ungestalteten“, „alleserfassenden Form“44, um körperlich dreidimensional zu sein, da er von sich aus nur zweidimensional ist, ————— 36 Platon, Timaios, 48a. 37 H. Schreckenberg, Ananke. Untersuchungen zur Geschichte des Wortgebrauchs, 120. 38 Platon, Timaios, 48a. 39 Aristoteles, Physik IV, 2, 209b. 40 Zur Auslegungsgeschichte vgl. C. Baeumker, Das Problem der Materie in der griechischen Philosophie, 151–156, zusammengestellt bei W. Gent, Die Philosophie des Raumes und der Zeit, 14, zum Sachproblem vgl. D.J. Schulz, Das Problem der Materie in Platons „Timaios“. 41 E. Zeller, Die Philosophie der Griechen in ihrer geschichtlichen Entwicklung, Bd. II/1, 740f, ihm folgt M. Jammer, Das Problem des Raumes, 13–15. 42 Platon, Timaios, 50c–d. 43 Vgl. Gloy, Studien zur platonischen Naturphilosophie im Timaios, 82–89. 44 Platon, Timaios, 51a.

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und zwar nicht nur im vorvernünftigen amorphen Stadium, sondern auch im Prozess der Formung durch die Vernunft. 2. Die kosmologische Funktion: Platon denkt diesen zweiten Schritt des kosmologischen Werdeprozess wiederum als eine mehrstufige Konkretisierung des Abstrakten.45 Die Formung des Stoffes durch die Vernunft geschieht so, dass zunächst den idealen Dreiecken flächige, stoffliche Dreiecke nachgebildet, aus diesen die regulären Polyeder zusammengesetzt und diese zu den Körpern zusammengefügt werden. Die elementischen Elementarkörper (Kubus Erde, Tetraeder Feuer, Oktaeder Luft, Ikosaeder Wasser, der Dodekaeder wird wegen seiner annähernden Kugelgestalt dem AllGanzen zugeordnet) sind aber reine Flächner, sie haben zwar Ausdehnung, aber keine körperliche, sondern nur geometrische, d.h. sie sind von Flächen begrenzte Hohlräume. Die Chora ist genau dieser Zwischenhohlraum mit der Funktion des Worin.46 Die Chora ist der Vermittler zwischen dem zunächst amorphen, dann aus dem Zusammenwirken von physischer Notwendigkeit und rationaler Vernunft flächig gestalteten hin zum körperlich geformten Stoff. Ein Körper besteht daher aus Stoff + Ausdehnung + Form. Der Raum als die inhaltlose Form, als das Worin der sinnlich wahrnehmbaren Gegenstände ist also das Substrat, dessen der Stoff bedarf um dreidimensional körperlich sein zu können. Der Raum leistet den körperlichen und topologischen, die Vernunft den gestalthaften Anteil an der Formung der Körper durch Nachbildung der geometrischen Figuren. Der Raum ist bei Platon anders als das atomistische kenoßn nicht das notwendige Pendant zum Vollen, aber auch nicht wie bei Aristoteles strikt an den materiellen Körper gebunden, sondern hat eine gewisse Selbständigkeit in Form der Potenz, die Materie vorzuordnen, der Materie Räumlichkeit zu ermöglichen und ihre topologische Verortung zu leisten. Die präzisest mögliche Begriffsdefinition ist dafür die Metapher (!) „Aufnehmerin und Amme des Werdens“. Diese Funktion behält die Chora auch nach erfolgter Weltkonstruktion. Die konkreten, sinnlich wahrnehmbaren Werdeprozesse basieren auf der Bewegung und der Verwandlung der Elementkörper ineinander. Dafür übernimmt die Chora die dreifache Funktion der vorläufigen Ordnung durch Rüttelung, der Raumgebung und der Verortung im Kosmos. „Gemäß solcher Vorgänge ändern auch alle (Elementkörper) ihre Räume (Plätze, ta?w xvßraw). Denn die Mengen jeder (Element)-Gattung erhalten ihren eigenen Ort durch die Bewegung der Aufnehmerin (dia? th?n thqw dexomeßnhw kißnhsin). Und so wird jedes Mal eine Elementart, wenn sie ————— 45 Detailliert erörtert bei W. Saltzer, Grundzustand und Erschaffung der Neuelemente in Platos Timaios-Kosmologie. 46 Vgl. Gent, Philosophie des Raumes, 15.

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ihre Selbstidentität aufgegeben und einer anderen sich angeglichen hat, durch die innere Bewegung der Aufnehmerin zum (Eigen)ort jener Elementart getragen, der sie gleich geworden ist.“47 Der Raum ist also bei Platon keine bloß passive Größe wie bei den Atomisten, keine passiv leere Aufnehmerin, aber auch nicht einfach mit der Dreidimensionalität und Körperlichkeit des Stoffes identisch, sondern die dynamische Aufnehmerin und „Platzanweiserin für die körperlichen Elemente in ihrem kontinuierlichen Verwandlungsspiel […], eine Ordnungsgröße, ein sensorielles Prinzip mit Einflussnahme auf alles Neukörperliche.“48

2.3 Ort als das unbewegte Umfassende der Körper (Aristoteles) Um die begrifflichen Unschärfen der platonischen Chora zu vermeiden,49 hat Aristoteles seine Raumtheorie als Theorie des Ortes (toßpow) entwickelt.50 Logisch ist das Problem rudimentär in der Kategorienschrift, umfassend mit Blick auf die Phänomene im vierten Buch der Physik entfaltet. 1. Die Behandlung des Raumproblems in der Kategorienschrift zeigt auf den ersten Blick „Inkonsistenzen“51, wenn einerseits der Ort als eigene Kategorie „Wo“ (pouß) neben dem „Wieviel“ (posoßn) und dem „In-Bezugauf“ (proßw ti) genannt wird,52 andererseits aber entweder als räumliche Positionierung „Stellung“ der Kategorie Relation untergeordnet53 oder mit anderen Quantitäten der Kategorie Wieviel zugeordnet wird.54 Es scheint uns (gegen Zekl) aber, dass diese differierende Kategorisierung in der Pluralität der Kategorie „Räumlichkeit“ begründet liegt, die eine eindeutige Antwort auf die Frage tiß eöstißn unmöglich macht. Einerseits ist alles Seiende ein tiß, genauer ein toßde ti, ein Dies-da, so dass es unter der Betrachtung „was nicht in Verbindung gesagt wird“55, d.h. unter der Betrachtung ————— 47 Platon, Timaios, 57b–c, Übersetzung nach Saltzer, Platos Timaios-Kosmologie, 245f, kursiv wie dort. 48 Saltzer, Platos Timaios-Kosmologie, 246. 49 J. Derrida hat daraus Kapital zu schlagen versucht und den notwendigen Diskurs über die (unübersetzbare) Chora als das Wesen der Chora selbst interpretiert und von den Diskursformen des Mythos und des Logos abgegrenzt, vgl. Derrida, Chora. 50 Detaillierte Interpretationen geben W. Raible, Aristoteles und der Raum; G. Schwarz, Raum und Zeit als naturphilosophisches Problem, 81–100; Gosztonyi, Der Raum 1, 90–110; G. Verbeke, Ort und Raum nach Aristoteles und Simplikios; H.-G. Zekl, Topos. Die aristotelische Lehre vom Raum. 51 H.-G. Zekl, Art. Raum, HWPh, 73; D. Evers, Raum – Materie – Zeit, 17. 52 Aristoteles, Kategorien, 1b, 25. 53 Kategorien, 11b, 10f. 54 Kategorien, 4b, 20–24. 55 Kategorien, 1b, 24.

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eines Seienden für sich, auch räumlich ein Für-sich hat, nämlich ein Hiersein, entsprechend dem wesenhaften Dies-da-sein oder dem zeitlichen Jetztsein. Dem absoluten Hier-sein korrespondiert eine relative Räumlichkeit des Seienden als mögliche Lozierbarkeit relativ zu anderem. Die Lozierbarkeit fällt unter die Kategorie proßw ti, da hier etwas mit etwas in Beziehung gebracht wird, was im konkreten Fall die Angabe eines Ortes oder einer Stelle, z.B. „auf dem Marktplatz“56 bedeutet. Die Angabe des Ortes von räumlich lozierten Dingen ist zugleich eine Quantität, nämlich ein Maß, und zwar in zweifacher Hinsicht: das Wieviel des Ortes ist ein äußeres oder ein inneres Maß. Jedes konkrete Dies-da ist so und so weit von anderen Dies-da entfernt und hat selbst eine so und so große Erstreckung bzw. Volumen. Die Quantität des Räumlichen wird in der Kategorienschrift besonders genau präzisiert.57 Ein räumliches Maß ist nicht ein Abgetrenntes wie die natürlichen Zahlen, sondern ein Zusammenhängendes wie Linie, Fläche und Körper. Der Ort ist wie die Zeit ein Zusammenhängendes (sunexeßw, Kontinuum)58, da es zu jedem konkreten Hic ein räumliches Vorher und Nachher gibt. Ein Hic ist aber im Gegensatz zu den ausgedehnten Linie, Fläche und Körper selbst ohne Dimension und Ausdehnung. Ein Hic hat wie der Punkt keine Teile, er verhält sich zum Körper wie der Punkt zur Linie. Die Teile eines Körpers nehmen einen Ort ein, denn sie fügen sich an einer gemeinsamen Grenze zusammen. Die Teile eines spaltbaren Körpers bilden als räumlicher Gegenstand eine Einheit, welche sich darin manifestiert, dass die umfassende Begrenzung einen Zusammenhang bildet, so dass sich auch „die Teile des Ortes, die jeder Teil des Körpers einnimmt, an derselben Grenze […] zusammenfügen. Damit wäre der Ort ein Zusammenhängendes.“59 Es scheint, dass die Kontinuität des Ortes nur über die materielle Kontinuität des Körpers vermittelt ist, nicht aber aus der Kategorie „Wo“ abgeleitet werden kann. Die Aussage, dass der Ort ein Zusammenhang sei (sunexeßw oÖ toßpow), ist für Aristoteles keine Antwort auf die Frage ti? eösti?n oÖ toßpow, sondern eine vermittelte Aussage. Das Wesen des Raumes als kontinuierliches Quantum ist nur indirekt bestimmbar, weil es sich nicht um ein selbständiges Seiendes handelt, sondern Raum nur in Bezug auf räumliche Körper und deren Lozierung existiert. 2. Das ist auch in der Physik die Überzeugung des Aristoteles, wo sogleich konzediert wird, dass die Frage nach dem Was des Raumes in viele Aporien ————— 56 Kategorien, 2a, 1. 57 Kategorien, 4b, 19 – 5a, 14. 58 Zu Aristoteles’ Kontinuums- und Zeitverständnis vgl. W. Wieland, Die aristotelische Physik, 278–329; I. Craemer-Ruegenberg, Die Naturphilosophie des Aristoteles, 81–93; U. Beuttler, Gottesgewissheit in der relativen Welt, 85f. 59 Kategorien, 5a, 10–12.

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führe.60 Deren einfachste ist diese: Die Frage ti? eöstißn unterstellt, dass man nach dem Raum genauso wie nach anderen Dingen fragen könne. Der Raum ist aber kein Ding wie die Dinge im Raum, sondern die Voraussetzung des Im-Raum-seins der Dinge. Der Raum ist damit nicht nur Gegenstand der Frage nach dem Raum, sondern auch seine Voraussetzung. Anders gesagt: Man muss zwischen dem Raum als Kategorie und als Realität unterscheiden, kann dies aber nur logisch, nicht konkret, da die konkrete Anwendung der Kategorie „Wo?“ (Lozierung) den Raum als Realität in Anspruch nimmt. Da der Raum zugleich das (schwer definierbare) Etwas ist, „in“ oder „an“ dem sich die Dinge befinden, und die Voraussetzung des Wo-seins der Dinge, kann sein Was-sein nur indirekt über die mit dem Raum korrelierte Räumlichkeit der Körper erfasst werden. Daher sucht Aristoteles in vier Gedankengängen (Kap. 1–4 des IV. Buches der Physik) eine Annäherung an das Wesen des Raumes aus seinen Aporien und der Unterscheidung und Zuordnung von Raum und Körper. Um nicht wie Gosztonyi den Fehler zu machen,61 die z.T. tastenden Überlegungen aus dem Kontext zu reißen und von modernen Kategorisierungen her in eine fremde Systematik zu zwingen, arbeiten wir die Argumentationsgänge mit ihrer internen Logik heraus. Aristoteles hat kein geschlossenes Lehrsystem einer Raumtheorie vorgelegt, wie Gosztonyi glauben macht, sondern Annäherungen an das kaum definierbare Etwas „Raum“ gesucht. Der erste Zugang erfolgt aus der Unterscheidung von Ort und Körper. Aus der Tatsache, dass Dinge den Platz wechseln können und derselbe Platz von verschiedenen Dingen eingenommen werden kann (sog. Wechselumstellung), ergibt sich die Realität des Raumes, da klar sei, dass „der Ort und der Raum etwas Verschiedenes von beiden [vertauschten Körpern] sein muss, in den und aus dem sie wechselten.“62 Dass der Raum etwas Wirkliches ist, ergibt sich auch aus der gerichteten Bewegung der natürlichen Körper. Die Bewegung der Körper zu ihrem natürlichen Ort (oiökeiqow toßpow) – des „Irdischen“ und „Wässrigen“ gravitativ nach unten, des „Feurigen“ und „Luftigen“ levitativ nach oben – belege, dass der Ort nicht nur ein Etwas, sondern sogar eine gewisse Kraft besitze (eäxei tina? dußnamin). Was mit der dußnamiw des Raumes gemeint ist, ist allerdings umstritten. Gohlke übersetzte mit „gewisse Wirkung“, Zekl mit „gewisse Kraft“, Schwarz möchte mit „bestimmte Möglichkeit“ übersetzen, da die Kraftwirkung dem Ort nicht aufgrund seines Raumcharakters, sondern aufgrund der bestimmten Orientiertheit der Dinge zukomme. ————— 60 61 62

Physik IV, 1, 208a, 32f. Zur Kritik an Gosztonyi vgl. Zekl, Topos, 8 Anm. 18. Physik IV, 1, 208b, 2.7f.

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Die Unklarheit resultiert daraus, dass Aristoteles die in seiner Bewegungstheorie implizierte Theorie der absoluten Örter auf die relativen Örter ausdehnt. Die Orientiertheit der Bewegung benötigt zwei absolute Örter, nämlich das absolute Unten, d.h. das Weltzentrum, der mit dem Erdmittelpunkt nahezu identisch sein muss, und das absolute Oben, d.h. die äußerste Sphäre der Fixsterne, in Opposition dazu. Dieses absolute Oben und Unten bezieht Aristoteles eineindeutig auf die Bewegungsrichtungen und setzt die relativen Richtungen oben und unten mit dem absoluten aänv kai? kaßtv gleich. Dadurch werden von den sechs möglichen relativen Richtungen oben-unten, rechts-links, vorne-hinten zwei absolut ausgezeichnet, so dass jedes lokale Koordinatensystem eine absolute Orientierung und zugleich dynamische Potenz erhält. Die Funktion des Raumes ist damit die Vermittlung der Graviation und Levitation an die Körper durch absolute Orientierung ihrer Bewegungsrichtung. Der Raum ist insofern die „dynamis“ des Bewegungswohin. Dies meint m.E. nicht bloß die geometrische Ermöglichung des Wohin der Bewegung (gegen Schwarz), aber auch nicht die Kraft der Bewegung selbst (gegen Gohlke, Zekl und Jammer, der den aristotelischen Raum als eine Art geometrodynamisches Kraftfeld interpretiert63), sondern die räumliche Vermittlung der Bewegungskraft. Die Potenz des Raumes ist also die dynamisch-vermittelnde Ermöglichung des Bewegungswohin. Der Raum ist aufgrund der absoluten Orientierung das vermittelnde Medium der Bewegung, er ist jedoch (gegen Evers) nicht die „Ursache […] für die dynamischen natürlichen Bewegungen“64, wie Aristoteles selbst extra hervorhebt, weder Stoff- noch Form- noch Ziel- noch Wirkursache.65 Der Raum ist gleichwohl etwas Wirkliches, was sich daraus ergibt, dass der Ort nicht vergeht, wenn die an ihm befindlichen Gegenstände vergehen, er ist jedoch kein Körper, sonst wäre ja ein Körper am Körper, d.h. zwei Körper am selben Platz.66 Dies folgt auch aus dem berühmten Epicheirema des Zenon von Elea: Wenn Ort ein Seiendes wäre, müsste er irgendwo, d.h. an einem Ort sein, also am Ort des Ortes (touq toßpou toßpow), der selbst wieder ein Seiendes an einem Ort wäre usf. ad infinitum.67 3. Der erste Gedankengang erörterte das Raumproblem vom Verhältnis von Ort und Körper her und endet mit der Einsicht, dass die Frage, was der Ort ist, und inwiefern er ein Wirkliches ist, noch nicht als positiv beantwortet gelten kann. Der zweite Gedankengang sucht die Wesensbestimmung des ————— 63 64 65 66 67

Jammer, Problem des Raumes, 18. Evers, Raum – Materie – Zeit, 18. Physik IV, 1, 209a, 19–23. Physik IV, 1, 209a, 1f.6f. Physik IV, 1, 209a, 24f.

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Raumes aus dem Zusammenhang zu Form und Stoff. Nach einer vorläufigen Definition wird Ort bestimmt als „das unmittelbar einen jeden Körper Umfassende (eöstin oÖ toßpow to? prvqton perießxon eÄkaston tvqn svmaßtvn)“68, also als eine Art Begrenzung (peßraw ti). Diese umfassende Begrenzung ist jedoch weder mit der Form oder Gestalt der Dinge identisch noch mit dem stofferfüllten Innenraum, also dem Stoffvolumen. Denn Form und Stoff lassen sich von dem Ding nicht ablösen, der Ort aber wohl. Wenn der Ort im Gegenstand wäre, und das müsste er, wenn er Form oder Stoff wäre, so wäre ja ein Ort im Ort69 usf. ad infinitum. Ist der Raum dann so etwas wie das (unstoffliche und gestaltlose) Gefäß der Dinge? Das hängt davon ab, wie man die Präposition eön im Ausdruck eön toßpv# versteht. Dieser Frage wird im dritten Kapitel nachgegangen. Der Ausdruck „etwas in/an einem anderen (aällo eön aällv#)“ kann ganz allgemein in verschiedenster Weise gebraucht werden: Er kann 1. den Teil im Ganzen (Finger an der Hand), 2. das Ganze im Teil bestehend, 3. die Art inbegriffen in der Gattung (Mensch in Lebewesen), 4. die Gattung enthalten in der Art, 5. die Form im Stoff verwirklicht, 6. die Wirkung im Anstoß durch die Ursache, 7. der im Ziel beschlossene Sinn einer Handlung meinen, meint aber meist „in einem Gefäß“ oder „an einem Ort“.70 Offensichtlich ist Aristoteles’ Meinung die, dass die In-Relation des Ortes nicht nach einem der dualen kategorialen Schemata Teil-Ganzes, Art-Gattung, FormStoff, Ursache-Wirkung, Sinn-Ziel erfasst werden kann. Wie aber dann? Da „an einem Ort“ nicht konkret als „in einem Gefäß“ gemeint sein kann, da sonst Ort als Gefäß am Ort, also Ort im Ort wäre, könnte, so fragt Aristoteles weiter, Ort im Sinne eines In-seins nur dann ein Etwas sein, wenn Insein nicht notwendig ein In-einem-anderen, sondern auch ein In-sich-sein bedeuten kann. Ein In-sich-sein hält er nur in übertragener Rede für möglich. Weder der Krug noch der Wein sind in sich, nur das Gesamt KrugWein ist in sich, insofern das Was und das Worin Teile des gleichen Ganzen sind. Etwas kann nur als es selbst in sich sein, nicht als ein anderes. Die Unterscheidung zwischen Körper und Raum erzwingt daher, dass Raum nicht Eigenraum oder Gefäß-in-sich sein kann. Wäre Raum das In-sich-sein des Körpers und also des Körpers eigenes Gefäß, so würde der Raum bei der Bewegung mitbewegt, es wäre also Raum im Raum. Kurz: Das Konzept des Eigenraumes (iädiow toßpow) wird von Aristoteles abgelehnt (gegen ————— 68 Physik IV, 2, 209b, 1f. 69 „eiö d’eön auötvq# oÖ toßpow […] eästai oÖ toßpow eön toßpv#“ (Physik IV, 2, 210a, 5f). Gegen Schwarz, Raum und Zeit, 88, ist im Vordersatz nicht positiv vom Raum als „Eigenraum” die Rede, da es sich um einen Irrealis handelt, so dass sich eön auötvq# auf den Gegenstand (so auch Zekl), nicht auf den Ort rückbezieht. 70 Physik IV, 3, 210a.

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Gent und Schwarz), da es wieder auf das Zenonsche Paradoxon führt: Wäre der Ort in sich, so wäre Ort im Ort usf. 4. Nach diesen drei vergeblichen Annäherungen, die jedes Mal auf Zenons Paradoxie führten, versucht Aristoteles im vierten Durchgang aus den erreichten Negationen den Raumbegriff positiv zu bestimmen. Wenn Ort weder die Form noch der Stoff noch die Ausdehnung des Körpers sein kann; wenn Ort und Körper verschieden, aber nicht durch einen räumlichen Abstand getrennt sind; wenn Ort weder Eigenraum noch enthaltendes Gefäß noch beweglich, aber doch ein Wirkliches sein soll, dann bleibt nur die reale Grenze eines Umfassenden. Der Ort ist nach Aristoteles mit der inneren Grenze des umfassenden Körpers identisch, insofern sie mit dem Umfassten in unmittelbarer Berührung steht. Also „scheint Ort zu sein a) eine gewisse Form von Fläche, b) so etwas wie ein Gefäß, c) ein Umfassendes“71, außerdem unbewegt. Ort ist also die Grenzfläche des umfassenden (nicht enthaltenden!), unbeweglichen Gefäß-Körpers. „Die unmittelbare, unbewegliche Grenze des Umfassenden – das ist Ort (toß touq perießxontow peßraw aökißnhton prvqton, touqt’ eästin oÖ toßpow.)“72 Der Ort ist bei Aristoteles nicht, wie oft gesagt wird, die umfassende Begrenzungslinie des Körpers, sondern die innere Oberfläche des umschließenden, unbeweglich gedachten Körpers. Die gesamte Diskussion wird in folgenden sechs axiomatischen Bestimmungen zusammengefasst: Der Ort ist a) das erste, d.h. das unmittelbar Umfassende für das, dessen Ort er ist, b) er ist vom Gegenstand in/an ihm verschieden, c) der Ort ist genauso groß wie der umfasste Gegenstand, d) der Ort ist vom Gegenstand ablösbar, e) jeder Ort hat absolute Orientierung, denn er enthält oben und unten als Teilrichtungen, f) es gibt natürliche Örter, zu denen sich jeder Körper von Natur aus bewegt und dort zur Ruhe kommt.73 Diese wirkmächtige Definition, in der geometrische mit kinematischen und dynamischen, sowie anschauliche mit begrifflich-abstrakten Vorstellungen vermischt sind, hat folgende kosmologischen Konsequenzen. Ort kommt nur den der Bewegung fähigen Körpern zu; Ort kommt nur den von materiellen Körpern umfassten Körpern zu; Ort kommt überhaupt nur den materiellen Körpern zu. Der Ort ist nichts selbständig Seiendes – sonst wäre die Zenonsche Paradoxie unvermeidlich –, sondern die Korrelation von zwei einander umschließenden Körpern, wobei der äußere Körper nicht selbst konkret begrenzt sein muss. Der Ort des Wassers ist der Krug, der Ort des Kruges die umgebende Luft. Über die materielle Kontinuität ist ————— 71 72 73

Physik IV, 4, 212a, 28f. Physik IV, 4, 212a, 20f. Physik IV, 4, 210b, 34–211a, 6.

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die Kontinuität des Raumes gewährleistet, einen leeren Raum kann es nicht geben. Leerer Raum wäre ein Ort, aus dem Körper fortgenommen sind.74 Im körperlosen Raum gäbe es keine ortsverändernde Bewegung, da hierzu Materie erforderlich ist – Bewegung wird nach Aristoteles durch ein materielles Medium vermittelt, das mit dem bewegten Körper den Platz wechselt und den Bewegungsimpuls des Werfers ständig auf den Gegenstand überträgt.75 Das Gegenargument der Atomisten, dass leerer Raum zur Bewegung nötig sei, während voller sie verhindere, hält Aristoteles nicht für stichhaltig. Die Bewegung der Fische im Wasser und des Pfeiles in der Luft beweise das Gegenteil. Die materielle Kontinuität des Raumes und die Ineinanderschachtelung der umfassenden Orts-Körper erzwingen die Anfüllung der supralunarischen Welt mit einem feinstofflichen, unsichtbaren Material, dem Äther,76 und die konzentrische Schachtelung der Elementen- und Planetensphären, also das konzentrische, geozentrische Sphärenmodell des Eudoxos. Da jeder Körper eine körperliche Begrenzung braucht, um einen Ort zu haben, stellt sich die Frage, wie der aristotelische Kosmos endlich sein kann. Das Problem löst Aristoteles durch das konsequente Axiom: „Welcher Körper nun einen äußeren Körper hat, der ihn umfasst, der ist an einem Ort, welcher nicht, der nicht.“77 Also ist die Himmelssphäre nicht an einem Ort, da sie kein Umfassendes hat. „Die Erde (befindet sich) innerhalb der Wasser(sphäre), diese innerhalb der Luft(sphäre), diese innerhalb des Äther(bereichs), der Äther innerhalb der Himmels(sphäre), die Himmels(sphäre) aber nicht mehr in einem Anderen.“78 Der Himmel ist nicht nur die äußerste Sphäre, sondern steht auch für das Ganze (oÖ ga?r ouörano?w to? paqn iäsvw)79. Das Universum als Ganzes umfasst alles, was ist, genauer es ist das All, es ist überall, war überall und wird überall sein. Daher erübrigt sich die Frage nach dem Ort des All. Die Himmelssphäre ist kein Ort im Sinne der Definition, sondern eine Art äußerster Rand oder Grenze der bewegten Körper. Alles, was ist, befindet sich „im“, d.h. innerhalb des Himmels (eön tv#q ouöranv#q paßnta), der Himmel ist das Vollendete und Ganze (teßleion kai? oÄlon), zu dem es kein Weiteres oder Äußeres gibt, ————— 74 Physik IV, 7, 214a, 17. 75 Physik IV, 8, 215a. 76 Aristoteles, De caelo, 270b, 23. 77 Physik IV, 5, 212a, 31f. 78 „hÖ ghq eön tvq# uÄdati, touqto d’ eön tvq# aöeßri, ouWtow d’ eön tvq# aiöjeßri, oÖ d’ aiöjh?r eön tvq# ouöranvq#, oÖ d’ ouörano?w ouökeßti eön aällv#“ (Physik IV, 5, 212b, 20–22). Metereologisch besteht die Wassersphäre aus Tau, Nebel, Regen und Wolken, darüber befindet sich bis zur Mondsphäre Luft, ab hier durchdringt der Äther den Zwischenraum zwischen den sieben Planetensphären und reicht bis zur äußersten Sphäre, dem Fixsternhimmel, dem Firmamentum, vgl. die anschauliche Darstellung im pseudoaristotelischen De mundo, 2–3, 391b–393a. 79 Physik IV, 5, 212b, 17f.

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im Unterschied zum Immer-weiter des aäpeiron.80 Es gibt keinen unendlichen Raumkörper außerhalb des Himmels, auch keinen, der über ihn hinausragt, also überhaupt keinen Körper außerhalb des Himmels.81 Außerhalb des Himmels ist weder Raum noch Leeres noch Zeit (ouöde? toßpow ouöde? keno?n ouöde? xroßnow eöstin eäcv touq ouöranouq).82 5. Wo befindet sich Gott im aristotelischen Kosmos? Zweifellos nicht räumlich außerhalb – es gibt kein Außerhalb –, aber auch nicht räumlich innerhalb. Gott hat bei Aristoteles keinen räumlichen „Ort“ – entgegen der mittelalterlichen Vorstellung gibt es weder ein neuplatonisch-chaldäisches Empyreum noch ein christliches habitaculum Dei et beatorum: Bereits nach dem pseudoaristotelischen De mundo hat sich Gott das reine Oben im reinen (Feuer)raum (aänv kajaro?w eön kajarvq# xvßrv#), den wahren Himmel, die obere Grenze des kosmischen Himmels bildend, als Wohnort gewählt83 –, da Gott bei Aristoteles nicht mit dem Raum, sondern mit der Zeit,84 genauer mit der Ewigkeit der Zeit und der Bewegung verbunden ist. Die Zeit und die Bewegung müssen ewig sein (aöei? xroßnow eästin [...] kai? kißnhsin aöiß_dion eiQnai)85, da es zu jedem nuqn ein voraufgehendes und ein nachfolgendes und zu jedem Bewegten ein Bewegendes gibt. Also ist die Zeit anfanglos und mit ihr die Bewegung. Repräsentant der ewigen Bewegung ist die kontinuierliche, in sich selbst zurücklaufende Kreisbewegung, vorrangig die unaufhörliche, vollkommene des ersten Himmels. Die ewige Bewegung bedingt die Existenz von immer schon Bewegtem, also die Ewigkeit der Welt. Diese Behauptung widerspricht nicht der Forderung eines ersten unbewegten Bewegenden (prvqton kinouqn aökißnhton)86 aus dem 8. Buch der Physik und dem 12. Buch der Metaphysik. Denn der erste Beweger bewegt nicht physisch-kausalmechanisch „von außen“ die Welt, sondern als das Prinzip der Bewegung und der Zeit „von innen“, und zwar so, dass er als schlechthinnige Wirklichkeit die Zweckursache ist, die alles in Tätigkeit des Strebens von Möglichkeit zur Wirklichkeit hält. Er bewegt, indem er in Bewegung hält, er ist das Weswegen der Bewegung, wie das Geliebte, das Erstrebte und Erkannte, das bewegt, ohne selbst bewegt zu sein. Er ist das ewige Lebensprinzip des Kosmos durch die lustvollste und beste aller Tätigkeiten, die unaufhörliche, selbstbezügliche Vernunfttätig————— 80 Physik III, 6, 207a, 9. 81 Aristoteles, De caelo, I, 7, 275a. 82 Aristoteles, De caelo, I, 9, 279a, 12. 83 (Pseudo)Aristoteles, De mundo, 6, 400a, 4–10. 84 Zum Folgenden, hier nur Angedeuteten, vgl. E. Rudolph, Zeit und Gott bei Aristoteles aus der Sicht der protestantischen Wirkungsgeschichte, 89–104. 85 Aristoteles, Physik VIII, 1, 251b, 13. 86 Aristoteles, Metaphysik XII, 8, 1073a, 26.

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keit, das Denken des Denkens (noßhsiw nohßsevw)87. Als solches, als Identität von reiner Vernunft (nouqw) und reiner Wirklichkeit (eöneßrgeia) heißt das erste Bewegende auch der Gott (oÖ jeoßw). Er ist die „Einheit von Grund (aörxhß), Vollzug (eöneßrgeia) und Zweck (ouö eÄneka) für das Sein“88. Als solches ist er auch das Wesen (ouösißa) der ewigen Bewegung, namentlich das ewige Prinzip der ewigen Himmelsbewegung. Der erste Himmel bewegt die anderen Sphären wirkursächlich durch sukzessiven Bewegungsübertrag nach unten, der Gott aber zweckursächlich und erhaltend durch die Ewigkeit von Bewegung und Zeit. Das Verhältnis des aristotelischen Gottes zur Welt ist nicht im Schema von (räumlicher) Transzendenz und Immanenz zu erfassen, sondern eher im Schema von Prinzip und Vollzug.

2.4 Kritik des aristotelischen Raumbegriffs (Eudemos, Theophrast) Die aristotelische Raumlehre wurde in allen wichtigen Philosophenschulen – dem Peripatos, der Stoa, dem Mittel- und Neuplatonismus – kritisch diskutiert und weitergeführt. Wir nennen summarisch einige Haupteinwände, da sie uns über die stoischen zu den (neu)platonischen Raumtheorien führen werden, die außer den Fragestellungen nach dem Verhältnis von Raum und Stoff, von Raum und Kosmos auch das von Gott und Raum thematisierten. Die ganze Debatte ist detailliert dokumentiert in den Aristoteles-Kommentaren des Philoponos und des Simplikios, die beide neben der eigenen Auseinandersetzung mit der aristotelischen Raumlehre auch ein Korollar zur gesamten antiken Raumdiskussion im Anschluss an die Kommentierung der Kapitel 1–4 bzw. 1–5 des vierten Buches der Physik eingeschoben haben.89 Die Raumtheorien von Philoponos und Simplikios sind auch deshalb für uns interessant, weil sie zeigen, dass Aristoteles christlich und nichtchristlich weitergeführt werden konnte. Philoponos und Simplikios waren die beiden widerstreitenden, führenden Naturphilosophen am Ausgang der Antike, der eine, Simplikios, bis zur Schließung 529 an der platonischen Akademie in Athen lehrend, versuchte Aristoteles mit dem (Neu)Platonismus zu versöhnen, wandte sich aber dezidiert gegen die christliche Verfremdung des Aristoteles, der andere, Philoponos, aus der alexandrinischen Schule des Neuplatonikers Ammonios stammend, versuchte hingegen, ————— 87 Metaphysik 1074b,34. 88 Rudolph, Zeit und Gott bei Aristoteles, 99. 89 Simplikios, Corollar de loco, In Aristotelis Physicorum, 601–645; Philoponos, Corollar de loco, In Aristotelis Physicorum, 557–585; engl. Teilübersetzungen in Simplicius, Corollaries on Place and Time; ders., On Aristotle Physics 4; Philoponos, Corollaries on Place and Void; ders., On Aristotle Physics 5–8; dt. Auswahl in Johannes Philoponos. Ausgewählte Schriften, hg. v. W. Böhm, 81–100.

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Aristoteles christlich umzuformen und mit dem christlichen Neuplatonismus zu vereinen. Der Peripatetiker Eudemos von Rhodos formulierte zuerst die Kritik an Aristoteles’ Behauptung der Ortlosigkeit des All,90 die von Simplikios und Philoponos als Fundamentaleinwand gegen die aristotelische Ortsdefinition überhaupt aufgenommen wurde. Wenn die äußerste Himmelssphäre keinen Ort hat, dann kann sie auch nicht bewegt sein, denn Bewegung benötigt nach Aristoteles eigener Definition einen Ort. Dies gilt für die geradlinige Bewegung der elementischen Körper ebenso wie für die kreisförmige der Himmelssphären. Alle natürlichen Körper, so referiert Simplikios De caelo 268b, 16f, lassen Ortsveränderungen zu. Ortsbewegungen sind linear oder kreisförmig oder gemischt. Also ist auch die Himmelsbewegung eine Ortsbewegung und keine qualitative o.a. Veränderung. Von Ortsbewegung kann man nur im Bezug auf einen unbewegten Ort sprechen kann. Und was den Ort wechselt, ist an einem Ort. Also befinden sich das bewegte Himmelsganze und die Fixsterne an einem Ort. Dieser Ort kann aber nicht die innere Grenzfläche eines Umfassenden sein, da der Himmel von nichts umfasst wird. Also ist die aristotelische Ortsdefinition unzureichend, da nicht auf alle Orte anwendbar.91 Dies Problem verlangt nach einer alternativen Raumtheorie, die von Simplikios und Philoponos auch ausgearbeitet wurde. Doch zunächst sind die weiteren Einwände zu nennen, die der direkte AristotelesSchüler Theophrast92 vorgebracht hat. Es hat insgesamt fünf unhaltbare Konsequenzen des aristotelischen Ortsbegriffs aufgezählt:93 1. wäre jeder Körper in einer Oberfläche, d.h. der Ort eines dreidimensionalen Körpers wäre zweidimensional; 2. wäre der Ort in Bewegung, dann nämlich, wenn sich der umschließende Körper bewegt; 3. wäre nicht jeder Körper an einem Ort, namentlich der Fixsternhimmel; 4. wäre, wenn man die Sphären zum Ganzen des All zusammenschließt, dieses nicht mehr an einem Ort, d.h. ohne tatsächliche Veränderung würde sich allein durch den Betrachtungswechsel von den Teilen zum Ganzen der Ort in einen Nicht-Ort wandeln; 5. wären örtlich unveränderte Dinge nicht länger am Ort, wenn der umfassende Körper bewegt wird, weil ja ihr Ort weggeführt würde. Um diese Schwierigkeiten zu vermeiden, hat Theophrast vorgeschlagen, auf die Annahme der Realität und der körperlichen Implementierung des Ortes zu verzichten und statt dessen Ort als reine Lagebeziehung der Körper zuein————— 90 Eudemos von Rhodes, in: F. Wehrli, Die Schule des Aristoteles, Heft VIII, Fr. 80, 38 = Simplicios, In Aristotelis Physicorum, 595,3–15. 91 Simplikios, In Aristotelis Physicorum, 602, 16–26; 603, 1–8; Philoponos, In Aristotelis Physicorum, 566,34–567,6. 92 Vgl. P. Steinmetz, Die Physik des Theophrast. 93 Simplikios, In Aristotelis Physicorum, 604, 6–11.

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ander zu definieren. Ort ist dann die Ordnung und Position der Teile eines Ganzen relativ zueinander und zum Ganzen, ähnlich der natürlichen Lageordnung der Organe eines Lebewesens. Am Ort sein heißt dann soviel wie an seinem Ort sein, d.h. an dem der Stellung des Teils zukommenden Eigen-Ort zu sein. „Vielleicht ist der Ort keine Substanz an sich, sondern ist durch die Ordnung und Position der Körper definiert, entsprechend ihrer Naturen und Kräfte, wie es auch bei Tieren und Pflanzen der Fall ist, und allgemein bei inhomogenen Körpern, beseelten oder unbeseelten, die eine natürliche Form haben. Denn die Ordnung und Position dieser Teile ist relativ zum ganzen Wesen. Daher sagt man, dass jeder Körper an seinem eigenen Platz ist, wenn er die ihm eigene Ordnung einnimmt, so wie jeder Teil eines Körpers nach dem Eigen-Ort und der Lage verlangt und zustrebt, die ihm zukommt.“94 Theophrast und nicht Aristoteles, wie oft gesagt wird, ist der Vorläufer der leibnizschen Raumdefinition als Inbegriff aller Lageorte und Ordnungsbeziehungen der koexistierenden Dinge zueinander. „Spatium est ordo coexistendi seu ordo existendi inter ea quae sunt simul“95.

2.5 Raum als pneumatisches Spannungs-Kontinuum (Stoa) Die konstruktive Kritik an Aristoteles wurde auch von den Stoikern betrieben, die zwar nicht in extenso eine Raumlehre ausgeführt, aber einige begriffliche Differenzierungen angebracht haben. Gegen Aristoteles unterscheiden sie zwischen dem oÄlon, welches den endlichen, materieerfüllten Kosmos, und dem paqn, das den Kosmos mitsamt dem ihn umgebenden, unendlich ausgedehnten Leeren meint.96 Ein Ort ist nur innerhalb des Kosmos definiert in Bezug auf materielle Körper und ihre Relation zu einem umgebenden Körper. Ort meint in Weiterführung von Aristoteles den materiell vollkommen ausgefüllten Hohlraum des umgebenden Körpers. Ort ist das, was von einem körperlichen Seienden besetzt ist. Innerhalb des Kosmos gibt es kein Leeres, das Stoffkontinuum ist ohne Leerstellen, so dass auch der Raum ein Kontinuum darstellt. Alle Dinge, irdische und himmlische, stehen in einem sympathetischen Zusammenhang (sumpaßjeia). Der Einklang und harmonische Zusammenhang der Dinge ist einerseits stofflich-materiell und andererseits raum-stofflich vermittelt. Den Kosmos, das wohlgeordnete Ganze, durchzieht nämlich das göttliche, alles zusammen————— 94 Simplikios, In Aristotelis Physicorum, 639, 15–22. 95 Leibniz, Initia rerum mathematicarum metaphysica 1715, in: Werke IV, 353; dt. auch in: Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie I, 36; vgl. Nr. 29 u. 47 des fünften Briefes an S. Clarke in: Clarke, Der Briefwechsel mit G.W. Leibniz, 72.78. 96 Diogenes Laertios, Leben und Lehre der Philosophen, VII, 143; weitere Stellen bei Baeumker, Das Problem der Materie in der griechischen Philosophie, 341.

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haltende Pneuma, das vernünftige, alles belebende und beseelende LogosPrinzip. Der Kosmos ist nach Zenon und Chrysipp das göttliche, vernünftig-beseelte Wesen und die Weltseele sein alles durchdringender Geist: „ipsum mundum deum dicit esse et eius animi fusionem universam“97. Die vernünftige, aktive Allseele entfaltet ihre Kraft über die ins passive Stoffkontinuum ausgestreuten Samenkräfte (loßgoi spermatikoiß) und über den Raum, der durch das Pneuma mit einer dynamischen Spannung (toßnow) ausgestattet ist, Bewegungs- und Veränderungsprozesse kontinuierlich zu initiieren, weiterzutragen und ineinander zu überführen. Raum meint das teils von den Materiekörpern, aber ganz vom Pneuma erfüllte dynamische Spannungs-Kontinuum innerhalb des Kosmos. Außerhalb des Kosmos ist unendlich ausgedehntes Leeres, das aber ausgefüllt werden kann und für die Feuerentwicklung beim (periodischen) Weltbrand (eökpurvsißw) benötigt wird. Die Spannung des Kosmos kann mit dem Pneuma expandieren und kontrahieren. Die Stoiker unterscheiden also zusammengefasst zwischen dem Ort (toßpow), dem Raum (xvßra) und dem Leeren (keßnon).98 Ort ist das vom Körper eingenommene Volumen, Raum das von den Körpern teilweise eingenommene, gespannte Kontinuum, das Leere der materiefreie, aber ausfüllbare Außenraum des Kosmos. Das alles zusammenhaltende Pneuma-Raum-Kontinuum ist mit der Gottheit pantheistisch identisch.99 Der stoische Gott wirkt auf zweierlei Weise am passiven Stoff: durch räumliche Allgegenwart des vernünftigen Pneuma, welches über Berührung, Druck und Stoß Kräfte überträgt, und durch die vernünftige göttliche Vorsehung (proßnoia, providentia), die alles Geschehen in der Zeit voraussieht, fürsorglich zum Besten des Menschen lenkt (procuratio) und im unabänderlichen Schicksal (eiÖmarmeßnh) notwendig zur Ausführung bringt (determinatio).

————— 97 Cicero, De natura deorum I, 39; II, 19–22; Diogenes Laertios, Leben und Lehre der Philosophen, VII, 134–142. 98 I. Stobaeos, Eclogae physicae et ethicae I, §392, 161; Stoicorum veterum fragmenta, Bd. I, Nr. 95, 26,22. 99 Vgl. Baeumker, Das Problem der Materie in der griechischen Philosophie, 360f; M. Pohlenz, Die Stoa, Bd. I, 95f.233.

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2.6 Dynamisch-kosmischer Raumbegriff (Philoponos, Simplikios) 1. Johannes Philoponos100 wandte sich wie Theophrast und die Stoiker gegen die Zweidimensionalität des aristotelischen Ortes.101 Wenn Ort die unbewegte Grenze des umgebenden Körpers ist, dann ist der Ort eines dreidimensionalen Körpers selbst zweidimensional. Der aristotelische Ort kann höchstens der Ort für die Oberfläche des umschlossenen Körpers sein, nicht aber der Ort für den Körper selbst. Ort und Körper müssen von gleicher Dimension sein. Das Volumen, das bei Aristoteles nur unter die Kategorie Wieviel (posoßn), nicht unter das Wo (pouß) fiel, ist für die Ortsdefinition konstitutiv. Raum ist nach Philoponos die dreidimensionale, unkörperliche Erstreckung eines von einem Körper potentiell oder real ausgefüllten Volumens. Der Ort ist das an einer bestimmten Stelle sich befindende Volumen. „Dass der Ort nicht die Grenze des Umfassenden ist, […] sondern eine gewisse dreidimensionale Ausdehnung, die auch als etwas Unkörperliches im eigentlichen Sinn von den in sie hineingebrachten Körpern verschieden ist und allein in den leeren Dimensionen des Körpers besteht, […] dürfte auch aus der Aufhebung des übrigen gezeigt worden sein. Denn wenn der Ort weder Materie noch Form noch Grenze des Umfassenden ist, dann bleibt nur mehr die Ausdehnung […] Ein Volumen ist infolgedessen der Ort, nämlich etwas Dreidimensionales. Der Ort ist aber auch das Maß der Dinge, die sich in ihm befinden. Insofern ist er ihnen gleich.“102 Philoponos unterscheidet zwischen dem Körper und dem unkörperlichen Raum, der zurückbleibt, wenn man sich den Körper wegdenkt. Der Raum ist ein gedachter leerer Raum. Der Raum ist hier vom Körper unabhängig, aber es ist kein newtonscher leerer „absoluter“ Raum, da er ein Bestreben hat, sich mit Körpern anzufüllen. Der unkörperliche, dreidimensionale Raum hat zwar eine eigene Realität neben den Körpern, aber nicht unabhängig von ihnen. „Es ist also der Zwischenraum etwas neben den ihn erfüllenden Körpern. Ich behaupte ja auch gar nicht, dass eine solche (reine) Ausdehnung existiert oder von jedem Körper leer sein könnte. Keineswegs. Aber ich sage, dass sie etwas anderes ist als die hineinfallenden Körper und im eigentlichen Sinne leer, niemals freilich abgesondert vom Körper. […] So nun denken wir auch die Ausdehnung als von jedem Körper verschieden ————— 100 Zu Philoponos’ Raumtheorie und Naturphilosophie vgl. W. Wieland, Zur Raumtheorie des Johannes Philoponos; R. Sorabji, Philoponos and the Rejection of Aristotelian Science; F. Krafft, Aristoteles aus christlicher Sicht: Umformungen aristotelischer Bewegungslehren durch Johannes Philoponos; eine sehr gute, übersetzte Textauswahl gibt Böhm, Johannes Philoponos. Ausgewählte Schriften. 101 Philoponos, In Aristotelis Physicorum, 563, 26–564,13. 102 Philoponos, In Aristotelis Physicorum, 567,29–35; 568,13–15, Übersetzung nach Böhm, Johannes Philoponos, 92.

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und im eigentlichen Sinn leer, aber es fällt immer der eine oder der andere Körper in sie hinein. Sie selbst bleibt jedoch dabei unbeweglich, sowohl im Ganzen als auch in den Teilen.“103 Einen tatsächlich leeren Raum hält wie Aristoteles auch Philoponos für unmöglich. Daher spricht er dem leeren Raum eine Kraft zu, sich mit Körpern zu füllen. Diese dynamische Kraftwirkung auf Körper hängt aber nicht an der Orientierung in Bezug auf die absoluten Örter, sondern am Raum als solchem. Die Kraftwirkung des Raumes betrifft den Bewegungsanstoß, nicht aber die Spezifizität und Richtung der Bewegung. Die naturphilosophisch bedeutendste Neuerung des Philoponos war die Aufgabe der Theorie der natürlichen Örter. Dazu musste er aber die Körper mit einer eigenen dynamischen Qualität ausstatten, welche das teleologische Moment der aristotelischen Bewegungslehre statt in den Orten im Körper situierte. Körper haben nach Philoponos eine eingeprägte Kraft (dußnamiw eöndojeiqsa), einen natürlichen Trieb (oÖrmh? fusikhß), eine eingepflanzte Tendenz (eämfutow rÖophß), die Ordnung der Körper zueinander zu wahren und die bestmögliche Wohlordnung des Ganzen anzustreben.104 Die geordnete Bewegung jedes Körpers geschieht „nach der Rangordnung, welche der Weltbaumeister ihm zuteilte. Denn dann vorzüglich haben die Körper ihr Sein und dann haben sie auch ihre Vollendung. […] Die Körper haben das Bestreben, ihre (räumliche) Anordnung zu bewahren.“105 Jeder Körper hat einen eingestifteten teleologischen Impetus, sich gemäß der vom Schöpfer eingerichteten Ordnung (taßciw) aus innerem Streben nach dem zugewiesenen Platz zu bewegen.106 ————— 103 Philoponos, In Aristotelis Physicorum, 569, 6–17, nach Böhm, Johannes Philoponos, 93. 104 Bekannter ist zwar Philoponos’ Erklärung der erzwungenen Bewegung durch „energetische Speicherung“ des Bewegungsanstoßes (Impetus), ein Vorläufer der nominalistischen Impetus-Lehren, er hat aber die (vom Schöpfer) eingeprägte Kraft hauptsächlich auf die natürliche Bewegung bezogen. Anders als bei Aristoteles ist bei ihm die teleologische Zweckmäßigkeit nicht nur im Einzelprozess wirksam, sondern auch auf den externen Gesamtzweck des Schöpfergottes bezogen, der nicht nur wie Platons Demiurg planend, sondern auch ausführend tätig ist. Seine externe Zwecksetzung aller Bewegungen bewirkt das sinnvolle Aufeinanderabgestimmtsein und die Zweckmäßigkeit aller Prozesse mittels der eingeprägten, teleologischen Kräfte; zu Philoponos’ christlicher Umformung der aristotelischen Physik vgl. F. Krafft, Zielgerichtetheit und Zielsetzung in Wissenschaft und Natur, bes. 59f. 105 Philoponos, In Aristotelis Physicorum, 581,27–31, nach Böhm, Johannes Philoponos, 95. 106 „Weil es für den Aufbau des ganzen Kosmos gut ist, dass die Körper, die zusammen die Welt ausfüllen, zueinander ein entsprechendes Verhältnis haben, so ist es mithin auch recht und billig, dass jeder Körper einen gewissen natürlichen Trieb hat, ein solches Verhältnis zu den übrigen anzustreben. Da also einem jeden Körper zukommt, diesen oder jenen Teil der Ausdehnung zu besetzen, so verlangt er natürlich auch nach ihm – nicht weil jener Teil der Ausdehung eine gewisse (Anziehungs-)Kraft hat, sondern weil sowohl für das Ganze als auch für jeden Teil das Sein sowohl als auch das Wohlsein ein Gut bleibt, derart dass das eine sich diesem unterordnet und das andere sich jenem überordnet. Es verlangt also jedes nach einer örtlichen Ausdehnung nicht wegen dieser selbst, sondern wegen der richtigen Lage zum übrigen.“ (Philoponos, In Aristotelis Physicorum, 633,5–13, zit. nach Böhm, Johannes Philoponos, 98f).

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Die Umbildung der Theorie der natürlichen Örter in die Bewegungslehre des natürlichen Strebens und die Definition des Ortes als vom Körper ausgefüllten Raumes bzw. des Raumes als dreidimensionaler unkörperlicher Erstreckung vermag das Ortsproblem der letzten Sphäre zu lösen. Dazu muss nur der Begriff des Weltraumes, der kosmischen Erstreckung (kosmiko?n diaßsthma) eingeführt werden, welcher das innere, unbewegte Gesamtvolumen des Kosmos meint. Der unbewegte Weltraum enthält den bewegten Weltkörper. So kann dem räumlich endlichen Kosmos ein Ort zugeschrieben werden, ohne dass ein Außen nötig wäre. Der Kosmos unterliegt als Ganzer keiner Ortsveränderung, er muss dazu aber nicht ewig sein. Philoponos’ Bewegungslehre gestattet es, die vollkommene Kreisbewegung der Himmelssphären als zeitlich endlich zu denken. Dazu musste – und konnte – er aber den aristotelischen Dualismus zwischen den sublunaren Linear- und den supralunaren Kreisbewegungen aufheben. Die Himmel werden nicht anders bewegt als die irdischen Körper. Auch den Himmelssphären hat Gott mit der Erschaffung innere Kräfte eingeprägt, statt des Fallens bzw. des Aufsteigens die Bewegungskraft (kinhtikh? dußnamiw) der gleichförmigen Rotation. Philoponos leugnet aufgrund des biblischen Schöpfungsberichtes107 und da es physikalisch nicht benötigt wird das fünfte Element, den Äther. Die Gestirnkörper sind nicht ewig oder unvergänglich. Sie bestehen aus elementischem Feuer, dem durch göttliche Zwecksetzung eben ein rotatorischer Impetus eingeprägt wurde. Die Provokation ging sogar soweit, dass Philoponos das himmlische mit dem irdischen Licht gleichsetzte und aus empirischen Beobachtungen (!) zu den Farbspektren die Äquivalenz bewies.108 Auch ist für den Christen Philoponos die Zeit nicht ewig, sondern mit der Schöpfung – ex nihilo – geworden. Gegen Aristoteles macht er geltend, dass die unbeschränkte Folge der Zeitpunkte nicht die aktuale Unendlichkeit der Zeit bedeutet, da der gegenwärtige Weltzustand unter der Annahme der Ewigkeit der Welt, der Bewegung und der Zeit von unendlich vielen Bedingungen abhinge und niemals erreicht worden wäre.109 Die Welt muss einen Anfang haben. Ewig ist allein Gott. Zur Überwindung des aristotelischen Dualismus zwischen ewiger supralunarischer und veränderlicher sublunarischer Welt muss Philoponos, wenn er ————— 107 Zu Philoponos’ Hexaemeron-Auslegung De opificio mundi vgl. C. Scholten, Antike Naturphilosophie und christliche Kosmologie in der Schrift ‚De opificio mundi‘ des Johannes Philoponos; A.M. Ritter, Christliche Kosmologie in der Alten Kirche. 108 Beispiele und Textstellen bei S. Sambursky, Das physikalische Weltbild der Antike, 576f. 109 Die Argumente im Einzelnen bei E. Zeller, Über die Lehre des Aristoteles von der Anfangslosigkeit der Welt; E. Behler, Die Ewigkeit der Welt. Problemgeschichtliche Untersuchungen zu den Kontroversen um Weltanfang und Weltunendlichkeit in der arabischen und jüdischen Philosophie des Mittelalters, 128–137; W. Wieland, Die Ewigkeit der Welt. Der Streit zwischen Johannes Philoponos und Simplicius, bes. 300–309.

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die zeitliche Endlichkeit des ganzen Kosmos behauptet, auf der anderen Seite die Ewigkeit Gottes radikalisieren und gegen den aristotelischen Gott von jedem Zeitbezug reinigen, indem er „der Seinsweise Gottes das Prädikat des schlechthin Unzeitlichen gibt“110. Philoponos’ „radikale Absage an die aristotelische Zweiteilung von Himmel und Erde, die kompromisslose Auffassung des Universums als einer physikalischen Einheit, die seinem christlichen Glauben entsprang“111 konnte sich allerdings vor dem 17. Jahrhundert nicht durchsetzen. Sie gehört zu den „verpassten Gelegenheiten“ der Integration von modernster Physik und christlicher Schöpfungslehre. Wäre die Raumtheorie und Kosmologie des Philoponos statt der des Aristoteles in die christliche Theologie des Hoch- und Spätmittelalters übernommen worden, „so wäre vielleicht die kopernikanische Revolution schmerzloser verlaufen, und die Naturwissenschaft hätte sich glatter und schneller entwickeln können.“112 2. Philoponos’ großer Gegenspieler Simplikios beharrte auf dem aristotelischen kosmologischen Dualismus, den natürlichen Örtern und der Ewigkeit und Unvergänglichkeit der himmlischen Welt. Der physikalisch-geometrische Anteil seiner Raumtheorie113 ist von der des Philoponos nicht wesentlich verschieden. Er wandte sich wie jener gegen das Verständnis des Ortes als einer (zweidimensionalen) Hülle oder Decke. Ort ist nicht ein Umgebendes, sondern (dreidimensionale) Ausdehnung (diaßsthma), eingenommener Raum (xvßra), Aufnahme (uÖpodoxhß) eines Ganzen.114 Der Raum ist untrennbar mit der Materie verhaftet und er ist kosmologisch geordnet, so dass alle Körper nach „guter Ordnung“ lokalisiert sind. Der Gesamtraum, den Simplikios vom lokalen, beweglichen Ort unterscheidet und auch den unveränderlichen totalen Ort oder Ort des Ganzen nennt, ist das Maß aller Dinge, welches jedem Körper „seine“ Stellung zuteilt und die Teile des All zu einem wohlgeordneten Ganzen ordnet.115 Der Gesamtraum braucht keinen weiteren Ort, er ist das ordnende und verbindende Maß, das einigende Prinzip der Strukturordnung. Daher hat der Raum zuerst Anteil an der göttlichen Erleuchtung.116 Der Raum ist in neuplatonischer Tradition der Vermittler des göttlichen Lichtes an die Welt. Es wird repräsentiert durch die ————— 110 Wieland, Die Ewigkeit der Welt, 312f. 111 Sambursky, Das physikalische Weltbild der Antike, 571. 112 Ebd., 596. 113 Zu Einzelheiten vgl. J. Zahlfleisch, Die Polemik des Simplicios gegen Aristoteles’ Physik D 1–5 über den Raum; Verbeke, Ort und Raum nach Aristoteles und Simplikios; P. Hoffmann, Simplicius’ Polemics, in: Sorabji, Philoponos and the Rejection of Aristotelian Science, 57–83. 114 Simplikios, In Aristotelis Physicorum, 608,5. 115 Ebd., 631,32–632,2. 116 Ebd., 638,11–17.

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unwandelbaren Gestirne. „Der Gesamt-R[aum], das alle Dinge umfassende Maß, wird durch die vereinheitlichende göttliche Macht seines intelligiblen Vorbildes erleuchtet; die ewigen Wundererscheinungen der am Himmel sichtbaren Götter zeigen die göttliche Natur des R[aumes] an.“117 Simplikios vertritt mit den Aristotelikern und Neuplatonikern die Ewigkeit der Welt und der Zeit und wendet sich vehement gegen die Profanierung des Himmels und die Depotenzierung der Gestirne zu Geschöpfen durch Philoponos. Die Himmel und ihr Material, das fünfte Element des Äthers, sind göttlicher Natur und unvergänglich. Ein Kompromiss zwischen dieser die antike Mehrheitsmeinung repräsentierenden Auffassung des Simplikios und der singulären des Philoponos konnte in der hitzigen Debatte nicht gefunden werden. Aber auch die Mehrheit des Christentums hielt am kosmologischen Vorrang des Himmels als dem Ort Gottes und der Engel fest. Dies war möglich durch die neuplatonische Raum- und Kosmosvorstellung. Deren Unterscheidung zwischen dem intelligiblen, unveränderlichen Kosmos und dem sensiblen, veränderlichen als seinem Abbild ermöglicht es, die Vorrangstellung des Himmels beizubehalten ohne ihn als ewig und göttlich behaupten zu müssen. Die neuplatonische Raumlehre, die von Plotin und Proklos ausgebildet und besonders profiliert von Jamblichos vorgetragen wurde, brachte explizit den Raum mit der göttlichen Allgegenwart in Verbindung, indem mittels der Unterscheidung und Zuordnung zwischen dem sensiblen und dem intelligiblen Raum die größere Nähe des himmlischen Bereichs zum intelligiblen Kosmos behauptet, eine Analogie des himmlisch-lichten Raumes zum göttlichen Wesen aufgemacht und die ontologisch-kosmologische Vorrangstellung des Himmels gesichert werden konnte. Deren dualer Raum-Begriff konnte sich auf die Unterscheidung der platonischen Tradition zwischen dem mundus sensibilis und dem mundus intelligiblis, namentlich auf Philo von Alexandrien beziehen. Bevor wir daher die Besprechung der antiken Raumtheorien mit dem Neuplatonismus fortsetzen (3.2), der einerseits unmittelbar in die augustinische Allgegenwartsvorstellung (3.3–4) und andererseits in die mittelalterliche Lichtmetaphysik (4.) mündet, greifen wir kurz auf Philo zurück (3.1).

————— 117 Zekl, Art. Raum, 80.

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Kapitel 3: Gottes Allpräsenz im endlichen Raum

Die platonische Tradition der antiken Raumtheorien wird zunächst um einige Bemerkungen zu Philo von Alexandrien ergänzt, der mit den Rabbinen Gott als unkörperlichen All-Raum verstand (3.1). Zentral für die ganze mittelalterliche Entwicklung ist die neuplatonische Ineinanderführung des intelligiblen und des sensiblen Raumes zur Allgegenwart des Einen im kosmischen Raum bei Plotin, Proklos und Jamblichos (3.2). Diese findet mehrere Linien der Weiterführung, einerseits die spezifisch christlich-theologische bei Augustin (3.3–4), der terminologisch und sachlich als prägend für die christliche Allgegenwartsvorstellung gelten kann, wie an einer Formel Gregors des Großen (3.5) und der präzisen Ausdifferenzierung bei Thomas v. Aquin (3.6) deutlich wird, womit der begriffliche Rahmen und sachliche Gehalt des altprotestantischen Lehrstücks im Wesentlichen erreicht ist. Eine zweite und dritte Linie der Weiterführung Plotins im Mittelalter sind die neuplatonische Lichtmetaphysik (I.4.) und die mathematische Mystik (I.5.), die beide bis zu Cusanus und Bruno reichen (I.6.) und den Übergang zur Neuzeit markieren (I.8.).

3.1 Gott als allumfassender Raum (Philo, Rabbinen) Philo von Alexandrien hatte die platonische Unterscheidung zwischen dem mundus intelligibilis und dem mundus sensibilis, sowie den Schöpfungsmythos vom Demiurgen, der nach dem Urbild der idealen Formen die sensible, veränderliche Welt „nach Maß, Zahl und Gewicht“ (Sap 11,21) gestaltete, im Schöpfungsbericht der Genesis wiedergefunden und mit der stoischen Vorstellung der belebenden Allseele, die er mit dem Geist Gottes identifizierte, zusammengeführt. Am ersten Schöpfungstag – im Unterschied zu Platon hält Philo auch die intelligible Welt für geschaffen – schuf Gott nach Gen 1,1–3 die sieben geistigen Archetypen, die unkörperlichen Ideen des vorzüglichsten aller Weltbestandteile, des Himmels, dazu der Erde, der Luft, des leeren Raumes, des Wassers, des Windes und des Lichts.1 Zu den Urbildern der vier Elemente – der Himmel ist aus dem feinsten und reinsten Stoff, dem ätherischen Feuer gebildet, denn er ist die heilige Wohnung der sichtbaren Götter, der Gestirne, kommen die drei Ideen des leeren Raumes (keßnon), der nach Gen 1,2 (= LXX aäbussow) sehr tief und weit ausgedehnt ist, des Pneuma (Gottes) als Lebensprinzip und des Lichtes, dem Abbild der ————— 1

Philo, De opificio mundi, 7f, 27–32, Werke I, 36f = opera 1, 6f.

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Gott und Raum

göttlichen Vernunft (jeißou loßgou eiökvßn), als Prinzip der Ordnung und des Schönen. Der leere Raum spielt anders als bei Platon bei der Schöpfung des sinnlichen Kosmos aus dem archetypischen Muster nur eine passive Rolle. Zusammen mit den Elementen bildet er wie bei den Stoikern das passive Prinzip, während Pneuma und Licht das aktive vernünftige, ordnende, gute und schöne Prinzip darstellen, das allerdings gegen die Stoa dem göttlichen Logos selbst untergeordnet ist, welcher der wirkende „Geist des Weltganzen ist, der ganz reine und lautere, der besser ist als Tugend, besser als Wissen, besser als das Gute an sich und das Schöne an sich“2. Die drei „Kombinationen“ Raum und Stoff, Raum und Pneuma/Licht/ Logos, Raum und Gott selbst führen zu den drei Raumbegriffen, die Philo in der Auslegung zu Gen 28,11 unterschied. „Ort“ ist einmal der physische, von Körpern erfüllte Raum (xvßra uÖpo svßmatow peplhrvmeßnh), dann der göttliche Logos, den Gott mit unkörperlichen Kräften ausgefüllt hat, das kann das belebende Pneuma oder das erleuchtende Licht sein, und schließlich heißt Gott selbst „Ort“ (toßpow = Gen 28,11 LXX), „weil er das All umfasst, aber von gar nichts umfasst wird“.3 Die erste Bedeutung hat ersichtliche Nähe zum stoischen Raum als von stofflichen Körpern kontinuierlich erfüllten Volumens, die zweite zum pantheisierenden, vernünftigbelebenden stoischen Pneuma, die dritte zum aristotelischen paqn bzw. zum stoischen oÄlon. Da Gott, wie der aristotelische Kosmos, nicht an einem Ort ist, da er von nichts umfasst wird, aber alles umfasst, ist er „notwendig selbst sein eigener Ort (aönagkaißvw eöstin auöto? toßpow eÖautouq)“4. Philos Bezeichnung Gottes als Ort (toßpow) ist die Septuaginta-Übersetzung des hebr. Ort/Raum (ʭʥʷʮ), welcher eine Universalisierung des heiligen Ortes (ʹʥʣʷʤ ʭʥʷʮʤ) zur Allgegenwart darstellt, die im palästinischen Judentum weit verbreitet war. Aus der biblischen Allgegenwart: Gott ist an jedem Ort (Jes 6,3; Jer 23,24; Ps 72,19; Ps 139), bildete sich die Umkehrung: Alles ist in ihm, er ist der Raum für alles, und die Metonymie: Er ist ʭʥʷʮʤ, der Raum.5 Als Erklärung für die Richtigkeit dieser Begriffsübertragung nennt ein bekannter Midrasch ebenfalls zur Stelle Gen 28,11, dass Gott der Name ʭʥʷʮ beigelegt worden sei, weil er der Ort, der Wohnraum ————— 2 Ebd., 2, 8, Werke I, 29 = opera 1, 2, 19–21. 3 Philo, De somniis I, 11, 62f, Werke VI, 186 = opera 3, 202, 64; 203,1f: „oÖ jeo?w kaleiqtai toßpow tvq# perießxein me?n ta? oÄla, perießxesjai deß pro?w mhdeno?w aÖplvqw.“ 4 De somniis I, 11, 64, Werke VI, 186 = opera 3, 203, 8. 5 Zahlreiche Stellen bei E. Landau, Synonyma für Gott, 30–45. Entstehungsort und –zeit der Metonymie sind umstritten. Diskutiert wurde alexandrinischer Ursprung und persischer Einfluss, belegt ist der Gebrauch in Palästina schon bei Simon dem Gerechten (300 v. Chr.). Daher hat nicht der hellenistisch-alexandrinische Raumbegriff die Allgegenwart Gottes impliziert, sondern dem gr. toßpow wurde von Philo die ältere palästinische Gottesvorstellung des hebr. ʭʥʷʮ unterlegt.

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Name ʭʥʷʮ beigelegt worden sei, weil er der Ort, der Wohnraum seiner Welt sei, die Welt aber nicht sein Ort: „R. Huna sagte im Namen des R. Ami: Warum heißt Gott maqom Ort? […] R. Jose b. Chalaphtha sagte: Wir würden nicht wissen, ob Gott der Ort seiner Welt, oder ob seine Welt sein Ort ist […] Da es aber heißt: ‚Siehe, der Ort ist bei mir‘ [Ex 33,21], so geht daraus hervor, dass Gott der Ort der Welt, aber nicht die Welt sein Ort ist. R. Jizchak sagte: Es heißt ‚Die Wohnung des Gottes der Urzeit‘ [Dtn 33,27]; da wissen wir nicht, ob Gott die Wohnung der Welt oder ob die Welt die Wohnung Gottes ist. Da es aber heißt ‚Herr, du bist die Zuflucht für uns gewesen von Generation zu Generation‘ [Ps 90,1], so geht daraus hervor, dass Gott die Wohnung der Welt und nicht die Welt seine Wohnung ist.“6

Mit dem Ausdruck meinen die Rabbinen die göttliche Ubiquität, die alles umfasst, aber von nichts umfasst wird. Die göttliche Allgegenwart wird hier als Panentheismus, als Präsenz aller Dinge im All-Raum Gott verstanden.7 An anderen Stellen wird die Identifikation von Gott und Raum mit der Anwesenheit bei den Gerechten, also denen, die ihre Zuflucht (Ps 90,1), ihren „Wohn- und Heilsraum“ bei Gott suchen, begründet, oder wie später im Sohar, der Kabbala und Hermetik, damit, dass Gott der Ort seiner selbst ist, sein eigener Raum ist, da er einen Raum bei sich hat, in dem er sich unerkennbar verbirgt und verhüllt.8 Gott als Raum bezeichnet für das spekulative Judentum also den Raum Gottes selbst9 sowie die unfassbare, alles enthaltende und durchdringende göttliche Allgegenwart. Ähnlich scheint es schon bei Philo zu sein. Die Bezeichnung Gottes als ʭʥʷʮ meint keinen sinnlich wahrnehmbaren Ort, sondern einen intelligiblen ————— 6 Midrash Genesis Rabbah II, 68, 9, zit. nach Der Midrasch Bereschit Rabba, Übers. A. Wünsche, 329; der hebr. Text teilweise bei Landau, Synonyma für Gott, 34. 7 Auch die Hermetik hat nach der zweiten Rede des Hermes Trismegistos an Asklepius Gott als den unkörperlichen Raum bestimmt, der alles umfasst und in dem sich der Himmelskosmos bewegt (Das Corpus Hermeticum Deutsch, Bd. 1, 29f). Äquivalent schließt der fünfte Traktat mit dem Hymnus: „Wohin denn soll ich blicken, wenn ich Dich preise, nach oben, nach unten, nach innen, nach außen? Keine rechte Weise gibt es, keinen Ort um Dich und auch nichts anderes Seiendes. Alles ist in Dir, alles ist von Dir“ (ebd., 62). 8 „Siehe, ein ʭʥʷʮ ist bei mir, das ist jenes ʭʥʷʮ, das verborgen und verhüllt und unerkennbar ist“ (Sohar I, 147b, zit. nach Landau, Synonyma für Gott, 35, vgl. Sohar II 63b; 207a); ähnlich noch Maimonides (ebd.): ʭʥʷʮ bedeute als Überall Gottes keinen sinnlichen Ort, sondern einen intelligiblen Raum, den man nur spekulativ erkennen kann. Erst bei Chasdai Creskas und Joseph Albo, als ein außerkosmischer Raum denkbar geworden war (s.u. I.8.2.2f.), wird Gott auch als räumlicher Raum des Alls bestimmt, der die Welt umschließt, bewegt und erhält, wie der extrakosmische Raum das Universum äußerlich umschließt und erhält (vgl. Landau, Synonyma für Gott, 36). 9 Die Begriffsidentifikation wird kabbalistisch so gerechtfertigt, dass die Summe der Zahlen, die den Buchstaben von ʭʥʷʮ entsprechen, dasselbe ergibt, wie die Summe der quadrierten Zahlzeichen von ʤʥʤʩ, vgl. M. Jammer, Das Problem des Raumes, 32.

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Gott und Raum

Raum, den der Mensch nur spekulativ oder mystisch erkennen kann. Gott als ʭʥʷʮ ist der intelligible Raum der Ideen, der von der intelligiblen Idee des Raumes noch einmal verschieden ist. „Gott ist sowohl ein Haus, nämlich der unkörperliche Raum der unkörperlichen Ideen, als auch der Vater von Allem (oÖ jeo?w kai? oiQkow eöstin, aösvmaßtvn iödevqn aösvßmatow xvßra, kai? tvqn sumpaßntvn pathßr).“10

3.2 Die Ausstrahlung des Einen (Plotin, Proklos, Jamblichos) Die Unterscheidung des physischen Raumes von Stoff und Körpern als deren aufnehmendes Gefäß einerseits und vom intelligiblen Raum andererseits, hat auch Plotin vertreten. Der sensible Raum ist, mit der ungestalteten Materie entsprechend der aristotelischen Timaios-Interpretation identisch, das Zugrundeliegende (uÖpokeißmenon) und der Aufnehmer (uÖpodoxhßß) der Formen.11 Der intelligible Raum ist der „jenseitige Ort (oÖ toßpow oÖ eökeiq)“12, der Raum der Ideen. Wie bei Platon ist er jenseits des Seins (eöpeßkeina thqw ouösißaw) bzw. „über“ den Himmeln angesiedelt (uÖperouraßniow toßpow).13 Er ist in ganz hervorragender Weise Träger und Vermittler der Ausstrahlungen des göttlichen Lichtes. Er ist der „Ort des Lebens, der wahre Ursprung und die Quelle der Seele und der Vernunft (toßpow eösti? zvhqw kai? aörxh? kai? phgh? aölhjvqw yuxhqw te kai? nouq)“14. Der intelligible Raum ist das Medium, durch das die Emanationen vom eÄn, dem „Über-alleshinaus“ schlechthin (eöpeßkeina paßntvn)15, zum nouqw und zur yuxhß ausgestrahlt werden. Die explizite Identifikation von göttlichem Licht und Raum hat zwar erst Proklos vollzogen, aber die Analogisierung von Licht und Raum dürfte schon bei Plotin vorliegen, wenn er den Emanationsvorgang vom eÄn über den nouqw und die Weltseele zu den Einzelseelen im Bild der mehrstufigen Strahlenkugel darstellt, welches „die dynamische Allgegenwart des Einen in der Vielheit seiner Wirkungen“ ausdrückt.16 „Es ist da so etwas wie ein Punkt, und um ihn ein Kreis, der den Glanz von ihm ausstrahlt, dann folgt drittens noch ein Kreis, Licht vom Lichte; weiter nach außen kommt nun nicht mehr ein Kreis von Licht, sondern der nun folgende Kreis entbehrt eigenen Lichtes, er bedarf fremden Glanzes; er ist ein Ring, oder vielmehr solch ein Ball, welcher von der dritten Stelle [dem zweiten Kreis] – denn er stößt an ihn – all

————— 10 11 12 13 14 15 16

Philo, De Cherubim, 14, 49, Werke III, 184f = opera 1, 180, 11f. Plotin, Enneaden II, 4,1,1 = Schriften Ia, 244. Plotin, Enneaden II, 5,3,39 = Schriften IIa, 96. Platon, Der Staat, 509b, Werke V, 76; Phaidros 247c, Werke IV, 544. Plotin, Enneaden II, 5,3,39f = Schriften IIa, 96. Enneaden V, 3,13,2 = Schriften Va, 156. Vgl. D. Mahnke, Unendliche Sphäre und Allmittelpunkt, 215–223, 217.

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das erhält, was in ihn eingestrahlt wird. Das große Licht nun strahlt aus, indem es verharrt, und von ihm geht der Glanz [radial] hinaus im Verhältnis [zum Abstand]; die kleineren Lichter wirken mit an der Bestrahlung, und zum Teil verharren auch sie in der Höhe, zum andern Teil lassen sie sich durch das Gleißen des erleuchteten Körpers hinabziehen […]“17

Das eÄn ist das ontologische Zentrum der intelligiblen und der sensiblen Welt. Von diesem führen unzählige Strahlen (Radien) zu drei konzentrischen Kugelflächen. Die innerste, das ruhende Eine unbewegt umgebende Sphäre ist der nouqw, welcher das Sich-selbst-denken des Einen, also die Relation des eÄn auf sich selbst ist. Von diesem strahlen die einzelnen Ideen und Denkakte (nohtaß) aus. Die mittlere Sphäre symbolisiert die Weltseele (yuxhß) – sie ist das Denken der Vielheit durch den nouqw, das Denken des Einen –, welche durch Strahlen der Sehnsucht an das Lichtzentrum zurückgebunden ist und nach außen in schwächer werdenden Strahlen in die Einzelseelen sich zerteilt. Die Allseele stellt den Übergang von der geschlossenen Einheit des intelligiblen Raumes in den von der Vielheit der sinnlichen, beseelten Körper besetzten kosmischen Raum dar. Hier geht das geometrisch ideale in das physische Bild des Strahlenkranzes und der intelligible Kosmos in den sinnlich wahrnehmbaren Kosmos über. Wie von der Sonne aus das Licht in den dunklen Raum fließt, so ergießt sich das Lichtzentrum, teils vermittelt der Gestirne, in die Peripherie bzw. nach unten durch die konzentrischen Sphären und Elemente des Kosmos. Der kugelförmige Kosmos ist von der Weltseele umfasst und durchdrungen. Durch das Ausgießen des transzendenten Lichtes entsteht als sein polares Gegenstück der dunkle Raum des Kosmos. Er ist die passive Potenz des Aufnehmers der (geformten) Körper und Einzelseelen. Der Raum des Kosmos wird im Prozess der Verräumlichung durch Erleuchtung. Er scheint bei Plotin mit der ungestalteten, dunklen, unbeseelten Materie identisch. Der sensible Kosmos trägt die polare „seelische Struktur des Raumes […]: Licht als Forma, Dunkel als Potentia passiva“18, wie es zuerst am Sternenhimmel manifest ist, der intelligible Kosmos (koßsmow nohtoßw) dagegen besteht aus reinem Licht (fvqw eök fvtoßw), symbolisiert im lichten Innenraum der geistigen Kugel (sfeiqra nohthß)19. „Die Sphäre des Intelligiblen ist also die lichthafte Entfaltung des Mittelpunktes, des Einen, in der das Eine zwar aus sich herausgeht, aber doch in sich verharrt und durch den in seinen Ursprung rückläufigen Kreis auch im Entsprungenen bei sich selbst ist.“20 ————— 17 Plotin, Enneaden IV, 3,17,12–21 = Schriften IIa, 207f. 18 W. Schmidt-Biggemann, Philosophia perennis, 357. 19 Plotin, Enneaden II, 9,17,5 = Schriften IIIa, 154; IV, 3,17,13f = Schriften IIa, 206; V, 1,9,20 = Schriften Ia, 232; VI, 5,10,44 = Schriften IIa, 68. 20 W. Beierwaltes, Proklos, 189.

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Gott und Raum

Proklos hat die beiden bei Plotin noch unklar ineinander laufenden KugelBilder des idealen Lichtraumes und des realen Licht-Dunkel-Raumes zu einer originellen Licht-Raum-Kosmologie zusammengeführt. Seine nicht erhaltene Schrift über den Raum ist z.T. bei Simplikios zitiert.21 Das Universum besteht bei ihm aus zwei konzentrischen Kugeln, deren Ausdehnung zusammenfällt. Die umfassende ist der aus Licht bestehende unbewegliche, unteilbare und immaterielle Raum, die umfasste der aus den materiellen Körpern bestehende Kosmos. Proklos erschließt seine Raumdefinition durch sukzessiven Ausschluss des Gegenteils. Der Raum kann mit Aristoteles und Theophrast nicht beweglich sein, sonst bedürfte er eines anderen Raumes, er kann nicht teilbar sein, sonst hätte er bewegliche Teile, und er kann nicht materiell sein, sonst wäre er nicht unteilbar. Da Raum außerdem weder Form noch Materie noch umfassende Grenze noch Zwischenraum, sondern wie später bei Philoponos und Simplikios Ausdehnung ist, und Ausdehnung immaterielle Körperlichkeit hat, ist „der Raum ein unbeweglicher, unteilbarer, immaterieller Körper. Er muss sogar der immateriellste aller Körper sein“, was die Identifikation nahe legt: „Unter all diesen ist das Licht der einfachste Körper (denn Feuer ist das immateriellste aller Elemente, und Licht ist das reinste Feuer), und daher ist es offenkundig, dass der Raum Licht ist, der reinste aller Körper. Denken wir uns nunmehr zwei Kugeln, die eine aus Licht, die andere aus einer Vielfalt von Körpern, beide gleicher Ausdehnung. Die eine sei um den Weltmittelpunkt gelegt, die andere in die erste hineingesetzt. Dann wird der ganze Kosmos am Ort sein und bewegt durch das unbewegliche Licht. Als Ganzer wird er unbeweglich sein, ähnlich dem Raum, aber bewegte Teile haben, und in dieser Hinsicht weniger wertig gegenüber dem Raum sein.“22 Der Raum ist bei Proklos eine Art absoluter Raum, welcher die physikalischen Räume und Körper des Kosmos durchdringt und trägt. Seine umhüllende und durchdringende Funktion erinnert an die Plotinsche Weltseele. Aber durch die Identifikation mit dem Licht wird der Raum hier von einer physikalischen Realität in den Rang der höchsten geistigen Wesenheiten erhoben. Er kann daher die idealen Attribute der Unbeweglichkeit, der Unteilbarkeit und der Immaterialität tragen, die bei Plotin nur den Hypostasen des eÄn und des nouqw zukamen. Dies weiterführend hat Jamblichos dem Raum sogar göttliche Attribute beigelegt. Er hat den nach dem Timaios körperlosen, aber in angeborener Verbundenheit mit den Körpern geschaffenen physikalischen Raum vom intelligiblen Raum unterschieden, ihm aber zugleich, stärker noch als Pla————— 21 Simplikios, In Aristotelis Physicorum, 611,10–618,25. 22 Simplikios, In Aristotelis Physicorum, 612,25–36, Übersetzung z.T. nach S. Sambursky, Das physikalische Weltbild der Antike, 388.

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tons xvßra, eine ordnende Kraft in Bezug auf die Körper zugeschrieben. „Welche Lehre gibt eine vollkommene, dem Wesen des Raumes angemessene Definition? Die, welche den Raum als körperhafte Kraft (dußnamin svmatoeidhq) annimmt, eine Kraft, die die Körper zusammenhält und stützt, die Fallenden erhebt und die Zerstreuten sammelt, sie durchdringt und von allen Seiten umgreift.“23 Die Zuschreibung von biblischen göttlichen Taten und Attributen zum Raum könnte auch antichristlicher Polemik entstammen. Jedenfalls ist hier in Synthese stoischer, jüdisch-christlicher und pythagoräisch-neuplatonischer Raumlehren eine Analogie – fast gar eine Identifikation – zwischen dem Raum und dem einigenden, ordnenden und beseelenden Prinzip des Kosmos hergestellt. Das Wesen des Raumes ist dem göttlichen Wesen gleich24. Der Raum hält „alles in sich zusammen (paßnta suneßxousan eön eÖauthq#)“, er „vollendet nach dem einen Maß das Ganze (kaj’ eÄn meßtron ta? oÄla sumperaißnousan)“25. Vom Raum wird hier genau das ausgesagt, was bei Platon die kosmologische Funktion des göttlichen Wesens ausmacht. „Der Gott“, heißt es betont in den Gesetzen, halte „Anfang, Ende und Mitte alles Seienden (oÖ jeoßw […] aörxhßn te kai teleuth?n kai meßsa tvqn oäntvn eäxvn)“ zusammen, er sei „aller Dinge Maß (oÖ jeo?w […] paßntvn xrhmaßtvn meßtron)“26.

3.3 Die unermessliche Gottesgegenwart (Augustin, Confessiones) Den Zusammenhang zwischen der Allgegenwart Gottes und dem Raum hat Augustin an einigen Stellen der Confessiones sowie monographisch in der Schrift „De praesentia Dei liber“ behandelt.27 Im fünften bis siebten Buch der Bekenntnisse berichtet Augustin, dass er sich in seiner manichäischen Zeit28 Gott als eine körperhafte Masse (moles corporum29) vorgestellt hatte, der manichäisch-stoischen Ontologie folgend, dass nur Körperhaftes wirkliches Sein habe. Was nicht räumliche Ausdehnung hat, konnte nicht mehr als ein reines Nichts (prorsus nihil30) sein. Also ————— 23 Simplikios, In Aristotelis Physicorum, 640,2–6, Übersetzung nach S. Sambursky, Von der unendlichen Leere bis zur Allgegenwart Gottes: Die Raumvorstellungen der Antike, 287. 24 „toußtou th?n vßw jeouq ouösißan touq toßpon katoyoßmeja“ (Simplikios, In Aristotelis Categorias, 363, 33f). 25 Simplikios, In Aristotelis Categorias, 363,34–364,1. 26 Platon, Gesetze IV, 715e–716a; 716c = Werke VIII/1, 254.256. 27 Ausführlicher, als es in unserer gerafften Darstellung geschehen kann, ist das Thema im Kontext des Gesamtwerks behandelt bei S. Grabowski, The All-present God, zusammengefasst ders., St. Augustin and the presence of God. 28 Vgl. J. Bouman, Augustinus, 35ff. 49. 29 Augustin, Confessiones, V, 10,19, 226. 30 Ebd., VII, 1,1, 302.

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musste Gott als das gute Gegenprinzip des materiellen Bösen, der hässlichen, ungestalteten Masse, ebenfalls eine unbegrenzt ausgedehnte, nun aber gestaltete körperhafte und gute Masse sein. Nicht nach Menschenart als ein aus Gliedern zusammengesetztes, an einem Ort (in loco) befindliches Wesen habe er sich Gott in dieser Phase vorgestellt, wohl aber als etwas Körperhaftes im Raume, als ein über alle begrenzten Räume ins Unermessliche hinausragendes, dabei die ganze Masse der Welt durchdringendes körperhaftes Wesen. Diese Annahme hätte die absurde Vorstellung impliziert, dass „ein größerer Teil der Erde einen größeren Teil von Dir in sich schließen [würde] und ein kleinerer einen kleineren“31, so dass der Elefantenleib mehr von Gott in sich fassen würde als der des Spatzes. Die richtige, Augustin durch den Neuplatonismus eröffnete Gottesvorstellung, war die, dass Gott, „der Erhabenste und Nächste, der Verborgenste und Allgegenwärtigste, der keine Glieder hat, weder größere noch kleinere, sondern überall ganz und nirgends lokalisiert ist (altissime et proxime, secretissime et praesentissime, cui membra non sunt alia maiora et alia minora, sed ubique totus es et nusquam locorum es)“32. Die Präsenz Gottes ist ein intensivstes Nahesein kraft seines überall Anwesendseins (ubique adesse, ubique praesens33) und seines immer Mitseins (semper praesente34). Die Omnipräsenz ist unendlich, sie ist unbeschränkt, sie ist ein Zusammenfall extremer Gegensätze: Gott ist schlechthin überall, zugleich überall ganz und zugleich nirgends lokalisiert. Die Nähe Gottes ist Intensität und daher nicht an einem Ort fixiert. Ein Ort könnte ihn gar nicht aufnehmen, und sei er noch so groß. Die Ausgedehntheit des allgegenwärtigen Gottes ist zwar räumlich, aber nicht körperlich. Der Schöpfer des Alls ist nicht in einem örtlich begrenzten Raum (in spatium loci) eingesperrt und sei er auch noch so hoch und weit, sondern seine Räumlichkeit ist zugleich erfüllend und umgebend. Er wird nicht umfasst von dem, was er erfüllt, nicht einmal vom Gesamt von Himmel und Erde, da kein Ding ihn als den Ganzen fassen kann: „ubique totus es et res nulla te totum capit“35. Die unendliche Ausdehnung Gottes im Raum bedeutet die unbegrenzte Allerfüllung der endlichen Schöpfung durch den Unendlichen (creaturam tuam finitam te infinito plenam). Gott umgibt und erfüllt (ambit et implet) die Körper, so wie das Gute die guten Dinge erfüllt und umgibt. Die Unendlichkeit Gottes ist also nicht primär räumlich-quantitativ, sondern qualitativ gemeint. Gott ist das „totum verum ————— 31 32 33 34 35

Ebd., VII, 1,2, 305. Ebd., VI, 3,4, 252. Ebd., IV, 5,10, 152 (Konjugation angepasst); V, 9,16, 220. Ebd., XII, 11,12, 688. Ebd., I, 3,3, 16; vgl. I, 2,2, 14.

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et summum et infinitum bonum“36. Als das Gute schlechthin ist Gott seiner Schöpfung innerlichst inhärent. Da Gott immer schon intimst anwesend ist, ist jede Suche nach einem besonderen Ort Gottes unsinnig. Er hat nirgends einen Ort (nusquam locus37), daher kann man sich auch nicht von ihm entfernen. Insbesondere der Seele ist er innerlichst nahe, sogar innerlicher als mein Innerstes – und zugleich höher als mein Höchstes (interior intimo meo et superior summo meo38) –, kein Mensch kann dem Allernächsten entrinnen, wer ihm flieht, flieht nur wieder zu ihm.39 Auch wenn wir uns von Gott entfernen, bleibt er doch allgegenwärtig nahe.40 Selbst das Böse ist neuplatonisch nicht schlechthinnige Entfernung, sondern nur Mangel an Gutem (privatio boni). Nichts ist fern von Gott (nihil longe est deo41). Wollte man sich das Verhältnis von Gott und Raum dennoch quantitativ vorstellen, so wäre die richtige Phantasie (imaginatio) für die Unendlichkeit Gottes die eines unermesslichen, endlosen Meeres, welches die beliebig große, aber endlich vorgestellte Welt wie ein Schwamm durchtränkt und umflutet.42 Die bessere Analogie für das Verhältnis von Gott und Raum sieht Augustin aber in der qualitativen Allgegenwartsvorstellung, wie das Wahre und Gute den Wahren und Guten vollständig durchdringt. Die neuplatonisch-christliche Erkenntnis Gottes als des unendlichen Guten entsprang einer nicht sinnlichen, intellektualen Schau. Dass alles in Gott und Gott der Allesenthaltende durch Wahrheit (omnitenens veritate) ist, ist nicht als räumliche Allgegenwart quasi in loco zu verstehen, sondern so, dass alles in Gott als in der Wahrheit und im Guten ist43. Wenn Augustin in den Confessiones und den Soliloquien in hymnischer Rede betont, dass alles in Gott, von ihm und durch ihn ist (Deus, in quo et a quo et per quem sunt omnia44), so sind diese räumlichen Präpositionen Metaphern für das Sein aus, durch und in der Weisheit, Wahrheit, Güte und Schönheit Gottes. Die Unendlichkeit Gottes bedeutet primär gerade nicht die unbegrenzte Ausdehnung durch den endlichen oder unendlichen Raum (te infinitum esse nec ————— 36 Ebd., VII, 5,7, 313f. 37 Ebd., X, 26,37, 546. 38 Ebd., III, 6,11, 114; zu diesem Zentraltopos Augustinischer Anthropologie vgl. J. Ringleben, Interior intimo meo. 39 Augustinus, Ennaratio in psalmum 74, MPL 36, 952 = Psalmen 158: „Wenn Gott ist, ist er überall gegenwärtig. […] Überall ist er heimlich, überall ist er öffentlich […] Denke dir also Gott nicht an Orten (Noli ergo cogitare Deum in locis); Er ist mit dir[…] Er ist dir innerlicher als dein Herz (ille corde tuo interior est). Wohin immer also du fliehen magst, er ist da[…] Wenn Er nun aber dir selber innerlicher als du bist, so kannst du nirgends hin vor dem erzürnten Gott fliehn, außer zum versöhnten Gott[…] Willst du vor Ihm fliehen? Flieh zu ihm.“ 40 Confessiones, II, 2,3, 68. 41 Ebd., IX, 11,28, 470. 42 Ebd., VII, 5,7, 313. 43 Ebd., VII, 15,21, 342. 44 Augustinus, Soliloquia, I, 2–3, 8.

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tamen per locos finitos infinitosve diffundi45), sondern sie bedeutet, dass Gott innerlicher als alles ist, weil alles in ihm ist, und äußerlicher als alles, weil er über allem ist. Die unendliche Omnipräsenz und omnipräsente Unendlichkeit Gottes ist das schlechthinnige Paradox des ubique et nusquam, des ubique totus et simul et nusquam locorum.

3.4 Die überall ganze Präsenz Gottes (Augustin, De praesentia Dei) Denselben Gedankenkreis hat Augustin in der Schrift über die Gegenwart Gottes systematischer entfaltet.46 Anlass war die Frage des Dardanus, eines hohen gallischen Beamten und Christen, nach dem Ort des dem rechten Schächer verheißenen Paradieses (Luk 23,43). Der Heilsort, an den der Schächer mit Christus am Tag des Todes eingehen sollte, sei kein Teil oder Ort des sichtbaren Himmels, sondern einerseits der Ort, an dem Christus seiner menschlichen Natur nach zwischen Tod und Auferstehung war, also die Unterwelt, und andererseits der Ort Christi nach seiner göttlichen Natur. Dieser Ort ist immer überall (ubique semper), da Christus zwar als Mensch zeitlich befristet dem Fleische nach im Grab, der Seele nach in der Unterwelt war, als Gott aber immer überall ist. Diese problematische Aufteilung nach den Naturen einmal dahingestellt, wird das Paradies durch die Ubiquität Gottes – Christus, in dessen Leib die Fülle der Gottheit wie im Tempel einwohnt (tamquam in templo in illo corpore habitat omnis plenitudo diuinitatis47), hat nicht nur an der Ubiquität Gottes teil, sondern ist selbst der allgegenwärtige Gott – zeitlich und räumlich entgrenzt. Der Ort des Heils ist, allgemein gesagt, der Himmel, womit nicht eo ipso Gott selbst, der überall ist, gemeint ist, sondern der nicht fixe Ort, an dem die Menschen bei Gott sind, der ihnen einwohnt. „Wo auch immer daher das Paradies sein mag, jeder Selige ist dort, und zwar ist er mit jenem dort, der überall ist.“48 Der Ort des Himmels kann also auch auf Erden sein, im Gläubigen und in Christus. Augustin unterscheidet wie die spätere Scholastik zwischen drei Graden der Präsenz Gottes – der allgemeinen in der Schöpfung, der speziellen, gnadenhaften in den Gläubigen und der singulären, wesensidentischen in Christus – und unterscheidet die konkrete, auf Personen bezogene inhabitatio49 von der allgemeinen, auf den Raum und die Körper bezogenen ubiquitas. ————— 45 Confessiones, VII, 20,26, 352. 46 Augustinus, De praesentia Dei liber, Epistola 187, in: Epistulae, p.IV, CSEL 57, 81–119 = MPL 33, 832–854; zu Abfassungsort, –zeit und –anlass vgl. E. Naab, Über Schau und Gegenwart des unsichtbaren Gottes, 77–88. 47 Augustin, Epistola 187, 40, CSEL 57, 117, 7–9 = Naab, 256. 48 Ep. 187, 7 = Naab, 221. 49 Hierzu vgl. K. Lehmkühler, Inhabitatio, 63–65.

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Gottes räumliche Allpräsenz

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Dass Gott überall ausgebreitet ist (Deus ubique diffusus50), sei, so die abgrenzende Bestimmung, nicht in fleischlich-sinnlich körperlicher, noch in räumlich quantitativer Weise quasi spatiosa magnitudine gemeint, sondern in qualitativem Sinn, wie die Weisheit oder die Gesundheit des Leibes nicht in einem Teil mehr und im anderen weniger ist. Gott ist nicht durch den Raum der Masse nach verbreitet (non per spatia locorum quasi mole diffusa), dass er je zur Hälfte in der supralunarischen und in der sublunarischen Welt wäre, sondern er ist natürlich im Himmel ganz und auf der Erde ganz. Er ist von keinem Ort oder Raum umschrieben oder begrenzt (nullo contentus loco51), denn er ist kein Körper. Und wenn auch alle Dinge in ihm sind ist er doch – das ist gegen die philonisch-hermetische Vorstellung von Gott als dem Ort aller Dinge gesagt – kein Ort, der nach Länge, Breite und Höhe von Körpern besetzt wird. Gott ist weder an einem Ort noch selbst ein volumenausgedehnter Ort.52 Er ist auch kein leerer, masse- und körperloser ausgedehnter Raum, da ein körperloser Raum für Augustin wie für die ganze Antike und Mittelalter keine Existenz haben kann.53 Die Ubiquität Gottes ist auch keine sonstige Beschaffenheit der Welt (qualitas mundi), sondern die der Welt „in Freiheit gegenüberstehende, sie begründende und innerlich erhaltende, die sie lenkende, die durch alles verbreitete schöpferische Substanz der Welt“54 (substantia creatrix mundi55). Gott ist unmittelbar präsent durch seine Substanz, nicht nur vermittelt seiner Wirkung. Die dynamische Allpräsenz ist eine Wesenseigenschaft des ganzen, unveränderlichen, einen göttlichen Wesens. Sie kommt daher den göttlichen Personen gemeinsam zu. Die Trinitätslehre ist nicht so gemeint, dass Vater, Sohn und Geist sich die Welt in drei Teile geteilt hätten, die sie singulär erfüllten, sondern selbstverständlich sind alle drei überall zugleich (ubique simul). Die Untrennbarkeit der Trinität führt Augustin zu dem Schluss, dass Gott überall ganz (ubique totus) gegenwärtig ist, aber nicht in allen Menschen gnädig einwohnt. „ubique esse deum per diuinitatis praesentiam sed non ubique per habitationis gratiam.“56 Aber wie kann man sagen, dass Gott überall ganz ————— 50 Ep. 187, 11, CSEL 57, 90, 3 = Naab, 224. 51 Ep. 187, 14, CSEL 57, 92, 16–20 = Naab, 226. 52 Vgl. Augustinus, De diversis quaestionibus, 83, qu.20: De loco Dei, MPL 40, 15f: „Deus non alicubi est. Quod enim alicubi est, continetur loco; quod continetur loco, corpus est. Deus autem non est corpus; non igitur alicubi est. Et tamen quia est, et in loco non est, in illo sunt potius omnia, quam ipse alicubi. Nec tamen ita in illo, ut ipse sit locus; locus enim in spatio est quod longitudine et latitudine et altitudine corporis occupatur; nec Deus tale aliquid est. Et omnia igitur in ipso sunt, et locus non est.“ 53 Ep. 187, 18, CSEL 57, 96 = Naab, 230. 54 Naab, Augustinus, 96. 55 Ep. 187, 14, CSEL 57, 92, 15 = Naab, 226. 56 Ep. 187, 16, CSEL 57, 94, 6f = Naab, 228.

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Gott und Raum

sei, wenn er in den einen mehr, in den anderen weniger, und nicht in gleicher Weise (aequaliter) einwohnt? Die Differenzierung zwischen der Ubiquität und der Inhabitatio erlaubt eine Abstufung: Dass Gott überall ganz ist, ist so gemeint, „dass er in sich selbst überall ganz ist, nicht aber in ihnen, von denen einige ihn mehr, andere weniger fassen (in se ipso esse ubique totum, non ergo in eis, quae alia plus eum capiunt alia minus)“57. Das Weniger der göttlichen Präsenz resultiert aus der mangelnden Erkenntnis- und Liebesfähigkeit des sündigen Menschen, Gott aufzunehmen und zu lieben, ihn zu „erkennen“ und zu „haben“. Die schwächere Fassungskraft (capacitas) führt, wie Augustin in neuplatonischen Bildern sagt, zu einer schwächeren Erleuchtung und zu einem schwächeren Widerhall. Das göttliche Licht und der göttliche Ton werden vom Blinden und vom Tauben schwächer oder nicht rezipiert, sind jedoch nicht geteilt, sondern immer ganz und überall alles durchdringend.58 Dass Gott überall ganz ist, gilt daher wie beim plotinschen eÄn unabhängig von der raumzeitlichen Aufnahme. Gott braucht keinen Raum und Zeit, um überall ganz zu sein, da er in sich selbst überall ganz (in se ipso ubique totus59) ist.60 Bei Plotin ist es das wahre All (to? aölhjino?n paqn), das intelligible Urbild des sichtbaren Kosmos, das als Eines und Ganzes überall und an keinem Ort ist, da es in sich selbst ist.61 Die Ubiquität Gottes hat wie der intelligible Raum Plotins nicht die Topologie der räumlichen Ausdehnung, sondern die Topologie des raumlosen Ausgedehntseins eines ubiquitären Punkt-Zentrums. Gott ist ein raum————— 57 Ep. 187, 17, CSEL 57, 95, 5f = Naab, 230. 58 Ep. 187, 19, CSEL 57, 98 = Naab, 232; vgl. Ennaratio in Psalmum 147, 22, MPL 37, 1931: „Verbum Dei, non esse in parte, sed ubique esse per se ipsum Verbum.“ 59 Ep. 187, 14.17.18, CSEL 57, 92,20f; 95,5; 96,4f; 97,9 = Naab, 226.230; ebenso die griechische Tradition, vgl. Johannes von Damaskus, Darlegung des orthodoxen Glaubens, I, 13, 36f: „Darum ist Gott, da er immateriell und unbegrenzt ist, an keinem Orte. Er ist selbst sein Ort, da er alles erfüllt und über allem ist und selbst alles zusammenhält. […] Man muss jedoch wissen, dass das göttliche Wesen unteilbar ist, überall vollständig ganz ist und sich nicht nach Körperart in einzelne Teile auflöst. Nein, es ist ganz in allem und ganz über allem.“ 60 Vgl. Plotin, Enneaden, VI,9: „Jenes ist gewiss niemand fern, es ist gegenwärtig und doch nur gegenwärtig für diejenigen, welche es aufnehmen können und gerüstet sind dass sie zu ihm passen und es gleichsam anfassen und berühren können vermöge der Wesensähnlichkeit“ (4,28 = Schriften Ia, 183). „[Die Seele] ist zwar unteilbar, war aber im Teilbaren und ist noch jetzt in einem andern; Jenes aber ist nicht in einem andern, nicht im Teilbaren noch auch unteilbar im Sinne des Allerkleinsten, denn es ist das Größte von allem, nicht der realen Größe, aber dem Vermögen nach; so ist es auch das Unteilbare dem Vermögen nach […]“ (6,39 = Schriften Ia, 187). „Auch gibt es für es keinen Ort; denn es braucht sich auf keine Grundlage zu stützen als könnte es sich nicht selber tragen (während das was eine Grundlage braucht, unbeseelt ist, Masse die fällt wenn sie sich nicht irgendwo gründen darf), vielmehr sind nur vermöge seiner die andern Dinge gegründet, von seinetwegen sind sie zur Existenz gelangt und haben zugleich den Ort erhalten auf dem sie eingeordnet sind. (Bedürftig ist nämlich auch das, dem der Ort fehlt.) Der Urgrund aber ist nicht bedürftig de Dinge die nach ihm sind, sondern der Urgrund aller Dinge ist aller Dinge unbedürftig“ (6,44f = Schriften Ia, 189f). 61 Plotin, Enneaden VI, 4,2 = Schriften IIa, 4.

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Gottes räumliche Allpräsenz

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loser Raum in sich. Als raumloser Punkt, der überall das Zentrum des All bildet, und als Strahlenkern des Lichtes, das instantan nach allen Richtungen ausstrahlt, allen Raum total erfüllt, aber nach der Peripherie hin in der Intensität abnimmt, ist der raumlose Gott raumdurchdringend und – erfüllend, jedoch nicht von allem gleich stark erfasst. Wie bei Plotin der sensible vom intelligiblen Raum durchdrungen, der intelligible aber nicht vom sensiblen Raum begrenzt wird, so ist Gott bei Augustin im Raum der Welt überall anwesend, insofern er nirgends abwesend ist, aber nirgends eingeschlossen, weil er sein eigener Raum ist. Also kann Gott, „in ewiger Gleichmäßigkeit in sich selbst bleibend, ganz allen Dingen gegenwärtig sein und den einzelnen ganz, obwohl von denen in denen er wohnt, ihn die einen wegen der Verschiedenheit ihrer Fassungskraft mehr, die anderen weniger haben.“62 Wenn Gott allem und überall immer ganz gegenwärtig ist – nicht in statischer, toter Gleichförmigkeit, sondern in schöpferischlebendiger, wirkender Präsenz – dann ist das geometrische Modell für die Allgegenwart Gottes bzw. das plotinsche eÄn die unendliche Sphäre oder Kugel, deren Zentrum überall und deren Begrenzung nirgends ist. Das eÄn, sagt Plotin, sei der „Mittelpunkt aller Dinge“, so dass sich alle Zentren (wie etwa die Seele als Mittelpunkt des Leibes) an ihrem eigenen Ort mit dem Einen berühren und an ihm partizipieren können, „so wie die Mittelpunkte der größten Kreise mit dem der einschließenden Kugel“63 zusammenfallen. Die mathematische Mystik hat daraus den (in I.5. noch zu interpretierenden) paradoxen Satz gebildet: „Gott ist die unendliche Kugel, deren Zentrum überall und deren Umgrenzung nirgends ist. Deus est sphaera infinita cuius centrum est ubique, circumferentia nusquam.“ Der Gott, der in sich seinen Raum hat, ist in totaler Paradoxität überall ganz, aber nirgends loziert.

3.5 Unörtliche Ubiquität (Gregor der Große) Gregor der Große hat diese Allgegenwartsvorstellung auf die prägnante Formel des Deus totus ubique simul non localiter gebracht.64 Weil Gott wesentlich Einheit (esse unum) und Seinsidentität (idem esse65) ist, ist er ————— 62 „aeterna stabilitate in se ipso manens totus adesse rebus omnibus potest et singulis totus, quamuis, in quibus habitat, habeant eum pro suae capacitatis diuersitate alii amplius alii minus“ (Augustinus, ep. 187, ebd. 98, Z. 9–12 = Naab, 232); dieser Satz ist auch zitiert bei Pt. Lombardus, Sententiae I, dist.37, c.1,4, 264. 63 Plotin, Enneaden, VI,9,8,56 = Schriften Ia, 195; zur Allgegenwart des Einen bei Plotin vgl. besonders Enneade VI,4 = Schriften IIa, 2–45: „Das Seiende, obgleich eines und dasselbe, ist zugleich als Ganzes überall I.“ 64 Vgl. M. Fricker, Deus totus ubique simul, 38.43.46.62–71. 65 Gregor der Große, Moralium libri, 5,34,62 (MPL 75, 713B): „Semper, ut est, idem est: ubique praesens, ubique invisibilis, ubique tota.“

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Gott und Raum

überall ganz: Gott ist „unus idemque totus ubique“66. Jedoch ist Gott auch bei Gregor ohne Ort an allen Orten (non localiter ubique est67). „Damit erhält die göttliche Allpräsenz, das totum ubique simul, den wesentlichen Charakter einer unörtlichen Allörtlichkeit bei gleichzeitig punkthafter Unermesslichkeit“68. Gottes Allgegenwart ist ein Zusammenfall räumlicher Gegensätze, was Gregor an einer herausragenden Stelle in einer Reihe von raumsinnlichen Gegensatzpaaren zum Ausdruck bringt. Wir zitieren den berühmten Hymnus, der zahlreiche Nachahmungen gefunden hat bis hin zu Luthers Abendmahlsschrift und den lutherischen Dogmatikern.69 „Er selbst nämlich bleibt innerhalb von allem und außerhalb von allem, er ist über allem, er ist unter allem; er steht höher durch seine Macht und innerer durch sein Erhalten; er ist äußerer durch seine Größe und innerer durch seine Feinheit: oben als Herrscher, unten als Enthalter; außen als Umfasser, innen als Durchdringer; aber nicht mit einem Teil höher, mit dem anderen innen, oder mit dem einen Teil äußerer und dem anderen innerer: sondern der eine und derselbe ist überall ganz – als Erhalter durch das Thronen, als Throner durch das Erhalten, als Durchdringer durchs Umgeben, als Umgebender durchs Durchdringen; wo thronend von oben, dort erhalten von unten; und wo umgebend von außen, dort erfüllend von innen: ohne Unruhe höher herrschend, ohne Mühe tiefer erhaltend; ohne Ausdünnung innerer durchdringend, ohne Ausdehnung äußerer umgebend. Er ist deshalb der Innerste und der Höchste ohne Ort; er ist der Weiteste ohne Erstreckung, der Feinste ohne Ausdünnung. (Quia enim ipse manet intra omnia, ipse extra omnia, ipse supra omnia, ipse infra omnia; et superior est per potentiam, et inferior per sustentationem; exterior per magnitudinem, et interior per subtilitatem: sursum regens, deorsum continens; extra circumdans, interius pentrans; nec alia ex parte superior, alia inferior, aut alia ex parte exterior, atque ex alia manet interior: sed unus idemque totus ubique praesidendo sustinens; sustinendo praesidens, circumdando penetrans, penetrando circumdans; unde superius praesidens, inde inferiur sustinens; et unde exterius ambiens, inde interius replens: sine inquietudine superius regens, sine labore inferius sustinens; interius sine extenuatione penetrans, exterius sine extensione circumdans. Est itaque interior et superior sine loco; est amplior sine latitudine, est subtilior sine extenuatione.)“70

————— 66 Ebd., 2,12,20 (MPL 75, 565C). 67 Ebd., 27,11,19 (MPL 76, 409D). 68 Fricker, Deus totus ubique simul, 46. 69 Z.B. Bonaventura, Itinerarium mentis in Deum, c.5, n.8, Opera omnia V, 310a, wo über das augustinische „ubique totus et nusquam locorum“ hinaus auch das zeitumgreifende „ubique simul“ herausgestellt wird: „Quia aeternum et praesentissimum, ideo omnes durations ambit et intrat, quasi simul existens eorum centrum et circumferential. – Quia simplissimum et maximum, ideo totum intra omnia et totum extra.“; ähnliche Formeln bei Luther (WA 26, 339,39–340,2), Brenz und Hollaz s.u. I.7.3/6 bzw. oben I.1.2.2. 70 Gregor der Große, ebd., 2,12,20 (MPL 75, 565B–D).

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Gottes räumliche Allpräsenz

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3.6 Essentiell-operative Omnipräsenz der prima causa (Th. v. Aquin) Das Verhältnis von Gott und Raum wird bei Thomas wie schon bei Augustin in drei unterschiedlichen Zusammenhängen relevant, nämlich in der Trinitätslehre bzgl. des „Raum“-Verhältnisses der göttlichen Personen zueinander, in der Gotteslehre bzgl. der Allgegenwart im Verhältnis zum Welt-Raum und in der Soteriologie bzgl. der gnadenhaften Einwohnung Gottes in den Menschen. Um das gegenseitige In-Sein von Vater und Sohn gemäß Joh 14,10: Ego in patre, et pater in me est, zu explizieren, rekurriert Thomas auf die acht möglichen Weisen, die Aristoteles aufzählt, wie etwas in etwas anderem sein kann (s.o. I.2.3.3.).71 Keines der möglichen In-Verhältnisse – neben dem räumlichen (etwas in einem Gefäß) und dem lokalen (etwas an einem Ort) das Verhältnis von Teil und Ganzem, von Art und Gattung, von Form und Stoff, Ursache und Wirkung, Sinn und Ziel – ist geeignet, die Perichorese von Vater und Sohn auszudrücken, da es sich dabei weder um eine kategoriale noch um eine reale Subordination, sondern um eine wesentlich nichtgegenständliche, nicht räumliche und nicht zeitliche Koordination handelt, welche die Einheit des göttlichen Wesens wahrt. Vater und Sohn haben ihr Wesen (essentia) je „im“ identischen Wesen des anderen, der Sohn seinen ewigen Ursprung (origo, processio) „im“ Vater. Die Relation (relatio) von Vater und Sohn ist mit geschöpflichen Relationen schlechthin unvergleichbar. Daher muss auch die Weise des In-Seins Gottes in den Dingen im Raum und in den Glaubenden präszise bestimmt werden. Thomas erörtert das Sein Gottes „in“ den Dingen in der Quaestio 8 „De existentia Dei in rebus“, indem er überprüft, ob bestimmte kategorialen Schemata anwendbar sind. Dass Gott in allen Dingen ist, kann nicht als Teil des Wesens oder als Akzidenz einer Substanz gemeint sein, sondern meint die unmittelbare Verbundenheit des Tätigen mit der Tätigkeit. Nach Aristoteles’ Physik VII sind das Bewegende und die Bewegung zugleich. Den Effekt der Bewegung verursacht Gott in den Dingen nicht nur durch den ersten Anstoß der Bewegung, sondern solange sie im Sein erhalten werden. Gott ist den Dingen tiefstinnerlich (intime), insofern sie überhaupt Sein haben. Gott ist also notwendig in den Dingen als Verursacher und Erhalter ihres Seins. Diese Erhaltung bedeutet die Erhaltung der Möglichkeit und Aktualität von Wirkung, so dass Gott als Seinsgrund immediate in omnibus agit72. Dieses In-Sein des ersten Bewegenden in allem Bewegten ist also die wirkkräftige Permanenz der Erstursache in den Zweitursachen. ————— 71 Thomas, STh I, qu.42, a.5. 72 Ebd., qu.8, a.1, resp; wie bei den Barockscholastikern und den Altprotestanten (s.u. I.1.5.2f) ist auch bei Thomas die unmittelbare Wirksamkeit Gottes immediate suppositi et virtute

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Gott und Raum

Wie steht es neben der kausativen mit der lokalen Relation? Wenn Gott überall ist, schein dies zu bedeuten, dass er an jedem Ort ist (esse enim ubique significat esse in omni loco73)? Dies kann aber nicht so gemeint sein, wie stoffliche Körper am Ort sind. Denn, wie schon in Quaestio 3 „De Dei simplicitate“ gezeigt wurde, ist Gott das schlechthin einfache Wesen. Gott kann kein (ausgedehnt-teilbarer) Körper sein (art. 1), da 1. jeder (bewegte) Körper von etwas bewegt wird, Gott aber das primum movens immobile ist, 2. ein (ruhender) Körper die Potenz hat, bewegt zu werden, Gott aber keine Potenz in sich hat, sondern actus purus ist und 3. belebte Körper vornehmer (nobilior) sind als unbelebte und das Belebende vornehmer als der belebte Körper, so dass Gott als das vornehmste Seiende überhaupt kein Körper sein kann. Gott kann aber auch kein Stoff sein, sonst wäre in ihm wie in den Körpern eine Zusammensetzung aus Form und Materie (compositio formae et materiae, art. 2). Gott aber ist actus purus, also reine Form ohne materielle Potenz, und er ist per se forma. Er hat durch sein Wesen seine Form (per essentia sua forma), nicht durch Teilhabe (participatio) an einem Formenden. Man könnte diese Überlegungen auch noch in Bezug auf andere Kategorien durchspielen, was Thomas auch tut (z.B. ob Gott Akzidenzien hat, ob er Teile hat, einer Gattung angehört etc., art. 3–6), jedenfalls ist das Ergebnis immer das, dass Gott, das schlechthin einfache Wesen (omnino simplex, art. 7), mit keinem der o.g. dualen kategorialen Schemata erfassbar ist. Daher tritt vor die Überlegung, wie die Allgegenwart Gottes in omni loco positiv zu denken ist, eine negative, abgrenzende Überlegung in der voraufgehenden Quaestio 7 „De infinitate Dei“. Gott ist überall und in allen Dingen, insofern er unumschreibbar und unendlich ist (ubique et in omnibus rebus, inquantum est incircumscriptibilis et infinitus74). Die Unumschreibbarkeit resultiert aus der Unendlichkeit als Unbegrenztheit (infinitum dicitur aliquid ex eo quod non est finitum75). Dies ist jedoch nicht im Sinne räumlich unbegrenzter Ausdehnung, sondern qualitativ gemeint. Gott ist unendlich, weil er von einem der dualen Kategorienschemata nicht erfassbar ist (materia – forma, potentia – actus), die sich je gegenseitig begrenzen. Der Stoff etwa wird durch die Form vollendet und dadurch als Potenz begrenzt, die Form wird durch den Stoff begrenzt als Formung nur diesen einen Dings. Im Umkehrschluss meint die Unendlichkeit Gottes nicht unbegrenzte Perfektibilität, wie ein Stoff unendliche Möglichkeiten hat, geformt, d.h. perfektioniert und damit begrenzt zu werden, sondern immer ————— gedacht, hierzu vgl. H. Stirnimann, Zur suppositalen und virtuellen Unmittelbarkeit (Immediatio suppositi et virtutis). 73 Thomas, STh I, qu.8, a.2, 1. 74 Ebd., qu.7, Vorwort. 75 Ebd., qu.7, a.1, resp.

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Gottes räumliche Allpräsenz

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schon erreichte vollkommene Perfektion. „Manifestum est quod ipse Deus sit infinitus et perfectus.“76 Die Unendlichkeit Gottes meint nichts anderes als die schlechthinnige Vollkommenheit in jeder Hinsicht ohne jede Einschränkung. Während körperliche Potentialität ebenso wie mathematische Unendlichkeit immer potentiell unendlich bleibt, ist Gott aktual unendlich.77 Er ist das einzige (mögliche und wirkliche) aktual Unendliche überhaupt, da er unendlich durch sein Wesen ist (infinitus per essentiam78). Daraus folgt, um auf die Quaestio 8 nach dem positiven Wie der Allgegenwart Gottes zurückzukommen, dass Gott durch sein unendliches, vollkommenes Wesen allpräsent ist, insofern er allem Seienden mit seinem Sein subsistiert und den Orten und den Dingen das Sein gibt. Gott ist so in loco, dass er 1. dem Ort, der Aristoteles folgend ein reales Etwas (res quaedam) ist, sein Sein und sein Vermögen, Körper am Ort zu halten, gibt. „Enim est in omni loco, ut dans ei esse et virtutem locativam.“79 Dies tut er so, dass er 2. jeden Ort ausfüllt, denn das Vermögen des Ortes, Körper am Ort zu halten, wird so verwirklicht, dass das Geortete den Ort ausfüllt. Gott erfüllt den Ort jedoch anders als die Körper nicht exklusiv, sondern ohne die Körper zu verdrängen. Gott erfüllt den Ort, indem er die Körper am Ort erfüllt. Er ist 3. so in loco, dass er den Dingen am Ort ihr Sein, Wirkkraft und Tätigkeit verleiht. Dies geschieht nicht durch räumliche Berührung (per contactam quantitatis dimensivae) von außen, sondern durch Kraftübertrag (per contactam virtutis80) „von innen“. Dies wiederum geschieht, wie Thomas detailliert ausführt, nicht so, dass Gott einen Teil des stetigen Körpers in seinem Inneren ersetzte, sondern durch kontinuierlichen Kraftübertrag über den ganzen Körper. Gott kann dies in allen Teilen des Körpers zugleich, da seine Stetigkeit nicht wie der Raum, die Zeit und die materiellen Körper die des kontinuierlichen Nebeneinander der Teile ist, sondern er ungeteilt an einem oder vielen Orten sein kann wie alle unkörperlichen Substanzen. Gott ist also, mit Augustin gesagt, (wie die Seele) ganz im ganzen Körper und ganz in jedem Teil (tota in toto corpore, et tota in qualibet eius parte81). Er ist nach seiner Ganzheit überall (secundum se totum est ubique), er ist anders als die Seele jedoch durch sich selbst überall ganz (ubique per se82). ————— 76 Ebd. 77 Die Unterscheidung des potentiellen vom aktualen Unendlichen meint seit Aristoteles, dass das Unbegrenzte nur im Modus der Möglichkeit vorkommen kann (dunaßmei eiQnai to? aäpeiron, Phys. III, 6, 206a, 18), da es nie zur Verwirklichung kommt, während Gott die Wirklichkeit schlechthin ist (actus purus). 78 Ebd., qu.7, a.2. 79 Ebd., qu.8, a.2, resp. 80 Ebd., qu.8, a.2, ad 1. 81 Ebd., qu.8, a.4, 5; Zit. v. Augustinus, De Trinitate, l.VI, c.6, MPL 42, 929. 82 Ebd., qu.8, a.4, resp.

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Gott und Raum

Zusammengefasst ergibt sich, dass Gott überall, d.h. an jedem Ort und in allen Dingen, ganz ist 1. durch sein Wesen (per essentiam), welches dem Ort und den Dingen Sein und Wirkkraft verleiht, ohne mit dem Wesen der Dinge pantheistisch identisch zu sein. Gott ist nicht das Wesen, sondern die causa essendi.83 „Est in omnibus per essentiam, inquantum adest omnibus ut causa essendi“84. Seine Omnipräsenz ist 2. nicht ruhend, sondern operational. Er sieht nicht bloß zu bei dem, was geschieht, sondern wirkt aktiv, d.h. immediate, ohne Distanz, in den Dingen. Gott ist 3. die causa agentis der Dinge, insofern er Allem durch seine Macht (per potentiam) innewohnt. Gesagt ist dies gegen die Manichäer, die behaupten, Gottes Macht erstrecke sich nicht auf die körperlich-materiellen Dinge. Beim Wirken in den Dingen unterscheidet Thomas mit Augustin zwischen der allgemeinen Wirkung in allem Geschaffenen und der besonderen in den vernünftigen Wesen, also zwischen der Allgegenwart und der besonderen Einwohnung in sanctis per gratiam.85 Jedenfalls bringt Thomas die allgemeine Gegenwart mit der Tradition auf den dreifachen Begriff: „Deus est ubique“, d.h. „in omnibus rebus per essentiam, praesentiam et potentiam“86, und erläutert dies durch Analogien aus dem menschlichen und natürlichen Leben. Gott ist wie ein König durch seine Macht präsent, insofern alles seiner Macht untersteht, seine Präsenz erstreckt sich auf alle Dinge, insofern alles „nackt“ vor ihm liegt, er durch alles hindurchsieht und alles weiß, und er ist als Seinsgrund mit seinem Wesen am Ort der Dinge gegenwärtig, wie auch der Mensch mit seiner ganzen Person am Ort des Handelns präsent ist.87 Es handelt sich um die Präsenz der vom menschlichen autoritativ-operationalen, intentionalfinalen und lokal-kausalen Handeln abgeleiteten Präsenz, also um die allwirksame Allgegenwart. Bereits Augustin hat diese dreifache Präsenz, dass Gott in allen Dingen aktuell und lokal, kausativ und final durch sein Wesen, sein Wissen und seine Macht gegenwärtig ist, in folgendem Anthropomorphismus zum Ausdruck gebracht: „Deus totus oculus est, totus manus est, totus pes est. totus oculus est, quia omnia videt; totus manus est, quia omnia operatur; totus pes est, quia ubique est.“88 Damit ist die Basis und Grundgestalt der scholastischen, auch der altprotestantischen Lehre im Wesentlichen erreicht und es können die alternativen platonischen Konzeptionen betrachtet werden. ————— 83 Vgl. Thomas, Scg, l.II, c.XV, Bd. 2, 30–34: „Quod Deus sit omnibus causa essendi.“ 84 Thomas, STh I, qu.8, a.3 resp. 85 Ebd., qu.8, a.3 ad 4, hierzu vgl. Lehmkühler, Inhabitatio, 76–85. 86 Thomas, ebd., qu.8, a.3; vgl. schon Petrus Lombardus, Sententiae, p.I, dist.37, c.1,5, 265: „Deus ubique et in omni creatura essentialiter, praesentialiter, potentialiter est.“ 87 Thomas, ebd., qu.8, a.3 resp. 88 Augustin, Epistola 148, CSEL 44, 344, 7–9; zit. auch bei J. Gerhard, Loci theologici, tom.I, loc.II, c.VIII, sect.VIII, §189, III.138, 331.

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Kapitel 4: Das göttliche Licht im kosmischen Raum

4.1 Lichtsymbolik und Lichtmetaphysik Bei der Besprechung der neuplatonischen Raumtheorien hatten wir die Aufassung des Raumes als einer Lichtkugel kennengelernt. Da das Licht in der ganzen philosophischen und religiösen Tradition der Antike für das Intelligible und auch das Göttliche steht, lag es nahe, die Allgegenwart Gottes und seine Emanation im Raum mittels der Metapher des ausstrahlenden Lichtes auszudrücken. Da das Licht andererseits auch ontisch und noetisch fundamental ist – es vermittelt Leben, sinnliche und geistige Erkenntnis –, wurde das Licht zur phänomenalen und intelligiblen Ursubstanz und die Lichtsymbolik zu einer Lichtmetaphysik ausgebaut, zu einer spekulativen Ontologie und Kosmologie auf der Basis des Lichtes. Ihr Höhepunkt sind, nach dem Werk Dionysius Areopagitas (4.2f), die kleine Schrift des Robert Grosseteste (1175–1253) „Vom Licht oder dem Beginn der Formen/De luce seu de inchoatione formarum“ (4.4f) und das „Buch von den Intelligenzien/Liber de intelligentiis“ aus dem 13. Jahrhundert (4.6).1 Den Ausdruck Lichtmetaphysik hat C. Baeumker in die Diskussion um den Platonismus im Mittelalter eingebracht und seine Geschichte profund beschrieben, W. Beierwaltes hat ihn von Lichtsymbolik zu unterscheiden gelehrt.2 In der Lichtsymbolik fungiert das Licht als sinnliche Metapher für eine nichtsinnliche Realität, die sich im physischen Licht manifestieren kann. Das Licht verweist in Analogie oder im Vergleich auf das Geistige hinter dem Sichtbaren, auf den intelligiblen Kosmos oder das Göttliche selbst, und ist das Medium, durch das Jenes erkannt werden kann. In der Lichtmetaphysik stellt das Licht selbst eine ontologisch fundamentale Größe dar, das Sein des Seienden hat Lichtcharakter oder ist Licht.

————— 1 Zum Ganzen vgl. K. Hedwig, Sphaera Lucis. Studien zur Intelligibilität des Seienden im Kontext der Mittelalterlichen Lichtspekulation, der zahlreiche weitere Autoren und Schriften behandelt, die wir nur am Rande streifen können oder in anderem Zusammenhang behandeln, u.a. Johannes Eriugena, die arabischen und jüdischen Spekulationen, Bonaventura, Albertus Magnus, R. Bacon, Witelo, die Mystiker Eckart, Tauler, Seuse sowie Cusanus. 2 C. Baeumker, Witelo, 358–422; W. Beierwaltes, Lux intelligibilis; J. Ratzinger, Licht und Erleuchtung; J. Koch, Über die Lichtsymbolik im Bereich der Philosophie und Mystik des Mittelalters.

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Da aber die Lichtsymbolik gemäß der Metapherntheorie von H. Blumenberg3 eine absolute Metapher darstellt – Licht steht unaustauschbar und begrifflich nur z.T. auflösbar für Wahrheit, Erleuchtung, Gutes, Gott – und die Differenz zwischen dem physischen und dem intelligiblen Licht nicht immer klar durchgehalten wurde, ist der Übergang zur Lichtmetaphysik fließend. Das Sein des Seienden und das Sein des Lichtes überschneiden sich, das Sein des Lichtes bildet den ontischen, nicht nur noetischen, Grund dafür, dass das Licht als sinnliche Metapher und Erkenntnismedium für den intelligiblen Grund des Seins dienen kann. Schärfer ist die Grenze, die durch das Aufkommen der aristotelischen Naturphilosophie im Hochmittelalter und der dadurch erfolgenden Umbildung der platonischen markiert ist. Während im Platonismus von Antike und frühem Mittelalter ein symbolisches Naturverständnis dominierte – „Es befindet sich, wie ich glaube, Nichts unter den sichtbaren Dingen der Körperwelt, was nicht auch etwas Unkörperliches und rein Geistiges bedeutete“, sagt Johannes Scotus Eriugena4 –, ist die aristotelisch geprägte Naturphilosophie durch einen Realismus gekennzeichnet, der die Natur der Dinge aus ihrer physischen Gegebenheit, ihren Ursachen und Prinzipien selbst bestimmen will. Dementsprechend ist die methodische Grundlage der Lichtmetaphysik des 13. Jahrhunderts weniger religiöse Symbolik oder mystische Spekulation wie in Dionysius Areopagitas’ Lichttheologie, sondern die Physik und Optik des Lichtes, so bei Grosseteste, bzw. die aristotelische Metaphysik der Substanzen, Prinzipien und Ursachen im Liber de intelligentiis. Da aber der neuplatonische Hintergrund bei Grosseteste wie beim Liber de intelligentiis nicht ausgeblendet ist, beginnen wir mit einigen Bemerkungen zu Dionysius Areopagita, dem wirkungsmächtigsten Vertreter und Vermittler der christlichen Lichtsymbolik.5 Wir streben weder systematisch noch traditionsgeschichtlich Vollständigkeit an und konzentrieren uns, wie schon bei den platonischen Raumtheorien von Philo, Plotin, Proklos u.a., auf das Verhältnis von Gott, Licht und Raum.

————— 3 H. Blumenberg, Licht als Metapher der Wahrheit; ders., Paradigmen zu einer Metaphorologie, 15. 4 Johannes Eriugena, De divisione naturae V, 3, MPL 122, 866A = Einteilung der Natur, Bd. 2, 179. 5 Vgl. O. Semmelroth, Gottes ausstrahlendes Licht; J. Koch, Augustinischer und dionysischer Neuplatonismus und das Mittelalter; zur religionsgeschichtlichen und philosophischen Ursprungsgeschichte der Lichtsymbolik von Homer über Platon, Philo, die Gnosis und Hermetik bis Plotin vgl. R. Bultmann, Zur Geschichte der Lichtsymbolik im Altertum.

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4.2 Gott als überlichter trinitarischer Raum (Dionysius Areopagita) Die platonische und biblisch-christliche Tradition sind bei Dionysius Areopagita6 zusammengeführt, wenn er die Himmlische Hierarchie mit Jak 1,17, Röm 11,36 und Joh 1,9 beginnt:7 Alle gute Gabe und Vollkommenheit stammt von oben herab, vom Vater des Lichtes, von dem, durch den und zu dem alle Dinge sind, wie es vorrangig in Jesus, dem Licht des Vaters, dem wahren Licht, das alle Menschen erleuchtet und den Zugang zum Vater, dem Urquell des Lichts schenkt, manifest wird. Das plotinsche Bild vom göttlichen Einen als der ausstrahlenden Lichtkugel, welche vom Zentrum in Kaskaden über die geistigen Hypostasen zu den peripheren, materiellen Dingen sich ergießt und in den Ausstrahlungen seine Wahrheit, Gutheit und Schönheit zu den Aufnehmern transportiert, war leicht biblisch-christlich interpretierbar. Ist Gott der Vater des Lichts, so ist alles Gute Lichtausstrahlung und jede Lichtausstrahlung seine gute Gabe, die sich vom unzugänglichen Einen, der im unzugänglichen Licht wohnt (1.Tim 6,16)8, in die Schöpfung ergießt. Wie der Lichtstrahl sich vervielfältigt und instantan im Raum verteilt, so strömt aus Gott Licht und Leben und teilt den Kreaturen Sein, Licht und Leben, aber auch Gutes, Schönheit und Wahrheit mit. „So ist also Gott selbst für alle, die erleuchtet werden, von Natur aus wesentlich und wahrhaft das Prinzip der Erleuchtung, die eigentliche Urquelle alles Lichts, der Urheber alles Seins und Lebens. Dagegen das einzelne, jeweils um einen Grad übergeordnete Wesen ist Spender des göttlichen Lichtes, für jedes ihm folgende in Nachahmung Gottes. Denn der göttliche Strom wird durch die einen zu den anderen geleitet.“9 ————— 6 Die Schriften des Areopagiten sind zitiert nach MPG 3 sowie nach den Auswahlbänden W. Tritsch (Hg.), Die Hierarchien der Engel und der Kirche = Hierarchien; Ders. (Hg.), Mystische Theologie und andere Schriften = Theologie; E. Ivanka (Hg.), Von den Namen zum Unnennbaren = Namen. 7 Dionysius Areopagita, Himmlische Hierarchie (De caelesti hierarchia), c.I, 1, MPG 3, 120B = Hierarchien, 99. 8 Vgl. Dionysius Areopagita, Brief 5, in: Theologie, 178 = Namen, 102: „Das ‚heilige Dunkel‘ ist das unzugängliche Licht, in dem, wie die Schrift sagt, Gott seine Wohnung hat. Unsichtbar wegen seiner überstrahlenden Helle, unzugänglich wegen der Überfülle des aus ihm strahlenden überwesentlichen Lichtes.“ 9 De caelesti hierarchia, c.XIII,3, 301D, in: Hierarchien 146; vgl. auch die Lichtemanation der sog. Theologie des Aristoteles, ein Kompendium der Seelenlehre von Plotins Enneaden, entstanden um 300, vielleicht sogar von Porphyrius, um 840 ins Arabische übersetzt und nur in dieser Fassung erhalten, hg. F. Dieterici, 78: „Wenn aber der Ureine also ist, d.h. in Wahrheit Ursache, so ist auch das von ihm Verursachte wahrhaft verursacht. Ist er wahrhaft Licht, so ist das dies Licht Annehmende auch Wahrhaftes annehmend. Ist er wahrhaft gut und strömt das Gute aus, so ist das auf jenes Ausströmende ebenfalls wahrhaft. Demnach ist es nicht notwendig, dass der Schöpfer allein für sich sei, ohne etwas Erhabenes, sein Licht Annehmendes, d.h. den Geist, zu schaffen.“

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Gleichwohl ist der Vergleich von Gott mit dem Licht für Dionysius nur eine „unähnliche Ähnlichkeit“10, ein unähnliches Abbild des immateriellen Urbildes. Das Licht Gottes ist überwesentlich und seine Ausstrahlungen sind nicht Gott selbst. Die Emanation ist nicht substantiell, es handelt sich nicht um einen Pantheismus, auch das Bild der Sonne, die durch ihr bloßes Sein alles mit Licht erfüllt,11 ist nur unähnliche Ähnlichkeit. Ausgestrahlt wird nicht das göttliche Wesen selbst, sondern seine Wirkungen resp. die Strahlen der Sonne.12 Wenn im obigen Zitat Gott von Natur aus und wesentlich die Urquelle des Lichts und das Prinzip der Erleuchtung genannt wird, so bezieht sich die Notwendigkeit des Ausstrahlens nur auf Gott selbst. Nur in Gott sind Strahlen wesensnotwendig, nicht aber aus ihm heraus. Dionysius markiert scharf den Gegensatz zwischen Gottes eigenem und dem mitgeteilten Licht. Mitgeteilt werden Gaben und Eigenschaften Gottes, nicht aber sein überwesentliches Wesen. Die Transzendenz Gottes bleibt gewahrt. Gottes Wesen ist weder mitteilbar noch erkennbar. Es ist verhüllt im „überlichthaften Dunkel“13. „Alles Göttliche […] es selbst, was es und wie beschaffen es in seinem eigenen Ursein und in-sich-Bestehen ist, liegt über dem Geist und über allem Sein und Erkennen. Wenn wir nun die überwesenhafte Verborgenheit Gottes Leben oder Sein oder Licht oder Wort nennen mögen, so denken wir dabei an nichts anderes, als an die von dorther zu uns ausströmenden vergöttlichenden, seinsspendenden, belebenden und weisheitsspendenden Kräfte.“14 Dass die Photophanie des göttlichen Lichtes nicht pantheistisch gemeint ist, zeigt auch die Art und Weise, wie sie geschieht. Die Ausstrahlung ergeht nach der Trias des Proklos In-sich-Sein (monhß), Aus-sich-heraus-Sein (proßodow), In-sich-zurück-Sein (eöpistrofhß)15. Jedes Hervorgehen aus Gott führt auch wieder zu ihm zurück, die Vervielfältigung aus der Einheit wendet sich wieder zum Ausgang zurück. Der Lichtmonismus ist hier triadisch bzw. trinitätstheologisch gebrochen, wie auch im noch zu bespre————— 10 Dionysius Areopagita, De caelesti hierarchia, c.II,4, 141C, in: Hierarchien, 106. 11 Namen Gottes (De divinis nominibus), c.IV,1, 693B, in: Theologie, 58 = Namen, 54. 12 De caelesti hierarchia, c.XIII,3, 301A–B, in: Hierarchien, 145. 13 Mystische Theologie (De mystica theologia), c.I,1, 997A; c.II, 1025A = Namen, 91.93; die mystische Theologie ist die höchste Form von Gotteserkenntnis, sie übersteigt und transzendiert die bejahende kataphatische, die verneinende apophatische und die sinnlich-analoge symbolische Theologie. Der dreieinige Gott, der überwesentliche, geheimnisvoll-dunkle Urgrund des Seins, der jenseits von Sein und Nichtsein, von Licht und Dunkel, Wahrheit und Irrtum steht, erglänzt im überlichten dunklen Raum des reinen Schweigens. Die Auffassung von Gott als Licht und als dunklem Abgrund in der mittelalterlichen Mystik (Hildegard v. Bingen, Mechthild v. Magdeburg, M. Eckart, Joh. Tauler) ist hier grundgelegt, vgl. Koch, Lichtsymbolik, 663–668; T. Reinhuber, kämpfender Glaube, 96–99. 14 Namen, 48 = De divinis nominibus, c.II,7, 645A. 15 Hierzu vgl. W. Beierwaltes, Proklos, 118–164; ders., Dionysius Areopagita – ein christlicher Proklos?, in: Platonismus im Christentum, 44–84.

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chenden ersten Satz des Buches der vierundzwanzig Philosophen, der Gott die Monade (monas) nennt, die Einheit, welche die Monade erzeugt und den dabei entstandenen Lichtglanz auf sich zurückwendet: Deus est monas, monadem gignens, in se suum reflectens ardorem. Die triadische Struktur resultiert aus der intelligiblen, reflexiven Selbstverdopplung des Einen: Einheit der Vernunft – Denken des Einen – reflektierendes Denken des Denkens. Das optische Modell ist also nicht der vom Zentrum unbegrenzt in den Raum strahlende Leuchtkörper, sondern der am Spiegel reflektierte und zum Ausgang zurückgeworfene Lichtstrahl. Die christliche Interpretation dieses triadischen Modells ist die immanente Trinität, deren „gegenseitige Einwohnung und Ineinanderstehen der ureinen Personen in vollkommen geeinter und doch in keiner Hinsicht vermischter Weise“ Dionysius ins Bild des „Lichts dreier Leuchter, die in einem Raum stehen, obwohl ein jedes Licht von seinem Leuchter ausgeht doch ein jedes ganz im ganzen Lichte der anderen ist und dennoch unvermischt und genau von den anderen Lichtern abgesonderten, eigenen Bestand hat, so dass die Lichter geeint sind in der Sonderung und gesondert in der Einigung“16 gebracht hat. Durch die Reflexion der drei selbststrahlenden und reflektierenden göttlichen Lichter aufeinander entsteht die Einheit in der göttlichen Vielheit. Dieses Licht ist nicht dasjenige, das von Gott ökonomisch zu den Kreaturen erstrahlt, sondern ein immanentes, innergöttliches Licht, das in einem intelligiblen Raum, d.h. innertrinitarisch in Gott selbst erstrahlt. Es ist ein rein intellektuales Licht. Die Unterscheidung von Plotin und Proklos zwischen dem intelligiblen und dem sensiblen Raum ist bei Dionysios auf zwei Arten von Licht ausgeweitet. Das intelligible Licht in Gott selbst hat im ganzen intelligiblen Raum volle Stärke, während das göttliche Licht des Seins, der Wahrheit und des Lebens, das in die Kreaturen, sprich in den sensiblen Raum ausstrahlt, an Intensität abnimmt, je größer der Abstand vom Zentrum, je weiter die Radien auseinanderlaufen.17 Dadurch entsteht in der Schöpfung eine Hierarchie und Ordnung durch Lichtstufen, die Dionysius bekanntlich in drei himmlischen und drei kirchlichen Triaden von je drei Chören bzw. Ständen entfaltet, deren ontologische Wertigkeit und Vermittlungsfähigkeit des göttlichen Lichtes aus der Nähe zum Zentrum und dem Grad an Lichtteilhabe resultiert.18 ————— 16 Namen, 46 = De divinis nominibus, c.II,4, 641A–B. 17 De divinis nominibus, c.V,6, 821A, in: Theologie, 103f. 18 Die Himmlische Hierarchie ist geordnet in die erste Triade: Seraphim, Cherubim, Throne, die mittlere: Herrschaften, Mächte, Gewalten, die untere: Prinzipien, Erzengel, Engel, die kirchliche in die drei Sakramente: Taufe, Eucharistie, Weihe, die drei Priesterstände Bischof, Priester, Diakon und die untergeordneten Stände Mönch, kommunierende Getaufte, Büßer und Katechumenen.

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4.3 Die Ausstrahlung des göttlichen Lichts in den Raum Damit aber die geschöpflichen Reflektoren des göttlichen Lichtes nicht in Verdacht des Selbstleuchtens kommen, hat Dionysius dem ökonomisch ausgestrahlten Licht Gottes selbst eine Reflexions- und Sammlungstendenz zugeschrieben, unabhängig von den Aufnehmern. Er hat dies in der Lichtkraft der Sonne abgebildet gesehen und der ausstrahlenden Sonne selbst auch eine Sammlungs- und Zusammenführungstendenz zugeschrieben: sie ziehe das Zerstreute wieder auf sich zurück, da sie, wie der Name Helios sagt, die „Urversammlerin alles Zerstreuten“, ja „das Ureinheitliche und Einsmachende der Gottheit“ sei, zu der alles hinstrebt als zum Ursprung und Ziel aller Dinge.19 Der Vergleich wird hier zur (real)symbolischen Theologie überhöht und die Sonne vom „sichtbaren Abbild der göttlichen Güte“ zur Schöpfungsmittlerin, nicht so, wie im ägyptischen Sonnenkult oder der Hermetik, „als ob die Sonne selbst Gott oder Schöpfer dieses Weltalls sei“20, aber doch als realer Vermittler des göttlichen Guten und Lebens. Man versteht, wie in dieser „solaren“ Theologie die Sonne vom biologischen und intelligiblen Zentrum des Kosmos in der frühen Neuzeit auch zum ontologischen und geographischen Zentrum des All werden konnte. Kopernikus beruft sich zur Legitimation des heliozentrischen Kosmos ausdrücklich auf Hermes Trismegistos und nennt die Sonne „lucerna mundi“ und „visibilis deus“21. Die kosmologische Einigungsfunktion, die bei Dionysios dem Licht der Sonne zugeschrieben wird, dass es „Maß, Ewigkeit, Zeit, Zahl, Ordnung, Inbegriff, Ursachen und Ziel von allem“ ist, indem es „erleuchtet, gestaltet, belebt, zusammenhält, vervollkommnet“22, ist genau die, die bei Jamblichos dem Raum und bei Platon dem göttlichen Wesen selbst zukommt. Die Ordnung, Strukturierung und Belebung des Weltraumes und der Körper im Raum geschieht vermittels des Lichtes. Das Licht ist wie bei Plotin das aktive Prinzip, welches das passive Prinzip, den formlosen, dunklen Raum und die formlose, unbelebte Materie, belebt, gestaltet, ordnet. Durch das Licht wird aus dem Raum belebter, spiritualisierter, durchgeistigter Raum und die im lichtdurchfluteten Raum des Lichtes teilhaftige Materie selbst „licht“. Der Grundsatz der aristotelischen Anthropologie, dass die Seele die erste Form des Körpers sei,23 wird bei Plotin und Dionysius kosmologisch erweitert. Das Licht ist die „Seele“, das belebende und formende ————— 19 20 21 136. 22 23

Namen, 56–58 = De divinis nominibus, c.IV,4, 700A–C, in: Theologie, 63f. Ebd. N. Copernicus, De revolutionibus orbium coelestium, l.I, c.10, in: Das neue Weltbild, Namen, 57 = De divinis nominibus, c.IV,4, 700A, in: Theologie, 63. Aristoteles, Über die Seele, II,1, 412b,5, 62.

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Prinzip des Raumes und der Materie.24 Von daher ist es nur konsequent, wenn Robert von Grosseteste das optisch sichtbare Licht als erste Form der Körperlichkeit und als kosmologisch-kosmogonisches Formprinzip der Materie überhaupt bezeichnet. Zusammenfassung: Die Allgegenwart Gottes im Raum ereignet sich bei Dionysius Areopagita nach plotinischem Vorbild durch die Ausstrahlung des göttlichen Lichtes in den Raum. Von Gott als dem überlichten, dunklen Anfang und Zentrum aller Dinge erstrahlt Licht, wodurch Sein, Raum, Zeit, Güte und Wahrheit wird.25 Das Sein strömt aus Gott mittels des Lichtes hervor, wie das Licht der Sonne belebt, nährt, erhält, vollendet. Das kreatürliche Seiende ist nicht nur erhellt vom göttlichen Licht, es hat selbst lichtes Sein. Die Grundverfasstheit des Seienden ist intelligibel, das Materielle ist ins Geistige hineingezogen. Das göttliche Licht fließt nicht unbemerkt durch die Kreatur hindurch, sondern wird von ihr innerlich aufgenommen, so dass sich in der Lichtemanation Gott mit der Kreatur, das Geistige mit dem Materiellen verbindet. Der platonische Teilhabegedanke ist bei Dionysius (und Eriugena) schöpfungstheologisch zum Teilgabegedanken umgeformt.26 „Von dem Licht des heiligen Gottes durchstrahlt, ist die ganze Welt eine heilige Ordnung, in der es keine Scheidung zwischen weltlich und heilig, diesseitig und jenseitig gibt. In dieser heiligen Gottesordnung sind auch die tiefsten Stufen der unbelebten Schöpfung von dem Lichte Gottes durchdrungen, das diese materiellen Dinge immer noch als Symbole der höheren Dinge erkennen lässt.“27 Die christliche Schöpfungslehre hat den auch im Neuplatonismus noch latent vorhandenen gnostischen Dualismus zwischen Licht und Finsternis völlig überwunden. Die Einheit der Schöpfung wird durch die transzendente Immanenz Gottes in der Schöpfung im Realsymbol des Lichtes gewährleistet. Das Licht ist ontisch und noetisch das Medium der Gegenwart Gottes in der Welt. Gott wird der Welt präsent im uranfänglichen Wort: Es werde Licht (Gen 1,3),28 aber wiederum: nicht ————— 24 Ein Zwischenschritt ist die Diskussion über das Verhältnis von Seele, Raum und Körper in der Theologie des Aristoteles, 29–30: „Die Seele umschließt den Raum [des Körpers], der Raum aber umschließt nicht die Seele, da sie ja die Ursache des Raumes ist und das Verursachte nicht die Ursache, wohl aber die Ursache das Verursachte umfasst. Wir behaupten: Die Seele ist nicht im Leibe wie etwas im Gefäß ist […] Denn der wahrhafte reine Raum ist kein Körper, vielmehr ein Nichtkörper. Ist aber der Raum unkörperlich, so ist auch die Seele kein Körper. Es bedarf die Seele des Raumes nicht und der Raum ist eben sie (die Seele).“ Durch die Seele werden der Raum und der im Raum befindliche Körper durchgeistigt. Die Beseelung des Raumes geschieht dann bei Dionysius durch das Licht. 25 Dionysius Areopagita, De divinis nominibus, c.V,6–10, in: Theologie, 103–108. 26 Hierzu vgl. G.v. Bredow, Platonismus im Mittelalter, 45f. 27 Semmelroth, Gottes ausstrahlendes Licht, 493. 28 Die zahlreichen Hexaemeronauslegungen von Alter Kirche und Mittelalter interpretieren durchweg das Licht von Gen 1,3 als intelligibles Urlicht, unterschieden von den geschöpflichen

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Gott selbst leuchtet pantheistisch im kreatürlichen Licht, sondern seine Gaben, sein Lichtglanz, der die ganze Welt erfüllt. Das von Ewigkeit her in Gott erstrahlende Licht – der Lichtglanz (splendor) Gottes steht auch bei Johannes Eriugena für die innertrinitarische Perichorese29 – erstrahlt ökonomisch als trinitarische Selbstmitteilung Gottes. Die Gabe des Lichtes ist Offenbarung, ist Gabe des Wortes, ist Theophanie, Erscheinung Gottes in den Kreaturen. Gen 1,3 wird von Joh 1 her christologisch interpretiert. Christus ist das wahre Licht des Vaters und der Schöpfungsmittler, die „Sonne“ Gottes. Die Geschöpfe sind per Teilgabe selbst Strahlen des von Gott ausgehenden Lichtes, der sensible Raum wird vom intelligiblen Lichtinnenraum Gottes durchdrungen und umfasst. Der Weltraum wird vom Licht des transzendenten Gottes beseelt und durchgeistigt. Das physische Licht ist nicht mehr nur Verweis und Medium der Erkenntnis, sondern reale Repräsentanz des intelligiblen göttlichen Lichtes. Das Licht ist das einzige Symbol, die absolute Metapher, die es erlaubt, den intelligiblen und den sensiblen Raum ohne Identitifizierung ineinander zuschieben und so die Allgegenwart Gottes im Raum ohne pantheistische Tendenzen zu denken. Der Raum als Licht vermittelt zwischen dem unsichtbaren Gott und seiner sichtbaren Schöpfung.

4.4 Das Licht als erste Form der Körper (Robert Grosseteste) Während bei Dionysius das Licht noch changierte zwischen physischem Symbol, Metapher, Verweis und physischer Repräsentanz des intelligiblen und göttlichen Lichtes und entsprechend intelligibler und physischer Raum ineinander liefen, wird bei Robert Grosseteste30 (1175–1253) erstmals und in dieser Massivität auch einmalig das physische, genauer das optisch wahrnehmbare und physikalisch beschreibbare Licht zur ontologischen Basis einer spekulativen Kosmogonie und Kosmologie. Das Licht ist das physikalische und metaphysische Prinzip der Entstehung und Entwicklung des Kosmos. Licht ist Lebens- und Formprinzip des Kosmos. Das Grundprinzip der aristotelischen Naturphilosophie einerseits, dass alles Seiende eine Zusammensetzung aus materia und forma darstellt, wobei der Materie, dem Stoff, bloße Passivität und Potenzialität, der forma die gestaltende ————— Lichtern und Leuchten, z.B. Ambrosius, Exameron, lib.I., c.IX., §33, 43f; Basilius, Homilien über das Hexaemeron, 2. Homilie, §7, 35f, MPG 30, 889C; Johannes von Damaskus, Genaue Darlegung des orthodoxen Glaubens, II,7, 57, MPG 94, 885C; Bonaventura, Collationes in Hexaemeron, coll. IV, §1f, 176–178 u.ö. 29 Johannes Eriugena, De divisione naturae, II,32, Einteilung der Natur, Bd. 1, 230–234. 30 Alle Schriften sind mit Seiten und Zeilenangabe zitiert nach L. Baur (Hg.), Die philosophischen Werke des Robert Grosseteste.

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Aktivität zukommt, und das duale Prinzip der platonischen Tradition andererseits, dass die materia prima resp. der Raum das dunkle, zu gestaltende und das Licht das aktive, gestaltende Prinzip darstellt, werden aufgenommen und umgeformt, indem das Licht sowohl als die erste Form der Körperlichkeit als auch als erste Form der materia prima bestimmt wird. Das Licht ist das physikalische und das kosmogonische Formprinzip. Die Ausbreitung des Lichtes expandiert als Licht-Raum, wodurch der Raum auf die aktive Seite des Lichtes und nicht mehr auf die Seite der passiven materia prima zu stehen kommt. Das Licht ist erstens die prima forma corporalis,31 insofern es die Materie zur dreidimensionalen Körperlichkeit formt (corporeitas wird definiert als extensio materiae secundum tres dimensiones), während die bloß stoffliche, „einfache“ Materie den Dimensionen mangelt (materia sit substantia in se ipsa simplex, omni carens dimensione32). Die Formung bedeutet Vervielfachung und plötzliche Ausdehnung in jedem Teil nach jeder Richtung. Diese Operation der Vervielfachung und plötzlichen Diffundierung wird durch das Licht bewerkstelligt, das sich ja durch sich selbst in jedem seiner Teile vervielfacht und verteilt. Das Licht dehnt sich, wie Grosseteste aus einfachen Experimenten und Berechnungen zu Lichtgeschwindigkeit, -ausbreitung und -brechung wusste,33 von einem Punkt aus kreisförmig instantan (magna subito) nach allen Richtungen aus, wenn es nicht vom Schatten gehindert wird (a puncto lucis sphaera lucis quamvis magna subito generetur, nisi obstat umbrosum34). Die Formung des Körpers geschieht durch das Licht, indem das Licht bei seiner Ausdehnung nach allen Richtungen die Materie in die drei Körperrichtungen mitreißt. Die Analogie der Ausdehnung wird zur Identität verdichtet. Das Licht selbst vollbringt nach Grosseteste das Werk der ausdehnenden Formung und jede Formung parti————— 31 R. Grosseteste, De luce seu inchoatione formarum, 51,10; 52,16. 32 Ebd., 51,14–16. 33 Die Schrift „De iride seu de iride et speculo“ liefert eine erste quantitative, auf Experimenten und Berechnungen beruhende, mathematisch-geometrische Optik und Theorie der Lichtbrechung, die von Roger Bacon, Witelo und Dietrich von Freiberg weitergeführt wurde, hierzu vgl. A. Crombie, Robert Grosseteste and the Origins of Experimental Science; ders., Von Augustinus bis Galilei, 94–110. Besonders Witelos Hauptwerk Perspectiva (um 1270) ist hier zu nennen, weil er im Hauptteil eine mathematische Optik ausführt, aber im Vorwort eine neuplatonische Lichtkosmologie analog Grossetestes vorausschickt (Textauszug bei Baeumker, Witelo, 127–179): Alle intelligiblen Influenzen geschehen durch das göttliche Licht (diuinum lumen), das als Prinzip, Mittel und Ziel aller Einflüsse die intellektiven Substanzen ordnet (128,1f); das sinnliche Licht (lumen sensibile) ordnet die Körperwelt, es ist das Medium der körperlichen Influenzen (128,3ff) und verteilt als erste der sensiblen Formen (primum omnium formarum sensibilium, 129,5) von den höheren zu den niederen Körpern die körperlichen Formen, indem es die intelligiblen Formen des göttlichen Künstlers (artifex) aufprägt (128,6ff). Das Licht ist raumschaffend, raumordnend und Räumlichkeit (Körper)-formend. 34 Grosseteste, De luce, 51,12f.

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zipiert am Licht bzw. tätigt sich durch die Kraft des Lichtes.35 Das Licht hat daher von allen Dingen das wertvollste, edelste, überragendste Wesen und je weiter die Körper sich der reinen Form des Lichtes annähern, desto intelligibler sind sie. Ist das Licht als erste Form der Körperlichkeit nur die Quantität, die dreidimensionale Ausdehnung des Körpers oder eine eigene Substanz? Der ontologische Primat der forma vor der materia und die dynamische Aktivität des Formprozesses deutet auf Letzteres hin. Das Licht ist nicht nur statisch, sondern dynamisch die Form der Körper, es ist die Kraft der physischen Bewegungen. Das Licht ist die causa efficiens von Bewegung, das primum motivum corporale36. Das Licht ist für jede konkrete Bewegung das intrinsische Bewegungsprinzip (principium intrinsecum), das selbstbewegte movens non motum und übernimmt die Rolle der Seele als Form- und Bewegungsprinzip der Körper bei Platon und Aristoteles.37 Anders als das teilbare Bewegte ist das bewegende Licht unteilbar. Es vervielfältigt sich als Ganzes durch sich selbst. Daher ist das Licht das Prinzip der Einheit alles Seienden und aller Bewegung in einem. Die ganze Körperwelt kann so einheitlich beschrieben und auf das physikalisch-metaphysische Prinzip „Licht“ begründet werden.

4.5 Das Licht als kosmogonisches Prinzip: Eine mittelalterliche Urknalltheorie Das Licht ist zweitens auch das kosmogonische Prinzip. Die Kraft des Lichtes, die Materie mitzureißen, die Formbewegung zu initiieren und die Selbstaktivität, sich unerschöpflich zu reduplizieren und zu vermehren, legen es für Grosseteste nahe, das Licht auch für das Formprinzip der prima materia, für das geschöpfliche primum movens non motum zu halten. Das Licht, nach Gen 1,3 vor der ungestalteten Materie als Form- und Bewegungsprinzip des Kosmos geschaffen, enthält alle Formen der Schöpfung potentiell in sich. Das Licht explodiert von einem Punkt aus und erzeugt den Raum und die Formen des Kosmos. Dies ist „eine Art Urknalltheorie“38, wie W. Schmidt-Biggemann mit Recht sagt, eine Ursprungstheorie des Kosmos aus Licht, Raum und Materie. ————— 35 „Corporeitas ergo aut est ipsa lux, aut est dictum opus faciens et in materiam dimensiones inducens, in quantum participat ipsam lucem et agit per virtutem ipsius lucis“, ebd., 52,3–6. 36 Grosseteste, De motu corporali et luce, 92,6f. 37 Ebd., 91,12–17. 38 W. Schmidt-Biggemann, Philosophia perennis, 447.

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„Das Licht, das die erste Form in der geschaffenen ersten Materie ist, vervielfältigt sich durch sich selbst unendlich in alle Richtungen und breitet sich in jedem Teil gleichmäßig aus. Die Materie, die es nicht zurücklassen konnte, zog es mit sich und dehnte sich im Beginn der Zeit in so großem Maße aus, wie die Größe des Weltalls ausmacht.“39

Es scheint geradezu, wie in den heutigen physikalischen Urknalltheorien, dass sich das Licht nicht in Raum und Zeit, sondern als Raum und Zeit ausbreitet. Jedenfalls dehnt das in sich einfache „Licht durch unendliche Selbstvervielfachung, die es in jedem Teil gleichmäßig vollzieht, die Materie nach allen Richtungen gleichmäßig zur sphärischen Form aus. Aus dieser Ausdehnung folgt notwendig, dass die äußersten Teile der Materie mehr ausgedehnt und ausgedünnter sind, als die innersten, dem Zentrum nahen Teile. Und weil die äußersten Teile aufs höchste verdünnt sind, nehmen die inneren Teile immer größere Verdünnungen an.“40 Das Licht verdünnt und verlangsamt die Materieausdehnung, je weiter es sich vom Zentrum entfernt. Wenn die Formkraft erschöpft ist, weil die Materie nicht weiter ausgedünnt werden kann, hat das Licht am äußersten Rand des Kosmos den ersten und einfachsten Körper, die Fixsternsphäre, das firmamentum gebildet. Die neuplatonische Lichtemanation als Seinsemanation ist hier durch einen physikalischen Ausdehnungsvorgang, das aristotelische metaphysische Formprinzip durch ein physikalisches ersetzt. An der Fixsternsphäre, dem idealen, aus reiner Materie und reiner Form, also Licht, bestehenden Körper,41 kehrt sich die erschöpfte Licht-RaumMaterie-Ausdehnung um. Das Licht strömt von allen Richtungen her von außen nach innen wieder zurück ins Zentrum, und schafft auf diesem Weg, wie Grosseteste detailliert beschreibt, die sieben Planetensphären samt der Planeten sowie die Elementensphären Feuer, Luft, Wasser mit dem Erdkörper im Innern, zusammen, inklusiv Firmament und dem neunten, kristallinen Himmel, neun himmlische und vier elementische Sphären. Die Zerstreuung und Vervielfältigung des Lichtes im ersten Teilvorgang, welche den Raum erzeugt und die Materie vom Zentrum im ganzen Kosmos verteilt hatte, korrespondiert spiegelbildlich die Sammlung und Konzentration des Lichtes, das sich zu Sphären sammelt und den Stoff zu unterschiedlich stark leuchtenden Körpern und unterschiedlich dichten Elementen konzentriert. Dieses, am Firmament gespiegelte Licht ist das materielle Licht (lu————— 39 „Lux ergo, quae est prima forma in materia prima creata, seipsam per seipsam undique infinities multiplicans et in omnem partem aequaliter porrigens, materiam, quam relinquere non potuit, secum distrahens in tantam molem, quanta est mundi machina, in principio temporis extendebat“, De luce, 52, 17–21. 40 Ebd., 54,11–17. 41 „firmamentum, nihil habens in sui compositione nisi materiam primam et formam primam“, ebd., 54,22–24.

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men) im Unterschied zum reinen Licht (lux) des Ausgangs. Während das reine Licht die reine Form ist (forma prima), ist das materielle Licht der am wenigsten materielle Körper, das corpus spirituale, oder besser der spiritus corporalis42. In dieser Unterscheidung wird die platonische Differenz zwischen dem intelligiblen und dem sensiblen Bereich aufrechterhalten, aber auch überwunden. Denn der real existierende Kosmos ist ja zusammengesetzt aus dem Raum des reinen Lichtes, herrührend aus dem Ausdehnungsvorgang, und dem Raum des körperlichen Lichtes aus der Konzentrationsbewegung. Der intelligible Raum des reinen Lichtes und der sensible Raum des materiellen Lichtes sind ineinander gefügt wie forma und materia. Auch die Dualität des aristotelischen Kosmos ist schon ansatzweise überwunden, insofern der Kosmos als einer, als zusammenhängender und physikalisch einheitlich beschreibbarer aufgefasst wird. Das Licht als experimentell messbare und intelligible Grundgröße eint die irdische und die himmlische Physik. Gleichwohl ist die antike Dualität, die ontologische und kausale Priorität des himmlischen vor dem sublunaren Bereich gewahrt. Der unterschiedliche Abstand der Planeten von der Peripherie und voneinander bedingt eine zahlenförmig, nach pythagoräischen Proportionen geordnete Hierarchie sowie die Möglichkeit der kausalen Einwirkung von oben nach unten, da ja die Lichtstrahlen zugleich physikalische Kräfte darstellen. Einen Naturmonismus hat Grosseteste nicht vertreten. Das Licht ist in Graden und Dichten verteilt. Wäre das Licht in allen Dingen gleich verdichtet und alle Dinge unterschiedslos derselben Gattung „Licht“ angehörig, wäre dies, da das Licht ja auch die schöpferische Energie des Kosmos darstellt, von einem Pantheismus nicht zu unterscheiden. Das Licht ist der Vermittler der göttlichen Kraft, das sich in Seinsstufen differenziert, diese aber auch zum einen Raum der Schöpfung zusammenschließt. Wie das Licht im Verhältnis zum göttlichen Licht und zum unsichtbaren Schöpfer steht, hat Grosseteste nicht thematisiert,43 aber es ist offensichtlich, dass sein Versuch, von einer physikalisch beschreibbaren Größe her die Einheit und ontologische Differenzierung des Kosmos zu denken, nur unter der Voraussetzung des christlichen Schöpfungsgedankens, also der Einheit des Kosmos als Schöpfung im Gegenüber zum Schöpfer, überhaupt möglich war.

————— 42 Ebd., 55,2f. 43 In der Schrift „De unica forma omnium“ nennt er Gott mit Bezug auf Augustin die erste Form und Form aller Dinge (Deus est prima forma et forma omnium, 106,16f; 107,1f), zwar nicht als körperliche Form der materiellen Dinge, sondern als vollkommenes Urbild und Exemplar. Er bringt dies aber nicht in Beziehung zum Licht als körperlicher Form der materiellen Körper.

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Das göttliche Licht im Kosmos

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4.6 Das Licht als erste Substanz und Raum (Liber de intelligentiis) Die bei Grosseteste offen gebliebene Frage nach dem Verhältnis von Licht und Raum zu Gott und dem göttlichen Licht hat das Liber de intelligentiis44 beantwortet. Das Buch von den Intelligenzien, vermutlich um 1256 verfasst von Adam Pulchrae Mulieris und nicht wie früher angenommen von Witelo,45 entstammt wie auch die methodisch und inhaltlich verwandten Schriften Liber de causis, Liber XXIV philosophorum oder die Regulae theologicae des Alanus de Insulis, dem christlichen Neoplatonismus des 13. Jahrhunderts.46 Es behandelt im ersten, uns allein interessierenden Teil, Wesen, Wirkung und Erkenntnis der prima causa, im zweiten allgemein die geistigen Wesenheiten, die Intelligenzien. Es stellt eine Metaphysik und Erkenntnislehre platonisch-peripatetischer Provenienz dar und ist methodisch als eine Sammlung von Lehrsätzen, die z.T. der Metaphysik des Aristoteles entnommen sind, mit Erläuterungen in augustinisch-neuplatonischen Bildern konzipiert. Es wird eine Ordnung alles Seienden, ein ordo entium, angenommen, der in stufenweisem Abstieg von der ersten Ursache an deduziert wird. Diese prima causa verleiht allem Seienden Sein und Wirkungsfähigkeit, indem sie ein alle Stufen von oben nach unten durchziehenden Einfluss (influxus) ausübt. Der Einfluss geschieht, wie auch der Liber de causis an einer Stelle betont47, hier aber breiter ausgeführt wird, durch das göttliche, reine Licht, das den ganzen ordo entium durchzieht und dessen Mitteilung bewirkt, dass die höheren Substanzen ihren Einfluss auf die niederen überströmen lassen können. Das unkörperliche göttliche Licht als Träger der intelligiblen Welt ————— 44 Historisch-kritisch edierter Text mit ausführlicher traditionsgeschichtlicher und systematischer Interpretation bei Baeumker, Witelo, 1–126. 45 Vgl. die Selbstkorrektur von Baeumker, Zur Frage nach Abfassungszeit und Verfasser des irrtümlich Witelo zugeschriebenen Liber de intelligentiis. 46 Literatur zu diesem Umfeld s. im Kapitel Mathematische Mystik I.5.1. 47 Im Liber de causis wird der Einfluss, den nach dem Satz 1 eine primäre Ursache auf Zweitursachen ausübt, allerdings nur zu erkenntnispraktischen Zwecken durch Licht ausgeübt. Weil die Erstursache über jeder Benennung steht und das reine Licht ist, über dem es kein Licht mehr gibt, aber nur von der Zweitursache her benannt werden kann, kann die Benennung nur durch das Licht erfolgen, mit dem die Erstursache die Zweitursache erleuchtet, vgl. die Sätze 1, 57 und 58: „Jede vorrangige Ursache hat mehr Einfluss auf das von ihr Verursachte als eine umfassende Zweitursache/Omnis causa primaria plus est influens super causatum suum quam causa universalis secunda.“, „Die Erstursache ist höher als jede Benennung […], weil sie über jeder Ursache steht und nicht benannt werden kann außer durch die Zweitursachen, die vom Licht der Erstursache erleuchtet werden. Das ist so, weil die Erstursache nicht aufhört, das durch sie Verursachte zu erleuchten und sie selbst wird von keinem anderen Licht erleuchtet, weil sie selbst das reine Licht ist, über dem es kein Licht gibt/Causa prima superior est omni narratione […], quoniam ipsa est supra omnem causam et non narratur nisi per causas secundas quae illuminatur a lumine causae primae. Quod est quoniam causa prima non cessat illuminare causatum suum et ipsa non illuminatur a lumine alio, quoniam ipsa est lumen purum supra quod non est lumen.“

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und ihrer Kausation wird wie auch bei Robert v. Grosseteste und Witelos Perspectiva vom körperlichen Licht unterschieden, das analog zum Ordo der intelligiblen Welt, den sensiblen Kosmos strukturiert und von den kosmologisch höheren, den Himmelskörpern, ausgehend, sich zu den niederen, elementischen ergießt, diese formt, ordnet, belebt und vervollkommnet. Der ganze Ordo des Seins wird also initiiert von der ersten, göttlichen Ursache und vermittelt über die erste Substanz, das Licht. Der ganze Gedankengang wird folgendermaßen begründet und entfaltet. Dass es eine erste Ursache geben muss, wird apriorisch aus dem Begriff der Ursache begründet, also nicht a posteriori wie in Thomas’ fünf Wegen. Um verursachte Ursachen, also Ursachen, die selbst wieder verursacht sind (causa et causatum), annehmen zu können, muss notwendig eine erste Ursache existieren (Si est causam et causatum ponere, necesse est causam primam esse, prop. I, 1). Denn ohne erste Ursache gäbe es gar kein Verursachtes, also auch keine verursachte Ursache bzw. müsste man eine aktual unendliche Reihe von Ursachen annehmen, was in der endlichen Welt nicht vorkommen kann. Diese erste Ursache muss eine sein, was der Liber aus dem neuplatonischen Axiom begründet, dass alle Vielheit nur aus einer Einheit hervorgehen kann (Unitas est principium cuiuslibet multitudinis, omnisque multitudo ad unitatem reducitur, prop. II). Dieses Axiom, das auf Platon zurückgeführt wird48 und mit Plotin ontologisch (Sein und EinesSein sind identisch, also hat das Viele sein Sein vom Einen durch Teilhabe)49 oder in pythagoräisch-neuplatonischer Tradition zahlentheoretisch begründet wird (Vielheit geht aus Einheit hervor wie die Zahl aus der Eins)50 und sich bei allen neoplatonischen Naturphilosophen des Mittelalters findet (Johannes Eriugena, Thierry v. Chartres, Dominicus Gundisalvus, Nikolaus von Kues)51, bedeutet, dass umgekehrt niemals Einheit aus ————— 48 Vgl. Thomas v. Aquin, STh I, q.44, a.1: „Unde et Plato dixit quod necesse est ante omnem multitudinem ponere unitatem.“ 49 Plotin, Enneaden VI,9,1f, Schriften Ia, 170,1; 172,7: „Alles Seiende ist durch das Eine ein Seiendes (paßnta ta? oänta tv#q eÖniß eöstin oänta); Sein und Seiendes und Eines sind dasselbe (tauöto?n hÖ ouösißa kai? to? oän kai? to? eÄn).“ 50 Dionysius Areopagita, De divinis nominibus V,6, 820D; XIII,2, 977C–980A; Johannes Eriugena, De divisione naturae, III,1, Einteilung der Natur, Bd. 1, 248; III,11, ebd. 292f; Nikolaus von Kues, De docta ignorantia I,5, 21: „Die Einheit ist Prinzip jeder Zahl (unitas est principium omnis numeri“; I,7, 30: „Aller Vielheit geht die Einheit voraus (omnem pluralitatem praededit unitas)“; I,7, 26: „Die Andersheit ist wie die Zahl später als die Einheit (alteritas sicut numerus posterior est unitate)“. 51 Thierry von Chartres, Tractatus de sex dierum operibus, Nr. 30.34–36, zit. nach dem Auszug bei A. Fidora/A. Niederberger, Vom Einen zum Vielen, 2.6–9: „Jeder Andersheit geht die Einheit vorher (Omnem alteritatem unitas praecedit); […] aus der wahren Einheit, die Gott ist, wird alle Vielheit geschaffen (ex vera unitate quae deus est omnis pluralitas creatur); […] da aus der Zahl auch Gewicht, Maß, Ort, Gestalt, Zeit, Bewegung stammen […] ist es notwendig, dass die Einheit selbst, die die höchste Gottheit ist (ipsam unitatem quae est summa divinitatis), alles

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Vielheit, Vollkommenes aus Unvollkommenem hervorgehen kann (prop. III), wie schon Aristoteles feststellte,52 sondern es kann nur ein vollkommenes, erstes Prinzip aller Dinge geben (unum esse principium omnium primum et completum, prop. IV/2)53. Dieses erste Prinzip muss zugleich Substanz sein, da Substanz nach der wörtlich zitierten Definition des Aristoteles das Erste von allem Seienden der Definition, der Erkenntnis und der Zeit nach ist (prop. V)54. Die Erst- und Prinzipalursache von allem ist also Substanz, jedoch nicht in dem Sinne, wie Substanz das Subjekt von Akzidentien ist, sondern als erste Ursache und Einheit des Vielen, die rein in sich selbst Substanz ist und allen möglichen Akzidentien vorausliegt. Da auf das Licht genau dies zutrifft, dass es nicht aus seinen Eigenschaften, sondern seinem Wesen nach, also substantiell Licht ist – „Licht“ ist nicht mehr von einer anderen Gattung her definierbar, sein Wesen ist sui generis –, folgt der zentrale Lehrsatz VI: Die erste der Substanzen ist das Licht (prima substantiarum est lux), und die Natur des Lichtes ist, Anderes teilhaben zu lassen (naturam lucis participare alia, ebd.). Der Liber begründet jeweils im nachfolgenden Satz die Voraussetzung des voraufgehenden Satzes. Der Ordo des Seins und die kausale Kette des Seins kann begründet werden, wenn als erste Ursache und erste Substanz das Licht angenommen wird, denn durch Teilhabe am Licht hat alles Seiende Sein und Leben. Jede Substanz, die einen Einfluss auf eine andere ausübt, ist, wenn denn Licht die erste Substanz ist, entweder selbst wesenhaft Licht oder hat die Natur des Lichtes. Aufgrund dieses allverursachenden Einflusses wird das Licht als erste Ursache und Substanz konsequent mit Gott selbst identifiziert, unter Bezug auf die Autorität Augustins, der Gott im eigentlichen Sinn (proprie) Licht nannte, während andere Metaphern ihm nur übertragen (translative) ————— Genannte durch ihre hervorragende Natur überschreitet […] sie ist Einheit, d.h. Ewigkeit und unbegrenzte Fortdauer der Dinge, die Quelle und Ursprung von allen (unitas i.e. aeternitas et interminabilis rerum permanentia quae cunctorum est fons et origo) […] Da die Einheit jede Zahl schafft (unitas omnem numerum creat) […], die Schöpfung der Zahlen aber Schöpfung der Dinge ist (sed creatio numerorum rerum est creatio), ist die Einheit daher allmächtig in der Schöpfung der Dinge (unitas omnipotens est in rerum creatione). […] Es ist also notwendig, dass die Einheit die Gottheit ist (unitatem igitur deitatem esse necesse est).“ Gott als Einheit ist bei Thierry als Seinsgrund des Vielen allem überall ganz allschöpferisch und allwirksam gegenwärtig. Die Dinge empfangen ihre Einheit, durch die sie existieren und eines sind, von der Einheit des Schöpfers: Weil der Schöpfer einer ist, gab er jedem der Dinge, eines zu sein (quia creator vere unus est […] rebus dedit, ut unaquaeque habeat esse una), so Dominicus Gundisalvus in De unitate et uno, zit. bei Fidora/Niederberger, Vom Einen zum Vielen, 68, 25f. Die Einheit wird durch intelligente Formung der Materie bewerkstelligt, was bei Gundisalvus wie bei Grosseteste und dem Liber de intelligentiis durch das Licht geschieht: Das Licht ist die Form der Einheit, die der Materie eingeflößt wird (lumen formae unitatis, quod infusum est materiae, ebd. 74, 134f). 52 Vgl. Aristoteles, Metaphysik, XII,7, 1072b 30– 1073a 3, zit. im Liber de intelligentiis, 4. 53 Vgl. Metaphysik XII,8, 1073a 14–38. 54 Metaphysik VII,1, 1028a 32f, Liber de intelligentiis, 7.

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zukommen. In der Tat, unter Voraussetzung der Identität Gottes mit dem (intelligiblen) Licht ist alle mitgeteilte Wirkung der prima causa und alle Wirkung von Substanzen aufeinander Lichtinfluenz. Da das Licht nicht nur kausativ das vornehmste und am meisten göttliche unter den Phänomenen ist, sondern auch erkenntnistheoretisch, da es die invisibilia Dei zu erkennen gestattet (prop. VI, Erläuterung, 8,15), und ontisch, da seine Eigenschaften der Einfachheit, Reinheit und Selbstvervielfachung ohne Substanzverlust die Eigenschaften des göttlichen Einen abbilden, ist das Licht Träger aller ontischen und kausalen Ergießungen und Influenzen der prima causa. Mithin hat alles, soviel es am Licht teilhat, teil am Göttlichen. Die Teilhabe bedeutet keinen Pantheismus, da es sich wie bei Dionysius und Eriugena erstens um asymmetrische Teilgabe und zweitens nicht um substantielle Emanation, nicht um Ausstrahlung des göttlichen Wesens, sondern der göttlichen Kraft handelt. Die teilhabenden Substanzen sind nicht wesensidentisch mit der ersten Substanz. Nur das Licht selbst ist dem Wesen nach göttlich (lux est ens diuinum per essentiam), alle anderen haben durch Teilhabe am Licht göttliches Sein (participatio lucis est participatio esse diuini, prop. VIII/1, Erläuterung, 9,30f), erlangen jedoch nicht göttliches Wesen. Jedenfalls ist durch die Substanzontologie des Lichtes der Ordo des Seins ontologisch und kausativ begründet. Jede Substanz, die mehr Anteil am Licht hat als eine andere, ist in der Rangordnung der Dinge höher: Je mehr etwas vom Licht hat, desto mehr erhält es vom göttlichen Sein (unumquodque quantum habet de luce, tantum retinet esse diuini, prop. VIII/1); je mehr Lichtsubstanz etwas hat, desto edler ist es (unaquaeque substantia habens magis de luce quam alia dicitur nobilior ipsa, prop. VIII/2); das Licht ist das vollkommenste aller Dinge in der Ordnung des Universums (perfectio omnium eorum quae sunt in ordine uniuersi est lux, prop. VIII/3). Das Licht ist in allem Lebenden das erste Bewegungs- und Lebensprinzip (lux in omni uiuente est principium motus et uitae, prop. IX/1). Die Natur des Lichtes ist in allem durch Teilhabe. Es wirkt allerdings nicht unterschiedslos alles in allem. Das Licht ist nicht für den defectus einer Bewegung verantwortlich, der aus der Materie resultiert (prop. IX/2), sondern stellt nur das aktive, formgebende, gute Prinzip der Bewegung dar. Das Licht hat also wie bei Grosseteste Gestaltkraft und Potenz der Ordnung und Strukturierung der Dinge im Raum. Das Licht ordnet den kosmologischen Raum, womit nicht nur die Rangordnung der Planeten, Sphären und Elemente nach abnehmendem Lichtgehalt gemeint ist: Das Wasser hat mehr Lichtgehalt als die Erde, die Luft mehr als das Wasser, das Feuer noch mehr und das fünfte Element am meisten.55 Das Licht macht, dass der Kosmos ————— 55

Ebd, 10,9–13.

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einen Raum darstellt. Denn das Licht vermag dem äußersten Himmel einen Ort zuzuweisen und das bei Aristoteles offene Problem des Ortes der letzten Sphäre zu lösen. Ort wird in leichter Abweichung von Aristoteles als Grenze des unbewegten Umfassenden (locus est ultimum continentis immobilis, 10,32f) statt als unbewegte Grenze des Umfassenden definiert. Die äußerste, unbewegte Himmelssphäre ist daher Ort par excellence, da die beiden Funktion des Ortes, zu enthalten und zu erhalten (conseruare et continere, 11,21) auf den letzten Himmel zutreffen, wenn er seiner Natur nach Licht ist. Der letzte Himmel als Licht – gemeint ist nicht das coelum firmamentum sondern das coelum empyreum – enthält alles, da er den größten Umfang aller Körper hat, denn er besteht aus dem einfachsten, feinsten, sich am weitesten ausdehnenden Element: dem Lichtäther. Die zweite Funktion, das Erhalten des Enthaltenen ergibt sich ebenfalls aus der Lichtnatur. Denn das Licht vermag Seins- und Krafteinfluss (influentia) auszuüben und so zu erhalten. Die Folgerung der Lichtnatur des Himmels ist die kosmologische Konsequenz aus dieser Lichtmetaphysik: „Der Himmel ist Ort durch seine Lichtnatur, also – da ja der vom Himmel ausgehende Einfluß von dem unter ihm Befindlichen stufenweise partizipiert wird und eben dadurch die räumliche Weltordnung sich aufbaut –: das Licht ist der Raum.“56 Zwar hat der Liber die explizite Identität des Raumes mit dem göttlichen Sein oder gar dem göttlichen Wesens, wie sie Jamblichus gezogen hatte, gemieden, um den Verdacht des Pantheismus abzuweisen. Er hat nur Gott mit dem Licht und das Licht mit dem Raum identifiziert. Da er aber die Unterscheidung zwischen dem intelligiblen und dem körperlichen Licht, zwischen lux und lumen, faktisch einebnet, hat er über das Licht dem Raum die Eigenschaften zugesprochen, die Philo und Augustin Gott als Raum zuerkannt hatten: zu enthalten und zu erhalten, also alles zu umfassen, ohne umfasst zu werden, und alles zu durchdringen, ohne im Durchdrungenen aufzugehen. Der Raum als Licht ist hier also der Träger und Vermittler der göttlichen Erhaltung im Sein. Von hier ist es nicht mehr weit bis zu Campanellas und Newtons Auffassung, dass der Raum das Medium der erhaltenden Weltgegenwart Gottes ist, und zu Henry Mores und Joseph Raphsons Metaphysik des Raumes, welche den Raum mit den metaphysischen Eigenschaften Gottes identifizierten (I.8.). Jedenfalls hat der Liber de intelligentiis des Proklos’ und des Dionysius’ Ineinander von intelligiblem und sensiblem Raum und die Identifikation des Raumes mit dem Licht aufgenommen. Er hat dadurch die augustinische Vorstellung von der Allgegenwart Gottes als Licht und als raumloser Raum in sich zur Vorstellung der ————— 56

Baeumker, Witelo, 444.

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Allgegenwart Gottes als Licht im kosmischen Raum weitergeführt, ja mit der Identifikation von Licht und Raum die Allgegenwart Gottes in, mittels und als (Licht-)Raum behauptet. Der Raum als Licht vermittelt zwischen Gott und Schöpfung. Er ist das Medium der Allgegenwart Gottes. Der Raum ist in seiner Funktion zu erhalten und zu enthalten der Träger der göttlichen conservatio und der Vermittler der kausalen Influenz. Der Raum als Licht vermittelt Sein, Wirkung, Leben, Wahrheit von Gott an die Kreaturen. Als Repräsentant der göttlichen Immanenz in der Welt entbirgt es die Transzendenz Gottes. Anders als bei Dionysius Areopagita, der gesagt hatte, dass das wahre Licht selbst denen verborgen bleibt, die es in sich besitzen,57 lässt das Buch von den Intelligenzien Gottes unsichtbares Wesen durch das Licht aus dem Geschaffenen erkennen. Das Licht, das allgemein das erste Prinzip der Erkenntnis ist (Proprium et primum principium congnitionis est lux, prop. X), lässt, je reiner es ist, je reinere und wahrere Gegenstände erkennen, bis hinauf zum göttlichen Wesen selbst.58 Das Licht ist hier das Realsymbol der göttlichen Immanenz und der göttlichen Transzendenz. Das Licht, das göttliche Seiende (ens divinum), vermittelt ontisch die göttliche Kraft und entbirgt epistemologisch das göttliche Wesen.

————— 57 Dionysius Areopagita, I. Brief, 1065A, in: Theologie, 175 = Namen, 101. 58 Zur Erkenntnistheorie des Liber de intelligentiis und zum Zusammenhang zu der platonisch-augustinischen Illuminationstheorie vgl. Baeumker, Witelo, 459–503. Der Grundgedanke ist, dass das Licht die erkennende Kraft selbst ist (virtus cognostitiva, prop. X), also nicht nur den intellectus illuminiert, wie bei Augustin das göttliche Licht der Ideen in den Geist einstrahlt und zur Wahrheit führt, sondern selbst das aktive Erkenntnissubjekt ist. Das Licht ist die aktive Kraft (virtus activa) des intellectus agens und die Abbildekraft (virtus exemplaris), die die Bilder der Dinge (species) nach den idealen Mustern (exemplar) im Verstand erscheinen lässt (prop. XI). Das Licht ist also das aktiv-spontane und das rezeptiv-abbildende Erkenntnisvermögen, die platonische und die aristotelische Erkenntnistheorie sind hier zusammengeführt.

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Kapitel 5: Gott als unendliche Sphäre

5.1 Das Buch der vierundzwanzig Philosophen Eine besonders originelle und wirkungsmächtige Formel für die räumliche, aber doch im Raum nicht aufgehende Allgegenwart Gottes findet sich im Buch der vierundzwanzig Philosophen.1 Die zweite von vierundzwanzig Propositionen bestimmt Gott als die unendliche Kugel, deren Zentrum überall und deren Peripherie nirgends ist: „Deus est sphaera infinita, cuius centrum est ubique, circumferentia nusquam.“ D. Mahnke hat die Herkunfts- und Wirkungsgeschichte dieser Grundformel der mathematischen Mystik in seiner noch immer lesenswerten Monographie „Unendliche Sphäre und Allmittelpunkt. Beiträge zur Genealogie der mathematischen Mystik, 1937“ detailliert beschrieben. Bevor wir den Satz interpretieren (5.2–4) und auf seine mittelalterliche Rezeption, insbesondere bei Meister Eckart (5.5), Alanus de Insulis (5.6) und Nikolaus von Kues (6.1–3) eingehen, einige Bemerkungen zu Text und Überlieferung. Der Text besteht aus 24 kurzen Definitionssätzen „Deus est […]“ mit jeweils 5–10-zeiligen Erläuterungen, die alle das Wesen Gottes in neuplatonischen Bildern und Sprachfiguren ausdrücken. Da Meister Eckhart ein „Buch der vierzundzwanzig Meister“ bzw. „librum viginti quattuor philosophorum“ kennt und mehrfach Sätze eines „philosophus unus ex XXIV“ zitiert, wurde die Schrift der Zeit Eckarts zugerechnet, bis C. Baeumker und M. Baumgartner drei Handschriften aus der Mitte des 13. Jahrhunderts entdeckten (Codices in Laon = L, in Paris = P und im Vatican = V). Insbesondere der zweite und/oder der erste Satz sind bei Bartholomäus Anglicus (um 1230), Alexander von Hales, Bonaventura, Albertus Magnus, Thomas von Aquin zitiert, allerdings in der nicht unerheblichen Abweichung der Regulae de sacra theologia des Alain von Lille (um 1190), der Gott die spaera intelligibilis nennt, während erst bei Eckart, Thomas Bradwardine († 1349), Heinrich Seuse und Nikolaus von Kues die ursprüngliche Formel ————— 1 Der lat. Text findet sich hist.-krit. ediert bei C. Baeumker, Das pseudo-hermetische Buch der vierundzwanzig Meister, 207–214; mit frz. Übersetzung bei F. Hudry, Le livre des XXIV Philosophes; eine lat.-dt. Auswahl mit sehr gutem Kommentar bei Fidora/Niederberger, Vom Einen zum Vielen, 80–89; eine dt. Übersetzung der Leitsätze durch K. Flasch auch in F. Ebeling, Das Geheimnis des Hermes Trismegistos, 81; zu den versch. Ausgaben vgl. das Folgende.

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des Buches der Vierundzwanzig von der sphaera infinita begegnet. Alain von Lille selbst nennt als Quelle einen „philosophos“2, alle von Alains Textgestalt abhängigen o.g. Autoren des 13. Jahrhunderts zitieren den Satz mit „dicit Trismegistus“, und auch das Liber selbst führt sich auf Hermes Trismegistos, den Philosophen, zurück, so dass die Schrift vor Alanus’ Regulae auf die zweite Hälfte des 12. Jahrhunderts in hermetisch-neuplatonischem Umfeld zu datieren ist.3 Der Verfasser ist sicher nicht der pseudonyme Verfasser des Corpus Hermeticum des 2./3. Jahrhunderts, sondern nimmt die neben dem (ebenfalls pseudonymen) Dionysios Areopagita wichtigste Autorität des neuplatonisch-hermetischen Denkens in Anspruch. Die Textgestalt von Propositionen mit Erläuterungen ist auch aus anderen Schriften aus dem 12. Jahrhundert desselben Umfeldes wie den Regulae des Alanus, dem Liber de causis oder dem Liber de intelligentiis bekannt. Der Text nennt als Ursprungssituation eine Versammlung von 24 Philosophen, die in 24 Definitionssätzen (propositiones sub definitione) allgemein zustimmungsfähige Antworten (communi assensu) auf die Frage „Quid est Deus?“ gaben (nur V, nicht L und P). Die enigmatischen Sätze4 und die oft unklaren bis kaum verständlichen Erläuterungen sind Ausdruck einer spekulativen Metaphysik, welche neuplatonisch-hermetische Bilder den aristotelisch-scholastischen Argumenten vorzieht. Selbst wenn Gott das unbewegt Bewegende (Deus est semper movens immobilis, prop. XIX) genannt wird, wird dies nicht nach dem XII. Buch der Metaphysik des Aristoteles oder dem ersten Weg des Thomas per kosmologischem Schluss von der Bewegung auf den ersten Beweger begründet, sondern aus der Unruhe des göttlichen Lebens in sich (semper movens est, quia vivens in se, ebd.). Auch in den anderen Bildern, wenn Gott als Urmonade, die sich in triadischem Prozess entfaltet (prop. I, IV), als Über-Sein und überquellende Gutheit, aus dem alles Sein und Gute ausfließt (prop. X, XI), als höchste, unerkennbare, nur durch Teilhabe (oder besser Teilgabe5) zugängliche Einheit und Intelligenz (prop. IV, V, XVI, XXIII, XXIV), als emanierendes, die Kreaturen ohne Teilung aus sich heraussetzendes und bewegendes Leben schlechthin (prop. XIX, XII, XXII), als Urlicht, das im Dunkel des ————— 2 Alanus de Insulis, Contra haereticos libri quatuor, MPL 210, 405D. 3 Zum neoplatonischen Umfeld des 12. Jahrhunderts vgl. C. Baeumker, Der Platonismus im Mittelalter; M.-D. Chenu, Die Platonismen des zwölften Jahrhunderts, beide im Sammelband von W. Beierwaltes, Platonismus in der Philosophie des Mittelalters; R. Klibansky, The Continuity of the Platonic Tradition during the Middle Ages; J. Koch, Platonismus im Mittelalter; G.v. Bredow, Platonismus im Mittelalter. 4 Eine weitere Handschrift aus Erfurt, die aber nur die Sätze, nicht die Erläuterungen enthält, nennt sich Definitiones Enigmaticae (Rätselhafte Definitionen). 5 Der platonische Teilhabegedanke wurde im christlichen Platonismus erheblich modifiziert und durch die emanative, ausfließend-austeilende Teilgabe ersetzt, v.a. bei Dionysius Areopagita (s.o. I.4.3) und Johannes Eriugena, vgl. Bredow, Platonismus im Mittelalter, 42–48.

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Seelengrundes aufleuchtet (prop. XXI), ist die neuplatonische Metaphysik des Einen virulent, wenn auch durch die negative Theologie grundiert und hermetisch akzentuiert: Gott wird das mit Worten Unbezeichenbare oder das Überseiende (superens) genannt wird (prop. XVI, XI), von dem man eher das kennt, was er ist, als das, was er nicht ist (Deus est, qui verius cognoscitur quid non est, quam quid est, prop. XXIII) bzw. der nur durch Unwissenheit erkannt wird (Deus est, qui sola ignorantia mente cognoscitur, prop. XXIV). Die Selbstgenügsamkeit und Selbstgegenwärtigkeit, die intellektuale Transzendenz, die Einheit und das Leben in sich selbst sind stärker betont als die Emanation des Seienden aus dem Überseienden. Auch atmet die Vorliebe für reduzierte, oft kryptische, zusammenhanglose Formeln und für mathematische Figuren zur Darstellung der Vermittlung des Einen an das Viele hermetischen Geist. Das Buch steht jedenfalls in der Tradition des mit hermetischen Elementen versetzten Neuplatonismus eines Jamblichus und der apophatischen Theologie eines Dionysius Areopagita. Ob der Text ein Kompendium des christlichen Neuplatonismus des 12. Jahrhunderts ist, wie C. Baeumker meinte, der aus den drei Handschriften einen historisch-kritischen Text hergestellt hat, oder dezidiert nichtchristlichem neuplatonisch-hermetischem Umfeld entstammt, wie F. Hudry meint, die den Text allein nach der teils verderbten ältesten Handschrift L neu herausgab, dazu in seltsamer Schreibweise, so dass wir weiterhin den besseren Text von Baeumker zugrundelegen, kann für uns dahingestellt bleiben. Die zahlreichen sprachlichen und inhaltlichen Parallelen zu den nichtchristlichen Plotinikern Porphyrius und Marius Victorinus, die F. Hudry beibringt, ändern nichts daran, dass die triadische Zahlenspekulation besonders des ersten Satzes von der Monade, die sich als Monade selbst erzeugt und den Glanz auf sich zurückwendet (Deus est monas, monadem gignens, in se suum reflectens ardorem), zwar im neuplatonischen Hypostasensystem deutbar war, aber wohl von Anfang an auch trinitätstheologisch interpretierbar wurde, wie die Lesarten des vierten Satzes zeigen. Den älteren Text von L, dass Gott der Geist ist, der die Vernunft (ratio) erzeugt, sich durchs Zeugen als Erzeuger zählt und dadurch bewahrheitet (verificat) und fortsetzt (perseverans), ändern die späteren Handschriften zu Gott als Geist, der die Rede (oratio statt ratio im Sinne von verbum) erzeugt, sich durchs Zeugen zum Wort macht (verbificat statt verificat) und sich zum Fortgang als Hauch (spirando statt perseverans) verhält. Die plotinische intellektive Selbstreduplikation des Einen durch sein Sich-selbst-Denken wird trinitarisch, als Ausgang des Sohnes aus dem Vater und seiner Rückbindung durch den Geist, interpretiert. Der erste Lehrsatz, der die Differenzierung der Einheit Gottes in die reflexive Dreiheit darlegt, bildet mit dem zweiten, der die Einheit Gottes in seiner Entfaltung in der Welt betont, das Gerüst des Buches.

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5.2 Die Figur der unendlichen Sphäre Der zweite Satz, dessen Interpretation im Kontext des Liber XXIV philosophorum wir uns nun zuwenden, versucht mittels einer anschaulichen, räumlich-geometrischen Figur die Transzendenz Gottes mit seiner Immanenz in der Welt zusammenzudenken, ja in paradoxer Weise zusammenfallen zu lassen. „Deus est sphaera infinita, cuius centrum est ubique, circumferentia [vero, L] nusquam.“ Im Duktus des Satzes entsteht als Bild für die Präsenz Gottes vor dem geistigen Auge die Figur einer räumlichen Kugel, die, mit dem Adjektiv infinita versehen, größer und größer wird und von der größten vorstellbaren Kugel in den intelligiblen Begriff der unendlichen Kugel übergeht. Bei diesem Wachsen über alle Grenzen geschieht ein zweifacher Sprung: Die Krümmung der Peripherie wird immer flacher und springt in eine (unendliche) Gerade über. Diese Gerade hat keinen definiten Ort mehr, sie ist tatsächlich nirgends (vero nusquam), jedenfalls im aristotelischen Sinn, da sie endlos geworden ist und kein Umfang mehr existiert. Zugleich ist das Zentrum mit dem Sprung des unermesslich gewordenen Umfangs in die Gerade ubiquitär geworden, da die Gerade den Umfang für alle beliebigen Zentrums-Punkte darstellt. Die Bewegung des sich ausdehnenden Kugelkörpers versinnbildlicht die in Raum und Zeit sich entfaltende Immanenz Gottes, der Sprung in die unendliche Kugel die Transzendenz Gottes. Die unendliche Kugel, deren Mittelpunkt überall und deren Peripherie nirgends ist, hebt die Vorstellung des räumlichen Körpers auf. Die unendliche Kugel steht mit der Ubiquität des Zentrums für die totale Immanenz, aber mit der Ortlosigkeit des Mittelpunkts und der Endlosigkeit der Peripherie auch für die totale Transzendenz. Die Räumlichkeit Gottes ist nicht mehr sinnlich, nach Analogie eines Raumkörpers oder als raumzeitliche Bewegung im Raum zu fassen, sondern nur noch als idealer geometrischer Begriff. Damit wird die Transzendenz Gottes gewahrt, er geht nicht in der ubiquitären Immanenz auf, er ist kein Körper nach Art der endlichen Körper, zugleich steht aber die Transzendenz nicht im Gegensatz zur Immanenz, sondern erschließt sich durch Entgrenzung aus der raumzeitlichen Allgegenwart. Die große Leistung dieser Grundfigur der mathematischen Mystik besteht darin, „die Transzendenz als Grenze des theoretischen Vollzuges […] ‚erfahrbar‘ zu machen“6, nicht im gewöhlichen Sinn der direkten Sinneserfahrung, aber in einer ideal-sinnlichen Erfahrung, die mit dem höchsten denkbaren, idealen Begriff in eins fällt. Die Transzendenz wird von der Immanenz her denk- und erfahrbar, da die Grenze zur Transzendenz aufgehoben wird durch Aufhebung der Grenze zwischen sinnlicher Erfahrung ————— 6

H. Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit, 567.

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und begrifflichem Denken. Die Transzendenz Gottes ist, da sie von der Immanenz aus via eminentiae begriffen wird, nicht schlechthinnige Superiorität oder Negativität, sondern auf die Immanenz bezogen. Wie Gott aufgrund seiner Immanenz in Raum und Zeit an jedem Ort und zu jeder Zeit präsent ist und in der Raumzeit wirken kann, so kann er aufgrund seiner Transzendenz zu jeder beliebigen Zeit und an jedem beliebigen Ort unmittelbar wirken, da die ortlose Peripherie nicht nur einem einzigen, sondern allen möglichen Zentren zugehört. Die Transzendenz in Gestalt des unendlichen Allumfangs ist die transzendentale Voraussetzung, der Ermöglichungsgrund der Immanenz, die Immanenz in Gestalt des ubiquitären Allmittelpunkts die Realisierung und der Erkenntnisgrund der Transzendenz. Die unendliche Kugel mit der zweifachen Unendlichkeit des nirgends lozierten und unbegrenzten Umfangs und des überall lozierten Zentrums ist das, die räumlich-geometrische, anschauliche Vorstellung und den intelligiblen Begriff verbindende, Symbol der unfasslichen Allpräsenz des Gottes, der überall und nirgends ist und dessen Ubiquität mit seiner Nichtlokalität in paradoxer Weise zusammenfällt. Die Immanenz Gottes ist transzendent und seine Transzendenz immanent in der Welt.

5.3 Die dynamische Ubiquität der ausstrahlenden Einheit Einerseits hat die Ausdehung (der Wirkkraft) Gottes keine Grenze bzw. überschreitet alle Grenzen (terminus suae extensionis est supra, ubi et extra terminans), andererseits ist ihr Zentrum überall (ubique est centrum eius), wie die Erläuterung zum zweiten Satz präzisiert7. Einerseits besteht Gott über und außerhalb von allem, er ist laut prop. XI das Überseiende (superens), andererseits überall in allem als die Kraft, die alles unmittelbar hervorbringen, erhalten und lenken kann, er ist, wieder laut prop. XI, das Notwendige, das von unendlicher Möglichkeit ist (necesse […], sed infinita possibilitate est). Gott ist der, dessen Können nicht zählbar, dessen Sein nicht abschließbar, dessen Gutheit nicht begrenzbar ist (Deus est cuius posse non numeratur, cuius esse non clauditur, cuius bonitas non termina————— 7 „Haec definitio data est per modum imaginandi ut continuum ipsam primam causam in vita sua. Terminus quidem suae extensionis est supra ubi et extra terminans. Propter hoc ubique est centrum eius, nullam habens dimensionem. Anima enim, cum quaerit circumferentiam sphaericitatis, elevata in infinitum dicet, quia quicquid est sine dimensione, sicut creans fuit, et sine initio est. Et sic eius terminus nusquam./Diese Definition wird gemäß der Vorstellung gegeben, dass die erste Ursache selbst ein Kontinuum in ihrem Leben hat. Die Begrenzung ihrer Ausdehnung ist oberhalb dem Wo und außerhalb dem Begrenzenden. Daher ist ihr Zentrum überall, sie hat keine Ausdehnung. Wenn die Seele nämlich den Rand ihrer Sphärizität sucht, wird sie sagen, er sei ins Unendliche erhoben, weil was immer ohne Ausdehnung ist, ist auch ohne Anfang, wie der Schaffende war. Seine Grenze ist daher nirgends.“

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tur, prop. X). Die Unbegrenzbarkeit der Immanenz Gottes ist also eo ipso seine Transzendenz. Der Zusammenhang zwischen Transzendenz und Immanenz, der im Lehrsatz II im paradoxen Zusammenfall der beiden gegensätzlichen Unendlichkeiten ausgedrückt ist, wird in der Erläuterung über die dynamische Influenz der allwirkenden prima causa ausgedrückt. Der influxus der Wirkkraft Gottes in das kreatürliche Seiende geschieht aber anders als im neuplatonischen Liber de causis nicht durch emanativen, physischen Ausfluss der Erst- in die Zweitursachen8, sondern durch die Selbstentfaltung des göttlichen Lebens in sich selbst. Die Entfaltung ereignet sich, wie im 1., 4. und 7. Lehrsatz formuliert, durch den triadischen Prozess des In-sich-seins, des Aus-sich-heraus-seins und des In-sich-zurück-seins. Gott ist die selbstgenügsame Monade, die für sich allein schon überfließend ist (solus sibi abundanter, sufficienter, prop. XI), die Einheit, die sich in sich vervielfältigt als Zweiheit und wieder auf sich zurückwendet als Dreiheit, bei diesem Übersein aber nicht entzweit wird, sondern aus Überfluss von sich in sich zurückkehrt (nec distrahitur suum superesse quin redeat a se in se […], sed exuberanter, ebd.). Das Sein Gottes ist lebendige Identität, er hat nicht die Abgeschlossenheit des endlichen, identischen Seienden, seine Abgeschlossenheit ist, wie der Liber paradox formuliert, unendlich (sua clausio infinita est, prop. X) und er hat nicht nur der Möglichkeit nach, sondern aus Notwendigkeit unendliche, aktuale Tätigkeiten vom Zentrum bis zum Rand alles Seienden (opera infinita a centro ad extimum […] quia necesse existens, ebd.). Er ist Anfang, Mitte und Ziel in allem kreatürlichen Wirken, und zwar so, dass er der Anfang ohne Anfang, der Hervorgang ohne Veränderung, das Ziel ohne Ziel (Deus est principium sine principio, processus sine variatione, finis sine finis, prop. VII) und also allen Raum- und Zeitpunkten und allem raumzeitlichen Wirken instantan gegenwärtig ist: Gott ist der, der allein allem und zu jeder Zeit gegenwärtig ist (prop. IX) und der ganz in jeder Hervorbringung von ihm ist (Deus est totus in quolibet sui, prop. III), so dass er zugleich überall ganz das Seiende ist (simul ubique tota ens, ebd.) – und wiederum zugleich, um jeden Verdacht des Pantheismus zu zerstreuen, auch über und außerhalb (etiam similiter super et extra, ebd.) von allem bleibt. ————— 8 Mit dem Wort „influere“ bzw. „influxio“ des ersten Lehrsatzes des Liber de causis, dass jede vorrangige Ursache mehr Einfluss auf das von ihr Verursachte hat als eine umfassende Zweitursache (Omnis causa primaria plus est influens super causatum suum quam causa universalis secunda), ist das „Einfließen der Erstursache im Sinne einer die Dinge konstituierenden unmittelbaren Seinsverleihung“ gemeint (R. Schönberger/A. Schönfeld (Hg.), Liber de causis, 66). Der Grund dieses Einfließens ist nicht wie im christlichen Schöpfungsgedanken der freie Akt des Deus creator, sondern „die nicht vom Willen bestimmte Gutheit, die das Sein selbst und das Wesen der ersten Ursache ist“ (W. Beierwaltes, Der Kommentar zum ‚Liber des causis‘, 194).

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5.4 Die Verschränkung von immanenter und ökonomischer Trinität Das Verhältnis des göttlichen zum weltlichen Sein entspricht dem Verhältnis von Gottes Transzendenz zu seiner Immanenz im raumzeitlichen Weltgeschehen. Gott ist die Sphäre, wie es etwas unklar in prop. XIV heißt, in deren Zentrum das Nichts eingeschlossen ist (Deus esse sphaeram in cuius centro nihil incarceratur), von wo aus er durch die Fülle seiner Gutheit das Ding (= das weltlich-kreatürliche Seiende) ins Sein rief, das gleichsam um [ihn als] den Mittelpunkt herum ist (vocavit in esse rem quae est quasi circa centrum, ebd.). Auch wenn das Kugelbild hier inkonsistent gebraucht ist – einmal ist das Nichts als ein dunkler Kern in der göttlichen Sphäre eingeschlossen, einmal umgibt es Gott als das Zentrum des Seins und des Nichts –, so ist doch deutlich, dass das Bild von Gott als dem ubiquitären Allmittelpunkt und der allumfassenden Sphäre ontologisch, nicht nur räumlich, gemeint ist. Gott ist das allenthalbene und allenthaltende Seinszentrum. Das Sein geht aus dem göttlichen Leben, seiner Fülle und Gutheit als dem Zentrum aller Dinge unmittelbar hervor. Anders als im scholastischen Denken der Abstufung von Erst- und Zweitursachen oder der neuplatonischen Emanation über Zwischengrößen ist hier die Allgegenwart unmittelbar, unvermittelt und total. Der Gott, der nach prop. II überall und nirgends ist, ist, wie bei Augustin und Gregor dem Großen, überall zugleich und überall ganz (simul ubique tota, prop. III). Das Bild Gottes als ubiquitärem und totalem Kugelzentrum hat bereits Dionysius Areopagita gebraucht und die unmittelbar Wirksamkeit Gottes in allen Dingen so ausgedrückt, dass Gott wie der Mittelpunkt eines Kreises gänzlich jedem ausgehenden Radius angehört und sich ihm mitteilt, dabei aber das ungeteilte eine Zentrum bleibt. „Denn das ist gemeinsam, geeint und eines in der ganzen Gottheit, dass sie als Ganzes gänzlich jedem sich mitteilt, das an ihr teilhat, und doch keiner ihrer Teile keinem von ihnen mitgeteilt wird, wie ein Punkt, der in der Mitte des Kreises liegt, (jeder und keiner) der in dem Kreise vom Mittelpunkt ausgehenden Geraden (angehört).“9 Der allgegenwärtige und alles unmittelbar wirkende Gott ist überall total. Wie bei Dionysius Areopagita ist im Liber XXIV philosophorum die Allgegenwart eine Allwirksamkeit, die eine dauerhaft-kontinuierliche creatio ex nihilo darstellt. Anders als in der neuplatonischen Emanation, die keine strenge Alternative von Nicht-Sein und Sein kennt, so dass Seiendes „die notwendige Folge des notwendig sich vollziehenden Verursachens der ————— 9 Dionysius Areopagita, De divinis nominibus, c.II,5, 644A, Übersetzung nach: Von den Namen zum Unnennbaren, 47.

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ersten Ursache“10 ist – so im influxus-Gedanken des Liber de causis –, resultiert sie aus Gottes Willen, Weisheit und Macht (Deus est, cuius voluntas deificae potentiae et sapientiae adaequatur, prop. XII). Das Sein des Seienden resultiert unmittelbar aus Gott selbst, aber nicht notwendig aus seiner Gutheit, sondern willentlich, so dass Gott der Kreator, der explizit handelnde Vermittler des Seins an das Nichts ist. Es besteht ein Gegensatz zwischen Gott und dem Nichts, wie der Satz XIV missverständlich formuliert, doch nicht als kosmologischem Dualismus, sondern so, dass Gott in sich selbst das Seiende aus dem in die Mitte der göttlichen Sphäre eingeschlossene Nichts hervorruft. Gott ist nur der relative Gegensatz zum Nichts, nämlich durch Vermittlung des Seienden (Deus est oppositio nihil mediatione entis). Die Ontologie und Schöpfungslehre des Liber ist also strikt antidualistisch, wenngleich nicht pantheistisch-monistisch, sondern höchsten panentheistisch. Das Nichts hat keine selbstständige ontologische Qualität, sondern ist in Gott inkludiert. Es gibt keine primäre Materie oder andere Anknüpfungsmöglichkeiten, die Gott wie der platonische Demiurg formen würde. Die Schöpfung ist strikt creatio ex nihilo, was hier ganz bildlich Schöpfung aus Gott selbst heißt. Wie das nihil in Gott eingeschlossen ist, wird nicht erörtert. Auf eine kabbalistisch-hermetische Theorie hierfür, etwa im Sinne des mystischen, dunklen, in Gott als Grund eingeschlossenen Ungrundes (Johannes Tauler, Jakob Böhme, auch Dionysius Areopagita), hat der Liber verzichtet. Der Gottesbegriff ist streng henadisch, der Schöpfungsvorgang aber triadisch gefasst. Was aus Gott hervorgeht, geht weder durch Teilung, noch durch Veränderung, noch durch Vermischung (prop. XII), sondern durch reflexiven Selbstbezug aus ihm hervor. Die Vermittlung des göttlichen Einen an das kreatürliche Viele – das Grundthema der neuplatonischen Metaphysik des Einen – geschieht durch die Bewegung des göttlichen Lebens in sich selbst. „Gott ist das Leben, dessen Weg zur Form die Wahrheit ist, zur Einheit die Gutheit. Die Bewegung geht von der Mitte aus und zur Mitte zurück: die erste gibt Sein, die zweite gibt Leben. In Gott ist die erste Bewegung der Weg des Zeugers zum Erzeugten mit dem Sein; die zweite, das ist der umgekehrte Weg, ist die Gutheit (prop. XV).“ Wie die Präsenz Gottes in der Welt ist hier auch seine Entfaltung in der Welt im Bild der Kugel ausgedrückt. Der Schöpfungsvorgang, also die Vermittlung von göttlichem Leben in die Welt, ist eine zweifach gerichtete Bewegung. Der erste Schritt geht aus Gott als dem Zentrum aller Dinge und aus seiner Mitte aus (motus a medio), der zweite kehrt zu ihm zurück (motus ad medium). Der Ausgang stiftet Sein (dat esse) und damit Wahrheit ————— 10

Beierwaltes, Der Kommentar zum ‚Liber de causis‘, 193.

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(veritas), weil im Weg des Zeugers zum Erzeugten geformtes, daher wahres, Sein entsteht – christlich ist wie beim schon zitierten Satz IV konkret an die ewige generatio des Sohnes aus dem Vater sowie die incarnatio des Sohnes zu denken, immanente und ökonomische Trinität sind nicht scharf getrennt, sondern ineinander verschränkt, so dass das Kugelbild gleichzeitig die innertrinitarische und die ökonomische Bewegung darstellt. Die Rückkehr stiftet Leben und damit Gutheit, weil das Viele mit dem Einen rückverbunden wird zur Einheit des Seins, das als aus Gott stammendes Sein gut ist – christlich ist an den Heiligen Geist zu denken, der den gezeugten Sohn mit dem zeugenden Vater verbindet sowie das kreatürliche Sein belebt (dat vivere, prop. XV). Die ontologische Bedingung dafür, die immanente und die ökonomische Trinität derart verschränken zu können und dennoch die Ausstrahlung von göttlichem Leben und Gutheit in die Welt nicht als notwendige Emanation denken zu müssen, sondern den Schöpfungsgedanken festhalten zu können, also die Ausstrahlung als Akt des Willens und der Macht Gottes zu begreifen, ist die Werteinheit und die Seinseinheit der Welt sowie von Welt und Gott. Die Welt ist, da sie von Gott und aus Gott geschaffen ist, gut, gewollt und bejaht, so wie sie ist. Es besteht kein manichäisch-gnostischer Dualismus zwischen dem wertvollen Intelligiblen und dem minderwertigen Materiellen, aber auch kein neuplatonischer Abstieg vom Intelligiblen-Lichten in das lichtschwache, dunklere Materielle. Es besteht keine ontologische Abstufung vom göttlichen über das intelligible und materielle Sein bis zum Nichtseienden, die Welt partizipiert nicht nur am höheren, göttlichen Sein, sondern Gott und Sein sind identisch. Der Seinsbegriff gilt für Gott und die Welt, übersteigt ihren Gegensatz. Das Sein, das Gott in der Schöpfung den Dingen gibt, ist kein anderes Sein, als das, das er selber ist.

5.5 Verdichtung zur trinitarischen Seinspräsenz (Eckart, Seuse) Meister Eckart hat diese Identität von göttlichem und weltlichem Sein aufgrund des univoken Seinsbegriffs von Duns Scotus im Gegensatz zu Thomas’ partizipatorischem Ordo des Seins klar formuliert: „Esse est Deus.“11 ————— 11 Die Formel verwendet Meister Eckart einerseits zur Auslegung des Namens Gottes in Ex 3,14 (Ego sum qui sum): „Sein“ (esse) sei eigentlicher Name und Wesen Gottes, daher ist Gott sein eigenes Sein. „Esse est proprium nomen solius dei“ (Lateinische Werke = LW II, 147,5, vgl. 263,3); „Deus est ipsum esse et essentia ipsius est ipsum esse“ (ebd., 140,6); außerdem in der schöpfungstheologischen Grundlegung der Ontologie. Gott ist das Sein überhaupt und von allem, was ist, da er als Schöpfer Ursprung und Ziel aller Dinge ist, so im prologus generalis in opus tripartitum: „Ipse enim est esse“ (ebd., 147,5; 263,3); „Deus autem, utpote esse, et initium est et ‚principium et finis‘“ (ebd., 163,10). Mit der Schöpfertätigkeit Gottes wird auch die äquivalente

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Da Gott schlechthin Einer ist, schafft er alles, was er schafft, in sich selbst, es ist sein eigenes Sein, das sich als Sein in den Dingen ausbreitet.12 Dass es sich bei Eckart wie beim Liber nicht um platten Pantheismus, sondern um die äußerste Verdichtung der Allpräsenz Gottes zur Seinspräsenz handelt, versteht sich nach dem Gesagten von selbst. Die Schöpfung als Ausbreitung des göttlichen Seins in alle Dinge hat M. Eckart wie der Liber XXIV philosophorum im auf Plotin und Dionysius Areopagita zurückgehenden Bild der sich ausbreitenden Kreiswellen ausgedrückt, allerdings in strikt christlich-trinitarischer Lesart. Vom Punkt eines ins Wasser geworfenen Steines entspringen immer weitere Kreise, ein erster, zweiter, dritter. Nach diesem Gleichnis kommt zuerst „der Vater in den Sohn, mit allem, was er ist und hat und vermag“, sodann aber auch die ganze Fülle des göttlichen Seins in alle Dinge der Welt. „Die Meister sagen, dass von seinen abfallenden Spänen, d.i. von seiner kleinsten Kraft, mit der er den Himmel berührt, alle Dinge in der Welt leben und wachsen […] und sich wieder rings um sich herum ausbreiten gleich einem Zirkel und alle, soviel als möglich, dem ersten Ausbruche […] ähnlich werden. Der erste Kreis ist so kräftig, dass, wenn auch noch tausend und mehr Welten wären, eher ihre Aufnahmefähigkeit als des ersten Ausbruchs Wirkenskraft sich erschöpfte.“13 Wenn Gott sich unerschöpflich von jedem Punkt der Welt aus wie ein dauerpulsierender Wellenkreis entfalten kann, ist er gemäß dem von Eckart neben dem zweiten und dritten zitierten 18. Satz des Liber ein Kreis, der so viele Umfänge hat, wie Punkte sind (Deus est sphaera, cuius tot sunt circumferentiae, quot sunt puncta, prop. XVIII). Eckart sagt sogar, den 18. mit dem zweiten Satz verschränkend: ein unendlicher geistiger Kreis, der so viele Umfänge hat, wie Punkte sind. „Hoc est quod in Libro viginti quatuor philosophorum dicitur: ‚deus est sphaera intellectualis infinita, cuius tot sunt circumferentiae quot sunt puncta‘, et ‚cuius centrum est ubique et circumferentia nusquam‘, et ‚qui totus est in sui minimo‘.“14 Eckart hat die ————— Umkehrung der Formel „deus est esse“ begründet. Da alles von Gott ist, ist alles in Gott, also hat alles sein Sein von und in Gott, ergo ist Gott das Sein: „Deus autem esse est, et ab ipso immediate omne esse“ (In Iohannem, n.238, LW III, 199,4); „Omne quod est a deo, est in deo. Primo, quia extra ipsum nihil est. Aut ergo nihil agit aut in se ipso agit. Gen 1 ‚in principio creavit deus caelum et terrram‘. Expone. Secundo, quia quod non est in deo, non est in esse, quia deus est esse. Quod autem non est in esse sed extra, non est et nihil est“ (LW IV, 206,7–11). 12 Vgl. H. Heimsoeth, Die sechs großen Themen der abendländischen Metaphysik, 27–29; K. Flasch, Das philosophische Denken im Mittelalter, 413–417; R. Manstetten, Esse est Deus, bes. 49–63. 13 Meister Eckart, Predigten (Hg. F. Pfeiffer), 50. Predigt, 165. 14 In Exodum 16,18, n.91, LW II, 94,17–95,3; dieselbe Verschränkung der Sätze 2 und 18 in den Sermones et lectiones super Ecclesiastici, n.20: „ ‚Deus‘, ut ait sapiens, ‚est sphaera‘ intellectualis ‚infinita, cuius centrum est ubique cum circumferentia‘, et ‚cuius tot sunt circumferentiae, quot puncta‘“ (LW II, 248,2–4); ähnlich In Iohannem, n.604, LW III, 527,4f; In Genesis I, n.155, LW I, 305,3–8; nur der zweite Satz in Sermo XLV, n.458, LW IV, 379,13–380,1; Sermo LV 3,

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Definition Gottes als des ubiquitären Allmittelpunkts und der nirgends begrenzten Peripherie wie kein anderer zur Behauptung der totalen Seinspräsenz Gottes im kleinsten Teil der Schöpfung und zur Darstellung der immanenten als totaler, schöpferischer, ökonomischer Trinität herangezogen. Meister Eckarts Interpretation hat Heinrich Seuse an zwei Stellen seiner Lebensbeschreibung aufgenommen. Sein, sagt er mit seinem „meister“ in einer „Erklärung, wo Gott ist und wie er ist“, sei der erste Name Gottes, daher Gott das Sein schlechthin, und als einfaches Sein das erste, allverursachende, und das ewige, gegenwärtigste Sein. „Dieses einfache, lautere Wesen ist die erste Ursache aller verursachten Wesen, und dank seiner ständigen Gegenwart umschließt es alle zeitliche Gewordenheit als Anfang und Ende aller Dinge. Darum sagt ein Lehrmeister: ‚Gott ist ein Kreis, dessen Mittelpunkt überall und dessen Kreislinie nirgends ist.‘“15 Gott sei aber nicht nur Quelle des Seins und der Geschöpfe, sondern als Vater auch Quell der Gottheit. „Ein weiser Lehrmeister sagt, Gott sei seiner Gottheit nach wie ein gar weiter Ring, dessen Mittelpunkt überall und dessen Umfang nirgends sei. Nimm in deiner bildlichen Betrachtung einen Menschen, der einen schweren Stein mit Gewalt in ein stillstehendes Wasser würfe. Davon entstünde ein Ring in dem Wasser, und dieser durch des Menschen Kraft geschaffene Ring erzeugte einen anderen und der wieder; und je nach der Kraft des ersten Wurfes werden auch die Kreise weit und breit; und die Kraft des Wurfes könnte so stark sein, dass die Kreise sich über das ganze Wasser ausbreiteten. Hier sieh bildlich in dem ersten Ringe die vermögende Kraft göttlicher Natur in dem Vater; sie ist unergründlich und gebiert einen ihr nach der Person gleichen Ring, das ist der Sohn, und diese beiden den dritten, das ist ihrer beider Geist, gleich ewig, gleich allmächtig. Das versinnbildlichen die drei Kreise: Vater, Sohn, Heiliger Geist. In diesem tiefen Abgrund spricht und gebiert die göttliche Natur in dem Vater das Wort, das die natürliche Menschheit annahm, der Person nach; nach der Seinsheit bleibt es jedoch im Vater.“16

————— n.546, LW IV, 457,5; alle Stellen bei Mahnke, 148, Anm. 2; Wackerzapp, Der Einfluss Meister Eckarts auf Nikolaus von Kues, 141f. 15 Heinrich Seuse, Deutsche mystische Schriften, 196: „got ist als ein cirkellicher ring, des ringes mitle punct allenthalb ist und sin umbswank niene“ (=Deutsche Schriften, 178). 16 Heinrich Seuse, Deutsche mystische Schriften, 207f: „es seit ein wiser meister, daz got nah siner gotheit genomen sie als ein vil wite ring, des mitle punct sie allenthalb und der umbswank niene […]“ (=Deutsche Schriften, 191).

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Gott und Raum

5.6 Reduktion zur ortlosen Sphäre (Alanus de Insulis) Meister Eckarts und Heinrich Seuses christlich-trinitarische Interpretation des sich aus dem innergöttlichen Lebensbezuges heraus in die Welt entfaltenden Seins und Lebens, findet sich auch schon bei Alanus de Insulis (Alain de Lille), der die beiden ersten Sätze des Liber in seinen Regulae de sacra theologia zitiert und erläutert, wenngleich in nicht unerheblicher Abweichung. Die Schöpfung als Emanation des göttlichen Seins ist völlig beschnitten und ganz auf den Gegensatz von Gott und Welt zugespitzt, die göttliche Lebensbewegung ist rein immanent, nicht mehr zugleich als ökonomische Vermittlung von Sein und Leben verstanden, indem der erste Satz nur trinitarisch immanent und der zweite nur ökonomisch interpretiert wird. Der erste Satz von der Monade, die die Monade erzeugt und die Glut auf sich zurückwendet, wird von der Doppeldeutigkeit der neuplatonischemanativen oder christlich-trinitarischen Deutung befreit und strikt trinitätstheologisch aufgefasst. Monas gignit monadem, sei die Zeugung des Sohnes durch den Vater, in se suum reflectit ardorem, das Hervorgehen des Heiligen Geistes aus Vater und Sohn. Denn der Heilige Geist sei, wie mit Verweis auf Augustins Trinitätslehre erklärt wird, ardor, amor, osculum et connexio Patris et Filii, Glut, Liebe, Kuss und Verbindung von Vater und Sohn (reg. III17). Der axiomatischen Definition der Monade entprechend, dass die Einheit aus sich die Einheit erzeugt, so dass sie Gleichheit hervorbringt (unitas de se genuit unitatem: de se profert aequalitatem, reg. I18), zeugt der Vater den Sohn in der Gleichheit (aequalitas, reg. IV19). Der zweite Satz des Liber wird als VII. regula des Alanus in der erheblichen Änderung sphaera intelligibilis statt sphaera infinita zitiert20. Die räumliche Gegenwart Gottes wird auf den intelligiblen Raum zurückgenommen und vom sensiblen Raum abgetrennt. Kannte das Buch der 24 Philosophen die Einheit des Seins von Gott und Welt, so wird hier der neuplatonische Dualismus zwischen dem intelligiblen und dem sensiblen Raum wieder eingeführt. „Welch großer Unterschied zwischen einer körperlichen und einer geistigen Sphäre!“21 Gott sei keine körperliche, sondern eine intelligible Sphäre. Wenn man Gott eine Sphäre nennt, dürfe man sie sich ————— 17 Alanus de Insulis, Regulae de sacra theologia, MPL 210, 624C–D. 18 Ebd., 623D. 19 Ebd., 625B. Die regula IV „In Patre unitas, in Filio aequalitas, in Spiritu sancto unitatis aequalitatisque connexio“ ist Zitat von Augustin, De doctrina christiana I,V,12, MPL 34, 21 = christliche Bildung, 18. 20 So auch Meister Eckart an anderen Stellen: „auctoritas dicit quod ‚deus est sphaera intelligibilis cuius ubique centrum, circumferential nusquam‘“ (sermo XLV n.458, Lateinische Werke IV, 379,13f–380,1); ebenso sermo LV 3, n.546, LW IV 457,5. 21 Alanus de Insulis, Regulae de sacra theologia, reg. VII, 627B.

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Gott als unendliche Sphäre

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nicht nach Ähnlichkeit einer körperlichen vorstellen. Dennoch sei er eine Sphäre, da er ewig ist, also wie die Kreislinie weder Anfang noch Ende hat.22 Die Sphäre dient hier nicht mehr als paradox-reales Symbol, sondern nur als lose Assoziation für den Gott, der Anfang und Ende ist ohne Anfang oder Ende zu haben (reg. V, VI). Wenn überhaupt Sphäre, dann eine intelligible im scharfen Gegensatz zur körperlichen. „In einer körperlichen Sphäre kann das Zentrum wegen der Kleinheit kaum irgendwo sein, der Umfang dagegen wird an vielen Orten vorgefunden. In der intelligiblen Sphäre ist das Zentrum wahrhaft überall, der Umfang nirgends.“23 Das Zentrum sei die Kreatur, die, wie die Zeit nur ein Moment der Ewigkeit ist, nur ein Punkt im Vergleich zur immensitas Gottes sei, die der Umfang heiße, weil sie alles ordnet, umfängt und in ihrer Unermesslichkeit enthält. Alain hat die Metapher von Gott als unendlicher Sphäre offensichtlich überhaupt nicht verstanden. Bei ihm ist Gott lediglich der Umfang einer (endlichen!) Kugel, während er den Mittelpunkt auf die im Vergleich zu Gott verschwindend kleine Kreatur deutet, die kaum irgendwo ist, während Gott doch überall und seine Grenze nirgends ist. Die Definition der geistigen Kugel resultiert hier aus der Definition der regulären bloß durch reziproken Austausch der geometrischen Verhältnisse. Während bei einer körperlichen Kugel das Zentrum wegen seiner Kleinheit kaum an einer einzigen Stelle, der Umfang hingegen an vielen Stellen vorgefunden werde, sei in der intelligiblen Sphäre das Zentrum überall, der Umfang nirgendwo. Eine (endliche) Kugel, deren Zentrum überall und deren Umfang nirgends ist, gibt es aber überhaupt nicht, auch nicht geistig, denn dass sie unendlich sei, wird nicht gesagt. Eine ebenso unsinnige Umkehrung der räumlichen Verhältnisse wird am Ende der Erklärung hinzugefügt, dass bei einer körperlichen Sphäre (wie beim Rad) der Mittelpunkt unbeweglich, die Peripherie beweglich sei, während Gott als intelligible Sphäre still stehe und allen Punkten Bewegung verleihe. Gott ist hier bloß im schlechthinnigen Gegensatz zur Welt aus Umkehrung der räumlich-geometrischen Verhältnisse bestimmt: Die Welt ist zeitlich und bewegt, Gott ewig und unbewegt, die Kreaturen sind am bestimmten Ort, Gott aber nicht, sondern überall. Gottes Transzendenz kommt zwar zur Geltung, aber bloß via negationis, ja durch Behauptung einer sinnlosen Geometrie des intelligiblen Raumes, ist jedoch ohne Bezug zur Immanenz. V.a. geht die dynamische Allpräsenz Gottes und das Hervorgehen des weltlichen aus dem göttlichen Sein völlig verloren. Übrig bleibt eine statische, leere, im Raum der Welt nirgends auffindbare Allgegenwart. Gott ist bei Alanus bloß ortlos und nirgendwo. ————— 22 23

So auch Heinrich Seuse, Deutsche mystische Schriften, 196. Alanus de Insulis, Regulae de sacra theologia, reg. VII, 627B–C.

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Kapitel 6: Der unermessliche Raum als Ausfaltung Gottes

6.1 Mathematisch symbolisierte Transzendenz Gottes (Cusanus) Nikolaus von Kues1 gilt als bedeutendster Vertreter der sog. mathematischen Mystik. Das ganze Buch von D. Mahnke handelt mehr oder weniger von seiner Vorgeschichte und seinen Nachwirkungen. Zahlreiche der für die europäische Geistesgeschichte und für unser Thema wichtigen Linien fließen bei ihm zusammen – die platonisch-augustinische Gottes- und Erkenntnislehre mit dem Primat des Einen vor dem Vielen, dem Teilgabegedanken, der spekulativen Trinitätslehre, den paradoxen Formeln für die Allgegenwart Gottes, aber auch die aristotelische Kosmologie und Metaphysik und die scholastische Ontologie, Analogie- und Ursachenlehre – und von ihm aus weiter. Es gibt nur wenige solcher Denker an der Schwelle, die eine ganze Epoche zusammenfassen und eine neue initiieren, Plotin, Augustin vielleicht und Dionysius, von denen er herkommt, Leibniz, Schelling, Hegel, auf die er einwirkt.2 Das complicatio-explicatio-Schema, das Cusanus für das Verhältnis von Gott und Welt verwandte, gilt auch für ihn selbst. Er fasste das Denken vor ihm zu einem Kern zusammen, der zum Keim wurde für die wichtigsten Systeme der Neuzeit. Die epochale Leistung des Kardinals von der Mosel besteht in der Verschränkung von Gotteslehre und Kosmologie, in der dialektischen Verhältnisbestimmung von Transzendenz und Immanenz Gottes, von Einem und Vielem, von Unendlichem und Endlichem, von Allpräsenz und Unerkennbarkeit Gottes, von affirmativer und negativer Theologie.

————— 1 Einführend vgl. K. Jacobi, Nikolaus von Kues; K. Flasch, Nikolaus von Kues; K.-H. Kandler, Nikolaus von Kues; N. Winkler, Nikolaus von Kues zur Einführung; die Schriften werden nach der vierbändigen Ausgabe „Philosophisch-theologische Werke“ des Meiner-Verlags zitiert, jedoch ohne Bandangabe, nur nach Kapitel, Paragraph und Seite der jeweiligen Schrift; an Literatur wird im Folgenden nur das Wichtigste angegeben, eine regelmäßig fortgeschriebene Gesamtbibliographie führen die Mitteilungen und Forschungsbeiträge der Cusanus-Gesellschaft (MFCG). 2 Vgl. H. Heimsoeth, Die sechs großen Themen der abendländischen Metaphysik, 34–42. 75ff; W. Beierwaltes, Denken des Einen, 64–72; S. Meier-Oeser, Die Präsenz des Vergessenen. Zur Rezeption der Philosophie des Nicolaus Cusanus vom 15. bis zum 18. Jahrhundert.

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Der Raum als Ausfaltung Gottes

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Im 14./15. Jahrhundert vollzog sich von Ockham bis Luther die Auflösung des rationalen Gottesbegriffs der Scholastik durch radikale „Übersteigerung der Transzendenz, Souveränität, Verborgenheit, Furchtbarkeit ihres Gottes.“3 Auch Nikolaus von Kues hat an dieser Bewegung teil und steigert die Transzendenz Gottes noch einmal gegenüber der neuplatonischen negativen Theologie und Mystik eines Dionysius Areopagita.4 Gleichzeitig steigert er aber im Gefolge Meister Eckarts5 auch die Immanenz Gottes in fast pantheisierender Weise: er erhebt die Welt zum Unendlichen, lässt sie Ausfaltung der eingefalteten Unendlichkeit Gottes sein und sieht die Allnatur in jedem Einzelding präsent. Die Steigerung der Transzendenz geht mit einer Steigerung der Immanenz einher. Transzendenz und Immanenz sind über das complicatio-explicatio-Schema korreliert. Die gesteigerte Immanenz resultiert aus einer gesteigerten Transzendenz und umgekehrt. Entsprechend wendet Nikolaus ein anderes Verfahren des Transzendierens an als die neuplatonische Mystik. Sein Weg ist nicht der des ständigen Überschreitens von der affirmativen, biblisch-positiven über die symbolische zur negativen und mystischen Theologie, welche, wie Dionysius geschrieben hatte, als „wahre Erkenntnis von Gott das Nichterkennen Gottes“ ansieht, das im reinen Schweigen erreicht wird, wo die schlechthinnige „Erhabenheit des von allem Gelösten, jenseits von allem Stehenden über aller Verneinung“6 erscheint. Die Transzendenz Gottes wird beim Kusaner nicht in der Aufhebung des Denkens erreicht, im bloß verstummten Schweigen, sondern in der Vollendung, der höchsten Form des Denkens: des um seine Unwissenheit wissenden Denkens, der docta ignorantia.7 Der Musterfall für das wissende Nichtwissen, das „Nicht-Wissen als Wissen“8, ————— 3 H. Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit, 559; zum Folgenden vgl. den ganzen Abschnitt „Der Cusaner: Die Welt als Selbstbeschränkung Gottes“, 558–638. 4 Vgl. J. Stallmach, Das „Nichtandere“ als Begriff des Absoluten. Zur Auswertung der mystischen Theologie des Pseudo-Dionysius durch Cusanus; W. Beierwaltes, Der verborgene Gott. Cusanus und Dionysius, in: Platonismus im Christentum, 130–171; R. Haubst, Nikolaus von Kues vor dem verborgenen Gott; R. Weier, Das Thema vom verborgenen Gott von Nikolaus von Kues zu Martin Luther. 5 Vgl. H. Wackerzapp, Der Einfluss Meister Eckharts auf die ersten philosophischen Schriften des Nikolaus von Kues. 6 Dionysius Areopagita, I. Brief, 1065A = Von den Namen zum Unnennbaren, 101; mystische Theologie, c.V, 1048B = Von den Namen zum Unnennbaren, 97; aus beiden zitiert Nikolaus von Kues, De docta ignorantia I, 60. 7 Vgl. J. Lenz, Die docta ignorantia oder die mystische Gotteserkenntnis des Nikolaus Cusanus in ihren philosophischen Grundlagen; J. Ritter, Docta ignorantia. Die Theorie des Nichtwissens bei Nicolaus Cusanus; J. Stallmach, Ineinsfall der Gegensätze und Weisheit des Nichtwissens. 8 Zu dieser Übersetzung vgl. K. Flasch, Nikolaus von Kues, 97; die übliche Übersetzung „belehrte Unwissenheit“ geht auf J. Koch, Die Ars coniecturalis des Nikolaus von Kues, 12, zurück; „wissendes Nichtwissen“ ist vorzuziehen, da nach De docta ignorantia I, c.1, §4,15f, S.8,

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ist der zweite Satz des Buches der 24 Philosophen.9 Hier wird die Transzendenz Gottes als Transzendenz, als äußerste Grenze menschlicher theoria zur Anschauung gebracht, nämlich als Zusammenfall kontradiktorischer Widersprüche. Der Umfang und das Zentrum der unendlichen Kugel fallen zusammen. Dies zu begreifen, ist dem diskursiven Verstand unmöglich, der nur der Anweisung der Konstruktionsvorschrift zu folgen vermag, den Kreis größer und größer werden zu lassen. Zwar nähert er sich der Geraden, wenn sein Radius immer größer und seine Krümmung immer geringer wird, er bleibt aber im Endlichen. Die coincidentia oppositorum, dass das Größte mit dem Kleinsten zusammenfällt (der Kreis mit dem größten Umfang koinzidiert mit dem der kleinsten Krümmung in der Gerade) ist nur im Begriff (der unendlichen Gerade) fassbar, wird also nicht mehr in sinnlicher, sondern in intellektiver Anschauung (visio oder intuitio intellectualis) erfasst. Doch ist diese geometrisch-mathematische coincidentia oppositorum noch nicht die Transzendenz Gottes. Selbst dem über der sinnlichen Anschauung (sensus) und dem diskursiven Verstand (ratio) liegenden schauenden Intellekt (intellectus) mit seinem einfachen Schaublick (simplex intellectio oder intuitus) – die Dreigliederung des Erkenntnisvermögens ist gängige platonische Tradition – bleibt die Transzendenz Gottes verborgen. Um das absolut Größte überhaupt, die Unendlichkeit Gottes „in einem einfachen Akt geistiger Schau zu erfassen, müss[t]e man die Verschiedenheit und Unterschiede der Dinge und alle mathematischen Figuren überspringen“10. Auch die Mathematik als höchste und präziseste, wahrste aller Wissenschaften11 erreicht nicht Gott selbst, sondern ist ein Mittel des symbolischen Erforschens (symbolice investigare)12, um vom Endlichen zum Unendlichen aufzusteigen. Dieses Verfahren geht, wie Nikolaus ausführt, in drei Schritten. Zuerst werden die Verhältnisse der endlichen Figuren betrachtet, dann entsprechend auf unendliche Figuren übertragen und schließlich drittens „die Verhältnisse der unendlichen Figuren im weiteren Aufstieg auf das unendliche Einfache in seiner Ablösung von aller Figürlichkeit ————— die „Belehrung“ durch „wissen“ erfolgt: „Einer wird umso gelehrter (doctior), je mehr er um sein Nichtwissen weiß (sciverit ignorantem).“ 9 Der Satz bzw. die Metapher von der unendlichen Kugel für den unendlichen Gott ist anzitiert oder angedeutet bei Nikolaus von Kues, De docta ignorantia I, c.12, §34, S.46 (deum circulum infinitum; deum quasi sphaeram infinitam); c.21, §64; c.23; II, c.12, §162, S.94; III, c.12, §232, S.60; Idiota de sapiente I, §23, S.37; II, §42, S.68; III, §232, S.61; Dialogus de ludo globi II, §69, S.79; §84,1f, S.96; zur Überlieferung auf Nikolaus über M. Eckart vgl. Mahnke, Unendliche Sphäre, 77f. 146; Wackerzapp, Der Einfluss Meister Eckarts auf Nikolaus von Kues, 140–151. 10 De docta ignorantia I, c.10, §29, S.39/41. 11 Zu Cusanus’ Mathematikverständnis vgl. W. Schulze, Zahl, Proportion, Analogie. Eine Untersuchung zur Metaphysik und Wissenschaftshaltung des Nikolaus von Kues; F. Pukelsheim (Hg.), Das Mathematikverständnis des Nikolaus von Kues; M. Böhlandt, Wege ins Unendliche. Die Quadratur des Kreises bei Nikolaus von Kues. 12 De docta ignorantia I, c.12, §33,6, S.44.

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übertragen. Erst dann wird unsere Unwissenheit in einer nicht begreifenden Weise belehrt werden (ignorantia incomprehensibiliter docebitur), in Rätselbildern (aenigmate) sich mühend, über das Höchste in einer richtigeren und wahreren Weise nachzusinnen.“13 In unserem Beispiel: Der endliche Kreis bzw. die Kugel wird zur unendlichen überschritten und „schließlich Gott gleichsam als unendliche Kugel betrachtet.“14 Doch ist der dritte Schritt, die Identifikation der unendlichen Kugel mit Gott, nur in Ablösung von allem Figürlichen möglich. Es wird also gerade nicht das Unbegreifliche begriffen, sondern sein Unbegreifen begriffen. Die Transzendenz ist zwar rückbezogen auf das Denkbare, indem die mathematische Figur als höchste und präziseste menschliche Begriffsbildung das wahrste Symbol der Unendlichkeit Gottes darstellt. Sie wird aber nur als Transzendenz, d.h. unbegreiflicherweise, in der Weise des Nichtbegreifens begriffen (incomprehensibiliter comprehendere)15. Gottes Unendlichkeit selbst wird auch im mathematischen Transzendierungsprozess nicht erreicht, sondern lediglich angenähert, maximal in der Weise des Nichtergreifens berührt (incomprehensibiliter attingere)16. Das ist deshalb so, weil das schlechthin und absolut Größte zu groß ist, um von uns begriffen zu werden. Es entzieht sich aller Vergleichbarkeit, da es über allen Gegensätzen (supra omnem oppositionem)17 steht. Schon das figürlich Unendliche ist nicht aus Vergleich mit endlichen Verhältnissen und Relationen zu bestimmen, sondern nur durch den Sprung vom Überschreiten des Überschreitbaren zum Unüberschreitbaren, d.h. vom immer noch größeren Endlichen = dem potentiell Unendlichen zum aktual Unendlichen. Zwischen dem Unendlichen und dem Endlichen ist kein Verhältnis (infiniti ad finitum proportionem non esse)18, so dass der diskursive Verstand, der vergleicht und ins Verhältnis setzt – alles Forschen geschieht durch Vergleichen, d.h. durch Verhältnisbestimmung19 – zum einfachen Größten, dem schlechthin Unendlichen, nicht gelangen kann. Das einfache Größte ist ja ein Superlativ20, also keine Quantität mehr, sondern Qualität. So ist es gemeint, wenn Nikolaus ————— 13 Ebd., §33, S.47. 14 Ebd., §34. 15 De venatione sapientiae, c.26, §74,5f, S.108; auch De docta ignorantia I, c.3, §10,15, S.14; c.4, §12,22f, S.18; c.5, §13,4f, S.20 u.ö. 16 Ebd., c.4, §11,6f, S.16. 17 Ebd., §12,3, S.18. 18 Ebd., c.3, §9,4f, S.12; vgl. De docta ignorantia II, c.2, §102,4f, S.18; das Prinzip geht auf Aristoteles zurück und ist dem ganzen Mittelalter vertraut, vgl. (Pseudo)Aristoteles, De caelo A 6, 274a,7; 7, 275a,13; Thomas v. Aquin, STh I, q.2, a.2 u.ö.; zur aristotelischen Lehre vom Unendlichen, zur Unterscheidung des potentiellen vom aktual Unendlichen (Aristoteles, Physik, III,6, 207a) etc., vgl. W. Wieland, Die aristotelische Physik, 291–302. 19 De docta ignorantia I, c.1, §2, S.7. 20 Ebd., c.4, §11,25, S.16.

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sagt, dass das derart Größte mit dem Kleinsten überhaupt zusammenfällt: Weil es kein mehr oder weniger zum Größten gibt, ist es vom Kleinsten ununterscheidbar und koinzidiert mit diesem nach dem principium identitatis indiscernibilium. Die coincidentia oppositorum ist der Punkt, an dem die Logik, die mit dem Satz vom Widerspruch, also mit Unterscheidungen und Gegensätzen operiert, aufgehoben ist. Der diskursive Verstand vermag Gegensätze nicht zu einer Einheit zu verbinden. Aber auch wenn Nikolaus sagt, dass dies dem (zusammen)schauenden Intellekt gelänge: „Über allem diskursiven Vermögen des Verstandes schauen wir demnach in einer nicht ergreifenden Weise die Unendlichkeit der absoluten Größe, die keinen Gegensatz kennt und mit der das Kleinste koinzidiert“, so geschieht noch die intellektuale Schau incomprehensibiliter. Das Größte und das mit ihm zusammenfallende Kleinste sind keine relativen, sondern transzendente Begriffe in absoluter Bedeutung (transcendentes absolutae significationis termini)21. Kurz gesagt: die visio intellectualis der coincidentia oppositorum ist wissendes Nichtwissen. Darum läuft die Kritik des Johannes Wenck von Herrenberg, wie man denn „in diesem Leben das Unbegreifliche unbegreiflich begreifen (Quomodo ergo in hac vita incomprehensibilia incomprehensibiliter apprehenderemus)“22 können soll, das sei doch die Vorwegnahme der visio beatifica, im Übrigen laufe die coincidentia oppositorum auf Pantheismus, auf den „Zusammenfall von allem mit Gott (Prima conclusio: omnia cum Deo coincidunt)“23, des Geschöpfes mit dem Schöpfer hinaus, so dass Nikolaus wie Eckart das Sein für Gott (Esse est Deus) erkläre,24 ins Leere. Genau im Gegenteil: Wenck hält an der möglichen Erkenntnis der Transzendenz fest, da die visio beatifica den festen Punkt, die objektive Erfüllung darstellt, auf die alle Erkenntnis ausgerichtet ist. Nikolaus von Kues dagegen erstrebt wie später Lessing nicht den Besitz, sondern die Suche nach Wahrheit. Er ist auf der Spur, auf der Jagd nach Weisheit.25 Beim Kusaner ist die Wahrheit nicht im Bild präsent. „Die Behauptung“, so verteidigt er sich gegen die Einwürfe Wencks, „das Abbild falle mit dem Urbild, das Verursachte mit seiner Ursache zusammen, kommt eher auf das Konto eines Unvernünftigen als eines Irrenden. Daraus nämlich, dass alles in Gott ist wie Verursachtes in der Ursache, folgt nicht, dass das Verursachte die Ursache sei, obwohl es in der Ursache nichts ist als die Ursache.“26 Kein Zusammenfall also von ————— 21 22 23 24 25 26

De docta ignorantia I, c.4, §12,27, S.18. J. Wenck von Herrenberg, De ignota litteratura, 21,11–19. Ebd., 24,19. Ebd., 26,1–14. Vgl. De venatione sapientiae. Apologia doctae ignorantiae, Opera omnia II, 16,19–23.

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allem mit Gott, von Schöpfer und Geschöpf, von Urbild und mathematischem Abbild. Das mathematische Symbol ist keine Ikone, keine reale Repräsentanz Gottes, sondern ein bloßes Zeichen, ein flüchtiges Zeichen sogar, eine Spur. Es bildet nicht ab, sondern verweist, dient der Annäherung. „Obwohl jedes Abbild an die Ähnlichkeit mit dem Urbild heranzureichen scheint, so ist doch […] kein Abbild dem Urbild so ähnlich und gleich, dass es nicht ins Unendliche noch ähnlicher und gleicher sein könnte.“27 Gerade Wenck, der Verteidiger des Nichterkennens Gottes, hält mit dem eschatologischen Vorbehalt an der Möglichkeit des Erkennens fest, während die wissende Unwissenheit des Kusaners das Wissen nur im flüchtigen Zeichen hat, das genauso verbirgt wie entbirgt. Die docta ignorantia ist nicht ein Haben, sondern ein unabschließbarer Prozess. Mit heutigen Kategorien gesagt: Wenck ist ein Vertreter des starken metaphysischen Denkens, Kues vertritt ein schwaches Denken. Das Wissen des Nichtwissens beinhaltet die Einsicht in die Fragmentarität und Regionalität des menschlichen Erkenntnisvermögens. Die docta ignorantia ist die Einsicht in die Begrenzung der menschlichen Vernunft und die coincidentia oppositorum ist das Prinzip dieser begrenzten Vernunfterkenntnis, welches die Reichweite des Widerspruchsprinzips begrenzt. In De conjecturis/Mutmaßungen hat Cusanus gegenüber dem Missverständnis des Johannes Wenck klargestellt, dass die Exaktheit der Wahrheit (praecisio veritatis) unerreichbar sei. Affirmative Aussagen sind immer nur Mutmaßungen, denn die Erfassung des Wahren lässt sich stets vermehren, nie ausschöpfen.28 Auch der intellectus, der alle Gegensätze übergreift, alles umfängt, kann sie nicht ins Unendliche überschreiten. Gott ist bei Nikolaus nicht, wie immer wieder gesagt wird, die coincidentia oppositorum, sondern transzendiert sie. Gott steht heraus aus den Gegensätzen, er ist nicht einfach via negationis oder via eminentiae zu erfassen, sondern nur in der negatio negationis. Erst dies ermöglicht, Gott als Einen zu denken, also nicht als den, der alle Gegensätze verbindet und vereint, sondern als die absolute erste Einheit, die allen Gegensätzen vorausliegt.29

————— 27 28 29

De docta ignorantia I, c.11, §30,13–17, S.41. De conjecturis I, c.1, §2, S.3/5. De conjecturis I, c.6, §24, S.27/29.

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6.2 Kosmologische Ausfaltung der Immanenz Gottes30 Gott, so war das Resultat des Erkenntnisweges des ersten Buches von De docta ignorantia, ist das maximum absolutum, das absolut Eine, dem nichts gegenübersteht, nicht einmal das Nichts. Er ist alles, insofern alles eins in ist in Gott. Die coincidentia oppositorum bedeutet nicht Zusammenfall von allem mit Gott, wohl aber von allem in Gott. Der unabschließbare Prozess der Transzendierung setzt in der Erkenntnis seiner Unabschließbarkeit diese Positivität eigener Art frei. Das Unendliche ist zwar als Unendliches unerkennbar, da unvergleichbar, daher unerreichbar durch Überschreitung, es muss aber als transzendentale Bedingung der endlichen Relationen vorausgesetzt werden. Es könnte kein mehr oder weniger an Größe, Wahrheit, Vielheit, an Sein und Vollkommenheit geben, wenn es nicht ein absolut Größtes, Wahres, Eines, Vollkommenes: die Seinsfülle (maximum esse, absolutum esse) gäbe, von dem alles Mehr und Weniger herkommt. „Herkommen“ ist nicht zeitlich-ontisch, sondern strikt logisch-ontologisch gemeint. Das Herkommen des Endlichen vom Unendlichen kann rekonstruiert werden in einem Art Gottesbeweis, der nur scheinbar den kosmologischen Wegen des Thomas ähnelt, in Wahrheit aber strikt transzendentallogisch verfährt: Da alles Endliche begrenzt ist, hat es einen Ursprung. Da man die Reihe der Ursachen nicht bis ins Unendliche fortsetzen kann, muss es ein einfaches Größtes geben, ohne das nichts sein kann. Gott ist in diesem quasi-ontologischen Argument dasjenige, ohne das nichts Seiendes gedacht werden kann. Da Seiendes existiert, muss das absolute Sein als Bedingung seiner Möglichkeit in Notwendigkeit existieren. Das Größte ist absolute Notwendigkeit: Maximum est absoluta necessitas31. Dieses Größte hat sein Sein jenseits jedes benennbaren Seins. Der Seinsbegriff, den Nikolaus hier voraussetzt, ist weder der analoge des Thomas noch der univoke des Duns Scotus, sondern der theonome des Meister Eckart: Esse est Deus. Sein und das Unendliche, Sein und Gott, sind identisch. Das Sein des Unendlichen ist nicht nur ursächliche Bedingung des endlichen Seins, sondern das Unendliche ist das Sein des Endlichen. Das maximum absolutum ist alles, es ist das Eine, die entitas absoluta, in der alles ist.32 Dass im absoluten Einen alles, also Vielheit impliziert ist, erklärt Nikolaus so, dass das absolute Sein bzw. Sein überhaupt als intelligibles Sein, d.h. nicht als dinglich vorhandenes Etwas, sondern als geistig-ichhafter ————— 30 Zum Ganzen vgl. Alvarez-Gomez, Die verborgene Gegenwart des Unendlichen bei Nikolaus von Kues. 31 De docta ignorantia I, c.6, §15–17, S.24–27. 32 „Maximum absolutum unum est quod est omnia; in quo omnia, quia maximum“ (De docta ignorantia I, c.2, §5,9f, S.10).

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Selbstvollzug, als Subjektivität bestimmt wird. Gott ist als absolut Eines Subjekt, d.h. nicht starrer Block oder statische Identität, sondern Vollzug und zwar Vollzug des eigenen Denkens.33 Im Einen ist Differenziertheit, genauer Dreiheit, wie Nikolaus mit der Korrelativenlehre des Raimundus Lullus und der Trinitätsspekulation Thierrys von Chartres erklärt:34 Die Einheit ist Dreiheit, denn sie bedeutet Einheit, Gleichheit und Verbindung (unitas, aequalitas et conexio). Als intelligible Einheit ist die Einheit des Einen in sich differenziert, wie die Einheit der Vernunft in sich differenziert ist als Erkennendes, Erkennbares und Erkennen (intelligens, intelligibile et intellegere). Die intelligible Einheit erzeugt sich selbst durch Denken des Denkens, durch Reflexion auf sich selbst, wie der erste Satz des Buches der 24 Philosophen gesagt hatte. Gott ist Einheit, weil er aus sich Gott erzeugt (dicitur Deus monas, quia de se Deum gignit)35, deutete Alanus ab Insulis den Satz. Und Thierry von Chartres hatte Augustins ebenfalls schon zitierte trinitarische Explikation des homoousios (Im Vater ist die Einheit, im Sohn die Gleichheit, im Hl. Geist die Eintracht von Einheit und Gleichheit)36 zahlentheoretisch untermauert. Wie ein mal eins gleich eins ist, so ist im Sein Gottes eine innere Bewegung der Selbstmultiplikation. Der Eine wiederholt sich als er selbst – denn die Einheit kann aus ihrer Substanz nichts anderes zeugen als Gleichheit – und bezieht sich auf die Gleichheit zurück, wobei das Verhältnis der Einheit zur Gleichheit wieder nur von gleichem Wesen sein kann.37 Diese innertrinitarische Bewegung ist ewig. Da die Einheit ewig ist, sind auch die Gleichheit und die Verbindung ewig, und, da es mehrere Ewige nicht geben kann, mit der Einheit wesensidentisch. Eine einfache mathematische Operation wird spekulativ zur ewigen Selbstentfaltung Gottes, zur generatio aeterna umgedeutet. Dies ist möglich, weil Lullus die ontologische Deutung der Logik ermöglicht hatte, indem er die Kategorie der Relation, die bei Aristoteles bloß akzidentiell etwas an der Substanz war, zur substantiellen Seinsform aufgewertet hatte. Wenn die Relation substantiell ist, ist nicht nur das trinitarische homoousios gesichert, weil dann die Verbindung von Einheit (Vater) und Gleichheit (Sohn) von gleicher Natur ist, sondern auch eine neue, ontologische Logik etabliert: Ein Gegensatz oder Verhältnis ist immer eine Dreierbeziehung. Die Verhältnisglieder sind in der Relation verbunden und eingefaltet. Die Relation, der Zusammenfall der Gegensätze in einem Grund, ist ontologisch früher als ————— 33 Vgl. W. Schulz, Der Gott der neuzeitlichen Metaphysik, 13. 34 Vgl. E. Colomer, Nikolaus von Kues und Raimund Llull; W. Beierwaltes, Einheit und Gleichheit. Eine Fragestellung im Platonismus von Chartres und ihrer Rezeption durch Nicolaus Cusanus. 35 Alanus ab Insulis, Theologicae regulae, MPL 210, 623C. 36 Augustinus, De doctrina christiana I,V,12. 37 Thierry von Chartres, Tractatus de sex dierum operibus, Nr. 37–41.

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die Glieder. Das neuplatonische Prinzip, dass die Einheit aller Vielheit vorangeht (omnem pluralitatem praecedit unitas), wird bei Nikolaus mittels der Lullschen Korrelativenlehre auf das Prinzip der coincidentia oppositorum zurückgeführt. Die Koinzidenz verbindet nicht nur Gegensätze, sondern enthält eingefaltet mögliche Gegensätze. Mit dieser dreiwertigen Koinzidenz-Logik wird die pantheisierende Seinslehre des Thierry von Chartres, dass das ganze Sein der einzelnen Dinge in Anwesenheit der Gottheit bestehe (quoniam praesentia divinitatis singulis creaturis totum et unicum esse consistit)38, logisch untermauert. Die coincidentia oppositorum, die als Seinsweise sui generis jenseits der in ihr zusammengefassten Gegensätze steht, und die trinitätsphilosophische Zahlenspekulation „erklären“, wie in Gott, der reinen Einheit, ohne Zerteilung Vielheit sein kann, wie also die Vielheit der Dinge nicht nur aus ihrer Einheit in Gott hervorgehend, sondern in ihr bestehend gedacht werden kann. Das berühmte complicatio-explicatio-Schema erläutert, wie das Unendliche sich so ins Endliche entfalten kann, dass es unendlich bleibt, oder anders gesagt, wie die absolute Transzendenz Gottes den Dingen immaniert, indem sie das Sein der Dinge ist, diese Immanenz aber transzendent bleibt. Beim complicatio-explicatio-Schema handelt es sich nicht um eine Wechselseitigkeit, sondern um eine Asymmetrie. Die Einheit geht der Vielheit unumkehrbar voran. Dies ist bei Nikolaus ebenso wie bei Thierry von Chartres, bei Dominicus Gundisalvus oder dem Liber de intelligentiis. Einheit impliziert in sich selbst Vielheit, Vielheit aber sammelt sich nicht notwendig zur Einheit. Sonst wäre die Allnatur, die Einheit der Vielheit der Welt mit Gott identisch. Auch fließt das in der Einheit eingefaltete nicht notwendig in Vielheit aus, wohl aber setzt die Ausfaltung notwendig die Einfaltung voraus. Kurz gesagt: Anders als bei G. Bruno erschöpft sich Gott nicht dadurch, dass er als Welt ausfließt, sondern er beschränkt sich. Die Unendlichkeit der Welt ist eine eingeschränkte, ein maximum contractum, im Universum ist die Einheit in Vielheit eingeschränkt, sie subsistiert nur in Vielheit. „Die Einheit der Welt ist durch Vielheit eingeschränkt, um Einheit in Vielheit zu sein.“39 Wenn Nikolaus sagt, dass „durch einfachen Ausfluss (simplex emanatio) des eingeschränkt Größten aus dem absolut Größten das gesamte All ins Sein trat“40, so ist die Emanation eher als Einschränkung, als Selbstbeschränkung Gottes gedacht,41 nicht als hypostatische Vervielfa————— 38 Ebd., Nr. 32, S.4. 39 „unitas contracta est per pluralitatem, ut sit unitas in pluralitate“ (De docta ignorantia II, c.6, §123, S.42). 40 Ebd., c.4, §116, S.35. 41 Blumenberg, Legitimität der Neuzeit, 634, Anm. 116, sieht wirkungsgeschichtliche Parallelen zum späteren „Zimzum“-Gedanken des Kabbalisten Isaak Luria, hierzu s.u. II.8.3.1.

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chung. Die Unendlichkeit der Welt ist, obwohl Entfaltung der Unendlichkeit Gottes, nicht mit dieser identisch. Die Unendlichkeit der Welt resultiert aus Teilhabe an der Unendlichkeit Gottes. Die Unendlichkeit Gottes ist eine selbstgenügsame, in sich gründende, intensive Unendlichkeit, die der Welt eine extensive, privative, abgeleitete Unendlichkeit.42 Wenn Gott für Nikolaus die Einfaltung von allem ist, da alles in ihm er selbst ist (omnia in ipso esse ipse), und die Ausfaltung von allem, da er in allem das ist, was es ist (ipsum in omnibus esse id quod sunt)43, so ist die Welt als Ausfaltung Gottes Welt und nicht Gott. Zwar ist „Gott so in allem, dass alles in ihm ist“44, doch ist dieser Panentheismus kein Pantheismus. Obwohl keiner das Ineinander von Gott und Welt so verdichtet hat wie der Kusaner, dass alles in Gott Gott (!) ist, hat er keinen Zweifel daran gelassen, dass alles Weltliche als es selbst nur es selbst, also Weltliches, ist. „Alles ist im Stein Stein, in der Seele Seele, […] im Verstand Verstand, in der Vernunft Vernunft“, und nur „in Gott Gott“45. Der Pantheismus wird vermieden, weil es eine Vermittlungsinstanz gibt zwischen dem einen Gott und der Vielheit der Welt: das Universum. „Gott ist gewissermaßen durch Vermittlung des Universums in allem“46, nämlich so, dass alles in allem und jedes in jedem ist durch Vermittlung des Allganzen. In jedem Einzelding – man hört schon Leibniz’ Monadenlehre – ist das Allganze repräsentiert, jedes Einzelne nimmt alles auf, so dass es in ihm selbst kontrahiert ist. Das complicatio-explicatio-Schema wiederholt sich im Verhältnis des All zum Einzelnen. Das Universum, das die Kontraktion der Unendlichkeit Gottes darstellt, ist in jedem Einzelding kontrahiert. Das immanente Allganze, das mit der Tradition auch Weltseele (anima mundi) heißt, jedoch im Sinne einer Art universalen Form (forma universalis)47, nicht materiell-substantiell verstanden ist, gibt allem die Möglichkeit, das zu sein, was es ist. Wie Gott als absolut Eines die Bedingung der Möglichkeit ist, dass etwas Eines im Verhältnis zum anderen Vielen sein kann, so ist das All Bedingung der Möglichkeit, dass Etwas dieses im Unterschied ————— 42 De docta ignorantia II, c.1, §97, S.13; Gott ist bei Nikolaus als Negation jeder Grenze negativ unendlich, die Welt raumzeitlich grenzenlos, aber der Stoffmenge nach begrenzt, also insgesamt eingeschränkt, privativ unendlich. 43 De docta ignorantia II, c.3, §111, S.28. 44 Ebd., c.5, §117, S.37. 45 Ebd., §119, S.41. 46 Ebd., §117, S.37. 47 Ebd., c.9, §150,1f, S.76; gleich im Anschluss Z. 14f und im späteren Idiota de mente, c.13, §145, S. 108, hat Nikolaus die platonische anima mundi bzw. die aristotelische natura mit Gott allein, der alles in allem wirkt, identifiziert. Will man beides ausgleichen, so kann man sagen, dass die Allseele keine reale Substanz, keine eigene Hypostase darstellt, sondern der transzendentale Begriff für die Welteinheit ist, der auch die unmittelbare Wirksamkeit des einen Gottes in allen Dingen jenseits des Pantheismus auszudrücken vermag. Gott kann daher nicht die causa formalis des Einzeldings, sondern nur des Allzusammenhangs sein.

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zu jenem sein kann. Vermittels der Repräsentanz des All im Einzelnen ist „die Einheit der Dinge, d.h. das All, in der Vielheit und umgekehrt die Vielheit in der Einheit.“48 Also ist sogar jedesbeliebige in jedembeliebigen (quodlibet esse in quodlibet)49 – wohl eine auf Anaxagoras zurückgehende Formel50 – und es besteht kraft des Allganzen ein Zusammenhang, eine wechselseitige Immanenz aller Dinge ineinander. Alles hängt mit allem zusammen, weil alles in allem besteht. Vermittels des Alls ist auch Gott in allem. In jedem Ding ist er anwesend und zwar ganz, aber nicht als dieses da, sondern kontrahiert. Und umgekehrt bildet das Viele eine echte, nicht bloß zusammengesetzte Einheit, da die Vielheit der Dinge durch Vermittlung des einen Universums in Gott ist. Dies bedeutet bezüglich der Immanenz Gottes, „dass Gott ohne Verschiedenheit in allem ist, da jedwedes in jedwedem ist, und dass alles in Gott ist, da alles in allem ist.“51 Das Ineinander der Dinge in Gott ist für Nikolaus der Grund, dass sie auch in ihrem weltlichen, von Gott abhängigen Sein, in einem innerlichen Bezug zueinander stehen52. Die Immanenz Gottes in jedem Einzelding hat Nikolaus so sehr verdichtet, dass das Sein jeden Dinges das Sein Gottes ist. Das Eckartsche „Esse est Deus“ gilt nicht nur für das Sein überhaupt, sondern für das Sein jedes Einzeldings. Wie man es sich vorstellen kann, dass Gott das Sein der einzelnen Dinge ist – nicht erschöpfend, sondern kontrahiert, nicht als Gott, sondern als sie selbst – erläutert Cusanus an mathematischen Beispielen. Die unendliche Linie ist Linie, Dreieck, Kreis und Kugel, da man im Unendlichen die Figuren ineinander umwandeln kann. Da jede endliche Linie ihr Sein von der unendlichen Linie her hat – das Endliche entsteht aus dem Unendlichen durch Einschränkung – ist in der endlichen Linie all das potentiell vorhanden, was in der unendlichen Linie aktual verwirklicht ist: Linie, Dreieck, Kreis und Kugel. In der endlichen Linie sind alle Figuren der Möglichkeit nach, d.h. eingefaltet. Wie die Einfaltung erläutert Cusanus die Ausfaltung an mathematischen Beispielen.53 Das Universum ist die Einfaltung von allem und kann sich zu allem ausfalten, wie alle Zahlen in der Einheit eingefaltet sind und sich aus dieser durch Ausfaltung ergeben. Oder wie im Punkt die Linie eingefaltet ist, in ————— 48 De docta ignorantia II, c.5, §119, S.41. 49 Ebd., §118, S.38. 50 „paqn eön pantiß“; „eön eÖkaßstv# eÄkaston“ (Anaxagoras nach Aristoteles, Physik I,4, 187b 1.27, vgl. Die Vorsokratiker II, 182). 51 De docta ignorantia II, c.5, §118, S.39. 52 Das „Alles in allem“ ist die philosophische „Interpretation des Satzes: ut deus sit omnia in omnia (1 Cor 15,28)“ (W. Beierwaltes, Identität und Differenz. Zum Prinzip cusanischen Denkens, 16). 53 De docta ignorantia II, c.3, §105–108, S.23–27.

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der Ruhe die Bewegung, im Jetzt die Zeit, so in der Einheit die Vielheit. „Die unendliche Einheit ist demnach die Einfaltung von allem.“54 Diese Einfaltung ist eine einzige. Es gibt nicht für jede Kategorie eine andere Einfaltung, für Substanz, Qualität, Quantität, Zahl, Raum, Zeit, sondern nur eine. Alles ist nach allen Kategorien in der unendlichen Einheit eingefaltet. Da es aber nur ein Unendliches gibt (das zusammenfällt mit dem einen Ewigen und der einen absoluten Ruhe und der einen absoluten Einheit), ist Gott die Einfaltung von allem in essentieller, qualitativer, quantitativer, räumlicher und zeitlicher Hinsicht. Die Gegenwart Gottes in allen Dingen ist bei Nikolaus von Kues also nicht nur panentheistisch, sondern essentialistisch verstanden. Gott ist nicht nur transzendentallogisch die Bedingung der Möglichkeit der Vielheit der Dinge, sondern ihre Washeit (quiditas = Wesen), ihre Wirklichkeit, Aktualität und Form. Gott ist nicht nur der Seinsgrund, die prima causa der Dinge, sondern auch ihre Wirk-, Formund Zielursache.55 „Diese absolute Größe und Einheit ist in absoluter Weise das Sein aller Dinge. Sie ist in allen das absolute Prinzip und das Ziel und die Seinsheit der Dinge.“56 Cusanus hat sich nicht mit den scholastischen Konkurrenztheorien aufgehalten, göttliches und kreatürliches Wirken in ein ausgewogenes Verhältnis zu setzen, sondern aus philosophischen und theologischen Gründen die totale Immanenz Gottes behauptet. Von den drei Weisen der Allgegenwart Gottes, die die Tradition kannte, hat Nikolaus nur diejenige per essentiam gekannt, bzw. die Anwesenheit per praesentiam et potentiam der essentiellen eingeordnet. Gott ist als Sein der Dinge in den Dingen unmittelbar und ganz. Er teilt sich selbst mit. Ihr Esse ist nicht bloß Wirkung, Ausstrahlung Gottes, sondern Gott selbst, aber wie gesagt: nicht erschöpfend, sondern kontrahiert. Das Eigenwirken wird den Dingen nicht abgesprochen, sie sind gerade sie selbst und nicht göttlich. Die Dinge sind definitiv weltlich, geschöpflich, endlich, aber ihr Sein und Wirken, ihre Aktualität und Form sind nicht außerhalb Gottes oder ihm gegenüber, sondern in der Allgegenwart Gottes begründet und verwirklicht. Das Sein der Dinge ist gerade so abhängiges Sein (esse est abesse)57. Die verborgene, eingefaltete Gegenwart des absolut Unendlichen im privativ ————— 54 Ebd., §105,11, S.23. 55 „Est igitur deus causa efficiens et formalis atque finalis omnium“ (ebd., c.9, §150,5, S.76); vgl. De ludo globi I, Nr.48,9f, S.52; auch bei Thierry von Chartres, Wilhelm von Conches, Alanus ab Insulis wird Gottes Weltverhältnis als dreifache Kausalität aufgefasst, hier allerdings dezidiert antipantheistisch als äußere Ursache, vgl. M. Baumgartner, Die Philosophie des Alanus de Insulis im Zusammenhange mit den Anschauungen des 12. Jahrhunderts, 131ff. 56 De docta ignorantia II, c.4, §113, S.31. 57 Ebd., c.3, §110,9, S.28.

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unendlichen Universum und in den endlichen Dingen hebt den christlichen Schöpfungsgedanken nicht auf, sondern verstärkt ihn. Die unmittelbare Gegenwart Gottes in allem bedeutet dauerhafte creatio ex nihilo. Anders als in der platonischen Tradition, wo am Anfang der Welt die materia prima vom Nichts ins Sein überführt und dann vom Demiurgen im Blick auf die Ideen geformt wurde, hat Cusanus den primären Schöpfungsakt auch auf die Individualität und Aktualität der Dinge bezogen. Er erläutert die Schöpfertätigkeit Gottes am berühmten Beispiel vom Löffelschnitzer oder vom Globusdrechsler:58 Wie der Künstler nicht nach vorgegebenen Ideen gestaltet, sondern im Gestalten die Idee selbst hervorbringt, so bildet Gott aktual, instantan und umittelbar im Schöpfungsakt das Sein und die Form der Dinge. Er ist in absoluter Weise das Sein und das Prinzip aller Dinge.

6.3 Die Einheit des Kosmos in der paradoxen Ubiquität Gottes Zum Schluss noch zu den kosmologischen Konsequenzen: Das doppelte complicatio-explicatio-Schema erlaubt Nikolaus, Gott als Einen zu denken und von ihm her das Universum als Ganzes und die Vielheit der endlichen Dinge als Einheit zu denken. Gleichgestaltig sind die Dinge als kreatürliche, geschaffene, endliche Dinge. Cusanus vermag zum ersten Mal die antiken Dualismen – sowohl den platonisch-gnostischen zwischen Geist und Materie, den parmenideischen zwischen dem Einen und dem Vielen und den aristotelischen zwischen himmlischer und irdischer Welt – zu überwinden und mit der Einheit der Welt als Schöpfung ontologisch und kosmologisch ernst zu machen. Dem Einen wird das Viele nicht als Schein entgegengesetzt, die Materie nicht gegenüber dem Geist abgewertet, sondern es wird das Viele ins Eine hineingeholt und das Materielle ins Geistige. Darüber hinaus – soweit waren, wie gesehen, schon Johannes Eriugena oder Dionysius Areopagita gekommen – führt die im Universum eingefaltete Unendlichkeit Gottes dazu, dass das Universum keine räumlichen oder zeitlichen Grenzen haben kann. Cusanus behauptet nicht, wie manchmal gesagt wird, die Welt sei unendlich (infinitum), er sagt nur, sie sei unbegrenzt (interminatum) bzw. eingeschränkt unendlich (privative infinitum), d.h.: der Kosmos ist weder endlich noch unendlich, er ist so groß, wie er ist, nicht über alle Maßen groß, aber größer als alles andere sonst. Nur von Gott her könnte das Universum größer sein, als es ist, von sich selbst her kann es sich nicht ins Unendliche erweitern, was Nikolaus damit begründet, dass die Materiemenge begrenzt sei.59 ————— 58 59

Idiota de mente, c.2, §62, S.15; Dialogus de ludo globi, §44, S.47. De docta ignorantia II, c.1, §97, S.13.

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Wenn der Kosmos aber raumzeitlich unbegrenzt ist,60 kann es keine absolute kosmologische Hierarchie mehr geben. Es kann kein absolutes Zentrum der Welt geben, insbesondere kann die Erde sich nicht im Mittelpunkt der Welt befinden (terra non est centrum mundi)61. Die Erde kann sich folglich nicht in völliger Ruhe befinden (manifestum est terram moveri)62 und die Fixsternsphäre nicht ihr Umkreis sein. Die Erde kann nicht von geringerer Qualität sein als die Sterne, sondern sei selbst ein edler Stern (terra stella nobilis)63. Aus der kosmologischen Homogenität und Unbegrenztheit des Kosmos folgt: Das Universum hat keinen definierten Umfang und keinen definierten Mittelpunkt. Daher kann man sagen, dass der Mittelpunkt der Welt mit dem Umfang koinziert (centrum mundi coincidit cum circumferentia). Nikolaus überträgt erstmals – ein äußerst kühner Schritt – den zweiten Satz des Buches der 24 Philosophen sinngemäß von Gott auf die Welt: Die Welt ist eine unbegrenzte Kugel, deren Zentrum sozusagen überall und deren Umkreis nirgends ist (quasi habens undique centrum et nullibi circumferentiam)64. Dieser Satz bedeutet keine neue Astronomie und resultiert auch nicht aus astronomischen Beobachtungen. Es ist ein rein metaphysischer und aufgrund des „sozusagen“ analoger Satz. Man sollte Nikolaus’ Beitrag zur physikalischen Kosmologie nicht überschätzen. Er leugnet weder die Existenz von kristallenen Sphären noch hat er die kopernikanische Wende vorweggenommen. Im Gegenteil, er ist viel moderner als Kopernikus, der nur Erde und Sonne vertauschte, weil er bereits auf dem Standpunkt der Relativität der Bewegung stand, den Kopernikus noch nicht hatte. Was Nikolaus verwirft, ist der hierarchische Aufbau des Universums. In der empirischen Welt kann es nach seiner Philosophie nur relative Gegensätze, kein absolutes Oben und Unten, keine absolute Ruhe und Bewegung geben. Der Kosmos hat kein räumlich-geographisches Zentrum, wohl aber ein absolutes Zentrum: Gott selbst ist der Mittelpunkt der Erde, der Sphären und aller Dinge. Das ist so, weil Gott allein den gleichen Abstand zu allen Punkten hat, nämlich den minimalen, der zugleich der maximale ist. Daher ist Gott, das absolute Zentrum, zugleich der unendliche Umfang von allem. ————— 60 „Obwohl die Welt nicht unendlich ist, lässt sie sich doch nicht als endlich begreifen, da sie der Grenzen entbehrt, innerhalb deren sie sich einschließen ließe (Cum licet non sit mundus infinitus, tamen non potest concipi finitus, cum terminis careat, intra quos claudatur)“ (Ebd., c.11, §156,27–29, S.86f). 61 Ebd., §157,3f, S.86. 62 Ebd., §159,10, S.90. 63 Ebd., c.12, §166,1, S.98. 64 Ebd., §162,15f, S.94, vgl. §161,14f, S.92: „sphaera, nullibi habens centrum vel circumferentiam“.

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Also hat der Weltbau deshalb nirgends Zentrum oder Peripherie, weil „ihr Umkreis und Zentrum Gott ist, der überall und nirgends ist (machinae mundi circumferentia et centrum est deus, qui est undique et nullibi)“65. Die kosmologische Pointe des zweiten Satzes des Liber 24 philosophorum in der Anwendung von Nikolaus von Kues ist also gar nicht einmal, als erster das kosmologische Prinzip der Homogenität und Isotropie des Kosmos entdeckt zu haben, sondern die, dass die Welt kein absolutes Zentrum und keine absolute Peripherie haben kann, weil Gott ihr absolutes Zentrum und ihre absolute Peripherie ist. Der rein metaphysische Satz, dass Gott Umfang und Mittelpunkt der Welt ist, hat aber gewichtige kosmologische Konsequenzen. Die zentrumslose, unbegrenzte Welt bildet eine Einheit eben gerade als nichthierarchische, relative Welt. Jeder einzelne Körper hat eine Beziehung zu jedem anderen, so dass die gesamte, relational strukturierte Welt den Horizont jedes Einzelnen bildet. Die Relationen bestimmen das Einzelne, die Zusammenhänge zu den anderen. Jedes Einzelne bildet ein relatives Zentrum im Horizont des Ganzen. Diese Konsequenzen wurden erst von Leibniz und v.a. von Whitehead ausgezogen, an der epochalen Erkenntnis Nikolaus’ von der Relativität der Welt aufgrund der Absolutheit Gottes aber kann kein Zweifel sein. Die Welt hat gegenüber dem aristotelischen Kosmos ein neues, ein ubiquitäres „Zentrum“. Sie ist nicht mehr von außen nach innen strukturiert und bewegt, also nicht mehr vom äußeren, unbewegten Beweger her – Cusanus destruiere Aristoteles’ ersten Beweger, hat Johannes Wenck ganz richtig kritisiert (hoc corollarium destruit primum motorem contra philosophum)66 – sondern von innen her, und zwar von jedem beliebigen Raumpunkt aus. Gott ist ein dynamisches Kraftzentrum, das an jedem beliebigen Raumpunkt von innen her als Kausal-, Form- und Zielursache wirksam ist.

6.4 Der Prophet des Unendlichen (Bruno) Nikolaus von Kues’ Verschränkung von Gotteslehre und Kosmologie findet ihre Fortsetzung und Steigerung bei Giordano Bruno.67 Wie Nikolaus, dessen „Docta ignorantia“ er bereitwillig zitiert, vertritt Bruno die neue Kosmologie des mittelpunktsfreien und grenzenlosen Universums sowie der ————— 65 Ebd., §162,16f, S.94. 66 Wenck v. Herrenberg, De ignota litteratura, 37. 67 Einführend vgl. W. Dilthey, Giordano Bruno; H. Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit, 639–700; F. Stern, Giordano Bruno – Vision einer Weltsicht; P.R. Blum, Giordano Bruno; A. König, Giordano Bruno. An der Schwelle der Moderne.

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beweglichen und zum edlen Stern erhobenen Erde.68 Wie Cusanus steigert er sowohl die Transzendenz als auch die Immanenz Gottes ins Äußerste, wie dieser überträgt er das göttliche Attribut der Unendlichkeit und der Ubiquität auf die Welt. Aber all dies wird so massiv, so glühend, so sendungsbewusst, ja selbstherrlich vorgetragen, dass nicht nur des Cusanus’ irenischer Charakter wie das Gegenteil des impulsiven Nolaners erscheint, sondern auch seine Philosophie. Während der Kusaner die Unterscheidung zwischen Gott und Welt stets klar markierte und die haarfeine Grenze von der ubiquitären Immanenz Gottes zum Pantheismus nie überschritt, hat Bruno sie, trotz gegenteiliger Versicherung, bewusst verwischt und mit religiösem Pathos das unendliche, göttliche Allsein des Universums verkündet. Während jedoch Gottes totale Immananz bei Nikolaus den trinitarischen, sich in die Welt inkarnierenden Gott meinte, kann Brunos Monismus mit dem Gott des Christentums und der Kirche nichts mehr anfangen. Während Nikolaus bei aller Kritik an der scholastischen Substanzmetaphysik die Tradition zu integrieren wusste, muss Bruno im antiaristotelischen und antikatholischen Affekt die alten Fesseln abwerfen und eine neue Metaphysik der Unendlichkeit initiieren. Und während Cusanus die Grenzen der Vernunft erkannte und anerkannte, sieht sich Bruno als einsamen Befreier seiner Vernunft aus dem Kerker der selbstverschuldeten Unmündigkeit. Im ersten Dialog des Aschermittwochsmahls stilisiert er sich in der Figur des Nolaners genau so: „Der Nolaner hat den Menschengeist und die Wissenschaft befreit, die in einem engen, dumpfen Kerker eingeschlossen waren, von wo aus sie kaum durch einige vergitterte Fenster die fernsten Sterne schauen konnten, wo ihre Fittiche beschnitten waren, damit sie nicht durch den Wolkenschleier dringen und das erschauen könnten, was sich jenseits desselben befindet. […] Da war er es, der die Luft durchschwebte, in den Himmel eindrang, die Grenzen der Vernunft überschritt, die phantastischen Mauern der ersten, achten, neunten, zehnten und so weiteren Sphären, die man gern noch hinzugefügt hatte nach dem Wunsche eitler Mathematiker und der Blindheit der gewöhnlichen Philosophen, verschwinden machte; er war es, der mit dem Schlüssen eifriger Forschung das Gefängnis der Wahrheit aufschloss, das verschleierte Angesicht der Natur enthüllte, den Maulwürfen Augen und den Blinden Sehrkraft wiedergab […] der uns die Augen öffnet, jene Gottheit zu erkennen, die unsere Mutter ist, die uns auf ihrem Rücken erhält und ernährt, nachdem sie uns aus ihrem Schoße hervorgebracht hat, in den sie uns immer von neuem zurücknimmt, der uns lehrt, dass auch sie ein beseelter Körper und nicht die geringste unter den Welten ist. […] So mögen wir denn diese Hunderttausende von Gestirnen und Gottheiten erkennen, die alle der Ehre des ersten, allgemeinen und ewigen Schöpfers dienen. Unser Verstand wird nicht mehr eingeklammert sein in dem Block der phantastischen acht, neun oder

————— 68 G. Bruno, Über das Unendliche, das Universum und die Welten 98 = Gesammelte Werke III, 92.

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zehn beweglichen Sphären. Wir werden einsehen, dass es nur einen Himmel, eine unendliche Ätherregion gibt, in der diese herrlichen Lichter ihre ihnen gesetzten Entfernungen wahren und am ewigen Leben teilnehmen. Diese flammenden Körper sind die Engel, welche die Erhabenheit und Majestät Gottes feiern! So erkennen wir die unendliche Wirkung der unendlichen Ursachen, den wahren und wirklichen Abglanz der unendlichen Kraft und brauchen die Gottheit nicht in der Ferne zu suchen, sondern wir haben sie in unmittelbarer Nähe, ja in uns selber; denn wir leben und weben in ihr.“69

Skizzieren wir in kurzen Strichen Giordano Brunos neue Metaphysik und Kosmologie sowie sein Verhältnis von Transzendenz und Immanenz Gottes im Unterschied zu Nikolaus von Kues.

6.5 Metaphysik und Kosmologie der Unendlichkeit Bruno lobt im Aschermittwochsmahl, das die Verteidigung des kopernikanischen Systems unternimmt, Kopernikus, „von den Göttern gewissermaßen als die Morgenröte eines besseren Tages vorausgesandt“70, als Vorbote der neuen, die ptolemäische weit überragenden Astronomie, hält aber sein Argument, dass viel eher die Erde als die zahllosen Weltkörper sich bewege, für unzureichend. Auch das System des Kopernikus hat einen festen Mittelpunkt und eine endliche, wenn auch etwas größere Ausdehnung.71 Erst das unendliche All des Nolaners hat kein absolutes Zentrum mehr, sondern nur noch „relative Mittelpunkte und Grenzen mit Beziehungen auf bestimmte Körper“72. Die Frage, ob das Universum endlich oder unendlich ist, die Kopernikus noch der Diskussion der Naturphilosophen überlassen wollte,73 beantwortet Bruno mit klaren Argumenten, und zwar als Philosoph, nicht als Astronom. Im ganzen Dialog Von der Unendlichkeit des Weltalls und der Welten, der dieser Frage gewidmet ist, findet sich an astronomischen Beobachtungen fast gar nichts, an antiaristotelischer Philosophie dagegen sehr viel. Dass das Universum unendlich sein muss, wird nicht aus astronomischen Beobachtungen erschlossen, ja kann für den neoplatonischen Rationalisten Bruno gar nicht daraus geschlossen werden, da die Sinne täuschen können und die Welt nicht deshalb nicht unendlich ist, weil die Sinneserfahrung dagegen spricht, „denn das Unendliche kann nicht Gegenstand der Sinne ————— 69 70 71 72 73

Das Aschermittwochsmahl, Gesammelte Werke I, 53–55. Ebd., 51. Vgl. A. Koyré, Von der geschlossenen Welt zum unendlichen Universum, 36–42. Gesammelte Werke I, 98. Copernicus, De revolutionibus orbium coelestium I, 8, in: Das neue Weltbild, 114,15f.

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sein“74. Unendlich ist das All aus vernünftigen, logischen und metaphysischen Überlegungen. Das Argument des Archytas, das Bruno aus Lukrez’ De rerum natura zitiert, dass der am Rand des Weltalls geschleuderte Pfeil doch nicht ins Nichts, sondern im endlosen Raum weiter fliege,75 ist allerdings nur die logische Oberfläche einer tieferen, prinzipiellen Haltung, eines neuen Weltgefühls (E. Cassirer). Diejenigen, die behaupten, die Welt sei endlich, wollten nichts anderes als „mit Hilfe ihrer Phantasie Mauern um sie herumziehen“76. Gegen das „ne plus ultra“ der mittelalterlicharistotelischen Scholastik wendet sich Brunos Affekt. „Der freie Flug der Phantasie und des Denkens darf nirgends durch feste räumlich-dingliche Schranken gehemmt werden.“77 Aristoteles’ Ortsdefinition als die innere Oberfläche des enthaltenden Körpers hält er – wie schon die Peripatetiker Eudemos und Theophrast – für unzureichend, nicht nur, weil sie widersprüchlich ist, da sie in Anwendung auf das Universum versagt: es hat keinen umgebenden Körper, wäre also nirgendwo, d.h. nicht existent („Nullibi ergo erit mundus. Omne erit in nihilo“78!), sondern weil sie einschränkt. Raum als Umschließendes wäre Umgebung, Begrenzung. Nur unbegrenzter Raum bedeutet Freiheit und Potenz der ungehemmten Bewegung. Der unbegrenzte, unermessliche Weltraum des Giordano Bruno hat nicht leere Passivität, sondern aktive Potenz, Körper aufzunehmen und Bewegung zu initiieren. Er gleicht vielmehr dem stoischen Spannungszustand (toßnow) oder dem pythagoräischneuplatonischen Pneuma als dem Demokritschen Leeren (keßnon). Leeren Raum kann es nicht geben, Raum ist immer erfüllt, denn Leeres wäre mit dem Nichts identisch.79 Der unendliche Raum kann unendliche Welten in sich schließen und tut es: „Unendlicher Raum hat unendliche Tauglichkeit, und in dieser Tauglichkeit ist unendliche verwirklichte Existenz.“80 Das Universum hat nicht nur unendliche Ausdehnung, es ist erfüllt von unzähligen Welten, und zwar aus Notwendigkeit. Der ganze, unendliche Raum ist erfüllt, muss erfüllt sein, „folglich hat das Universum unendliche Ausdehnung, und der Welten sind unzählige.“81 Dem negativen, antiaristotelischlogischen Argument korrespondiert ein positives metaphysisches Argument. Wäre der Raum endlich, oder der unendliche Raum nur mit endlich ————— 74 III, 28. 75 76 77 78 III, 29. 79 80 81

Bruno, Über das Unendliche, das Universum und die Welten, 34 = Gesammelte Werke Ebd., 8 = Gesammelte Werke III, 6. Ebd. E. Cassirer, Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance, 197. Bruno, Über das Unendliche, das Universum und die Welten, 35 = Gesammelte Werke Ebd., 39f. Ebd., 43. Ebd., 40.

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vielen Körpern und Welten (Sonnensystemen) erfüllt, so wäre Gott hinter seinem Vermögen zurückgeblieben. Das Geschöpf muss dem Schöpfer entsprechen, das Abbild dem Urbild. Muss „das Unendliche, das im schlechthin einfachen und unteilbaren ersten Prinzip eingefaltet ist, nicht vielmehr in diesem seinem unendlichen und unbegrenzten Abbild ausgefaltet“82 sein, fragt Bruno rhetorisch: Ja, es muss. „So nur rühmen die Himmel die Herrlichkeit Gottes, so nur offenbart sich die Größe seines Reichs. Nicht auf einem, auf unzähligen Thronen strahlt seine Majestät, nicht auf einer Erde, auf einer Welt, auf zehnmal hunderttausenden, auf unzähligen.“83 Also: Das Vermögen Gottes und die Fähigkeit des Geistes, „immer Raum an Raum zu fügen, Ausdehnung an Ausdehnung, Einheit an Einheit, Zahl an Zahl“84, darf in der Realität nicht beschränkt sein, sonst wäre die denkende Vernunft selbst beschränkt und hätte nicht teil am göttlichen Geist. Die Unendlichkeit der Welt wird von Brunos Rationalismus gefordert, dass Denken und Sein des Unendlichen einander entsprechen müssen. Das unendliche Vermögen des denkenden Ich verlangt einen neuen Weltbegriff. Und die Unendlichkeit der Welt wird von Brunos metaphysischem Prinzip gefordert, dem Prinzip der Fülle.85 Die Unendlichkeit, die in Gott, dem ersten Prinzip eingefaltet ist, muss im Abbild ausgefaltet sein. Dass das Universum als Abbild der Fülle Gottes mit dieser identisch sei, hat Bruno nicht behauptet. Es sei falsch anzunehmen, das Universum sei unendlich in allen Teilen wie die Unendlichkeit Gottes, die unendlich in allen ihren Teilen ist. Bruno hat also gerade so noch die totale, eingefaltete und allumfassende Unendlichkeit Gottes von der ausgefalteten und nicht allumfassenden Unendlichkeit der Welt unterschieden: „Gott ist nämlich das gesamte Unendliche, in eingefalteter und allumfassender Weise (tutto l’infinito complicamente e totalmente), das Universum hingegen ist alles in allem […] in ausgefalteter und nicht in allumfassender Weise (explicamente, e non totalmente). […] Ich nenne das Universum insgesamt unendlich (tutto infinito), weil es weder Rand, noch Grenze, noch Oberfläche hat; in nenne das Universum nicht allumfassend unendlich (totalmente infinito), weil jeder Teil, den wir ihm entnehmen können, und jede der Welten, die es enthält, endlich ist. Ich nenne Gott insgesamt unendlich, denn er schließt jede Grenze von sich aus, und jede seiner Eigenschaften ist eine und unendlich; und ich nenne Gott allumfassend unendlich, denn er ist ganz in der Welt als ganzer (tutto in tutto il mondo) und in unendlicher und allumfassender Weise in allen ihren Teilen: im Gegensatz zur Unendlichkeit des Universums, welche in allumfassender Weise im Ganzen (totalmente in tutto) ist, und nicht in diesen Teilen.“86

————— 82 83 84 85 86

Ebd., 41. Ebd. = Gesammelte Werke III, 23. Ebd. Vgl. A. Lovejoy, Die große Kette der Wesen, 143–150. Über das Unendliche, das Universum und die Welten, 46f = Gesammelte Werke III, 40f.

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6.6 Übersteigerte Immanenz und Transzendenz Gottes Aber Giordano Bruno hat im Unterschied zu Nikolaus von Kues das complicatio-explicatio-Schema nicht als unterscheidende Verhältnisbestimmung, sondern als geradezu physisches Zusammenhangverhältnis gelesen. Die Welt ist ihm die Ausfaltung der Unendlichkeit Gottes aus innerer Notwendigkeit. Da die göttliche Schöpfer- und Wirkkraft unerschöpflich ist – Gott ist ein fruchtbarer Vater und verschwenderisch, nicht neidisch oder geizig,87 wie auch die Göttin Erde nährende Mutter, nicht missgönnende Stiefmutter ist – muss sich Gott mitteilen und verströmen „nach dem Maß seiner herrlichen Seinsmächtigkeit (potenza)“88. In Gottes Wirken kann keine Einschränkung sein, nichts Kontingentes in seinem Wollen oder Handeln, sein Können und sein Tun sind identisch. In Gott sind für Bruno nicht nur Potenz und Akt identisch, wie die scholastische Gotteslehre übereinstimmend Gott actus purus genannt hatte, sondern auch Vermögen, Wille und Wirken. Gottes Wirkmächtigkeit ist nicht nur der Möglichkeit nach, sondern tatsächlich unendlich. Wenn die Allmacht eine unendliche Welt schaffen kann, wieso sollte sie dann nur eine endliche geschaffen haben?89 Gegen den Aristotelismus, der Gottes Wirksamkeit nur extensiv unendlich und damit von außen als prima causa, vermittelt über das primum mobile der Himmelsbewegung, angenommen hatte, ist Brunos Gott intensiv unendlich. Er ist nicht bloß erster Beweger, der den Bewegungsanstoß gibt, sondern in den Dingen unvermittelt und unbeschränkt allwirkend, so dass Bewegung andere Be————— 87 Das im Neuplatonismus verbreitete Motiv geht auf Platons Timaios, 29d–e, zurück, der den letzten Grund der Weltschöpfung mit der Idee des Guten und damit den Willen des Weltschöpfers mit seinem Wesen als Güte gleichsetzte: „Sprechen wir also davon, aus welchem Grunde der Zusammenfügende das Reich des Werdens, eben dieses All hergestellt hat. – Gut war er selbst, ein Gütiger empfindet aber niemals über irgend etwas in irgendeiner Form Neid. Da ihm derlei völlig fremd war, wollte er, dass alles ihm selbst möglichst ähnlich werde.“ Während die Liebe und Güte des platonischen All-Vaters aber selbstbezogen und selbstgenügsam ist, so dass er die Welt nur zur Selbstverdopplung um seiner selbst willen will, ist im Christentum die Güte des Schöpfers auf das Andere um dessen willen bezogen, so etwa Athanasius oder Gregor von Nazianz: „Gott ist nämlich gut, vielmehr west er als Quelle der Güte. Einem Guten aber kommt in keiner Hinsicht Neid unter. Daher hat er niemandem das Sein geneidet und aus Nichtseiendem alles […] geschaffen“ (Athanasius, De incarnatione verbi, 3, MPG 25, 102A–B = BKV, Bd. 31, 85); „Weil er es sich in seiner Güte nicht daran genügen ließ, sich allein in der Selbstbetrachtung zu bewegen, sondern das Gute ausgegossen werden und hervortreten musste, damit es viele Empfänger von Wohltaten gebe – dies nämlich war das Zeichen der höchsten Güte – erdachte er zuerst die Engels- und Himmelskräfte […]“ (Gregor v. Nazianz, Oratio 38,9, MPG 36, 319C); Gott als die sich selbstverströmende Güte bei Dionysius Areopagita, De divinis nominibus, c.IV,1, MPG 3, 694B („essentia sua bonus est Deus […] bonitatem in omnia porrigat“), aufgenommen bei Thomas v. Aquin, STh I, qu.5, a.4 („bonum diffusivum sui“). 88 Über das Unendliche, das Universum und die Welten, 45. 89 Ebd., 47–49.

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wegung bewirken kann. Gott ist das innere Kausalprinzip der Welt, das unmittelbare Bewegungs- und Lebensprinzip überhaupt. Daher ist die Erscheinungsform Gottes in der Welt die Weltseele. Er bewegt als Weltseele alles von innen, schenkt, sich selbst schenkend, das Sich-bewegen-Können der unzählichen Welten. Das alles, dass Gott als Allseele das Lebens-, Vernunft- und Formprinzip der Dinge und daher weniger äußerer Baumeister ist als vielmehr der „der ‚innere Künstler‘, weil er die Materie von innen heraus formt und gestaltet“90, hätten alle Renaissance-Platoniker, auch Nikolaus von Kues, unter Aufnahme pythagoräisch-neuplatonisch-hermetischer Motivik sagen können. Aber dass Gott sich aus innerer Notwendigkeit in der Welt gänzlich emaniert, weil sein Wille und seine Macht mit seiner unendlichen Wirkkraft identisch sind und nichts von sich zurückhalten kann, dass Gott also nicht mehr Allmacht oder Allwille, sondern vielmehr Allkraft ist, überschreitet doch die Grenze zum Pantheismus. Bei Bruno muss Gott nicht nur eine unendliche Welt schaffen, sondern sich selbst als Welt reproduzieren. Die unendliche Wirkung bezieht sich auch auf das materielle Sein!91 Die Welt ist hier nicht mehr Selbstbeschränkung, sondern Selbsterschöpfung Gottes (H. Blumenberg)92. Das complicatio-explicatio-Schema des Cusanus wird vom Nolaner nicht mehr als analoge Sprachfigur für das Verhältnis von Gott und Welt, sondern als realer, physischer Emanationsvorgang gelesen. Schöpfung ist nicht mehr creatio, sondern transformatio Dei! Die complicatio-explicatio-Figur ist hier als eine Art Modalismus verstanden: Das Universum ist die weltliche Erscheinungsform Gottes, und zwar erschöpfend. Die Welt ist die totale Selbstverwirklichung der göttlichen Allmacht, sie nimmt, wie Blumenberg richtig analysiert, die Stelle der ewigen, innertrinitarischen generatio des Sohnes ein. „Ein Gott, der realisieren muss, was er kann, bringt notwendig sich selbst noch einmal hervor. Zeugung und Schöpfung fallen zusammen. ([…] Die Stelle der aequalitas wird bei Bruno nicht durch den Sohn, sondern durch das unendliche Universum besetzt.) Wo die Schöpfung die hervorbringende Macht Gottes erschöpft, kann für den innertrinitarischen Prozess kein Raum mehr sein.“93 Die Welt ist nicht das kontingente Gegenüber der sich selbst beschränkenden potentia absoluta Gottes, sondern ihre symmetrische, erschöpfende Entsprechung. Daher hat sie auch keine Geschichte, keinen Anfang und kein Ende, es gibt keinen Sündenfall, keine Inkarnation und keine Apoka————— 90 91 92 93

Über die Ursache, das Prinzip und das Eine, 57 = Gesammelte Werke IV, 50. Gesammelte Werke I, 99. Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit, 639. Ebd., 659.

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lypse, die Welt als Ganze ist ewig, die Weltseele ihr Anfang, ihre Mitte und Vollendung. Sie ist universale causa efficiens, causa formalis und causa finalis in einem. Die Pointe von Brunos Weltseelenvorstellung ist nicht so sehr, dass alles Materielle geistig und beseelt, der Kosmos ein lebendiger, von innen bewegter Organismus und die Natur eine ewige, vernünftig-geordnete Gottheit ist, was man auch bei anderen naturmagischen Renaissancedenkern lesen kann, sondern dass dieses sympathetische, alle Gegensätze (von Form und Materie, Kraft und Stoff, Natur und Geist, ja Gott und Welt) vereinende Universum als ganzes unendlich ist. Mit dem Prädikat des Unendlichen überträgt Bruno nicht nur dies eine, sondern alle Gottesprädikate auf die Welt, die Allmacht ebenso wie die Allursache, die Allgüte und die Einheit. Im fünften Dialog „Über die Ursache, das Prinzip und das Eine“ heißt es: „Das Universum also ist Eins, unendlich und unbeweglich. Eins, sage ich, ist die absolute Möglichkeit, Eins die Wirklichkeit, Eins die Form oder die Seele, Eins die Materie oder der Körper, Eins die Ursache, Eins das Wesen, Eins das Größte und Beste, das […] Unbegrenzbare und Unbeschränkbare und insofern Unbegrenzte und Unbeschränkte und folglich Unbewegliche. Dies bewegt sich nicht räumlich, weil es nichts außer sich hat, wohin es sich begeben könnte, da es ja selbst alles ist. Es entsteht nicht, weil es kein anderes Sein gibt, das er begehren oder ersehen könnte, denn es hat schon selbst alles Sein. Es ist unvergänglich, weil es nichts anderes gibt, in das es sich verwandeln könnte, denn es ist schon selbst alles […]“94

Das Universum ist also Inbegriff des Einen, in dem alle Polaritäten zusammenfallen. Es ist actus purus, in ihm unterscheidet sich Akt nicht von Potenz, es ist voll verwirklichte Möglichkeit, es ist alles, was es sein kann. Während Nikolaus die Unendlichkeit privativ verstanden hatte – das Universum könnte (von Gott her) größer sein, als es ist –, könnte Brunos Universum gar nicht größer oder besser sein, weil es das schlechthin „Beste, Größte, Unbegreifliche, alles ist, überall ist und in allem ist“95. Bruno überträgt ganz konsequent den zweiten Satz des Buches der 24 Philosophen nicht nur in mathematischer Analogie, sondern real von Gott auf die Welt. Als Größtes, das als coincidentia oppositorum vom Kleinsten nicht zu unterscheiden ist, sei der Mittelpunkt des Universums überall und seine Peripherie in keinem bestimmten Teil, also ebenfalls überall. Das Universum hat bei Bruno die göttliche Eigenschaft der Ubiquität – das All ist alles, überall und in allem: „Da seht Ihr also, wie alle Dinge im Universum sind und wie das Universum in allen Dingen ist, wir in ihm und es in uns, und so alles in eine vollkommene Einheit einmündet. […] Diese Einheit ist einzig und beständig und dauert immerfort; dieses Eine ist ewig.“96 ————— 94 95 96

Über die Ursache, das Prinzip und das Eine, 130 = Gesammelte Werke IV, 119. Ebd., 133. Ebd., 135.

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Der Satz des Anaxagoras, dass alles in allem ist, wird bei Bruno nicht wie bei Cusanus vermittels der in der Weltseele repräsentierten, aber von Gott selbst unterschiedenen Schöpfer- und Lebenskraft Gottes verstanden, sondern als direkter, naturmagischer Allzusammenhang. Brunos Naturauffassung ist die des Deus sive natura: „Natura est Deus in rebus.“97 Oder umgekehrt: Gott ist die Natur, zwar nicht die natura naturata, die blanke Materie, wohl aber die natura naturans, die organizistisch-allzusammenhängende, dynamisch-werdende Natur.98 „Die Welt ist die notwendige Explikation der Gottheit.“99 Diese Naturauffassung des sich notwendig in die Welt ergießenden und dabei erschöpfenden Gottes bewirkt 1. ein Inkarnationstrauma, wie Blumenberg sagt100, 2. die Entpersönlichung Gottes und 3. die totale Transzendierung des nicht naturimmanenten Göttlichen. Gott kann sich nach Bruno nicht zu seiner Schöpfung verhalten, zwischen dem Unendlichen und dem Endlichen ist kein Verhältnis, weshalb nur die totale Differenz oder die totale Identität möglich ist. Außer der Selbstergießung Gottes als ewiger Schöpfer in die Welt kann er sich nicht noch einmal zur Welt als Erlöser verhalten. Das liegt daran, dass Gott bei Bruno kein personales Selbstverhältnis hat. Bruno kennt keine immanente Trinität. Den Personbegriff mag er nicht auf Gott anwenden, er hält ihn für eine Erfindung Augustins, nicht für urchristlich. Sein Monismus erlaubt nur eine modalistische Gotteslehre. Das Universum als Ganzes ist ihm eine Gestalt der Gottheit, die göttlichen Attribute der Allmacht, Allweisheit und Güte sind bei ihm Vernunft, Geist und Liebe des Universums. Der Heilige Geist ist die Weltseele, der Sohn der Logos, die Weltvernunft und -ordnung.101 Gott ist bei Bruno die einfache Monas, die Einheit, die in sich nicht mehr differenziert ist. Das monistische Prinzip, das dem Prinzip der Fülle korrespondiert und ebenso wie jenes auf Gott wie auf die Welt angewandt wird – alle Einheiten sind wie später in Leibniz’ Monadologie metaphysische Punkte, geistige Kraftzentren, das Universum die höchste Monade und Gott die Monade der Monaden – führt aber im Unterschied zu Leibniz wie auch bei Spinoza zur Entpersönlichung Gottes. Gott ist monas ohne innere Diffe————— 97 Gesammelte Werke II, 219. 98 Eindeutige Stellen bei H. Brunnhofer, Giordano Bruno’s Weltanschauung und Verhängnis, 152–154, besonders aus dem Gedicht De immenso et innumerabilibus: „Gott und die Natur sind ein und dieselbe Materie, ein und dasselbe Vermögen, ein und derselbe Raum, die eine und dieselbe bewirkende Ursache./Eadem materia, eadem potentia, idem spacium, idem efficiens aeque ubique potens Deus et natura“ (lib.I, c.IX, Opera latine conscripta I/1, 235). 99 W. Dilthey, Der entwicklungsgeschichtliche Pantheismus nach seinem geschichtlichen Zusammenhang mit den älteren pantheistischen Systemen, in: Gesammelte Schriften II, 331. 100 Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit, 641. 101 Gesammelte Werke VI, 175f.

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renz, ohne innertrinitarische Relationen, ohne Differenz zwischen Wille und Vernunft, zwischen Können und Wirken. Der naturalistische Pantheismus folgt daraus konsequent. Das unendliche Universum ist Spiegel, ja Darstellung der unendlichen Göttlichkeit. Das göttliche Wesen, das in Gestalt der Weltseele „ganz in allem ist, alles erfüllt und den Dingen innerlicher ist als ihr eigenes Wesen“102, spiegelt sich, redupliziert sich im Universum. Als Immanenz ist Gott alles in allem, ist er alles, was ist, ist alles in ihm er selbst; „denn außer Ihm ist nichts. […] Alles, was in ihm ist, ist Er selbst, wie der Glanz selber das Licht, wie der Strahl selbst die Sonne.“103 Daher sei die unendliche Kugel, deren Mittelpunkt überall ist, für Gott ein Gleichnis, da hier alles gleich weit entfernt vom Mittelpunkt sei im Unterschied zur endlichen Sphäre.104 All diese Immanenz-Formeln, besonders zugespitzt in den eben zitierten 30 Thesen „Vom Vater oder vom Geist oder von der Vollkommenheit“105, übernimmt Bruno aus der Tradition der mathematischen Mystik. Daraus allein lässt sich der Vorwurf des Pantheismus nicht erheben. Was aber fehlt, sind korrespondierende Transzendenzaussagen. Jenseits seiner Immanenz ist Gott bloß unbestimmt „über allem“, ohne Verhältnis zum „in allem“. Die negative Theologie wird hier anders als bei Cusanus nicht als Positivität eigener Art, nicht als docta ignorantia verstanden, sondern als offene Leerstelle. Entweder wir erkennen Gott in der Natur als das Alles-in-allem – „Man sagt, Er sei alles in allem, weil Er ganz überall gegenwärtig ist, weshalb Anaxagoras sagt: ‚Alles sei in allem‘, da Er, der alles ist, in allem ist.“106 – oder er bleibt namenlos, differenzlos und beziehungslos über allem. Der Unterschied zu Cusanus ist der, dass die Immanenz Gottes unverhohlen dadurch bis zum Pantheismus gesteigert wird, dass eine qualifizierte Rede von der Transzendenz Gottes unterbleibt. „Hier, bei Bruno, zeigt sich die Paradoxie einer Steigerung der göttlichen Eminenzprädikate: Je mehr die Unprädizierbarkeit des Einen betont wird, desto stärker muss Gott im Kosmos sichtbar werden. Der Kosmos wird zum Stellvertreter Gottes“107! Das übersehen all diejenigen, die Bruno vom Vorwurf des Pantheismus freisprechen wollen und geltend machen, dass er keinen Pantheismus, sondern einen Panentheismus, keine Identität von Gott und Natur, schon gar ————— 102 Über das Unendliche, das Universum und die Welten, 54 = Gesammelte Werke III, 48. 103 Gesammelte Werke VI, These 13, IX. 104 Ebd., These 1, VI; diese Interpretation der unendlichen Kugel als Allnähe des Zentrums kennt schon Meister Eckart, der Gottes räumliche Allnähe auch als zeitliche Allnähe versteht: „Daz punt ist an allen Enden glich nahe, alse din zit in allen landen“ (Meister Eckart, Predigten, 504,4–6). 105 Gesammelte Werke VI, VI–XI. 106 Ebd., These 23, X. 107 Schmidt-Biggemann, Philosophia perennis, 517.

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nicht der natura naturata, sondern nur die Göttlichkeit der natura naturans – „physis optima Deitas, die Natur ist die herrlichste Gottheit“, heißt es in „De immenso et innumerabilibus“108 – vertreten, dass er die allumfassende Unendlichkeit Gottes von der nicht allumfassenden der Welt unterschieden habe und der Gottesbegriff für Existenz und Dynamik des Universums unverzichtbar sei etc.109 Der Fehler Brunos war nicht die Steigerung der Immanenz Gottes zur Abwehr des kausal-mechanischen Deismus, sondern die Übersteigerung der Transzendenz. Das unprädizierbar, schlechthin namenlose Eine über allem hat keine Freiheit in Bezug auf die Welt, sondern nur Notwendigkeit, da in Gott keine Differenz zwischen Wille und Wesen, zwischen Absicht und Tun ausgemacht werden kann. „voluntas divina est […] ipsa necesitas. […] necessitas et libertas sunt unum.“110 „Das Verhältnis der Gottheit zur Welt ist das der Notwendigkeit, Vermögen und Wirklichkeit sind in der Gottheit dasselbe.“111 Die Emanation der Welt aus Gott entspringt daher nicht der Freiheit eines Willens oder eines Grundes, sondern der inneren Notwendigkeit, die reduplikativ überfließt, so dass das Geschaffene die Produktivität des Schöpferischen gleich notwendig in sich trägt. Die Welt trägt differenzlos die Signatur der göttlichen Unendlichkeit, d.h. nicht nur der räumlichen Ausdehnung, sondern auch der Fülle, der Gutheit, der schöpferischen Kreativität. Die Welt trägt bei Bruno alle Attribute des Unendlichen, nicht nur das räumliche.

————— 108 De immenso et innumerabilibus, lib.II, c.XII, v.76, Opera latine conscripta I/1, 305. 109 Vgl. L. Kuhlenbeck, in: Bruno, Gesammelte Werke III, 187–189; IV, 141; J. Brockmeier, Die Naturtheorie Giordano Brunos; J. Moltmann, Wissenschaft und Weisheit, 196f, anders Stern, Giordano Bruno, 67.129; dass Bruno eine immense Wirkung im Pantheismusstreit entfachte, ist dagegen ganz ohne Zweifel, zumal F.H. Jacobi ihn mit der erstmaligen deutschen Herausgabe von „Über die Ursache, das Prinzip und das Eine“ (H. Scholz, Die Hauptschriften zum Pantheismusstreit zwischen Jacobi und Mendelssohn, 205–224) als ersten Spinozisten klassifizierte, zur Wirkungsgeschichte Brunos vgl. Dilthey, Der entwicklungsgeschichtliche Pantheismus; knapp auch Stern, Giordano Bruno; König, Giordano Bruno, 105–121. 110 De immenso et innumerabilibus, lib.I, c.XI, Opera latine conscripta I/1, 243. 111 Dilthey, Gesammelte Schriften II, 332.

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Kapitel 7: Gottes soteriologische Ubiquität

7.1 Allwirksame und wesentliche Allgegenwart (Luther) Luther versteht die Allgegenwart Gottes als seine Allwirksamkeit und begründet sie aus der göttlichen Allmacht. Gottes Allgegenwart ist nie allgemein oder unbestimmt, sondern immer auf konkretes Geschehen in Natur, Geschichte und im Leben des Einzelnen bezogen. Gottes Allgegenwart, der nichts und niemand entrinnen kann, ist nie neutral, sie ist immer soteriologisch qualifiziert und wird als Heil oder auch Unheil, als heilsame oder schreckliche Gegenwart erfahren. Sie meint, dass alles, was geschieht, in der Hand Gottes liegt, da nichts dem Machtbereich Gottes entzogen ist. Die „Hand Gottes“ umfängt alle Kreaturen, ja die ganze Welt: „Unmöglich kann aus der Hand Gottes fallen, selbst wer außer sich und aller Kreatur fällt, die Gottes Hand ganz umschließt […] Laufe also durch die Welt, wohin wirst laufen? Immer in Gottes Hand und Schoß!“1, heißt es in der zweiten Psalmenvorlesung zu Ps 5,12. Die Allgegenwart resultiert aus Gottes Schöpfermacht und Weltregierung, der keine Macht, kein Ort und kein Ereignis entzogen ist, nicht einmal Jona im Bauch des Fisches. „Gott hat uns damit beweyset, wie gewaltiglich er den tod und alle ding ynn seiner hand hat und wie gar leicht es yhm sey, uns zu helffen auch ynn unaussprechlichen und verzweyffelten notten, das wyr doch so gar schwerlich konnen gleuben. Er ist allenthalben gegen wertig ym tod, ynn der hellen, mitten unter den feinden, ja auch ynn yhrem hertzen. Denn er hatts alles gemacht und regiert es auch alles, das es mus thun was er will.“2 Gott ist in allen Dingen, aber nicht offensichtlich, sondern verborgen. Die Kreaturen seien Gottes Larven und Masken, unter denen er sich verbirgt, und die er für seine Zwecke einsetzt, um zu wirken, was er auch ohne sie tun könnte. „Alle creaturen sind Gottes larven und mumereyen, die er will lassen mit yhm wircken und helffen allerley schaffen, das er doch sonst on yhr mitwircken thun kann und auch thut, Auff das wyr blos an seynem wort alleyne hangen.“3 ————— 1 WA 5, 168, 3–7 (Operationes in psalmos 1519–21). 2 WA 19, 219, 28–33 zu Jona 2,1 (1526). 3 WA 17 II, 192, 28–31 (Fastenpostille 1525); „[…] dass man wohl mag sagen, der wellt laufft und sonderlich seyner heyligen wesen sey Gottes mummerey, darunter er sich verbirgt und ynn der wellt so wunderlich regirt und rhumort“ (15, 373, 14–17 zu Ps 127,1 1524).

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Indem Luther die Allgegenwart als Allwirksamkeit und als Ausdruck der Allmacht und Alleinwirksamkeit4 Gottes versteht, zeichnet er das Gottesbild des „Deus semper ubique actuosus“5, des aktual tätigen Allgegenwärtigen. Gott ist in seiner Gegenwärtigkeit der „Deus actuosissimus“, der dauernd höchst aktive, tätige Gott, wie Luther in „De servo arbitrio“ gegen den „deus otiosus“, den müßiggehenden epikuräischen Gott geltend macht.6 Seit der Römer- und der zweiten Psalmenvorlesung, der Assertio omnium articulorum 1520 und der Magnificatauslegung 1520/21 verschärft sich bis zur Auseinandersetzung mit Erasmus 1525 Luthers Widerspruch gegen den ruhenden, untätigen Gott und gegen die bloß mögliche Allwirksamkeit Gottes. Die Macht Gottes ist nicht die, mit der Gott alles wirken könnte, sondern es auch tut7, woraus Luthers (biblisch begründeter) theologischer (nicht philosophisch ontologischer oder physischer) Necessitarismus folgt: „Also steht und bleibt der unbesiegte Satz: Alles geschieht aus Notwendigkeit (Adeo stat et permanet inuicta sententia, Omnia necessitate fieri)“8. Dieser Spitzensatz begründet sich aus der unmittelbaren All- und Alleinwirksamkeit Gottes. Gottes Allmacht ist nicht das potentielle Vermögen – ein solcher Gott wäre lächerlich –, sondern aktuale Allwirksamkeit9, entspringend aus Gottes unveränderlichem, unfehlbarem, freiem und „notwen————— 4 K. Holl, Gesammelte Aufsätze zur Kirchengeschichte I. Luther, 45; P. Althaus, Die Theologie Martin Luthers, 101. 5 W. Elert, Morphologie des Luthertums I, 389. 6 „Sed est actuosissima illa operatio Dei“ (WA 18, 747,25); „inquietus sit actor Deus in omnibus creatures suis“ (711,1). 7 „Das wortlin ‚Mechtig‘ soll hie nit heyssen ein still rugende macht, wie man von einem zeytlichen kunige sagt, ehr sey mechtig, ob er schon still sitzt und nichts thut, szondern ein wirckende Macht und stettige tettigkeit, die on unterlaß geht ym schwanck und wirkt. Den got ruget nit, wirckt on unterlaß“ (WA 7, 574, 27, Das Magnificat verdeutscht 1520, zu Luk 1,49); „Omnipotentiam uero Dei uoco non illam potentiam, qua multa non facit quae potest, sed actualem illam, qua potenter omnia facit in omnibus, quo modo scriptura uocat eum omnipotentem“ (De servo arbitrio WA 18, 718, 28); die Wendung „operatur omnia in omnibus“ entnimmt Luther gegen Althaus, 103, Anm. 15 und die Randangabe in der WA zwar wörtlich aus 1 Kor 12,6, aber sachlich aus Eph 1,11, so Luthers Bezugnahme in 18,709,12, dazu vgl. T. Reinhuber, Kämpfender Glaube, 107, biblisch entspricht Dtn 32,39; Ps 115,3; Am 3,6 u. bes. Jes 45,7. 8 WA 18, 617, 19, ebenso 699,15 und WA 7, 146, 7f: „omnia de necessitate absoluta eveniunt“ (Assertio 1520); Luthers Zustimmung zu Wiclifs gleichlautender, im Konstanzer Konzil verdammter These, ist gerichtet gegen die scholastische, auch von Melanchthon (s.o. I.1.6.1.) vertretene Unterscheidung zwischen absoluter und bedingter Notwendigkeit (necessitas consequentis bzw. consequentiae), gegen die Differenzierung in Erst- und Zweitursachen sowie gegen Ockhams, Duns Scotus’ und Biels Unterscheidung von (tatsächlicher) voluntas Dei ordinata und (möglicher) voluntas absoluta (18, 715, 1–7). 9 „Deum esse omnipotentem, non solum potentia, sed etiam actione, ut dixi, alioqui ridiculus foret Deus“ (WA 18, 719,24f).

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digen“ Willen10, der jedoch nicht willkürlich, sondern den Geschöpfen in Liebe zugewandt ist. Die „Allmacht der Liebe“11 – durchaus in Spannung zur nackten Majestät Gottes, die „Leben und Tod und alles in allem wirkt“12 – qualifiziert Gottes Schöpfungs- und Erhaltungsgegenwart als Güte und das Wirken der Geschöpfe als sinnhaft, da gütige Wirkung dieser Allmacht. „‚Allein got wirckt alle ding in allen dingen und aller creaturn werck sind gottis werck‘ (Eph 1,11), wie wir auch sprechen ym glauben: ‚Ich gleub in got vatter den almechtigen.‘ Almechtig ist er, das in allen unnd durch allen und ubir allen nichts wirckt, denn allein seine macht.“13 Gottes aktuale Allwirksamkeit wiederum begründet sich aus der unmittelbar wirksamen Allgegenwart Gottes, die Luther als eine zutiefst innerliche versteht. Gott ist den Kreaturen, wie er in den beiden großen Abendmahlsschriften 1527/28 ausführt,14 tiefstinnerlich, so dass die Allwirksamkeit keine äußere Kausalität nach Art physikalischer, gar mechanischer Kausalitäten ist, die von außen stoßen oder ziehen, sondern aus einer innersten Anwesenheit resultiert. Gott ist den Kreaturen innerlich, wirkt in ihnen von innen heraus, indem er ihnen wesentlich gegenwärtig ist. Gottes Allwirksamkeit als wesentliche Allgegenwart bedeutet 1., dass Gott selbst, nicht durch Mittler („amptleut oder Engel“), dass er 2. unmittelbar, nicht durch instrumentale Mittel (wie mit „Beil, Axt, Säge“) wirkt, dass er 3. den Kreaturen innerlicher ist, als diese sich selbst sind, dass Gott 4. in allen Dingen, auch den geringsten (dem Baumblatt und dem Körnlein) gegenwärtig, 5. allen Dingen ganz gegenwärtig ist, sie 6. ganz und gar durchdringt und 7. in allem ungeteilt schöpferisch anwest. „Die Göttliche gewalt […] mus an allen orten wesentlich und gegenwertig sein, auch ynn dem geringesten bawmblat. Ursach ist die: Denn Gott ists, der alle ding schafft,

————— 10 „Deus necessarius“ (WA 18, 617,14); „omnia fiunt necessario et immutabiliter, si Dei uoluntatem spectes“ (615,33); „Deum necessario et immutabiliter velle“ (619,9); „necessitas immutabilitatis“ (634,30); „Deus praescivit et agit consilio et uirtute infallibili et immutabili“ (719,29f). 11 Holl, 37f; Althaus, 107f; Jüngel, Gott als Geheimnis der Welt, 26; Härle, Dogmatik, 259. 12 Zur Diskussion um den „verborgenen Gott in seiner Majestät, der den Tod weder beklagt, noch aufhebt, sondern Leben, Tod, und alles in allem wirkt (Deus absconditus in maiestate, neque deplorat neque tollit mortem, sed operatur uitam, mortem, et omnia in omnibus)“ (WA 18, 685,21–23) vgl. E. Jüngel, Quae supra nos, nihil ad nos; Reinhuber, Kämpfender Glaube, 114–143. 13 WA 7, 574,10–13; Gottes Alleinwirken in den Kreaturen kann Luther bei den vom Geist Gottes erfüllten Menschen auch als Zusammenwirken verstehen: „Alles geschieht durch den Willen der allmächtigen Kraft und Güte Gottes, der uns ohne uns schafft und erhält, aber nicht in uns ohne uns wirkt, die er uns gerade dazu geschaffen und erhalten hat, dass er in uns wirke und wir mit ihm zusammenwirken“ (18, 754,3–8); zum Gedanken der cooperatio von Gott und Mensch vgl. M. Seils, Der Gedanke vom Zusammenwirken Gottes und des Menschen in Luthers Theologie. 14 Dass diese Worte Christi „Das ist mein Leib“ noch feststehen wider die Schwärmgeister 1527, WA 23, 38–320; Vom Abendmahl Christi. Bekenntnis 1528, WA 26, 261–509 = Cl 3, 352– 516.

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wirckt und enthellt durch seine allmechtige gewalt und rechte hand, wie unser glaube bekennet. Denn er schickt keine amptleut odder Engel aus, wenn er etwas schaffet odder erhellt, sondern solchs alles ist seiner Göttlichen gewalt selbs eigen werck. Sol ers aber schaffen und erhalten, so mus er daselbst sein und seine creatur so wol ym aller ynnwendigsten als ym aller auswendigsten machen und erhalten. Drumb mus er ja ynn einer iglichen creatur ynn yhrem allerynnwendigsten, auswendigsten umb und umb, durch und durch, unden und oben, forn und hinden selbs da sein, das nichts gegewertigers noch ynnerlichers sein kann ynn allen creaturen denn Gott selbs mit seiner gewallt.“15 „Denn wie kann doch hie vernunfft leiden, Das die Göttliche maiestet so klein sey, das sie ynn eym körnlin, an eym körnlin, uber eym körnlin, durch ein körnlin, ynnwendig und auswendig, gegenwertig und wesentlich sey, und obs wol ein einige maiestet ist, dennoch gantz und gar ynn eym iglichen besonder, der so unzelich viel sind, sein kann? Denn er macht ja ein iglich körnlin besonders ynn allen stucken, ynnwendig und allenthalben, So mus ja seine gewalt daselbs allenthalben ynn und an dem körnlin sein. Nu aber seine gewalt einig und einerley ist und nicht sich teilet, […] so mus die gantze Göttliche gewalt da sein ynn und an dem körnlin allenthalben, Denn er machts alles alleine. […] Hat er nu die weise funden, das sein eigen göttlich wesen kann gantz und gar ynn allen creaturn und ynn einer iglichen besondern sein, tieffer, ynnerlicher, gegenwertiger denn die creatur yhr selbs ist.“16 „Und seine Gewalt ist nicht ein beyl, axt, segen odder feylen, dadurch er wirke, sondern er selbs. Ist nu seine gewalt und geist allenthalben und ynn allen dingen auffs aller ynnerlichst, eusserlichst, durch und durch gegenwertig, wie es denn sein mus, so er alle ding allenthalben machen und erhalten sol, so mus sein Göttlich rechte hand, wesen, und maiestet auch allenthalben sein: Er mus freylich dabey sein, sol ers machen und erhalten.“17

Aus dieser Universalisierung der Gegenwart Gottes folgt, das ist die Pointe gegen Zwingli einerseits und die Schwärmer (Karlstadt) andererseits, dass die rechte Gottes keinen „sonderlichen“, festumgrenzten Ort meint, sondern die allmächtige Gewalt Gottes, und der Himmel, in dem Gott seinen „Stuhl“, seinen Thronsitz hat (Jes 66,1), nicht oben im Empyreum, sondern dort ist, wo Gott ist, also überall („was und wo hymel ist, da ist mein stuel, es sey der hymel unden, oben odder neben der erden“18). „Überall“ kann zwar auch nirgends sein, aber gegen die Schwärmer niemals ortlos, sondern so nirgends, dass an keinem Ort fixiert, also an allen Orten und in allen Dingen.19 ————— 15 WA 23, 134,28 – 135,6. 16 Ebd., 137,8–18.31–33. 17 Ebd., 139,18–23. 18 Ebd., 135,27f. 19 „Die schrifft aber leret uns, das Gotts recht hand nicht sey ein sonderlicher ort, da ein leib solle odder müge sein, als auff eym gülden stuel, Sondern sey die almechtige gewalt Gotts, welche zu gleich nirgent sein kann und doch an allen orten sein mus“ (ebd., 133,19–23; vgl. 143,10–12).

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Das gestehen, gegen Luthers Polemik, auch Zwingli und die Schwärmer zu, dass Gottes Rechte allenthalben ist,20 nicht aber, dass sie leiblich, innerlich, wesentlich allenthalben ist. Jedoch: Die wesentliche Allgegenwart Gottes, die Luther mit den üblichen Schriftzitaten Ps 139,7; Jer 23,23; Apg 17,27, aber auch Ps 118,15; Jes 66,1 belegt und also aus der Schrift die Ubiquität des Himmels und der Rechte Gottes folgert, bedeutet nicht, dass Gott in der Kreatur aufginge. In mystischen Prädikationen, die an Augustin, Eckart und Cusanus erinnern, entfaltet Luther die paradoxe Struktur der Ubiquität, dass Gott den Dingen innerlich und ebenso äußerlich ist, sie durchdringt wie umfängt, ihnen wesentlich einwest, aber nicht eingeschlossen, außer ihnen, aber nicht ausgeschlossen ist, „zugleich nirgent sein kann und doch an allen orten sein mus“21. „In“ allen Dingen heißt ebenso „uber, ausser, unter, durch und widder herdurch“ aller Kreatur,22 weil Gottes Gewalt „unbegreifflich und unmeslich, ausser und uber alles“ ist, nicht „an einem ort […] beschlossen und abgemessen sein“23 kann, nicht begrenzbar ist. Die vernunftwidrige Paradoxie, „Das Gott sey wesentlich gegenwertig an allen enden ynn und durch alle creatur ynn alle yhren stucken und orten, das also die wellt Gottes vol ist und er sie alle fullet, Aber doch nicht von yhr beschlossen odder umbfangen ist, sondern auch zu gleich ausser und uber alle creatur ist“, hält Luther für „gar uber alle mas unbegreifliche ding, Aber doch sind es artickel unsers glaubens, hell und mechtiglich ynn der schrifft bezeuget.“24 Im Vergleich zu der für die Vernunft ganz unbegreiflichen wesentlichen Allgegenwart Gottes in jedem „körnlein“, so Luther gegen Zwingli, sei es ein leichtes zu glauben, dass Christi „leib und blut zu gleich ym hymel und abendmal ist“25. Luthers Lehre von der Realpräsenz und der Ubiquität der menschlichen Natur Christi ergibt sich aus der wesentlichen Gegenwart Gottes in allen Dingen, einschließlich Korn, Brot und Wein, und der singulären in Christus wie von selbst. Weil Gott in Christus nicht allein gegenwärtig und wesentlich ist wie in allen andern Kreaturen, sondern „wonet auch leibhafftig ynn yhm also, das eine person ist mensch und Gott“, so ————— 20 „Ja, sagen sie, wir gleuben wol, das Gotts gewalt allenthalben sey, Aber drumb mus nicht sein Göttlich wesen odder rechte hand allenthalben sein“ (ebd., 139,4f); dagegen Zwingli: „Wenn du sprichts ‚gottes gerechte hand, kraft, maiestat und gwalt ist allenthalb‘, redstu recht, wiewol du vermeinst, wir tölpischen narrenköpff habind das noch nie gwüßt“ (Zwingli, Das diese wort Iesu Christi […], Sämtliche Werke, Bd. V, 931, 2–4). 21 Luther, WA 23, 133,21f. 22 WA 26, 341,1f.13f. 23 WA 23, 133, 24–28. 24 Ebd., 135,35–137,2. 25 Ebd., 137,4f.

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dass „der glaube“ sagen kann: „Christus ist Gott selb“26, so folgt: „Christus leib ist zur rechten Gotts, das ist bekand. Die rechte Gotts ist aber an allen enden […], So ist sie gewislich auch ym brod und wein uber tissche.“27

7.2 Das Verhältnis zur metaphysischen Ubiquität Die abendmahlstheologischen und christologischen Schwierigkeiten, die hier virulent sind, einmal außer Acht gelassen28, stellt sich für uns die Frage, wie Luthers Rede von der innerlichen, wesentlichen Allgegenwart Gottes theologisch und weltanschaulich einzuordnen ist. Wie verhält sich Luthers christlicher Pantheismus zu Giordano Brunos kosmologisch-metaphysischem? Ist Luthers theologischer Necessitarismus derselbe wie der Brunos, der Notwendigkeit und Freiheit Gottes identifizierte und den Willen Gottes als die Notwendigkeit schlechthin ansah?29 Könnte Luther wie Bruno sagen, dass Gott alles ist, weil er unendlich, unermesslich und überall ganz ist („deus est omnia […], sicut infinitus est deus, immensus, ubique totus“30) oder sagen, „Er sei alles in allem, weil Er ganz überall gegenwärtig ist, weshalb Anaxagoras sagt: ‚Alles sei in allem‘, da Er, der alles ist, in allem ist.“31 „Man hat nicht ohne Grund gesagt, dass Gott alle Dinge erfüllt, allen Teilen des Universums innewohnt, der Mittelpunkt von allem ist, was Sein hat, als einer in allem und der, der durch alles eines ist. Da er alles ist und alles Sein in sich befasst, kann man schließlich sagen, dass in Jeglichem Jegliches ist.“32 Könnte Luther den Satz des Anaxagoras unterschreiben, dass jedes in jedem und alles in allem ist,33 und wie Nik. v. Kues sagen, dass „Gott ohne Verschiedenheit in allem ist, da jedwedes in jedwedem ist, und dass alles in Gott ist, da alles in allem ist“34? Könnte er wie der Kusaner Gottes Allgegenwart essentialistisch verstehen und Gott als unmittelbaren Seinsgrund, ————— 26 Ebd., 141, 23–29. 27 Ebd., 143, 30–33. 28 Hierzu in kontroverstheologischer Perspektive vgl. U. Beuttler, Das Eucharistieverständnis bei Papst Benedikt XVI. Eine ökumenische Perspektive, in: Werner Thiede (Hg.) Der Papst aus Bayern. Protestantische Wahrnehmungen, Leipzig 2010, 177-194, bes. 189-193. 29 „voluntas divina est non modo necessaria, sed etiam est ipsa necessitas, cujus oppositum non est impossibile modo, sed etiam ipsa impossibilitas. […] Necessitas et libertas sunt unum“ (Bruno, De immenso et innumerabilibus, lib.I c.XI, Opera latine conscripta I/1, 243). 30 Bruno, ebd., lib.I c.I, Opera latine conscripta I/1, 206. 31 Bruno, Gesammelte Werke, Bd. VI, S.X. 32 Bruno, Gesammelte Werke, Bd. IV, 122 = Über die Ursache, das Prinzip und das Eine, 133. 33 „paqn eön pantiß“; „eön eÖkaßstv# eÄkaston“ (Anaxagoras nach Aristoteles, Physik I,4, 187b 1.27, vgl. Die Vorsokratiker II, 182). 34 Nikolaus v. Kues, De docta ignorantia, lib.II, c.5, §118, S.39.

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das Sein der Dinge als Sein Gottes selbst und Gottes Wesensgegenwart als innere Wirk-, Form- und Zielursache aller Dinge begreifen?35 Wohl kaum. Der entscheidende Unterschied gegenüber Bruno scheint mir erstens der zu sein, dass Luthers Gott zwar nach außen eine Notwendigkeit des Geschehens zur Folge hat, aber nach innen aus einem freien, nicht notwendigen Willen resultiert. Zweitens hat Luther Gott keineswegs wie Bruno in sich monistisch-differenzlos gedacht und auch Gottes wesentliche Allgegenwart nicht differenzlos im notwendigen Naturgeschehen repräsentiert gesehen. Die Natur ist für Luther nicht die Offenbarung, sondern die Maske des allgegenwärtigen Gottes. „Es ist darum unsere Kunst, die Gottheit von der Maske zu scheiden. Das kann die Welt nicht.“36 Gott gibt sich nicht in den Dingen als solchen zu erkennen, sondern bindet sich an das Wort des Evangeliums. Dass Gott da ist und wie er da ist, ist nicht dasselbe. „Denn wie wol er uberal ist ynn allen creaturen und ich möchte yhn ym stein, ym fewr, ym wasser odder auch ym strick finden, wie er denn gewislich da ist, will er doch nicht, das ich yhn da suche on das wort und mich yns fewr odder wasser werffe odder an strick henge. Uberal ist er, er will aber nicht, das du uberal nyh yhm tappest, sondern wo das wort ist, da tappe nach, so ergreiffestu yhn recht. Sonst versuchstu Gott und richtest abgotterey an. Darumb hat er uns ein gewisse weise gestellet, wie und wo man yhn suchen und finden sol, nemlich das wort.“37 Das Wort, so sagt Luther, ist zwar nichts anderes, als Gottes Gewalt und Wesen, d.h. Gott selbst, aber wie vor „der kreatur schöpffung Gotts gewalt und Hand Gotts wesen selbs gewesen, so wird sie noch der creatur schepffung nichts etwas anders worden sein. Er macht ja nichts denn durch sein wort, Gen. 1 Joh. 1, das ist seine gewalt. […] er selbs.“38 Luthers Rede von Gottes wesentlicher Allgegenwart bedeutet zweitens gerade nicht die Aufgabe des personalen Gottesbegriffs und des Gegenübers von Gott und Welt. Es kommt zu keinem gegenseitigen Ineinander von Gott und Welt, von göttlichem und natürlichem Wirken. Gottes Allmacht ist nicht wie bei Giordano Bruno in eine alldurchwaltende Kraft, eine Weltseele aufgelöst. Nein, gerade in seiner wesenhaften Gegenwart bleibt Gott Herr und Schöpfer, personhaftes Gegenüber, von dem Welt, Menschen und Dinge ihr Leben und Bestand haben. Auch das innerlichste Wirken Gottes in den Dingen bleibt ‚außer‘ und ‚über‘ den Dingen, weil es ihnen ————— 35 36 37 38

Vgl. oben I.6.2f. Luther, WA 40 I, 174,3 (gr. Galaterkommentar 1531). WA 19, 492,19–26 (Sermon von dem Sakrament 1526). WA 23, 139, 15–19.

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innerlicher als ihr Selbstverhältnis und daher von ihrem Eigenwirken „dimensional“ verschieden ist. Gottes Wesen ist „den Dingen innerlicher als ihr eigenes Wesen“, könnte Luther wie Bruno sagen, aber die Dinge bleiben eben Kreaturen und Gottes Allwirksamkeit verschwimmt nicht zu einer Allkraft und Weltseele, die bei Bruno „ganz in allem ist, alles erfüllt und den Dingen innerlicher ist als ihr eigenes Wesen, weil sie das Wesen der Wesen, das Leben der Leben, die Seele der Seelen“39 sei. Aber immerhin: Mit Cusanus und nach ihm Bruno hat Luther das Gegenüber von Gott und Welt im Sinne einer kosmologisch-räumlichen Relation gesprengt. „In“, „um“, „oben“, „unten“ sind keine absolut-räumlichen Bestimmungen mehr. Die kosmologisch-absolute Differenz zwischen Oben und Unten, zwischen Himmel und Erde ist aufgehoben. Luthers unräumliches Himmelsverständnis verabschiedet das mit anschauungsräumlichen Konnotationen verbundene und auf räumliche Orte bezogene Verständnis von Transzendenz und Immanenz Gottes. Man kann sogar sagen: Luthers Allgegenwartsvorstellung erfordert „die Preisgabe der geläufigen Begrifflichkeit und ihrer Semantik von Diesseits und Jenseits, Immanenz und Transzendenz, Pantheismus und Theismus, Naturalismus und Supranaturalismus“40. Luthers Realismus41 drängt danach, Gottes Allgegenwart in allen Kreaturen konkret zu fassen und sowohl naturphilosophisch-kosmologische wie auch metaphysische Schemata aufzusprengen. Den allgegenwärtigen und allwirksamen Gott kann man nicht mit Ursache-Wirkungs- oder FormMaterie-Schemata erfassen, sondern nur, wenn man sich selbst auf ihn bezieht. Gott ist nicht an sich und für sich in allem, sondern so, wie er sich mir schenkt – im Wort, im Mahl, in Christus – oder wie er sich vor mir verbirgt. Gottes Gegenwart ereignet sich als Differenz, nämlich als Aufhebung der Verborgenheit oder als Verbergung der Offenbarkeit. „Der Deus manifestus kann dem […] Menschen nur als Deus absconditus gegenübertreten, als Nicht-Gott, als ein mehr als nur theoretisches, als ein praktisches Ärgernis.“42 ————— 39 Bruno, Über das Unendliche, das Universum und die Welten, 54 = Gesammelte Werke, Bd. III, 48. 40 E. Metzke, Sakrament und Metaphysik, 52. 41 Vgl. H.J. Iwand, Luthers Theologie, 37: Luther dränge danach „den wirklichen Gott und den wirklichen Menschen zu finden“, er sei „als Theologe ‚Realist’“, weil er nicht idealistisch „in der Vorstellungswelt, in der geistigen Welt, in der Wertewelt Gott und sein Reich [sucht], sondern in der Wirklichkeit an sich […], nicht hinter der Welt, sondern in der Welt.“ 42 Ebd; „Da die Welt verkehrt ist, da ihr Selbstverständnis in religiösen Fragen ein gesetzliches, ein aktives, ein werkgerechtes ist, kann die Wirklichkeit Gottes ihr auch nur in verkehrter […] Form, in der Negation begegnen“ (ebd.).

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Die Allgegenwart Gottes ist bei Luther weder reine Immanenz noch reine Transzendenz. Sie ereignet sich „in der lebendigen Spannung von Gottferne […] und Gotterfülltheit“43. Dem Deus semper ubique actuosus kann man nur nahe kommen, wenn man dem Allerfüllenden als Ferne oder als Nähe Gottes begegnet, Immanenz und Transzendenz also als konkrete revelatio oder absconditas im eigenen Leben erfährt: als Liebe oder als Zorn Gottes. Die Gegenwart Gottes ist immer leibhaftig und als solche wird sie auch erfahren, als Schmerz der Gottferne oder als Erfülltheit der Gottnähe. Sie ist immer mit einem Erfahrungsbezug versehen und konkret so, wie sie an mir und für mich – oder gegen mich – geschieht. Der Erfahrungsbezug zeigt: Das Motiv für Luthers Ubiquitätslehre war nicht die Überwindung von Raum und Zeit, das war das Motiv der Spiritualisten, die die Gegenwart Gottes von jedem Ortsbezug befreien wollten, um Gott allein in mystisch-geisterfüllter Innenschau zu haben. Diese wollten, „das Christus nicht an örten sich verbunden hat noch hie odder dort wil gefunden sein, sondern ym geist erkennet werden“44, nicht Luther. Luthers unräumliches Himmelsverständnis führt nicht zu einer raumlosen, sondern zu einer erfahrungsleib-bezogenen Raumhaftigkeit der Gegenwart Gottes. Im Inkarnierten und in Wort und Mahl bindet sich die Rechte Gottes „dir zu gut […] an einen ort“, an den er „sich begibt und wonet“. Diese Raumhaftigkeit der Gegenwart Gottes ist einerseits abgegrenzt von einer gegenständlichen Lokalisierung „als den kol und suppen auff deinem tissch“45, andererseits gegen ein mechanisches Raumverständnis, das Gottes Kommen nach Art mechanischer Ortsbewegung denkt, dass er also, wenn er kommt, vorher nicht da war. Er ist „nicht vom hymel gestiegen als auff einer leytter odder herab gefaren als an einem seyl, sondern war zuvor da ynn dem jungfrewlichen leibe, wesentlich und personlich, wie an allen andern enden uberal, nach göttlicher natur art und macht.“46

7.3 Die Ubiquität Christi und die kosmologischen Konsequenzen Die Ubiquitätslehre Luthers ist keineswegs eine naturphilosophischkosmologische oder metaphysische Spekulation, sondern folgerichtiges Implikat von Luthers religiösem Gottes- und Weltbild. W. Elert hat sie aber gepriesen als Durchbruch zu einer neuen Weltanschauung. Luthers Himmelsverständnis vollziehe den „Bruch mit dem alten Weltbild“, der „welt————— 43 44 45 46

L. Richter, Immanenz und Transzendenz im nachreformatorischen Gottesbild, 13. WA 26, 422,11f. WA 23, 151, 20f; 27f. WA 23, 141, 15–18.

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anschaulich geradezu befreiend gewirkt“ und den „Triumph einer von allen theologischen und kirchlichen Vorurteilen freien exakten Naturerkenntnis“47 möglich gemacht habe. Hier habe „der Gottesglaube die Weltanschauung gestaltet“ und „bahnbrechend“ für „die gesamte Entwicklung des modernen Weltbildes“48 gewirkt. Dieses Urteil ist vielleicht übertrieben, es gilt nur in religiöser, nicht in astronomischer Hinsicht. Während Luther wie Melanchthon, die Calvinisten und die späteren Lutheraner Calov, König, Quenstedt und Hollaz in der Astronomie gegen Kopernikus mit Aristoteles und der Heiligen Schrift am geozentrischen Kosmos festhielt49 – Elert spricht selbst richtig von der „Gleichgültigkeit des alten Luthertums gegen die damals beginnende Revolution des Weltbildes“50 und davon, dass „das Luthertum überhaupt hoffnungslos in eine in den letzten Zügen liegende und krampfhaft nach Luft ringende Weltanschauung verstrickt“51 war, die aristotelische nämlich –, während Luther also bezüglich Kosmologie, Astronomie und Physik im Aristotelismus beharrte, hat er gegen die Zwinglianer und die Schwärmer den Himmel als Ort Gottes von der dinglich-lokalen Anschauung befreit. Die Übereinstimmung von kosmologischer Orientierung und soteriologischer Aussage vom Himmel wird aufgesprengt. Der Ort Gottes ist kein Ort im dinglichräumlichen Sinne, da Gott selbst kein Körper ist und weder er noch der erhöhte Christus einen körperlichen, umschriebenen (aristotelischen Orts)Raum einnimmt, „wie die schwermer thun, Welche dencken nicht anders denn als sey die Gottheit leiblicher begreifflicher weise allenthalben als were Gott so ein gros ausgebreitet ding das durch und uberaus alle creatur reichet“52 und setzen „Christum ym hymel an sonderlichen ort“53. Gott lässt sich weder „mit fingern tappen“ noch durch „grobe, fette, dicke gedancken“54 begreifen, er füllt nicht Himmel und Erde wie das Stroh den Sack oder das Brot den Korb55 und Christus sitzt nicht im Himmel wie der Vogel im Bauer oder wie der Storch im Nest auf dem Baum.56

————— 47 Elert, Morphologie des Luthertums I, 364.365.371. 48 W. Elert, Wirkungen der lutherischen Abendmahlslehre in der Geschichte der Weltanschauung, 770; Morphologie I, 364. 49 Melanchthon, Initia Doctrina Physicae, CR XIII, 216f; Hollaz, Examen theologicum acroamaticum, p.I, c.III, qu.21, Bd. 1, 540; vgl. oben I.1.4 den Exkurs geozentrisches Weltbild. 50 Elert, Wirkungen, 770. 51 Elert, Morphologie, 356. 52 WA 26, 333,32–35. 53 Ebd., 422,15. 54 Ebd., 335,22. 55 Ebd., 339; 341 u.ö. 56 WA 23, 159, 12f; WA 26, 422 u.ö.

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Wie aber dann? Luther belässt es nicht bei antirationalistischer Polemik und dem Hinweis im Sinne einer duplex veritas, dass die Vernunft „in“ bloß localiter als circumskriptive In-Relation denken kann, während der Glaube Gottes In-Sein zugleich als „über“ und „außer“ erfasst.57 Er belässt es auch nicht bei paradoxen Formeln, die er aus der negativen Theologie der mathematischen Mystik übernimmt: „Nichts ist so klein, Gott ist noch kleiner. Nichts ist so gros, Gott ist noch grösser. Nichts ist so kurz, Gott ist noch kürzer. Nichts ist so lang, Gott ist noch lenger. Nichts ist so breit, Gott ist noch breiter. Nichts ist so schmal, Gott ist noch schmeler und so fort an. Ists ein unaussprechlich wesen uber und ausser allem das man nennen oder dencken kann.“58 Auch in der Negation bleibt der Bezug zum Ort erhalten. Die Komparative binden den überräumlichen Gott an räumliche Dimensionen. Die Überbietung, das ist der Unterschied zur reinen negativen Theologie, ergibt sich aus komparativem, nicht allein superlativem Vergleich zum Körperhaften, und sie ergibt sich als Über- und Unterbietung, oder besser „Inner-Bietung“. Gott ist auf den Ort bezogen, nicht als ganz Anderer völlig abgezogen. Der Deus semper maior ist auch semper minor, seine Überräumlichkeit auch „inner-örtlich“. Luther sucht darüber hinaus das Verhältnis Gottes zum Raum positiv zu denken („Ich rede izt nicht aus der schrift, Es gilt denckens odder las gleich schwermens gelten“59). Er begnügt sich nicht mit der Negation des lokalen Charakters des Himmels und der Rechten Gottes, sondern „sucht positiv das Verhältnis Gottes in seiner allerfüllenden Gegenwart zu Raum und Räumlichkeit neu zu begreifen und bringt damit auf seine Art eine Frage in Bewegung, die für die neuzeitliche Metaphysik […] zu einem Kernthema wurde: wie nämlich Gott und der Geist überhaupt in der Raumwirklichkeit gegenwärtig sein können.“60 Gegenüber einer starr lokalisierenden Denkweise versucht Luther, die Möglichkeit der gleichzeitigen Gegenwart einer Sache an verschiedenen Raumorten aufzuzeigen. Er erläutert die Möglichkeit gleichzeitiger, ungeteilter Gegenwart mit neuplatonischen Bildern, die man auch bei Plotin, Dionysius Areopagita, M. Eckart, H. Seuse und G. Bruno finden kann: Die Stimme, die in einem Augenblick in vier, fünf, zehntausend Ohren ist, das Spiegelbild eines zerbrochenen Spiegels, das in tausend Scherben zugleich dasselbe, ganze Bild zeigt, das Sehen, das zugleich über eine Distanz von sechs Meilen an allen Orten gegenwärtig ist, die Sonne, die, im See gespiegelt, von allen Seiten das Bild der einen, ganzen Sonne zeigt.61 Er zieht die scholastische Unter————— 57 58 59 60 61

Ebd., 339; 341. Ebd., 339,39–340,2. Ebd., 337,14. Metzke, Sakrament und Metaphysik, 44. WA 26, 330; 337f; 414f.

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scheidung zwischen der circumscriptiven, der diffinitiven und der repletiven Gegenwart, die ihm über Ockham und Biel bekannt war,62 heran und weitet die letztere, exklusiv göttliche, übernatürliche, der Vernunft unbegreifliche und nur dem Glauben im Wort fassliche Allgegenwart, nach der Gott „zu gleich gantz und gar an allen örten ist und alle örte fullet und doch von keinem ort abgemessen und begriffen wird nach dem raum des orts“63 auf die menschliche Natur Christi aus: „Wo du mir Gott hinseztest, da mustu mir die menschheit mit hin setzen.“64 „Sic Christus quoque extra locum est, contra illos, qui captivant Christum loco, cum tamen ubique sit. […] Ubi Deus, ibi et caro Christi est; sed Deus est ubique. Ergo et Christus quoque ubique est.“65 Kraft der unio personalis der beiden Naturen in der einen Person Christi und der auf das genus maiestaticum zugespitzten communicatio idiomatum,66 hat Christus auch secundum naturam humanam an der göttlichen, „himmlischen Weise“ teil (für die Realpräsenz auch der Menschheit Christi in Brot und Wein würde sogar mit Ockham und Biel die diffinitive, „englische“ Weise ausreichen, nach der der auferstandene Leib nicht mehr von Stein oder Tür eingezäunt ist, woraus folgt, dass es Luther keineswegs darauf ankommt, festzulegen, nach welchem Modus Christus allgegenwärtig ist, sondern zu zeigen, dass sein Leib auf mehr Weisen als nur „leiblich und begreifflich etwo sein“ kann67). Alles, was oben über Gottes wesentliche Allgegenwart gesagt wurde, kann nun auch von Christus, sogar von seiner menschlichen Natur gesagt werden. „Item wir glewben, das Jhesus Christus nach der menscheit sey gesetzt uber alle creaturen und alle ding erfulle, wie Paulus sagt Eph. 4,10. Ist nicht allein nach der Gottheit sondern auch nach der menscheit ein Herr aller ding, hat alles ynn der hand und ist uberal gegenwertig“68, so dass „alles durch und durch vol Christus sey auch nach der menscheit“69. ————— 62 G. Biel, Collectorium circa quattuor libros sententiarum, p.I, dist. 37 qu. unica a. 1 not. 4C, Bd. I, 677; vgl. Hilgenfeld, Mittelalterlich-traditionelle Elemente in Luthers Abendmahlsschriften, 183–203. 63 WA 26, 329,28f. 64 Ebd., 333,6f; vgl. 332,31f. 65 WA 20, 163, 3–7 (Kohelet-Vorlesung 1532). 66 Hierzu ausführlich die Beiträge in O. Bayer/B. Glaede (Hg.), Creator est Creatura. Luthers Christologie als Lehre von der Idiomenkommunikation. 67 WA 26, 331,24f.31f; „Ob nu Gott noch mehr weise habe und wisse, wie Christus leib etwo sey, will ich hiermit nicht verleucket, sondern angezeigt haben“ (336,28f), nach Abhandlung aller drei Modi; dass damit aber nur die reine Möglichkeit der Ubiquität des Leibes und der Realpräsenz im Mahl angezeigt sei (so T. Mahlmann, Das neue Dogma der lutherischen Christologie, 171f), ist sicher falsch. Es ist auch deren Wirklichkeit gedacht. Für Luther liegt alles daran, dass „Gott und Christus der gesamten Schöpfung gegenwärtig“ sind (so richtig A. Peters, Realpräsenz, 82), nicht nur sein können, wenn auch der Modus nicht durch die Vernunft (philosophisch) festgelegt werden kann. 68 WA 19, 491,17–20. 69 WA 26, 332,21f.

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Sind dies die „entsetzlichen Speculationen über die Ubiquität des Leibes Christi, die sich auf den höchsten Höhen scholastischen Widersinns bewegen“, wie A. v. Harnack und W. Dilthey gebrandmarkt haben?70 Ist der Leib Christi nun unterschiedslos „an allen Orten, in Stein und Holz“71, so Melanchthons Kritik am allörtlich-lokalen „ubique esse“? Ist er, wie Gott selbst, „im Stein, im Feuer, im Wasser oder auch im Strick“72, oder, schlimmer noch, „im Darm eines Mistkäfers oder gar in der Kloake […] nicht weniger als im Himmel“73, so Luthers Steigerung einer Provokation Erasmus’? In der Sache ja, aber als leichtfertig daherschwätzende oder allgemein scholastisch-rationalisierende Rede, nein! Luther zieht die Ubiquitätslehre nicht spekulativ aus zu einem allgemeinen, vom religiösen Erfahrungsbezug und dem konkreten Wortgeschehen abgelösten lokalörtlichen christologischen Pantheismus74. Zwar „muss“ der Leib Christi überall sein, wo Gott ist,75 aber nicht aus äußerer, sondern innerer Notwendigkeit. So zögerlich, wie Melanchthon, der über die „ungeheuerliche Ubiquität“ (Calvin) nicht einmal disputieren wollte76, Chemnitz und die FC, dass der Sohn Gottes secundum humanam naturam anwesend sein kann, wo, wann und wie immer er will („Multivolipräsenz“77), da die menschliche Natur aus eigenem Wesen nicht ubique praesens ist,78 war Luther nicht. Christi Leib ist zwar nicht von sich her unendlich oder aufnahmefähig fürs Unendliche, aber dadurch, dass der Sohn Gottes die Menschheit in die Einheit seiner Person aufnahm, dazu fähig gemacht. „Dieses ‚Vermögen‘ ist nicht bloße Möglichkeit, sondern realisierte Fähigkeit.“79 Also gilt: „wo du kanst sagen: Hie ist Gott, da mustu auch sagen, So ist Christus der mensch ————— 70 A.v. Harnack, Dogmengeschichte, Bd. III, 875; W. Dilthey, Gesammelte Schriften, Bd. II, 223. 71 Melanchthon, Brief 6705 v. 9.3.1559, Opera, Bd. IX (=CR 9), 765. 72 WA 19, 492,20f. 73 WA 18, 621,16–18 = Cl 3, 113,8–10, vgl. 29f, mit Bezug auf Erasmus, De libero arbitrio, I a9, in: Vom freien Willen, hg. O. Schumacher, 15. Luther verurteilt wie Erasmus derart öffentlich schwätzende Prediger oder disputierende Sophisten, steigert aber in der Sache die Immanenz und Diesseitigkeit Gottes: In Darm und Kloake ist Gott nicht weniger als im Himmel! Schließlich war der Sohn Gottes auch im Leib der Jungfrau leibhaftig am unreinen Ort und bezeugt die Schrift die wahrhaft notwendige Lehre (uerum necessario discet), dass er überall ist und alles erfüllt (WA 18, 623). 74 Gegen Zwingli wird der Leib Christi nicht in Stücke geteilt ausgebreitet, sondern ungeteilt, wie ein Kirschkern sich ungeteilt in den Baum austeilt, vgl. WA 19, 493. 75 WA 26, 340,24.36f; 341,1.11 u.ö. 76 „De ubiquitate non est disputandum” (Melanchthon am 16.3.1546 zu 1. Kor 11,24, nach WA 48, 236,7f); Calvin, Institutio religionis christianae IV, 17,30, S.970. 77 Hierzu vgl. H.E. Weber, Reformation, Orthodoxie und Rationalismus, Bd. I/2, 56; Mahlmann, Das neue Dogma der lutherischen Christologie, 25.222f; Elert, Morphologie des Luthertums I, 204; J. Baur, Art. Ubiquität, 227f. 78 SD VIII, Nr. 90.92, BSLK 1047f. 79 Baur, Art. Ubiquität, 233.

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auch da“80, sonst wäre es ja so, dass die eine Person die Menschheit ablegen könnte, wie Meister Hans seinen Rock auszieht, wenn er sich schlafen legt.81 Die leibliche Ubiquität Christi ist keine spekulative Theorie zur Erklärung der Realpräsenz im Sakrament, sondern innere Konsequenz der Christologie. Es kann aufgrund der Einheit der Person keinen Ort mehr geben, an dem Christus nicht als Gott und Mensch ist. „Wo du einen ort zeigen“ könntest, „da Gott were und nicht der mensch, so were die person schon zurtrennet.“82 Jedoch: Der allenthalbene Leib Christi wird nicht selbst ein alterum infinitum neben Gott, und die Welt aufgrund der Allgegenwart Gottes nicht selbst „ein unendlich ding gleich wie Gott selber. […] Ist doch die welt an yhr selbs nicht infinitum odder unendlich.“83 Fazit: „Die Relativierung des räumlichen Himmels und des Jenseits als eines besonderen höheren Ortes war eine radikale und bedeutete doch keine Vergottung des Diesseits.“84 Luther löst die Wirklichkeit nicht monistisch in eine Gott-Welt-Alleinheit auf, aber er denkt Gott und Welt auch nicht als zwei vorhandene Seinsgrößen, die in einer gegenständlichen, oder gar anschauungsräumlichen Relation stünden. Diesseits und Jenseits verhalten sich nicht wie zwei Räume, sondern die göttliche Wirklichkeit durchdringt die weltliche ganz und gar und schließt den Welt-Raum zu einem geschlossenen, ebenwertigen Ganzen zusammen.85 Die ontologisch-metaphysischen Konsequenzen von Luthers christologisch-soteriologischer Immanzenztheologie sind mit E. Metzke diese beiden: „Wenn Gott überall in gleicher Weise ganz gegenwärtig ist, im Himmel wie auf Erden, im Kleinsten wie im Größten, so gibt es keinen absoluten Seins- oder Wertvorrang eines bestimmten örtlichen Bereichs mehr. Der gesamte Raum ist gleichförmig und gleichwertig hinsichtlich Gottes. […] [Und:] Indem Luther die statischlokalen Vorstellungen überwindet und Gott nicht mehr an einen festen bestimmten Ort gebunden sein lässt, sondern jede Umzäunung aufhebt, öffnet er den Blick für den Raum in seiner grenzenlosen Unendlichkeit als universalen Ort Gottes.“86

————— 80 81 82 83 84 85 86

WA 26, 332,31f; kursiv U.B. Ebd., 333,8f. Ebd., 332,33f. WA 26, 343,24f. Metzke, Sakrament und Metaphysik, 47. Elert, Morphologie des Luthertums I, 362. Metzke, Sakrament und Metaphysik, 44.

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7.4 Soteriologische Ubiquität und Realpräsenz Christi (Brenz) Noch deutlicher als bei Luther wird bei Johannes Brenz (1499–1570), dass es sich bei der Ubiquitätslehre nicht um eine metaphysisch-ontologische Spekulation handelt, sondern um die soteriologisch bestimmte Christologie, die gleichwohl nicht ohne kosmologisch-weltanschauliche Konsequenzen ist. Wir halten uns an die ausgereifte Christologie der Spätzeit, wo der Zusammenhang von Ubiquität und Raumfrage besonders deutlich wird, blicken zuvor jedoch kurz auf die Entwicklung der Frühzeit. 1526 trat der junge Brenz als führender Verfasser des „Syngramma suevicum“ hervor, einer Gegenschrift von 14 schwäbischen Predigern gegen Ökolampads „Buch über die wahre Auslegung der Worte des Herrn ‚Das ist mein Leib‘ gemäß den ältesten Autoren“, das die Reformatoren u.a. von Schwäbisch Hall und Heilbronn auf die Seite der oberdeutschen, signifikativen Auslegung von Zwingli, Bucer, Ökolampad, Karlstadt u.a. ziehen wollte.87 Brenz vertrat im Syngramma gegen die tropische und spiritualistische Auslegung von „Das ist mein Leib“ die Realpräsenz von Leib und Blut Christi, hielt aber mit Ökolampad am lokalen Verständnis der Rechten Gottes fest. Das Problem war, wie beides vermittelt werden konnte. Obwohl Brenz Luthers Unterscheidung zwischen regnum Christi und corpus Christi aus der Schrift wider die himmlischen Propheten kannte,88 übernahm er noch nicht Luthers Ubiquität der Rechte Gottes. (Luther hat in der zweiten, freien, für ein allgemeines Publikum bestimmten Übersetzung des Syngramma, die er mit veranlasst und zu der er, wie auch zur ersten, wörtlichen Übersetzung, ein zustimmendes Vorwort beigefügt hat, die Ubiquitätslehre eintragen lassen. Der Text „Sedes tu quidem ad dexteram patris, sed interim tamen nobis dona tua non denegas“ wurde übersetzt mit „das er also gen hymel gestigen und uberal ist, das er auch herniden bey uns ist […] Schickt uns vergebung der sunde und alle notdurfft der seelen seligkeit, ist und kömpt selber zu uns und yn das brod […] und bleybt dennoch zu der rechten hand Gottes seins vaters (das ist an allen enden ynn hymel und auff erden) sitzen und wonen“89.) Die Realpräsenz verstand Brenz im Syngramma als Präsenz der Gaben Christi (Vergebung, Gerechtigkeit, Heiligung) im Wort durch den Geist. Weil das Wort vehiculum des Geistes ist und der Geist viel mehr mit Christus verbunden ist als Leib und Blut, ist auch das Wort mit Christus verbunden. Wenn der mit dem lokal zur Rechten Gottes sitzenden Christus verbundene Geist im Mahl gegenwärtig ist, sollten es auch die mit dem Wort verbundenen Leib und Blut Christi sein. „Das Wort ist nämlich Vehikel des Geistes. […] Wenn schon der heilige Geist uns durch das Vehikel des Geistes zukommt, obwohl er währenddessen mit dem zur Rechten des Vaters sitzen-

————— 87 Zum historischen Kontext des Syngramma suevicum vgl. M. Brecht/H. Ehmer, Südwestdeutsche Reformationsgeschichte, 114–121; zur Verfasserschaft J. Brenz, Frühschriften 1, 222– 233, hier 234–278 auch der Text; zu Inhalt und Argumentation vgl. M. Brecht, Die frühe Theologie des Johannes Brenz, 73–89. 88 Brenz, Frühschriften 1, 275,4f; Luther, WA 18, 211,14ff. 89 WA 19, 527.

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den Christus engstens verbunden ist, warum kann durch das Wort als Vehikel uns nicht Leib und Blut Christi zukommen, zumal, wie wir schon sagten, der heilige Geist mehr mit Christi Leib und Blut verbunden ist als dieses?“90 Wegen des Wortes kann man sagen, dass das Brot der wahre Leib Christi sei, nicht tropisch, sondern er selbst, ungeachtet der Tatsache, dass Christus währenddessen zur Rechten Gottes sitzt, da er durch das Wort Leib und Blut und alle seine Gaben gibt.91 Im Johanneskommentar 1527 hat Brenz dann das Sitzen zur Rechten Gottes als alles erfüllende, allgegenwärtige Ausübung der Herrschaft und Mitteilung der Gaben Christi verstanden. „Ascendit enim ideo super omnes coelos, ut omnia impleret et daret dona hominibus.“92 Himmel und Himmelfahrt sind jetzt funktional, nicht mehr primär lokal gedacht.93 Christus ruht nicht untätig im Himmel, sondern übt seine Herrschaft aktuos und allgegenwärtig regierend aus. 1528, in einem Zusatz zur zweiten Auflage des Johanneskommentars und in einer Himmelfahrtpredigt hat Brenz gegen Zwinglis Alloiosis die Einheit der Person und die communicatio der Güter und Werke vertreten.94 Der irdische und der himmlische Christus üben sein Amt als ganzer, als Gott und Mensch aus, so dass einer dem andern an seinen Gütern Anteil gibt. Dass es sich bei der communicatio idiomatum um eine reale Anteilgabe handelt (communicatio idiomatum realis), hat Brenz explizit erst 1561 in der ersten seiner vier großen christologischen Schrift gesagt.

Vorbereitet war die ausgereifte Spätchristologie durch die Apologia Confessionis Virtembergicae 1557, deren zentraler Satz lautet: Wo der Sohn Gottes ist, da ist auch der Mensch. „Ubicunque sit filius Dei, qui est ipse verus et aeternus Deus, ibi etiam sit homo.“95 Also hat Christus auch secundum humanam naturam an der Allgegenwart teil (die er vor der Himmelfahrt nur verdeckt, danach manifest ausgeübt hat96). Da Gott alles erfüllt, ————— 90 Syngramma suevicum, E2b, in: Brenz, Frühschriften 1, 275,25–33. 91 „panem coenae esse verum Christi corpus, neque tropicum, neque hydropicum, sed illud ipsum, quod pro nobis traditum est, non detrahendes interim Christum a dextris patris, sed donum corporis et sanguinis verbo commissum et conservatum et per verbum ad panem advectum summa animi gratitudine suscipientes“ (ebd., E4a, 278,3–8). 92 In Evangelion sec. Ioannem, Exegesis, zu Joh 6,63, Opera Bd. VI, 860. 93 „Sedere autem ad dextram patris non est corporali quodam modo, prope Patrem sedere […] sed est, tam latum regnum occupare, quam Pater occupant, est eiusdem esse potentiae, sapientiae et maiestatis cum Deo patre. Nam Christus postea a mortuis resurrexit, non solum ut Deus, verum etiam ut homo, ibi regnat, ubi Pater regnat, hoc est, ubique, sive in coelo, sive in terra, sive in mari, sive in morte, sive in inferno“ (In Evangelion sec. Ioannem, Exegesis, zu Joh 20,17, Opera Bd. VI, 1001). 94 „Qui enim facta fuisset vera incarnatio aut qui Deus et homo vere in unam personam convenissent, si alter alteri sua bona non communicasset?“ (In D. Iohannis Evangelion Exegesis, Zusatz der 2. Aufl. 1528, Bl. 244b). 95 Brenz, Apologia Confessionis Virtembergicae, Opera Bd. VIII, 509. 96 Zum Streit zwischen Tübingen und Gießen, ob Christus im Stand der Erniedrigung (status exanitionis) nach seiner menschlichen Natur die göttlichen Majestätseigenschaften, in deren Besitz (Ktesis) er war, verdeckt und verhüllt ausgeübt hat (Krypsis, Tübingen), oder sich des Gebrauchs (Chresis) vor der Erhöhung (status exaltationis) entäußert und enthalten habe (Kenosis, so die

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folgt, dass auch der Mensch Christus, d.h. Leib und Blut Christi, in Brot und Wein des Mahles sind, und zwar notwendig.97 Kraft des genus maiestaticum der Idiomenkommunikation ist der Mensch Christus dort, wo Gott ist. Vor Gott gibt es keinen Unterschied der Orte. Wie die Rechte Gottes alle Orte erfüllt, ja jenseits ihrer steht und nirgends beschlossen ist, „so ist vor Gott kein Unterschied der Orte, sondern alle Orte, oben und unten, sind ihm ein Ort, ja kein Ort, ja nicht einmal ein Punkt des Raumes, ja noch nicht einmal dies.“98 Aus der (weit stärker als bei Luther so akzentuierten) negativen, ortlosen Ubiquität folgt: Leib und Blut Christi sind sogar schon vor dem Mahl (all-)gegenwärtig, denn auch der Mensch Christus steht über Raum und Zeit, erfüllt Himmel und Erde und kann vom Himmel der Himmel nicht begriffen werden!99 Diese, in Luthers Satz „Wo du mit Gott hinsetzest, da musst du mir die Menschheit mit hinsetzen“ höchstens angelegte allgemeine Ubiquität, ist gewiss eine spekulative Ausweitung und Übertragung der allgemeinen Allgegenwart Gottes, aber immer noch soteriologisch rückgebunden. „Es geht nicht um Ontologie oder um die den Schwaben nachgesagte Freude an tiefsinniger Spekulation, sondern um die funktionale Christologie, die von der Soteriologie her bestimmt ist.“100 Dies gilt auch noch für die vier großen christologischen Schriften, die Brenz in Auseinandersetzung mit Heinrich Bullinger und Petrus Martyr Vermigli zwischen 1561 und 64 verfasste. Hintergrund101 waren calvinistische Tendenzen im Abendmahlsverständnis eines württembergischen Pfarrers, die abzuwehren Brenz im Auftrag Herzog Christophs 1559 ein Bekenntnis formulierte, das alle „Theologen und Kirchen-Diener im Fürs-

————— Gießener) vgl. J. Baur, Auf dem Wege zur klassischen Tübinger Christologie. Einführende Überlegungen zum sogenannten Kenosis-Krypsis-Streit. 97 „Deus enim omnia implet. Sequitur ergo, quod et homo Christus, hoc est corpus et sanguis Christi, sint in pane et vino Coenae. Adhaec, homo Christus ibi est, ubi est dextera Dei. Sedet enim ad dexteram Dei. Quis autem negaret, in coena et in pane ac vino coenae esse dexteram Dei? Necessario igitur fatendum est, quod et ibi sit homo, seu corpus et sanguis Christi“ (Brenz, Apologia Confessionis Virtembergicae, Opera Bd. VIII, 511); die Realpräsenz wird also aufgrund der Personeinheit rein aus der Allgegenwart Gottes gefolgert, eine Begründung aus den Einsetzungsworten ist nicht nötig, der Bezug zur Rechten Gottes, also zum erhöhten Christus, nur Zusatzargument. 98 „Ita in conspectus Dei nullum est discrimen diversorum locorum, sed omnia loca, supera, et infera, sunt ei unus locus, imo nullus locus, imo ne loci punctum quidem, imo ne hoc quidem“ (ebd., 509). 99 „ubicunque sit filius Dei, […] ibi etiam sit homo a Deo in unitatem personae assumptus, et excellat iam omnia tam tempora, quam loca, habeatque coelum sedem, ac terram scabellum pedum suorum, et impleat coelum et terram, imo ne possit quidem a coelis coelorum comprehendi“ (ebd., 509). 100 Brecht, Die frühe Theologie des Johannes Brenz, 191; zu Brenz’ Rechtfertigungslehre vgl. Weber, Reformation, Orthodoxie und Rationalismus, I/1, 312–321. 101 Alle Details bei H.C. Brandy, Die späte Christologie des Johannes Brenz, 51–61.

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tenthum Würtemberg“ auf die „wahrhafftige Gegenwärtigkeit des Leibs und Bluts Jesu Christi im heiligen Nachtmahl“ und die Ubiquität auch des Leibes Christi, der nach Eph 1,21 und 4,10 alles erfüllt, verpflichtete. Das Stuttgarter Abendmahlsbekenntnis vom 19.12.1559102 verteidigte Brenz mit einer Zusammenstellung einschlägiger Lutherzitate, zu dessen Veröffentlichung er Anfang 1561 einen eigenen systematischen Entwurf „De personali unione duarum naturarum in Christo et ascensu Christi in coelum ac sessione eius ad dextram Dei patris, qua vera corporis et sanguinis Christi praesentia in coena explicata est et confirmata“ zufügte103. Hier wird ausgehend vom Grundsatz der Apologie der Confessio Virtembergica „Überall, wo Gottes Sohn, wahrer und ewiger Gott, ist, da ist auch der von Gott in die Personeinheit aufgenommene Menschensohn“104 wegen der unteilbaren Personeinheit die communicatio idiomatum realis105 und daraus die alles erfüllende Ubiquität des Leibes Christi gelehrt, der die himmlische Majestät der Rechten Gottes seit der Inkarnation innehat, kraft derer er nicht nur an einem Ort, sondern überall, in allem alles regierend gegenwärtig ist106. Zeitgleich richtete Bullinger gegen das Stuttgarter Bekenntnis die „Tractatio verborum Domini: in Domo patris mei mansiones multae sunt“, auf die Brenz im Sommer 1561 lat. und dt. mit der „Sententia de libello D. Henrici Bullingeri, cui titulus est: ‚Tractatio […]‘“ resp. „Bericht von dem büchlin […]“ antwortete. Gegen Petrus Martyr Vermiglis im Herbst 1561 gegen Brenz „De personali unione“ gerichteten „Dialogus de utraque in Christo natura“ sowie gegen Bullingers „Responsio, qua ostenditur sententiam de coelo et dextera Dei libello Bullingeri“ vom Frühjahr 1562 verfasste Brenz im September 1562 seine Hauptschrift „De majestate Domini nostri Iesu Christi ad dextram Dei patris et de vera praesentia corporis et sanguinis eius in coena“, dt. „Von der mayestet unsers lieben Herrn und einigen heilands Jesu Christi zu der gerechten Gottes“, sowie gegen eine weitere Gegenschrift Bullingers im Frühjahr 1564 die „Recognitio Propheticae et Apostolicae Doctrinae de vera maiestate Domini Nostri Iesu Christi“.

7.5 Kosmologische Implikationen von Brenz’ Spätchristologie Die späte, ausgereifte Christologie von Johannes Brenz, als Schriftexegese und in Abgrenzung von den Schweizern gewonnen, schließt sachlich an ————— 102 „Bekanntnus und Bericht der Theologen und Kirchen=Diener im Fürstenthum Würtemberg von der wahrhafftigen Gegenwärtigkeit des Leibs und Bluts Jesu Christi im heiligen Nachtmahl“, Text dt. und lat. bei C.M. Pfaff, Acta et scripta publica Ecclesiae Wirtembergicae (1720), 334–339/340–344. 103 Die christologischen Schriften Brenz’ werden wie folgt abgekürzt und zitiert: De personali unione duarum naturarum in Christo, 1561 = P; Sententia de libello Bullingeri/Bericht Ioannis Brentii von dem Büchlein Bullingeri, 1561 = S/B; De maietate Domini nostri Jesu Christi/Von der Mayestet Vnsers lieben Herrn, 1562 = M/May, alle zit. nach Brenz, Christologische Schriften, Teil 1; Recognitio propheticae et apostolicae doctrinae, 1564 = R, zit. nach Brenz, Opera Bd. VIII. 104 „ubicunque est filius Dei verus et aeternus Deus, ibi sit etiam filius hominis in unitatem personae ad Deo assumptus“ (P, 5,8f). 105 P 22; 32. 106 P 54; 62.

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Luthers Abendmahlsschriften an, ist aber selbständig durchgeführt, systematischer und z.T. schärfer akzentuiert. Sie ist ungeachtet der soteriologischen Orientierung voller kosmologischer Implikationen. Wir stellen die wichtigsten summarisch zusammen.107 Mit scharfer und z.T. witziger Polemik richtet sich Brenz gegen das Schweizer Himmelsverständnis. Vermigli und Bullinger hatten an der Lokalität des (im Unterschied zum sichtbaren und vergänglichen Himmel unsichtbaren, geistlichen, ewigen) coelum empyreum und der Himmelfahrt festgehalten, weil nur ein lokalisierter Leib Christi wirklicher Leib sei und nur der Himmel als „certus locus“ circumskriptives, räumliches Sein der Leiber der Seligen und ihrer leiblichen Auferstehung sichere.108 In einem ubiquitären Himmel wären die Leiber „ubique“, d.h. unendlich, und kein „gewisser Ort“ der leiblichen Auferstehung zur erwarten, wie auch kein fester, vom Himmel räumlich getrennter Ort der Hölle. Brenz mische in der Kosmologie Himmel und Hölle, wie er in der Christologie Gottheit und Menscheit mische.109 Wäre der Himmel „ein gwiß ort, darin man stehe, sitze und spaciere“, so spottet Brenz, dann müsste ja auch Gott Vater dort „localiter“, „raumlicherweiß“ sitzen und spazieren, ebenso die Engel und Menschen, sie alle sollten es bequem und fein lustig haben, mit Christus am Tisch sitzen, essen, trinken und tanzen,110 wie sich die Maler „einen grossen, weitten, breitten himmel“ imaginieren, „darin Gott der vatter auf einem küniglichen stul und neben im der son Christus raumlicherweis sitze, auch darob der heilig geist schwebe und darbei die h. jungfraw Maria knue und sonst alle patriarchen, propheten, aposteln und heiligen gerinsweiß umbher, ein jetliche rott in seiner ordnung, spatzieren, neben und bey den neun chören der engel.“111 Solche anthropomorphen, „kindisch und gantz menschlich[en]“ Vorstellungen haben sich von Aristoteles’ Axiom, dass jeder Leib an einem Ort oder in Orts-Bewegung sei, eine Brille aufsetzen lassen, so dass sie, wo in der Schrift ‚corpus‘ oder ‚coelum‘ steht, einen räumlichen Ort phantasieren, in dem man geht, steht oder in physischer Bewegung spaziert.112 Abgesehen davon, dass die Hölle als umgrenzter Ort im Mittelpunkt der Erde viel zu eng wäre für die vielen Verdammten,113 würde Christus, im äußersten Him————— 107 Und verweisen für Details sowie die christologischen Probleme im engeren Sinne auf die ausgezeichnete, umsichtige Arbeit von Brandy, Die späte Christologie des Johannes Brenz. 108 M 202. 109 Vgl. Brandy, Die späte Christologie des Johannes Brenz, 88–92; 101–105. 110 May 261; 411; B 151/153. 111 B 165,23–29. 112 M 406 /408; auch P 6,24–26. 113 M 460.

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mel sitzend, täglich mit dem Firmament einmal wie ein Astronaut um die Erde kreisen114 – wenn er denn überhaupt schon dort wäre! Die Entfernung von der Erde zum Fixsternhimmel mit 16 338 562 deutschen Meilen berechnet, würde schon die Fallzeit einer Bleikugel 500 Jahre betragen. Wäre Christus so langsam, wie vom Ölberg zu den Wolken auch von den Wolken durch die Sphären von Mond, Merkur, Venus, Sonne, Mars, Jupiter, Saturn, dem firmamentum und coelum cristallinum ins Empyreum gefahren, denn nach Vermigli kann keine räumliche Bewegung blitzartig geschehen, „so ist warlich ein sorg darbey, er möchte noch zu dieser zeit nicht in seiner residentz sein.“115 Die Himmelfahrt, die Brenz bis in die Wolken als raumzeitlichen Vorgang am 40. Tag nach der Auferstehung gar nicht leugnet,116 ist über den Wolken nicht als lokaler Aufstieg zu denken, wie auch der Sohn Gottes zur Inkarnation nicht auf einer Leiter herabgestiegen ist. Oder schwebte er doch auf angenommenen Flügeln oder ließ sich an einem Seil in den Uterus der Jungfrau herab, fragt Brenz sarkastisch?117 Weniger polemisch gesagt: Der Himmel ist nicht absolut oben, und die Hölle nicht absolut unten. Dass Gottes Wohnung auch in der Schrift „oben“ im Himmel angenommen wird, ist eine anthropomorphe und zugleich politische Redeweise, die realsymbolisch anzeigt, dass es keinen höheren „sitzstul“, also keinen höheren König oder Herrn gibt.118 Das Empyreum als umgrenzter, räumlicher Ort ist „auß des Aristotelis sprüchen gezimmert“, nicht biblisch-christlich.119 Wenn Christus nach Hebr 4,14 die Himmel durchdrungen hat, blieb er nicht an einem Ort sitzen, wenn er über alle Himmel erhoben ist, meint dies kein lokales Überragen, sondern die Überlegenheit der „Rechte Gottes“ über alle Macht. „Sedere ad dextram patris“ heißt natürlich nicht, dass der Mensch Christus in seiner Majestät in einen „leiblich und natürlich ort oder himmel raumlicherweiß“ eingeschlossen ist, gar an einem einzigen Ort, sondern ————— 114 P 52. 115 B 159; May 261,37; diese und noch krassere Rechnungen entnahm Brenz einer mittelalterlichen Zusammenstellung des Johann Kaisersperger, die ein gewisser Alphaeus Valesianus mit ausdrücklicher Billigung Brenz’ (M 260,5) als Anhang zu B anfügte (B 184–189). 116 B 145; das ganze Luthertum hielt aus biblischem Realismus trotz des unräumlichen Himmelsverständnisses am raumzeitlichen Ereignis der Himmelfahrt im Bereich der Erd- und Luftsphäre fest. So bestimmt König als terminus a quo den Berg nahe Bethanien, als terminus per quem den aerischen Himmel, durch den Christus erhoben wurde, bis die Wolken ihn aufnahmen, als terminus ad quem aber das unörtliche pou? beatorum (locus non sit, id circo nec localis in illud sit transitus), König, Theologia posivita acroamatica, p.I, §§388–390.394. 117 „Ubi erat illud coelum, e quo Christus descendit? Et quomodo ex eo in uterum uirginis peruenit? Num descendit per scalas? an assumtis alis deuolauit? an demisit se per funem?“ (R 1040,1–3). 118 May 421. 119 May 423,15f; vgl. 417; P 52.

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dass er nach Eph 1,21 u. 4,10 alles erfüllt,120 wie Gott nach 1.Kön 8,27, Jes 66,1, Ps 139,7–10 u.v.a Jer 23,24 Himmel und Erde, also alles erfüllt. „Alles erfüllen“ heißt „allen Dingen persönlich, und das auf himmlische, nicht menschliche Weise, zugegen sein, alles im Blick haben und gegenwärtig regieren“121. Der Himmel und die Rechte Gottes sind also nicht kosmologisch, sondern theologisch, von Gott her bestimmt. Wo Gott ist, dort ist der Himmel, so dass man in der Bibel die lokal gemeinten von den metaphorischen Stellen wie Joh 14,3 („nomen ‚loci‘, non est proprie, sed metaforikvqw dictum“) unterscheiden muss. Im Himmel sein, heißt bei Gott sein. Das himmlische, künftige Leben mag man einen ‚Ort‘, eine ‚Wohnung‘ im ‚Haus‘ des Vaters nennen, aber sind doch „apud Deum et in futura coelesti vita“ kein „raumliche und underschidliche gemächle, kämerle, stüble und andere losament, wie ein küniglich schloß hier auff erden“122. Von Gott her ist der eschatologische ‚Ort‘ qualitativ als Ort der Freude und der Fülle des Heils bestimmt – und die Hölle als Ort der Zorns. Hast du durch Christus „ein gnädigen Gott; du lebest oder sterbest dann, so bistu im himmel. Hast du aber ein zornigen Gott, so würst du in der höll sein, wann du schon mitten under den kindern Gottes werest und an dem höchsten ort der erden oder des sichtbarlichen himmels“123. Für die Schweizer ist dieser Himmel nirgends – der sterbende Vermigli hat dem mit Phil 3,20 „Unser Bürgerrecht ist im Himmel“ Trost spendenden Bullinger geantwortet: „Aber nicht in Brenz’ Himmel, der nirgendwo ist“124 – für Brenz ist die eschatologische Erwartung gerade deshalb gewiss, da sie nicht lokal ist. Im neuen Himmel und in der neuen Erde, wird Gott alles in allem sein, so führt Brenz an zwei hynmischen Stellen die Vollendung nach 1.Kor 15,28 aus: „So würdt nun Gott sein unser himmel, unser erden, unser sterck, unser weißheit, unser mässigkeit, unser seligkeit. Was will man mehr? Gott würdt in uns sein alles“125. Dort werden wir unser Heil und Glück unmittelbar von Gott selbst haben (habituros nostram salutem et felicitatem a Deo ipso immediate), da Gott selbst unser Himmel, Ort, Speise, Trank und alles Übrige sein wird (Deus erit coelum, locus, cibus, potus, et reliqua), so dass wir die äußere Erde nicht mehr brauchen, noch den äußerlichen, erfundenden empyreischen Himmel (non indigeamus externa hac terra, […] nec externo, aut fictitio Empyreo coelo), sondern Gott selbst ist unsere Freude, Fröhlichkeit und unser Himmel (Deus ipse sit gaudium, laetitia et coelum nostrum) […]: ————— 120 P 54; May 279,38; „erfüllen“ bezieht Bullinger auf die prophetischen Verheißungen, Brenz auf die „untersten und obersten“ Bereiche der Welt (P 55,4.9–11). 121 P 54,17f; vgl. M 276,10. 122 S 166,18.24; B 167,20f; vgl. 151. 123 May 465,22–26. 124 Zit. nach Brandy, Die späte Christologie des Johannes Brenz, 92. 125 May 467,19–23.

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Gott wird für uns und in uns alles sein (Deus erit NOBIS, et IN NOBIS OMNIA).126

7.6 Eschatologisch orientierte Ubiquität und Himmelsverständnis Das theologische Himmelsverständnis Brenzens hat also eine dezidiert eschatologische Ausrichtung. In gewisser Spannung dazu, dass Brenz den ersten und den neuen Himmel entmythologisiert, oder besser theologisiert, steht sein Festhalten an der annihilatio mundi und der Parusie Christi in Raum und Zeit. Die Polemik gegen den „grossen, weitten, breiten himmel“127, den er nicht für weniger anthropomorph hält als die Vorstellung vom jüngsten Gericht als „crassum spectaculum“128 mit äußerlichem Richtstuhl in den Wolken oder die „fleischlichen Phantasien“129 des mohammedanischen Paradieses, hindert Brenz nicht zu glauben, dass Christus sich wie damals, als er sich in dieser Welt leiblich offenbarte, auch am jüngsten Tag an einem bestimmten, körperlichen Ort lokal offenbaren wird („ibi revelat sese in uno certo et corporali loco localiter“130), dass Christus erscheinen wird in den Wolken zu einer festen Zeit und an einem festen Ort. Hierfür muss Brenz mit der hl. Schrift (und der frühjüdischen Apokalyptik) zweierlei Welt und zweierlei Himmel annehmen: „Die heilige schrifft lehret von zweyerley wellt. Eine leiblich, so in ir raum, ort und zeit begreifft, die würdt auch zu irer von Gott verodneter zeit vergehn oder verendert werden, wie Christus sagt. Die ander wellt ist geistlich, hat weder raumlich ort noch zergenglich zeit, sonder würdt ewig bestehn. Also seind auch zweyerley himmel: der eine ist leiblich […] der andere geistlich. […] In diesem himmel, der weder an raumlich ort noch zeit gebunden, sein Gott, die engel und alle heiligen“131. Ob im neuen Himmel und der neuen Erde „vielleicht kein räumlicher Ort mehr sein wird“132, lässt Brenz offen, sicher ist biblisch nur,

————— 126 R 1066,28–46; der ganze Hymnus mit Übersetzung auch bei J. Baur, Johannes Brenz. Ein schwäbischer Meisterdenker auf den Spuren Luthers, 35f, mit kritischer Diskussion. Löst Brenz die Leiblichkeit des neuen Himmels gegen seinen Nachfahren Oetinger in eine spiritualistische Gottunmittelbarkeit auf? 127 B, 165,23–26. 128 M 268,16f. 129 S 164,31. 130 S 160,35f. 131 B 147,24–38. 132 S 164,13; aber vgl. R 1100,44f: „non erunt in loco physico, […] sed erunt apud Deum Patrem glorioso et coelesti modo.“

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dass Himmel und Erde dieser Welt „vergehen und verwandelt werden (transibit et mutabitur)“133. Ganz unkritisch hält Brenz am biblischen Weltbild nach Gen 1 fest. Seine Kritik an der aristotelischen Kosmologie und Physik speist sich keineswegs aus der metaphysisch begründeten Auflösung der absoluten Raumörter durch Nikolaus v. Kues oder aus der neuen, heliozentrischen Astronomie Kopernikus’, auf die er sich nirgends bezieht, aber von deren Herausgabe durch A. Osiander in Nürnberg 1543 er sicher gehört haben musste, sondern ist rein biblizistisch motiviert. Philosophisch ist allenfalls eine lose Nähe zur negativen Theologie und mathematischen Mystik festzustellen. Mit Act. 17,28 und den Alten lehrt Brenz die Allgegenwart Gottes nach Präsenz, Essenz und Potenz, und wie noch Hollaz zitiert er eine an den Hymnus Gregors des Großen angelehnte Formel: „Deus super omnia non elatus, subter omnia non prostratus, intra omnia non inclusus, extra omnia non exclusus.“134 Der Rekurs auf die Tradition ist jedoch nicht metaphysisch, sondern christologisch motiviert. Wenn Gott „nach seinem Wesen einfachst, überall wahrhaft ganz“ anwest135, wenn die ganze Gottheit (tota deitas) in allen Kreaturen praesenter, essentialiter et potenter wohnt und in den Heiligen gnädig und selig, dann erst recht in Christus, in dem die ganze Gottheit leibhaftig einwohnt,136 und Brenz kann Luthers Formel von der raumkomparativen Überräumlichkeit Gottes auf den Sohn Gottes übertragen: „[…] das derselb son Gottes als ein warer Gott himmel und erden erfülle, und nichts so hohe ist, er ist noch höher, nichts so tieff, er ist noch tieffer“137. Wenn Gott schon in allen Kreaturen nach deren Fassungsvermögen einwohnt,138 seine Gaben und sich selbst schattenhaft (umbra deitatis) schenkt, so dass in den Kreaturen eine Spur und Bild der Gottheit (vestigium ac imago deitatis) verbleibt, so wohnt allein in Christus tota plenitudo ————— 133 S 146,24f; die Transfiguratio (R 1100,45) des irdischen Leibes und der Welt entnimmt Brenz 1.Kor 15, die Verwandlung wird als Vergehen der raum-zeitlichen Welt verstanden; Quenstedt wird tadelnd darauf hinweisen, dass Brenz noch in den Lukas-Homilien 1537 die von Johann Gerhard ausgebildete Annihilatio-Lehre nicht vertreten, sondern von der Verwandlung statt dem Vergehen von Himmel und Erde gesprochen habe: „Non transibunt omnino, sed mutabuntur“ (Quenstedt, Theologia didactico-polemica, p.IV, c.XX, sect.II, qu.II, a.V, 644), hierzu vgl. Stock, Annihilatio mundi, 169f. 134 S 120,9–11; 25–28. 135 „Deus sit essentia sua simplicissimus, ubicunqe fuerit, vere totum esse“ (B 123,7–9). 136 „tota deitas habitet in Christo corporaliter. Etsi enim tota deitas habitat etiam in aliis creaturis praesenter, essentialiter et potenter ac in sanctis clementer et feliciter […]“ (S 126,8–11). 137 B 121,5–8; auf Gott bezogen (mit Hi 11,8): „Er ist höher denn der himmel, […] tieffer denn die höll, […] lenger denn die erd, und breitter denn das mör“ (May 417,35–37). 138 „Deus enim habitat in omnibus creaturis et tribuit suum cuique iuxta naturae eius capacitatem“ (M 296,28f).

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deitatis corporaliter.139 Die Formel finitum non capax infiniti bzw. finiti ad infinitum nulla est proportio140 wird nicht an sich aufgehoben, sondern allein in der Person Christi, genauer im christologischen Geschehen, dass der endliche Leib Christi in der Inkarnation aufnahmefähig für das Unendliche gemacht wird.141 Auch folgt die Ubiquität der menschlichen Natur nicht an sich, sondern von der Einwohnung der Fülle der Gottheit als in einer unteilbaren Person her, von daher aber mit (innerer) Notwendigkeit. Ist Christus, sagt Brenz mit Luther, an einem Ort Gott und Mensch, muss er an allen Orten Gott und Mensch sein.142 Auf die Kreatur zurückgewendet bedeutet dies, dass Gottes Anwesenheit in den Kreaturen und Menschen nicht bloße Erhaltungsgegenwart der divina potentia et praesentia meint,143 sondern in jedem Menschen beide Naturen sind, die göttliche und menschliche, da Gott praesentissimus anwest. Allerdings: Im Menschen sind beide Naturen distinct, also nur so verbunden, dass die menschliche von der göttlichen Natur noch absteht.144 Dass die mitgeteilte Gottheit (participatam divinitatem) zur Gleichheit Gottes mit allen Wesenseigenheiten führt, zur „aequalitatem Dei, ut esset vere omnipotens, omnisciens, omnisapiens, omniiustus et omnipraesens“, gilt allein für Christus.145 Jede Kreatur hat soviel Fassungsvermögen für Gott wie Gott will und ihr mitteilt („Habes igitur tantam esse rerum capacitatem, quantam Deus vult.“146). ————— 139 S 126,28–31; M 290,24. 140 R 1000,10f; M 238,10–14; 310,1f.20–23. 141 „quomodo fieri potest, ut res finita possit fieri capax infiniti?“ (R 988,44): „humanitas Christi facta est capax omnis plenitudinis Deitatis“ (R 995,5f); die Formel „finitum capax infiniti“ hat Brenz nicht als abstraktes ontologisches Prinzip, sondern nur in dieser Weise für das konkrete christologische Geschehen geprägt. Er führt ihre Wahrheit, die der Philosophie und jeder Menschenvernunft widerspricht, auf die Offenbarung der hl. Schrift zurück („Scimus, si quidem humanam philosophiam et rationem huius mundi consulas, quod finitum non possit fieri infinitum […]. Si autem consulamus oracula spiritus sancti, manifestum est, quod finitum possit fieri capax […] infiniti“, R 1000,9–12), ihre Möglichkeit auf den Willen Gottes und ihre Tatsächlichkeit auf die unendliche Allmacht Gottes, welcher den des Unendlichen unfasslichen Leib aufnahmefähig machen wollte, konnte und machte (M 310,27–34). Zu Bedeutung und Herkunft der Formel und ihrer Gegenthese „finitum non capax infiniti“ in der nestorianischen Trennungs-Christologie (womit auch Brenz’ Frontstellung benannt ist) vgl. W. Elert, Über die Herkunft des Satzes Finitum infiniti non capax; T. Mahlmann, Art. Endlich II., HWPh; bei Brenz vgl. T. Mahlmann, Personeinheit Jesu mit Gott, 230f; Brandy, Die späte Christologie des Johannes Brenz, 150f. 142 May 249; keineswegs unterwirft Brenz Gott „der Modalität der Notwendigkeit“, einem „Nicht-anders-Können“ (so Mahlmann, Das neue Dogma der lutherischen Christologie, 159). Das „necessario sequi“ ist nicht „physica“ (M 254,20f), nicht äußere, sondern innere Notwendigkeit Gottes, daher gerade Ausdruck seiner Freiheit. 143 M 222,8f. 144 „Sic enim in quouis homine sunt duae distinctae naturae, quae usque adeo sibi sunt eoniunctae et connexae, ut humana absque diuina“ (R 983,2f). 145 M 324,3–9. 146 M 312,8f.

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Wieder auf die Kreatur zurückgewendet, ist die Allgegenwart Gottes in den Dingen kein Implikat der Kreaturen selbst, sie könnten nicht einen Augenblick an und für sich bestehen. Aber die intime Gegenwart Gottes schließt sie so sehr mit Gott selbst zusammen, dass sie nicht in raumzeitlicher Sonderung einander äußerlich und getrennt bleiben, sondern vor Gott zu einem quasi ewigen Ganzen zusammengefügt werden. Vor Gott, coram Deo, fällt die Trennung der Orte und Zeiten dahin. In der Gegenwart Gottes ereignet sich „ein ewiger und unveränderlicher Zustand der Dinge“, dass man nicht mehr „Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zähle wie in dieser Welt, sondern eine ewige und unveränderliche Gegenwärtigkeit sei“147! Vor Gott, coram Deo, gilt kein räumlicher Ort noch Zeit. Vor Gott ist alles Ausgedehnte ein Ort und alle Zeit eine Zeit: ewige Gegenwart. Die Allgegenwart ist bei Brenz also strikt theologisch, als eine Art negativer Kosmologie, als Aufhebung der irdischen Raumzeitstruktur gedacht. Anders als bei Luther wird weniger das Eingehen Gottes in die kreatürliche Raumzeit als ihr Aufgehen in Gottes überräumlicher und überzeitlicher Ewigkeit betont. Die Raumzeit ist coram Deo außer Kraft. Von daher erklärt sich, dass Brenz gegenüber dem Begriff der Ubiquität sehr reserviert war, da er mehr All- statt Überräumlichkeit suggeriert. Das „ungeheuerliche Wort ‚Überallheit‘“ unterstellt ja, dass Christi Körper „in alle Orte geometrisch ausgebreitet und verstreut (in omnia loca geometrice extendere et diffundere)“148 sei. Der Satz „Humanitas Christi est ubique“ sei nicht in der Bedeutung irgendeiner Räumlichkeit (ulla localitas) zu verstehen, „denn auch die Gottheit selbst ist nicht räumlich verbreitet und ausgedehnt (neque deitas ipsa diffusa et extensa est localiter)“149. Nach geometrischer Räumlichkeit betrachtet, ist Christi Menschheit nicht überall. Christi Leib ist frei vom Ort, nicht an allen Orten verstreut und verteilt. Wenn mit Ubiquität räumlich-lokale, circumscriptive Überallheit gemeint wäre, könnte Brenz nicht zustimmen. Eine ubiquitas localis kommt nicht in Frage, die ubiquitas repletiva kommt allein Gott seiner Natur nach zu (solus autem Deus natura sua est ubique ubiquitate repletiva)150. Die vom Sohn Gottes in die Einheit der Person aufgenommene Menschheit ist ubiquitate personali überall. Die personale Ubiquität fällt zwar konkret und im Bedeutungsumfang mit der repletiven zusammen, kommt der Menschheit Christi aber nicht aus ihrer Natur, sondern kraft der Anteilhabe an der repletiven Überräumlichkeit und Allpräsenz Gottes zu. ————— 147 148 149 150

S 166,10–12. P 6,6–10. P 44,10–13. P 44,4f.

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Gegenüber Luthers Satz, dass „alles durch und durch vol Christus sey auch nach der menschheit“151 hat Brenz hier begrifflich klarer differenziert, um kenntlich zu machen, dass es sich bei der Ubiquität des Leibes Christi um einen singulären Sachverhalt handelt und dass diese nicht allörtlich, sondern frei vom Orte zu denken ist. Aufgrund der überräumlichen und überzeitlichen Akzentuierung der Allgegenwart Gottes erklärt sich, dass Brenz den ubiquitären Himmel als Aufhebung der für die Dinge geltenden Raum-Zeit-Struktur denkt. In der Welt der aristotelischen Raumörter sind alle Dinge je an einem Ort, vor Gott ist kein räumlicher Ort und keine Zeit. Gottes Raumbezug ist gekennzeichnet durch Raumfreiheit und –überlegenheit. Die Gegenwart Gottes in den Dingen ist eher als eine Gegenwart der Dinge vor Gott zu bezeichnen, wie Brecht schon für den jungen Brenz herausgearbeitet hat: Brenz lehrt die „Allgegenwart und Allzuhandenheit der Kreaturen und Dinge zu dem überzeitlichen und überräumlichen Gott“152. Von daher erübrigt sich auch der Vorwurf Mahlmanns, Brenz habe im Unterschied zu Luther die undifferenzierte und unumschränkte „Weltgegenwart Jesu“ gelehrt, da für ihn „in der Personeinheit, also in dem Satz ‚Wo Gott ist, da ist auch der Mensch Jesus‘, nicht etwa die Möglichkeit, sondern die Notwendigkeit [liegt], dass Jesus über die Personeinheit mit Gott hinaus auch der Welt zugegen ist.“153 Richtig ist, dass aus der Personeinheit die Ubiquität mit Notwendigkeit folgt, aber mit innerer, nicht mit äußerer Notwendigkeit,154 und diese Allgegenwart in der Welt ist genauso frei gewollt, wie Gottes überräumliche Allgegenwart aus seiner Freiheit resultiert. Daraus lässt sich nun aber auch nicht nach der anderen Seite der zweite Vorwurf Mahlmanns ableiten, Brenz habe mit seiner Zwei-Welten-Lehre einen „Gegensatz“ zwischen dem ewigen Himmel Gottes und der raumzeitlichen, vergänglichen Welt aufgerichtet, von dem her er „das Weltverhältnis ————— 151 WA 26,332,21f. 152 Brecht, Die frühe Theologie des Johannes Brenz, 11f. 153 Mahlmann, Das neue Dogma der lutherischen Christologie, 170.173. 154 So auch A. Peters bzgl. Luther: „Mit der Menschwerdung ist Christi Menschheit in Gott und damit an allen Orten gegenwärtig“ (Realpräsenz, 78). Auch Mahlmanns Lutherdeutung, dass wegen der „schlechthinnigen Entzogenheit Jesu aus der Welt kraft der Personeinheit mit Gott“ nur und erst das Wort die „Weltgegenwart Jesu“ verwirkliche und dass es „neben der Präsenz Jesu schlechthin bei Gott keine Realpräsenz in der Welt“ (Das neue Dogma der lutherischen Christologie, 172) gebe, ist völlig überzogen. Auch ‚außer‘ dem Wort ist Gott, und damit der Leib Christi, überall und immer da, wenn auch nicht identisch damit „dir da“. Im Wort erschließt sich das schon vorher vorhandene da als mir da, auch und gerade im Abendmahl. Die Einsetzungsworte sind auch bei Luther nicht die „Verwirklichungsinstanz der Realpräsenz“ (173), sondern wie bei Brenz die Erschließungsinstanz der „schon feststehenden allgemeinen Weltgegenwart“ (ebd.) als Heilsgegenwart.

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Gottes überhaupt, so auch die Personeinheit Jesu mit Gott“ bestimme. Das „Gegenüber von corporale und spirituale“155 präge seine ganze Theologie. Von einer realen Zwei-Welten-Theorie, gar einem kosmologischen Dualismus, kann keine Rede sein. Im Gegenteil: Anders als bei Bullinger verläuft für Brenz die Grenzlinie zwischen dem mundus oder saeculum corporale und dem saeculum spirituale nicht am äußeren Rand des Fixsternhimmels, sondern überall in der Welt. Es ist die Differenz zwischen Gott und Welt, zwischen dem Ewigen und dem Zeitlichen, dem Unendlichen und dem Endlichen, dem Unvergänglichen und dem Vergänglichen. Beide „Welten“ sind räumlich unscheidbar ineinander gelagert, weil der Himmel Gottes die kreatürlichen Himmel und Erde durchdringt und überlagert. Der Zwei-Welten-„Dualismus“ ist kein kosmologischer, metaphysischer oder „ontologischer“ (Mahlmann), sondern ein eschatologischer, der ja mit der Auflösung der alten Welt und dem Aufgehen in den mit der neuen Welt identischen Himmel Gottes überwunden wird. In dieser Zeit bilden beide Welten gerade in ihrer inkommensurablen Verschiedenheit eine ungegenständliche Einheit, in der das Zeitlich-räumliche vom Ewigen-überräumlichen durchdrungen wird, so dass wie bei Luther der ubiquitäre Himmel Gottes die raumzeitlichen Himmel und Erde zu einer Einheit zusammenschließt, in der es – im Gegenüber und vor Gott – keinen Seins- und Wertvorrang von absoluten Örtern mehr gibt. Vor Gott ist die ganze Welt „unum momentum et unum locum“156, da ihm alles als ein Ort und Zeitpunkt gegenwärtig ist. Das Sein der Welt vor Gott konstituiert die räumliche Einheit der Welt und die Allgegenwart Gottes in der Welt schließt Gott und Welt zu einer ungegenständlichen Einheit zusammen. Das Unendliche ist unscheidbar, aber unvermischt, ins Endliche hinein vermittelt157, und zwar über den Raum, dessen Struktur durch die Präsenz des überräumlichen Gottes zugleich zur Einheit zusammengefügt und in eine höhere Einheit aufgehoben wird.

————— 155 Mahlmann, Personeinheit Jesu mit Gott, 180. 156 M 404,6–8. 157 Von daher kann auch keine Rede davon sein, dass Brenz’ ganzes christologisches „Unternehmen gescheitert ist: an mangelhafter Vermittlung Gottes und der Raumzeitlichkeit des Menschen Jesus“ (Mahlmann, Personeinheit Jesu mit Gott, 195).

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Kapitel 8: Der Raum als Repräsentation Gottes

8.1 Der Kampf um den Raum in der Metaphysik der Neuzeit Heinz Heimsoeth hat in seiner Studie „Der Kampf und den Raum in der Metaphysik der Neuzeit“ die These aufgestellt, dass sich die neuzeitliche Naturphilosophie dadurch gegenüber der vorneuzeitlichen auszeichne, dass „dem Raum ein neues Seinsgewicht“ zuwachse, und zwar aufgrund einer „neuen Wertung seiner Wesenseigenschaften, vor allem der Unendlichkeit, Gleichförmigkeit und Rationalität“1. War in der platonischen und aristotelischen Kosmologie die kugelförmige Abgeschlossenheit Ausdruck der Vollkommenheit des Kosmos, so gilt sei Nikolaus von Kues und Giordano Bruno der unbegrenzte bzw. unendliche Weltraum als vollkommenes Abbild oder Ausfluss der Unendlichkeit Gottes. War der Raum platonisch und aristotelisch das passive Prinzip des Aufnehmers für die materiellen Formen und Bewegungen, so wird er in der Renaissance zum aktiven Prinzip, welcher Bewegung und Formbildung generiert, indem er die Wirktätigkeit Gottes an die materiellen Körper vermittelt. Der Raum vermag jetzt das neuplatonische Grundproblem des Übergang vom Einen zum Vielen zu lösen. Die Funktion, die im Mittelplatonismus der Logos, im Neuplatonismus die Weltseele ausfüllte, übernimmt im Renaissanceplatonismus der Raum. „Es ist nun gerade der wesenhaft Eine und einzige Raum, dessen Unendlichkeit die gegebene Vermittlung bietet zwischen dem einzigen unendlichen Gottesprinzip und der unendlichen Vielheit und Ausbreitung der Dinge. In ihm zeigt sich das gottgeschaffene Universum als ein einziges.“ Indem der Raum „zum allumfassenden Gefäß und Schauplatz göttlicher Daseinsäußerungen“2 wird, wird sein ontologischer Rang aufgewertet. Vom Nichtseienden (mh? oän) Platons bzw. dem nichtseienden Leeren (keßnon) der Atomisten wird der Raum zur ersten Substanz. Die neue Unendlichkeit des Raumes ist keineswegs eine bloße Aufnahme des atomistischen, unbegrenzt ausgedehnten leeren Raumes, verstehen doch die Atomisten den Raum ebenso passiv und auf die Materie bezogen wie die Platoniker und Aristoteliker. Die Unendlichkeit des Raumes bei Bruno ist eine positive, eine dynamisch aktuierende Unendlichkeit. Der Raum mutiert vom potentiellen zum aktualen und vollendeten Unendlichen. ————— 1 2

H. Heimsoeth, Der Kampf um den Raum in der Metaphysik der Neuzeit, 98. Ebd.

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Die Gleichförmigkeit des Raumes ist daher bei Bruno mehr als die geometrische Homogenität aufgrund der Relativität der Bewegung, die bereits Nicole Oresme und Nikolaus von Kues (und schon Johannes Eriugena)3 reklamierten. Der Raum ist jetzt substantiell Abbild des göttlichen Einen. Seine Gleichförmigkeit ist reine Identität. Er ist Träger der ungeteilten und gegensatzlosen Gotteseinheit. Die Rationalität des Raumes wird erreicht durch eine Art Ontologisierung der Geometrie. Die mathematischen Wahrheiten sind nun nicht mehr im intelligiblen Raum angesiedelt, sondern im kosmologischen Raum repräsentiert. Die Geometrie des Weltraums ist bei Galilei keine andere als die euklidische. Die Natur ist den Renaissanceplatonikern in den rationalen Strukturen der mathematischen Figuren und Körpern verfasst. Galileis berühmtes Diktum, dass das Buch der Natur in mathematischen Lettern geschrieben sei4 – der Sache nach auch bei Cusanus, Kepler, Descartes u.a.5 – bedeutet nichts anderes, als dass der platonische Hiatus zwischen dem intelligiblen und dem sensiblen Raum vollständig eingezogen wird. Der sensible Raum ist nun intelligibel. Der Raum hat höchste Rationalität. Da er mathematisch konstruiert wurde, kann man aus seiner mathematischen Struktur die Schöpfungsgedanken Gottes ablesen. Der Raum vermittelt also auch als Erkenntnismedium zwischen Welt und Gott. Er lässt die ewigen Wahrheiten Gottes, nach denen er die Welt konstruierte, aus dem liber naturae, unabhängig vom liber scripturae, herauslesen.6 Die Welt Keplers, ————— 3 Johannes Eriugena, De divisione naturae I,19, 466f; Nicole Oresme, Le Livre du ciel et du monde, lib.II, c.8, fol.93b–94b, 370/72; Nikolaus von Kues, De docta ignorantia II, c.10, §155, 85, hier mit der metaphysischen Begründung, dass Gott die absolute Bewegung und Ruhe ist, so dass es keine absolute Bewegung geben kann. 4 „Die Philosophie ist in diesem großen Buch niedergeschrieben, das vor unseren Augen immer offen liegt (ich meine das Universum), welches wir aber nicht verstehen können, wenn wir nicht zuvor lernen, die Sprache zu verstehen und die Zeichen zu deuten, in denen es geschrieben ist. Es ist in der mathematischen Sprache geschrieben (scritto in lingua matematica), und seine Buchstaben sind Dreiecke, Kreise und andere geometrische Figuren; ohne diese Mittel ist es dem Menschen unmöglich, ein einziges Wort zu verstehen“ (Galilei, Il Saggiatore, in: Le opere di Galileo Galilei, Bd. 6, 232, Übersetzung nach Gloy, Verständnis der Natur I, 156; vgl. Galilei, opere Bd. 5, 316f). 5 Nikolaus von Kues, De docta ignorantia II, c.13, §175f, 108–111; R. Descartes, Regulae ad directionem ingenii, reg. 2, in: Philosophische Schriften in einem Band, 6–13; J. Kepler, Mysterium Cosmographicum, Anm. zur 2. Aufl., Gesammelte Werke, Bd. VIII, 62,29–36: „[…]dass die mathematica deshalb die Ursachen der Naturdinge bilden […], weil Gott die mathematica von Ewigkeit her als Archetypen in sich trug“, dt. nach: J. Kepler, Was die Welt im Innersten zusammenhält. Antworten aus Keplers Schriften (hg. F. Krafft), 139, hier XIV–XVII weitere Stellen. 6 H.M. Nobis zeigt in seinem Art. Buch der Natur im HWPh, dass die Pointe dieser Metapher in Antike und Mittelalter seit Augustin darin liegt, dass Gott es neben dem andern Buch der Schrift verfasst und geschrieben hat, während in der Neuzeit das Lesen und Verstehen der beiden Bücher zentral wird; die systematische Geschichte der Metapher gibt H. Blumenberg, Die Lesbarkeit der Welt, hier 74ff, zusammengefasst unten II.7.3.2.

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Galileis und Descartes’ ist nicht mehr „die farbige, vielgestaltige und qualitativ bestimmte Welt der Aristoteliker, die alltägliche Welt unserer täglichen Erfahrung“, sondern „eine vollkommen einheitliche mathematische Welt, eine Realität gewordene Welt der Geometrie“7. Bevor wir detailliert die Debatte des 17. Jahrhunderts um den Raum und seine göttlichen Eigenschaften zwischen Descartes und More (8.3.), zwischen Newton (8.4.), Leibniz und Clarke (8.5.) sowie bei Raphson (8.6.) verfolgen, sei in einem Exkurs in knappen Strichen die Entwicklung in Spätmittelalter und Renaissance hin zum neuen Raumverständnis aufgezeigt (8.2).8

8.2 Exkurs: Die Raumtheorien der frühen Neuzeit (14.–17. Jh.) 1. Überblick: Vom 14. bis zum 17. Jahrhundert kommt es zu einer zunehmenden Kritik und Abkehr von der aristotelischen Raumtheorie. Der Raum wird unter Aufnahme der (neu)platonischen oder atomistischen, aber auch der stoisch-pythagoräischen und hermetisch-kabbalistischen Raumlehren mehr und mehr als eigenständige Realität begriffen. Man kann verschiedene Motive und Vorstellungskreise unterscheiden, die jedoch entsprechend dem Eklektizismus der Renaissance meist miteinander verwoben sind. Die Abkehr von Aristoteles ist einerseits theologisch motiviert und richtet sich gegen den die Allmacht Gottes einschränkenden verschärften Aristotelismus des Averroes. Gegen diesen richtet sich die Oxforder Schule des 13./14. Jahrhunderts mit Heinrich von Gent (gest. 1293), Richard von Middleton (gest. 1308), Walter Burleigh (gest. nach 1343), Thomas Bradwardine (1290–1349) sowie Nicole Oresme (um 1320–1382). Eine zweite Gruppe von Aristoteleskritikern bringt im 15./16. Jahrhundert vorrangig Einwände logischer Art. Es werden Inkonsistenzen in Aristoteles’ Ortsdefinition aufgezeigt, etwa am Problem des Ortes der letzten Sphäre. Bei dieser Gruppe wird Aristoteles nicht verworfen, aber unter Aufnahme stoischer, atomistischer oder kabbalistisch-hermetischer Gedanken korrigiert. Hierzu zählen die Scholastiker Chasdai Crescas (1340–1412), Hieronymus Cardanus (1501–1571), Julius Caesar Scaliger (1484–1558) und Francesco Suarez (1548–1617). Eine dritte Gruppe versucht aus metaphysischem Interesse die Frage nach der ontologischen Realität des Raumes, ob er Substanz oder Akzidenz, ————— 7 A. Koyré, Von der geschlossenen Welt zum unendlichen Universum, 96f. 8 Eine lexikalische Zusammenfassung der gesamten Entwicklung gebe ich in U. Beuttler, Art. Raum I. Theologisch und Philosophisch, Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 10, Stuttgart 2009, 656-660.

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unveränderlich oder veränderlich, Materie abhängig oder unabhängig etc. sei, zu klären. Führend sind hier die italienischen Renaissanceplatoniker Bernhardinus Telesius (1508–1588), Franciscus Patritius (1529–1597), Giordano Bruno (1548–1600) und Thomas Campanella (1568–1639). Erst im 17. Jahrhundert wird der Raum Gegenstand empirisch-physikalischer und mathematisch-geometrischer Betrachtung. Hierfür stehen die Physiker und Vakuumforscher William Gilbert (1540–1603), Johannes Kepler (1571–1630), Galileo Galilei (1564–1642), Petrus Gassendi (1592– 1655), Otto von Guericke (1602–1686) und Blaise Pascal (1623–1662).9 2. Theologische Aristoteleskritik: Die theologische Kritik an der aristotelischen Raumauffassung wird durch Averroes’ Zuspitzung der aristotelischen Bewegungslehre ausgelöst, der den von den Himmelssphären aufgespannten Raum für unveränderlich und ewig hielt. Der erste Himmel müsse notwendig unbewegt sein, denn die innerkosmischen Bewegungen erforderten notwendig einen unbewegten ersten Beweger: den ersten Himmel, der in sich ruhe, weshalb auch kein äußerer Ort oder außerkosmischer leerer Raum anzunehmen sei. Oder andersherum: Weil es kein Vakuum gibt, gibt es keinen außerkosmischen Raum, also ist der erste Himmel notwendig unbewegt, da seine Bewegung (nach Aristoteles) einen äußeren Ort erfordern würde. In der Folgerung des Averroes, dass Gott den Himmel nicht geradlinig bewegen könne, da sonst ein Vakuum bliebe, sah man eine Einschränkung der Allmacht Gottes. Gott müsse die Möglichkeit haben, den gesamten Kosmos geradlinig zu verschieben, weshalb er nicht notwendig unbewegt sei. Der Pariser Bischof verurteilte 1277 als averroistische Irrlehre neben der Lehre von der Ewigkeit der Welt den Satz: „Quod Deus non possit movere celum motu rectu. Et ratio est, quia tunc relinqueret vacuum.“10 Die Gegenthese vertrat explizit Richard von Middleton in seinem Sentenzenkommentar: „Deus potest movere ultimum coelum (sive creando spacium extra ipsum sive non creando) motu recto“11, setzte aber einschränkend hinzu, dass dies nur Gottes unendlicher Kraft möglich und daher unabhängig davon sei, ob Gott hierfür einen außerkosmischen Raum schaffe oder nicht. Gott könne einen Körper, sofern es sich um eine partielle oder akzidentielle Bewegung handelt, auch ohne umgebenden Raum bewegen. ————— 9 Zu allen genannten Personen vgl. auch den entsprechenden Abschnitt bei W. Gent, Die Philosophie des Raumes und der Zeit; M. Jammer, Das Problem des Raumes; A. Gosztonyi, Der Raum. 10 These 49 der 219 vom Pariser Bischof Tempier am 7.3.1277 verurteilten Thesen, zit. nach K. Flasch, Aufklärung im Mittelalter? Die Verurteilung von 1277, 147. 11 Richard of Middleton, Super quattuor libros sententiarum quaestiones subtilissimae, S.186, zit. nach Jammer, Das Problem des Raumes, 79.

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Auch der berühmte Lanzenwurf des Lukrez durch die letzte Sphäre sei eine solche und daher möglich ohne Raum außerhalb. Eine selbständige Bewegung eines Körpers für sich hingegen sei (mit Aristoteles) nur im umgebenden Raum möglich. Thomas Bradwardine begründete theologisch die Existenz eines außerkosmischen Raumes, da sonst Gottes Allgegenwart eingeschränkt werde. „Deus essentialiter et praesentialiter est ubique, nedum in mundo et in eius partibus universis, verumetiam extra mundum in situ seu vacuo imaginario infinito.“12 Die Eigenschaft der immensitas gelte in jeder Hinsicht. In der Welt ist Gott notwendig überall, das ist klar. Wenn er aber im imaginären Raum nicht überall wäre, könnte er die Welt von A nach B verschieben und wäre danach in B aber nicht mehr in A bzw. vorher in A und nicht in B. Um dies Dilemma zu vermeiden, habe man früher, De coelo folgend, gesagt, Gott könne die Welt nicht bewegen, weil es keinen außerweltlichen Raum gibt. Dann wäre die Weltbewegung nur durch Vernichtung an A und Wiedererschaffung an B möglich. Um die Annihilatio zu vermeiden, muss es nach Bradwardine einen außerweltlichen leeren Raum geben.13 Und wenn Gott dort nicht gegenwärtig wäre, könnte er die Welt nicht bewegen, was seine Allmacht einschränken würde. In diesem unendlichen, leeren, imaginären Ort war Gott schon immer allgegenwärtig, auch schon vor der Weltschöpfung, sonst wäre er ja erst mit dem Schöpfungsakt an den Ort im imaginären Raum gekommen, wo er die Welt schuf. Zwar sei der imaginäre Raum nicht gleichewig mit Gott (coaeterna Deo14), er muss aber um der ewigen Allgegenwart Gottes willen notwendig, ewig und unendlich ausgedehnt existieren. „Est ergo Deus necessario, aeternaliter, infinite ubique in situ imaginario infinito.“15 Ebenso wie Bradwardine nahm Nicole Oresme in seinem frz. Kommentar zu Aristoteles’ De caelo und dem pseudoaristotelischen De mundo einen unbeweglichen, von allen Körpern unabhängigen und unendlich ausgedehnten leeren Raum an, in dem der Kosmos schwebt und in dem Gott die Welt linear bewegen und Körper erschaffen kann. Diesen imaginären, d.h. sinnlich nicht wahrnehmbaren Raum, kann man sich auf dreierlei Weise denken. Er könnte absolut leer sein, ohne umschließenden Körper. Dann wäre er unendlich und fiele mit Gottes Unermesslichkeit bzw. mit Gott selbst zusammen. „Er ist ein vorgestellter, leerer und unendlicher Raum, die Un————— 12 13 14 15

T. Bradwardine, De causa Dei, lib.I, c.5, corr., 177B. Ebd., 177D. Ebd., 177E. Ebd., 178E–179A.

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ermesslichkeit Gottes und Gott selbst.“16 Oder es existierte ein begrenzter überhimmlischer Körper oder Himmel, in dem der Kosmos schwebte, oder die göttliche Allmacht könnte den Kosmos auch ohne real existierenden außerkosmischen Raum bewegen. Die Entscheidung zwischen den drei Alternativen ist laut Oresme nur durch Offenbarung möglich. Immerhin wird hier erstmals noch im Rahmen der aristotelischen Kosmologie die Möglichkeit erwogen, den Raum, allerdings nur den unbegrenzten, außerkosmischen Raum, als Attribut Gottes aufzufassen. Die Annahme eines außerkosmischen Raumes, welche die Sprengung des aristotelischen Kosmos bei Digges und Bruno vorbereitete, war nur möglich durch die nominalistische Übersteigerung der Transzendenz und Allmacht Gottes. Gott könne, so Oresme, „in seiner Allmacht eine andere Welt neben dieser oder mehrere, gleiche oder andere, schaffen“17, daher existiere aus Vernunft- und Glaubensgründen der unkörperliche Raum jenseits der Himmel, auch wenn wir ihn weder beobachten noch begreifen können. 3. Logische Aristoteleskritik: Zur Abkehr von der aristotelischen Kosmologie und Raumtheorie trugen auch die logischen Inkonsistenzen bei, die die spätmittelalterlichen Scholastiker in der aristotelischen Theorie ausmachten. Der aragonische Oberrabiner Chasdai Crescas hielt zwar an der aristotelischen Ortsdefinition fest, sah sich aber gezwungen, um der Bewegung der letzten Sphäre willen, die er gegen Aristoteles für eine Ortsbewegung hielt, ein außerkosmisches Vakuum anzunehmen. Seine äußerst differenzierte, streng logische Kritik an Aristoteles’ Orstbegriff und Ablehnung des Vakuums, die viele Einwände von Telesius, Patritius, Bruno und Galilei vorwegnimmt, ist hier nicht darzustellen18. Es ist aber bemerkenswert, dass es bis ————— 16 N. Oresme, Le Livre du ciel et du monde, lib.IV, c.11, fol.201b, S.724f: „est un lieu ymaginé vieu et infini – ce est le immensité de Dieu et Dieu meisme/it is a place imagined void an infinite, the immensity of God and God Himself“; ebenso lib.II, c.24, fol.39b, S.176f: „ceste espasse dessus dicte est infinite et indivisible et est le inmensité de Dieu et est Dieu meismes, aussi comme la duracion de Dieu appellee eternité est infinite et indivisible et Dieu meisme/Now this space of which we are talking, is infinite and indivisible, and is the immensity of God and God Himself, just as the duration of God called eternity is infinite, indivisible, and God Himself.“ 17 Ebd., lib. II, c.24, fol.39b, S.176–179: „Pour ce que la cognoissance de nostre entendement depent de noz senz qui sont corporelz, nous ne povons comprendre ne proprement entendre quelle est ceste espasce incoporelle qui est hors le ciel. Et toutevoies rayson et verité nous fait congnoistre que elle est. Je conclu donques que Dieu puet et pourroit faire par toute sa puissance un autre monde que cestuy ou plussers semblables ou desemblables, et Aristote ne autre ne prouva onques souffisanment le contraire./Since apperception of our understanding depend upon our corporeal senses, we cannot comprehend nor conceive this incorporeal space which exists beyond the heavens. Reason and truth, however, inform as that it exists. Therefore, I conclude that God can and could in His omnipotence make another world besides this one or several like or unlike it. Nor will Aristotle or anyone else be able to prove completely the contrary.“ 18 Vgl. M. Joel, Don Chasdai Crescas’ religionsphilosophische Lehren in ihrem geschichtlichen Einflusse dargestellt, 21–28; H.A. Wolfson, Crescas Critique of Aristotles (mit histor.-krit.

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Crescas fast 1000 Jahre brauchte, bis die von den Stoikern, von Simplikios und Philoponos vorgetragene Auffassung des Ortes als der dreidimensionalen Erstreckung des Körpers sowie des Raumes als eines Kontinuums zur Aufnahme von Körpern durchsetzte. Gegenüber diesen ist bei Crescas jedoch neu, dass der Raum mit den Atomisten materie- und kräftefrei, darüber hinaus als vollkommen homogen, unbeweglich und unendlich ausgedehnt angesehen wird. Dieser Raum ist schon der qualitätslose physikalische Raum, allerdings noch um den endlichen Kosmos. Möglich war die Annahme eines einzigen, kontinuierlichen, sich auch außerkosmisch erstreckenden Raumes auch durch Einfluss der hermetisch-kabbalistischen Raumauffassung, die auch bei Telesius, Patrizi und Campanella präsent ist, welche die Einheit des Raumes aus der Einheit Gottes folgerte, dessen Unermesslichkeit der Ort für alle Dinge ist. „Weil Gott die Wesenheit für das All des Vorhandenen ist, denn er bringt es hervor und bestimmt und begrenzt es, darum haben die alten Lehrer auf ihn den Namen Makom angewendet. […] Denn wie die Dimensionen des Leeren in die Dimensionen des Körperlichen und seine Fülle eingehen, so ist Gott in allen Teilen der Welt, ist ihr Ort, der sie trägt und hält.“19 Der Raum gehört bei Crescas, wie schon bei Philo und Asclepius und nach ihm bei Cardanus, zu den erstgeschöpflichen Naturprinzipien vor Erschaffung der sichtbaren Welt. Beim Platoniker Philo waren dies, wie I.3.1 gesehen, die Ideen der vier Elemente sowie des Raumes, des Pneuma und des Lichtes, beim Aristoteliker Cardanus sind es materia prima oder hyle, forma, anima, locus und motus.20 Gegen Cardanus, der an der aristotelischen Orstdefinition und der Nichtexistenz des Vakuums festhielt, lehnte J.C. Scaliger den aristotelischen Orstbegriff als widersprüchlich ab und hielt die Existenz des Vakuums logisch für zwingend, denn ohne leeren Raum gäbe es keinen Ort für die Körper. „In natura vacuum dari necesse est. […] sane si non esset vacuum, non esset locus.“21 Experimentell wurde das Vakuum nach Vorarbeiten von R. Bacon, Galilei, Toricelli, Pascal, Boyle u.a. bekanntlich erst von Otto von Guericke 1653 bewiesen,22 theoretisch aber hat bereits Scaliger die ————— Edition und engl. Übersetzung wichtiger Teile aus Crescas’ Hauptwerk Or adonai); J. Guttmann, Chasdai Crescas als Kritiker der aristotelischen Physik; ders., Die Philosophie des Judentums, 240–245; Jammer, Das Problem des Raumes, 80–87. 19 C. Crescas, Or adonai, Tract. I, Abschn. 2, c.I, zit. nach Joel, Don Chasdai Crescas, 24, dort auch der hebr. Text. 20 H. Cardanus, De subtilitate, lib.I: De principiis, materia, forma, vacuo, corporum repugnantia, motu naturali, 3–6. 21 J.C. Scaliger, Exotericarum exercitationum lib. 15 de subtilitate, 13. 22 Zu diesem Komplex vgl. den Art. Horror vacui von F. Krafft im HWPh; zu Guerickes Raumtheorie und Kosmologie E. Knobloch, Otto von Guericke und die Kosmologie im 17. Jahrhundert.

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stoische Feindifferenzierung zwischen Ort (toßpow), Raum (xvqra) und Leerem (keßnon) zusammengeführt und locus, spatium und vacuum synonym verwendet. „Idemque esse vacuum et locum; neque differe nisi nomine. Est enim Vacuum spatium in quo est corpus.“23 Noch ist hier nicht der absolut leere Raum gemeint, sondern der atomistische, von Körpern durchsetzte. Noch ist der Raum der Materie unter-, höchstens gleichgeordnet, noch ohne geklärten ontologischen Status. Der Raum sei „quodammodo ens et quodammodo non ens“, sagt Scaliger24. 4. Neoplatonische Naturphilosophie: Erst bei B. Telesius und F. Patrizi (Patritius)25 wird der Status der Raumes geklärt und ihm ein von der Materie unabhängiges Sein zuerkannt. Hierfür führt Telesius in seiner Naturphilosphie „De rerum natura“ (1586) den Begriff der moles ein, was soviel wie die Schwere der Körper meint. Dieser von der Ausdehnung abgetrennte Materiebegriff kann strikt vom Raum (spatium) unterschieden werden als dem Aufnehmer (receptor) oder Behälter der Körper (receptaculum rerum), in dem die Körper lokalisiert sind. „Itaque manifeste spatium ab entium mole diuersum dari potest et datur omnino et entia omnia in eo locata esse.“26 Die Wende vom peripatetischen Ortsbegriff als Lagebeziehung bzw. als umschließende Fläche der Körper zum Raum als Behälter mit InRelation ist hier klar vollzogen. „In eo entia locata esse.“ Der Raum ist nicht mehr bloßes Akzidenz, sondern hat eigenständige Realität, unabhängig von der Materie. Er bleibt unveränderlich beständig derselbe, egal wie in ihm Köper sich bewegen. Er bleibt auch dann, wenn man Körper aus ihm entfernt. Sein Fähigkeit, Körper aufzunehmen (aptitudo ad corpora suscipienda27) ist ganz unabhängig von deren natürlichem Ort. Der Raum übt gegen Aristoteles’ natürliche Orte keine Wirkung aus, er ist kräftefrei. Der Raum ist ohne innere Dynamik überall gleich homogen und mit sich identisch unbeweglich (perpetuo immobile permanet28). Der Raum lässt sich sogar sinnlich wahrnehmen (ipso comprehensum est sensu29), wie die Experimente zeigen, so dass logische Argumente gegen die Nichtexistenz des Vakuums gegenstandslos sind.

————— 23 Scaliger, ebd., 13. 24 Ebd., 14. 25 Zu beiden sowie zu T. Campanella vgl. T.A. Rixner/T. Siber, Leben und Lehrmeinungen berühmter Physiker, Hefte III–VI, jeweils mit Lebensabriss und Paraphrase der Hauptwerke. 26 B. Telesius, De rerum natura, lib.I, c.25, 37. 27 Ebd., 36. 28 Ebd., 37. 29 Ebd.

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F. Patrizi bemühte sich im ersten Buch der Pancosmia (All-Raum), nach Panaugia (All-Licht), Panarchia (All-Anfang) und Pampsychia (All-Seele) der größte, vierte Teil der „Nova de universis philosophia“ von 1591, den unklaren ontologischen Status des Raumes zu klären. Der Raum ist mit dem aristotelischen Kategoriensystem, das sich auf die endlichen Dinge bezieht, nicht zu erfassen.30 Er ist weder Substanz noch Akzidenz. Wäre er Substanz, dann unkörperlich oder körperlich. Er ist aber weder körperlichmateriell noch unkörperlich-unausgedehnt wie die immateriellen Geistsubstanzen. Akzidenz ist er auch nicht, weder Quantität noch Qualität noch eine andere Eigenschaft. Er ist weder Gattungsbegriff, noch konkretes Einzelding, da nicht aus materia und forma zusammengesetzt. Ist er nichts als die bloße Fähigkeit, Körper aufzunehmen, fragt Patrizi mit Telesius? Nein, er ist ja etwas, nämlich die Hypostase Ausdehnung. „Quid ergo est? hypostasis, diastema est, diastasis, ecstasis est, extensio est, intervallum est, capedo est, atque intercapedo.“31 Ist der Raum doch eine Art Quantität? Ja, aber keine akzidentielle, sondern vor-akzidentiell. Er ist nicht die Kategorie der Quantität, sondern deren Quelle und Ursprung. „Si quantitas est, non est illa categoriarum, sed ante eam, eiusque fons et origo.“32 Und er ist Substanz, sogar am meisten Substanz von allem, sofern man unter Substanz das versteht, das aus sich besteht. „Si substantia est, id quod per se substat, spacium maxime omnium substantia est.“33 Kurz: Der Raum ist mit keiner der aristotelischen Kategorien zu fassen (nulla ergo categoriarum spacium complectitur), sondern besteht vor allen und außer allen Kategorien (ante eas omnes est, extra eas omnes est). Der Raum ist keines der Weltdinge (nihil esse rerum mundarum), denn er besteht durch und in sich. „Wie eine Substanz besteht und existiert er durch sich und in sich, so sehr, dass er auch immer durch sich und in sich besteht: und er bewegt sich niemals, noch ändert er sein Wesen oder Ort, weder teilweise noch im Ganzen.“34 Der Raum ist die durch sich bestehende und von nichts abhängende Hypostase der Ausdehnung (Spacium ergo extensio est hypostatica, per se sub————— 30 Besonders Duns Scotus hatte gezeigt, dass das die endlichen Dinge betreffende Kategoriensystem des Aristoteles ungeeignet ist, die Unendlichkeit Gottes zu erfassen (hierzu vgl. K. Bannach, Das Unendliche bei Duns Scotus), Patrizi wendete die Kategorienkritik auf den (unendlichen) Raum an und eröffnete damit G. Bruno die Möglichkeit, die Unendlichkeit des Raumes als einer Entität sui generis behaupten zu können, s.o. I.6.5. 31 F. Patrizi, Pancosmia, lib.I: De spatio physico, in: Nova de universis philosophia, 65; der ganze Abschnitt lat. u. dt. bei M. Fierz, Über den Ursprung und die Bedeutung der Lehre Isaac Newtons vom absoluten Raum, 109–113. 32 Ebd. 33 Ebd. 34 „Atque utrumque per se substans, per se existens, in se existens, adeo, ut etiam per se stet semper, atque in se stet: neque umquam moveatur, neque essentiam, neque locum mutet, nec partibus, nec toto“ (ebd.).

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stans, nulli inhaerens). Daher musste er vor allem anderen da sein und geschaffen sein, also vor der Welt (spacium ante quam mundus est), und zwar notwendig, bevor alles andere geschaffen wurde. Das notwendige Erste, dessen alles bedarf, um existieren zu können, ist der Raum. Was nämlich nicht irgendwo ist, ist nirgendwo, ist also nicht, ist also nichts. „necessario primum […] id autem spacium est. Omnia […], si alicubi non sint nullibi sunt, si nullibi sunt, neque etiam sunt. Si non sunt, nihil sunt. […] Spacium ergo haec omnia est.“35 Hier ist die Auffassung vom absoluten Raum als der notwendigen Bedingung räumlicher Existenz klar ausgebildet. Der Raum gehört nicht mehr zu den logischen Größen der Metaphysik, sondern zu den realen. Der Raum ist sogar notwendig unendlich, da er alles, Körper und Nichtkörper, wie Patrizi sagt, enthält.36 Der reale, unendliche Raum übernimmt also die Funktionen des sublunaren, des supralunaren und des außerkosmischen, leeren Raumes sowie die Erhaltungstätigkeit Gottes als Raum der Welt. Er enthält und trägt alles, was ist. Der Raum, so hat Th. Campanella Patrizis neue Metaphysik des absoluten Raumes zusammengefasst, ist die erste Substanz (substantia prima) und das Substrat der Existenz aller Dinge (spatium esse basin omnis esse creati).37 Der Raum sei die alles enthaltende Gottheit (est autem locus omnium divinitas substentans). Er gibt Sein und erhält es, in ihm leben, weben und sind wir (dans esse atque conservans, in ipsa enim vivimus, movemur et sumus).38 Über die schon vom Liber de intelligentiis bekannten Funktionen zu enthalten und zu erhalten, wird dem Raum hier die Seinsteilgabe zugeschrieben, also die Funktionen des göttlichen Einen. Darin sowie in der Größe und der Fundamentalität, allem voranzugehen, gleicht der Raum Gott39. Der Raum ist nach Campanella sogar unsterblich, während die Welt ein animal mortale sei40! Jedoch ist der Raum weder mit Gott identisch, noch Gott in ihm, sondern er in Gott (Deus non est in loco, sed locus in ipso). Auch hier also ermöglicht die Rezeption der hermetisch-kabbalistischen in Verbindung mit der neuplatonischen Tradition, den, wenngleich selbst illokalen, Gott als Raum des Raumes der Welt aufzufassen. ————— 35 Ebd. 36 Patrizi, Pancosmia, lib.VIII, Nova de universis philosophia, 83. 37 „locus ergo est substantia prima aut sedes aut capacitas immobilis et incorporea, apta ad receptandum omne corpus“ (T. Campanella, Physiologica, c.I, a.2, 4, zit. nach Cassirer, Erkenntnisproblem 1, 255.); „At agnosco ipsum [spatium] esse basin omnis esse creati omniaque praecedere esse saltem origine et natura“ (T. Campanella, De sensu rerum, lib.I, c.12, 40). 38 T. Campanella, Metaphysica, p.I, lib.I, c.XIII, a.1, 288. 39 „At longe praestantiorem magnitudinem Deus habet, praecedentem has omnes“ (De sensu rerum, lib.I, c.12, 41). 40 Ebd., lib.II, c.26, 157; lib.I, c.13, 43.

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Auf Patrizis und Campanellas Ansicht vom Raum als der Basis, dem Substrat und Aufnehmer aller geschaffenen Dinge, der körperlichen und unkörperlichen, lebendigen und toten (omnia recipit, basisque est omnis entitatis creatae, quae nisi in eo subsistere potest, aut viva aut mortua41) konnte G. Bruno zurückgreifen und den (nun explizit unendlichen) kontinuierlichen, unveränderlichen und unbeweglichen Raum als das erste und notwendige der physischen Dinge ansehen, der bleibt, wenn alle Körper entfernt werden, und der existierte, bevor die Dinge in ihn gesetzt wurden.42 Zwei wissenschaftstheoretische Konsequenzen und ein offenes Problem schließen sich an. Der Raum ist nicht mehr nur kategorialer Begriff, um Räumliches zu erfassen, sondern reales, physisches Substrat der Dinge. Er kann damit Gegenstand physikalisch-empirischer Forschung werden. Und wie der Raum der Materie vorangeht, so wird die Wissenschaft vom Raum, die Geometrie, zur Fundamentaldisziplin der Naturwissenschaft, ja der Philosophie überhaupt. „Weil der Raum das erste aller Naturdinge ist (spacium sit rerum naturae omnium primum), steht offensichtlich die Wissenschaft (scientia) von ihm, beides, sowohl des kontinuierlichen als auch des diskreten, vor der Materie. Daraus folgt, dass die Mathematik früher ist als die Physiologie […] Es ist offensichtlich, dass die Betrachtung der Naturdinge zuerst die Wissenschaft des Raumes enthalten und überliefern muss als die der Natur“, sagt Patrizi.43 Wenn Ausdehnung die Existenzbedingung endlicher Objekte sowie die Bedingung ihrer Erkenntnis ist, wird die geometrische Methode fundamental, so dass Descartes und Spinoza die Metaphysik, und zwar als Seins- und Erkenntnistheorie, more geometrico betreiben können.44 Das offene Problem ist: Die Hypostasierung des Raumes zu einer physischen Substanz als Existenzbedingung der Dinge erzwingt geradezu die Gleichsetzung von Existenz mit Räumlichkeit (Descartes, s.u.). Also hat alles, was existiert, einen Ort im Raum. Gilt dies auch von den immateriellen Substanzen? Ist insbesondere Gottes Raumanwesenheit selbst räumlich ausgedehnt? Ist die Ubiquität Gottes zwingend räumlich, und in welchem Verhältnis steht sie zum ubiquitären Raum? An dieser, von Patrizi und ————— 41 Ebd., lib.II, c.26, 157. 42 „Est ergo spacium, quantitas quaedam continua physica triplici dimensione constans, in qua corporum magnitudo capiatur, natura ante omnia corpora, et citra omnia corpora consistens, indifferenter omnia recipiens, citra actionis passionisque conditiones, immiscibile, impenetrabile, non formabile, illocabile, extra et omnia corpora comprehens, et incomprehensibiliter intus omnia continens. […] inter physica omnia natura primum, et primo necessarium“ (Bruno, De immenso et innumerabilibus, lib.1, c.VIII, Opera latine consripte, Bd. I/1, 231). 43 Patrizi, Pancosmia, lib.2: De spatio mathematico, Nova de universes philosophia, 68. 44 Zur Ausbildung der geometrischen Methode im Italien des 16. Jh. vgl. H.-B. Gerl, Einführung in die Philosophie der Renaissance, 134–139.

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Campanella noch offen gelassenen Frage, entzündete sich die Debatte zwischen Descartes und Henry More. Patrizi hatte im 20. Buch der Panarchia auf die Frage, ob die Gottheit überall, nirgends oder irgendwo sei (Divinitas, an sit ubique, an nullibi, an alicubi), nur die traditionelle Rede von der illokalen Ubiquität Gottes wiederholt, aber er hat doch die göttliche Ubiquität als eine räumliche Eigenschaft und zugleich die räumliche Ubiquität der Weltseele als eine göttliche Ubiquität verstanden: „Mit größter Sicherheit können wir schließen, dass Gott und die universale Gottheit [universam divinitatem, sc. die Weltseele oder der Raum!, U.B.], da sie immateriell, auch unkörperlich sei, von den Körpern oder der Materie keinen Widerstand erleide. Daher ist es ganz sicher, dass sie [!] überall ist, mit ihrem Sein, mit ihrer Macht, mit ihrem Wirken, und alles bewirken kann, bewirkt hat, was auf der Erde, in den gesamten Elementen, im Himmel und über den Himmeln ist, das Sichtbare und Unsichtbare, und alles in allem belebt und alles wirkt. Gott jedoch ist auf diese Weisen überall. Nicht aber, wie Aristoteles wollte, nur irgendwo, über oder außerhalb des Himmels. Er ist auch nirgendwo, weil er nirgends fixiert, nirgends lokalisiert ist. Sondern alles durchdringend, von allem verschieden und abgetrennt, reißt er in seiner Würde und dem Abgrund der Überhoheit sich von unseren Sinnen, auch unserem Denken in die Höhe hinweg.“45

8.3 Der Raum als ubiquitäre Substanz (More vs. Descartes)? 1. Der Raum als körperliche Ausdehnung (Descartes) Die Aufwertung des Raumes zu einer selbständigen Substanz und zu einer rationalen, mathematischen Realität, wird besonders deutlich bei Descartes, ausgeführt im zweiten Buch der Principia philosophiae. Der Raum ist ihm ausgedehnte Substanz (substantia extensa46). Die Ausdehnung macht das Wesen oder die Natur des Raumes aus (extensionem naturam spatii constituit47). Ausdehnung ist für Descartes kein qualitativer, sondern ein quantitativer Begriff. Ausdehnung besteht in der dreidimensionalen Erstreckung nach Länge, Breite und Tiefe, die an der Körpererstreckung abgemessen werden kann. Die Substantialität des Raumes ist bei Descartes eine materielle Substantialität. Er setzt die Ausdehnung und damit den Raum mit der ————— 45 Patrizi, Panarchia, lib.20, Nova de universis philosophia, 42[b = 44] (Achtung doppelte Seitenzählung: auf 42,43 folgt 42,43 [=b], es fehlt 44,45, dann 46ff). 46 Descartes, Principia philosophiae II,8. 47 Ebd., II,11; vgl. II,10.

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materiellen Erstreckung gleich. Ausdehnung und Materie sind identisch, weil Materie mit Ausdehnung identisch ist. Das Wesen des Körpers besteht allein darin, dass er ausgedehnte Substanz ist (naturam corporis in sola extensione consistere48). Das was einen Körper zum Körper macht, sind nicht seine Qualitäten wie Härte, Schwere, Farbe o.dgl., sondern allein seine Ausdehnung nach Länge, Breite und Tiefe (tantum sit res extensa in longum, latum et profundum49). Aus der Gleichsetzung von Ausdehnung und Materie folgt 1., dass es keinen leeren Raum geben kann, weder physikalisch noch prinzipiell. „Dass es ein Vakuum, d.h. etwas in dem gar keine Substanz sich befindet, nicht geben kann, ist daraus offensichtlich, dass sich die Ausdehnung des Raumes oder des inneren Ortes nicht von der Ausdehnung des Körpers unterscheidet.“50 2. folgt aus der Identität von Materie und Ausdehnung, dass Raum und Körper nur begrifflich unterschieden werden können. Zwar könne man (mit den Scholastikern wie Suarez) den äußeren Ort der Lage eines Körpers und seinen inneren Ort, den Volumen-Raum, unterscheiden, allerdings nur in der Vorstellung, insofern bei einer Bewegung des Körpers das Volumen bleibt, während der äußere Ort wandert, aber tatsächlich sei die Ausdehnung mit dem Volumen identisch. Für jeden Zeitpunkt (Descartes unterstellt ein atomistisches Zeitverständnis51) fallen locus externus und locus internus immer zusammen. Daraus zieht Descartes eine ganz unaristotelische Konsequenz. Aus der Gleichsetzung von Materieerstreckung mit geometrischer (!) Ausdehnung folgt nämlich 3., dass es keine Begrenzung der körperlich-stofflichen Welt geben kann. Die Welt oder die Gesamtheit der körperlichen Substanzen habe keine Grenzen der Ausdehnung.52 4. schließlich folgt die geometrische und stoffliche Homogenität, die materielle Einheit und die geometrisch-kinematische Gleichförmigkeit des Kosmos. Die Materie des Himmels ist keine andere als die der Erde; die Materie nimmt alle vorstellbaren Räume ein; im gesamten Universum existiert nur eine und dieselbe Materie, nämlich die ausgedehnte; Bewegung und Ruhe sind nur relativ verschieden als verschiedene Zustände eines Körpers.53 ————— 48 Ebd., II,4. 49 Ebd. 50 Ebd., II,16. 51 Die Erhaltung der Dinge in den einzelnen Momenten seiner Dauer versteht Descartes als gleichwertig einer Neuschöpfung von Augenblick zu Augenblick, vgl. Meditationes de prima philosophia, III,31 = Meditationen mit sämtlichen Einwänden, 149: „Die gegenwärtige Zeit hängt von der unmittelbar vorhergehenden nicht ab, und es bedarf darum keiner geringeren Ursache, um eine Sache zu erhalten, als um sie selbst ursprünglich hervorzubringen.“ 52 Principia philosophiae II,21. 53 Ebd., II,22–23.27.

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Die metaphysischen Voraussetzungen und Konsequenzen der Descartesschen Raumtheorie sind zusammengefasst die folgenden. Er vertritt die mathematische Idealität des realen Raumes. Diese Behauptung ist nicht empirisch, sondern apriorisch gewonnen. Die extensio gehört zu den eingeborenen, reinen Ideen, die die Vernunft distinkt und klar in sich vorfindet.54 Ausdehnung ist ein reiner Begriff, dem Erkennen und dem Erkenntnisobjekt vorausliegend. Descartes lehrt also wie schon Suarez und dann Kant die transzendentale Idealität des Raumes als Bedingung der Möglichkeit, räumliche Gegenstände als räumliche wahrzunehmen. Der Raum ist aber nicht bloßer Begriff, sondern hat wie bei Suarez ein Fundament in re. Als Begründung nennt Descartes, dass wenn die Idee der ausgedehnten Materie von Gott unmittelbar eingegeben wäre und nicht ihre Entsprechung in den außer uns befindlichen Dingen hätte, Gott als Betrüger gelten müsste.55 Die extensio als eingeborene Idee, d.h. als transzendentale Idealität, ist in den Dingen realisiert in Gestalt der räumlichen Ausdehnung der Körper. Die transzendentale Idee korrespondiert der empirischen Realität, die bei Descartes anders als bei Kant in der Materialität, nicht in der Phänomenalität besteht. Aus der Entsprechung von Idee und materialer Realität folgt die Gleichsetzung von Raum und Materie. „Non in re differunt spatium […] et substantia corporea“56. Und wenn es keinen Raum an sich, abgesehen von den materiellen Körpern und ihrer Lagebeziehung, gibt, ist schon der Begriff eines leeren Raumes sinnlos. Da der Begriff der Ausdehnung die Unbegrenztheit nach allen drei Dimensionen einschließt, muss auch die Materie in alle drei Raumrichtungen unbegrenzt ausgedehnt sein. Der Kosmos Descartes ist notwendigerweise indefinit. Was folgt daraus für das Verhältnis von Gott und Raum? Aufgrund der Gleichsetzung von Ausdehnung und Materie muss Descartes, um nicht zu einem Materialismus der Geistsubstanzen zu kommen, diesen die Ausdehnung absprechen. Alle Geistsubstanzen, vom Ich (res cogitans) über die Engel bis zu Gott sind raumlos, wenngleich nicht notwendig ortlos. Die Seele ist, soweit mit einem Körper verbunden, am Ort des Körpers lokalisiert. Gott als unendliche Geistsubstanz – seine Unendlichkeit wird streng von der indefiniten Ausdehnung des Kosmos unterschieden – hat keinen Bezug zum Ort. Er ist zwar wirkend an der Materie, jedoch nicht substantiell in ihr bzw. im Raum anwesend. Dazu muss Descartes strikt zwischen essentia und potentia Dei unterscheiden. Wäre Gottes Raumpräsenz essen————— 54 Regulae ad directionem ingenii, reg. XII,13, §418, Z.187, in: Philosophische Schriften in einem Band, S.86. 55 Principia philosophiae II,1. 56 Ebd., II,10.

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Gott und Raum

tiell, so wäre sie, wegen der Gleichsetzung von Raum und Materie, pantheistisch. Daher muss Descartes, wie wir am Streit mit More noch genauer sehen werden, Gott die Präsenz per essentiam absprechen und kann nur die Präsenz per potentiam zugeben. Es ist nicht verwunderlich, dass er sich deswegen dem Vorwurf ausgesetzt sah, die Allgegenwart Gottes überhaupt zu leugnen. Es ist der Doppelvorwurf des Atheismus und Materialismus, den Henry More gegen Descartes erhebt. 2. Der Raum als immaterielle Substanz (More) Henry More (1614–1687) war nach Benjamin Whichcote (1609–1683) und gefolgt von Ralph Cudworth (1617–1688) und John Smith (1618–1652) der führende Kopf der Cambridge-Platoniker.57 In Folge der durch Marsilio Ficinos weitangelegte Herausgabe, Übersetzung und Kommentierung der gesamten platonischen Schriften – Platons selbst, der Neuplatoniker Plotin, Jamblichos, Proklos, Porphyrios, Dionysius Areopagita und des Corpus Hermeticum – sowie der Lektüre von Ficinos Hauptwerk, der Theologia platonica, kam es im England des 17. Jahrhunderts zu einer Renaissance des Platonismus. „Platonismus“ meint hier ein Amalgam aus christlichem, platonisch-neuplatonischem, hermetischem, aber auch pythagoräischem und stoischem Denken und bedeutet eine neue Hochschätzung der Vernunftseele, welche als Bindeglied zwischen der göttlichen und irdischen Welt, zwischen Makro- und Mikrokosmos vermittelt. Die Seele ist in Gestalt der Weltseele einheitsstiftendes Zentrum und verknüpfendes Band der Natur, in Gestalt der Einzelseelen Vermittlerin des Lebens und der göttlichen Erkenntnis.58 Ficinos platonisierend-christliche Universalphilosophie rezipierten die Cambridger im Kampf gegen den Empirismus Bacons einerseits und den Materialismus und Mechanismus von Descartes, Hobbes und Gassendi andererseits. ————— 57 Zum Ganzen vgl. E. Cassirer, Die platonische Renaissance in England und die Schule von Cambridge; F. Ueberweg, Grundriss der Geschichte der Philosophie 3/1: Die Philosophie des 17. Jahrhunderts. England, 240–290 (mit Bibliographie). 58 „Die Seele trägt in sich die Bilder der göttlichen Wesenheiten, von denen sie abhängt, wie die Gründe und Musterbilder der niederen Dinge, die sie auf gewisse Weise selbsttätig erschafft. Sie ist die Mitte von allem und besitzt die Kräfte von allem. Sie geht in alles ein, ohne doch, da sie die wahre Verknüpfung der Dinge ist, den einen Teil zu verlassen, wenn sie sich einem anderen zuwendet. So darf sie mit Recht das Zentrum der Natur, die Mitte des Universums, die Kette der Welt, das Antlitz des Alls und die Fessel und das Band der Welt heißen (centrum naturae, uniuersorum medium, mundi series, uultus omnium, nodusque et copula mundi)“ (M. Ficino, Theologia platonica, lib. III, c.2, in: Opera omnia I, 121, Übersetzung nach Gerl, Philosophie der Renaissance, 60).

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Sie postulieren eine, die plotinische Weltseele, die stoischen Keimkräfte (rationes seminales) und die aristotelische Entelechie vereinende Formkraft als Prinzip des Lebens und der Gestaltbildung. Dieses belebende Grundprinzip ist nicht reine Rationalität, sondern vitalistisch und formbildend. Wie besonders Cudworth in „The true intellectual system of the universe“ herausstellte, beruht alles Geschehen nicht auf der Wirkung mechanischer, äußerlicher Stoßkräfte, sondern auf einem die ganze Natur durchdringenden, von innen gestaltenden plastischen Prinzip, der „plastick nature“. Diese innere Kraft ist kein selbstmächtiges Agens, sondern unbewusst, sie wirkt nicht urbildlich-archetypisch, sondern abbildlich-ektypisch: Sie ist das von der göttlichen Weisheit in Kraft und Auftrag gesetzte Medium der Vorsehung Gottes, durch das er handelnd in der Welt tätig ist, ohne übernatürlich in die physikalischen Abläufe eingreifen zu müssen.59 Dass diese im Raum ausgebreitete und die biologischen und physikalischen Vorgänge von innen formende Keimkraft in Widerspruch zu Descartes mechanistischem Naturbild kommen musste, liegt auf der Hand. Bevor wir detailliert H. Mores Einwände gegen Descartes nach dem Briefwechsel von 1648/49 sowie seine eigene spiritualistische Raumauffassung nach dem metaphysischen Handbüchlein von 1671 darstellen, wollen wir einige Hauptpunkte und den Kontext seiner Descartes-Kritik nennen. Obwohl More einer der ersten Anhänger Descartes’ in England war und schon 1646 die „sublime and subtill mechanick“ von Descartes Principia philosophiae von 1644 lobte,60 hat er von Anfang an gegen eine rein materialistisch-mechanistische Physik gekämpft. Mores Annahme einer immateriellen Geistsubstanz (spiritus naturae oder vis plastica) als Wirk- und Präsenzmedium der göttlichen Vorsehung, die Raum und Zeit durchdringt und Quelle allen Lebens, aller Kräfte und Bewegungen sei,61 entfremdeten ————— 59 „Wherefore since neither all things are produced Fortuitously, or by the Unguided Mechanism of Matter, nor God himself may reasonably be thought to do all things Immediately and Miraculously; it may well be concluded, that there is a Plastick Nature under him, which is an Inferior and Subordinate Instrument, doth Drudgingly Execute that Part of his Providence, which consists in the Regular and Orderly Motion of Matter. […] [Plastick] Nature is not the Divine Art Archetypal, but only Ectypal, it is a living Stamp or Signature of the Divine Wisdom, which though it act exactly according to its Archetype, yet it doth not at all Comprehend nor Understand the Reason of what it self doth“ (R. Cudworth, The true intellectual system, lib. I, c.3, sect. 37, §5, 150/§11, 155). 60 H. More, Demokritus Platonissans; in diesem Gedicht wird, wie der Untertitel „an Essay upon the Infinity of Worlds out of Platonick Principles“ sagt, die Unendlichkeit der Welten vertreten, erstmals in England die Existenz des absoluten Raumes und der absoluten Zeit behauptet und über Descartes hinaus eine Raum und Zeit durchdringende immaterielle Vitalsubstanz postuliert. 61 H. More, Immortalitas animae (The immortality of soul), lib.III, c.XII, §1, Opera omnia II, 430; c.XIII, §10, ebd. 437: „spiritum naturae existimare licet quasi praetectum Hospitiis supremum Providentiae divinae.“

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ihn mehr und mehr von Descartes, der in Fortführung der nominalistischen vis impressa- oder impetus-Theorie ein Trägheitsprinzip entwickelt hatte, nach dem Gott alle Dinge in dem Zustand erhält, in dem sie sich befinden, Veränderungen aber nicht von Gott verursacht sind, sondern durch mechanische Einwirkungen der Körper aufeinander. „Ein jedes Ding, insofern es ein einzelnes und ungeteiltes ist, verbleibt von sich aus in demselben Zustand und verändert sich niemals außer durch äußere Ursachen.“62 Descartes hält dies für ein aus der Unveränderlichkeit Gottes folgendes Naturgesetz (regula sive lex naturae). Gott erhält die Dinge genau so, wie er sie geschaffen hat, so dass ein Erhaltungssatz der Materie und der Bewegung gilt.63 Die Weltentwicklung geht dementsprechend so vor sich, dass Gott am Anfang ungeordnete, kosmische Materie in Bewegung geschaffen hat, aus deren Verwirbelungen nach und nach die Himmelskörper und das Sonnensystem nach rein mechanischen Gesetzen entstanden.64 Gegen die Vorstellung der Welt als eines in sich geschlossenen, deterministischen Naturzusammenhangs von mechanischen Wirkungen, der die ordentlichen und die außerordentlichen Eingriffe Gottes ausschließt, hat sich More ebenso wie Newton gewehrt. Paradoxerweise hat gerade Newtons Entdeckung der Gravitationskraft als einer nun von außen, berührungslos per Fernwirkung agierenden vis impressa (im Unterschied zur der Masse innewohnenden vis insita, der Trägheit, und den mechanischen Stoßkräften) das Wie der kosmologischen Entwicklung geklärt und die Aufnahme von Descartes Wirbeltheorie in die gravitative, mechanistische Kosmogonie von Kant und Laplace ermöglicht.65 Newton selbst nämlich verstand unter der Gravitationskraft die Kraft, mit der Gott die Welt bewegt, und also gerade keine mechanische, sondern eine nicht-mechanische Kraft nach Art, wie die Vernunftseele den Körper bewegt. Das Medium, durch das die berührungslos fernwirkende Gravitation übertragen wird, ist der Raum. Auch bei Henry More ist das Medium, durch das ihm das unmittelbare essentielle und operative Einwirken Gottes auf die Welt vermittelt wird, ————— 62 Descartes, Principia philosophiae, II,37. 63 Ebd., II,42. 64 Descartes, Discours de la methode, V, 2–3, in: Philosophische Schriften in einem Band, 68–75, hier eine Zusammenfassung seiner, auch das kopernikanische System verteidigenden Schrift Le monde von 1634, die Descartes, als er vom Inquisitionsprozess gegen Galilei 1633 hörte, zurückhielt und erst nach seinem Tod teilweise veröffentlicht wurde (Text und Einführung in Oeuvres, Bd. XI, 1–215). 65 I. Kant, Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels, A XXXIIIf, 237: „Gebet mir Materie, ich will eine Welt daraus bauen! das ist, gebet mir Materie, ich will euch zeigen, wie eine Welt daraus entstehen soll. Denn wenn Materie vorhanden ist, welche mit einer wesentlichen Attraktionskraft begabt ist, so ist es nicht schwer, diejenigen Ursachen zu bestimmen, die zu der Einrichtung des Weltsystems, im Großen betrachtet, haben beitragen können“ (Werkausgabe Bd. 1, 237); zur Kant-Laplaceschen Kosmogonie vgl. B. Kanitscheider, Kosmologie, 111–131; D. Evers, Raum – Materie – Zeit, 73–76.

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neben den Geistsubstanzen der Raum. Denn gäbe es keinen Raum, in dem Gott und die Geister sich verbreiten und lokalisieren könnten, wären sie nirgendwo und könnten keine Kräfte ausüben. Spöttisch hat More die Cartesianer und Hobbianer Nullibisten genannt.66 Die Geisterlehre Mores (im Ansatz schon bei Patrizi), wirkte in Faradays und Maxwells Kraftfeldern weiter, die Newtons Fernwirkung der Gravitationskraft in die Nahwirkung des Feldes überführten und auch auf die elektromagnetischen Kräfte bezogen, die wie die Geister (und das stoische Pneuma) stetig im Raum ausgebreitet sind, sich superponieren, ohne sich zu stören und die Materie ungestört durchdringen. Der Raum, so argumentiert More im ersten Buch der Divine dialogues von 1668 im Zusammenhang einer umfassenden Apologetik seiner spiritualistisch-vitalistischen Kosmologie, ist eine immaterielle Substanz, die 1. von der Materie unabhängige Realität besitzt, 2. unermesslich ausgedehnt ist und 3. die Notwendigkeit und weitere Attribute Gottes besitzt. Das Erste beweist More mit einem Gedankenexperiment. Eine schräge Linie im Innern eines Glaszylinders, vom Zentrum der oberen Deckfläche zur Peripherie der unteren gezogen, beschreibt bei rascher Rotation einen Kegel, also einen stehenden, sichtbaren Raum trotz der Bewegung der Materie. Gegen den Einwand, dieser Raum sei durch die träge Sinneswahrnehmung eingebildet, kommt der Gegeneinwand, der Kegel sei vermessbar, also real. Daraus schließt Philotheus, einer der Gesprächspartner, der die Meinung Mores vertritt: „So kommst du, ob du lebst oder nicht, zu der sicheren Überzeugung: Es war, ist, und wird immer eine unbewegliche Ausdehnung geben, die von der beweglichen Materie verschieden ist.“67 Die Realität wird folgendermaßen aus der empirischen Messbarkeit gefolgert. Die Eigenschaft (Akzidenz) der Messbarkeit erfordert als Substrat eine ausgedehnte Substanz. Deren Stofflichkeit muss sehr klein sein, da sie alle Körper durchdringt und von diesen nicht verdrängt wird. Da der Raum auch bleibt, wenn man die Körper wegnimmt, so hat er eine notwendige, nicht wegdenkbare Existenz. Und er hat zweitens eine unbegrenzte Ausdehnung, die als Art Schatten der unermesslichen Größe Gottes, als divine amplitude, verstanden werden kann. In dieser Substanz werden alle Dinge wahrgenommen und in ihr leben, sind und bewegen sie sich. Der Raum ist die für das Sein und das Wahrnehmen der Dinge fundamentale Substanz. Er hat wie schon im Liber ————— 66 H. More, Enchiridion metaphysicum I, c.27–28, Opera omnia I, 307–326, auf nahezu jeder Seite. 67 H. More, Dialogi divini (Divine dialogues) I, 26, Opera omnia I, 664: „immobile quoddam existere extensum a mobile materia distinctum.“

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de intelligentiis und bei Campanella die göttlichen Eigenschaften zu enthalten und zu erhalten, ohne selbst bewegt oder geteilt zu werden. More sieht hier eine Konvergenz des aristotelischen ersten Bewegenden mit dem stoisch-pythagoräisch-neuplatonischen Pneuma und dem kabbalistischen Makom. „Darum haben die Kabbalisten nicht umsonst Gott die Titel makom (Raum) und adonai (Herr) beigelegt, welcher der unbewegte Beweger, das Gefäß und der Erhalter aller Dinge ist (titulos ʭʥʷʮ & ʩʰʥʣʠ attribuerunt Deo, qui immobilis Motor est, Receptaculum et sustentator rerum omnium).“68 Drittens folgt die Notwendigkeit der Existenz des Raumes als einer unbeweglichen und unteilbaren, unbegrenzt ausgedehnten Substanz aus der Unmöglichkeit seiner Nichtexistenz. Raum ist die notwendige Bedingung für die Existenz und Wahrnehmung ausgedehnter Dinge. Der Raum ist real, obgleich er weder körperlich, noch undurchdringlich oder berührbar ist. Daher „ist es notwendig, dass eine Substanz existiert, die unkörperlich, notwendig und ewig aus sich selbst besteht.“69 Da der Raum göttliche Eigenschaften trägt, es aber nur ein notwendiges Wesen geben kann, muss der Raum mit den metaphysischen Attributen des göttlichen Wesens zusammenfallen. Die Existenz des Raumes beweist für More die Existenz Gottes! Zum ersten Mal wird hier ein Gottesbeweis aus dem Raum geführt, der zudem das Zeugnis der Offenbarung von Gott als Raum bestätigt. 3. Der Briefwechsel: Streit um die Ubiquität Gottes Henry More hat mit Descartes in den Jahren 1648/49 einen detaillierten Briefwechsel mit Descartes über den Raum geführt. More schrieb an Descartes am 11.12.1648, am 5.3., 23.7. und 21.10.1649, Descartes beantwortete die beiden ersten Briefe am 5.2. und 15.4.1649, auf den dritten verfasste er im August 1649 eine Antwort, die er nicht abschickte. Den vierten Brief Mores erhielt Descartes vermutlich nicht, da er im September 1649 auf Einladung der Königin Christine nach Schweden abreiste, wo er wenige Monate später starb. Für uns relevant sind die beiden ersten Briefwechsel, während die letzten geometrische Details behandeln.70 ————— 68 Ebd., I, 27, S.665, mit Bezug auf Ps. 90,1f; eine Vielzahl kabbalistischer Motive im Gottes-, Geist- und Naturverständnis Mores, der zur Kabbala Dennudata des Christian Knorr von Rosenroth selbst wichtige Beiträge lieferte (More, Opera omnia, pass.), zeigt W. Schulze, Der Einfluss der Kabbala auf die Cambridger Platoniker Cudworth und More, auf. 69 H. More, Antidotus adversus Atheismum (Antidote against atheism), Appendix, c.VII, §6, Opera omnia II, 162f: „hoc spatium aliquid sit reale, nec tamen corporeum, nec impenetrabile sit nec tangibile; necesse plane est, ut substantia sit incorporea, necessario et aeterno a se ipsa existens.“ 70 Der Briefwechsel ist abgedruckt in More, Opera omnia II, 227–271, sowie Descartes, Oeuvres, Bd. V, 236ff; 267–279; 298–317; 340–348; 376–390; 401–405; 434–444, wonach wir

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More akzeptiert im ersten Brief Descartes’ Unterscheidung zwischen den körperlichen und den geistigen Substanzen, widerspricht aber dem Unterscheidungs-Kriterium. Dies könne nicht die Ausdehnung sein, da auch immaterielle Substanzen, selbst Gott, ausgedehnt seien. „Die von dir gegebene Definition der Materie oder des Körpers ist viel zu weit. Gott scheint nämlich eine res extensa zu sein, auch der Engel […] Daher scheint es mir offensichtlich, dass Gott auf seine Weise ausgedehnt ist, da er ja allgegenwärtig (omnipraesens) ist und das gesamte Weltall (universam mundi machinam) wie ihre einzelnen Teile innerlich (intime) erfüllt. […] Gott ist jedoch auf seine Weise ausgedehnt und ausgebreitet; und dann ist er eine ausgedehnte Sache (res extensa).“71 Die Allgegenwart Gottes, die More nicht anders als räumlich verstehen kann, spricht dagegen, Ausdehnung als exklusive Eigenschaft von Materie anzusehen. Als alternative Definition schlägt er mit Lukrez vor, Materie als berühren und berührt werden zu definieren.72 Auch J. Locke hat die Undurchdringlichkeit als Definiens von Materie verwendet.73 Mit den Atomisten Epikur, Demokrit, Lukrez widerspricht More auch Descartes prinzipieller Ablehnung des Vakuums. Dessen Nichtexistenz sei höchstens naturnotwendig, nicht logisch zwingend (non necessitate logica, sed naturali74). Das Motiv für More ist dabei nicht wie bei Gassendi, den materialistischen Dualismus der Atomisten zwischen dem völlig leeren Raum (inane, vacuum) und den Körpern wiederaufzurichten, sondern einzig Descartes’ Gleichsetzung von Ausdehung und Materie zu bekämpfen. Einen absolut leeren Raum hält auch More nicht für möglich, ist er doch immerzu von der Ausdehnung Gottes erfüllt!75 Gegen diese Gottesvorstellung wandte sich Descartes in seiner Antwort. Man könne nicht die Ausdehnung zum definierenden Kriterium von Substanzen, also von per se subsistierenden Wesen, einschließlich Gottes und der Engel, machen. „Wenn jemand daraus, dass Gott überall ist, sagt, er sei in gewisser Weise ausgedehnt (quodammodo extensum), lasse ich mir das gefallen. Aber ich bestreite, dass tatsächliche Ausdehnung, wie sie gewöhnlich verstanden wird, in Gott oder in Engeln oder in unserm Geist oder in ————— zitieren, zu Details vgl. auch Koyré, Von der geschlossenen Welt zum unendlichen Universum, 105–118. 71 Descartes, Oeuvres V, 238,20–239,4. 72 „Tangere enim et tangi, nisi corpus, nulla potest res“ (Lukrez, De Natura rerum I, 304). 73 In Lockes Sensualismus ist die solidity allerdings Tasteigenschaft: „Die Idee der Festigkeit erhalten wir durch den Tastsinn“ (Versuch über den menschlichen Verstand, Buch II, c.IV.1, Bd. 1,131). 74 Descartes, Oeuvres V, 241,7f. 75 „extensionem diuinam occupare assero unam alteramque orgyam, in hoc vel illo vacuo“ (ebd., 302,23f); ebenso S. Clarke, Der Briefwechsel mit G.W. Leibniz, Clarkes vierte Entgegnung, §9, 53: „Unter leerem Raum verstehen wir nie einen von allem, sondern nur einen von Körpern leeren Raum. In jeglichem leeren Raum ist sicherlich Gott gegenwärtig.“

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jeglicher nicht körperlicher Substanz sei.“76 Ausdehnung im üblichen Sinn sei aus der Anschauung der Gegenstände abgezogen und mit Größe, Form und Teilen verbunden. Würde man aber „annehmen, Gott besitze Teile außerhalb von Teilen und sei teilbar, dann würde man ihm das ganze Wesen einer Körpersache zuschreiben.“77 Es ist ersichtlich, dass Descartes hier More sein eigenes Raumverständnis unterstellt. In der Tat, wenn man Ausdehnung mit Körperlichkeit gleichsetzt, wird der Raum teilbar und mit ihm die „Ausdehnung“ Gottes. Descartes dagegen beharrt auf der Unterscheidung zwischen der körperlichen Ausdehnung und der göttlichen Größe bzw. zwischen der unbegrenzten Ausdehnung des Weltraumes (extensio indefinita) und der intensiven, einfachen Unendlichkeit Gottes (simpliciter infinitas). Letztere sei keine Ausdehung im üblichen Sinn des Begriffs, sondern der Substanz und des Wesens. Gott sei nicht ratione extensionis größer als die endlose Welt, sondern ratione perfectionis, bzgl. der Vollkommenheit.78 Tatsächlich hat More, wie in seinem zweiten Brief und Descartes’ Antwort darauf deutlich wird, nicht zwischen Unbegrenztheit und Unendlichkeit unterschieden, da letztere unbegreiflich sei. Die Welt sei entweder endlich oder nicht endlich, dann aber auch unendlich, u.d.h. simpliciter infinitum, denn die Endlosigkeit sei genauso unfassbar wie die Unendlichkeit.79 Gottes Unendlichkeit wiederum schließe ein, dass er überall existiert und nirgendwo untätig sei. Also kann man die Unendlichkeit Gottes in räumlicher Hinsicht mit der unendlichen Erstreckung der Welt gleichsetzen. Damit werde keineswegs Gottes Ausdehnung teilbar wie ein Körper. Natürlich ist Gott in keiner Weise teilbar und auch seine Größe nicht messbar, gibt More Descartes völlig recht.80 Das ist in der räumlichen Ausdehnung auch keineswegs impliziert, wenn man nur zugesteht, dass der unendliche Raum unteilbar ist, was natürlich voraussetzt, dass man Raumausdehnung und Körperlichkeit strikt trennt. Eine Verständigung zwischen More und Descartes war nicht möglich. Die differierenden Raumauffassungen korrespondierten zwei differierenden Vorstellungen von der Allgegenwart Gottes. More wollte die ganze Unendlichkeit Gottes dem Wesen nach im Raum präsent sehen, vertrat also mit der theologischen Tradition die Allgegenwart per essentiam. Um sagen zu können, dass Gott seinem Wesen nach an allen Orten oder Räumen und Raumpunkten anwesend ist, indem er alle Orte füllt, ohne Zwischenräume ————— 76 77 78 79 80

Descartes, Oeuvres V, 269,27–31. Ebd., 274,24–26. Ebd., 275,9–12; 344,12–14. Ebd., 304,9–11. Ebd., 305,14–17.

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zu lassen („sua essentia omnibus locis siue spatiis spatiorumque punctis adsit, […] loca omnia occupet, nullis relictis interuallis“81), musste er den Raum strikt von der Körpererstreckung lösen und ihm geistige Wesenheit zuschreiben. Descartes hingegen konnte ob der substantiellen Gleichsetzung von Ausdehung und Materie einerseits und der substantiellen Unterscheidung von den unausgedehnten, immateriellen Geistsubstanzen andererseits, Gott nur die Ubiquität per potentiam zuschreiben. Hinsichtlich seines Wesens habe er keinerlei Bezug auf den Ort („Deum ratione suae potentiae ubique esse; ratione autem suae essentiae, nullam plane habere relationem ad locum“82.) Nur in Gott selbst seien Potenz und Essenz nicht unterschieden, wohl aber in der Weltgegenwart. Der strittige Punkt war offenbar die Interpretation des ubique. Während für More Gottes Ubiquität raumzeitlich sein muss, um wesentlich zu sein, hat bei Descartes Gott keinen wesentlichen raumzeitlichen Bezug zur Welt. Seine materiale Raumtheorie korrespondiert mit der Ortlosigkeit der göttlichen Ubiquität, sonst würde Gott selbst körperlich gedacht. Dabei konnten sich beide Parteien mit Recht auf die Tradition berufen, More auf die Allgegenwart per essentiam, Descartes auf die Ortlosigkeit der Unendlichkeit Gottes. Der Streit zeigt, dass die paradoxen Formulierungen von Augustin über die mathematische Mystik bis zur lutherischen Orthodoxie, dass Gottes Allgegenwart wesentlich und im Raum, aber nicht räumlich, den Raum erfüllend, aber nicht im Ort aufgehend, in allem, aber nicht eingeschlossen etc. das Zuordnungsproblem verschleiert hatten. Die Unterscheidung zwischen Ubi und locus und entsprechend die Behauptung der ubiquitären, aber illokalen Allgegenwart Gottes war nur solange unproblematisch, als der Status des Raumes unklar und vage war neben dem körperlich definierten Ortsbegriff. Sobald aber der Raum als eigene Realität und Substanz begriffen wird, muss es zu einer Entscheidung kommen, wie genau sich Gott zu dieser verhält. Wenn Ort und Raum bzw. Ausdehnung nicht mehr zweierlei sind, kann Gottes Allgegenwart nur entweder räumlich und dann auch am Ort, oder ortlos, dann aber auch unräumlich verstanden werden. Während die Unterscheidung von Körper und Raum resp. Ausdehnung bei More ein ausgedehntes Verständnis des Geistigen, also von Raum, Geistern, Kraft und Gott möglich machte und mit der Physik der Kraftwirkungen im realen Raum über Newton, Clarke, Raphson bis zum vorkritischen Kant, Faraday und Maxwell harmonierte, erforderte Descartes’ Auffassung von der Ortlosigkeit Gottes auch, die Realität des Raumes als einer geistigen Substanz aufzugeben, so bei Leibniz und dem kritischen Kant. ————— 81 82

Ebd., 305,10–14. Ebd., 343,16–19.

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Bevor wir den Kampf um den Raum weiterverfolgen, wollen wir noch Henry Mores positive Entfaltung seiner Raumtheorie im 8. Kapitel des „Enchiridion metaphysicum“ diskutieren. 4. Der Raum als göttliche Ausdehnung Ausdehnung, so argumentiert More mit Descartes, kann nicht Ausdehnung von nichts sein, denn das Nichts hat keine Eigenschaften. Daraus folgt die Realität des inneren Ortes oder Volumens. Wenn Ausdehnung vorhanden ist, so muss notwendigerweise Substanz in ihr sein.83 Das gilt nach More, nun gegen Descartes, auch für äußere Orte oder Erstreckungen, deren Ausdehnung realen Zwischenraum überbrückt. Ausdehnung kann dann nicht nur ein respektiver oder notionaler Begriff sein. Jede Ausdehnung erfordert ein fundamentum reale.84 Ausdehnung ist also das reale Attribut eines realen Subjektes. Da es sich um ein reales Attribut handelt, muss das Subjekt oder die Substanz, dessen Attribut die Ausdehnung ist, auch dann existieren, wenn kein materielles Substrat vorhanden ist. „Daher ist es notwendig, dass ein reales Subjekt die Ausdehnung trägt, weil es ein reales Attribut ist. Dieses Argument ist so sicher, dass es nicht sicherer sein kann.“85 In der Tat, innerhalb der traditionellen Substanzontologie ist der Rückschluss vom realen Attribut auf das reale Subjekt unabweisbar. Ein Akzidenz kann nicht mehr Realitätsgehalt (realitas objectiva) haben als die zugrunde liegende Substanz und schon gar nicht ohne sie existieren. Es wäre ein Akzidenz von nichts, aber das Nichts hat keine Eigenschaften. Auch Descartes vertritt ja, wie gesehen, die Substantialität des Raumes, wenn auch bloß materiell. Anders More: „Ausdehnung kommt dem Körper nicht zu, insofern er Körper ist, sondern insofern er Seiendes, oder wenigstens Substanz ist.“86 Der Raum ist also unkörperliche, d.h. geistige Substanz. „Da ich klar bewiesen habe, dass der Raum oder innere Ort real von der Materie unterschieden ist, schließe ich, dass er eine gewisse unkörperliche Substanz (substantia incorporea) oder Geist ist, wie schon die Pythagoräer behauptet haben. Und durch dasselbe Tor, durch das die Cartesianer Gott aus der Welt vertreiben wollten, möchte ich ihn wieder einführen.“87 Wenn nun im nächsten Schritt die Ausdehnung als eines der Attribute Gottes verstanden und der Raum mit der Ausdehnung Gottes gleichgesetzt ————— 83 Descartes, Principia philosophiae, II,16; More, Enchiridion metaphysicum I, c.VIII, §4, Opera omnia I, 166. 84 Ebd. §5, 167. 85 Ebd. §6, 167. 86 Descartes, Oeuvres V, 305,7–9. 87 More, Enchiridion metaphysicum I, c.VIII, §7, 167.

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wird, gilt erstens, dass (unendliche) Ausdehnung etwas Göttliches ist: „Divinum quiddam hoc Extensum infinitum ac immobile“88, und zweitens, dass Gott ein ausgedehntes Wesen ist: „Deus est res extensa“89. Beide Sätze finden sich außer bei More auch bei Cudworth90 und Raphson, aber eben auch bei Spinoza: „Extensio attributum Dei est, sive Deus est res extensa“91. Waren More und seine Freunde Spinozisten? Dem Selbstverständnis nach natürlich nicht, sie bezichtigten Spinoza wegen der Vermischung von Gott und Natur des Atheismus. „plane Deum ac Naturam confundit idemque facit, nullumve Deum agnoscit praeter Naturam.“92 Der Sache nach aber: Ja und nein. Beide haben Gott als ein ausgedehntes, geistiges Wesen verstanden und die unendliche Ausdehnung des Raumes als Attribut der Unendlichkeit Gottes. Bei Spinoza ist die Ausdehnung eines der unendlich vielen Attribute des unbegreiflichen Gottes, More zählt wenigstens zwanzig metaphysische Attribute des ersten Seienden auf, die alle auf den Raum zutreffen: „Unum, Simplex, Immobile, Aeternum, Completum, Independens, A se existens, per se subsistens, Incorruptibile, Necessarium, Immensum, Increatum, Omnipraesens, Incorporeum, Omnia permeans et complectens, Ens per essentiam, Ens actu, Purus actus.“93

Wie es für Spinoza außer Gott keine Substanz geben kann und alles, was ist, in Gott sein und gedacht werden muss,94 so hat auch More mit den Kabbalisten das Sein aller Dinge in Gott als dem Raum schlechthin gelehrt.95 Während aber bei More das Sein in Gott durch den göttlichen Raum vermittelt ist, hat Spinozas Monismus die Materie direkt in die göttliche Subtanz eingeschrieben, denn wieso sollte „die körperliche Substanz der göttlichen Natur unwürdig sein und ihr nicht zugehören“96. Um Spinozas Substanzmonismus des Deus sive natura – der lebendig-dynamischen, ursächlich-freien ————— 88 Ebd., §8, 167. 89 Descartes, Oeuvres V, 239,3. 90 „Space is supposed, not to be the Extension of Body, but the Infinite and Unbounded Extension of the Deity“ (Cudworth, The true intellectual system of the universe, lib.I, c.IV, 766); „there must be some Incorporeal Substance, whose Affection its Extension is; […] that it [=the space, U.B.] is the Infinite Extension of an Incorporeal Deity“ (ebd., 770). 91 B. Spinoza, Ethica Ordine Geometrico demonstrata, lib.II, prop. 2, 114. 92 H. More, Ad V.C. Epistola Altera, quae brevem Tractatus Theologico-Politici Confutationem Complectitur, in: Opera Omnia I, 563–614, c.1, §7, 567. 93 More, Enchiridion metaphysicum I, c.VIII, §8, 167. 94 Spinoza, Ethica, lib.I, prop. 14.15.18. 95 More, Enchiridion metaphysicum I, c.VIII, §8, 167: „Divinum Numen apud cabbalistos appellari makom, id est locum.“ 96 Spinoza, Ethica, lib.I, prop. 15, Scholium, 41.

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natura naturans zwar, und nicht der daraus in folgerichtiger Notwendigkeit resultierenden, materiellen natura naturata97 – zu vermeiden, hat More das Sein der materiellen Dinge auf das bloße Geschaffensein reduziert. Die Abwehr von Spinozas Natur-Pantheismus, führt bei More jedoch seinerseits zu einer Art spiritualistischem Pantheismus. Die Abstufung der Materie mit der Erhebung des Raumes ins Geistige und Göttliche bewirkt, dass alle Dinge im göttlichen Raum enthalten, verbunden und bewegt sind. Der göttliche Raum umfasst und bewegt, erhaltend und enthaltend, die Welt. Der Raum ist nicht nur Behälter, sondern Vermittler und Träger der essentiellen und operativen Allgegenwart Gottes. Damit ist er von der gestaltbildenden Weltseele, der plastick nature bzw. dem spiritus naturae, und von Spinozas natura naturans kaum zu unterscheiden. Die Vergöttlichung des Raumes, die Raphson auf die Spitze getrieben hat (8.6), bedeutet zugleich die Verräumlichung des Göttlichen, und die Spiritualisierung des Raumes bedeutet die Verräumlichung des Geistigen. Das Geistige hat nur noch räumliche Existenz und Gott hat nur noch räumliche Attribute. Welche andern metaphysischen Attribute, als die, die auf den Raum zutreffen, soll man von Gott noch nennen? Indem die Cambridger Gegner des Materialismus und Atheismus den Raum ins Geistige und Göttliche hinaufziehen, ziehen sie das Geistig-Personale und das Göttliche auf ein naturhaftes Kraft- und Ordnungsprinzip hinab.98 Dass dies nicht ihre Absicht war, man sie aber so interpretieren konnte, wird im Briefwechsel zwischen Leibniz und Clarke deutlich (8.5). More selbst hat versucht, im Enchiridion metaphysicum dieser Identifikation von Raum, Weltseele und All-Natur vorzubeugen, und hat, entgegen seiner früheren Auffassung, nicht mehr die Unendlichkeit der materiellen Welt, sondern nur noch des leeren Raumes vertreten. Ist die materielle Erstreckung der Welt räumlich und zeitlich endlich, ist sie vom unendlichen Raum und damit auch von der ewigen Unendlichkeit Gottes klar unterschieden. Allerdings werden dann Gott und der nichtweltliche Raum, in dem die endliche Welt eingebettet ist, ununterscheidbar. Das ist insofern unproblematisch, als der Raum dann keine eigenständige Substanz mehr darstellt, sondern funktional dem mittelalterlichen außerkosmischen Raum entspricht, in den die Welt eingebettet ist, der aber nicht mehr zu den Weltdingen gehört, sondern nur noch als transzendentale Idee der Räumlichkeit ————— 97 „per Naturam naturantem intelligendum est […] Deus, quatenus ut causa libera consideratur. Per naturatam autem intelligo id omne, quod ex necessitate Dei naturae […] sequitur“ (ebd., prop. 29, Schol.). 98 Vgl. Heimsoeth, Der Kampf um den Raum in der Metaphysik der Neuzeit, 105.

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der Welt fungiert. Besonders Raphson hat aus der Unendlichkeit die Unbegreiflichkeit des Raumes gefolgert und damit schon den Weg zur transzendentalen Auffassung des Raumes als einer Idee des reinen Verstandes geebnet. Wie der außerkosmische Raum des Mittelalters hat der Raum hier nur noch die transzendentale Funktion, zu erkunden, welche Bedingungen erfüllt sein müssen, damit die Welt als räumlich sich erstreckend gedacht werden kann. Der reine absolute, d.h. leere, kräfte- und wirkfreie Raum, ist eine reine Idee. Ob man ihn mit Gottes Unermesslichkeit direkt identifizieren oder Gott noch einmal als Raum des Raumes verstehen will, ist dann zweitrangig, wie die Diskussion bei Oresme und Suarez zeigte. Wenn man allerdings weiterhin an der Realität des Raumes festhält, weil man dies wie bei Newton für physikalisch geboten hält, ist dies anders. Wenn man unter dem absoluten Raum den von Kräften erfüllten, physikalischen Raum versteht, dessen Erstreckung mit der Ausdehnung der materiellen Welt zusammenfällt, dann ist der Spinozismus kaum abzuweisen. Wenn man den Raum, der die göttlichen Attribute trägt, mit dem kraft- und materieerfüllten Weltraum gleichsetzt, dann ist der Raum das weltimmanente absolute Wesen, die ausgebreitete Gottheit.99 More ist der entsprechenden Kritik von Leibniz an Newton und Clarke schon zuvorgekommen durch eine zweite Unterscheidung zwischen dem (göttlichen) Raum und der (im göttlichen Auftrag agierenden) Weltseele. Der Raum ist dann gänzlich leer und kräftefrei zu denken, während im Raum die materiellen Kräfte ebenso wie die göttliche Kraft, vermittelt durch die plastick nature, agieren. More hat am Ende seines Enchiridion metaphysicum den Raum von der Zwitterstellung zwischen leerem receptaculum und ausgebreitetem Geistwesen zu befreien versucht durch Einführung eines unterscheidenden Merkmals der Geistsubstanzen vom dreidimensionalen Raum einerseits und der undurchdringlichen Materie andererseits: die sog. vierte Dimension der spissitudo essentialis, der Wesensverdichtung,100 die keine echte vierte Raumdimension meint, sondern eine Qualität der Geistsubstanzen, sich im dreidimensionalen Raum zu komprimieren oder auszudünnen im Unterschied zur in————— 99 Vgl. I. Kant, Vorlesungen über die Metaphysik, 567: „Wenn ich den Raum als ein Wesen an sich annehme, so ist der Spinozismus unwiderleglich, d.h. die Theile der Welt sind die Theile der Gottheit. Der Raum ist die Gottheit; er ist einig, allgegenwärtig; es kann nichts außer ihm gedacht werden; es ist alles in ihm“; auch zitiert und diskutiert bei G. Picht, Glauben und Wissen, 58. 100 More, Enchiridion metaphysicum I, c.28, §7: „Ita ubicumque vel plures vel plus Essentiae in aliquo Ubi continetur quam quod amplitudinem huius adaequat, ibi agnoscatur quarta haec dimensio, quam apello Spissitudinem essentialem/Wo auch immer also entweder mehr oder ein Mehr an Wesenheiten in irgendeinem Wo enthalten sind, als dem [Maß] ihrer Ausdehnung entspricht, dort wird die vierte Dimension erkannt, die ich Wesensdichtigkeit nenne.“

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kompressiblen Materie.101 Leibniz hat allerdings diese „drollige Erfindung“ Mores lächerlich gemacht, weil dann ja die Geister sich nach Belieben selbst undurchdringlich machen, also materialisieren könnten – ganz zu schweigen davon, dass man sich dadurch die Geister quasi materiell ausgedehnt und Gott in Teilen vorstellt.102 Das Postulat der vierten Dimension klingt nicht erst heute wie eine Kuriosität und sie bestärkt natürlich erst recht den Pantheismusverdacht, wenn man die Verdichtung auch den physikalischen immateriellen Größen zuschreibt.103 Aber vom Standpunkt Mores aus sind durch die Unterscheidung der Dimensionalität der göttliche, leere, dreidimensional-unendliche Raum und die ihn erfüllenden geistigen Kräfte, einschließlich der überall ganz gegenwärtigen, d.h. vollkommen in die vierte Dimension komprimierten Kraft Gottes klar unterschieden. Die vierte Dimension ist nichts anderes als eine Weiterführung der repletiven Gegenwart, bei der das Maß an „Wesenheit“ an einem Ubi die Fassungskraft des Ortes übersteigt.

8.4 Newtons absoluter Raum und der voluntative Gottesbegriff 1. Der absolute Raum: Es besteht kein Zweifel, dass Isaac Newtons Lehre vom absoluten Raum sowie seine Auffassung von Wesen und Wirkung der Gravitation entscheidend von Henry Mores spiritualistischer Raumlehre beeinflusst wurden. Newton bezieht sich zwar an keiner Stelle explizit auf More, hatte aber bereits als Student durch Vermittlung seines Lehrers Isaac Barrow Mores Schriften gelesen und stand wohl in Mores letzten Lebensjahren zwischen 1680 und 1687, von denen man kaum etwas weiß, mit ihm in Korrespondenz, so dass Newton in Mores Testament geringfügig bedacht wurde.104 Newton hat sich zwar insgesamt vorsichtiger als More ausgedrückt und keinen Gottesbeweis aus dem Raum geführt wie vor ihm More und nach ihm Clarke, der damit eine erhitzte Debatte um den Gottesbeweis aus den ————— 101 Vgl. R. Zimmermann, Henry More und die vierte Dimension des Raumes, bes. 437–441; zur Wirkungsgeschichte der „vierten Dimension“ auf Oetinger, Fricker, Riemann, dem Spiritismus (vgl. F. Zöllner, Die transcendentale Physik und die sogenannte Philosophie) bis Karl Heim vgl. U. Beuttler, Gottesgewissheit in der relativen Welt, 237–239. 102 Clarke, Der Briefwechsel mit G.W. Leibniz, Leibniz’ fünfter Brief, §48, 81. 103 Schon Newton fragte: „Lassen sich nicht dichte Körper und Licht ineinander verwandeln?“ (I. Newton, Optics, qu.30, Opera IV, 241 = Optik, 247). Physikalisch ist die Sache heute erwiesen, man denke an die spontane Paarerzeugung eines Teilchen-Antiteilchen-Paares aus einem Gamma-Quant. 104 Vgl. Fierz, Über den Ursprung und die Bedeutung der Lehre Isaac Newtons vom absoluten Raum, 85f.

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Attributen Gottes, namentlich dem Raum, auslöste.105 Er hat aber ebenso den physikotheologischen Rückschluss von der Ordnung auf den Ordner ausdrücklich auch auf die Allgegenwart Gottes bezogen, der durch den Raum den Dingen intime präsent ist, sie wahrnimmt, bewegt und ordnet. „Folgt nicht aus den Erscheinungen, dass ein unkörperliches, lebendiges, intelligentes, allgegenwärtiges Wesen existiert, das im unendlichen Raum, als wäre es sein Sensorium, die Dinge innerlich ansieht und durch das er sie wahrnimmt, und sie als Ganze erfasst durch ihre unvermittelte Präsenz in ihm.“106 Noch deutlicher bzw. noch missdeutbarer – die Rede vom Raum als dem Sensorium Gottes hat bekanntlich Leibniz’ Kritik provoziert und den Briefstreit mit Samuel Clarke ausgelöst (8.5) – als diese Stelle am Ende der 28. Frage der „Optik“ von 1704 ist eine weitere am Ende der 31. Frage. Hier heißt es in Wiederholung des physikotheologischen Arguments, die kunstvolle Ordnung der Natur und die Abstimmung etwa der Sinnes- und Bewegungsorgane aufeinander „kann nur entstanden sein durch die Weisheit und Intelligenz eines mächtigen, ewig lebenden Wesens, welches allgegenwärtig (ubique scilicet praesens) ist, alle Körper durch seinen Willen in seinem unbegrenzten, gleichförmigen Empfindungsorgan bewegen (voluntate sua corpora omnia in infinito suo Sensorio movere) und dadurch die Teile des Universum nach seinem Willen bilden und umbilden kann.“107 Welche Rolle spielt der Raum in der Naturphilosophie Newtons (8.4.1–3) und mit welchem Recht und Zweck wird er als Sensorium Gottes bezeichnet (8.5)? Wie in den beiden berühmten Scholien am Beginn des ersten und am Ende des dritten Buches der „Philosophiae Naturalis Principia Mathematica“ von 1687 sowie dem eben zitierten Schluss der Optik deutlich wird, hat der ————— 105 Nur die Buchtitel dieser Debatte seien zitiert (nach E. Cassirer, Das Erkenntnisproblem, Bd.2, 449): Samuel Clarke, A Discourse concerning the Being and Attributes of God, the obligations of Natural Religion and the Truth and Certainty of the Christian Revelation, London 1705/06; John Jackson, The Existence and Unity of God; proved from his Nature and Attributes, Being a Vindication of Dr. Clarke’s Demonstration of the Being and Attributes of God, London 1734; Edmund Law, An enquiry into the ideas of space, time, immensity and eternity; as also the Self-Existence, Necessary Existence and Unity of Divine Nature, Cambridge 1734; Joseph Clarke, Examination of Dr. Clarke’s notion of space, with some Considerations on the Possibility of eternal Creation, Cambridge 1734; A farther examination of Dr. Clarke’s notion of space, Cambridge 1735; Isaac Watts, A fair Enquiry and Debate concerning Space whether it be Something of Nothing, God or a Creature, in: Philosophical Essays on various subjects, Essay I, London 1736. 106 Newton, Optics, Opera IV, 238; der Text der lat. Übersetzung von S. Clarke 1706 lautet: „Annon ex phaenomenis constat, esse Entem Incorporeum, Viventem, Intelligentem, Omnipraesentem, qui in Spatio infinito, tamquam Sensorio suo, res Ipsas intime cernat, penitusque perspiciat, totasque intra se praesens praesentes complectatur“, zit. nach A. Steichen, Über Newtons Lehre vom Raum, 391f. 107 Newton, Optics, Opera IV, 262 = Optik, 268.

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absolute Raum bei Newton 1. eine naturphilosophisch prinzipielle, 2. eine physikalische und 3. eine theologische Funktion. Die prinzipielle, mit einem späteren Ausdruck gesagt, transzendentalphilosophische Bedeutung des absoluten Raumes ergibt sich aus dem axiomatischen Aufbau der Principia. Nach Definition der Grundgrößen der Mechanik wie Materiemenge (Masse), Bewegungsgröße (Impuls), innerer Kraft (vis insita = Trägheit), äußerer, eingeprägter Kraft (vis impressa) und vor der Formulierung der drei berühmten Bewegungsgesetze (Axiomata sive leges motus), dem Trägheitsgesetz, der Bewegungsgleichung (Kraft= Impulsänderung) und dem actio=reactio-Prinzip, werden weitere Grundgrößen definiert, die nicht direkt in die Bewegungsgesetze eingehen, aber zu ihrer mathematischen Formulierung benötigt werden: Zeit, Raum, Ort, Bewegung. Für die mathematische Physik darf man diese nicht von der sinnlichen Anschauung her als relative, augenscheinliche und allgemein übliche Begriffe verwenden, sondern muss ihnen intelligibles Sein zuerkennen, 1. Absolutheit, 2. Wahrheit, 3. Mathematizität108. Im Zuge der Mathematisierung der Physik und der realistischen Auffassung der idealen Geometrie, kann „das sinnliche Bild, das wir uns vom Raume zu machen pflegen, jetzt nur noch als der ungenaue Umriss seiner echten Realität gelten. Im Symbol der sinnlichen Ausdehnung offenbart sich uns ein intelligibles Sein.“109 Das ideale, intelligible Sein von Raum, Zeit, Ort und Bewegung ist zwar Produkt der Abstraktion und Reflexion („in philosophicis abstrahendum est a sensibus“110), aber zugleich real. M.a.W., die erkenntnistheoretische Position, die Newton vertritt, ist ein transzendentaler Realismus. Absoluter Raum, Zeit, Ort, Bewegung sind 1. der ermöglichende Realgrund von Bewegung und 2. die Bedingungen der Möglichkeit der Wahrnehmung und physikalischen Beschreibung von Bewegung. Sie sind von der sinnlichen Erscheinung der relativen, quantitativ gemessenen Räume, Zeiten, Orten, Bewegungen grundsätzlich unabhängig, haben also selbständige reale Existenz. „Der absolute Raum ist seiner Natur nach ohne Beziehung zu irgendetwas Äußerem, er bleibt immer gleichartig und unbeweglich./Spatium absolutum, natura sua sine relatione ad externum quodvis, semper manet similare et immobile.“111 Dass der absolute Raum erkenntnistheoretisch fundamental ist, leuchtet sofort ein. Ruhe und geradlinige Bewegung sind durch Wechsel der Bezugssysteme (sog. Galilei-Transformationen) ineinander überführbar, so ————— 108 I. Newton, Philosophiae Naturalis Principia Mathematica, lib.I, Def. VIII, Scholion, Opera II, 6. 109 Cassirer, Das Erkenntnisproblem, Bd. 2, 446. 110 Newton, Principia I, Scholion, Opera II, 8. 111 Ebd., 6.

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dass, wenn der Einschachtelungsprozess dieser ausgezeichneten Räume nicht bis ins Unendliche weitergeführt werden soll, ein letzter, absolut unbeweglicher Raum angenommen werden muss. Dass dem absoluten Raum aber außer den transzendentalen Eigenschaften der absoluten Leere, Unsichtbarkeit, Unendlichkeit, Einmaligkeit, Unbewegbarkeit, Gleichförmigkeit, Stetigkeit, Homogenität, Isotropie auch Realität zukommt, liegt nicht auf den Hand. Denn nach Newton selbst besteht das Wesen (essentia!) des Raumes in der Funktion, die Ordnung des Nebeneinander zu gewährleisten. „Räume sind sozusagen Orte ihrer selbst und aller Dinge. Alles befindet sich im Raum hinsichtlich der Lageordnung. Ihr [der Räume, U.B.] Wesen ist es, dass sie Orte sind./spatia sunt sui ipsorum et rerum omnium quasi loca […] in spatio quoad ordinem situs, locantur universa. De illorum essentia est, ut sint loca.“112 Warum muss dann, wie Newton hinzufügt, ein unbewegter letzter Raum der absoluten Orte existieren? Genügte es nicht, mit Leibniz, den absoluten Raum als Inbegriff aller relativen Lagebeziehungen zu definieren?113 Ist Newton, der doch, wie er im abschließenden Scholion der Prinicipia sagt, in der Physik keine Hypothesen erfinden wollte („hypotheses non fingo“), sondern alle physikalisch allgemeinen Aussagen per Induktion aus den Naturerscheinungen herleiten wollte („Hypothesen, gleich ob metaphysische, physikalische, mechanische oder von verborgenen Eigenschaften, haben in der experimentellen Physik keinen Platz. In dieser Philosophie werden die Sätze aus den Phänomenen abgeleitet und in allgemeine überführt per Induktion“114), in Wahrheit platonischer Universalienrealist, der den idealen mathematischen Größen reale, physikalische Existenz zuschreibt? Ja und nein. 2. Physikalischer Beweis: Der absolute Raum ist für Newton real, obwohl er experimentell (sinnlich) unbeweisbar ist, da er Wirkungen hervorruft, die ohne die Annahme seiner Existenz nicht erklärbar sind. Die Existenz des absoluten Raumes folgt aus der Unmöglichkeit der Nichtexistenz. Newton beweist den absoluten Raum indirekt mit seinem berühmten Eimerexperiment.115 Das Wasser in einem an einer verdrillten Schnur aufgehängten Eimer nimmt bei Rotation die Form eines Paraboloids an, welches nicht durch die Relativbewegung des Wassers gegen den Eimer ausgelöst sein kann, da am Anfang die maximale Eimerrotation mit der geringsten Wirkung (Wasser eben) und bei ausgedrilltem Seil die Relativbewegung 0 mit der größten Wirkung korrespondiert (Wasser parabolisch). Die Zentrifugal————— 112 Ebd. 113 Leibniz, Fünfter Brief an Clarke, §47; §104f, in: Clarke, Der Briefwechsel mit G.W. Leibniz, 78f; 97f. 114 Newton, Principia III, Scholium generale, Opera III, 174 = dt. ed. Schüller, 516. 115 Newton, Principia I, Scholion, Opera II, 10f = dt. ed. Schüller, 30f.

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kräfte sind nicht durch die Relativbewegung des Wassers gegen den Eimer bewirkt, sondern von der absoluten Bewegung gegen den absoluten Raum, denn das Paraboloid hängt nur an der absoluten Rotation des Wassers, nicht an der relativen gegen den Eimer. Wirkliche Bewegungen zeichnen sich dadurch aus, dass sie durch wirkliche Kräfte verursacht sind. Der absolute Raum ist wirklich, weil er Wirkungen hervorruft. Dieses physikalische Argument für den absoluten Raum war lange Zeit schlagend, Leibniz konnte es nicht widerlegen, ging nicht einmal darauf ein,116 und auch Euler, Maxwell, der vorkritische Kant u.a. hielten trotz des Einwands von Berkeley, der absolute Raum sei der Lage gegen den Fixsternhimmel äquivalent, an ihm fest, da nur der absolute Raum und nicht die Lage eine Erklärung für die Trägkeits- und Zentrifugalkräfte gab.117 Erst E. Mach konnte das Argument widerlegen, indem er zeigte, dass die Zentrifugalkräfte aus der Relativbewegung des Wassers gegen die Gesamtmasse des Universums erklärt werden können.118 Wie den absoluten Raum postulierte Newton die Existenz von realen, spiritus-artigen Gravitationskräften aus physikalischen Gründen zur Erklärung der sonst unerklärlichen Fernwirkung der Gravitation. Newtons Hypothese (denn genügend Experimente für die gesetzesmäßige Wirkung hatte er nicht) eines äußerst feinen, elektrischen und elastischen spiritus,119 durch dessen Kraft und Einwirkung sich die Körper bis zum kleinsten Abstand gegenseitig anziehen und zusammenhalten und durch den die elektrischen Körper bis in größte Entfernungen wirken, beherrschte als Ätherhypothese zur Vermittlung der elektromagnetischen und gravitativen Kräfte das ganze 19. Jahrhundert und wurde erst von Hertz, Michelson, Einstein u.a. widerlegt, die experimentell und theoretisch zeigten, dass das Licht und die Kräfte keinen feinstofflichen Träger brauchen. 3. Theologie der Naturordnung: Für Newton war jedoch die Annahme von aktiven Prinzipien (actives principles) wie der Schwerkraft keine Beschwörung verborgener Eigenschaften (qualitas occulta), die nur als Platzhalter für unbekannte Ursachen fungieren, sondern echte Erklärung der Wirkungen.120 Diese Prinzipien sind „allgemeine Naturgesetze, nach denen die ————— 116 Clarke, Der Briefwechsel mit G.W. Leibniz, Clarkes vierte Entgegnung, §13f, 55. 117 Vgl. Jammer, Das Problem des Raumes, 140f; 151f; 156; 158–160. 118 E. Mach, Die Mechanik. Historisch-kritisch dargestellt, 222; vgl. unten II.6.2.2. 119 Newton, Principia III, Scholium generale, Opera III, 174; stoischen Einfluss auf Newtons Kraftbegriff vermutet Jammer, Art. Kraft, HWPh, der aber in der geistigen Atmosphäre des Cambridger Platonismus sicher mit neoplatonisch-hermetischem Spiritualismus amalgamisiert war. 120 Vgl. auch Cudworth Abwehr, die plastick nature sei „an occult quality“, um die „Ignorance of cause“ zu verschleiern, The true intellectual system of the universe, lib.I, c.III, sect.37, §7, 154, hier auch der äquivalente Ausdruck „Active Principles of Nature“ (ebd., §12, 157).

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Dinge gebildet sind.“121 Naturprinzipien und –gesetze sind den Dingen bzw. dem Universum gegen die Stoiker, Aristoteles und auch Leibniz nicht inhärent eingeprägt, sondern aufgrund des Schöpfungsplanes äußerlich aufgeprägt.122 Newton vertritt, wie Descartes, ein externes Gesetzesverständnis.123 Naturgesetze sind von Gott erlassen und angeordnet, weshalb er auch „die Naturgesetze verändern und an verschiedenen Orten des Weltalls Welten verschiedener Art erschaffen kann.“124 Der Erlass der Gesetze ist nicht bloß am Anfang der Welt, sondern auch als wiederholter, die Gesetze verändernder und neujustierender Herrschaftsakt gemeint. Für Newton besteht eine physikalische Notwendigkeit, die Naturordnung von Zeit zu Zeit umzubilden. Angesichts der Vielzahl der aufeinanderwirkenden Planeten werden „einige unbeträchtliche Unregelmäßigkeiten […], die von der gegenseitigen Wirkung der Kometen und Planeten auf einander herrühren, […] wohl so lange anwachsen, bis das ganze System einer Umbildung bedarf (will be apt to increase, till this system wants a reformation)“125. Die Ordnung der Natur kann sich nach Newton nicht selbst stabilisieren, sondern ist anfällig für das Anwachsen von Störungen (auch als man das Mehrkörperproblem störungstheoretisch behandeln konnte, musste Poincaré feststellen, dass schon das Dreikörperproblem bei sehr kleinen Störungen instabil werden kann126), auch würde durch Reibung die Bewegung der Planeten ständig abnehmen und zur Kältestarre führen, woraus sich „die Notwendigkeit ergibt, sie durch aktive Prinzipien zu erhalten und erneuern“127, was Leibniz zu der scharfen Bemerkung veranlasste, dann müsse wohl „Gott von Zeit zu Zeit seine Uhr aufziehen“, wie ein schlechter Meister die Maschine „von Zeit zu Zeit durch einen außergewöhnlichen Eingriff reinigen und flicken“128 muss. Für Leibniz stünde ein unvollkommenes Universum im Widerspruch zur Vollkommenheit Gottes, der „bei der Hervorbringung des Universums den bestmöglichen Plan gewählt“ habe, so dass die Dinge „ein für allemal nach größtmöglicher Ordnung und Übereinstimmung eingerichtet“129 sind, also nach prästabilierter, inhärent eingeprägter Harmonie voll————— 121 Newton, Optics, Opera IV, 261 = Optik, 266. 122 Vgl. den ersten Brief Newtons an Bentley, Opera IV, 431: „the motions, which the planets now have, could not spring from any natural cause alone, but were impressed by an intelligent Agent.“ 123 Descartes, Brief an Mersenne 15.4.1630, Briefe, hg. M. Bense, 49; Correspondence, Oeuvres I: „c’est Dieu, qui a establi ces lois en la nature, ainsy qu’un Roy estabist des lois en son Royausme. […] Si Dieu anoit establi ces verités, il les pourroit changer comme un Roy fait ses lois“ (145,14–16.29f). 124 Newton, Optics, Opera IV, 263 = Optik, 268. 125 Ebd., Opera IV, 262 = Optik, 267. 126 Vgl. D. Evers, Chaos im Himmel, 54f. 127 Newton, Optics, Opera IV, 259 = Optik, 265. 128 Clarke, Der Briefwechsel mit G.W. Leibniz, Leibniz’ erster Brief, §4, 10. 129 G.W. Leibniz, Vernunftprinzipien von Natur und Gnade, §10.13, Hauptschriften II, 598f.

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kommen zusammenstimmen. Auch für Newton entsprang die „wundervolle Gesetzmäßigkeit im Planetensystem“, die „geschickte Anordnung der Sonne, der Planeten und Kometen“ einer „Sorgfalt und Auswahl“, „dem Plan und der Herrschaft eines einsichtigen und mächtigen Wesens“. Jedoch lenkt und regiert Gott für Newton auch gegenwärtig alles, weder durch prästabilierte Harmonie, noch „als Weltseele, sondern als der Herr über das Universum (Hic omnia regit, non ut Anima mundi, sed ut universorum Dominus)“130. Die Weltentwicklung ist keine aus den Naturgesetzen oder der eingestifteten Harmonie mit innerer oder kausalmechanischer Notwendigkeit folgende, so dass, wie Leibniz sagt, die Gegenwart die Zukunft in ihrem Schoß trage und man aus dem Vergangenen das Zukünftige ablesen könne,131 sondern ist Ausdruck der kontingenten und aktualen Providenz Gottes. „Gott ohne Herrschaft, Vorsehung und finale Ursachen heißt nichts anderes als Fatum und Natur (Deus sine dominio, providentia, et causis finalibus nihil aliud est quam Fatum et Natura). Von einer blinden metaphysischen Notwendigkeit, die immer und überall dieselbe ist, geht keine Veränderung der Dinge aus.“132 Die aktuale Providenz Gottes resultiert, wie Newton mit der gesamten protestantischen Orthodoxie und gegen die Cartesianer sagt, nicht nur aus seiner praesentia per potentiam, sondern primär aus seiner Präsenz per essentiam. „Er ist nicht nur mit seiner Wirksamkeit gegenwärtig, sondern auch mit seiner Substanz, denn ohne Substanz kann keine Wirksamkeit bestehen. (Deus est unus et idem Deus semper et ubique. Omnipraesens est non per virtutem solam, sed etiam per substantiam: nam virtus sine substantia subsistere non potest.)“133 Wenn auch die begriffliche Verschiebung gegenüber der theologischen Tradition von Macht (potentia) zu Kraft (virtus) und von Wesen (essentia) zu Substanz (substantia) nicht unmissverständlich ist, besteht Gottes Allgegenwart nicht in den aktiven Kräften und dem absoluten Raum. Die substantielle Allgegenwart suggeriert vielleicht, wie Leibniz sogleich scharfsinnig feststellte, eine dinglich-räumliche Gegenwart am Ort, gar materiell als Weltseele oder Kraft.134 Der absolute Raum wird aber nach Newton ständig aus der Allgegenwart Gottes konstituiert, er ist nicht der Repräsen————— 130 Newton, Optics, Opera IV, 261f = Optik, 267f; Principia III, Scholium generale, Opera III, 171 = dt. 513. 131 Leibniz, Vernunftprinzipien der Natur und Gnade, §13, Hauptschriften II, 599. 132 Newton, Principia III, Scholium generale, Opera III, 173 = dt. 515; vgl. auch das Vorwort von R. Cotes zur zweiten Ausgabe der Principia, dass die Welt nicht aus eigener Notwendigkeit immer und überall existiert habe, sondern „ex liberrima voluntate cuncta providentis et gubernantis Dei“ entsprungen sei (Opera II, XXIII). 133 Newton, Principia III, Scholium generale, Opera III, 172 = dt. 514. 134 Clarke, Der Briefwechsel mit G.W. Leibniz, Leibniz’ dritter Brief, §12; vierter Brief §37.

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tant der göttlichen Gegenwart, also gerade nicht Weltseele, und nicht gleichewig mit Gott, sondern ist das Medium, das Gott für die Aktuierung seiner Allgegenwart in Anspruch nimmt. Gott „ist nicht die Dauer und der Raum, sondern er währt und ist zugegen. Er währt immer und ist überall zugegen, und konstituiert dadurch, dass er immer und überall existiert, die Dauer und den Raum.“135 Die substantielle Gegenwart Gottes bezieht sich also nicht auf den Raum selbst, sondern auf die Konstitution des Raumes, so dass letztlich Gott selbst der Raum ist, in dem alles enthalten ist, wie schon die Alten und die Bibel (Apg 17,27f; Joh 14,2; Dtn 4,39; Ps 139,7f u.a.136) meinten: „In ihm selbst ist alles enthalten und bewegt sich alles, aber ohne gegenseitiges Erleiden.“137 Hätte Leibniz Newtons Betonung der unmittelbaren Gegenwart Gottes erkannt, der die Dinge „durch seine unmittelbare Gegenwart, ohne Zwischenkunft eines dritten Dinges wahrnimmt“, so dass er hierfür keine „Organe nötig hat, da er bei den Dingen überall allgegenwärtig ist (God has no need of such organs, he being every where present to the things themselves)“138, so hätte er kaum unterstellt, „Herr Newton sagt, dass der Raum das Organ ist, dessen Gott sich bedient, um die Dinge wahrzunehmen.“139

8.5 Der Raum als „Sensorium“ Gottes (Clarke vs. Leibniz)? 1. Der Anlass: Wie konnte es zu dem Missverständnis kommen, Newton habe den Raum als „Sensorium Gottes“ verstanden?140 Vordergründig wurde der von Brief zu Brief ausführlicher, detaillierter und grundsätzlicher werdende Streit zwischen Leibniz und Clarke durch eine philologische Ungenauigkeit ausgelöst, eigentlich aber handelt es sich bei der Debatte um unvereinbare Auffassungen von der Allgegenwart, vom Wesen und Wirken Gottes, weshalb der Briefwechsel nach fünf Briefen Leibniz’ und fünf Entgegnungen Clarkes ohne Annäherung nur durch Leibniz’ Tod 1716 beendet wurde.141 Wie Koyré und Cohen gezeigt haben, fehlte an der fraglichen Stelle in der lateinischen Übersetzung der Optik von 1706, dass ein allgegenwärtiges Wesen existiere, welches „im unendlichen Raum, gleichsam als seinem ————— 135 Newton, Principia III, Scholium generale, Opera III, 172 = dt. 514. 136 Ebd., Anm. c; Ps 90,1 und die Kabbalisten werden jedoch nicht erwähnt! 137 Ebd. 138 Newton, Optics, Opera IV, 262f = Optik 268. 139 Clarke, Der Briefwechsel mit G.W. Leibniz, Leibniz’ erster Brief, §3, 10. 140 So noch in R. Eislers Wörterbuch der philosophischen Begriffe, Art. Raum: „Als ‚sensorium‘ der Gottheit fassen den R[aum] Clarke und Newton auf.“ 141 Im Folgenden wird Clarke, Der Briefwechsel mit G.W. Leibniz, abgekürzt mit der Nummer des Briefes (L1–5/C1–5), Paragraph und Seitenzahl zitiert.

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Sensorium, die Dinge innerlich ansieht und sie wahrnimmt (omnipraesentem, qui in Spatio infinito, tamquam Sensorio suo, res Ipsas intime cernat penitusque perspiciat)“142 zunächst das „gleichsam“, bevor auf Veranlassung von Newton und Clarke die Seite herausgeschnitten und vor sensorio ein tamquam eingefügt wurde. Vielleicht besaß Leibniz ein unkorrigiertes Exemplar, von denen heute noch einige erhalten sind.143 Leibniz’ Kritik war die, dass wenn der Raum das Organ Gottes wäre, das er benötigt, um die Dinge wahrzunehmen, seine Wahrnehmung bloß vermittelt, zudem örtlich gebunden und vom Wahrgenommenen abhängig, also bloß rezeptiv wäre. Gottes Wahrnehmung sei aber 1. nicht örtlich, sondern wesenhaft, 2. unmittelbar, nicht vermittelt, 3, aufgrund seines aktiven, die Dinge durch creatio continua erhaltenden Wirkens und nicht aufgrund bloßer Gegenwart.144 Clarke, der alle Briefe vor Absendung mit Newton besprochen hat, auch aus o.a. Stellen der Optik und der Prinzipia zitiert, entgegnete, dass Gottes Wahrnehmung selbstverständlich unvermittelt sei, nämlich durch seine unmittelbare Allgegenwart, weshalb „sensorium“ nur ein Gleichnis sei und nicht für das Organ, sondern den Ort der Wahrnehmung stehe, wie auch der menschliche Geist nicht vermittelt der Sinne, sondern unmittelbar am Ort der von den Sinnen geformten Bildern erkenne. Abgesehen von dieser ganz unzureichenden Erkenntnistheorie, kritisierte Leibniz daran zurecht die unübliche Verwendung von sensorium und verwies dafür auf das philosophische Lexikon von Rudolph Goclenius: „Sensorio, id est, organo sensationis“145. Als Organ verstanden, würde definitiv Gott zur Seele der Welt, durch die er die Dinge wahrnimmt und erkennt, und der Raum zum vermittelnden Medium zwischen Gott und den Dingen, durch das er ihnen gegenwärtig ist und auf sie einwirkt.146 2. Natur- und Gottesbegriff: Warum hielt Clarke so penetrant am Ausdruck sensorium fest, wenn Gottes Wahrnehmung, Allgegenwart und Einwirken doch auch für ihn ohne Vermittlung eines Organs oder Mediums geschieht? Damit die Allgegenwart räumlich ausgedehnt und am Ort gedacht werden kann, muss der unräumlich unendliche Gott eine räumlich ausgedehnte Eigenschaft haben, sonst könnte er nicht substantiell allgegenwärtig sein. Während für Leibniz Gott die Dinge in sich selbst wahrnimmt – der Raum sei der Ort der Dinge und nicht der göttlichen Vorstellungen – und sie da————— 142 Text nach Steichen, Über Newtons Lehre vom Raum, 391f. 143 Unter den 18 von Koyré aufgespürten Exemplaren waren vier unkorrigierte ohne tamquam, vgl. A. Koyré/I.B. Cohen, The Case of the Missing Tamquam. 144 Briefwechsel L1, §3, 10; L2, §5, 18; L3, §12, 31. 145 R. Goclenius, Lexicon Philosophicum, Frankfurt 1613; Briefwechsel L3, §10, 31. 146 L2, §3f, 17f; L3, §10f, 31; L4, §24–29, 46; L5, §78.82, 90f.

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durch erkennt, dass er sie immerwährend hervorbringt,147 kann Gott für Clarke und Newton nur dann allwirksam sein, wenn er zuvor allen Dingen wesentlich und substantiell am Ort gegenwärtig ist, denn eine Kraft kann ohne Substanz nicht bestehen.148 Dies ist er durch den Raum, dessen unbegrenzte Ausdehnung, Unveränderlichkeit, Einheit etc. „immer unveränderlich die Unermesslichkeit eines jetzt und immer gleichen immensum“149 darstellt. Die Unermesslichkeit des Raumes ist also die Eigenschaft oder besser Folge der Existenz des unendlichen Gottes.150 Der leere Raum ist gegen Leibniz’ Gegeneinwand151 keine Eigenschaft ohne Subjekt, da ja Gott im leeren Raum gegenwärtig ist. Der Raum zerteilt nicht Gott, da er nicht die Summe der Teilräume darstellt und nicht maßgleich mit den Körpern ist, sondern unteilbar einer, ohne Maß.152 Der absolute Raum ist maßlos unendlich und unbeweglich und ewig (gleichwohl ist er eine Menge, keine bloße Ordnung153), aber nicht wie Gott selbst, sondern durch seine Gegenwart verursacht (allerdings notwendig). Der Raum ist keine selbständige Substanz, sondern „Merkmal einer unkörperlichen Substanz“. Daher existiert er notwendiger als die nicht notwendigen Dinge, jedoch nicht absolut notwendig wie Gott selbst. „Der Raum ist unermesslich und unbeweglich und ewig; und ebenso auch die Dauer. Aber dennoch folgt hieraus keineswegs, dass alles ewig ist hors de Dieu. Denn der Raum und die Dauer sind nicht hors de Dieu, sondern sie sind durch seine Gegenwart verursacht und deren unmittelbare und notwendige Wirkungen.“154 Leibniz hingegen hielt an der nicht örtlichen Gegenwart und Wirksamkeit Gottes fest, weil Gott für ihn der extramundane Grund der Welt, nicht die kausale Wirkursache ist. Seine Wirksamkeit besteht kontinuierlich durch immerwährende Erschaffung und Erhaltung, bei Clarke durch direkte Herrschaftsakte Gottes. Verstünde man Gott mit Leibniz als intelligentia extramundana, würde man „die Vorsehung und Herrschaft Gottes tatsächlich aus der Welt verbannen.“155 Für Leibniz mangelt es gerade dem Clarkeschen Gott, der durch spontane Willensakte mittels der aktiven Kräfte den Weltlauf berichtigen muss, an der Vorhersehung und Vorsorge (Providenz als Präscienz und Präcuratio). Der einfache, bloße Wille Gottes, ohne Fundie————— 147 148 149 150 151 152 153 154 155

L4, §29f, 46, dagegen C4, §29, 57. C3, §12, 37. C5, §39, 113. C3, §3, 35. L4, §8–10, 43; L5, §36f, 75f; §52, 82. C2, §4, 22; C3, §3 35; C4, §11f, 54. C5, §46.54, 114–116. C4, §8.10, 53; vgl. C5, §45, 113. C1, §4, 14.

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rung in der vorauslaufenden Weisheit und Rationalität Gottes, wäre vernunftloser, epikuräischer Fatalismus oder stoische Notwendigkeit.156 Was Newton durch seinen voluntativen Gottesbegriff gerade vermeiden will, nämlich die Natur als Fatum und Notwendigkeit anzusehen, wird ihm von Leibniz unterstellt. Nur die Rationalität der prästabilierten Harmonie spiegelt nach Leibniz die ratio Gottes, so dass außerordentliche Eingriffe resp. Wunder unnötig sind (Wunder bezieht Leibniz auf die Gnade), für Clarke ist die beständige Leitung (gubernatio, als Korrektur erscheine dies bloß uns) durch Gottes bloßen Willen notwendig und hinreichend, während die leibniz’sche vorauslaufende, prämovierende Bereitstellung von Hilfsmitteln zur Abhilfe von Störungen Gottes Herrschaft und Ordnung der Natur ausschließen würde.157 Es standen sich in der Debatte zwischen Leibniz und Clarke resp. Newton zwei unvereinbare Naturbegriffe gegenüber, die aus zwei unvereinbaren Gottes- und concursus-Begriffen resultierten: der rationale Gott Leibniz’ hier, der prämovierend in vollkommener Voraussicht die in prästabilierter Harmonie laufende, niemals korrekturbedürftige Welt lenkt, der voluntative Gott Newtons da, der in unmittelbarem, immediaten concursus und direkt korrigierenden Eingriffen seine Herrschaft und beständige Lenkung geltend macht.

8.6 Raphsons Vergöttlichung des Raumes Joseph Raphsons „De Spatio Reali seu ente infinito“ von 1702158 ist zwar zeitlich vor dem Briefwechsel zwischen Clarke und Leibniz 1715/16 einzuordnen, systematisch aber danach, da es sich um eine Verschärfung und Systematisierung der Position von More und Clarke handelt. 1. Unendlicher Raum: Raphson kritisierte mit More Descartes Gleichsetzung von Ausdehnung und Materie und bewies daraus die Existenz des Raumes. Nur im Zustand der Ruhe fallen Ausdehnung und Materie zusammen, im Zustand der Bewegung unterscheiden sich Körper und durchmessener Raum. Die Bewegung selbst eines kaum ausgedehnten Punktteilchens ist ausgedehnt. Also erfordert, wenn Bewegung wirklich sein soll, jede Art von Bewegung, notwendig die Existenz eines unbeweglichen, ausgehnten und unkörperlichen Substrates, da sich auch die Bewegung der Körper, die sich in Ausdehnung bewegt, durch Ausdehnung hindurch bewegt. Die Ausdehnung realer Bewegung beweist die reale Existenz der unbewegten ————— 156 L2, §9, 19; L3, §7f, 30; L4, §2, 42; §18, 45. 157 C2, §9.12, 24f; C5, §115f, 134. 158 J. Raphson, De Spatio Reali seu ente infinito conamen Mathematico-Metaphysicum, 1702 als Anhang zur zweiten Auflage der Analysis Aequationum Universalis erschienen.

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Ausdehnung. Damit ist der Raum theoretisch und praktisch erwiesen. Die Möglichkeit, d.h. der Begriff der Bewegung beweist die theoretische Notwendigkeit und hypothetische Realität unbewegter Ausdehnung, die Tatsächlichkeit der Ausdehnung realer Bewegung beweist die empirische Notwendigkeit und Realität des (von der materiellen Ausdehnung distinkten) Raumes.159 Der Raum ist endlos, oder, was für Raphson dasselbe ist, unendlich ausgedehnt. Die Unterscheidung zwischen dem endlosen Raum und dem Unendlichen, die mit der aristotelischen Unterscheidung zwischen dem potentiellen und dem aktualen Unendlichen zusammenfällt, lehnt er ab, da die Bewegungen im bloß potentiell unendlichen Raum nicht real, sondern bloß hypothetisch ohne Begrenzung wären. Der Raum muss, um der Realität der Bewegung willen, aktual unendlich sein. Da es aber nur ein aktual Unendliches geben kann, musst man zwingend folgern: Die Unendlichkeit des Raumes ist die Unendlichkeit Gottes. Raphson meint beweisen zu können, „dass alles, was absolute Unendlichkeit in sich schließt, notwendig dem absolut unendlichen Wesen zugehört.“160 Dem Spinozismus entkommt Raphson, wie er meint, dadurch, dass er Ausdehnung und Materie scharf trennt und die Materie nicht als eines der Attribute der einen göttlichen Substanz versteht, sondern nur den Raum.161 Der Raum ist bei Raphson die nichtmaterielle, von den endlichen materiellen Körpern und ihrer Ausdehnung substantiell unterschiedene unendliche Ausdehnung Gottes und trägt daher seine metaphysischen Eigenschaften. Entsprechend ist Gott nicht nur denkendes, sondern auch ausgedehntes Wesen. Seine wesentliche Allgegenwart ist der Raum oder die unendliche Ausdehnung. Die immensitas Dei und die extensio infinita sind identisch. Gott ist der Raum aller Dinge. Die Identifizierung des Raumes mit einer der wesentlichen Eigenschaften Gottes, der immensitas, rechtfertigt die Bezeichnung spatium für Gott. Gott ist nicht nur metaphorisch, sondern real der Raum der Welt: der erste und eigentliche Raum, der Ursprung aller Abstände, der Raum aller Räume, der Ort aller Orte, der Raum der Dinge. „Ita immensitas divina est primum, & intimum, intervallum, seu spatium, origo omnis intervalli, & spatium omnium spatiorum, locus omnium locorum. […] Hic aperte dicit DEUM esse locum, ac spatium rerum.“162 ————— 159 Der ganze (umständliche, außer die Linearbewegungen auch die Zirkularbewegungen einbeziehende) Beweis ebd., c.IV, 54ff, das Resultat ebd., 67: „Realis motus Extensio, Realem illius Immoti Extensi Existentiam demonstrat“; eine Übersetzung des zentralen Abschnitts bei Koyré, Von der geschlossenen Welt zum unendlichen Universum, 174. 160 „demonstrare possum, quicquid infinitatem absolutam in se involvit ad ens absolute Infinitum necessario pertinere“ (Raphson, De Spatio Reali, c.IV, 71). 161 Ebd. 162 Ebd., c.VI, 87.

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Wir stellen noch kurz die metaphysischen Eigenschaften des Raumes zusammen, die Raphson in 13 Lehrsätzen auflistet und more geometrico beweist, wodurch er den inneren Zusammenhang der von More bloß aufgezählten Titel aufzeigt. Der Raum trägt nicht einzig das Gottesattribut der immensitas, sondern vermittelt in jeder seiner Wesenseigenschaften eines der metaphysischen Attribute Gottes. Der Raum (spatium), das eigentlich Ausgedehnte (Extensum intimum), ist im Unterschied zur Materie 1. absolut unteilbar (indivisibile), 2. absolut unbeweglich (immobile), 3. aktual unendlich (actu infinitum), 4. reiner Akt (actus purus), 5. alles erhaltend und durchdringend (omni-continens & omni-penetrans), 6. unkörperlich (incorporeum), 7. unwandelbar (immutabile), 8. in sich eins (unum in se), 9. ewig (aeternum), 10. unbegreiflich (incomprehensibile), 11. vollkommen (perfectum), 12. der Seins- und Erkenntnisgrund von Ausgedehntem (Extensa sine eo neq; esse, neq; concipi, possunt), 13. ein Attribut der ersten Ursache, nämlich die Unermesslichkeit (attributum, viz. immensitas, primae causae)163.

2. Vergöttlichter Raum: Die meisten Eigenschaften werden auf die Unendlichkeit zurückgeführt und aus dieser bewiesen, woraus nun aber, systematisch betrachtet, erhebliche Probleme entstehen. Da die Unendlichkeit des Raumes als aktuale, d.h. als Unendlichkeit Gottes verstanden ist, ist der Raum von der geschöpflichen Seite auf die Seite Gottes gewechselt. Die Unendlichkeit des Raumes muss, um den Spinozismus zu vermeiden, strikt von der Ausdehnung der Welt unterschieden werden, woraus notwendig die Endlichkeit der Welt folgt.164 Der Raum kann damit nicht der mit Kräften erfüllte Raum Newtons sein, sondern ist bloß kinematisch, als die Bedingung der Möglichkeit von Bewegung auf die Materie bezogen. Der Raum ist nicht einmal indirekt, aus seinen Wirkungen, wahrnehmbar, sondern für Sinne und Vernunft unbegreiflich. Der Raum ist damit keines der sensiblen oder intelligiblen Weltdinge, sondern entspricht funktional dem mittelalterlichen außerkosmischen Raum als dem Raum, in dem Gott die Welt bewegt. Dieser Raum ist strenggenommen nur noch der Raum Gottes selbst, der Raum, den Gott in sich hat und mit dem er die Welt umfasst und durchdringt. Der leere Raum ist, wie der vorkritische Kant entsprechend formulierte, nichts anderes als der „unendliche Umfang der göttlichen Gegenwart“165. Der Raum ist bei Raphson nichts anderes als die immensitas Dei. Er ist diejenige Eigenschaft Gottes, mit der er allem, was ist, wesentlich gegen————— 163 Ebd., c.V, 72–80. 164 Ebd., c.IV, 70. 165 I. Kant, Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels, A 101, 326; vgl. A 111, 333.

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Der Raum als Repräsentation Gottes

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wärtig ist („Spatium reale & infinitum […] ipsam immensitatem esse Primae Causae […] Eam omnibus, quae sunt, essentialiter adesse & omnia penetrare […]“166). Der vergöttlichte Raum, verstanden als mit der Allgegenwart Gottes identisch, ist kurz gesagt, von Gott ununterscheidbar. Der metaphysisch zum höchsten Wesen übersteigerte Raum löst sich selbst auf. Er ist nur noch im uneigentlichen Sinne Raum. Diese Selbstauflösung ist aber relativ unproblematisch, da der Raum bei Raphson keine dynamische Funktion erfüllt und seine einzige physikalische Berechtigung in dem schwachen kinematischen Argument besteht, die Ermöglichungsbedingung von Bewegung zu sein. Diese Raumeigenschaft kann leicht im Sinne einer transzendentalen Realität oder sogar einer transzendentalen Idealität verstanden und von den göttlichen Eigenschaften abgetrennt werden. Anders gesagt: Sowohl metaphysisch wie physikalisch scheint es sinnvoll, den Raum Raphsons in zwei Aspekte aufzuspalten und den einen, den wesenhaft göttlichen, allein Gott zuzuschlagen, möglichst nicht mehr als Raum zu bezeichnen und nur den transzendentalen Aspekt als physikalischen bzw. erkenntnistheoretischen Raumbegriff beizubehalten. Diese Unterscheidung hat bekanntlich Kant vollzogen und damit die folgerichtige Konsequenz aus den Inkonsistenzen bzw. der Überhöhung des Raphsonschen Raumbegriffs gezogen. 3. Zusammenfassender Rück- und Vorblick: Henry More, Isaac Newton, Joseph Raphson und Samuel Clarke hatten eine metaphysische Auffassung des absoluten Raumes als einer Realität an sich vertreten, der Träger und Repräsentanz der erhaltenden und wirkenden Allgegenwart Gottes ist. Metaphysisch und schöpfungstheologisch ist der Raum als eine Substanz sui generis anzusehen, welche zwischen Gott und den körperlichen Dingen vermittelt. Dies äußert sich physikalisch darin, dass der Raum der Träger des bewegungserhaltenden Trägheitsprinzips und der Vermittler der fernwirkenden Gravitationskräfte ist. Dieses Raumverständnis konnte sich noch gut eine Generation vorrangig in England über John Jackson, Joseph Clarke, Isaac Watts, Colin Maclaurin u.a. bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts halten und wurde zuletzt vom Schweizer Mathematiker und Physiker Leonhard Euler zur Grundlage seiner newtonschen Mechanik und Bewegungslehre gemacht. Mit Immanuel Kant allerdings wurde die Auffassung vom absoluten Raum in nur einer Generation vollständig dekonstruiert. Dieser Vorgang ist deshalb sowohl systematisch als auch für die Geschichte der ————— 166 Raphson, De Spatio Reali, c.VI, 81.

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Gott und Raum

Allgegenwarts- und Raumvorstellung von besonderem Interesse, als Kant in seiner vorkritischen Zeit, ausgehend von Leibniz’ relationalem Raumbegriff, zunächst eine Synthese mit dem Newtons versucht hatte, dann unter Einfluss von Eulers Mechanik eine Wendung zum absoluten Raum genommen und schließlich mit seiner kritizistischen Wende eine unwiderrufliche Abkehr vom absoluten Raum vollzogen hatte. Mit Kants transzendentalphilosophischem Raumbegriff als Form sinnlicher Anschauung konnte Gottes Allgegenwart gar nicht mehr mit dem Raum in Verbindung gebracht werden, sondern musste selbst unräumlich gedacht werden, eine Konsequenz, die auch für alle empirischen Raumbegriffe gilt und die Schleiermacher ausdrücklich auszog. Aufgrund der Bedeutung Kants als Wendepunkt im Verhältnis von Gott und Raum soll er nicht im historischen, sondern im ersten Kapitel des systematischen Teils behandelt werden. Der Raum kann fortan nicht mehr der Repräsentant der göttlichen Allgegenwart sein, weshalb die Betrachtung der historischen Entwicklungslinien des Verhältnisses von Gott und Raum auch in systematischer Hinsicht hier endet. Gleichwohl sind die historischen Lösungen für eine eigene Lösung, die gegenwärtig überzeugt, nicht obsolet, weil die Funktion, die sie erfüllt haben, auch von einer heutigen Lösung erfüllt werden müssen, nämlich die Gegenwart Gottes im Verhältnis zum Raum denkbar zu machen.

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II. SYSTEMATISCHER TEIL: DER WELTLICHE RAUM UND DIE GEGENWART GOTTES

Der Raum konnte bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts als Repräsentant der Allgegenwart Gottes verstanden werden. Das hierfür vorausgesetzte Verständnis des absoluten Raumes hat sich mit Kants transzendentaler Wende aus innermetaphysischen Gründen und 150 Jahre später auch aus physikalischen Gründen aufgelöst, weshalb unsere historische Betrachtung des Verhältnisses von Gott und Raum hier endet. Mit dem Raum als Form sinnlicher Anschauung konnte Gottes Allgegenwart nicht mehr Verbindung gebracht werden, aber auch nicht mit rein empirischen Raumbegriffen, sondern musste nun unräumlich gedacht werden, eine Konsequenz, die Schleiermacher ausdrücklich auszog. Der Raumbegriff, der sowohl physikalisch als auch theologisch brauchbar ist, kann heute nicht mehr der vergöttlichte Absolutraum sein. Ein raumloses Verständnis von Allgegenwart Gottes, wie es auf Schleiermacher folgend Barth, Torrance, v.d. Brom u.a. vertreten haben, ist aber ebenfalls unbefriedigend, wie im ersten Kapitel des zweiten, systematischen Hauptteils begründet wird. Um die Weltgegenwart Gottes ausdrücken und auch auf die physische Welt beziehen zu können, müssen wir einen anderen Raumbegriff entwickeln, was in Kapitel 2.–8. des systematischen Teils geschehen soll.

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Raum und Gott

Kapitel 1: Raumlosigkeit vs. Raumbezogenheit Gottes

Aufgrund der Bedeutung Kants als Wendepunkt im Verhältnis von Gott und Raum soll er nicht im historischen, sondern im ersten Kapitel des systematischen Teils behandelt werden (1.1), zusammen mit der exemplarischen nachkantischen Position Schleiermachers (1.2) und einer Problematisierung der dadurch ausgelösten aporetischen Situation (1.3), die Motivation dafür ist, in Abhebung von neueren, ebenfalls aporetischen Konzeptionen (1.4–6), unsererseits einen theologischen Raumbegriff zu entwickeln, der weder mehr der absolute noch auch der transzendentalphilosophische sein kann. Die Positionen von Kant, Schleiermacher, v.d. Brom, Dalferth, Moltmann und Evers, die in diesem Kapitel nebeneinander gestellt werden, stehen signifikant für die verschiedenen Möglichkeiten, Gottes Gegenwart strikt unräumlich oder abstrakträumlich zu denken. Diese Konzeptionen zeichnen sich nach unserem Verständnis alle durch die Aporie aus, dass der Raumbezug Gottes dadurch abstrakt oder nur unklar metaphorisch u.d.h. faktisch raumlos wird.

1.1 Der Raum als göttliches „Phänomen“ bzw. als „Form“ (Kant) Das Raumverständnis Kants wurde so häufig und detailliert behandelt, dass eine umfängliche Darlegung nicht notwendig ist.1 Wir können uns mit einer knappen Zusammenstellung der wichtigsten Aussagen begnügen. 1. Der vorkritische Kant hat sich seit seinen ersten Schriften „Gedanken von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte“ 1746 und der Habilitationsdissertation 1755 mit dem Raum beschäftigt. Der relationale Raumbegriff Leibniz’ erfordert, sofern die Anordnung der Körper dynamisch in ihrem Verhalten auf Grund von Kräften betrachtet wird, mit Newton einen tatsächlich vorhandenen Raum. Denn wenn kein Raum zwischen den Körpern wäre, könnten die Substanzen keine äußeren Kräfte aufeinander ausüben. Und ohne die Kraftwirkung, wäre „keine Ver————— 1 Vgl. H. Vaihinger, Commentar zu Kants Kritik der reinen Vernunft, Bd. 2, 123–328; Cassirer, Das Erkenntnisproblem, Bd. 2, 618–635; 683–706; Gent, Die Philosophie des Raumes und der Zeit, 257–273; ders., Die Raum-Zeit-Philosophie des 19. Jahrhunderts, 1–88; F. Kaulbach, Die Metaphysik des Raumes bei Leibniz und bei Kant; F. Delekat, Immanuel Kant. Historischkritische Interpretation der Hauptschriften, 25–71; K.-H. Michel, Immanuel Kant und die Frage der Erkennbarkeit Gottes. Ein kritische Untersuchung der „Transzendentalen Ästhetik“ in der „Kritik der reinen Vernunft“ und ihrer theologischen Konsequenz; E. Joos, Raum, 29–42.

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Raumlosigkeit vs. Raumbezogenheit Gottes

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bindung, ohne diese keine Ordnung, und ohne diese endlich kein Raum“2. Raum existiert als dynamische Verbindung von Substanzen. Auch in der Habilitation „Nova dilucidatio/Neue Erhellung der ersten Grundsätze metaphysischer Erkenntnis“ wird der leibnizsche mit dem newtonschen Raumbegriff verbunden. Raum wird als die Verhältnisse der Substanzen bestimmt, durch die sie real aufeinander bezogen sind.3 Dieser Raum muss von Gott erhalten werden, da kein Verhältnis von endlichen Substanzen zueinander bestehen kann, ohne dass es „von dem gemeinsamen Grund ihres Daseins, nämlich dem göttlichen Verstand, in wechselseitigen Beziehungen gestaltet erhalten“ würde.4 Der Raum ist das durch wechselseitige Kraftwirkung verbundene Relat der Substanzen, die durch Erhaltung der Schwerkraft, dem ursprünglichsten Naturgesetz, das „von Gott unmittelbar erhalten wird“5, in Beziehung zueinander erhalten werden. Der leere Raum ist nach der schon zitierten „Allgemeinen Naturgeschichte und Theorie des Himmels“ von 1755 der „unendliche Umfang der göttlichen Gegenwart“6. Der Raum, so Kant in einer der Metaphysikvorlesungen zwischen 1770 und 1781, ist eine Erscheinung, ein „Phänomen der göttlichen Allgegenwart“7. Damit sei zwar nicht Gott selbst am Ort oder an den Raum gebunden, aber so auf die am Ort befindlichen Dinge bezogen, dass er sie mitsamt ihrem Ort und den Relationen erhält. „Die Allgegenwart Gottes“, so definiert Kant in derselben Vorlesung, „ist nicht ein Daseyn, das an die Bedingung der Zeit und des Raumes gebunden ist, sondern Gott ist allenthalben und zu aller Zeit gegenwärtig; aber weder im Raume, noch in der Zeit. […] Er wirkt in alle Dinge, die in Oertern sind, er selbst aber ist in keinem Orte.“8 Der Gottesbegriff ist der extramundane von Descartes und Leibniz, die Allgegenwarts– und Raumvorstellung aber von Newtons phänomenaler Auffassung überformt. Der Raum ist Erscheinung der Allgegenwart Gottes. ————— 2 I. Kant, Gedanken von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte, Vorkritische Schriften 1, 33. 3 I. Kant, Principiorum primorum cognitionis metaphysicae nova dilucidatio, sect.III, prop.XIII, Vorkritische Schriften 1, 501. 4 Ebd., 497. 5 Ebd., 505. 6 I. Kant, Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels, A 101, Vorkritische Schriften 1, 326; vgl. A 111, 333; dies ist die Auffassung von Clarke und Raphson, s.o. I.8.6.2. 7 I. Kant, Vorlesungen über die Metaphysik, 339: „Er ist allgegenwärtig dadurch, dass er in alles wirkt. Weil nun Gott in alle Dinge wirkt; so machen die Dinge der Welt ein Ganzes aus […] Wenn diese Einheit sinnlich vorgestellt wird; so ist es der Raum. Der Raum ist also ein Phänomen der göttlichen Allgegenwart, obgleich nicht ein Organon, wie Einige meinten.“ 8 Ebd., 338f.

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Raum und Gott

In „Von dem ersten Grund des Unterschieds der Gegenden im Raum“ 1768 wird die Wende zu Newtons Absolutraum radikalisiert, indem zusätzlich zu dem von Euler gegebenen dynamischen Argument für die Existenz des absoluten Raumes, dass nämlich das Trägheitsgesetz des Beharrens im Zustand der Ruhe oder der gleichförmigen Bewegung nur mit Bezug auf den absoluten Raum begründet werden kann,9 ein geometrisches Argument für den absoluten Raum gegeben wird. Kant sucht einen evidenten Beweis dafür, „dass der absolute Raum unabhängig von dem Dasein aller Materie und selbst als der erste Grund der Möglichkeit ihrer Zusammensetzung eine eigene Realität habe.“10 Er findet diesen Beweis in der Inkongruenz zweier Körper, die einander nach ihren inneren Beziehungen völlig gleich sind, aber durch keine geometrische Operation, weder durch Translation noch durch Achsen- oder Punktspiegelung, ineinander überführt werden können, wie z.B. die linke und die rechte Hand, links- und rechtsdrehende Schrauben etc. Die Händigkeit („Chiralität“) markiert für Kant „wahre Unterschiede, die sich lediglich auf den absoluten und ursprünglichen Raum beziehen“11 können. Von heutigem Erkenntnisstand aus ist anzumerken, dass Kant offensichtlich nicht gesehen hat, dass jede der geometrischen Operationen, die er im dreidimensionalen Raum für unmöglich hält, immer eine Dimension mehr als die Dimension des Körpers erfordert. Wie man eine Linie nur in der Ebene spiegeln kann, eine flächiges Gebilde nur im Raum, so könnte man einen chiralen Körper im vierdimensionalen Raum drehen, jedenfalls dadurch einen Bauplan erstellen, wie man den Körper in umgekehrter Chiralität herstellen kann. Auch die Möglichkeit, durch Dehnung und Stauchung, also durch Verzicht auf die Starrheit des Körpers die Überführung herzustellen, etwa durch Umstülpen eines Handschuhs, ist Kant entgangen, weil er als Raumbegriff schon den rechtwinklig dreidimensionalen, geometrisch starren Raum angesetzt hat.12 Der dreidimensionale Raum hat in der Tat genau drei Dimensionen, aber ob der Raum tatsächlich drei Dimensionen und welche Geometrie er hat, ist eine andere Frage, die man nicht ohne Vorannahmen beantworten kann,13 der absolute Raum jedenfalls ist geometrisch nicht zu erweisen. In seiner kritischen Zeit hat Kant selbst nicht mehr darauf insistiert, sondern den Unterschied von rechts und links phänomenologisch aus der Orientierung im Raum bestimmt und auf den Unterschied von absoluter, aber subjektiver Innenorientierung und relativer, aber objektiver Außenorientierung zurückgeführt.14 Das dynamische

————— 9 L. Euler, Réflexions sur l’espace et le temps; hierzu vgl. Cassirer, Das Erkenntnisproblem, Bd. 2, 475–485; Gent, Die Philosophie des Raumes und der Zeit, 202f; Jammer, Das Problem des Raumes, 140–143. 10 I. Kant, Von dem ersten Grunde des Unterschiedes der Gegenden im Raume, Vorkritische Schriften 2, 994. 11 Ebd., 1000. 12 Vgl. P. Janich, Das Maß der Dinge. Protophysik von Raum, Zeit und Materie, 106–109. 13 Zur Dreidimensionalität des Raums und zur Konventionalität der Geometrie vgl. II.6.2.3f. 14 I. Kant, Was heißt: sich im Denken orientieren?, hierzu ausführlich unten II.2.4.

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Raumlosigkeit vs. Raumbezogenheit Gottes

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Argument konnte relativiert werden, indem der absolute Raum funktional seit L. Lange durch ein bestimmtes Koordinatensystems, ein Trägheits- oder Inertialsystems ersetzt und prinzipiell durch Mach und Poincaré widerlegt wurde.15

Genau genommen hatte schon Euler in seiner Frühzeit noch nicht die Realität des absoluten Raumes in empirischer Hinsicht, sondern nur als hypostasiertes Denkpostulat behauptet. „Wir behaupten nämlich gar nicht, dass es einen derartigen unendlichen Raum gebe, der feste und unbewegliche Grenzen hat, sondern unbekümmert, ob er existiert oder nicht existiert, postulieren wir nur, dass derjenige, der die absolute Ruhe oder Bewegung betrachten will, sich einen solchen Raum vorstelle und daraus über den Zustand der Ruhe oder Bewegung eines Körpers urteile.“16 Der absolute Raum und die in ihm verortete absolute Bewegung ist, so kann man tatsächlich Newtons Definition des Absolutraumes interpretieren (I.8.4.1), die Bedingung der Möglichkeit relativer Räume und Bewegungen. 2. Der kritische Kant hat in dieser Weise in seiner Inauguraldissertation 1770 und in den „Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft“ 1786 auf den schon in seiner vornewtonschen, auf Leibniz rekurrierenden Schrift „Neuer Lehrbegriff der Bewegung und Ruhe“ 1758 geäußerten Gedanken der absoluten Relativität der Bewegung zurückgegriffen. Die Ausdrücke Bewegung und Ruhe könne man „niemals in absolutem Verstande brauchen, sondern immer respective“, weshalb ein von Gegenständen leerer Raum als „Behältnis der Körper“ nutzlos und überflüssig sei.17 Wegen der Relativität der geradlinigen Bewegung gibt es nur relative Räume, nämlich den empirischen Raum, in dem die Bewegung wahrgenommen wird. Der empirische Raum ist, als materiell, selbst beweglich, und setzt „einen anderen, erweitertern materiellen Raum voraus, in welchem er beweglich ist, dieser eben sowohl einen andern, und so fort ins Unendliche.“18 Ein absoluter Raum wäre nicht materiell, darum auch kein Gegenstand der Erfahrung. Ihn „für sich gegeben“ anzunehmen, hieße, etwas, das „weder an sich, noch in seinen Folgen (der Bewegung im absoluten Raum) wahrgenommen werden kann, um der Möglichkeit der Erfahrung willen anzunehmen, die doch jederzeit ohne ihn angestellt werden muss. Der absolute ————— 15 Hierzu vgl. kritisch H. Dingler, Das Problem des absoluten Raumes in historischkritischer Behandlung; Jammer, Das Problem des Raumes, 156–161, sowie unten II.6.2.2. 16 „Namque non asserimus dari hujusmodi spatium infinitum, quod habeat limites fixos et immobiles, sed sive sit, sive non sit non curantes, postulamus tantum, ut motum absolutum et quietem absolutam comtemplaturus sibi tale spatium repraesentet ex eoque de corporum statu vel quietis vel motus judicet“ (L. Euler, Mechanica sive motus scientia analytice exposita, tom.I, def.II, schol.1). 17 I. Kant, Neuer Lehrbegriff der Bewegung und Ruhe, Vorkritische Schriften 2, 571. 18 I. Kant, Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft, A 3, Schriften zur Naturphilosophie, 26.

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Raum und Gott

Raum ist also an sich nichts und gar kein Objekt“19, sondern ein reiner Vernunftbegriff, der die begriffliche Differenz zwischen Ruhe und Bewegung markiert, indem jede Bewegung auf ihn als unbeweglich bezogen wird. Der absolute Raum dient dem Zwecke der Definition von Bewegung überhaupt und ist „gar nichts, was zur Existenz der Dinge, sondern bloß zur Bestimmung der Begriffe gehört“20. Das Neuverständnis des Raumbegriffs fällt mit Kants transzendentalphilosophischer Wende zusammen, die er als eine Erleuchtung des Jahres 1769 beschreibt.21 In der Inauguraldissertation zur Professur für Logik und Metaphysik in Königsberg 1770 wird erstmals die erkenntnistheoretische Einsicht geäußert, dass ich nichts als außer mir gesetzt erfassen kann, „wenn ich es nicht als an einem Ort vorstelle, der von dem, an dem ich selbst bin, verschieden bin, und die Dinge nicht als außereinander, wenn ich sie nicht an verschiedene Orte des Raumes stelle. Die Möglichkeit äußerer Wahrnehmungen, als solcher, setzt mithin den Begriff des Raumes voraus und schafft ihn nicht.“22 Der Raum ist eine „reine Anschauung“23. Er ist nicht etwas Objektives und Reales, weder Substanz noch Akzidenz, noch Relation, sondern ein subjektives, ideales Schema, Dinge nebeneinander zu ordnen.24 Der Raum ist „die sinnlich erkannte allgemeine und notwendige Bedingung der Mitgegenwart von allem“25. Er ist insofern auf Gott bezogen, als dieser die erhaltende Ursache aller im Raum nebeneinander befindlicher Dinge ist. Man kann daher den Raum die Erscheinung der Allgegenwart oder die Allgegenwart als Phaenomenen (Omnipraesentia phaenomenon) nennen.26 Damit wird, wie auch in der vorkritischen Zeit, aber nicht Gott selbst am Ort gedacht, sondern nur als Erhaltungsursache der Dinge am Ort. Die Ursache des Alls sei allem und jedem nicht deshalb gegenwärtig, weil sie an deren Örtern wäre, sondern es sind Orte, weil sie allem intime praesens ist.27 Wie man sich diese intime Präsenz nicht örtlich denken soll, wird nicht gesagt. Es wird nur negativ und allgemein betont, die Gegenwart des Immateriellen in der Körperwelt sei virtuell, nicht örtlich (virtualis, non ————— 19 Ebd. 20 Ebd., A 155, 133. 21 „Ich sah anfänglich diesen Lehrbegriff [sc. der Metaphysik als Wissenschaft, U.B.] nur in einer Dämmerung. […] Das Jahr 69 gab mir großes Licht“ (Kant, Reflexion zur Metaphysik, Nr. 5037, AA Bd. XVIII, 69). 22 I. Kant, De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis, sect.III, §15A, A219, Schriften zur Metaphysik und Logik 1, 57. 23 Ebd., §15C, 59. 24 Ebd., §15D, A220, 61. 25 Ebd., §22 schol., A227, 79. 26 Ebd. 27 Ebd., 80.

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Raumlosigkeit vs. Raumbezogenheit Gottes

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localis)28. Daher kann man auch nicht Gott direkt auf den Raum beziehen. Dies wäre ein „Erschleichungsfehler“, durch den man ein Erkenntnisprinzip der sinnlichen Dinge fälsch auf die intelligiblen Dinge übertragen würde. Das Axiom „Alles, was ist, ist irgendwo und irgendwann“ sei ein erschlichenes Axiom, ein unechtes Prinzip, durch das alle Dinge, auch die intelligiblen, „an die Bedingungen des Raumes und der Zeit im Dasein gebunden“29 würden. Der Raum ist lediglich die Form der Anschauung sinnlicher Dinge, aber nicht eine Qualität von Sein überhaupt. Würde man das (falsche) Axiom, dass alles irgendwo ist, auf Gott anwenden, würde man sich „eine örtliche Gegenwart Gottes“ erdichten und „Gott, als von einem unendlichen Raum zugleich umgriffen, in die Welt“30 einschließen. Die Folge, wenn man den Raum nicht als Idealität annehmen, sondern an das Dasein der Dinge binden und zugleich auf Gott beziehen würde, wäre die, dass Gott als Ursache des Daseins der Dinge auch Ursache des Raumes wäre. Daraus folgte nichts anderes als der Spinozismus, bei dem „Raum und Zeit wesentliche Bestimmungen des Urwesens selbst sind, die von ihm abhängige Dinge aber (also auch wir selbst) nicht Substanzen, sondern bloß ihm inhärierende Akzidenzen sind“31. Mit anderen Worten: Wäre Raum an die Dinge gebunden und Gott ihr Raum, so wäre mit Gott als Ursache der räumlichen Dingexistenz Freiheit (und damit Sittlichkeit) vernichtet. Die Ursächlichkeit Gottes muss darum, so die Analytik der Kritik der praktischen Vernunft, ohne Bezug auf Raum und Zeit sein. Die Vermischung des mundus sensibilis mit dem mundus intelligibilis kann nur verhindert werden, indem man beide Welten strikt erkenntnistheoretisch trennt.32 In der Kritik der reinen Vernunft ist diese Trennung klar durchgeführt, zum einen dadurch, dass der Raum ganz der Sinnenwelt zugeschlagen wird, und zum andern dadurch, dass Gott ganz von der Sinnenwelt abgezogen wird. Mit Descartes und Leibniz muss Gott, das „notwendige Wesen ganz außer der Reihe der Sinnenwelt (als ens extramundanum) und bloß intelligibel gedacht werden […], wodurch allein es verhütet werden kann, dass es nicht selbst dem Gesetze der Zufälligkeit und Abhängigkeit aller Erscheinungen unterworfen werde.“33 Der Raum aber kann, als Form der ————— 28 Ebd., §27, A232, 90/92. 29 Ebd., 91. 30 Ebd., 93. 31 I. Kant, KpV, A 183, 228; ebenso sah F.W.J. Schelling den Fehler B. Spinozas nicht darin, dass der „die Dinge in Gott setzt, sondern darin, dass es Dinge sind“ (Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit, 60), wodurch erst die Freiheit geleugnet wird. Der mechanische Determinismus produziert den Fatalismus, nicht das In-Gott-sein. 32 Vgl. Delekat, Immanuel Kant, 36. 33 Kant, KrV, B 589, 508.

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Raum und Gott

sinnlichen Anschauung verstanden, nicht mehr zwischen Gott und Erscheinungswelt, zwischen mundus intelligibilis und mundus sensibilis vermitteln. Der Raum kann nun nicht mehr als Erscheinungsweise oder Medium der Allgegenwart Gottes verstanden werden. Die Unendlichkeit der Ausdehnung des Raumes auf der einen und der Allgegenwart Gottes auf der anderen Seite benennt nur noch eine formale „Ähnlichkeit zwischen diesem Inbegriff aller Größen für den äußeren Sinn und dem Inbegriff aller Realität“34. Der Raum, so die vier bekannten metaphysischen Argumente der transzendentalen Ästhetik,35 ist 1. gegen den Empirismus (Newton, Locke, Hume) kein empirischer, von äußeren Erfahrungen abgezogener Begriff, da Raum 2. allen äußeren Anschauungen schon zugrunde liegt, also apriorische Bedingung der Möglichkeit von Erscheinungen ist. Der Raum ist 3. gegen den Rationalismus (Leibniz, Wolff, Crusius) kein diskursiver Begriff, sondern eine reine Anschauung, die 4. als unendliche gegebene Größe vorgestellt ist.36 Der Raum hat nach der anschließenden transzendentalen Erörterung einerseits empirische Realität, d.h. objektive Gültigkeit bei der Anschauung von Gegenständen, insofern er deren räumliche Erscheinung konstituiert, und andererseits transzendentale Idealität, da er nicht selbst Anschauungsgegenstand, sondern Form der äußeren Anschauung ist. Als Formbedingung der sinnlichen Wahrnehmung von Gegenständen wird der Raum durch die Subjektivität konstituiert, hat also keine äußere Realität an sich. Es existiert damit kein absoluter Raum, obwohl der Raum als empirische Realität dessen Form der dreidimensionalen unendlichen Ausdehnung hat, was aber einzig daran liegt, dass sich Kant keine andere Geometrie als die euklidische denken kann, so dass die apriorische, mathematische Geometrie mit der empirischen übereinstimmt und umgekehrt. Der Raum hat bei Kant, das hat H. Scholz in einer vergleichenden Analyse aufgezeigt,37 dieselben Eigenschaften wie Newtons absoluter Raum. Beide sind 1. unendlich, 2. einmalig, 3. unverrückbar bzw. absolut gleichförmig, 4. stetig, 5. dreidimensional, 6. homogen und isotrop, 7. euklidisch flach. Die Differenz besteht in der absoluten Realität, der Leerheit und der Unanschaulichkeit, die der Kantsche Raum nicht hat: er hat relative (empirische) Realität, er ist leer nur als transzendentale Idealität und er ist eine Anschauung, wenn auch eine reine. ————— 34 G. Wohlfahrt, Ist der Raum eine Idee? Bemerkungen zur transzendentalen Ästhetik Kants, 146. 35 Ausführlich vgl. Michel, Immanuel Kant und die Frage der Erkennbarkeit Gottes, 42–58. 36 Kant, KrV, B 38–40, 72f. 37 H. Scholz, Das Vermächtnis der Kantischen Lehre vom Raum und von der Zeit, 34.

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Raumlosigkeit vs. Raumbezogenheit Gottes

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Der Raum ist damit ein synthetisches Apriori des äußeren Sinnes, die Bedingung, unter der uns allein Gegenstände erscheinen können. Er kann wegen seiner transzendentalen Konstitution durch das Subjekt und seiner Bestimmtheit durch Gegenstände definitiv nicht das sensorium Dei oder das unendliche Phänomenon der Allgegenwart Gottes sein. Dies gilt auch für den Raum als empirischer Realität, so dass Gottes Allgegenwart, wie Schleiermacher konsequent ausgezogen hat, als schlechterdings unräumlich zu denken ist.

1.2 Die raumlose Allgegenwart Gottes (Schleiermacher) Schleiermacher bestimmt die Allgegenwart Gottes als „die mit allem Räumlichen auch den Raum selbst bedingende schlechthin raumlose Ursächlichkeit Gottes“38. Was mit Raum genau gemeint ist, wird nicht gesagt, man wird an die empirische Möglichkeit von Räumlichkeit oder, konkreter, an das empirische Nebeneinander der Dinge denken müssen. Innerhalb der Gesamtkonzeption der Eigenschaftslehre Gottes ist die Qualifikation als Ursächlichkeit einleuchtend und konsistent, die Näherbestimmung als Raumlosigkeit – um die Bewertung vorweg zu nehmen – zwar verständlich, aber systematisch problematisch. Die schlechthinnige Ursächlichkeit ist die fundamentale Eigenschaft Gottes, sofern dieser noch nicht unter dem Gegensatz von Sünde und Gnade, sondern abgesehen von diesem, rein auf das Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit bezogen betrachtet wird. Sollen alle göttliche Eigenschaften nichts anderes als „nur das schlechthinnige Abhängigkeitsgefühl erklären“, dann müssen sie „auf die göttliche Ursächlichkeit irgendwie zurückgehen“39. Die schlechthinnige Ursächlichkeit ist die dem Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit am genauesten entsprechende Eigenschaft Gottes.40 Die Frage ist nun, in welcher Weise die göttliche Ursächlichkeit auf das Bewusstsein der schlechthinnigen Abhängigkeit bezogen ist. Die missverständlichen Aussagen, dass Gott im Selbstbewusstsein „eingeschlossen“ oder „mitgesetzt“ sei – dass „das schlechthinnige Selbstbewusstsein an und für sich ein Mitgesetztsein Gottes im Selbstbewusstsein“41 sei –, kann nicht so gemeint sein, dass die göttliche Ursächlichkeit nur darin besteht, einen bestimmten Zustand des Selbstbewusstseins, nämlich das Ge————— 38 F. Schleiermacher, Der christliche Glaube, §53 LS, Bd. 1, 272. 39 Ebd., §50.3, 260. 40 Zur Grundkonzeption der Eigenschaftslehre vgl. G. Ebeling, Schleiermachers Lehre von den göttlichen Eigenschaften. 41 Ebd., §30.1, 164; vgl. §4.4, 30.

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Raum und Gott

fühl der schlechthinnigen Abhängigkeit, hervorzurufen. Wäre die göttliche Ursächlichkeit nur bewusstseinsimmanent das mitgesetzte Woher des Daseins, würde sie nur die „Wechselwirkung des Subjektes mit dem mitgesetzten Anderen“42 (der Welt) und nicht auch den äußeren Raum und das subjektunabhängige Räumliche bedingen. Das im Selbstbewusstsein eingeschlossene Mitgesetztsein Gottes kann auch nicht so gemeint sein, dass die göttliche Ursächlichkeit jedem einzelnen Moment des Abhängigkeitsgefühls direkt korrespondiert. Dann wäre die göttliche Ursächlichkeit dasjenige konkrete Weltliche, das mit dem Subjekt in Wechselwirkung steht, also keine von den Weltprozessen unterschiedene Kausalität, sondern nur ein bestimmtes Bewusstsein der weltlichen Kausalitäten als göttliche. Würde sich die göttliche Ursächlichkeit in den weltlichen Ursachen erschöpfen, wäre der Pantheismusverdacht kaum abzuweisen. Gegen jede Form der „Vermischung des göttlichen Seins mit dem endlichen“, gegen jeden „pantheistischen Schein“43, hat sich Schleiermacher wiederholt, so auch an dieser Stelle, gewehrt.44 Der Zusammenhang des schlechthinnigen Abhängigkeitsgefühls mit der göttlichen Ursächlichkeit kann sich nur auf die Totalität in beiden beziehen. Das ins Selbstbewusstsein eingeschlossene Gottesbewusstsein ist das Bewusstsein davon, dass das Weltganze von Gott abhängig ist, so wie das Ganze des menschlichen Daseins „von anderwärts her ist“45, sich nicht selbst gesetzt hat. Die Ursächlichkeit Gottes ist so auf das Weltganze bezogen, dass er den Raum – entsprechend die Zeit – als Möglichkeit von räumlichen Vorgängen und deren Erfahrung bedingt, aber auch so, dass er alles Räumliche im Ganzen bedingt. In der Tat wird die göttliche Allmacht so bestimmt, dass „der gesamte alle Räume und Zeiten umfassende Naturzusammenhang in der göttlichen […] Ursächlichkeit gegründet ist“, sowie dass die göttliche Ursächlichkeit „in der Gesamtheit des endlichen Seins vollkommen dargestellt wird“46. Dem Umfang nach sei die göttliche Ursächlichkeit der Gesamtheit der natürlichen gleich.47 Mit dieser Zuordnung zur Gesamtheit des Natürlichen entsteht jedoch das Problem, wie dann die göttliche Ursächlichkeit auf die einzelnen Ereignisse bezogen sein kann. Wäre dies nicht der Fall, könnte man nicht von ————— 42 Ebd., §4.2, 26. 43 Ebd., §53.2, 274. 44 Vgl. ebd. §4.4, Anm., 29: „Fast unbegreiflich, wie man mir hat Pantheismus zuschreiben können, da ich das schlechthinnige Abhängigkeitsgefühl von der Beziehung auf die Welt ganz sondere“; die Abwehr des Pantheismusvorwurfs besonders im ersten Sendschreiben an Lücke, in: Schleiermacher Auswahl, 134–139. 45 Schleiermacher, Der christliche Glaube, §4.3, 28. 46 Ebd., §54 LS, 278f. 47 Ebd., §51.1, 264.

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einer schlechthinnigen Ursächlichkeit oder Allmacht sprechen. Die göttliche Ursächlichkeit muss auch im Einzelnen der endlichen dem Umfang nach gleich sein, „weil sonst zu einiger endlichen Ursächlichkeit eine göttliche wäre, zu anderer aber nicht.“48 Schleiermacher löst sich aus dem Dilemma so, dass er beide Ursächlichkeiten nur der Wirkung nach, nicht aber als Ursachen identifiziert, sondern die Art der Einwirkung strikt entgegensetzt. Während endliche Ursachen räumlich, zeitlich und quantitativ bestimmt und differenziert sind, ist dies bei der göttlichen nicht der Fall. Die göttliche Ursächlichkeit verhält sich zur natürlichen wie das Unendliche zum endlichen, das Raumlose zum Raum, die Zeitlosigkeit zur Zeit. Insbesondere die Allgegenwart sei „vollkommen raumlos, mithin auch nicht größer oder kleiner an verschiedenen Orten.“49 Gott ist nicht im Raum gegenwärtig und wirksam nach Analogie der Raumerfüllung von expansiven Kräften. Es ist daher keine ruhende Adessenz im Raum anzunehmen, und die operative Gegenwart strikt unräumlich vorzustellen. Einen Ort hat Gott nicht im Raum oder bei den Dingen, sondern ausschließlich „in sich selbst“, nur mit den „Wirkungen seines ursächlichen Insichselbstseins“ ist er überall.50 Alle Differenzierungen der Tradition, Gottes Allgegenwart im Raum zu verorten und gleichzeitig vom endlichen Am-Ort-sein abzuheben, werden zurückgewiesen, die repletive Ubiquität ebenso wie die ortsumgreifende oder –umfassende Allgegenwart. Jeder Bezug Gottes auf den Raum, auch die Unterscheidung in ruhende und wirksame Eigenschaften, wird abgelehnt.51 Schleiermachers gänzlich antimetaphysischer Ansatz, keine andere Art von Ursächlichkeit als die physikalisch-natürlichen anzunehmen, aber trotzdem Gott ganz lutherisch als den Allwirksamen zu denken, führt zur Alternative der Identität oder der völligen Differenz. Da die pantheistische Verschmelzung apriori ausscheidet, bleibt nur die tendenziell deistische und bloß negativ bestimmte Alternative, Gottes Weltwirksamkeit nur im Gegensatz zu den raum-zeitlichen Ursachen zu behaupten. Das Wie bleibt, weil Schleiermacher auf jede metaphysische Differenzierung in Erstund Zweitursachen, in unterschiedliche Kausalitäten, in concursusVerhältnisse etc. verzichtet, gänzlich unbestimmt. Die bloß negative Totalität der schlechthin raumlosen Ursächlichkeit kann Gott aber nicht konkret auf die Welt beziehen. Die totale, unendliche Differenz hebt den Ursachenbegriff auf und vermittelt Gott nicht mehr mit der Welt. Die schlechthin raumlose Ursächlichkeit ist keine wirkende Ursächlichkeit. Man kann nicht zugleich metaphysische Zuordnungen ablehnen und am metaphysischen ————— 48 49 50 51

Ebd., 265. Ebd., §53.1, 273. Ebd., §53.2, 275. Ebd., 274–276; ausführlicher vgl. F. Beißer, Schleiermachers Lehre von Gott, 150–153.

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Gottesbegriff der prima causa festhalten. Die Raumlosigkeit erlaubt überdies nur eine undifferenzierte Allgegenwart, ganz gegen das „fromme Leben“ und die „religiöse Dichtkunst“52, die, wie Schleiermacher selbst zugesteht, nicht nur eine positive Beziehung Gottes auf den Raum, sondern auch eine vielfältige Differenzierung seiner Gegenwart an Orten, zu Zeiten, in Graden und Dichten kennen. Von der Erfahrung des Glaubens her ist gegen Schleiermacher einzuwenden: „Wenn wirklich hier Gott handelt, so ist auch für ihn der Raum weder gleichgültig, noch ein Nichts, noch unterschiedslos gleich. Wie Gott mit uns in der Zeit ist, so ist er es auch im Raum.“53

1.3 Die Aporie des empirisch/transzendentalen Raumbegriffs Die Entwicklung der Raumtheorien und ihres Verhältnisses zu Gottes Weltgegenwart endete bei Kant und Schleiermacher in einer Aporie. Die Transformation des Raumes aus erkenntnistheoretischen Gründen von einer kosmischen An-sich-Realität (Newtons absolutem Raum) zu einer Anschauungsform des erkennenden Subjekts mit transzendentaler Idealität und (bloß) empirischer Realität, nötigte dazu, Gott vom Bezug auf den Raum freizuhalten. Wenn „Raum“ einerseits apriorische Möglichkeit des Subjektes darstellt, Gegenstände nebeneinander anschauen zu können und zugleich die empirische Realisation dieser Anschauungsform des äußeren Nebeneinander darstellt, kann das Aufgehen Gottes in den apriorischen Strukturen des Subjekts einerseits und der Spinozismus eines mit den Gegenständen räumlich ausgebreiteten Gottes andererseits nur vermieden werden, wenn Gott und Raum so weit voneinander dissoziiert werden, dass Gott strikt raumlos und der Raum strikt gottlos gedacht wird. Die Vollkommenheit Gottes hat im Idealismus keinerlei räumliche Repräsentation, seine Unendlichkeit ist bei Kant und Schleiermacher wie bei Descartes und Leibniz strikt raumlos, d.h. geistig im Gegensatz zur Körperlichkeit gedacht. Damit wird aber der cartesische Dualismus ontologisch zementiert, insofern die Präsenz und Wirksamkeit Gottes ausschließlich intelligibel, u.d.h. über die geistig-rationalen (Leibniz), nicht die räumlich-mechanischen Weltstrukturen, oder über die res cogitans, d.h. das geistig-sittliche Bewusstsein (Kant, Fichte) vermittelt ist. Gott hat mit Kants und Schleiermachers berechtigter Kritik eines „spinozistischen“, nur auf die (äußere, räumlich-dingliche, u.d.h. mechanische) Natur bezogenen Gottesbegriff, gar keinen Raumbezug mehr, sondern nur noch moralischen Weltbezug und Relevanz. Wenn man dennoch, wie Schleiermacher, den kausalen Bezug ————— 52 53

Schleiermacher, Der christliche Glaube, §53.1, 272. Beißer, Schleiermachers Lehre von Gott, 154.

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Gottes zur Welt aufrecht erhalten, aber Gott (gegen Leibniz und Kant) jenseits von Metaphysik und Moral verorten will, dann entsteht die Aporie, wie der raumlose Gott erstens Raum und Zeit konstituieren soll und wie er zweitens ohne Kausal-Verhältnis sich kausal zur raumzeitlichen Welt verhalten soll. Eine Beziehung Gottes zum Raum (in noch zu klärender, bestimmter Weise) anzunehmen, ist aus verschiedenen Gründen unverzichtbar. Sie ist religiös notwendig, weil der glaubende und betende Christ Gott auch außer sich, d.h. im Raum, zu erfahren glaubt und auch lokal auf sich und seinen raumzeitlichen Ort bezogen weiß. Sie ist trinitäts- und schöpfungstheologisch notwendig, weil die inkarnatorische Struktur der Ökonomie Gottes ein Eingehen Gottes in Raum und Zeit behauptet und einen, wie auch immer gearteten, bleibenden Raumbezug Gottes vorsieht. Schöpfung und Erhaltung sind, wenn sie christologisch-pneumatologisch vermittelt sein sollen, nicht ohne Raumbezug Gottes zu denken. Und eine Beziehung Gottes zum Raum ist, wie gleich noch zu zeigen ist, logisch notwendig, da alle Gottesaussagen, schon die Existenzbehauptung, einen räumlichen Bezug zum Sprecher implizieren. Die Notwendigkeit, einen Raumbezug Gottes zu denken, soll zunächst an zwei gegenläufigen, aber jeweils die eben geschilderte Aporie reproduzierenden Argumentationen gezeigt werden, deren eine einen Raumbezug Gottes verneint, während die andere ihn fordert, wobei Negation bzw. Position zur Frage beidesmal mit einem defizitären bzw. ungeklärten Raumbegriff verkoppelt sind. Daran soll deutlich werden, dass die Aporie ausschließlich aus einem defizitären Raumbegriff resultiert und nicht primär im Gottesbegriff gründet. L. van den Brom (1.4) begründet die Forderung, Gott raumlos zu denken, aus der Unvereinbarkeit des Gottes- mit dem von ihm unterstellten geometrischen Raumbegriff, was aber u.E. nicht die Ablehnung des Raumbezuges Gottes, sondern dieses Raumbegriffs zur Folge haben muss. An Überlegungen I.U. Dalferths (1.5) soll gezeigt werden, dass die Annahme der Existenz und der Erfahrbarkeit Gottes einen Raumbezug Gottes erfordert, der aber bei Dalferth selbst mit einem raumlosen Raumbegriff formuliert wird und daher in die Aporie eines raumlosen Raumbezuges läuft.

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1.4 Die problematische Forderung, Gott raumlos zu denken (Brom) Die Antwort auf die Frage: „Can God be localized in space?“54 hängt für L. van den Brom erstens am Gottes- und zweitens am Raumbegriff. Als Gottesbegriff wird, Ch. Hartshorne folgend (ohne ihn zu nennen), aufgrund religiöser Praxis Gott als der Eine bezeichnet, dem Anbetung gebührt (the One who is Worthy of Worship)55. Die Eingangsfrage kann dann so formuliert werden: Ist es notwendig, anzunehmen (d.h. um zu verstehen, was mit dem Ausdruck ‚Gott‘ gemeint ist), dass Gott lokalisiert ist, wenn er Objekt der Anbetung ist. Diese Frage wird so bearbeitet, dass zunächst allgemeine Kennzeichen der Lokalisierung von Objekten herausgestellt werden, deren analoge Übertragbarkeit auf die Lokalisierung Gottes dann im zweiten Schritt überprüft wird. Die Lokalisierung von beliebigen Objekten im Raum hat folgende vier Kennzeichen:56 Lokalisiert sein bedeutet erstens, dass ein Objekt X in Relation zu anderen Objekten steht, aufgrund derer man die Frage: Wo ist X? beantworten kann. Alle lokalisierten Objekte, d.h. solche Objekte, die einen bestimmten Bereich des Raumes besetzen, besetzen zweitens nur diesen und keinen anderen Bereich und haben eine begrenzte Ausdehnung. Die Ortsangabe eines Objektes ist drittens doppelt exklusiv. Wenn X am Ort P lokalisiert ist, dann ist er nicht an Q, und wenn X an P ist, dann ist es Objekt Y (zur selben Zeit) nicht. Viertens ist die Lokalisation selbstexklusiv: X kann nicht zugleich an P und Q sein. Diese vier Kennzeichen gelten für materielle Körper wie für Personen, wobei bei letzteren im Unterschied zu ersteren noch fünftens die Fähigkeit zur Selbstlokalisation hinzukommt, sowie sechstens, im Unterschied etwa zu ausgedehnten Kraftfeldern, noch die Lokalität der Wirkungsübertragung. Personen können nur an ihrem Ort Px , nicht an Py Handlungen ausführen und Kraft auf Körper übertragen. ————— 54 L. v.d.Brom, Divine Presence in the World. A Critical Analysis of the Notion of Divine Omnipresence, 71. 55 Ebd., 8; bei Hartshorne ist die Definition Gottes als “The One who is worshipped” (C. Hartshorne, A Natural Theology for our Time, 3) dadurch motiviert, dass sie erstens auf den Begriff bringt, was in den aller philosophisch-theologischen Reflexion vorangehenden religiösen Lebensvollzügen mit dem Ausdruck ‚Gott‘ zur Sprache gebracht wird, und zweitens, dass sich diese Gottesidee auf ein im Unterschied zur Welt nicht kontingentes Notwendiges bezieht. M.a.W.: Die Definition vereinigt den Gott der theistischen Religionen, dem allein religiöse Verehrung zukommt, mit dem Gottesbegriff des rationalen Theismus. Auch v.d. Brom versucht auf diese Weise, den Gott der natürlichen Theologie mit dem des Glaubens zu vereinen (8). Zu Hartshornes Gottesbegriff vgl. I. Dalferth, The One Who ist Worshipped. Erwägungen zu Charles Hartshornes Versuch, Gott zu denken, in: Gott. Philosophisch-theologische Denkversuche, 192–212. 56 V.d. Brom, Divine Presence in the World, 71–74.

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Unter Voraussetzung dieses Verständnisses der Lokalität von Personen und Körpern, würde der Satz „God ist located at place Pi“57 bedeuten, dass Gott erstens sich selbst als am Ort Pi lokalisiert bewusst wäre: ‚I am here‘. Dann kann er sich an diesem Ort als Gott offenbaren, so dass er dort als Gott angebetet werden kann. Der Satz würde zweitens bedeuten, dass ein möglicher (An-)Beter nur dann in personale Beziehung zu Gott treten kann, wenn er sich in seinem Wirkungsradius lokalisieren kann. Das muss aber für jeden möglichen Beter gelten, so dass Gottes Würdigkeit, angebetet zu werden, für mich auf meinen Ort Pi beschränkt sein kann, aber auch für die Pj aller anderen Anbeter gelten muss. Gott wäre nicht der „God, who is worshipped“, wenn er nicht an allen Orten möglicher und wirklicher Anbeter lokalisiert wäre, also in Pi ebenso wie an allen Pj  Pi. Auch unter der Annahme, Gott sei lokalisiert, folgt daher drittens, dass der Wirkungsbereich Gottes über einen einzelnen Ort hinausreicht. Unter Voraussetzung des obigen Lokalitätsbegriffs muss man dann aber, da Objekte nicht simultan an Pi und Pj lokalisiert sein können, es sei denn, ihre Ausdehnung reicht von Pi bis Pj, Gott eine Ausdehnung, eine Art ‚body‘ oder ‚size‘ zuschreiben, die koextensiv mit dem Radius seiner Macht sein muss. Da aber Gott die Fähigkeit hat, sich an allen beliebigen Orten P1[…]x zu präsentieren, gilt: „God’s radius of action is infinitely great“58. Nur dann, wenn anders als bei einem Magnetfeld, die Kraft nicht mit der Entfernung abnimmt, kann Gott an Pj in derselben Weise und mit derselben berechtigten Erwartung seiner Kraftpräsenz als an Pi angebetet werden. Der Ort Gottes muss daher anders als bei Magnet und Magnetfeld mit dem Ort seiner Wirkung zusammenfallen. Dieser muss, damit jeder potentielle Anbeter X an seinem Ort Px ebenso wie Y an Py anbeten kann, homogen unendlich ausgedehnt sein. Damit sind aber Px und Py über dieselbe Relation zu Gott sozusagen verlinkt. Gott ist an jedem Ort zugleich nicht nur potentialiter, sondern essentialiter. Folglich, so der langen Analyse kurzer Sinn, kann Gott nicht exklusiv lokalisiert sein. Der Gottesbegriff des „One who is worthy to be worshipped“ impliziert: Gott ist an allen Orten würdig, angebetet zu werden: „He is omnipresent“59, der Gottesbegriff der natürlichen Theologie und der des Glaubens konvergieren. Der Satz „JHWH ist Gott“ impliziert nicht, wie im Falle von Körpern oder Personen, die Exlusivität „JHWH ist in Jerusalem, aber nicht in Silo“. V.d. Brom weist den Gedanken zurück, Gott könnte ein Wesen sein, das an einem einzigen Punkt des Raumes lokalisiert ist, denn dies wäre desaströs für den Beter.60 Aus religiösen Gründen ist an der All————— 57 58 59 60

Ebd., 75. Ebd., 76. Ebd., 84. Ebd., 125.

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gegenwart Gottes festzuhalten. Die Möglichkeiten, dass, wenn Gott schon nicht selbst räumlich im Sinne des angewandten Raumbegriffes ist, seine Allgegenwart in und durch den Raum vermittelt sein könnte (Spinoza, Newton) oder er in einer eigenen Art räumlich sein könnte, als trinitarischer Superraum in sich (Barth) oder als superpolarer Raum ‚über‘ den drei Raumdimensionen (Heim), werden zurückgewiesen.61 Gott, so lautet das Ergebnis, ist nicht als räumliches Wesen mit Teilbarkeit und Körperlichkeit zu denken, sondern raumlos. Gott ist „spaceles“, seine Allgegenwart als „spaceless presence“ zu denken und „in terms of the divine spacelessness ultimately“ zu interpretieren: „God must ultimately be a spaceless entity“62. V.d. Broms reichlich sophistische Überlegungen haben wir deshalb so ausführlich dargestellt, um deutlich zu machen, dass sein Schluss, nur die Raumlosigkeit Gottes sei mit seiner Allgegenwart vereinbar, an dem unterstellten Raumbegriff und dem vorausgesetzten Gottesbegriff hängt. Es ist der Begriff des geometrischen, homogenen, mit Skalen, Längen, Abständen, definierten und unterscheidbaren Orten versehenen euklidischen Raumes. Dieser ist, als empirische Realität betrachtet, in der Tat ungeeignet, um einen Raumbezug Gottes zu formulieren, zumal, wenn man auch noch den metaphysischen Allgegenwartsbegriff des klassischen Theismus darauf beziehen will, der schon im Ansatz in konträrem Widerspruch zum euklidischen Raumbegriff steht, da Allgegenwart, verstanden als unörtliche Allörtlichkeit, unmöglich mit einer Geometrie der separierten, lokalen Orte zu vereinen ist. Das negative Resultat gilt aber nicht apriori für alle möglichen Raumbegriffe. Bevor wir daran gehen können, einen adäquaten zu entwickeln, soll zunächst an Überlegungen I. Dalferths gezeigt werden, dass ein Raumbezug Gottes aus religiösen und aus logischen Gründen angenommen werden muss, wobei aber der von Dalferth unterstellte Raumbegriff mindestens unklar, wenn nicht selbstwidersprüchlich ist. Das Argument für den Raumbezug Gottes wird davon aber nicht berührt, so dass wir danach an die positive Ausarbeitung der Aufgabe gehen können. ————— 61 Spinoza, 126ff; Newton, 148ff; Heim, 233ff; Barth, 252ff; leider ist, um nur einen Fall herauszugreifen, das Verständnis von Heims überpolarem Raum reichlich verfälscht erfasst. Die Überpolarität des Raumes Gottes wird nur im Gegensatz, nicht auch im Bezug zu den polaren Räumen der Welt gesehen, was den Raumbegriff widersprüchlich oder allenfalls metaphorisch erscheinen lässt und faktisch aufhebt. Überpolar heißt dann nur (negativ) „non-polar“ und „spaceless and timeless“ (264). Brom übersieht, dass Heims Raumlehre eine differenziert ausgearbeitete Analogielehre darstellt, die die kategoriale Verschiedenheit und Einheit von Gott und Welt zur Sprache bringt, vgl. U. Beuttler, Gottesgewissheit in der relativen Welt. Karl Heims naturphilosophische und erkenntnistheoretische Reflexion des Glaubens, 263–300. 62 V.d. Brom, Divine Presence in the World, 229.

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1.5 Die Begründung, Gott raumbezogen zu denken (Dalferth) Die Notwendigkeit, Gott raumbezogen zu denken, ergibt sich nach I. Dalferth aus der Analyse des Satzes „Gott existiert“, welcher, wie aus der Analyse allgemeiner Existenzsätze erhoben wird, eine bestimmte Relation des Sprechers zum als existierend Behaupteten und umgekehrt, also des Menschen zu Gott und Gottes zum Menschen einschließt.63 Der Satz „Gott existiert“ ist ein spezifischer Gebrauch der allgemeinen Existenzbehauptung „a existiert“. Der Sinn des Satzes „a existiert“ kann nicht aus dem Muster der Existenzbehauptung raumzeitlich-materieller Gegenstände erschlossen werden, wie dies E. Tugendhat und andere versucht haben. Wenn man mit Existenzsätzen die Anwesenheit materieller Gegenstände in Raum und Zeit behaupten würde, man also ‚Anwesenheit‘ als „ein relationales Prädikat mit Bezug auf Raum- und Zeitstellen“ verstünde, müsste man von den Existenzsätzen materieller Gegenstände, deren Existenz darin besteht, dass sie „während einer bestimmten Zeit irgendwo im Raum anwesend“64 sind, eine andere, allgemeinere Art von Existenzsätzen der Form ‚es gibt‘ unterscheiden. Man hätte dann „zwei Existenzbegriffe mit zwei verschiedenen Grammatiken“65. Die Einheitlichkeit der Existenzbehauptung für materielle und andere ‚Gegenstände‘ kann man dagegen festhalten, wenn man ‚in Raum und Zeit‘ nicht als Element des Existenzprädikators, sondern des materiellen Gegenstandes a versteht. Für materielle Gegenstände hieße dann ‚a existiert‘ soviel wie ‚(a in Raum und Zeit) existiert‘ und nicht ‚a (existiert in Raum und Zeit)‘, entsprechend für nichtmaterielle Gegenstände einfach ‚a existiert‘. Existenz ist, wie schon Kant in seiner Kritik des ontologischen Arguments gezeigt hat, „kein reales Prädikat“, keine Eigenschaft von etwas, so das ‚sein‘ zur „Bestimmung eines Dinges“66 gar nicht taugt. Es ist zwar richtig, wie linguistische Untersuchungen verschiedener Alltagssprachen gezeigt haben, dass „die Verwendung von ‚sein‘ oder ‚existieren‘ in wesentlicher Hinsicht lokalisierend ist“67, aber in anderer Weise als einen Körper gegenständlich-raumzeitlich zu lokalisieren. ‚a existiert‘ lokalisiert nicht a in Raum und Zeit, sondern lokalisiert sich, den Sprecher, im Verhältnis zu a, und zwar mit allen Prädikaten, gegebenenfalls auch den raum————— 63 Die gesamte Argumentation in I. Dalferth, Existenz Gottes und christlicher Glaube. Skizzen zu einer eschatologischen Ontologie, 85–275; zusammengefasst in ders., Gott, 23–50. 64 E. Tugendhat, Selbstbewusstsein und Selbstbestimmung, 175; vgl. ders., Vorlesungen zur Einführung in die sprachanalytische Philosophie, 464. 65 Tugendhat, Selbstbewusstsein und Selbstbestimmung, 176; vgl. Vorlesungen, 467f. 66 Kant, KrV, B 626. 67 Dalferth, Gott, 40.

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zeitlichen. Die Existenzbehauptung bleibt inhaltlich-semantisch ganz unbestimmt, sie sagt nichts Prädikatives über das, dessen Existenz behauptet wird, sie ist aber pragmatisch ganz klar bestimmt. Denn ihre Pointe ist, „dass ich in Existenzsätzen einen Gegenstand mit allen seinen Prädikaten im Verhältnis zu mir setze bzw. lokalisiere“68. Welcher Art ist nun die Relation des Sprechers zum als existierend behaupteten Gegenstand? Wie schon gesagt, ist weder eine räumliche Relation noch eine Einheitlichkeit der Gegenstandsart gefordert. Die konkrete Art der Relation variiert mit dem Gegenstandstyp, aber ein Gegenstandstyp impliziert je dieselbe Art der Relation. Raumzeitliche Objekte werden (meist) raumzeitlich lokalisiert, andere, wie z.B. verwandte Personen, in Verwandtschaftsrelationen etc. ‚Mein Onkel existiert‘ heißt, mein Onkel existiert in spezifizierbarer Relation zu mir, die seine Identifikation ermöglicht. Die Relationen zu als existierend behaupteten Objekten sind immer real, d.h. reziprok. Sie setzen nicht nur mich ins Verhältnis zum Objekt, sondern auch dieses ins Verhältnis zu mir. Eine Existenzbehauptung richtet also eine solche reale Relation zwischen Sprecher und Gegenstand auf, die in bestimmter Weise qualifiziert ist, so dass sich der Gegenstand aufgrund seiner Gegenstandsart und der daran geknüpften Relationsart bestimmten, spezifizieren und identifizieren lässt. Der Satz ‚Gott existiert‘ genügt denselben pragmatischen Bestimmungen. Mit „Gott existiert“ behauptet ein Christ nicht eine allgemeine, ‚natürlich‘ einsichtige Tatsache, sondern bezieht sich auf diesen Gott. ‚Gott existiert‘ ist eine Kurzfassung des christlichen Glaubens, also eine Angabe der Art der Relation zu Gott. „Christen behaupten mit ‚Gott existiert‘ einen realen Zusammenhang einer bestimmten Art zwischen sich als Geschöpfen und Gott als ihrem Schöpfer“69, Versöhner und Erlöser. ‚Gott existiert‘ meint einen als Schöpfung, Versöhnung und Erlösung spezifizierbaren realen Zusammenhang zwischen Sprecher und Gott, durch den Gott als christlicher, d.h. als rechtfertigender Gott, und der Sprecher als gerechtfertigter Sünder identifizierbar wird. Der Vorgang der Identifikation kann allgemein als „spezifizierendes Lokalisieren“70 definiert werden, insofern etwas als etwas (Spezifikation) für jemand (Lokalisation) identifiziert wird. Das heißt für unseren Fall: Gott kann nur identifiziert werden, wenn er sich zum Menschen, den ihn zu identifizieren sucht, eindeutig lokalisieren lässt. Dabei ist das Lokalisieren ein reziproker Vorgang, der nicht nur Gott in Bezug zum Menschen, sondern auch den Menschen in Bezug auf Gott lokalisiert. Möglich ist dies nur ————— 68 69 70

Ebd., 41. Ebd., 45. Ebd., 47.

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dann, wenn sich „Gott und Mensch im Horizont eines gemeinsamen Identifikationssystems lokalisieren lassen“71. Dies aber stellt vor ein Problem: Während für den Menschen im Verhältnis zu anderen Dingen und Menschen Raum und Zeit das umfassendste Identifikationssystem darstellt, in dem wir uns im Verhältnis zu anderen und anderem verorten, also eindeutig lokalisieren und damit identifizieren können, trifft dies auf Gott nicht zu. Er ist kein raumzeitlich lokalisierbarer Gegenstand, kein Seiendes unter anderem Seiendem. Als gemeinsames Identifikationssystem schlägt Dalferth die christologisch-eschatologische Lokalisierung des Menschen im Glauben an Jesus Christus vor, welche eine sich selbst (als gerechtfertigtem Sünder) und Gott (als rechtfertigendem Gott) reziprok spezifizierende und in der Relation identifizierende Relationierung darstellt, bei der der Mensch in Geschichte und Wirken Jesu Christi einbezogen wird. Ein gemeinsames, Gott und Mensch übergreifendes Identifikationssystem ist dabei insofern gegeben, als Christus in unionem personalem Gott und Mensch ist. Gott kann in Christus als ein Wesen bestimmt werden, dessen „Wesensart zwar nicht im Horizont der Gegenständlichkeit von Raum und Zeit individuiert und daher nicht als Gegenstand in Raum und Zeit lokalisiert werden kann, dennoch aber vom Menschen als einem raumzeitlichen Wesen unter den Bedingungen von Raum und Zeit im Bezug auf Jesus Christus erfahren wird und unter Bezugnahme auf diese Erfahrung identifiziert werden kann.“72 Die Lokalisierung Gottes wird aber nicht direkt durch Verweis auf den raumzeitlichen Ort des irdischen Jesus von Nazareth vollzogen, sondern durch Bezug im Glauben auf den verkündigten Christus als dem gekreuzigten und erhöhten Herrn. Diese Relation ist für Dalferth aber keine reale, sondern, wie man sagen könnte, eine eschatologische Relation. Dalferth kann die Relation zu Gott in Christus deshalb nicht als reale Relation zum im Geist gegenwärtigen und im Glauben auch im eigenen Leben, d.h. in Raum und Zeit erfahrbaren Christus sehen, weil er reale Relationen bloß als geometrische versteht. Er läuft damit wie v.d. Brom in die Aporie, eine raumlose Relation annehmen zu müssen. Die Bestimmung als eschatologische Relation ist zwar theologisch weitaus sachgemäßer als v.d. Broms Rekurs auf die raumlose Allgegenwart scholastisch-rationaler Theologie, sie vermag aber nicht zur Sprache zu bringen, inwiefern es sich bei solcher Relation um ein gemeinsames Identifikationssystem von Gott und Mensch für den jetzt und hier, also selbst in Raum und Zeit lokalisiert lebenden Menschen handelt. „Die Identifikation Gottes unter der Bedingung von Raum und Zeit, ohne dass dieser als Gegenstand in Raum und Zeit ————— 71 72

Ebd. Dalferth, Existenz Gottes, 187.

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lokalisiert würde“, ist, wie Dalferth richtig sagt, möglich nur deshalb, weil sich Gott als Vater, Sohn und Geist zur Erfahrung bringt, und „nur weil sich Gott nur so zur Erfahrung bringt, kann er unter den Bedingungen von Raum und Zeit überhaupt als Gott von uns erfahren und identifiziert werden.“73 Unter den Bedingungen von Raum und Zeit lässt sich Gott zwar nicht von uns wie ein raumzeitlicher Gegenstand durch raumzeitliche Ortung identifizieren, wohl aber lässt er sich „aufgrund der raumzeitlich lokalisierbaren Erfahrung von ihm und deren eigentümlicher Kommunikationsstruktur als Gott identifizieren.“74 Dann muss aber die Struktur der Erfahrung Gottes so geartet sein, dass sie ein gemeinsames Identifikationssystem von Gott und Mensch darstellt. Von Gott und Mensch deshalb, weil es sich um die Erfahrung Gottes am Ort und im Leben des Menschen, aber auch um die Erfahrung Gottes als Gott handelt. Damit ist ein gemeinsames, übergreifendes Identifikationssystem nicht nur der menschlichen Erfahrung Gottes, sondern des Gott erfahrenden Menschen und Gottes selbst vorausgesetzt, dass Gott sich in der Gotteserfahrung als Gott, d.h. als er selbst, zur Erfahrung bringt. Dies geschieht aber am Ort des Menschen, d.h. lokal in Raum und Zeit. Es ist dann eine reale Relation von Gott und Mensch vorhanden. Um die Eigenart dieser Relation zu erfassen, gilt es daher, über Dalferth hinaus die christologischeschatologische Relation zu ergänzen um die schöpfungstheologische und lebensweltliche, auf das empirisch auffindbare Dasein von Mensch und Natur bezogene Dimension. Es muss ein solcher Relationsbegriff entwickelt werden, der eine gegenseitige, reziproke Relationierung von Mensch und Gott erlaubt, welche Beziehung und Unterscheidung zu denken erlaubt. Mit einem geometrisch euklidischen Raumbegriff ist dies nicht möglich, er unterwürfe Gott den Polaritäten und Ausschließlichkeiten von Ort und Dauer.

1.6 Positiver Bezug Gottes auf den Raum (Moltmann, Evers) Das zweifache Problem, dass weder ein konkret spezifizierter noch der geometrische Raumbegriff der Verschiedenheit von Orten die Gegenwart Gottes in der Welt zureichend ausdrücken können, kann man auch an Entwürfen aufzeigen, die versucht haben, Gott positiv auf den Raum zu beziehen. Wir wollen einige Fragen an die Untersuchungen von J. Moltmann und D. Evers zu richten, um daraus die Notwendigkeit einer umfassenden Neuuntersuchung zu motivieren. Dieser Abschnitt dient mit den beiden voran————— 73 74

Ebd., 188f. Ebd., 189.

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gegangenen als Art Forschungsüberblick zum Stand der Diskussion und zur weiteren Differenzierung der Problem- und Aufgabenstellung für den systematischen Hauptteil. 1. J. Moltmann ist in seiner Schöpfungslehre, in einem Artikel „Gott und Raum“ sowie in seiner Eschatologie von menschlichen Raumerfahrungen ausgegangen, um daraufhin im übertragenen Sinn von Gottesräumen sprechen zu können.75 Seine kleine Phänomenologie der Raumerfahrungen umfasst den ökologischen Raumbegriff, dass jedes Ding seinen Platz und seinen spezifischen Lebensraum hat, dann den umgrenzten, den weiten und den grenzenlosen Raum sowie soziale und moralische Raumbegriffe wie Bewegungsraum, Freiraum etc. In metaphorischer Übertragung wird Gott als unser Lebens-, Wohn- und Freiraum benannt, in dem der schutz- und heimatlose Mensch Zuflucht und Erlösung findet. Begründet wird diese „Raumhaftigkeit“ Gottes damit, dass Gott selbst ein weiträumiger, einräumender und bewohnbarer Gott sei, welcher der kabbalistischen Zimzum-Spekulation gleich seine Allgegenwart zurücknimmt und so der Welt in sich ihren freien Raum einräumt, der der Welt zugleich aber an bestimmtem Ort und in bestimmter Weise einwohnt (als Schechina, als Inkarnation des Logos und als Inhabitation des Geistes). Zugleich ist also Gott der Wohnraum der Welt als auch die Welt der Wohnraum Gottes. Die Welt wohnt in Gott auf weltliche Weise und Gott in der Welt auf göttliche Weise, was der trinitarischen Figur der Perichorese und der christologischen der communicatio idiomatum entspricht. Gott und Welt wohnen wechselseitig einander ein – natürlich unvermischt und ungetrennt – bis im Eschaton der Raum des Abstands der Geschöpfe von Gott aufgehoben wird und es zu einer unvermittelten Einwohnung, einer kosmischen Perichorese und ewigen Gegenwart in der Allgegenwart und Herrlichkeit Gottes kommt.

Diese Theologie der Räume Gottes in der Unterschiedenheit der Zeiten – vom Urraum der eingeschränkten Allgegenwart Gottes in der Schöpfung über den wechselseitigen Raum der geschichtlichen Einwohnung in der Erlösung bis zum unmittelbaren Allraum in der eschatologischen Vollendung – ist gewiss suggestiv und erzielt innovative theologische Sprachfiguren, verwendet „Raum“ aber durchweg metaphorisch und lässt die Unterschiedenheit der Raumbegriffe ungeklärt. Die Vorstellung des Schöpfers als bewohnbarem Gott hat weder mit der innertrinitarischen Perichorese noch mit der ökologischen Einwohnung von einem im anderen tun, weil es sich um kategorial Verschiedenes und um inkompatible Raumbegriffe handelt. Gott als Raum der Schöpfung ist kategorial zu unterscheiden von Gott als Raum seiner selbst und von Gott als „weitem Raum“ der Erlösung, des Gebets, des Eschatons. Dass Gott als ————— 75 J. Moltmann, Gott und Raum, in: Wissenschaft und Weisheit, 131–147, 133 = ders./C. Rivuzumwami (Hg.), Wo ist Gott? Gottesräume – Lebensräume, 29–41; ders., Gott in der Schöpfung. Ökologische Schöpfungslehre, 153–166; ders., Das Kommen Gottes. Christliche Eschatologie, 325–337.

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Schöpfer Raum gibt, ist etwas kategorial anderes, als dass er selbst dieser Raum ist, und wieder etwas anderes, als dass er in der Schöpfung ein Raum für die Geschöpfe ist. Raum-geben und Raum-sein fällt nur zusammen in einer bestimmten Form neuplatonischer Kosmologie, auf die auch die Zimzum-Kontraktion rekurriert, für die es keinen leeren Raum, also keine Differenz von Natur und Schöpfung, sondern nur von göttlichem Licht durchfluteten Raum gibt.76 Dass die Welt nicht in sich, sondern nur in Gott existiert und zugleich Gott als Welt-Raum fungiert oder dass Gott und Welt sich gegenseitig einwohnen, kann mit nur mit mystischen Raumfiguren oder der Metaphysik des absoluten Raumes verstanden werden. All diese Raumbegriffe sind sämtlich vormodern und mit dem Raumbegriff heutiger Philosophie und Kosmologie nicht vermittelt.77 Schöpfung und Natur fallen dadurch unverbunden auseinander, ebenso der spekulativ erhobene theologische Gott-Raum und die Räume der Lebenswelt. Eine nur assoziative Verknüpfung von äquivoken Raumbegriffen erlaubt es nicht, die Gegenwart Gottes in der Welt und das dialektische Verhältnis von Gott und Welt angemessen, d.h. unter entsprechenden Raumbegriffen vermittelt, zu denken. Moltmann gebührt das Verdienst, die vielen verschiedenen Facetten des theologischen Raumproblems erkannt zu haben, aber die Aufgabe, einen theologisch, kosmologisch und phänomenologisch gleichermaßen verantworteten Raumbegriff zu entwickeln, ist noch nicht zureichend gelöst. Nach dem Verlust der mythologischen und der metaphysischen Kosmologie scheint es keine Möglichkeit mehr zu geben, Gott realistisch auf die Welt zu beziehen, so dass man sich einerseits mit Reminiszenzen an überkommene, aber ohne den metaphysischen Hintergrund unspezifizierte und daher metaphorische Figuren begnügt, so Moltmann, oder in formale, überzeitliche, aber auf keinen konkreten Raum bezogene Figuren ausweicht, so Evers. 2. D. Evers interpretiert das Verhältnis von Gott und Welt als Verhältnis der Unterschiedenheit von Schöpfer und Geschöpf, das er ebenfalls mit der Zimzum-Figur darstellt, aber mit Jüngel als Selbstbegrenzung Gottes und nicht als Kontraktion deutet,78 um der Schöpfung Raum neben sich, nicht etwa in sich zu geben. Um dadurch jedoch nicht Gott einen Ort innerhalb oder oberhalb des kosmischen Raumes zuzuweisen und in eine überholte Kosmologie zurückzufallen, bezieht er sich mit I. Dalferth statt auf einen anschauungsräumlichen auf einen abstrakten Raumbegriff der Relation. Damit mittels solchem Verständnis des Raumes als Relationensystem dennoch eine reale Beziehung von Schöpfer und Geschöpf ausgesagt werden kann, versucht er, den physikalischen Raum als übergreifenden Identifikationszusammen-

————— 76 77 78

Vgl. oben I.3.1f/I.4.1–3. Vgl. I.5./I.8./II.8.3. Hierzu vgl. unten II.8.3.

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hang zu bestimmen, der formale Relationen als Teilraum enthält. Diesen Raumbegriff findet er im abstrakten, mathematisch operationalisierten physikalischen Raum.79

Die Unterscheidung des empirischen vom mathematischen Raum und die Verhältnisbestimmung von Gott und Raum mit letzterem statt mit ersterem verhilft sicher dazu, Gott von der Welt zu unterscheiden und ein bleibendes Gegenüber von Schöpfer und Geschöpf zur Geltung zubringen, indem der Raum des Kosmos dimensional von der Beziehung Gottes auf diesen Raum unterschieden wird. Allerdings wird es kaum möglich sein, dieses Verhältnis konkret zu denken und über das Wie der Gegenwart Gottes und des Wirkens in der Welt irgendwelche nichtformalen Aussagen zu machen. Gott als in der Welt schlechthin entzogen zu denken und die Relation als eine rein „eschatologische Relation“ zu behaupten, wie Evers mit Dalferth sagt,80 entspricht nicht dem Primärzeugnis des Glaubens, welcher Gottes Gegenwart hier und jetzt, lokal auf sich bezogen weiß. Wenn der physikalische Raum nicht mehr die Gegenwart Gottes tragen kann, kann es der mathematische erst recht nicht. Er verflüchtigt das Gott-Welt-Verhältnis auf die reine Negation. Für eine positive und auf das gelebte Leben beziehbare Zuordnung von Gott und Raum ist es nötig, vom gelebten Raum und dem vorwissenschaftlichen Raumbegriff, der bei Evers überhaupt nicht in den Blick kommt, auszugehen,81 und in diesen, nicht in den abstrakt-mathematischen Raum, den kosmologischen einzuzeichnen. Dieses Vorgehen ist auch wissenschaftstheoretisch besser begründet als Evers’ Verfahren.82 Dadurch wird es möglich, die Gegenwart Gottes auch real auf den Kosmos zu beziehen, ohne – in Ermangelung differenter kosmologischer Örter – einer spinozistischen Identifizierung zu erliegen. Die abstrakte Relation als übergreifenden Identifikationszusammenhang von Kosmologie und Gott zu begreifen, würde bedeuten, eine neue metaphysica generalis, eine Ontologie der abstrakten Relation, zu installieren, die jedoch, anders als in der platonisch-neuplatonischen bzw. der aristotelisch-scholastischen Tradition, in der metaphysica specialis, der Kosmologie, keine konkrete Darstellung mehr hätte. Für die religiöse Erfahrung wäre dies desaströs, es wäre nicht einmal mehr Gottes Entzogenheit lokalisierbar. Richtig ist, so Evers, dass „der Glaube an Gottes Gegenwart sich durch kein kosmologi————— 79 D. Evers, Raum – Materie – Zeit, 145–149. 80 Ebd., 154. 81 In dieser Hinsicht wegweisend ist E. Joos, Der Raum. Eine theologische Interpretation, die präzise die leibphänomenologischen Raumstrukturen darlegt und in der biblischen Kosmologie und Christologie reidentifiziert. Leider wird der biblisch-mythologische Raum, der dem leibhaft orientierten parallel strukturiert ist, nicht mit dem modernen kosmologischen Raum vermittelt, hierzu unten II.2.3f u. 6.4–7.2. 82 S.u. Kap. II.6.

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sches Argument über den Status existentieller Gewissheit hinausführen“83 lässt, aber die existentielle Gewissheit ist immer kosmologisch oder mindestens lebensweltlich, aber gewiss nicht durch mathematisch-abstrakte Relationsbegriffe vermittelt, so dass der Glaube gerade als gewisser Glaube eine Symbolisierung seines Gehaltes in räumlichen Strukturen hat. „Das religiöse Vorstellen und Empfinden ist konservativer als das profane; für es wohnt Gott noch immer im Empyreum“84, und auch wenn Gott nur noch metaphorisch „oben“ lokalisiert werden kann und reflektiert durch räumliche Symbole wie das „Fundament“, den „Grund“ oder den „Orientierungspunkt“ des Glaubens und Lebens ersetzt werden muss,85 so gilt es doch, die vor dem heutigen wissenschaftlichen und religiösen Bewusstsein verantworteten möglichen Äquivalente aufzuspüren, welche die reale, nichtgegenständliche Gegenwart Gottes, also die räumlich vermittelte, aber nicht im Raum aufgehende Anwesenheit Gottes in der Dialektik von Transzendenz und Immanenz ausdrücken können. Eine einfache, einstellige Relationierung von Gott und Welt ist weder abstrakt noch realräumlich ausreichend. Gottes Gegenwart kann man nur in Differenzen innerhalb von räumlichen Relationen zugleich konkret und sinnlich entzogen denken.86 Vom Ort des Menschen und seinen Räumen, dem gelebten, dem natürlichen und dem auf den lebensweltlichen aufbauenden kosmologischen Raum, her sind Transzendenz und Immanenz Gottes auf die Welt zu relationieren. Vom nächstliegenden und elementaren menschlichen Raum zum weiteren physikalisch-kosmologischen und zum mehrstelligen theologischen Begriff von Raum fortschreitend wird zunächst der gelebte Raum und seine religionsphänomenologischen Dimensionen (II.2.) thematisiert, dann der gestimmte Raum und die Erfahrung Gottes im Raum (II.3.), dann die naturphilosophischen Probleme des Verhältnisses von Gott und Raum (II.4.–6.) und schließlich die schöpfungs- (II.7.) und trinitätstheologische (II.8.) Beziehung von Gott und Raum.

————— 83 84 85 86

Evers, Raum – Materie – Zeit, 157. Guardini, Welt und Person, 56. S.u. Kap. II.2. Vgl. bes. Kap. II.8.

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Kapitel 2: Der gelebte Raum und religiöse Dimensionen

Nach einer Klärung der phänomenologischen Methode (2.1) wird der gelebte Raum schrittweise aufgebaut und jeweils nach religiösen Implikationen und Analogien gefragt. Zuerst wird die elementarste Schicht des gelebten Raumes als Worin und Hintergrund des Daseins analysiert (2.2), danach die affektiven Qualitäten und Stimmungen des Raums (2.3), gefolgt von der Orientierung durch den Leib (2.4) mit der fundamentalen Dimension der Tiefe (2.5).

2.1 Phänomenologische Methode und Begriff „gelebter Raum“ 1. Methodenklärung: Um einen angemessenen theologischen Raumbegriff zu entwickeln, welcher eine positive Verhältnisbestimmung von Gott und Raum zu denken erlaubt, ist zunächst die geeignete Methode zu klären. Weder die transzendentalphilosophisch-erkenntnistheoretische Methode Kants noch die apriorische Konstruktion mathematisch-geometrischer Raumbegriffe erwiesen sich, wie die Aporien des vorstehenden Abschnitts zeigten, als geeignet. Statt von hochkonzeptualisierten, aus abstrahierender Theoriebildung gewonnenen Raumbegriffen sollte man von den Raumvorstellungen des elementaren menschlichen Raumerlebens und den vorwissenschaftlichen Raumerfahrungen ausgehen, weil es dieser Raum und nicht der mathematische ist, in dem Gott als anwesend geglaubt und erfahren wird. Um diese vorwissenschaftlichen Raumerfahrungen und den darin implizierten Raumbegriff zu beschreiben, bedarf es einer phänomenologischen Methode, welche den raumerlebenden Menschen nicht als cartesisches, raumkonstruierendes Subjekt außerhalb des Raumes, sondern im erlebten Raum verortet. Nur dann ist gewährleistet, dass das Raumerleben – sowohl das alltäglich-allgemeinmenschliche als auch das religiöse bis zu Gotteserfahrungen im Raum – tatsächlich als Raumerleben in den Blick kommt und nicht nur als reines Raum-Denken. Letzteres spielt sich, wenn man seinen Ort überhaupt bestimmen kann, im Innenraum des Bewusstseins ab, während das Raumerleben noch vor der Spaltung der Welt in ein cartesisches (raumloses) Subjekt und gegenständliche (raumhafte) Objekte liegt. Eine angemessene Beschreibung von Raumerfahrungen erfordert ein gemeinsames Identifikationssystem von Mensch und Raum.

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Weniger geeignet, den unauflösbaren Zusammenhang von raumerlebendem Menschen und erlebtem Raum zu erfassen, scheint daher E. Husserls transzendentale Phänomenologie des Bewusstseins, deren Rückgang „auf die ‚Sachen selbst‘“1 den Rückgang auf ihr reines, intentionales Gegebensein im Bewusstsein meint. Phänomenologie wird von Husserl seit den „Ideen zu einer reinen Phänomenologie“ 1913 als „reine oder transzendentale Phänomenologie nicht als Tatsachenwissenschaft, sondern als Wesenswissenschaft (als ‚eidetische‘ Wissenschaft) begründet“2. Der Raum kommt auf diese Weise3 als eidetische oder „ideierende Abstraktion“4 der Raumanschauung in den Blick, d.h. durch phänomenologische Reduktion (Epoché) der Wahrnehmungsdinge im Raum von diesen selbst, bei der von den wahrgenommenen Dingen und dem sinnlichen Gehalt der Wahrnehmung abstrahiert wird und der reine Raum übrig bleibt als die reine, unter der Vielfalt der Perspektiven und Anschauungen immer identisch bleibende, Wesensform der Dinge. „Nehme ich irgendein anschaulich gegebenes Ding, z.B. einen Löwen, so kann ich alles daran variieren, sinnliche Qualitäten, auch Raumgestalt. Aber nur sehe ich ein, dass gegenüber der Zufälligkeit dieser Variationen eine Notwendigkeit herrscht. Nämlich solange ich in diesen Variationen überhaupt noch Identisches behalte, das da mit den Beschaffenheiten mitvariiert wird, behalte ich Raumgestalt, mit sinnlichen Qualitäten behaftet. Also darin schon habe ich eine notwendige Form, ein formales Wesen, eine oberste Gattung, unter der all das Variierte steht. Sie gehört notwendig zum Ding überhaupt.“5 „Raum“ ist diese, die ideale Objektivität gewordene „nicht zu vervielfältigende und nicht zu verändernde Form aller möglichen Dinge“6. Man abstrahiert, von der natürlichen perspektivischen Einstellung mitsamt der Differenz von momentanem Hier des wahrnehmenden Subjekts und dem Dort der möglichen Dinge ausgehend, von allen konkreten Hier und Dort und erhält den Raum als ideales Ortssystem aller möglichen Hier und dazu relativer Dort übrig. Gegenüber Descartes und Kant ist hier die leibhafte Konstitution des Raumes durch das Hier des Subjekts erstmals berücksichtigt,7 aber der Raum weiterhin als ideale Form, als Wesensform der Dinge betrachtet.

Geeigneter für unser Vorhaben, die eigentümliche Verwebung von Raumerleben und erlebtem Raum phänomenologisch zu erfassen, erscheint einerseits die hermeneutische Phänomenologie Heideggers und andererseits die Phänomenologie des gelebten Raumes von Dürckheim, Bollnow, Gölz und ————— 1 E. Husserl, Logische Untersuchungen II/1, Gesammelte Werke (Husserliana = Hua) XIX/1 = Gesammelte Schriften 3, 10. 2 E. Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie I, Hua III/1 = Gesammelte Schriften 5, 6. 3 Zu Husserls Raumauffassung, sorgfältig differenziert und erhoben nach seiner vorphänomenologischen und der transzendental-phänomenologischen Phase, leider ohne theologische Auswertung, vgl. E. Joos, Raum, 43–59. 4 Husserl, Logische Untersuchungen II/1, Hua XIX/1 = Gesammelte Schriften 3, 10. 5 E. Husserl, Ding und Raum, Hua XVI, 357. 6 Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie II, Hua IV, 83. 7 Vgl. U. Claesges, Edmund Husserls Theorie der Raumkonstitution.

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Ströker, die auch von der sog. Neuen (Leib-)Phänomenologie von MerleauPonty, Schmitz und Waldenfels aufgenommen wurde. 2. Heideggers phänomenologische Methode – Phänomenologie bedeutet mit der Maxime „zu den Sachen selbst“ wie bei Husserl „primär einen Methodenbegriff“8 – zielt gegen Husserl nicht auf das im Bewusstsein sich Zeigende, sondern auf das sich am existentiellen Dasein selbst Auslegende. Das Ich wird nicht von der Welt isoliert, sondern von vornherein als Dasein, d.h. als Kopräsenz von Ich und Welt, als Ich-in-der-Welt begriffen. Phänomenologie ist für Heidegger Auslegung des Daseins und zwar präzise Selbstauslegung, also das Vernehmen der Möglichkeiten des Daseins, wie sie sich an ihm selbst zeigen. Phänomen ist genau das „Sich-an-ihm-selbstzeigende“9, d.h. das sich am (menschlichen) Dasein selbst Zeigende, selbst Auslegende. Phänomenologie ist Hermeneutik, sich selbst auslegendes Verstehen. Sie lässt das, was sich zeigt, so wie es sich von sich selbst her zeigt, von ihm, dem phänomenalen Dasein, selbst her verstehen. Das Ich ist damit unhintergehbar als zeitliches, als geschichtlich existierendes Dasein, aber auch als räumliches Dasein bestimmt. Hinter „Sein und Zeit“ verbirgt sich, angeblich von „nur wenigen Heidegger-Interpreten“ bemerkt, sozusagen „subthematisch eingeklemmt“ auch „eine keimhaft revolutionäre Abhandlung über Sein und Raum“10. Der existentiale Begriff des Ich ist der des geschichtlich, zeitlich und räumlich, weltlich existierenden Ich, des Ich-inder-Welt. Heideggers Ich-Begriff überwindet den cartesisch-egologischen, da die menschliche Existenz immer in ein Um-herum eingewoben ist, ein Um-Raum zum Ich gehört, der nicht abgeschüttelt werden kann. Heideggers Begriff der Existenz ist gegen den Ich-Begriff des Idealismus und des (Neu)-Kantianismus gerichtet. Heidegger weiß sich mit der Lebensphilosophie und Phänomenologie von Bergson über Dilthey bis Husserl und Scheler darin einig, dass die cartesische Vorstellung vom Ich als einer verdinglichten Seelensubstanz überwunden werden muss: „Die Person ist kein Ding, keine Substanz, kein Gegenstand.“11 Aber auch Kant und den Kritizisten sei die Überwindung des Ich-Dings nicht gelungen, weil sie zwar das Ich mittels der kritizistischen Reduktionsmethode allem Gegenständlich-Konkreten entkleiden wollten, aber nicht mehr sagen konnten, was „positiv denn nun unter dem nichtverdinglichten Sein des Subjekts, der Seele, des

————— 8 „Der Ausdruck ‚Phänomenologie‘ bedeutet primär einen Methodenbegriff. Er charakterisiert nicht das sachhaltige Was der Gegenstände der philosophischen Forschung, sondern das Wie dieser. […] Der Titel ‚Phänomenologie‘ drückt eine Maxime aus, die also formuliert werden kann: ‚zu den Sachen selbst!‘ – entgegen allen freischwebenden Konstruktionen“ (Heidegger, Sein und Zeit, 27f). 9 Sein und Zeit, 28. 10 P. Sloterdijk, Sphären, Bd. I: Blasen, 336.345. 11 Sein und Zeit, 47.

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Bewusstseins, des Geistes, der Person zu verstehen sei.“12 Denn das Ich als rein transzendentallogisches Subjekt ist ein derart von der Welt „isoliertes Subjekt“13, dass auch dieser isolierte Ich-Begriff der „Ontologie des ‚Substantialen‘“14 verhaftet bleibt. Was mit dem Wort „Ich“ gemeint ist, kann nicht durch Abstraktion des Ich von seiner Umgebung – sei es substanzhaft-konkret wie bei Descartes oder transzendentallogisch wie im Kantianismus – bestimmt werden, sondern nur durch Aufweis einer ursprünglichen Einheit. „Das Ich-sagen meint das Seiende, das je ich bin als: ‚Ich-bin-ineiner-Welt‘. […] Im Ich-sagen spricht sich das Dasein als In-der-Welt-sein aus.“15

Das Ich-in-der-Welt bezeichnet als Grundverfassung des Daseins die Gleichursprünglichkeit von Selbst und Welt und damit von Ich und Raum. Das Dasein ist räumlich und Räumlich-sein ist „eine Seinsverfassung des Daseins und ist ein Existenzial.“16 Das Dasein spielt sich immer im Raum ab, der der Existenz untrennbar zugehört. Der Raum, der mit dem In-derWelt-sein als Um-herum des Daseins gemeint ist, ist der gelebte Raum, den Heidegger, wie wir noch darlegen werden, von der Räumlichkeit des Daseins selbst her, verstanden als existentiale Räumlichkeit erschloss, wenn er auch den Begriff nicht verwandte. Der Begriff fiel fünf Jahre nach „Sein und Zeit“ und schließt weitergehend als Heideggers Existentialanalyse auch die leiblichen Vollzüge im Raum ein. 3. Der Ausdruck „gelebter Raum“ wurde zeitgleich 1932/33 von Graf Karlfried von Dürckheim in seinen „Untersuchungen zum gelebten Raum“ und von Eugène Minkowski im Schlusskapitel seiner psychopathologischen Studie über „Die gelebte Zeit“ analog zu dieser eingeführt: „Es gibt aber einen gelebten Raum, wie es eine gelebte Zeit gibt.“17 Dieser Raum ist vom mathematisch-geometrischen fundamental unterschieden, es handelt sich um einen „amathematischen und ageometrischen Raum“. Denn der Raum, in dem wir leben und handeln, in dem sich unser Leben abspielt, „beschränkt sich für uns nicht auf geometrische Verhältnisse, Verhältnisse, die wir aufstellen, wie wenn wir uns, selbst auf die einfache Rolle von wissbegierigen Beobachtern oder von Gelehrten beschränkt, außerhalb des Raumes befinden würden. Wir leben und handeln im Raum, und im Raum spielt sich sowohl unser persönliches Leben als auch das kollektive Leben der Menschheit ab. Das Leben breitet sich im Raum aus, ohne deshalb eigentliche geometrische Ausdehnung zu haben.“18 Der gelebte Raum hat ————— 12 13 14 15 16 17 18

Ebd., 46. Ebd., 321. Ebd., 320. Ebd., 321. Ebd., 54. E. Minkowski, Die gelebte Zeit II, 233. Ebd.

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eine Vielzahl von räumlichen Eigenschaften wie Distanzen, Ausdehnungen, Richtungen, die den geometrischen entsprechen, aber anders geartet sind, da sie „rein qualitativen Charakter“19 haben. Daneben trägt er weitere qualitative Eigenschaften wie Tönungen, Stimmungen, Anmutungen und Vitalqualitäten, die von Dürckheim eindrücklich analysiert hat. Hier wird besonders deutlich, wie der gelebte Raum mit dem Selbst verwoben ist als der „Raum dieses lebendigen Selbstes. Der gelebte Raum ist für das Selbst Medium seiner leibhaftigen Verwirklichung.“20 Die Verwebung von Selbst und Raum hat die neue Phänomenologie von H. Schmitz seit 1967 in subtilen Analysen aufgezeigt, indem er einerseits dem Raum und seiner Erfahrung eine Leiblichkeit attestierte und andererseits dem Leib eine innere Räumlichkeit einschrieb, die sich in der Räumlichkeit von Gefühlen und Stimmungen zeigt. Ebenso haben bereits 1945 M. Merleau-Ponty und in neuerer Zeit B. Waldenfels, kritisch an Schmitz anschließend, die Beziehung des Leibes zum Raum zum Gegenstand der Analyse gemacht, während O.F. Bollnow, E. Ströker und W. Gölz ebenfalls in den 60er Jahren die Strukturen des gelebten Raumes einerseits und seine Gestimmtheiten andererseits genauer herausgearbeitet haben, die jüngst von der Naturund Raum-Ästhetik der Brüder Böhme, von M. Seel, M. Hauskeller u.a. um den räumlichen Charakter von Wahrnehmung überhaupt, insbesondere auch der Natur und von Landschaften ergänzt wurde.

4. Aufgabe und Methode: Unsere Analyse gilt im Folgenden nicht dem gelebten Raum als solchem, sondern sofern sich dabei Analogien und Entsprechungen zum religiös gelebten, erlebten und erschlossenen Raum auftun. Solche Analogien werden sich, das ist unsere heuristische Vermutung, in ungezwungener Weise ergeben. Die religiösen Aspekte werden dem gelebten Raum nicht künstlich oder konstruktivistisch zugefügt werden müssen, sondern sich aus seinen Strukturen selbst ergeben. Denn es ist zu erwarten, dass der gelebte Raum als Existential und als immer schon vorausgehendes Worin des Daseins religiös nicht neutral ist. Besonders die Affektivität, der Charakter, die Gestimmtheit und Orientiertheit des gelebten Raumes werden analog zu religiösen Affekten, Gestimmtheiten und Orientierungen sein. Damit ist nicht a priori behauptet, dass der gelebte Raum per se irgendwie religiös konnotiert wäre. Gelebter Raum ist nicht an sich schon religiös, wie die Existentialität des Daseins nicht an sich schon ein religiöses Apriori darstellt.21 Aber wenn der gelebte Raum, wie Dürckheim sagt, das Medium der leibhaften Verwirklichung des Selbst ist, dann sind alle sinnhaften Vollzüge und Lebensakte in diesem Raum situiert und ————— 19 Ebd., 236. 20 K. Graf v. Dürckheim, Untersuchungen zum gelebten Raum, 16. 21 Zwar hat bei Heidegger das Sich-selbst-auslegen des phänomenalen Daseins Offenbarungscharakter, allerdings ohne jede religiöse Konnotation. Die Offenbarung ist bei ihm „völlig verweltlicht“ (F. Heinemann, Neue Wege der Philosophie, 375).

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eingeschrieben, also auch die religiösen. Der gelebte Raum ist „kein wertneutraler Bereich“ und darum auch kein religiös neutraler. „Jeder Ort“ – wir können hinzufügen: und jede Struktur – „im erlebten [=gelebten] Raum hat seine Bedeutung für den Menschen“22, auch seine religiöse Bedeutung. Als Methode, solche Sinnbezüge des erlebten Raumes aufs Religiöse sowie Strukturprallelen zwischen dem gelebten und dem religiös erlebten Raum aufzufinden, eignet sich besonders die sog. Neue Phänomenologie, die in den Untersuchungen zum gelebten Raum von Dürckheim, Bollnow, Gölz u.a. faktisch schon verwendet, aber erst von H. Schmitz auch methodisch genauer reflektiert wurde. Die Neue Phänomenologie, wie sie H. Schmitz seit 1967 mit seinem zehnbändigen Werk „System der Philosophie“ begründet und entwickelt hat, ist weniger eine Methode zur begrifflichen Kategorisierung als vielmehr zum Aufspüren von Phänomenen, vornehmlich von solchen Phänomenen, die jedermann in seiner vorbegrifflichen und unwillkürlichen Lebenserfahrung vertraut sind, die aber mit den objektivierenden Methoden neuzeitlicher Wissenschaft nicht adäquat erfasst werden können. Neue Phänomenologie heißt, „sich an die unwillkürliche Lebenserfahrung aufdeckend und begreifend heranzutasten, das Unverfügbare in […] den gemeinsamen Überzeugungen vieler oder gar aller herauszuschälen.“23 Ein Phänomen ist bei diesem Zugang nicht ein lokalisiertes, isoliertes, fixiertes und definiertes Etwas, auch nicht ein per Epochè aus dem wahrnehmenden Bewusstseinsstrom herausgeschältes Datum, sondern ein „Sachverhalt für jemand zu einer Zeit, dem der Betreffende dann, wie sehr er ihn auch durch Variation von Annahmen auf die Probe stellt, die Anerkennung als Tatsache nicht im Ernst verweigern kann.“24 Das entscheidende Moment für ein Phänomen ist also nicht das Datum an sich, sei es im äußeren Raum als Gegenstand oder im inneren des Bewusstseins gegeben, sondern seine Anerkennung als Realität. Alle theoretischen Abstraktionen sind sekundäre Operationen gegenüber den unwillkürlichen, vorbegrifflichen Realitätserfahrungen.

Für den Raum gilt bei diesem Zugang, dass der Raum in der vorbegrifflichen, unwillkürlichen Lebenserfahrungen nicht als homogener Ortsraum, nicht als System relativer, durch Lage und Abstandsbeziehung in einem gleichwertigen Verhältnis zueinander stehenden Orten in drei Dimensionen in Erscheinung tritt. Der dreidimensionale Raum aus Linien, Flächen und Volumina, in dem Körper als einer Art (unsichtbarem und unerfahrbarem) Behälter eingeschrieben sind, ist bereits der von der Lebens- und damit der Leiberfahrung entfremdete Raum. Mit der Konstruktion des nach allen drei Dimensionen identischen Raumes beginnt „die Entfremdung des Raumes vom Leib. […] Daher ist es eine der wichtigsten Aufgaben der Neuen Phänomenologie, den Vorrang der mathematisch fundierten Raumauffassung ————— 22 23 24

O.F. Bollnow, Mensch und Raum, 18. H. Schmitz, Neue Phänomenologie, 23. Ebd.; vgl. H. Schmitz, Was ist Neue Phänomenologie?, 1.

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zu brechen und die von diesem Vorrang aus der Besinnung verdrängten, aber im Erleben jedermann vertrauten tieferen Schichten der Raumerfahrung dem Begreifen wieder zugänglich zu machen.“25 Raum ist, bevor er mathematisch konzeptualisiert und von aller konkreter Erfahrung abstrahiert zum Ortsraum wird, leiblicher Raum und darin zunächst unartikulierter „Weiteraum, in dem sich ein absoluter Leibesort in einer maßlosen, d.h. nicht metrisch überformten Weite befindet“26, dann an die Leibvollzüge gebundener und von ihnen strukturierter Richtungsraum, und erst dann nach und nach orientierter Raum und durch geometrische Überformung des leiblichen Raumes Ortsraum.27 Die Methode, solcherart relevante Phänomene aufzuspüren und wahrzunehmen, ist das eigenleibliche Spüren. Dafür ist vorauszusetzen, dass nicht es nicht nur das kognitiv-rationale Bewusstsein, sondern auch eine Art Leibbewusstsein gibt, bei dem man Sachverhalten und Realitäten unwillkürlich und nicht-intentional inne ist. Leibbewusstsein, so G. Böhme in seiner erkenntnistheoretischen Weiterführung der Neuen Phänomenologie zu einer leiblichen Wahrnehmungslehre, „Leibbewusstsein ist nicht-intentionales Bewusstsein, und das heißt, es enthält nicht die Differenz von Subjekt und Objekt. Dem Übenden [d.h. dem im Sich-selbst-Spüren Geübten, U.B.] ist das aus Erfahrung evident.“28 Über das Leibbewusstsein und das eigenleibliche Spüren kommt mehr und anderes in den Blick als nur die beiden Arten von Daten, die die klassische Wahrnehmungslehre etwa von Locke kannte, nämlich die objektiven Quantitäten einerseits und die subjektiven Qualitäten andererseits. Dabei werden die wichtigsten Gehalte unwillkürlicher Lebenserfahrung ignoriert, nämlich die weder rein außen noch rein innen liegenden, sondern mit dem das innere Bewusstsein und den äußeren Raum übergreifenden Leib gespürten Phänomene. Hierzu gehört im Besonderen der gelebte Raum, dessen leibphänomenologischer Analyse, vom elementaren zum höher strukturierten Gefüge fortschreitend, wir uns nun zuwenden.

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Ebd., 11f. Ebd., 12. Ebd., 54–59. G. Böhme, Leibliches Bewusstsein, 46.

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2.2 Der gelebte Raum als Worin des Daseins, sein widerfahrendes Erleben und Gott als Worin und Fundament des Seins 1. Die Räumlichkeit menschlichen Daseins Es gehört zu den elementaren und unhintergehbaren Tatsachen des menschlichen Lebens, dass keiner dem Raum (und der Zeit) entkommen kann. Alles Leben spielt sich in dem zur Verfügung stehenden Raum ab. Mit Raum ist hier nicht allein der äußere Raum gemeint, in dem sich alle körperlichen Dinge dieser Welt lokalisiert befinden, aber auch nicht nur der Raum als Form der sinnlichen Anschauung, in dem alles mit den Sinnen erfasste wahrgenommen wird. Weder ist der Mensch bloß – newtonsch – im Raum, noch der Raum bloß – kantisch – im Subjekt. Das menschliche Dasein im Raum kann weder mit der anschauungsräumlichen noch mit der transzendentalphilosophischen In-Relation zureichend erfasst werden. Der Raum ist noch in anderem Sinn das Worin des menschlichen Daseins als dem In-Sein von Körpern in einem Behälter. Das In-Sein des menschlichen Daseins ist, mit Heidegger gesagt, nicht bloßes Vorhandensein im Raum analog dem „Vorhandensein ‚in‘ einem Vorhandenen“, so wie das Wasser im Glas, das Glas im Schrank, der Schrank im Zimmer ist usw., wie eben ein Seiendes in einem anderen ist. In gewissem Sinn ist zwar auch der Mensch als Vorhandenes im Raum, wenn er sich in einem bestimmten Raum, sei es in einem Gebäude oder in einer Landschaft befindet. Dieses Seinsverhältnis des Seienden im Raum ist immer gegeben, da sich das konkrete In-Verhältnis erweitern lässt bis zu „im Weltraum“29, so dass der Mensch wie alle innerhalb der Welt vorkommenden Dinge im (Welt-)Raum vorhanden ist. Eigentlich aber meint In-Sein, wie Heidegger sagt, in Bezug auf das menschliche Dasein eine „Seinsverfassung des Daseins und ist ein Existenzial. Dann kann damit aber nicht gedacht werden an das Vorhandensein eines Körperdinges (Menschenleib) ‚in‘ einem vorhandenen Seienden. […] In-Sein ist demnach der formale existenziale Ausdruck des Seins des Daseins, das die wesenhafte Verfassung des In-der-Welt-seins hat“30. Räumlichkeit ist eine Wesensbestimmung des menschlichen Daseins. „Das ontologisch wohlverstandene ‚Subjekt‘, das Dasein, ist räumlich.“31 Wenn das Dasein wesenhaft räumlich ist, dann korrespondiert ihm ein Raum als das Worin dieses Daseins. Der Raum, der mit dem Wesen menschlichen Dasein als einem räumlichen Sein angesprochen ist als sein Worin, ist der gelebte Raum. Man kann dieses Um-herum auch allgemein als „Welt“ ————— 29 30 31

Heidegger, Sein und Zeit, 54. Ebd. Ebd., 111.

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bezeichnen, wenn man beachtet, dass Welt hier nicht das fremde, weite, unbekannte, ferne Andere, sondern gerade das Vertraute, Bekannte, zum Selbst gehörende meint. Das In-der-Welt-sein meint die Grundverfassung des Daseins als Selbstsein, als Vertrautsein, als bei sich oder ganz da-sein, wie sich aus der ursprünglichen Wortbedeutung ergibt: In-Sein heißt bei etwas sein, wohnen bei, vertraut sein mit.32 Der gelebte Raum, der das Dasein zu einem räumlichen macht und der umgekehrt vom menschlichen Sein aus sich entfaltet, ist nach Heidegger „weder im Subjekt [gegen Kant], noch ist die Welt im Raum [gegen Newton]. Der Raum ist vielmehr ‚in‘ der Welt, sofern das für das Dasein konstitutive In-der-Welt-sein Raum erschlossen hat.“33 Der gelebte Raum ist das Worin des In-der-Welt-seins, der sich, wenn sich das Dasein als In-derWelt-sein erschließt, als ein solcher, als gelebter Raum, erschließt. Der gelebte Raum korrespondiert dem Existential des Daseins als In-der-Weltseins und ist daher ebenso ein Existential. Er kann nicht abgeschüttelt werden, sondern ist mit dem Wesen des Menschen gegeben. „Weil das Dasein in der beschriebenen Weise räumlich ist, zeigt sich der Raum als Apriori“34. Apriorität bedeutet hier die Vorgängigkeit gegenüber allem räumlichen Verhalten. Der gelebte Raum, der vom Menschen als einem räumlichen und daher Raum bildenden und Raum aufspannenden Wesen getragen wird, ist auch die transzendentale Bedingung seines Räumlich-Seins. Der gelebte Raum gehört zur transzendentalen Verfassung des Menschen. „Raum“ ist, über Kant hinaus, nicht nur apriorische Form der Anschauung, sondern ist die „allgemeine Form menschlichen Lebensverhaltens“35. Mit der ontologischen Aussage, dass das Dasein des Menschen wesenhaft räumlich ist, ist auch die Existenz einer allgemeinen apriorischen Form menschlichen Lebens behauptet, in der sich alle Lebensvollzüge befinden und abspielen. Andererseits ist der gelebte Raum nicht unabhängig und abgesehen vom Menschen und seinen räumlichen Vollzügen einfach da. Den gelebten Raum ‚gibt‘ es nur mitsamt dem Erleben und dem Handeln im Raum. Er existiert nur als erschlossener, als gelebter. Der gelebte Raum bildet sich von den räumlichen Vollzügen her und ist zugleich deren Bedingung. Die Apriorität einerseits und die Konstitution und Erschließung durch das leibliche Dasein andererseits sind die beiden wesentlichen Momente des gelebten Raumes, die wir im folgenden, aufgegliedert in zahlreiche Teil————— 32 33 34 35

Ebd., 54. Ebd., Ergänzungen U.B. Ebd., 111. Bollnow, Mensch und Raum, 23.

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momente, analysieren und auf ihre religionsphänomenologischen Aspekte befragen wollen. Wir analysieren zuerst die sich am leibhaften Dasein erschließenden und danach die sich vom leibhaften Dasein aus erschließenden Sinn-Strukturen des gelebten Raumes. Im Verhältnis von Leib und Raum kommt der Leib zunächst passiv, dann erst aktiv in Bezug auf den Raum in den Blick. Mit dieser Gliederung ist die These verbunden, dass das Sich vorfinden des Leibseins im Raum ontologisch ‚früher‘ und vorgängig ist gegenüber dem aktiven Erschließen des Raumes durch den Leib. 2. Widerfahrnis und präreflexive Präsenz des gelebten Raums Der gelebte Raum „ist durch Lebensbeziehungen fördernder wie hemmender Art auf den Menschen bezogen. Er ist tragend wie hemmend das Feld menschlichen Lebensverhaltens.“36 Der Raum als Medium der Leib- und Lebensverwirklichung ist mit Dürckheim „Gegenform oder Verbreiterung, Bedroher oder Bewahrer, Durchgang oder Bleibe, Fremde oder Heimat, Material, Erfüllungsort und Entfaltungsmöglichkeit, Widerstand und Grenze, Organ und Gegenspieler dieses Selbstes in seiner überdauernden und seiner augenblicklichen Seinsund Lebenswirklichkeit.“37 Der gelebte Raum ist „dem Menschen in einer doppelten Weise gegeben, als fördernd und hemmend, ja tiefer: als etwas, was als Glied zum Menschen gehört, und wiederum als etwas, was ihm von außen her als feindlich oder zum mindesten als fremd gegenübertritt.“38 Als „Entfaltungsmöglichkeit“ und als „Widerstand“, als „Widerfahrnis“ und als „Entfaltungsraum“ tritt der gelebte Raum zum Menschen als sein anderes, als das ihm (als eigenes und zugleich fremdes) Zugehörige und als das ihm (fremde und zugleich eigene) Zukommende. Der Raum gehört dem Menschen apriorisch und vorgängig zu, bevor und damit er sich darin entfalten kann. Er kommt ihm vorgängig und immer schon, aber auch immer neu zu. Die Kategorie des Widerfahrnis bringt besonders gut den Charakter des Zukommens in der Apriorität und Vorgängigkeit des gelebten Raumes zum Ausdruck. Der gelebte Raum widerfährt uns als das Worin unseres Daseins. Gegenüber dem gelebten Raum ist das Ich wesentlich passiv. Der gelebte Raum wird gelebt. Die sprachlich eigentlich unmögliche Wendung ist besonders geeignet, den Widerfahrnischarakter zur Sprache zu bringen. ————— 36 37 38

Ebd., 18. Dürckheim, Untersuchungen zum gelebten Raum, 16. Bollnow, Mensch und Raum, 20.

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„Leben“ ist im deutschen zwar ein intransitives Verb. Man kann gut oder schlecht, aber nicht etwas, etwa den Raum oder die Zeit leben. Der Ausdruck des „erlebten Raumes“, den Bollnow aus sprachlichen Gründen vorzieht,39 hat demgegenüber den Nachteil, dass er allzu subjektivistisch klingt. Er suggeriert einen bloß erlebten, vorgestellten oder gar eingebildeten Raum. Um die Realität des Raumes, in dem sich das räumliche Dasein vollzieht, einerseits und seinen Widerfahrnischarakter andererseits sprachlich unmissverständlich auszudrücken, bleiben wir beim Ausdruck gelebter Raum, der sich im Übrigen schon fest als terminus technicus etabliert hat. In welcher Weise erschließt sich der gelebte Raum? Räume werden, je nachdem sie im inneren oder im äußeren Erleben oder im reinen Denken erfasst werden, als innere, äußere oder abstrakte Räume erfasst. Sie können unserem Bewusstsein präsent sein in direkter Gegenständlichkeit aufgrund von intentionaler Ausrichtung des Wahrnehmungsapparates, in abstrahierender Reflexion des reinen Denkens, begleitet von innerer Vorstellung, oder aber in ungegenständlichem, nichtreflexivem Innesein. Letzteres ist aber nur bei den äußeren und inneren, aber kaum bei den abstrakten Räumen möglich.40 Unsere Analyse gilt hier dem äußeren Raum und seinen Erfahrungsweisen. Der äußere Raum, in dem der Mensch lebt, kann in direkter Gegenständlichkeit oder in unreflektiertem Innesein erlebt werden. Er kann dem Erleben und Bewusstsein in intentionaler Ausrichtung oder unthematisch gegenwärtig sein. Der gelebte Raum meint weniger den direkt gegenständlich wahrgenommenen oder erlebten äußeren Raum, sondern den solcher Wahrnehmung als ihr Hintergrund vorausliegenden, aber gleichwohl äußeren Raum, der immer indirekt, unthematisch mitgegeben ist. Wir tragen den gelebten Raum sozusagen immer mit uns. Wir können uns nicht von ihm lösen. Er läuft immer mit. Daher ist der Modus seiner Erfahrungsweise, mit Dilthey und Dürckheim gesagt ein „Innesein“41, genauer ein „unreflektiertes Innesein“42. „In der Erfahrung des reinen Da ist uns der Raum nicht gegenüber, sondern wir sind seiner ‚inne‘“.43 Ich kann einen konkreten äußeren Raum, z.B. das Zimmer, in dem ich sitze, einerseits „als dies bestimmte Raumganze ausdrücklich gegenwärtig ————— 39 Ebd., 18f. 40 Man müsste sich durch langjährigen Umgang eine solche Vertrautheit mit Theorien des Raumes erworben haben, dass ein intuitives Erleben von Raumbegriffen als raumartiges Um-sichherum möglich wäre. 41 W. Dilthey, Gesammelte Schriften VII, 27. 42 Dürckheim, Untersuchungen zum gelebten Raum, 25. 43 W. Gölz, Dasein und Raum, 201.

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haben“44 in einem Akt intentionaler, bewusster Wahrnehmung. Ich kann zweitens auch in meinem Zimmer sitzen und arbeiten, ohne dass mir das Im-Zimmer-sein gegenständlich bewusst wäre. Dennoch „färbt und steuert das ‚In-diesem-Zimmer-sein‘ mein Gesamterleben, das in seiner Totalität anders wäre, wenn ich in einem anderen Raum, z.B. im Freien säße und arbeitete.“ Und umgekehrt kann auch dann, wenn ich „den Raum gegenständlich gegenwärtig habe, […] er zugleich ungegenständlich im Innesein da sein“45. Der unthematisch gegenwärtige Raum läuft immer mit als ungegenständlicher Hintergrund aller Objektwahrnehmung. Er ist in allem bewussten und unbewussten Wahrnehmen und Erleben immer ‚mitgegeben‘ und ‚mit da‘. Andererseits ist er nicht an sich immer da, sondern als ein Dasein für mich, als ein mir Mitgegebensein. Der unthematisch mitgegebene Raum ist „tiefer in uns selbst verankert als die aus ihm sich abhebenden gegenständlich bewussten Dinge. Wir kommen immer schon von dem Raum, in dem wir sind, her, wenn wir auf einzelne Dinge ‚im‘ Raum achten. In diesem unthematischen haben des Raumes sind wir geradezu mit dem Raum eins.“46 Dieser gelebte Raum ist „in seiner jeweils leibhaftigen und bedeutungsvollen Ganzheit ‚gegenwärtig‘ in Gesamteinstellung, Haltung, Gerichtetheit und Zumutesein, man hat ihn im ‚Innesein‘, hat ihn in den Gliedern und im Gefühl, in Leib und Herz.“47 Der gelebte Raum, der einem unmittelbar gegenwärtig ist und in dem man sich unwillkürlich einbezogen weiß und umgeben spürt, eignet sich besonders dazu, eine elementare Form der Gegenwart Gottes zu symbolisieren. In strukturell analoger Weise ist dem gläubigen und bewusst religiös lebenden Menschen sein Glaube und dasjenige, auf den er sich richtet, Gott, in seiner Gesamteinstellung, Haltung, Gerichtetheit und Zumutesein gegenwärtig. Die allgemeine Gegenwart Gottes kann als ein unthematisch gegenwärtiger Raum beschrieben werden, der in allem Erleben, Wahrnehmen und Tun immer mitgegeben ist, sozusagen immer mitläuft. Dieser Raum der Gegenwart Gottes durchdringt einen selbst, ist aber doch ein äußerer, umgebender Raum. Er ist der Hintergrund des ganzen christlich-gelebten Daseins. Doch ist diese Gegenwart Gottes nicht an sich, sondern immer nur für jemand mitgegeben. Diese Art der Gegenwärtigkeit erfordert einen Latenzzustand der Aufmerksamkeit meinerseits, ein dieser umräumlichen Gegenwart Gottes inneseiende Einstellung. Sie färbt als Hintergrund mein übriges Gesamterleben, wobei der Aufmerksamkeitsgrad darauf erhöht und abgesenkt werden kann. Wir stoßen hier auf eine Räumlichkeit der Gegenwart Gottes, ————— 44 45 46 47

Dürckheim, Untersuchungen zum gelebten Raum, 24. Ebd., 25. Gölz, Dasein und Raum, 202. Dürckheim, Untersuchungen zum gelebten Raum, 26.

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die je nachdem auch als negative Hintergrundierung der Abwesenheit mitgegeben sein kann und je nach äußerem Raum, in dem ich mich tatsächlich befinde und je nach inneren Stimmungen und Einstellungen ganz verschiedene Grade und Arten der Färbung haben, also in einer großen Bandbreite von Weisen mir unthematisch inne sein kann. Es handelt sich jeweils um eine bestimmte Art von In-Relation, die man als grundlegendes Worin-Sein beschreiben kann. Diese Funktion hat auch der gelebte Raum, was nun näherhin zu charakterisieren ist. 3. Der gelebte Raum als das Worin menschlichen Daseins „Raum“ ist im umfassenden Sinn das, worin sich etwas befindet oder erscheint. Der Raum als das Worin kann von dem, was in ihm sich befindet, auftaucht oder auch verschwindet nur per Abstraktion gelöst werden. Der Raum befindet sich nicht hinter, neben oder über den Phänomenen, auch nicht einfach um sie herum, weil das Phänomen ja keine Lücke im Raum einnimmt, sondern selbst räumliche Gestalt hat, Teil des Raumes ist. Der Raum kann phänomenologisch nur als ungegenständlich beschrieben werden, als Horizont oder Hintergrund, vor dem, aber auch in dem etwas auftaucht. Der flächige Horizontbegriff als ebener Rand des Gesichtsfeldes ist dabei nicht ausreichend, man bräuchte einen volumenartigen Horizontbegriff. Der Raum ist dann das im Volumen der Horizonte eingeschlossene. Der Raum ist der das Erscheinende als Erscheinendes ermöglichende Worin des Erscheinens von etwas. Der gelebte Raum übernimmt für das menschliche Dasein genau die Funktion, die der horizontierte Raum für das Erscheinen der Dinge und Ereignisse hat. Der gelebte Raum ist das das menschliche Dasein als leibhaftiges Dasein ermöglichende Worin. Dies Worin ist ein ungegenständliches Worin: Der gelebte Raum umlagert und umwebt das Dasein, dass es als ein solches existieren kann. Der gelebte Raum ist das Worin gelebten Daseins. Er ist der das leibhafte Leben ermöglichende Raum und als sein Worin zugleich der Grund, auf dem jenes sich aufbaut und entfaltet. Der gelebte Raum ist aber nicht der kausale Verursacher des Daseins oder gar der vorfindlichen Existenz des Menschen, sondern mit dieser gleichursprünglich. Er ist mit dem Dasein mitgesetzt. Da er nicht mit mir selbst identisch ist, sondern mit mir geht als Um-herum meines Daseins, können wir religiös analog dazu Gott als das Worin menschlichen, allgemein: geschöpflichen Daseins ansprechen und meinen, dass damit das, was Schleiermacher mit dem Woher der schlechthinnigen Abhängigkeit ausdrücken wollte, besser ausgedrückt ist als mit der kausal konnotierten, aber ausdrücklich unräumlich verstandenen Relation „woher“.

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Schleiermacher hat bekanntlich die schlechthinnige Abhängigkeit des menschlichen Daseins so abgeleitet, dass er, ausgehend von der symmetrischen Polarität von relativer Abhängigkeit und relativer Freiheit in allen einzelnen menschlichen Handlungsvollzügen, diese in Bezug auf die Totalität des Lebens in eine asymmetrische schlechthinnige Abhängigkeit umschlagen ließ. Gott konnte dann als das Woher dieser schlechthinnigen Abhängigkeit identifiziert werden.48 Dabei hat Schleiermacher aber zwei unterschiedliche Kausalitätsbegriffe unterstellt: einen linear-gegenständlichen Kausalbegriff in Bezug auf die symmetrische Polarität relativer Abhängigkeit und Freiheit, bei der das menschliche Subjekt als handelndes Agens in Wechselwirkung mit gegenständlich abgetrennten Objekten steht, und einen totalen Kausalbegriff des schlechthinnigen Abhängigseins von einem Woher, der nicht als eine äußere, lineare raum-zeitliche Wechselwirkung gedacht ist, sondern als eine Totalität der Abhängigkeit, die mit dem Dasein als solchem ungegenständlich mitgegeben und ungetrennt davon mitgesetzt ist.49 Diese Art des Woher ist eher ein Worin, das weder mit mir identisch, noch gegenständlich von mir geschieden ist, sondern untrennbar mit meinem Dasein als einem geschöpflichen Dasein mitgesetzt ist als sein Grund. Gott als das Worin geschöpflichen Daseins anzusprechen ist auch phänomenologisch klarer bestimmt als die mystisch-unbestimmte Rede von Gott als dem Raum, in dem wir „leben, weben und sind“ (Act 17,28). Denn der Raum als das Worin gelebten Dasein, der dieses zu einem geschöpflichen macht, ist nicht mit mir identisch, aber auch nicht von mir ablösbar, sondern mit meinem Dasein als einem geschöpflichen mitgesetzt. In Bezug auf die Geschöpflichkeit des Daseins handelt es sich wie bei der Korrespondenz von gelebtem Raum und leibhaftem Dasein um ein asymmetrisches zugleich Gegebensein: Das Um-herum hat den Status des vorgängigen und widerfahrenden Immer-schon. Wie der gelebte Raum als das Worin meines Daseins mich immer schon umgibt und mir je neu widerfährt als der grundierende Hintergrund aller Bewegung, so macht Gott als das Worin meines geschöpflichen Daseins dieses, mir zukommend, immer schon und immer neu zu einem solchen. 4. Die elementare Orientiertheit des gelebten Raumes Der gelebte Raum trägt eine elementare Orientiertheit, die ursprünglich und vorgängig ist gegenüber der bewussten und aktiven Richtungsorientierung im Raum mittels der Sinne und durch das Handeln. Diese „elementare Ori————— 48 49

Vgl. Schleiermacher, Der christliche Glaube, §4, Bd. 1, 23–30. Vgl. oben II.1.3.

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entiertheit [ist] kein Bewusstsein von einer in sich stehenden und in sich geordneten Mannigfaltigkeit“, zu der man sich bewusst verhält oder in bestimmter Weise auf sie ausrichtet, sondern resultiert aus einem vorreflexiven Raumbewusstsein. Die elementare Orientiertheit ist, so Dürckheim, „eine Ordnungsqualität des Erlebnistotals, in der sich eine strukturelle Richtungsordnung des vorwärtslebenden Selbstes offenbart.“50 Sie meint eine Einordnung und Ausrichtung des Leib-Ganzen, eine Grundorientierung noch vor der sinnlich-bewussten umherblickenden Orientierung im Raum. Die Oben-unten-Orientierung ist dabei fundamental gegenüber den vornhinten- und rechts-links-Orientierungen. Die Grundorientierung ist eine Qualität, keine Quantität, sie bemisst sich nicht in Abständen zu Objekten, sondern ist „eine Ordnungsqualität des Erlebnisganzen“51. Dürckheim erläutert sie an dramatischen Erlebnissen wie dem Fall-Schwindel oder dem Erschrecken des Aufwachens. Wenn man eine Stufe übersieht und plötzlich ins Leere tritt, hat man für einen Augenblick den Anflug von Tiefenschwindel. Mit dem Verlust des Bodens geht die elementare Orientierung verloren, aber nicht allein die Orientierung im Raum, sondern die Orientierung des Daseins selbst. „Man verliert einen Augenblick sich selbst.“52 Beim Aufwachen geschieht das Umgekehrte. Es fehlt, wie im Taumel, jede Orientierung, bis schlagartig man selbst „in eine Ordnung einschnappt“53 und man sich in eine elementare Herumordnung fügt. Natürlich lassen sich diese Phänomene physiologisch und psychologisch aus dem Gleichgewichtssinn und dem Wirken der Schwerkraft erklären, aber damit wird das Phänomen nicht erfasst. „Die elementare Geordnetheit des Herum gehört zum Selbst“, der Schwindel löscht einen Augenblick mit dem Herum das Selbst. „Aus ihm erwachend findet man sich nicht nur ‚räumlich‘, sondern überhaupt wieder zurecht.“54 Die räumliche Elementarorientierung meint Orientierung des Selbst überhaupt, sie betrifft das Leib- und Lebensganze. Daher hat sie unmittelbare religiöse Implikationen. Bestimmt man den Glauben als daseinsbestimmendes Vertrauen oder als lebensvergewissernde Grundorientierung, so ist damit eine elementare räumliche Orientierung verbunden. Daseinsgewissheit und Lebensvertrauen erfordern für jeden Lebensmoment und für das Lebensganze eine fundamentale ElementarOrientierung: ein Fundament, auf dem ich stehe, einen festen Grund, der mich trägt, eine grundlegende Ausrichtung etc. Die räumlichen Bezüge sind ————— 50 51 52 53 54

Dürckheim, Untersuchungen zum gelebten Raum, 30f. Ebd., 31. Ebd., 30. Ebd., 32. Ebd.

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hier nicht bloße Metaphern, sondern meinen ganz unmittelbar mein Verhältnis zum gelebten Raum. Der Boden, der beim Aufwachen einschnappt und der beim Stolpern schwindet, ist grundlegender als der konkrete Fußboden. Er ist das Dasein tragender Boden, die Daseinsgewissheit tragendes Fundament. Dieser Grund ist durch den jeweiligen Boden, auf dem ich gerade eben stehe, vermittelt, aber nicht hervorgerufen, sondern durch das Widerfahrnis elementarer Grund- und Orientierungsgewissheit. Daseinsgewissheit resultiert aus einem tragenden Darunterliegenden, einem uÖpokeißmenon , wie der griechische Ausdruck für das subiectum, den Grund oder das Fundament lautet, welches in der klassischen Metaphysik als Ausdruck für das fundamentum inconcussum, den letzten Grund des Seins, für Gott diente.55 Der Unterschied zwischen einer Ursache und einem Grund56 besteht phänomenologisch betrachtet darin, dass ein Grund ein Letztes darstellt, während eine Ursache immer noch weitere zurückliegende Ursachen hinter sich hat. Gegenständlich betrachtet ist ein Letztgrund unmöglich. Jedes Fundament ruht auf einem Unter-Grund auf. Der mathematische Raum kennt keinen Boden, wohl aber der gelebte Raum. Hier ist der Boden nicht hintergehbar, er ist der tragende Grund des ganzen Daseins, da er immer schon da ist und nur als Totalität vorhanden oder (im Anflug) als Ganzer verloren ist. Der Letztgrund ist raumzeitlich-gegenständlich nicht zu fassen, wohl aber als ungegenständliche Totalität, die ihre intuitive Veranschaulichung in der Fundamentierung und Elementarorientierung des gelebten Raumes hat. Diese eignet sich als erlebnismäßig-anschauliche Symbolisierung Gottes als Grund geschöpflichen Daseins, insofern die christliche Schöpfungslehre mit der Formel der creatio ex nihilo genau dies zum Ausdruck bringt, dass die Geschöpfe bei aller kausal-gegenseitigen Verursachung un-bedingt in einem Grund gründen, der selbst voraussetzungslos ist. Dieser Grund ist für das religiöse Bewusstsein zwar nicht innerweltlich vorhanden als gegenständliches Fundament, er wird aber ungegenständlich wahrgenommen als das tragende Fundament des Daseins. Der Schöpfer ist christlich-theologisch, von der Erfahrung des Glaubens her ausgedrückt, nicht weltliche Ursache (neben anderen), sondern der Grund (im Ganzen und Letzten), dies aber nicht unbestimmt, sondern konkret bestimmt: der Grund und das Fundament konkreter christlicher Daseins- und Lebensgewissheit. Dieses aber wird jeweils durch den gelebten Raum und seine Elementarorientierung vermittelt. Der Grund ist der Boden, den der Mensch in concreto ————— 55 Vgl. M. Heidegger, Identität und Differenz, 51: „Die Metaphysik muss auf den Gott hinaus denken, weil die Sache des Denkens das Sein ist, dieses aber in vielfachen Weisen als Grund: als Loßgow, als uÖpokeißmenon, als Substanz, als Subjekt west.“ 56 Vgl. hierzu auch V. Gerhardt, Gott und Grund, bes. 90–96.

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benötigt, um sich in seiner Welt sicher und gewiss bewegen und orientieren zu können.57

2.3 Der getönte Raum und seine mythisch-polaren Qualitäten 1. Der affektiv gestimmte Raum Jeder Raum löst eine affektive Stimmung aus, die noch vor der bewussten Wahrnehmung seiner Größe, Formen und Farben liegt. Räume haben von sich her eine Färbung, eine Tönung, eine Stimmung, die sich unmittelbar überträgt. Ein Raum hat, die sinnlich wahrnehmbaren Raumqualitäten und – quantitäten grundierend, eine eigene Vitalität, eine je eigene Art von Lebendigkeit, gewissermaßen eine „Seele“, die sich unmittelbar mitteilt. Th. Lipps hat in seiner Ästhetik von einer „Raumseele“ gesprochen, die in der spezifischen „Stimmung“ des Raumes gegenwärtig ist. Sie wird nicht durch die Quantitäten der einzelnen Objekte und Formen des Raumes erzeugt, sondern durch „das unendlich vielgestaltige, unsagbare Hin- und Herweben der Kräfte durch den Raum“. „Die Stimmung, die im Raum lebt“, ist zwar „meine Stimmung“, aber sie „haftet eben an dem, was ich sehe“. Sie ist von dem, was sich im Raum befindet, bestimmt, jedoch weniger durch die einzelnen, nackten Formen, als „durch die Weise, wie die Gegenstände im Raum zusammen sind, und sozusagen innerlich Zwiesprache halten; Zwiesprache unter sich oder mit Luft und Licht, in jedem Falle im Raume oder durch ihn hindurch.“58 Ein Raum spricht mich an bei meinem Eintreten, manchmal drängt er sich machtvoll auf, manchmal redet er leise und verhalten, in jedem Fall teilt er sich lebendig mit. Er trägt einen „Vitalton“59, der mich tönt und stimmt, ist nicht statische, sondern lebendige Wirklichkeit. Man wird nicht soweit gehen dürfen, dem Raum eine seelische Wirklichkeit an sich zuzuschreiben, wie es etwa bei G.T. Fechner geschieht, wenn er in „Die Tagesansicht gegenüber der Nachtansicht“ eine visionär-ekstatische Naturerfahrung objektiviert zu einer „Tatsache“: zur Lebendigkeit und Farbigkeit der Blumen, Schmetterlinge usw. an sich.60 Das, was poetisch als Beseeltheit und Lebendigkeit des Raumes beschrieben werden kann, ist phänomenologisch ein Korrespondenzphänomen. Der Raum hat lebendige, quasi-seelische Wirklichkeit, wenn er auf ein für solches Empfinden sensibles Subjekt trifft. Die „Raumseele“ besteht nicht an sich, man darf die Ge————— 57 58 59 60

Vgl. Gerhardt, Gott und Grund, 94: Der Grund als unser Boden in der Welt. T. Lipps, Die ästhetische Betrachtung und die bildende Kunst, Ästhetik, Bd. II, 188–190. Dürckheim, Untersuchungen zum gelebten Raum, 39. G.T. Fechner, Die Tagesansicht gegenüber der Nachtansicht, 27f.

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stimmtheit nicht hypostasieren zu einer Raum-Psyche, aber wegen der sich übertragenden Wirkung kann man doch sagen, dass ein Raum eine latente Lebendigkeit hat, die jederzeit im Begriff ist sich mitzuteilen und die nicht allein durch den in den Raum eintretenden und ebenfalls mit einer „affektiven Tonalität“ umgebenen Psyche des Menschen61 hervorgerufen wird. Die Stimmung eines Raumes teilt sich unvermittelt mit und überträgt sich auf die eigene Gestimmtheit. „Der gelebte Raum hat augenblickliche oder überaugenblickliche seelische Wirklichkeit im lebendigen Subjekt. Er ist ebenso ‚in ihm‘, wie es ‚in ihm‘ ist.“62 Die Stimmung des Raumes hängt primär nicht von der augenblicklichen Eigenstimmung des Erlebenden ab, sie ist keine Projektion der psychischen Befindlichkeit des Menschen in oder auf den Raum. Die Stimmung eines Raumes kann sich verdichtet in mein Inneres einfalten und innere Enge oder Weite auslösen, sie kann aber auch in affektiver Tönung mein Gesamterleben unbewusst färben und halbäußerlich bleiben. In jedem Fall ist das Gewahrwerdung der Stimmung eines Raumes weder bewusste Sinneswahrnehmung noch Verstandeserkenntnis, sondern ein Ergriffen- und Betroffensein unmittelbarer Art. Der Raum übt eine Wirkung aus, die nicht in einer kausalen Relation zum Leib steht, da das Selbst nicht in einer äußeren Relation zum gestimmten Raum steht.63 Der Raum ist weder präsentierendes Subjekt gegenüber dem empfangenden Objekt, noch das Selbst wahrnehmend-erlebendes Subjekt des Objektes Raum. Der Raum teilt sich mit, drängt sich auf, spricht an, so dass er das Selbst in sich hineinzieht, es teil des Raumes werden lässt. Es kommt zu einer symbiotischen Ganzheit. Der Raum ist erst mit Einbeziehung des Selbst der Raum, der er ist, nämlich gestimmter Raum, und das Selbst findet sich erst aufgrund des Einbezogenseins in den gestimmten Raum als räumliches Dasein und als leibhaftes Selbst vor. Aufgrund der Gestimmtheit wird der Raum Raum für mich und ich beseelter Leib im Raum. Die Gestimmtheit des Raumes ist nicht sekundär oder akzidentiell oder bloß subjektiv. Sie kommt nicht zum reinen Raum hinzu als Färbung und Tönung des an sich farblosen und tonlosen Raumes, die im Wahrnehmungsakt darübergelegt wird wie in der Lockeschen Wahrnehmungstheorie, wo die sekundären Qualitäten als subjektive Empfindungen auf die objektiven primären Qualitäten darauf gelegt werden. Die Gestimmtheit ist eine primä————— 61 Minkowski, Die gelebte Zeit II, 243, beschreibt psychopathologische Fälle, die aufgrund „psychischer Verarmung“ einen derart „geschrumpften gelebten Raum“ haben, der so sehr zu „einem einzigen Knäuel“ zusammengedrängt ist, dass die sie umgebende „affektive Tonalität“ ebenfalls als massierte, verdichtete Enge und „Mangel an Weite des Lebens“ in Erscheinung tritt. 62 Dürckheim, Untersuchungen zum gelebten Raum, 17. 63 Vgl. E. Ströker, Philosophische Untersuchungen zum Raum, 23.

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re Eigenschaft des gelebten Raumes. Sie teilt sich mit als das Anwesen des Raumes, als seine unauffällige Gegenwart für uns, im Sprechakt eines „schweigenden Sprechens“64. Der Raum trägt eine Anmutung, die sowohl für den jeweiligen Raum als auch für mein Dasein in diesem Raum charakteristisch ist. Der gestimmte Raum ereignet sich in vielfältiger Weise: als machtvoll dröhnender oder sanft schweigender Raum, als leerer oder voller, weiter oder enger Raum, hell oder dunkel, freundlich oder abweisend, einladend oder ausgrenzend, bergend oder feindlich, schützend oder bedrohend, widerständig oder einfühlend. Im Extrem- und Krankheitsfall, etwa bei Manisch-depressiven oder Schizophrenen kann der Raum eine „pathologische Gestimmtheit“ entsprechend dem „pathologischen Weltgefühl“ auslösen. Die Gestimmtheit kann sich bis zu „einer Art dämonischer Beseelung ‚des Raums‘“65 aufladen. Der Raumcharakter, wie er sich jeweils zeigt, löst ein bestimmtes Zumutesein aus, das natürlich auch durch die eigene Stimmung und Gefühlslage mitbestimmt ist. „Je nachdem, wie es mir zumute ist, ob es mir weit oder eng ums Herz ist, ob mir das Herz vor Freude aufgeht oder vor Kummer sich zuschnürt, ob es voll ist zum Überlaufen oder aufgebrannt und leer, ändert sich auch der Ausdruck der Welt.“66 Aber eben auch umgekehrt: Je nach dem Ausdruck des Um-mich-herum des Raumes ist mir zumute. Bestimmte Räume haben einen relativ deutlichen, vom subjektiven Empfinden und Gestimmtheit relativ unabhängigen, allerdings nicht eineindeutigen „Ausdrucksgehalt“67. Eine leere Straße an einem heißen Sonntagnachmittag, eine saftige, blühende Wiese im Frühling, eine Fabrikhalle, ein aufgeräumtes oder unaufgeräumtes Zimmer, eine Kirche: alle haben einen bestimmten, relativ konstanten Charakter. Dieser wird auch durch den Raumwechsel bestimmt, je nachdem ob man von einer belebten oder einer leeren Straße in eine Kirche tritt, ob am Abend oder am Morgen etc. In jedem Fall hat der Raum eine sich mitteilende, mich ansprechende Gestalt, die nicht beliebig variiert, sondern nur in gewissen Grenzen. Ein bestimmter Raum begegnet immer als er selbst, er hat (mit Ricoeur gesagt) quasi ein ipse-Identität, jedenfalls keine idem-Identität und auch nicht gar keine.68 Der Raum hat quasi-personalen Charakter, er hat, wie wir oben sagten, eine sich mitteilende „Seele“, die, wie wir jetzt sehen, leibhaft ausgebreitete Gestalt und Formbestimmtheit hat, worin ihr ————— 64 65 66 67 68 II.3.5.7.

Gölz, Dasein und Raum, 203. L. Binswanger, Das Raumproblem in der Psychopathologie, 211. Ebd., 199f. Ebd., 199. Zu dieser Unterscheidung vgl. P. Ricoeur, Das Selbst als ein Anderer, 151, sowie u.

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Ausdrucksgehalt beruht. Der gestimmte Raum tritt in Erscheinung als „Ausdrucksganzheit“69. Die ipse-Identität, der Charakter und die Formbestimmtheit eines Raumes führen dazu, dass der gestimmte Raum als ein Ganzer betrachtet werden kann und als solcher begegnet. Der gestimmte Raum, so Dürckheim, bildet eine „Sinneinheit“70. Der Raum drückt sich als ein Ganzes aus, als eine Sphäre. Er wird zur quasi-personalen, „leibhaften Herumwirklichkeit“ meiner selbst, und zwar so, dass ich in den den ganzen Raum erfüllenden Sinn einbezogen bin. Es kommt zu einer Kommunikationseinheit, bei der ich ebenso in den Raum einbezogen bin wie dieser in mich. Der Raum hat zusammengefasst eine „besondere Bestimmtheit […] als ein Ganzes, das Verkörperung einer bestimmten Sinneinheit ist. Als solcher, z.B. als ‚Zimmer‘, ‚Wald‘, ‚Kirche‘ gehört er zugleich zu einer bestimmten Seinssphäre des erlebenden Subjekts. Der Raum ist nun aber zugleich leibhaftige Herumwirklichkeit. Als solcher hat er als umgebender Binnenraum eine ganz bestimmte Gestalt, Gliederung und Ordnung einer sinnlich vollziehbaren körperlichen Mannigfaltigkeit. Zugleich ist er erfüllt von bestimmten ‚Vitalqualitäten‘“.71 Auch und gerade der gestimmte Raum hat religionsphänomenologische Qualitäten. Damit ist nicht einmal primär der numinose Charakter von Räumen gemeint, den R. Otto als ein mysterium tremendum beschreibt: als „Feierlichkeit und Gestimmtheit“, die um „religiöse Denkmäler, Bauten, Tempel und Kirchen wittert und schwebt“72 und die das Gemüt in „schwebende, ruhende Stimmung versunkener Andacht“ versetzt oder das zum Grauen und Erschaudern vor einer übermächtig-dämonischen, im Raum verspürten majestas führt. Der gestimmte Raum symbolisiert das dauerhafte und kommunizierende Anwesen eines anderen meiner selbst, das mich fundamental betrifft, indem es mein Dasein tönt und stimmt und in Kommunikation mit mir tritt. Der gestimmte Raum bringt das Angeredet-sein durch das Um-mich-herum zum Ausdruck und verweist auf das leibhafte Ummichsein der An- (oder Ab)wesenheit Gottes, die mich in bestimmter und stimmender Weise ergreift, als Fülle oder Leere, als schweigendes Sprechen oder beredtes Schweigen. Der gestimmte Raum wechselwirkt mit mir. Es kommt zu einer „eigentümlichen Kommunikation des Erlebnisichs mit einem je anderen ausdrucksbeseelten Raum“73. Der gestimmte Raum kommuniziert als ungegenständlich ————— 69 70 71 72 73

Ströker, Philosophische Untersuchungen zum Raum, 27. Dürckheim, Untersuchungen zum gelebten Raum, 33. Ebd., 22f. R. Otto, Das Heilige, 13. Ströker, Philosophische Untersuchungen zum Raum, 23.

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Anwesender mit mir, wie der unsichtbare Gott mir nahe ist und sich als Nähe (oder Ferne) zuspricht. Dabei begegnet Gott nicht als abgegrenztes Gegenüber, sondern als ausgebreitete „Atmosphäre“, in die ich hineinbezogen bin. Die Verschiedenheit der Räume und ihrer Stimmungen vermag dabei die Verschiedenheit der räumlichen Gotteserfahrungen abzubilden. Der vertrauensvolle Beter erfährt in den Psalmen Gott als umgebenden, schützenden, nahen Raum, der verzweifelte den abwesenden Gott als leeren Raum usw. Die Beschreibung von Gotteserfahrungen als „göttliche Atmosphären“ geht auf H. Schmitz zurück. Eine Würdigung von dessen Phänomenologie einschließlich der präzisen, Schmitz kritisch weiterführenden, Analysen G. Böhmes zu den Atmosphären im Allgemeinen soll aufgrund der Vielzahl der zu berücksichtigenden Details in einem eigenen Kapitel (II.3.) erfolgen. An dieser Stelle sollen nur die elementaren Strukturen und Ausprägungen des gestimmten Raumes zur Sprache kommen. 2. „Lichter“ Tag-Raum und „schwarzer“ Nacht-Raum Die beiden einander opponierenden extremsten Ausprägungen des gestimmten Raumes sind der Licht-Raum und der Nacht-Raum. Die Tönung eines gestimmten Raumes liegt irgendwo auf der Farbskala zwischen hell und schwarz. Der helle und der schwarze Raum bilden die beiden Extreme gestimmter Räume. Jeder Zwischenton ist aus hell und dunkel gemischt. Die reine Helle und die reine Schwärze sind keine Mischungen mehr, sondern reine Qualitäten, die sowohl das Woher als auch das Wohin jeweiliger konkreter Färbungen markieren. Die bestimmte Tönung eines gestimmten Raumes lässt sich als Farbmischung aus hell und dunkel begreifen und jeder Raum hat ein Streben hin zu einem der Extreme. Je nachdem, ob ein Raum mehr aus dunklen oder mehr aus hellen Tönen gemischt ist, und je nachdem, ob ein Raum mehr ins helle oder mehr ins dunkle tendiert, hat der Raum einen eher lichten oder eher dunklen Charakter. Die Tönung ist dabei nicht allein durch den Grad an Tageslicht verursacht und die Tendenz und das Streben ins Dunkle oder ins Helle hängt nicht allein davon ab, ob gerade die Sonne auf- oder untergeht, ob ein Licht brennt oder keins, sondern welche Stimmung die Beleuchtung verbreitet: ob sie das Gemüt aufhellt oder trübt. Es scheint, als ob die Stimmung eines Raumes von den zwei Absoluta herkommt, die selbst nie rein erscheinen, aber den Charakter bestimmen, also quasi von hinten durchscheinen und dem Raum eine Stimmungstendenz mitteilen, seine jeweilige Färbung aufhellen oder trüben. Die beiden Absoluta, der helle, lichte Tag-Raum und der dunkle, schwarze Nacht-Raum sind darum die mythischen Ur-Räume, von denen

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alle Raumtöne herkommen und zu denen sie hinstreben. „Die Entfaltung des mythischen Raumgefühls geht überall von dem Gegensatz von Tag und Nacht, von Licht und Dunkel aus.“74 Licht und Dunkel stellen, mit Goethe gesagt, „Urphänomene“75 dar, die man in unserem Zusammenhang auch die gestimmten Urräume nennen kann, da Licht und Dunkel eine räumlich ausgedehnte und raumfüllende Gestimmtheit verbreiten. Die damit unterstellte Farbenlehre des gestimmten Raumes geht auf Goethe zurück, der in seiner Farbenlehre allerdings nicht nur die „sinnlich-sittliche Wirkung“ und die „ästhetische Wirkung“ der Farben untersuchte, sondern auch eine Physiologie und Physik der Farben alternativ zu Newtons Optik bieten wollte. Physikalisch und physiologisch ist Goethes Farbenlehre längst überholt, aber ästhetisch und (religions)phänomenologisch gewiss nicht.76 Denn „Farbenlehre ist ein weites Feld und durchaus keine bloß-physikalische Angelegenheit“, bemerkte H. Glockner hierzu schon 1924. Licht sei zwar „ein Weltphänomen“77, aber eben auch ein ästhetisches und ein mythisches, da sich durch seine „Ganzheit […] mit dem ästhetischen Momente häufig ein religiöses – mit Rudolf Otto zu reden: ein numinoses – Moment verbindet.“78 Wie Newton hat Goethe mit Prismen und Brechungen experimentiert, aber anders als jenen interessierten ihn nicht die künstlich isolierten Spektralfarben, sondern die Farberscheinungen. Farben entstehen nach Goethe an Grenzen des Hellen gegen das Dunkle.79 Sie entstehen gegen Newton nicht aus dem Licht allein, sind nicht Teile oder Ausschnitte aus dem gesamten, in summa weißen Farbspektrum, sondern aus dem Zusammentreffen, der Vereinigung und Mischung von Hell und Dunkel. Licht und Finsternis, verstanden als Nichtlicht, sind die beiden Urphänomene entgegengesetzter Polarität. Wie alle lebendigen Phänomene entstehen Farben aus der spezifischen Mischung gegensätzlicher Polaritäten. Aus dynamischen Polaritäten, so lautet „die ewige Formel des Lebens“80, kommt jeweils „eine elementare Einheit zur Er-

————— 74 Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, Bd. II, 119. 75 J.W.v. Goethe, Zur Farbenlehre, Werke Bd. 13, 384. 76 Vgl. W. Heisenberg, Die Goethesche und die Newtonsche Farbenlehre im Lichte der modernen Physik; F. Höpfner, Wissenschaft wider die Zeit. Goethes Farbenlehre aus rezeptionsgeschichtlicher Sicht; P. Hofmann, Goethes Theologie, 188–283. 77 H. Glockner, Das philosophische Problem in Goethes Farbenlehre, 5. 78 Ebd., 15. 79 Goethe, Zur Farbenlehre, 376. 80 Ebd., 337; alle „treue[n] Beobachter der Natur“, so Goethe, sollten darin übereinkommen, „dass alles, was erscheinen, was uns als ein Phänomen begegnen solle, müsse entweder eine ursprüngliche Entzweiung, die einer Vereinigung fähig ist, oder eine ursprüngliche Einheit, die zur Entzweiung gelangen könne, andeuten oder sich auf eine solche Weise darstellen. Das Geeinte zu entzweien, das Entzweite zu einigen, ist das Leben der Natur; dies ist die ewige Systole und Diastole, die ewige Synkrisis und Diakrisis, das Ein- und Ausatmen der Welt, in der wir leben, weben und sind“ (488). Das Prinzip der „Polarität“ verbindet nach Goethe die metaphysische, die physikalisch-mechanische, -mathematische und die moralisch-religiöse Naturbetrachtung, deren Formeln je für sich hohl, roh, tot oder realitätsfern wären (492f).

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scheinung“81. Die universale Ordnung der Natur, alles Lebendige aus dem „hin und her“ von „Gewicht und Gegengewicht“, von „Wirken und Widerstreben“, „Tun und Leiden“ hervorzubringen, auf die Farberscheinungen anzuwenden, war die „Hauptabsicht“ von Goethes Farbenlehre.82 Zur „Erzeugung der Farbe“ sei „Licht und Finsternis, Helles und Dunkles, oder, wenn man sich einer allgemeineren Formel bedienen will, Licht und Nichtlicht gefordert.“83 Am Licht entstehe zunächst die eine der beiden Grundfarben, Gelb, an der Finsternis die andere Grundfarbe, Blau, daraus dann durch Mischung die weiteren Farben des Farbkreises. Gelb steht für „Plus. Wirkung. Licht. Hell. Kraft. Wärme. Nähe. Abstoßen. Verwandtschaft mit Säuren.“, Blau steht für „Minus. Beraubung. Schatten. Dunkel. Schwäche. Kälte. Ferne. Anziehen. Verwandtschaft mit Alkalien.“84 Die „sinnlich-sittliche Wirkung“ von Gelb als der „nächsten Farbe am Licht“, sei, dass sie im „lichten Raum […] in ihrer höchsten Reinheit immer die Natur des Hellen mit sich“ führe und daher „eine heitere, muntere, sanft reizende Eigenschaft“ besitze.85 Blau dagegen führe „immer etwas Dunkles mit sich“, stehe „auf der negativen Seite“, sei in Reinform „gleichsam ein reizendes Nichts“, gebe „ein Gefühl von Kälte“ usw. Diese Wirkung ist nicht allein als Projektion einer subjektiven Gemütsverfassung zu erklären, sondern als echtes Phänomen zu verstehen, als Objekt und Subjekt umgreifende Ganzheit. Durch die hellen bzw. die dunklen Farben, so wollen wir Goethes Farbenlehre für unsere „Farbtheorie“ des gestimmten Raumes aufnehmen, scheinen gewissermaßen von hinten immer die reinen Urfarben, die Urphänomene durch: das reine Licht und das blanke Nichtlicht oder, metaphysisch gesagt, das reine Sein und das reine Nichts. Reines Licht und Nichtlicht sind wirkliche Urphänomene, haben mythische (und für Goethe auch physische) Ur-qualitäten, was bedeutet, so Goethes gestufter Phänomenbegriff, dass sie als Urphänomen zwar allen Phänomenen ursächlich (jedenfalls was die Wirkung aufs Gemüt betrifft) zugrunde liegen, jedoch sich „niemals isoliert, sondern […] in einer stetigen Folge der Erscheinungen“ zeigen, also als empirisches, gemischtes Phänomen und nur durch physikalische Experimente „zum wissenschaftlichen Phänomen“ und durch Epoché und Abstraktion zum „reinen Phänomen“ erhoben werden können. Das reine Phänomen ist also nur als extrahiertes „Resultat aller Erfahrungen und Versuche da“86 und niemals als Phänomen. Dass es hinter den Phänomenen durchscheint, zeigt sich aber daran, dass man sich den Urphänomenen annähern kann durch bestimmte Experimente. Eckermann schildert ein solches experimentum crucis Goethes, nämlich die Betrachtung von Schatten einmal gegen das Licht und einmal gegen das Dunkle, wobei die Schatten von Gläsern „gegen das Licht gelb und gegen das Dunkle blau erscheinen, und also die Betrachtungen eines Urphänomens gewähren“. Ebenso nimmt die Bläue einer Spiritus- oder Kerzenflamme

————— 81 82 83 84 85 86

Ebd., 431. Ebd., 316. Ebd., 326. Ebd., 478. Ebd., 495. Goethe, Erfahrung und Wissenschaft, Werke Bd. 13, 25.

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gegen die Dunkelheit zu, was auch die Bläue des Himmels erkläre, bei der „die Finsternis durch ein erleuchtetes Trübe gesehen“ werde.87 Physikalisch und auch physiologisch ist diese Erklärung natürlich falsch, aber was die Empfindung der Stimmung von Räumen angeht, kann diese phänomenologisch so verstanden werden, dass der hell gestimmte Raum ein Licht erstrahlen lässt und der dunkle Raum eine nichtende Finsternis zur Geltung bringt, die einen fundamental ergreifen und daher nicht aus dem Hellegrad des Raums allein kommen, sondern quasi von hinten durch- oder von unten in den Raum hereinscheinen und durch den Raum vermittelt auf mich zudringen. Da diese beiden Polaritäten inkommensurabel sind, nicht ineinander überführt werden können, sondern in ihrer Wirkung gegensätzlich sind, kann man von mythischen Urqualitäten reden.

Die Inkommensurabilität und Gegensätzlichkeit des Licht-Raumes und des Nacht-Raumes wird auch sehr schön deutlich im Vergleich der Wirkung auf den gesunden und auf den kranken Menschen, die Minkowski in seiner psychopathologischen Studie anführt. Der helle Raum, so Minkowskis präzise Beschreibung seiner Strukturen, ist weit vor mir ausgedehnt. Objekte haben deutliche Konturen, ich sehe Distanzen, Neben- und Hintereinander. „Alles in diesem Raum ist klar, präzis, natürlich, unproblematisch.“88 Auch ich selbst habe meinen unbedrängten Platz in diesem Raum und kann mich, wie alles andere, bewegen, handeln und leben. „Der helle Raum ist ein sozialer Raum“89, er erlaubt Entfaltung, er hat Weite, ermöglicht Beziehungen. Der schwarze Raum hingegen vereinzelt, er macht eng, schränkt Bewegung bis zum Stillstand ein. Die Dunkelheit des Nacht-Raumes ist keineswegs die einfache Abwesenheit von Licht, sondern hat eine Positivität, oder besser Negativität eigener Art. Die Dunkelheit „scheint viel materieller, viel ‚stofflicher‘ zu sein als der helle Raum.“ Die Dunkelheit dehnt sich „nicht vor mir aus, sondern berührt mich direkt, hüllt mich ein, umgibt mich, dringt sogar in mich ein, durchdringt mich ganz, geht durch mich hindurch, so dass man fast sagen möchte, dass das Ich für dir Dunkelheit, aber nicht für das Licht durchlässig ist.“ „Alles ist hell, deutlich, klar im hellen Raum, alles ist dunkel und mysteriös im schwarzen Raum.“90 Die Nacht ist voller Überraschung und Geheimnis. Sie macht Angst, ist zumindest undurchschaubar. Im dunklen Raum gibt es kein Neben- und Hintereinander, sondern nur reine Tiefe. Die Tiefe ist die „einzige und alleinige Dimension“ des nachten Raumes. Der schwarze Raum ist nicht sozial. Er ist um mich wie „eine undurchsichtige und unbegrenzte Sphäre“91, eine Sphäre, die mich ————— 87 88 89 90 91

J.P. Eckermann, Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens, 318f.188. Minkowski, Die gelebte Zeit II, 261. Ebd., 262. Ebd. Ebd., 263.

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vereinzelt und einsam macht, in der ich allein bin. Wenn der schwarze Raum außer nacht auch noch totenstill ist, dann ist das Leben ausgelöscht. Der schwarze Raum ist der Raum des Depressiven, er ist depressiv. Der Depressive hat im Innern ein schwarzes Loch, er ist aber auch nach außen mit einem schwarz-gestimmten Raum umgeben, der jeden Raum, den er einnimmt, dunkel färbt, und der ihn, in negativer Rückwirkung auf sich selbst, gerade beim Erwachen des Morgenlichtes, ins Dunkle des Bettes, seiner heimelich-unheimlichen Höhle verkriechen lässt. Er ist so gefangen in seinem Dunkel, dass selbst „das Licht im Phobiker, statt der gesunden Daseinssteigerung, Angst und Schwindel auslöst.“92 Die Psychopathologie des gestimmten Raumes macht deutlich, dass heller und dunkler Raum zwar kontradiktorisch sind, sich aber gerade im pathologischen Fall seltsam überlagern, und auch sonst wie zwei Urkräfte gegeneinander streiten. Welche der beiden Qualitäten ist die stärkere und ontologisch fundamentalere? Max Scheler hat behauptet, dass für die „natürliche Weltanschauung“ der dunkle, bewegungslose und leere Raum der fundamentale Raum sei, der die „allen Dingen und Bewegungen wahrhaft vorhergehende, ruhende, und […] unabhängige, also substantiale Leere“ vermittle. Die „Leere des Herzens“, so Scheler, sei „das, woraus alle Leere quillt“. Sie spiegele sich in der Leere des Raumes und sei umgekehrt durch diese fundiert. Der leere, schwarze Raum habe ein fundierendes Nichtsein, das „allem positiv Seinsbestimmten gleich wie ein fundierendes Sein vorzugehen scheint“93. Diese existentialontologische Bestimmung ist m.E. viel zu sehr negationsontologisch aufgeladen. Sie gilt phänomenologisch nur für den Depressiven. Für den lebensfreudigen Gesunden ist es genau umgekehrt, wie Gebsattel in seiner Psychopathologie gegen Scheler richtig bemerkt: „Für die ‚natürliche Weltanschauung‘ (Scheler) besitzt die belichtete Welt eine höheren Wirklichkeitsgrad“94 als die nachte. Man kann daher gegen Scheler und Cassirer95 nicht sagen, dass der TagRaum aus dem Nacht-Raum hervorgehe, da der Nacht-Raum ungegliedert sei und daher die mythische Einheit alles Seienden fühlbar mache, während das Licht erst Ausgliederung, Trennung und Auseinandertreten der Erscheinungen bewirke. Die ungegliederte Einheit des Nacht-Raums hat kein Sein, sie ist ontologisch sekundär, wirkt bloß als Negativfolie gegen das Sein. Darum hat der Neuplatonismus mit Recht das Sein mit dem Licht-Raum ————— 92 V. Gebsattel, Zur Psychopathologie der Phobien, in: Prolegomena einer medizinischen Anthropologie, 71. 93 M. Scheler, Idealismus-Realismus, Gesammelte Werke, Bd. 9, 219f. 94 Gebsattel, Zur Psychopathologie der Phobien, 70. 95 Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen II, 119f.

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gleichgesetzt.96 Der schwarze Raum hat nur für den pathologisch Kranken ontologische Fundamentalqualität. Man kann nicht sagen, dass aus ihm Sein entsteht, sondern im Gegenteil: Sein, im Sinn von Lebendig-sein, wird im schwarzen Raum vernichtet. Der schwarze Raum ist derjenige gestimmte Raum, der den gelebten Raum nicht nur nicht weitet, sondern zusammendrängt, und zwar so gewaltsam und so sehr, dass es das Selbst fast mit vernichtet. Der Nacht-Raum ist ein nichtender Raum, er trägt, mit Heidegger gesagt, „das Wesen des Nichts: die Nichtung. […] Das Nichts selbst nichtet“97. In der Nacht löst sich die Welt, so Merleau-Ponty, in eine „Räumlichkeit ohne Dinge“ auf, in einen leeren Raum ohne Sein, ohne Sinn und ohne Leben. Die Nacht „umhüllt mich, sie durchdringt all meine Sinne, sie erstickt meine Erinnerungen, sie löscht beinahe meine persönliche Identität aus.“98 Die Nacht provoziert die „Leere des Herzens“, nicht umgekehrt (Scheler), die Leere quillt nicht nur aus der Seele heraus, sie spiegelt sich auch, von der Um-Nacht in die Seele hinein. Der schwarze Raum ist der Raum, „woraus alle Leere quillt“, er hat aber gegen Scheler keine Positivität, kein „fundierendes Sein“, sondern reine Negativität: nichtendes Nicht-Sein. Man kann zwar noch eine Weile, wie der Blinde, sich „am Gerüst des Tages […] festhalten“ und sich tastend durch die Wohnung bewegen, so dass „noch im schwärzesten Raum der Nacht […] etwas beruhigend Irdisches“ bleibt, aber der Bewegungsraum ist doch erheblich zusammengedrängt – und er wird enger und enger, je mehr die Erinnerung ausgelöscht wird und je weniger Tagvertrautheit vorhanden ist. Der Nacht-Raum hat seine Strukturen und Formen, wenn überhaupt, dann nur vom Tag-Raum her. Die reine „Nacht ist ohne Profile, sie selbst ist es, die mich anrührt, und ihre Einheit ist die mystische Einheit des Mana.“ Der Nacht-Raum an sich ist „reine Tiefe“99: lebenslöschender Tot-Raum. 3. Die mythisch-religiöse Tag-Nacht-Polarität Es ist nicht schwer, die mythisch-religiöse Bedeutung des Tag- und des Nacht-Raumes aufzuhellen. Alle religiösen Kosmologien, auch die biblischchristliche, entfalten sich auf dem Gegensatz von Licht und Dunkel, in dem sich der Gegensatz von Kosmos und Chaos abbildet.100 In Gen 1 ist die Finsternis über der Tiefe der Urflut der mythische Ausdruck für das chaoti————— 96 Hierzu vgl. oben I.4. 97 M. Heidegger, Was ist Metaphysik?, in: Wegmarken, 114. 98 M. Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, 329. 99 Ebd., 330. 100 Hierzu vgl. H. Gese, Der Johannesprolog, 190–194; B. Janowski, Art. Licht und Finsternis, RGG4.

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sche Nichts ‚vor‘ der Schöpfung.101 Das Licht ist das konträre Positivum, welches die Finsternis und damit die chaotisch amorphe Vor-Welt ein- und abgrenzt. Es ist das erste geschaffene Element, welches anders als die erst am vierten Tag in den Lebensraum des Himmelskosmos gesetzten Lichter keinen Leuchtkörper, sondern einen Lichtraum meint. Das Licht ist im Kontrast zum amorphen, ungestaltet ausgedehnten Raum des Urdunkels – es besteht 1. aus Tohuwabohu, 2. der Finsternis, 3. der Urtiefe und 4. dem Urmeer oder den Chaos-Wassern – ein ausgebreiteter lichter und dadurch Ordnung ermöglichender Raum. Während die Finsternis reine Negativität, Lebensunmöglichkeit beschreibt, da sie Wüste, Leere, ungestaltet-ungeordnete und leblose Materie gleichermaßen umfasst, ist das Licht, das nach Gottes „Es werde“ aufleuchtet, das Licht des Kosmos: der geordneten Welt mit Konturen, Begrenzungen und geordneten Beziehungen. Das Licht, so formuliert K. Hübner bei seinem Versuch, den mythischen Sinn von Gen 1 freizulegen, ist „die mythische Substanz der kosmischen Ordnung“102. Die als Leuchtkörper geschaffene Sonne hat an der Substanz des Lichtes teil und ist nicht etwa die Quelle des Lichtes. Die „mythische Metaphorik“ besteht darin, dass „alles Materielle zugleich einen ideellen Sinn erhält, weil es stets in unmittelbarer Beziehung zum Göttlichen und Menschlichen“103 steht. Der chaotische, antikosmische Materieraum und der vom Urlicht durchzogene Raum des Kosmos bilden die beiden konträren Urräume, in denen sich kosmisches und menschliches Leben bewegt. Die Urtiefe ist die überwundene, aber als Bedrohung latent wirksame Chaosmacht, das Licht die Lebensmacht des Schöpfers. Die Formel „Es werde Licht“ ist die Grundformel des christlichen Logos, der Schöpfung durch das göttliche Wort, welches vom Nichtsein ins Sein ruft (Joh 1,1–5; Röm 4,17). Das Licht ist das „Lebenslicht“104, das auf Gott(es Antlitz) als „Licht des Lebens“ schlechthin verweist (Ps 18,29; 56,14; 80,4), das Orientierung im Raum des Kosmos und im Leben überhaupt ermöglicht und das Leben im „Morgenglanz der Ewigkeit“ eröffnet, d.h. Leben im Vorgriff auf das ewige Leben im Lichtglanz Gottes (Jes 60,20), welcher, so die solare Symbolik durch das ganze Alte und Neue Testament, im Licht der Schöpfung – jeden Morgen und in der Rettung „am Morgen“ – sich selbst schenkt.105 Das ————— 101 Zum vorweltlichen Chaos in Gen 1 und im Alten Orient vgl. M. Bauks, Welt am Anfang; dies., „Chaos“ als Metapher für die Gefährdung der Weltordnung; K. Löning/E. Zenger, Als Anfang schuf Gott, 20–40. 102 K. Hübner, Glaube und Denken, 28. 103 Ebd. 104 H. Timm, Das Weltquadrat, 41; zum Licht als Symbol und Synonym für „Leben“ vgl. C. Barth, Die Errettung vom Tode, 28f. 105 Zur auch israelitischen Vorstellung der Gottheit als Licht vgl. E. Cassin, La splendeur divine; B. Langer, Gott als „Licht“ in Israel und Mesopotamien; zu den Motiven der „Solarität“ Gottes und der Rettung „am Morgen“ vgl. B. Janowski, Rettungsgewissheit und Epiphanie des

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Licht, die den Schöpfer umkleidende Herrlichkeit Gottes selbst (Ps 104,2), ist die Macht der alten und der neuen Schöpfung, das in der von der Sünde wieder verfinsterten Welt die Erkenntnis der Herrlichkeit Gottes auf dem Angesicht Christi aufleuchten lässt (2.Kor 4,6). Das Licht ist Repräsentant der Gottesnähe und Medium der Gotteserkenntnis ebenso wie, als Konkretum, Symbol Jesu Christi, der „Sonne“ der Gerechtigkeit, und damit Orientierungspunkt und -medium christlichen Lebens. Diese wenigen, zur Meditation einladenden Gedanken, wären vielfach auszuarbeiten, um daraus eine Theologie des Lichtes zu entwickeln,106 sie sollten hier nur deutlich machen, dass das Licht, gewiss nicht als technische Beleuchtung, aber als gestimmter Raum offen für einen geistigen Gehalt ist, von der leib-sinnlichen Wahrnehmung her eine geistige Wahrnehmung geöffnet werden kann und in dem Urphänomen des physischen Lichtes auch jenes Licht der geistigen und religiösen Erkenntnis eingeschlossen ist. „Das Symbol transzendiert die Physis. Es ist das Licht, das dann auch das Kleid der Gottheit ist […] d.i. die Außenseite, die Erscheinungsform Gottes.“107

2.4 Der leiborientierte Raum und die religiöse Raumorientierung 1. Das Koordinatensystem des Leibes Der Tag-Raum ist ein orientierter Raum. Richtungen und Relationen sind erkennbar. Dinge befinden sich vor-, hinter- und nebeneinander, sind weniger und weiter voneinander entfernt. Der Tag-Raum ist, weil er orientiert ist, ein geordneter Raum. Der Nacht-Raum ist orientierungs- und richtungslos. Er stellt eine ungegliederte, amorphe Masse dar, aber er hat dennoch ein Zentrum – darin unterscheidet er sich vom mathematischen homogenen und leeren Raum –, er entfaltet sich von mir aus und dringt von allen Seiten her zentrisch auf mich zu. Das Zentrum des Nacht-Raums ist aber selbst ohne Orientierung, wie der Schwindel des Traumes zeigt. Der nachte Raum, der mich im Traum umgibt, ist zwar um mich zentriert, aber er hat keinerlei Orientierung. Insbesondere die Elementarorientierung nach oben-unten ist verloren. Daraus ergibt sich, dass die Elementarorientierung nicht eine Eigenschaft des mich umgebenden Raumes an sich ist, sondern des gelebten Raumes. ————— Heils. Das Motiv der Hilfe Gottes „am Morgen“ im Alten Orient und im Alten Testament; ders., JHWH und der Sonnengott. Aspekte der Solarisierung JHWHs in vorexilischer Zeit. 106 Zur hierfür vorauszusetzenden abendländisch-christlichen Kulturgeschichte des Lichts vgl. O. Böcher, Art. Licht und Feuer, TRE; Timm, Das Weltquadrat, 39–45; G. Böhme/H. Böhme, Feuer, Wasser, Erde, Luft. Eine Kulturgeschichte der Elemente, 143–163. 107 H. Gese, Die Frage des Weltbildes, 213.

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Der Leib ist das strukturierende und orientierende Zentrum. Das leibliche Ich fungiert in Bezug auf den orientierten Raum raumerzeugend, raumzentrierend und raumstrukturierend. Das Leib-Ich ist hier wesentlich aktiv beteiligt, während beim gelebten und gestimmten Raum eine wesentliche Passivität zu verzeichnen war. Das Selbst wird als leibhaftes Selbst erst im und durch den gelebten Raum konstituiert, wenngleich durch seinen gelebten Raum. Der gelebte Raum wird zum orientierten Raum, wenn der Leib als sein Zentrum ihn konstituiert. Um die Orientierung des Tag-Raumes und im Tag-Raum zu ermöglichen, muss außer den Richtungen und Relationen der Dinge zueinander ein absolutes Zentrum vorhanden sein, das selbst eine Elementarorientierung tragen muss. Nur ein orientierter Leib kann sich im Raum orientieren und den Raum wahrnehmend, orientierend und handelnd erschließen und strukturieren. Der durch den Leib erschlossene Raum ist weder homogen noch isotrop. Er hat einen ausgezeichneten Mittelpunkt, von dem her er sich erschließt, und ist mit einem Elementarkoordinatensystem versehen, einem „natürlichen Achsensystem“108. Es ist nicht ausreichend, den „Orientierungsraum“ so vom „homogenen Raum“ zu unterscheiden, dass ersterer einen privilegierten Punkt enthält, den „Nullpunkt […] als Zentralpunkt“109, wie Husserl sagt, von dem sich dann die drei Richtungen entfalten. Der Unterschied zwischen einer „Situationsräumlichkeit“ und einer „Positionsräumlichkeit“, um eine Unterscheidung von Waldenfels aufzunehmen,110 ist nicht allein die, dass Situationsräumlichkeit immer mit einem leiblichen Hier verbunden ist, das eine bestimmte Stelle im objektiven Raum einnimmt, also innerhalb der möglichen relativen Positionen aller Dinge zueinander einen ausgezeichneten Ort innehat. Das leibliche Hier kann seinen Raum nur erschließen und, sich orientierend, den orientierten Raum aufbauen, wenn es selbst schon elementar orientiert ist. Der Leib muss das Koordinatensystem als sein natürliches Achsensystem mitbringen, um den Raum von ihm aus nach allen Richtungen erschließen und orientieren zu können. Der Nullpunkt braucht zusätzlich eine „Nullstellung“ oder „Nullhaltung“111, wie Husserl richtig bemerkt. Dieses Koordinatensystem resultiert aber, nun gegen Husserl, nicht einfach aus er Orientierung des Leibs im äußeren Raum aufgrund des Körperschemas (links-rechts-Symmetrie), der Augenstellung (vorne-hinten), des aufrechten Ganges und des Wirkens der Schwerkraft (oben-unten). Der Leib ist ein elementar orientierter Raum für sich. Der Leib stellt einen Ei————— 108 109 110 111

Bollnow, Mensch und Raum, 44ff. Husserl, Ding und Raum, 313. B. Waldenfels, Das leibliche Selbst, 115. Husserl, Ding und Raum, 314.

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genraum dar, dessen Orientierung aus einem Spüren nach innen resultiert. Ich weiß intuitiv und tief in meinem Leib verankert, wo oben und wo unten ist. Ich weiß dies nicht erst dadurch, dass ich aktiv aufrecht stehe und draußen den Himmel oben sehe oder die Erde unter mir spüre. Diese Elementarorientierung des Leib-Eigenraumes ist die oben besprochene elementare Orientiertheit des gelebten Raumes, so dass der orientierte Raum durch den gelebten Raum fundiert wird. Aus der Auszeichnung des leiblichen Hier als absolutem und elementar orientiertem Zentrum folgt 1., dass der orientierte Raum nicht immer schon ist, sondern vom räumlichen Dasein vermittels des Leibes eingeräumt wird, 2. dass der gelebte Raum alle anderen Raumarten (wie den sozialen oder den religiösen Raum) fundiert und alle räumlichen Ausdrücke und Raumbegriffe sich aus ihm ableiten, 3. dass alle räumlichen Orientierungen sowie die Bedeutungen der Raumdimensionen aus dem Zusammenspiel von leiblicher Eigen- und Außenorientierung resultieren und nicht aus der äußeren Körperorientierung im Raum allein, 4. dass eine qualitative Differenz zwischen verschieden Raumarten besteht, namentlich zwischen äußeren und inneren, offenen und geschlossenen, sakralen und profanen Räumen, zwischen dem Haus und der Landschaft, der Heimat und der Fremde. 2. Das Einräumen von Raum durch das räumliche Dasein Die These, dass Raum nicht von jeher ist, sondern durch die Räumlichkeit des Daseins eingeräumt wird, geht auf die Paragraphen 22–24 von „Sein und Zeit“ zurück, wo Heidegger nacheinander „Die Räumlichkeit des innerweltlich Zuhandenen“, „ Die Räumlichkeit des In-der-Welt-seins“ und „Die Räumlichkeit des Daseins und der Raum“ behandelt. Heideggers Bestimmung des Daseins als In-der-Welt-sein führt zu einem neuen Verständnis von In-Sein und Existenz des Daseins, das sich von dem dinglichen Sein-In und dem dinglichen Vorhandensein grundlegend unterscheidet. Dabei ist zu beachten, dass Heideggers veränderter Existenzbegriff in Bezug auf das menschliche Dasein („Das ‚Wesen‘ des Daseins liegt in seiner Existenz“112) auch zu einer Veränderung im Begriff der Existenz anderer Dinge führt. Existenz bedeutet auch für Gegenstände nicht einfach die Tatsache des nackten Dass, sondern eine bestimmte Weise zu sein. Die Seinsweise des Gegenständlichen muss unterschieden werden als das Vorhandene und das Zuhandene. Das Vorhandene ist die gegenständliche Welt in ihrer quantitativ-räumlichen und daher messbaren Ausdehnung, das Zuhandene hingegen meint Räumlichkeit als Nähe. Etwas ist zur Hand, ————— 112 Heidegger, Sein und Zeit, 42.

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heißt nicht: es hat einen Ort im Koordinatensystem, sondern: es hat seinen Platz.113 Das Dasein als In-der-Welt-sein hat wie das Vorhandene und das Zuhandene ebenfalls Räumlichkeit, aber auf andere Weise. Es hat nicht seinen Ort im Raum, sondern es gibt Raum. Das Dasein räumt Raum ein. Die Räumlichkeit des Daseins ist aktiv. Das Dasein hat eine Tendenz auf Verräumlichung, es tendiert auf Ent-fernung (wörtlich genommen als „Verschwindenmachen der Ferne“, also als Annäherung) und auf Ausrichtung. Das Einräumen geschieht auf zweierlei Art: es holt her, schafft Nähe und Vertrautheit („Im Dasein liegt eine wesenhafte Tendenz auf Nähe“114) und es richtet aus und schafft Bestimmtheit („Das Dasein hat als entferndendes InSein zugleich den Charakter der Ausrichtung“115). Die Einräumung von Raum, von Nähe und Distanz, greift auf die Welt über. Dasein als In-derWelt-sein beinhaltet die Räumlichkeit des Daseins und der Welt. Es ist nicht zuerst die Welt da, in die der Mensch hineinkommt, sondern die Welt hat ihre Räumlichkeit von der Räumlichkeit des Daseins her. Das Dasein gibt den Dingen Raum. Zum Dasein gehört, als Existential, das Einräumen. Das In-der-Welt-sein ist ein „Raum-geben“116. Dieser Raum ist weder im Subjekt (gegen Kant), noch ist die Welt im Raum (gegen Newton). Sondern Raum ist vom besorgenden In-Sein des Daseins her ein Strukturmoment des umweltlich Zuhandenen. Dieser Heideggersche Weltraum ist keine in sich ruhende Objektivität, sondern ein werdender Raum. Er wird ja erst eingeräumt. Der Raum „ist“ nicht, er wird von einem Ursprung her, auf den er bezogen bleibt. 3. Die Dimensionen des orientierten Raumes Will man Heideggers existenzphilosophische Analyse in konkrete leibphänomenologische Vorgänge übersetzen, so kann man sagen: Der gelebte Raum mit seiner durch das räumliche Dasein konstituierten Elementarorientierung fundiert und konstituiert mittels des Leibes den orientierten Raum. Ein Raum ist dann orientiert, wenn darin Richtungen ausgezeichnet sind. Wie viele und welche Richtungen müssen ausgezeichnet sein, um einen Raum orientiert nennen zu können? Man könnte zunächst mit Kant vermuten, dass die Form, Haltung und Stellung des menschlichen Körpers drei Richtungen in drei Ebenen auszeichnet. „In dem körperlichen Raume lassen sich wegen seiner drei Ab————— 113 114 115 116

Ebd., §22 (Die Räumlichkeit des innerweltlich Zuhandenen), 103. Ebd., §23 (Die Räumlichkeit des In-der-Welt-seins), 105. Ebd., 108. Ebd., §24 (Die Räumlichkeit des Daseins und der Raum), 111.

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messungen drei Flächen denken, die einander insgesamt rechtwinklicht schneiden“, insbesondere, „die Fläche, worauf die Länge unseres Körpers senkrecht stehet, heißt in Ansehung unser horizontal; und diese Horizontalfläche gibt Anlass zu dem Unterschiede der Gegenden, die wir durch oben und untern bezeichnen.“117 Auf der Horizontalfläche können zwei weitere rechtwinklig zueinander senkrecht stehen. Die beiden Vertikalflächen kann man so anordnen, dass die eine den Körper in eine rechte und eine einigermaßen achsensymmetrische linke, die andere in eine vordere und hintere Seite teilt. Die drei durch das Körperschema ausgezeichneten Richtungen und Gegensatzpaare oben-unten, vorne-hinten, rechts-links sind phänomenologisch keineswegs gleichwertig und keineswegs erst durch den aufrecht stehenden Menschen vorgegeben. Denn „aufrecht stehen“ setzt den Unterschied oben und unten und eine vertikale Achse schon voraus. Oben und unten sind außerdem im Unterschied zu links und rechts, sowie vorne und hinten nicht vertauschbar und nicht ineinander überführbar. Sie bleiben bei allen möglichen Bewegungen und Körperhaltungen des Menschen gleich. Ob er steht, liegt, läuft, sich dreht: oben und unten sind leibphänomenologisch objektive Richtungen. Sie reproduzieren leibphänomenologisch Aristoteles’ Theorie des natürlichen Ortes. Die Symmetrie des durch den Leib und seine möglichen Bewegungen orientierten Raumes ist eine Zylindersymmetrie mit vertikaler Achse und horizontaler Ebene. Der leiborientierte Raum hat keine drei, sondern zwei Dimensionen, die dazu ungleich sind: eine lineare Achsendimension und eine rundflächige Weitendimension. Die Richtungspaare vorne-hinten sowie links-rechts, also die vier paarweise rechtschenkligen Halbgeraden und die durch sie erzeugten beiden aufeinander senkrecht stehenden vertikalen Ebenen sind dagegen erst durch den aufrecht stehenden Körper konstituiert und in ihrer Bedeutung darauf bezogen. Dabei geht die immanente Körperordnung ein, welche eine qualitative Differenz innerhalb der beiden Paare einführt: Vorne ist immer die Gesichtsseite, rechts die bei der Bevölkerungsmehrheit starke Seite. Von daher ergeben sich kulturelle Konnotationen und Metaphern wie von selbst: Vorne ist die Richtung, die man im Auge hat, der Bereich, den man überblicken kann, das Tätigkeitsfeld, das man erreichen kann, ‚vorne‘ liegen die Zukunft und der ‚Raum‘ der Möglichkeiten, ‚hinten‘ liegt die Vergangenheit und der Rückschritt, nach hinten muss man sich vor-sichtig tasten, weicht man ängstlich zurück, rechts liegt der rechte Weg, links der falsche, ————— 117 I. Kant, Von dem ersten Grunde des Unterschiedes der Gegenden im Raume, Vorkritische Schriften 2, 994f.

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linke oder unheilvolle. Die Seiten und Richtungen sind in vielfacher Weise lebensweltlich, sittlich-moralisch, religiös oder auch abergläubisch codiert bzw. können für religiöse oder andere Lebensdeutungen in Anspruch genommen werden. Jede Predigt operiert mit solchen Richtungsmetaphern und in allen religiösen Symbolsystemen spielen die Raumrichtungen eine spezifisch festgelegte Rolle mit bestimmtem Bedeutungsgehalt. Die Codierungen sind dabei nicht willkürliche kulturelle Zuschreibungen, sondern ergeben sich organisch aus dem Körperschema. Die Wertigkeiten sind Transformationen aus dem natürlichen Bereich der Leiberfahrung in den sittlich-religiösen Bereich und nicht bloße Projektionen oder Konventionen. Die Wertungen „recht“ oder „link“, „geradewegs“ oder „rückschrittlich“ können auf reale Leibvollzüge rückbezogen und veranschaulicht werden, sind daher lebendige Metaphern (Ricoeur)118. Die Leiborientierungen sind ein unmittelbar anschaulicher Verstehenshorizont, in den Deutungen von Wirklichkeit eingetragen werden können. Der leiborientierte Raum ermöglicht unmittelbares Verstehen von Zuschreibungen, Codierungen und Interpretationen. 4. Religiöse Raumorientierung Die mythischen und religiösen Räume sind nach den phänomenologischen Analysen von E. Cassirer, G. van der Leeuw und M. Eliade wie der leiborientierte Raum inhomogen. „Für den religiösen Menschen ist der Raum nicht homogen; er weist Brüche und Risse auf: er enthält Teile, die von den übrigen qualitativ verschieden sind.“119 Man denke nur an Jakobs Traum von der Himmelsleiter, an Moses Berufung am Dornbusch oder Jesajas Thronvision. Jeweils wird ein „heiliger“ Ort, Bereich oder Raum vom übrigen, profanen Raum herausgehoben und abgetrennt. Die religiöse Erfahrung der Inhomogenität der Raumes, die als ein Gegensatz zwischen dem heiligen, bedeutungsvollen, wirkmächtigen und daher starken und festen Raum im Unterschied zu anderen nicht heiligen Räumen ohne Struktur und Festigkeit erlebt wird, kommt einer „Weltgründung“ gleich. Der inhomogene Bruch im Raum konstituiert einen festen Punkt, eine Mittelachse, von der jede künftige Orientierung ausgeht. Die Hierophanie markiert im vorher homogenen, grenzenlosen Raum eine absolute Orientierung durch einen absolut festen Punkt, ein Zentrum. Der horizontale Bruch ist verbunden mit einer Öffnung nach oben, in die himmlisch-göttliche Welt, evtl. auch in die ————— 118 P. Ricoeur, La métaphore vive/Die Lebendige Metapher, hierzu vgl. M. Buntfuß, Tradition und Innovation. Die Funktion der Metapher in der theologischen Theoriesprache, 13–52. 119 M. Eliade, Das Heilige und das Profane, 23.

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untere (Toten-)Welt. Die Hierophanie konstituiert erst eine Welt, kommt daher einer Weltschöpfung gleich, indem die Differenz und die Bereichsunterscheidung zwischen Himmel, Erde und Unterwelt eingeführt wird. Die Möglichkeit des Übergangs von der Erde zum Himmel wird durch die Weltachse, die axis mundi120, symbolisiert, um die herum die Welt, in der man lebt, sich erstreckt. Vielfach setzt die Weltachse, die Erde und Himmel verbindet, an einem Berg an, am höchsten Punkt der Erde, der den Himmel berührt. Die Weltachse ist zugleich der Nabel, das Zentrum der Welt. Der heilige Ort markiert also einerseits die Unterscheidung zwischen innen und außen, zwischen dem Bereich, an dem wirkliches, heiliges Leben möglich ist und dem profanen Bereich draußen, der weder sinnvolles noch festes Leben erlaubt, sondern wegen seiner chaotisch-amorphen Homogenität und Relativität keine wahre Orientierung ermöglicht, und andererseits die Unterscheidung zwischen unten und oben, zwischen dem irdischen und dem himmlischen, göttlichen, wahren. Die Hierophanie etabliert ein absolutes Achsensystem mit den Fundamentaldifferenzen oben-unten und innen-außen. Es wird erhalten, fortgeführt und gepflegt durch religiöse Riten, welche die religiöse Orientierung im religiös orientierten Raum ermöglichen. Die religiösen Riten und Verhaltensweisen sind „Orientierungstechniken, die eigentlich Techniken zur Konstruktion eines heiligen Raumes sind. Doch darf man nicht glauben, dass der Mensch durch seine Anstrengungen einen Raum heiligen könnte. Das Ritual, durch das er einen heiligen Raum konstruiert, ist nur in dem Maße wirksam, in dem es das Werk der Götter reproduziert.“121 Aber auch noch „die in stärkstem Maße entsakralisierte Existenz [weist] noch Spuren einer religiösen Wertung der Welt auf“122. Auch für den nichtreligiösen, profanen Menschen, der im homogenen und relativen, also religiös indifferenten Raum lebt, hat der gelebte Raum eine unterschwellige religiöse Orientierung. Eliade nennt es ein „kryptoreligiöses Verhalten“123, wenn jemand bestimmten Orten eine außergewöhnliche, einzigartige Bedeutung zuschreibt, als ob sich dort eine Realität offenbart habe, die von anderer Art ist als die „profane“ Realität des Alltagslebens. Dass auch der säkulare Mensch die Differenz von innen und außen, von oben und unten kennt, man auch daran liegen, dass der leibliche Raum wie der religiöse orientiert ist, so dass religiöse Raumstrukturen und -differenzen an den leibhaften anknüpfen können, ihre sinnlich-leibhafte Erfahrbarkeit erst möglich machen. ————— 120 121 122 123

Ebd., 36. Ebd., 29. Ebd., 24. Ebd., 25.

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Der gelebte Raum mit seiner Inhomogenität konstituiert auch die Inhomogenität des sozialen Raumes, die wieder dem religiösen analog strukturiert ist. Leibzentrum und Umgebung unterscheiden sich wie Raum-fürmich und Raum-für-andere. Mein Leib ist der Bereich eines Tabus, eines „heiligen“, unantastbaren Bereiches, der nur für mich und nur mit meiner Erlaubnis für andere zugänglich ist. Es handelt sich um eine asymmetrische soziale Situation, bei der das Hier mir gehört und das Dort (möglicherweise als dessen unantastbares Hier) dem anderen. Die Asymmetrie der Raumrichtungen und ihre Fundierung im leibräumlichen Schema zeigt sich auch sprachphilosophisch bei allen deiktischen, indexikalischen und relationalen Ausdrücken. Räumliche Präpositionen wie auf, neben, unter, vor, in scheinen bloße Relationen von etwas zu etwas anderem auszudrücken. Dem ist aber nicht so. Die Präposition ‚auf‘ setzt die absolute Unterscheidung von oben und unten voraus. Räumliche Präpositionen empfangen ihren Richtungssinn vom leiblichen Hier her, ebenso die die deiktischen Ausdrücke wie dies-da, ich, du, jetzt, heute. Dabei tritt immer unausgesprochen das Hier als Ort des Sprechers auf. Das Zeigfeld der Sprache ist nach der Sprachtheorie von K. Bühler, auf die Waldenfels verweist124, um den Nullpunkt des Hier-Jetzt-Ich gruppiert. Die lozierende Funktion macht nur Sinn in Bezug auf einen Sprecher, der mit dem Ort seines Sprechens in eins fällt. Nur mit der Partizipation eines Sprechers an der Situation und dem Ort, in der und an dem der Ausdruck fällt, hat ein indexikalischer Ausdruck Bedeutung. „Hermeneutisch heißt das, dass sich Indexwörter ohne Beachtung ihrer konkreten Verwendung in Praxisvollzügen nicht verstehen lassen.“125 Die Konkretheit steht und fällt mit dem leib-räumlichen Ich-hier-jetzt. Das heißt: „Die Räumlichkeit im Sprechen fungiert als eine Bedingung, die das Sprechen mitträgt und nicht bloß als ein Gegenstand in der Rede vorkommt.“126 Daraus folgt, dass in allen, auch den religiösen Aussagen, in denen Raumpräpositionen oder indexikalische Ausdrücke vorkommen, der Raum des Sprechers oder der Raum, auf den er verweist, seine Aussage mitträgt. Der oben (II.1.6) gegebene Nachweis, dass schon Existenzaussagen über Gott lokalisierend sind, da sie den Sprecher in Bezug auf den ausgesagten Sachverhalt der Existenz Gottes lokalisieren, gilt im Besonderen für inhaltliche Aussagen über Gott. ————— 124 K. Bühler, Sprachtheorie; vgl. Waldenfels, Das leibliche Selbst, 119. 125 I. Dalferth, Die Wirklichkeit des Möglichen, 463. 126 Waldenfels, Das leibliche Selbst, 120.

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Das Bekenntnis „Ich glaube an Gott, den Vater […]“ lokalisiert den Sprecher hier und jetzt in Bezug auf Gott als Vater usw. Der Segenszuspruch „Der Herr sei mit, bei, über dir“ unternimmt durch den Sprecher eine Lozierung Gottes in Bezug auf den leiborientierten Raum des Hörers. Die Aussage bezieht sich unmittelbar auf den konkreten Ort, an dem ich mich mit meinem gelebten und orientierten Raum befinde. Nur sekundär wird sie auch auf andere, vergangene oder mögliche zukünftige Situationen, Orte und Räume übertragen. Unmittelbar nimmt ein Hörer, der ein Wort für sich nimmt oder eines selbst sagt, in einer Hier-und-jetzt-Situation auf. „Mit, bei, über dir“ heißt „mit, bei, über“ Dir- bzw. Mir-hier-jetzt. Der Zuspruch spricht die Gegenwart Gottes räumlich zu und konstituiert einen Raum, der mit dem mitgebrachten und verorteten gelebten Raum wechselwirkt. Das Wort des Zuspruchs konstituiert, theologisch gesagt, einen Wirkund Segens-Raum des Evangeliums. Es orientiert mich neu in meinem Lebensraum, indem es einen orientierenden Raum um meinen gelebten Raum herumlegt, der nun, mein Leben wieder neu tragend und ausrichtend, mit mir geht. Das „leiblich Wort des Evangelii“ (CA V) hat seine Performanz aus dem Raum, den es konstituiert, worin es wirkt, was es sagt: Gegenwart Gottes. 5. Was heißt, sich im Raum, im Leben, „im Denken orientieren?“ Wie geschieht nun durch den Leib die Orientierung im Raum? Die Orientierung im Raum setzt einen orientierten Raum voraus. Eine Orientierung trägt der Raum nicht an sich, es muss ihm ein Koordinatensystem aufgeprägt werden, nur dann kann man „sich orientieren“. Was das heißt, hat Kant mustergültig in seinem kleinen, 1786 in der Berlinischen Monatsschrift erschienenen Essay „Was heißt: sich im Denken orientieren?“ ausgeführt: „Sich orientieren heißt, in der eigentlichen Bedeutung des Worts: aus einer gegebenen Weltgegend (in deren vier wir die Welt einteilen) die übrigen, namentlich den Aufgang zu finden.“127 Die Einteilung der Erdoberfläche in vier Himmelsrichtungen ist zwar durch die Himmelsbewegung motiviert, aber nicht zwingend, sondern wird durch uns so eingeteilt. Um West und Ost als Richtungen wiederzufinden ist außer einem Bezugspunkt und einer Bezugsrichtung, an denen man sich ausrichtet – der Sonne, dem Polarstern oder dem magnetischen Nordpol, d.h. der Nord-Süd-Richtung – die Unterscheidung von links und rechts erforderlich. Dafür – West ist in NordRichtung links – benötigt man „das Gefühl eines Unterschiedes an meinem ————— 127 I. Kant, Was heißt: sich im Denken orientieren? Schriften zur Metaphysik und Logik 1, 269.

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eigenen Subjekt, nämlich der rechten und linken Hand“, Gefühl deshalb, weil die beiden Seiten äußerlich keinen merklichen Unterschied zeigen. Zur objektiven Orientierung benötigt man einen subjektiven Unterscheidungsgrund. „Also orientiere ich mich geographisch bei allen objektiven Datis am Himmel doch nur durch einen subjektiven Unterscheidungsgrund.“ Damit hat man ein „Verfahren“, sich „durchs Gefühl der rechten und linken Hand“ an der Sonne oder am „Polarstern“ zu orientieren.128 Dieses geographische Verfahren kann man allgemein erweitern auf die „mathematische“ Orientierung „in einem gegebenen Raum überhaupt“, in dem man sich in Bezug auf einen fixen Gegenstand nach jenem „subjektiven Unterscheidungsgrunde“, dem „Gefühl eines Unterschieds meiner zwei Seiten, der rechten und der linken“ orientiert, und, noch allgemeiner, darauf, „sich nicht bloß im Raume, d.i. mathematisch, sondern überhaupt im Denken, d.i. logisch zu orientieren“129. Sich orientieren ist immer ein kontrolliertes Verfahren von Unterscheidung und Urteil, bei dem man sich an etwas Gegebenem mittels eines subjektiven Unterscheidungsprinzips ausrichtet. Je weniger deutlich, je unsichtbarer ein objektiver Orientierungspunkt gegeben ist, je weniger „objektive Gründe der Erkenntnis“ man hat, desto stärkeres Gewicht erhalten die subjektiven Prinzipien. Was tut man, wenn die Vernunft, analog der Orientierung in einem dunklen Raum, „gar kein Objekt der Anschauung, sondern bloß Raum für dieselbe findet“, wenn sie „über alle Grenzen der Erfahrung“ hinausgehen will? In Ermangelung von objektiven Erkenntnisgründen bleibt einem nichts anderes übrig, als sich „nach einem subjektiven Unterscheidungsgrunde“ zu richten. „Sich im Denken überhaupt orientieren heißt also: sich, bei der Unzulänglichkeit der objektiven Prinzipien der Vernunft, im Fürwahrhalten nach einem subjektiven Prinzip derselben bestimmen.“130 Die Struktur der geographischen, geometrischen und denkenden Orientierung gilt allgemein für Orientierungen im Leben, auch für die religiöse Lebensorientierung. Bei dem Ausdruck Lebensorientierung handelt es sich nicht um eine vage Metapher, um das, was im Leben an Unterscheidungen, Urteilen und Ausrichtungen geschieht, räumlich-konkret zu veranschaulichen. Es ist keine pragmatische Metaphorik, um die Lebensbewegungen auf real-räumliche Bewegungen beziehen zu können, sondern es handelt sich um eine echte Analogie, genauer um eine Strukturanalogie. ————— 128 Ebd. 129 Ebd., 270. 130 Ebd.

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I. Dalferth hat eine Reihe der strukturellen Analogien zwischen Lebensorientierung und räumlicher Orientierung zusammengestellt.131 Jede Lebensorientierung, auch die religiöse, trägt mehrfache Kontingenzen: Die Orientierung geschieht immer von einem Standpunkt aus, der sich nicht in der Ordnung, an der man sich orientiert, befindet. Mein Standpunkt bestimmt sich nicht aus der Karte, dem Sonnenstand oder dem Kirchturm, an denen ich mich orientieren will, sondern ist dem Orientierungsprozess vorgegeben und muss in ihn (in die Karte) eingezeichnet, eingetragen, einbezogen werden. Ebenso ist der Orientierungspunkt oder das Orientierungssystem, an dem man sich ausrichtet, kontingent, sprich Sache der Wahl. Es gibt immer eine Vielzahl von Möglichkeiten. Orientierungen im Leben sind immer standpunktbezogen, tragen daher auch einen blinden Fleck, sind weiter regional begrenzt, d.h. nur innerhalb des Gesichtsfeldes möglich, und benötigen ein gewähltes Koordinatensystem. Kurz, Lebensorientierungen sind aufgrund der Unzulänglichkeit der objektiven Prinzipien nach subjektiven Prinzipien ausgerichtet. Religiöse Lebensdeutungen im besonderen sind der Versuch, die erlebte Welt zu verstehen und zu ordnen. Sie benutzen dazu ein religiöses Symbolsystem, zu dem es Alternativen gibt, die so oder anders sein könnten, zu dessen Wahl bestimmte subjektive Gründe ausschlaggebend sind und in die der eigene mitgebrachte Standpunkt und Ausrichtung eingehen. Weil sich durch die Orientierung der eigene Standpunkt verschiebt, sind Lebensorientierungen, auch religiöse, nie abgeschlossen, sondern im Leben unabschließbare Aufgaben. Da sich aber jeder im Leben orientieren muss, folgt, dass der Standpunkt der Standpunkte nicht möglich ist, dass es keine definitive Letztorientierung geben kann und dass Orientierung immer nur von meinem Standpunkt aus relativ zu anderen und bezüglich bestimmten, gewählten Orientierungspunkten relativ zu anderen auch möglichen geschieht. Es gilt ein Gesetz der Perspektive: Alle Wahrnehmung, Erkenntnis und Orientierung geschieht immer von einem Zentrum aus. Dieses Zentrum ist relativ, da es verschoben werden und in den Erkenntnisprozess einbezogen werden kann durch reflexiven Bezug auf die eigenen Voraussetzungen der Erkenntnis. Dadurch tritt jeweils ein neues Zentrum hinzu, zunächst als blinder Fleck, der dann wieder in den Reflexionsprozess einbezogen werden kann. Ein Standort überhaupt ist unhintergehbar, er ist absolut und nicht relativierbar. Der Standpunkt der Neutralität ist unmöglich. Auch die Orientierung an objektiv Gegebenem ist von subjektiven Erkenntnisprinzipien, Maßstäben, Bewertungen etc. bestimmt. Das perspektivische Gesetz gilt umso mehr, je weniger der Gegenstand der Erkenntnis ein Objekt der Anschauung oder der raumzeitlichen Erfah————— 131 Dalferth, Die Wirklichkeit des Möglichen, 34–46.

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rung ist. Das Gesetz der Perspektive gilt innerhalb religiöser Lebensorientierung auch für das Denken Gottes. Kant selbst hat seine phänomenologische Analyse und die Übertragung auf das „sich im Denken orientieren“ ausdrücklich auf das Denken Gottes bezogen. Kants Analogie bezog sich vornehmlich auf die Debatte zwischen Mendelssohn und Jacobi über die Leistungsfähigkeit der Vernunft darin, Gott zu denken. Kant verteidigte Mendelssohns Behauptung einer Gotteserkenntnis durch die Vernunft, schränkte sie aber in bestimmter, metaphysikkritischer Weise ein. Da die Vernunft im Denken Gottes sich nicht auf einen Erfahrungsgegenstand beziehen kann, muss sie die Grenzen des in der Erfahrung Gegebenen überschreiten. Dazu muss sie, in Ermangelung von objektiven Prinzipien, subjektive Prinzipien zu Hilfe ziehen. Damit kann sie einen widerspruchsfreien Begriff Gottes bilden, über dessen Existenz aus der Erfahrung nichts ausgesagt werden kann. Gott kann prinzipiell nicht Gegenstand der Anschauung, also auch nicht der Erkenntnis und der Wissenschaft werden. Dennoch hat die Vernunft das Bedürfnis und das Recht, einen solchermaßen problematischen Begriff von Gott zu bilden. „Nun aber tritt das Recht des Bedürfnisses der Vernunft ein, als eines subjektiven Grundes, etwas vorauszusetzen und anzunehmen, was sie durch objektive Gründe zu wissen sich nicht anmaßen darf; und folglich sich im Denken, im unermesslichen und für uns mit dicker Nacht erfülleten Raum des Übersinnlichen, lediglich durch ihr eigenes Bedürfnis zu orientieren.“132 Die Vernunft benötigt Gott in theoretischer Hinsicht, um einen befriedigenden Grund für die ersten Ursachen der Zufälligkeit der Dinge der Welt, ihrer Ordnung und Zweckmäßigkeit angeben zu können, sie benötigt ihn in praktischer Hinsicht als Idee des höchstes Gutes zur Begründung von Sittlichkeit und Freiheit. Gott ist zwar nicht Gegenstand der Erkenntnis oder des Wissens, aber doch eines vernünftigen Glaubens. Aller Glaube, auch dieser Vernunftglaube, ist „ein subjektiv zureichendes, objektiv aber mit Bewusstsein unzureichendes Fürwahrhalten; also wird er dem Wissen entgegengesetzt.“ Der „reine Vernunftglaube“ kann „niemals in ein Wissen verwandelt werden, weil der Grund des Fürwahrhaltens hier bloß subjektiv, nämlich ein notwendiges Bedürfnis der Vernunft ist“133. Da der Glaube an Gott kein objektives Wissen darstellt, kann er auch nicht objektiv widerlegt werden. Als subjektiv zureichendes Fürwahrhalten hat er aber den gleichen Grad von Gewissheit wie das Wissen! „Nun kann ich völlig gewiss sein, dass mir niemand den Satz: Es ist ein Gott, werde widerlegen können; denn wo will er diese Einsicht hernehmen?“134 Es ist gerade so, dass Kant „das Wissen aufheben“ musste, „um zum Glauben Platz zu bekommen“135. Erst der Verzicht der Vernunft auf deduktive Demonstration des Daseins Gottes aus notwendigen Vernunftschlüssen, insbesondere dem ontologischen Beweis nach Art des „Dogmatismus der Metaphysik“ eines Christian Wolff macht für Kant Platz für einen vernünftigen, kritisch gereinigten Vernunftglauben. „Ein reiner Vernunftglaube ist also der Wegweiser oder Kompass, wodurch der spekulative Denker sich auf seinen

————— 132 133 134 135

Kant, Was heißt: sich im Denken orientieren?, 271. Ebd., 276. Ebd., 277. Kant, KrV, B XXX.

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Vernunftstreifereien im Felde übersinnlicher Gegenstände orientieren, der Mensch von gemeiner doch (moralisch) gesunder Vernunft aber seinen Weg, so wohl in theoretischer als praktischer Absicht, dem ganzen Zwecke seiner Bestimmung völlig angemessen vorzeichnen kann; und dieser Vernunftglaube ist es auch, der jedem anderen Glauben, ja jeder Offenbarung, zum Grunde gelegt werden muss.“136

2.5 Der Tiefenraum und Gott als Tiefe des Seins 1. Breite und Tiefe In welchem Verhältnis stehen die Dimensionen des orientierten Raumes zueinander? Im homogenen geometrischen Raum sind alle drei Raumrichtungen gleichwertig, im durch den Leib orientierten Raum nicht. Hier unterscheidet sich die Dimension der Tiefe grundlegend von der Breite.137 Breite bedeutet ein Nebeneinander von Dingen in einem Abstand voneinander, Tiefe bedeutet die Dimension des Hinüber vom Hier zum Dort. Ein geometrischer Raum hat keine Tiefe in diesem Sinne, sondern nur breitenhafte Abstands-Verhältnisse. Die Tiefe ist dort eine in die Breite gedrehte Abstandsdimension. Die Tiefe als Breite benötigt einen zweiten Beobachter. Wir könnten sie nur dann sehen, wenn wir seitlich von uns versetzt und um 90° versetzt stünden. Dazu müssten wir zugleich hier und dort stehen, also eine Art Allgegenwart besitzen, die wir aber nicht haben. Das Gesetz der Perspektive mit einem aktualen Standpunkt ist für uns nicht aufhebbar. Nur „für Gott, der überall ist, ist die Breite freilich unmittelbar der Tiefe äquivalent.“138 Wir nehmen die Tiefe nicht unmittelbar als Breite wahr, sondern nur durch eine reflexive Operation, welche die mit den Augen oder dem Körper abgeschrittenen Abstände in einen dreidimensionalen isotropen und homogenen Abstandsraum (mathematisch gesagt: in einen euklidischen Raum) einzeichnet. Physiologisch handelt es sich beim Tiefensehen um eine Rekonstruktion. Das Gehirn rekonstruiert aus dem zweidimensionalen Bild auf der Netzhaut die dritte Dimension. Wir können die Dinge dreidimensional „plastisch“ sehen, weil unser Wahrnehmungsapparat aus der zweidimensionalen Information eine dreidimensionale rekonstruiert – „eine Leistung der zentralnervösen Datenverarbeitung, ein konstruktiver Beitrag des Subjekts zur Raumwahrnehmung.“139 Dabei bedient sich das Gehirn einiger Tiefenkriterien, nach denen Entfernung und räumliche Anordnung erschlossen werden. Dazu gehören: Konvergenz (der Winkel zwischen den Sehachsen beider auf densel-

————— 136 137 138 139

Kant, Was heißt: sich im Denken orientieren?, 277. Zum Folgenden vgl. Gölz, Dasein und Raum, 168–200. Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, 298. G. Vollmer, Evolutionäre Erkenntnistheorie, 49.

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ben Gegenstand gerichteten Augen); Querdisparation (geringe perspektivische Verschiebung der beiden Netzhautbilder); Parallaxe (Scheinbewegung von Gegenständen bei seitlicher Augenbewegung); Größer- und Kleinerwerden des Netzhautbildes bei Annäherung und Entfernung; die je nach Entfernung kleinere Bildgröße eines bekannten Gegenstandes; die leicht andere Perspektive, Bildschärfe, Helligkeit und Schattenbildung für beide Augen bei seitlichem Lichteinfall.

Phänomenologisch allerdings sieht die Sache noch anders aus. Hier sind Tiefe und Breite qualitativ verschieden. Die Breite erfassen wir durch Abtasten mit den Augen, also durch gleitendes Abmessen. Die Breite ist primär eine Quantität von Abständen und Größen von Objekten mir gegenüber. Der Tiefeneindruck hingegen ist keine Abstandsmessung. Das wäre nur durch Abschreiten oder breitenartiges Abtasten dem Abstand entlang im Vergleich zu bekannten Längen möglich. „Die Tiefe ist kein rein objektives Moment an dem Gesichtseindruck. Sie ist überhaupt kein räumliches Moment. Bei einem Blick geradeaus auf die Häuserwand dort drüben kann ich die Breite der Fenster in ihrem Verhältnis zueinander vergleichen. […] Diese Bestimmung kann höchst ungenau sein, sie ist doch objektiv; sie gewinnt ihr Maß an der Fläche selbst, und bleibt ganz in dem Bereich räumlicher Ausdehnung. Ich vergleiche räumliche Größen untereinander, so wie sie an sich erscheinen. […] Mit einer solchen Messung erfasse ich nichts von dem Phänomen der räumlichen Tiefe. […] In der Tiefe habe ich die Dinge für mich, nur von meinem Standpunkt aus, nur in meiner Perspektive. Mit dem Tiefeneindruck bestimme ich das räumliche Verhältnis der Dinge zu mir und meines zu ihnen; das ‚für mich‘ gehört zum Gehalte des Erlebens der Tiefe. […] Die Tiefe aber wir mir nicht erst durch eine nachfolgende Reflexion enthüllt; im unmittelbaren Eindruck des Tiefensehens habe ich die Dinge für mich vor mir und mich vor ihnen, erlebe ich mich im Raum.“140 Die Tiefe erfasse ist als Entfernung im Sinne Heideggers: als „Entfernung und Ausrichtung“141. Tiefe ist die Dimension von mir aus in den Raum hinein und die Ent-fernung der Dinge als Herholen und Beziehen auf mich. Bei der Tiefe gibt es im Unterschied zum breitenhaften „unterschiedslosen bloßen Nebeneinandersein gleichberechtigter Raumdinge ein entschiedenes Moment der Ranghaftigkeit“142. Die Tiefe ist das Abstandhaben der Dinge von mir, jedoch nicht im Sinn eines metrisch objektiven Abstandes, sondern als Zustand qualitativer Abständigkeit: als Nähe oder Ferne. „In der Tiefe haben alle Gegenstände eine bestimmte Entfernung von mir, die zugleich das Maß ihrer Gefährlichkeit, bzw. ihrer Ungefährlichkeit, ————— 140 E. Straus, Vom Sinn der Sinne, 366. 141 Heidegger, Sein und Zeit, 105. 142 H. Lassen, Beiträge zur Phänomenologie und Psychologie der Anschauung, 28.

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ihres Besitzes, ihrer Erreichbarkeit, bzw. ihrer Unerreichbarkeit ist. Die Tiefe ist vorwiegend die Dimension der Zuhandenheit des bewandtnishaften Zeugs im Sinne Heideggers.“143 Nähe und Ferne sind die beiden Pole des Tiefenmaßes, sozusagen die beiden qualitativen Tiefenurmaße oder Urzustände, die im konkreten Fall immer überlagert auftreten, als mehr oder weniger nah oder fern. Jeder Tiefenabstand ist immer derart qualitativ konnotiert. Daher ist auch die Ferne eine hier bei mir anwesende Ferne. Nähe und Ferne sind beide ein „Abstand“ des Da, sie ereignen sich als erlebte Präsenz. Die Tiefe in diesem Sinn ist nicht metrisierbar, sie ist das qualitative Da von Nähe und/oder Ferne, so dass „ein Mehr oder Weniger an Nähe hier keine quantitativ erfassbare Distanz bedeutet, sondern ein mehr oder weniger intensives ‚Zuhandensein‘ der Dinge.“144 Die Tiefe ist die am meisten existentiell konnotierte Dimension. „Unter allen Dimension ist sie gleichsam die ‚existentiellste‘, da sie […] sich in keiner Weise am Gegenstand selbst abzeichnet, vielmehr ganz offenbar der Perspektive, nicht den Dingen zugehört.“145 Wir müssen dabei unterscheiden zwischen der prädimensionalen Tiefe und der dimensionalen Tiefe. Erstere gehört dem Nachtraum an, letztere dem Tagraum. Die prädimensionale Tiefe ist die kontur- und randlose Nacht, aus der Sichtbares auftaucht. Diese haben wir als dunkel oder schwarz gestimmten Raum bezeichnet. Die apriorische Tiefe ist vollständig rand- und dimensionslos. Sie hat nur eine einzige, richtungslose Dimension: Die Tiefe.146 Sie wird als reine Tiefe empfunden, als grundloser Tiefenraum nach unten oder als grenzenlose Weite ohne Horizont. Im existentiellen Tiefenerlebnis weitet sich der äußere Raum ins unermesslich Weite, aber eben zu einer Weite als intensivste Nähe und Präsenz dieser grenzenlosen Ferne, und zugleich dehnt sich der innere Raum der Seele in einen abgründigen Schacht. Als „Tiefe“ bezeichnen wir die unbestimmte Ausdehnung einerseits nach hinten und andererseits nach unten. Hier ereignet sich die Tiefe in einem absoluten Sinn, als reine, völlige Nähe oder Ferne, als Geborgenheit oder „tiefste“ Verlassenheit. H. Schmitz hat eindrücklich die Vielzahl der Raumängste analysiert, die Weiteangst, die Sturzangst, die Dämmerungsangst.147 Die Tiefe in einem prädimensionalen Sinn ist die „unbestimmt und konturlos, gleich einer Flut, sich ausdehnende und den Leib in sich ziehende Weite“148. ————— 143 144 145 146 147 148

Ebd., 125. Gölz, Dasein und Raum, 176. Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, 299. Vgl. Bollnow, Mensch und Raum, 226–229. H. Schmitz, Der leibliche Raum, §123, 136–166. Ebd., 394.

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Etwas anderes ist die Tiefe als Dimension in den Tag-Raum hinein. Diese ist eine Halbdimension vom Ich aus und auf das Ich bezogen. „Vermutlich ist sogar umgekehrt das Tiefenerlebnis des Raumes ursprünglicher als das Ichbewusstsein: Erst auf dem Grunde des Hier-dort-Verhältnisses bildet sich vielleicht die Bedeutung von so etwas wie ‚Hier‘ allmählich heraus als eines Ortes, ‚wo ich bin‘.“149 Die Tiefe als Hier-nach-dort-Relation hat zwar kein quantitativ objektives Maß, aber die beiden, immer überlagerten Zustände von Nähe und Ferne. Die Entfernung ergibt sich aus dem Herholen und Beziehen auf mich, wodurch eine relative Quantisierung möglich ist, als näher da und weiter weg, d.h. als Vergleich von Entfernungen verschiedener Dinge in Bezug auf mich relativ zueinander. Interessant ist auch, dass das Tiefensehen phänomenologisch nicht als Sehen einer dritten Dimension zusätzlich zu Breite und Länge geschieht, sondern direkt als eine Dimension für sich. Merleau-Ponty erläutert das Tiefensehen am Beispiel des Parallelensehens. Ein Schienenpaar, das sich am Horizont berührt, sehen wir nicht als konvergierende Schienen, deren Parallelität wir dann aus dem Wissen rekonstruieren, sondern wir sehen parallele Schienen, allerdings nicht solche Parallelen, die auf einer Fläche vor uns mit metrisch äquidistantem Abstand breitenhaft aufgezeichnet wären, sondern als tiefenhafte Parallelen, als sich in die Tiefe hinein erstreckende Parallelen. Die Schienen „sind parallel in der Tiefe (parallèles en profondeur)“150. Die Tiefe ist keine dritte Dimension, sondern eine Dimension sui generis, sie ist eine „primordiale Tiefe (profondeur primordiale)“151. Das Tiefenerlebnis sowohl der prädimensionalen Tiefe des Nachtraums als auch der primordialen Raumdimension des Tagraums hat eine Rückwirkung auf das Ich. Im letzteren Fall ist die Rückwirkung nicht ganz so stark wie im apriorischen Fall, wo die Tiefe das Ich geradezu verschlingt, auslöscht oder in die Weite öffnet, aber immerhin vergleichbar: „Das SichÖffnen und Gegenübertreten eines Gegenstandsfeldes überhaupt stellt also nur die eine Seite eines Geschehens dar, in dem sich das ich zugleich auf die Welt hin öffnet. In diesem tiefenhaften Sichöffnen des Raumes öffnet sich zugleich das ich gleichsam in seine eigene Tiefe hinein.“152 Im Tiefenerleben gerate ich in den Raum hinein und der Raum in mich. Dass der Raum räumlich wird und ich räumlich bin, sind zwei Seiten derselben Sache. Räumlich sein heißt nicht bloß, im Raum an einer Stelle lokalisiert sein, sondern Raum gewinnen und Raum haben. Das „Raum-haben“153 ist ————— 149 150 151 152 153

Gölz, Dasein und Raum, 173. Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, 304, frz. 302. Ebd., 310, frz. 308. Gölz, Dasein und Raum, 190. Bollnow, Mensch und Raum, 281–283.

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etwas anderes, als in einem bestimmten und umgrenzten Raum oder im Raum an einer bestimmten Stelle verortet zu sein. Das Tiefenerleben bedeutet ein Verlassen und Transzendieren des Ortes in den Raum hinein, eine Selbstüberschreitung im gelebten Raum nach außen und nach innen. Es kommt zu einem, das Selbst transzendierenden und öffnenden Kopplungszustand von Selbst und Raum, zum Raum-haben. Das Raum-haben ist eine ursprünglichere Bestimmung des menschlichen Seins als das bloße im Raum sein. 2. Religionsphänomenologie der Tiefenerfahrung Die Tiefe ist die elementare religiöse Dimension des Raumes. Besonders im Erleben der reinen, prädimensionalen Tiefe offenbart sich die Unergründlichkeit, die unmittelbare Nähe und unerschöpfliche Potentialität der Raumtiefe. Daher wurde seit jeher die Tiefe mit dem unergründlichen Geheimnis identifiziert. Religionsphänomenologisch hat gerade die Tiefe den Charakter von Transzendenz, worauf besonders R. Otto und P. Tillich hingewiesen haben. „Wahres Wesen und Tiefe der Dinge fassen wir nicht, und die Welt, die wir fassen, ist nicht das wahre Wesen, sondern seine unzulängliche Erscheinung für uns. In Gefühl und Ahnung weist Erscheinung über sich auf das wahre Wesen hinaus.“154 Religiös wird die apriorische Tiefe als das seit Freud sog. ozeanische Gefühl oder als Abgrund erlebt. In der religiös-mythischen Raumerfahrung weitet sich die Tiefe ins Unendliche und das ozeanische Gefühl zur Präsenz des Unendlichen selbst. H. Timm zitiert bei seiner Beschreibung der religiösen Konnotationen der Dimension der Tiefe und des Abgrundes Novalis’ Gesang der Toten, ein Ausdruck des romantischen Tiefenerlebnisses: „Eine göttlich tiefe Trauer/Wohnt in unser aller Herzen, Löst uns auf in ‚eine‘ Flut./Und in dieser Flut ergießen/Wir uns auf geheime Weise/In den Ozean des Lebens/Tief in Gott hinein“155. Besonders Tillich hat versucht, die primordiale Tiefe mit Gott in Verbindung zu bringen. Gott ist bei ihm jener Grund, Abgrund, Urgrund der Wahrheit, der unterhalb der Oberfläche geistig vordergründigen Lebens angesiedelt ist. Die verlorene Tiefendimension wieder aufzuspüren, hält er für eine geistige Notwendigkeit. „Tiefenpsychologie kann uns auf dem Weg zu unserer Tiefe behilflich sein, aber sie kann uns nicht in einem letzten Sinn helfen, weil sie uns nicht zu dem tiefsten Grund unseres Wesens und allen Seins führen kann, zu der Tiefe des Lebens selbst. Der Name dieser ————— 154 R. Otto, Naturalistische und religiöse Weltansicht, 27. 155 Novalis, Gesang der Toten, zit. nach H. Timm, Das Weltquadrat, 112.

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unendlichen Tiefe und dieses unerschöpflichen Grundes alles Seins ist ‚Gott‘ […] Wer um die Tiefe weiß, der weiß um Gott“156. Im religiösen Tiefenerlebnis weitet sich der äußere Raum, aber auch der Raum nach innen hin und es entsteht – analog zum inneren Erleben der Zeit – ein innerer Tiefenraum157. In der Tiefe der Nacht offenbart sich das göttliche Geheimnis im Raum (Lk 2), aber auch in der dunklen Nacht der Seele (Johannes v. Kreuz), in der innersten Wohnung der Seelenburg (Teresa v. Avila).158 Doch ist das Tiefenerlebnis ambivalent. Schon das elementare, innere Spüren des Leibes vollzieht sich als Enge und Weite, als Angst und Freude, Verzweiflung und Zufriedenheit usw. „Enge und Weite bilden die Hauptdimensionen spürbarer Leiblichkeit; was es bedeutet, eng und weit zu sein, kann man nur am eigenen Leib oder in leiblicher Kommunikation spüren“159. Ebenso haben Nacht und Tiefe bergenden, aber auch verschlingenden Charakter. Das Erleben der äußersten Tiefe im tiefsten Innern hat sowohl göttliche als auch dämonische Dimension. Die geglaubte Allgegenwart Gottes in allen Dingen als das innerlichste Innerste, das Tiefste und der Grund des Seins ist nicht vom Phänomen selbst her offenbar. Grund verschwimmt leicht zum Abgrund, Tiefe zum Apeiron, Sein zum Nichts wie die elementische Dämonie der Wassertiefe in den Psalmen oder bei Nietzsche160, der „kopernikanisch-brunoische Schock“ vor den unendlichen Welten und die Weltangst bei Pascal und Spengler161 sowie der „ontologische Schock“ (Tillich) vor dem Nichtsein eindrücklich belegen.162

2.6 Die existentiellen und religiösen Schichten des gelebten Raums Die Phänomenologie des gelebten Raumes hat unsere anfangs nur heuristisch ausgesprochene Vermutung bestätigt, dass der gelebte Raum religiös nicht neutral ist, weil er nicht wertneutral ist. Er ist dies deshalb nicht, weil er durchweg mit sinnbeladenen Strukturen durchzogen ist. Kein Ort im gelebten Raum ist bedeutungslos für den Menschen, jede Struktur, jede Richtung hat seine existentielle Bedeutung. Metaphorisierungen und le————— 156 P. Tillich, In der Tiefe ist Wahrheit, 54f; ders., Die verlorene Dimension, 106. 157 Zur Tiefe und Weite des Gefühlsraumes vgl. H. Schmitz, Der Gefühlsraum, bes. 330– 341; ders., Der unerschöpfliche Gegenstand, 307–310. Alle inneren Gefühle, Stimmungen, Erregungen etc. „sind räumlich ausgedehnt“ (292). 158 J. v. Kreuz, Die dunkle Nacht; T. v. Avila, Die innere Burg. 159 Schmitz, Der unerschöpfliche Gegenstand, 277; ders., Der leibliche Raum, 136–145. 160 Vgl. Timm, Das Weltquadrat, Kap. III: Dimension der Tiefe – Wasser, 105–112. 161 Vgl. o. Einleitung.1, Anm. 25. 162 Tillich, ST I, 137.218 mit Bezug auf die „Grundfrage der Metaphysik“ seit Leibniz, Schelling und Heidegger: „Warum ist überhaupt Seiendes und nicht vielmehr Nichts?“ (Heidegger, Einführung in die Metaphysik, 1); weiterführend hierzu vgl. II.5.6.

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bensweltliche oder religiöse Deutungen der Raum-Struktur sind zwanglos möglich, weil sie vom Raum provoziert werden. Die Gegenden, Orte und Richtungen des gelebten Raumes sind mit Qualitäten verbunden, die man nur existentiell, ästhetisch oder religionsphänomenologisch, aber gewiss nicht mathematisch aufhellen kann. Die Raumstrukturen tragen vielerlei existentiell bedeutsame Kontingenzen und Transzendenzen, die auf religiöse Kontingenzen und Transzendenzen verweisen, deren wichtigste hier noch einmal genannt seien, ergänzt um einige bisher ungenannte Aspekte, für die kein eigener Abschnitt vorgesehen wurde. Im Unterschied zum homogenen und isotropen euklidischen Raum der Geometrie, der einen rein äußerlichen, vom Selbst des Menschen und sogar von den Dingen abgelösten, leeren – d.h. existentiell irrelevanten, sinn- und qualitätsentleerten – Raum darstellt, ist der gelebte Raum ein Existential: er ist die Räumlichkeit des Daseins selbst (Heidegger). Auf den gelebten Raum und seine Elementarstrukturen baut sich der orientierte Raum auf, der auf einen ausgezeichneten Mittelpunkt bezogen ist, welcher selbst kontingent ist und von dem sich aus die Strukturen entfalten. Das Zentrum ist das sowohl passive wie aktive leibliche Selbst, das mit seinem Raum ebenso erlebend verbunden wie erschließend auf ihn bezogen ist163. Das Selbst kam im Verhältnis zum Raum zunächst als gänzlich passives, dann mehr und mehr aktives, den Raum durch den Leib strukturierendes, perspektivisches Zentrum in den Blick. Der gelebte Raum hat dementsprechend mehrere Schichten, die mit je anderen Erkenntnishaltungen, Einstellungen und Handlungsweisen des Selbst verknüpft sind. 1. Die passive Schicht: Auf der ersten, elementarsten Stufe ist der Raum das Worin des menschlichen Daseins. Dies Worin ist mit einer elementaren Orientierung nach unten und oben verbunden. Dieses In-Sein ist nicht explizit oder gar intentional als In-einem-Raum-sein bewusst, sondern als Um-Raum in präreflexivem, unbewusstem Innesein unthematisch gegenwärtig. Für das Dasein ist dieser elementare Raum aber höchst fundamental. Der gelebte Raum bildet das Fundament, den Erlebnishintergrund und Horizont der ganzen leibhaften Existenz „Erst bezogen auf menschliches Dasein ist der Raum Horizont, Hintergrund, Fundament der Existenz.“164. Der ————— 163 Bei E. Joos’ Behandlung von „Raum und Leib“ (Raum, 60–78) wird unterschlagen, dass sich der Raum nicht erst durch das intentional-handelnde Orientieren erschließt, sondern der orientierte vom widerfahrenden gelebten Raum fundiert wird. Daher können dort nur die anthropologisch und sozialen, mit dem aktiven Leib verbundenen Raumbezüge aufgezeigt werden, während die unterschwelligen Kontingenzen und Transzendenzbezüge unterschlagen werden, so dass die religiösen Metaphorisierungen und Bezugnahmen auf den gelebten Raum gar nicht in den Blick kommen können. 164 Gölz, Dasein und Raum, 216.

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gelebte Raum ist außer mit einer elementaren Orientierung mit einer Färbung, Stimmung und Tönung verbunden, die für das Dasein nicht akzidentiell, sondern wesentlich, d.h. konstitutiv für sein Sein ist. Die Gestimmtheit bildet mit dem Selbst eine Sinneinheit, sie ist als Erlebnishintergrund immer mit da, macht den Raum zu einem Raum für mich. Der gelebte Raum erst konstituiert das Selbst als Selbst, d.h. als selbstbezügliche und leibhafte Person, indem er die Basis und Grundierung für das aktive Orientieren, Strukturieren und Handeln im Raum legt. Analog kann dazu theologisch Gott als Fundament und Grund, als Hintergrund und Horizont der geschöpflichen und glaubenden Existenz des Menschen angesprochen werden. Gott ist für den Gläubigen das immer mitlaufende, ihm nicht durchweg bewusste, aber unthematisch gegenwärtige Fundament und Hintergrund seines Lebens, er ist ihm, vermittelt durch bewusste und unbewusste Glaubensvollzüge, in Gesamteinstellung, Haltung, Gerichtetheit und Zumutesein gegenwärtig. Gott bewirkt dem Menschen durch den Glauben eine Art Färbung des Gesamtlebens, was zum Empfinden von Gottesnähe, von Gehalten- und Orientiertsein führt. So formuliert exemplarisch Heinz Zahrnt als sein persönliches Gottesbekenntnis: „Den Kernpunkt meiner Gotteserfahrung bildet das Vertrauen auf einen verlässlichen Lebensgrund.“ „Gott“ ist ihm „der Name dafür, dass das Ja vor dem Nein in der Welt ist, und dass das Ja mächtiger ist als alles Nein; ‚Gott‘ ist der Grund dafür, dass ich Vertrauen habe, obwohl ich mir selbst nicht trauen kann; ‚Gott‘ repräsentiert das ‚Mehr‘, das ich selbst nicht zu leisten vermag, das mir aber erstaunlicherweise ‚zugefügt‘ wird und das mich mein Leben ertragen, bisweilen sogar gelingen lässt. […] Weil Gott ist, kann ich bleiben.“ Das Bewusstsein von Gottes Allgegenwart schenke ihm „Geborgenheit und Vertrauen. […] Sie umgibt mich von allen Seiten wie ein Zelt, in dem ich wohne.“165

Diese Aussage hätte gar keinen spürbaren Sinn, wenn man sie in den geometrischen Raum einschreiben sollte. Nur mit Bezug auf den gelebten Raum handelt es sich um eine nachvollziehbare, beziehbare und damit glaubhafte Aussage. Sie versteht sich allerdings nicht von selbst und folgt nicht stringent aus dem gelebten Raum überhaupt, sondern nur insofern er als Fundament des Daseins gelten kann. Wie wir gesehen haben, ist aber diese Fundierungsqualität für das menschliche Leben immer latent gefährdet, wie die pathologischen Schwindel- und Fallerfahrungen zeigen. Durch den gelebten Raum schimmert daher auch der konträre Erfahrungsgehalt einer negativen Raumpräsenz Gottes durch, nämlich der Erfahrung seiner Abwesenheit, die sich in einem Verlassen- und Verlorensein des Menschen äußern kann. Wie der gelebte Raum hat die Gestimmtheit, mit dem die Anbzw. Abwesenheit Gottes das Leben durchstimmen kann, zwei Polaritäten, ————— 165 H. Zahrnt, Mutmaßungen über Gott, 106.108.114.

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die einem geordneten bzw. einem ins Wanken geratenen Raumgefüge, einem Grund respektive einem „schwarzen“ Abgrund entsprechen. Nähe und Ferne Gottes entsprechen der leiblichen Erfahrung von Kosmos vs. Chaos, d.h. dem lichten bzw. dem nachtschwarz gestimmten Raum. Daraus ergibt sich, da man Gott an sich nicht gleichermaßen als Licht wie als Nacht symbolisieren kann, dass es sich beim durchstimmten Raum nicht um einen gegenständlichen, sondern um einen ungegenständlichen und rein phänomenalen Raum handelt. Gott ist hier nicht an sich, sondern als An- bzw. als Abwesender präsent, wie auch der gelebte Raum als Fundament das Dasein nicht gegenständlich, sondern ungegenständlich fundiert und stimmt. Wie der gelebte Raum, so ist auch Gott das Worin des endlich-geschöpflichen Daseins, das mit diesem, wie Schleiermacher richtig sagt, mitgesetzt ist. Lebensgewissheit und daseinsbestimmendes Vertrauen gründet sich für den Christen, wie H. Zahrnt formuliert, auf „Gottes Ja“, den „verlässlichen Grund meines Lebens und meines Vertrauens. […] Die Gnade des Seindürfens ist die Ursache dafür, dass der Grund der Welt verlässlich ist und darum ‚guter Grund‘ zum Vertrauen besteht.“166 Gottvertrauen wird nicht schon aus dem Innesein des gelebten Raumes als das Dasein fundierendem Grund gewonnen, aber es wird durch dieses vermittelt, bestärkt, erschlossen. Die Vergewisserung meiner Existenz in der Welt von Gott her als dem verlässlichen Grund meines Lebens bliebe leer, wenn sie nicht durch Welterfahrungen gestützt werden könnte, das Erschlossensein des gelebten Raumes als daseinstragendem Grund jedoch wäre überfordert, wenn es nicht noch einmal in der Tiefe fundiert, getragen und erschlossen sein könnte von einem allumfassenden Grund des Seins, für den im Glauben der Name „Gott“ steht. 2. Die aktive Schicht: Auf der nächsten Stufe in der geschachtelten Hierarchie der Schichten des gelebten Raumes tritt zur Passivität des Selbst die Aktivität des Leibes, welcher den Raum von sich aus zentriert, strukturiert und erschließt. Die Dimensionen und Ordnungen, die bei diesen Orientierungsvorgängen auftreten, sind von zahlreichen Transzendenzen durchsetzt, d.h. der Raum ist immer mehr und weiter und anderes, als was von ihm bereits erschlossen ist. Zu nennen ist hier v.a. noch einmal die Tiefe, die sowohl für die Abgründigkeit und Fragilität der Existenz wie für die unbegrenzte Weite des Lebensraumes steht. Sowohl die prädimensionale wie die weiteräumliche Tiefe sind unergründlich und unerschöpfbar. Darin beruht die Transzendenz und Unendlichkeit des gelebten Raumes. Der Raum ist mit der Tiefe als der eigentlichen Raumdimension freier Raum, Spielraum, aber auch uferlose Weite. Die Tiefe und Ferne des Raums sind uneinholbar, ————— 166 Zahrnt, 104.

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sie transzendieren jede mögliche und jede konkrete Raumerfahrung. Die Tiefe ist darin, dass sie unbestimmt ist, ein jenseitiger Raum im Dort, fern vom Hier. Sie ist auch die zeitliche Dimension des Raumes, weil sie mit ihrer Unbestimmtheit und Unerreichbarkeit die Zeitdimension der Zukunft im Raum abbildet. Aber bezogen auf das Hier ist es die Gegenwärtigkeit der unbestimmten Zukunft. Mit der Tiefe „dringt die Transzendenz des Fernen in meine Gegenwart selbst ein“167. Ebenso bin ich „durch mein Wahrnehmungsfeld mit seinen räumlichen Horizonten […] bei meiner Umgebung anwesend, koexistiere ich mit allen anderen, über diese hinaus sich erstreckenden Gegenden, und diese sämtlichen Perspektiven in eins und zusammen bilden eine einzige Zeitwelle, einen Weltaugenblick“168. Die Tiefendimension bewirkt, was für die innere Zeitwahrnehmung die „Ausgespanntheit der Seele“ (distentio animi), wie Augustin sagt, bewirkt: den Zusammenhalt von Gegenwart und Zukunft in der Gegenwart. Die Tiefe schließt hier und dort zusammen, indem das Dort ein Dort für das Hier und das Hier ein auf das Dort bezogenes Hier ist. Dieser Zusammenschlusscharakter der Tiefen- resp. Zukunftsdimension steht christlich für Gott als die Zukunft schlechthin, der mir und allen Kreaturen Lebensraum nach vorne eröffnet, mich auf „weiten Raum“ stellt, Leben und Zukunft schenkt. Diese Zukunft ist zwar offen, aber nicht haltlos, weil sie sich nach und nach erschließt, so dass ich sozusagen mit meiner Zukunft zusammengeschlossen bin im Vertrauen darauf, dass da einer ist, der die möglichen Zukunftshorizonte noch einmal umgreift und zusammenhält. Der Horizont ist eine weitere Transzendenzdimension des Tiefenraumes. Phänomenologisch umfasst der Horizont nach Husserl die Gesamtheit der unbeachteten Dinge, also das „klar oder dunkel, deutlich oder undeutlich Mitgegenwärtige, das einen beständigen Umring des aktuellen Wahrnehmungsfeldes ausmacht“. Er garantiert, dass die Welt sich nicht erschöpft, sondern „in einer festen Seinsordnung ins Unbegrenzte“ reicht. Das aktuell Wahrgenommene ist immer „teils durchsetzt, teils umgeben von einem dunkel bewussten Horizont unbestimmter Wirklichkeit.“169 Anders gesagt: „Der Raum ist horizonthaft in bezug auf ein Wesen, für das die Welt unergründlich ist, dem nie das All des Seienden, sondern immer nur ein Beschränktes aus der Verborgenheit heraus gegenübertritt. Der Horizont ist eben jenes Medium des Unergründlichen, das hervortreten lässt und verbirgt. Es ist die unbestimmte Grenze der menschlichen Welt als der Welt eines endlichen Wesen.“170 ————— 167 168 169 170

Merleau-Ponty, Phänomenologieder Wahrnehmung, 382. Ebd. Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie I, 57. Gölz, Dasein und Raum, 224.

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Gott ist, religiös betrachtet, das unergründliche Geheimnis, aus dem alles hervortritt, was in der Welt zur Erscheinung kommt. Gott ist im Glauben der „beständige Umring“ für alles, was ist und geschieht; er ist der Garant, dass die Welt sich nicht erschöpft, sondern eine feste Seinsordnung bis ins Unbegrenzte reicht. Er ist, theologisch gesagt, der Schöpfer und Erhalter und also der (ungegenständliche!) Horizont aller Dinge und Ereignisse, der Seins-Horizont der endlichen Welt. Inwiefern außer der menschlichräumlichen Existenz auch die Dinge und Ereignisse auf Gott bezogen sind und er auf sie, wird noch eigens zu bedenken sein. Hier ist nun zu bemerken: Der Bezug der Raumtranszendenzen auf die Glaubensgehalte ist nicht eindeutig, weil die Raumerfahrungen, gerade auch die unbewusst-ungegenständlichen vieldeutig sind. Zwar kann man am gelebten Raum ansetzend Gott im beschriebenen Sinn als Grund (Woher: Schöpfer), Horizont (Worin: Erhalter) und als Sinn (Wohin: Erlöser) des endlichen menschlichen Lebens ansprechen, doch ergibt sich dies nicht schon aus den Phänomenen selbst. Grund verschwimmt leicht zu Abgrund, Weiteraum schafft Freiheit, aber auch Angst. Die Unergründlichkeit und Tiefenhaftigkeit des Raumes kann ebenso das unergründliche Geheimnis Gottes in der Welt wie seine abgründige Abwesenheit symbolisieren. Damit der gelebte Raum auf Gott hin durchsichtig wird, ist daher eine deutende Erschließung durch Symbolisierung nötig. Die vieldeutigen Phänomene müssen auf einen Kontext bezogen, in einen Zusammenhang mit Glaubenstradition und -sprache gestellt werden. Kurz: Die räumlichen Transzendenzen erfordern zur Vereindeutigung ihrer religiös- metaphorischen Ausdeutung ihre Erschließung von dem her, was in ihnen erschlossen sein soll, sie erfordern, theologisch gesagt, Offenbarung, in welcher Weise die Unbestimmtheit des jenseitigen Raumes zu interpretieren ist. Andernfalls kann die Transzendenz des Raumes vieles bedeuten, wie in Heideggers schöner Meditation über den Feldweg, dessen „Zuspruch“ einen Sinn erweckt, der „überspringt in eine letzte Heiterkeit“, ein „Tor zum Ewigen“ ist. Aber der Zuspruch, obwohl „ganz deutlich“, hat keinen eindeutigen Sprecher: „Spricht die Seele? Spricht die Welt? Spricht Gott?“171 Daran wird, wie eben schon am Raum als Grund und Worin aufgezeigt, deutlich, dass die räumlichen Transzendenzen nicht eo ipso für Gott selbst stehen und die räumlichen Kontingenzen nicht interpretationsfrei als durch Gott erfahren und erschlossen werden können. Ein religiöses Apriori auf Gott hin oder ein zweifelsfreies Erschließen der Wirklichkeit Gottes aus den Raumtranszendenzen ist, wegen ihrer Mehrdeutigkeit, nicht möglich, wenngleich die Transzendenzen und Kontingenzen des Raumes die in der Welt präsente Transzendenz Gottes sowie „Gott“ als Letztinstanz für Kontingenz ————— 171 M. Heidegger, Der Feldweg, 5–7.

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Gelebter Raum und religiöse Dimensionen

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vermitteln können. Sie können dies aber nur im Kontext eines vollen religiösen Symbolsystems, d.h. innerhalb eine bestimmten mythischen Weltanschauung oder, christlich, innerhalb des Glaubens an den dreieinigen Gott. 3. Die reflexive Schicht: Darum ist auf der dritten, reflexiven Schicht des gelebten Raumes (nach der ungegenständlich-präreflexiven und der mittels des Leibes erschlossenen nun begrifflich konzeptualisierten) nicht mehr ein direkter Raumbezug Gottes, sondern nur noch eine Analogie der begrifflichen Strukturen möglich. Die Orientierung im Raum, das Strukturieren und Symbolisieren der Raumrichtungen, steht in Analogie zur Orientierung im Leben, im Denken und im Glauben. Es tauchen vergleichbare oder sogar identische Strukturen bei völliger Verschiedenheit der repräsentierten Sachverhalte auf. Gemeinsam ist, dass räumliche Gegenstände wie Reflexionsobjekte, Begriffe oder Glaubensinhalte in einem Verhältnis zu anderen stehen, immer in Perspektiven und Horizonten in Erscheinung treten und immer auf jemand oder eine Gruppe und deren Sprachspiel bezogen sind, so dass sie als dieses für jemand in bestimmter Weise kontextualisiert, interpretiert und verstanden werden können. Gemeinsam ist auch, dass jede objektive Orientierung sich an subjektiven Prinzipien ausrichten muss und dass es keine perspektiven- oder horizontfreie Orientierung gibt, weder im Leben, noch im Denken oder im Glauben.172 „Gott“ erscheint auf dieser reflexiven Stufe nicht als Element des gelebten Raumes selbst (als Worin oder Woher oder Wohin), sondern als reflexiv gebildeter Begriff einer letzten, von der Welt unterschiedenen Instanz, auf die alles, was ist, bezogen ist, und von dem her es seinen ‚Ort‘ und Sinn erhält. Die Lokalisierung Gottes geschieht solcherart innerhalb eines gemeinsamen, Gott und Mensch übergreifenden Identifikationssystems, dem Glauben an den dreieinigen Gott als Schöpfer, Versöhner und Vollender, innerhalb dem alles in einer Perspektive coram Deo betrachtet werden kann. Diese Perspektive ist umfassend im Symbolsystem des Glaubens theoretisiert, aber realisiert stets in einer konkreten pragmatischen Situation. Wer den Ausdruck „Gott“ gebraucht, loziert sich coram Deo und stellt damit sich im religiösen Gebrauch in die Gegenwart Gottes, von der er spricht. Er gebraucht damit Gott als konkreten, tatsächlichen Horizont seines Lebens, wobei jedoch „Horizont“ jetzt metaphorisch steht und nicht in direktem Bezug zu anschauungsräumlichen Relationen. Inwiefern diese Lozierung auch (anschauungs)räumlichen Charakter hat oder haben kann, ob und wo Gott und Gottes Gegenwart bei solcher Lozierung auch direkt und unmittelbar im Raum erfahren werden kann, ob und wie mithin von einer Erfahrung Gottes im Raum geredet werden kann, soll im nächsten Kapitel II.3. Gegenstand der Untersuchung sein. ————— 172 Vgl. Dalferth, Die Wirklichkeit des Möglichen, 127–133.

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Kapitel 3: Der gestimmte Raum und die göttlichen Atmosphären

Nach der Beantwortung der Frage, ob Gott im Raum erfahren werden kann (3.1), wird das Konzept der Atmosphären entwickelt (3.3), um den Raum phänomenologisch zu beschreiben, in dem Gott erfahren wird (3.4). Die Frage, ob es Gott ist, der so im Raum erfahren wird, wird vom Problem des Personbegriffs (3.5) und dem Verhältnis von Person und Atmosphäre behandelt (3.6). Die Raumpräsenz Gottes wird präzise als konkret-personale Atmosphäre bestimmt.

3.1 Räumliche Gotteserfahrung? 1. Der erkenntnistheoretische Einwand: „Niemand hat Gott je gesehen“ (Joh 1,18). Dieser Satz des Johannesevangeliums konstatiert nicht bloß den empirischen Tatbestand, dass faktisch noch nie ein Mensch Gott (in Raum und Zeit per optischer Wahrnehmung) gesehen hat, weil eben Gott kein räumlich sichtbarer Gegenstand ist. Es ist ein theologisch prinzipieller Satz mit zugleich erkenntnistheoretischen Implikationen. Gott kann der Mensch nicht von sich aus sehen, weil Gott dem Menschen und dem menschlichen Sinnes- und Erkenntnisvermögen entzogen ist. Die Entzogenheit Gottes besteht in seiner Unverfügbarkeit, die noch anderes meint als die bloße optische Unsichtbarkeit (1.Tim 1,17). Dass Gott nicht in Raum und Zeit gesichtet, verortet und behaftet werden kann, ist Ausdruck, aber nicht Grund für Gottes Unsichtbarkeit. Nicht hauptsächlich deswegen, weil Gott kein Gegenstand raumzeitlicher Erfahrung ist, kann Gott nicht gesehen werden, sondern weil er prinzipiell dem menschlichen Wahrnehmungs- und Erkenntnisvermögen entzogen ist. Die neuplatonisch-christliche Tradition hat für Gott weniger die alttestamentliche Metapher des (Wolken)dunkels (1.Kö 8,12) als vielmehr des überlichten Lichtes (Dionysius Areopagita) gewählt (s.o. I.4./II.2.3). Das Licht der Majestät Gottes, der ihn umkleidende Lichtglanz (Ps 104,2; 1.Joh 1,5; Jak 1,17), ist von so unnahbarer, unantastbarer und unvergänglicher Glorie, dass es den Menschen, mehr noch als der Blick in die Sonne, mit Blindheit schlägt, wenn nicht vernichtet (Ex 33,20). Die erkenntnistheoretische Differenz gründet nach biblischer Meinung in einer ontologischen Differenz zwischen dem homo peccator und dem Deus iustus. Diese Differenz wird in der iustificatio sola fide von Gott

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Gestimmter Raum und göttliche Atmosphären

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her überwunden. Die iustificatio und Neuschöpfung des alten zum neuen Menschen eröffnet die Erkenntnis der Herrlichkeit Gottes auf dem Angesicht des gekreuzigten Christus (2.Kor 4,6). Dass Gott nicht gesehen werden kann, bedeutet dann nicht, dass er nicht erfahren werden könnte. Von „Gotteserfahrung“ kann allerdings dann nicht sinnvoll die Rede sein, wenn man „erfahren“, wie in der klassischen Erkenntnistheorie von Locke über Kant bis Husserl, nach dem Modell des aktiven Sehens versteht.1 Diese an der Optik entwickelte Wahrnehmungstheorie erfordert ein aktives Subjekt, dem als Gegenstände die natürlichen, in einer Kausalrelation untereinander stehenden Dinge, in seinem Bewusstsein abbildlich gegeben sind. Dies impliziert eine bestimmte Gegenstandsart des Gesehenen, nämlich die raumzeitliche Gegenständlichkeit, bei der der raumzeitliche Abstand des Subjekts vom Objekt Voraussetzung dafür ist, das Objekt als Objekt zu vergegenständlichen, d.h. das im optischen Apparat vorhandene Wahrnehmungsbild mit einem Begriff oder sogar einem Urteil zu versehen und so mit dem Gegebensein der äußeren Objekte in Gestalt der „ideas“ die gnoseologische Distanz mit der optischen zu überwinden. Die Erfahrung Gottes resultiert aber nicht aus Überwindung räumlicher Distanz, sondern aus Erschließung eines Schon-da am dafür passiven Subjekt. Die biblische Tradition wählte für das Erfahren Gottes metaphorisch das Ohr, dass sogar noch von Gott geöffnet werden muss, damit der Mensch Gott im Wort vernehmen kann (Jes 50,4f; Röm 10,17). Gotteserfahrung ist ein Widerfahrnis, dessen Subjekt streng genommen Gott selbst ist als der in uns wirkende und als Gottes Stimme sprechende Heilige Geist. Gotteserfahrung ist, kurzgesagt, Offenbarung, verstanden nicht als übernatürliche Mitteilung übervernünftiger Wahrheiten über Gott, auch nicht einfach als kommunikative Selbstmitteilung – weder das instruktionstheoretische noch das kommunikationstheoretische Paradigma sind für die Beschreibung von Erfahrung als Offenbarung zureichend2 – sondern präzise als Sich-Erschließen Gottes am Ort des Menschen, wodurch zugleich die Existenz des Menschen neu konstituiert wird. Gott ist der Urheber, der Inhalt und der Vorgang der Offenbarung. Das Geschehen der Offenbarung gehört mit in ihren Gehalt hinein. Solche Selbsterschließung Gottes ist Gotteserfahrung als Offenbarung oder Offenbarung als Erfahrung.3 Die fundamentale Transzendenz Gottes gegen jegliche menschliche Erfahrung, ————— 1 Zum philosophischen Erfahrungsbegriff vgl. F. Kambartel, Art. Erfahrung, HWPh; E. Herms, Art. Erfahrung II, TRE. 2 Zu den verschiedenen offenbarungstheologischen Paradigmen vgl. P. Schmidt-Leukel, Fundamentaltheologie, 142ff. 3 Zu dieser wechselseitigen Auslegung von Offenbarung und Erfahrung vgl. E. Herms, Offenbarung und Erfahrung; C. Schwöbel, Offenbarung und Erfahrung – Glaube und Lebenserfahrung.

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dass also Gott dem Menschen schlechthin entzogen ist, wird überwunden, indem Gott sich selbst dem Menschen im Glauben bekannt macht. Offenbarung ist das Erschlossensein Gottes aufgrund seiner Selbsterschließung. So wird durch Offenbarung Gott als Gott erfahren. Die Rede von Gotteserfahrung ist legitim, weil und wenn sie als Selbsterschließung Gottes am und für den Menschen verstanden wird. Sie ist dann – aufgrund des miterfolgten Erschlossenseins der eigenen Existenz als einer passiv konstituierten und sinnhaft ausgerichteten – als Gotteserfahrung eine Erfahrung des Menschen und so tatsächlich raumzeitlich-leibhafte Erfahrung. Gotteserfahrung kann in diesem Sinne als bestimmte religiöse Erfahrung beschrieben werden, die mit J. Track (mindestens) diese vier Charakteristika hat:4 Gotteserfahrung gehört 1. zur Klasse der unmittelbaren Erfahrungen, womit nicht eine mystische oder idealistische Unmittelbarkeit gemeint ist, sondern im Unterschied zur „objektiven“ Wahrnehmung von Gegenständen mir gegenüber, eine Wahrnehmungserfahrung an mir und durch mich, die im Moment des Erlebens nur mir und nicht gleichermaßen auch anderen erschlossen ist. Sie ist 2. eine Erschließungserfahrung, bei der mitten in der Lebenspraxis ein „neues Licht“ auf die Situation fällt. Das Gegebene wird, indem sich eine neue, grundlegende Sicht der Wirklichkeit eröffnet, mit neuem Sinn versehen, Einsicht entsteht und ein Zusammenhang wird verstehbar. Gotteserfahrungen haben 3. Widerfahrnischarakter. Sie sind nicht verfügbar oder erzwingbar. Und Gotteserfahrungen erfordern 4. die Kompetenz ihrer Interpretation. Sie ereignen sich als unmittelbare Erfahrung einer bestimmenden Macht, die verpflichtend in Erscheinung tritt und deren Anspruch und Bedeutung für das eigene Leben in Kategorien personaler Begegnung interpretiert und angeeignet werden muss. M. Zeindler hat an Tracks Charakterisierung von religiöser Erfahrung kritisiert, dass sie weder hinreichend noch notwendig für religiöse Erfahrung ist:5 nicht hinreichend, weil auch andere Erfahrungen wie die von Liebe oder Schmerz diese vier Eigenschaften haben, und nicht notwendig, weil nicht jede religiöse Erfahrung genau diese vier Eigenschaften hat. Dieser Einwand ist zwar richtig, aber unberechtigt. Er macht vielmehr klar, dass die Gotteserfahrung wie alle religiösen Erfahrungen nichts anderes als Erfahrungen sind, also sich nur dem Gehalt, aber nicht der Struktur nach von Erfahrung allgemein unterscheiden, und dass Gotteserfahrungen wie alle religiösen Erfahrungen nicht selbstevident sind und nicht anhand ihrer Kennzeichen schon besagen, was sie besagen, sondern des Erschlossenseins als Gotteserfahrung für jemand bedürfen.

2. Der Erfahrungsbegriff: Gotteserfahrung hat mit Erfahrung allgemein gemeinsam – wir brauchen für unsere Zwecke nicht verschiedene Ebenen oder Teilmomente von Erfahrung unterscheiden, sondern können den Gesamtprozess, der von in sinnlicher Wahrnehmung und empfindendem Erleben Gegebenem durch Vertraut-werden und deutender Aneignung zu Le————— 4 Vgl. J. Track, Sprachkritische Untersuchungen zum christlichen Reden von Gott, 283f; ders., Erfahrung Gottes – Versuch einer Annäherung, 6f. 5 M. Zeindler, Gotteserfahrung in der christlichen Gemeinde, 68.

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bensklugheit und sinnhafter Disposition von Handlungsoptionen führt, zusammennehmen –, dass Erfahrung sich mindestens durch sinnlich-leibliche Fundiertheit, durch Wirklichkeitsbezug, Raumzeitlichkeit, Jemeinigkeit und Inkarnation ins Lebensganze auszeichnet.6 Erfahrung, so kann man definieren, ist „Aneignung von in Wahrnehmung […] begegnendem Wirklichem durch Symbolisierung im Rahmen einer sozial vermittelten Interpretationsperspektive“7 und ebendies triff auch auf Gotteserfahrung zu, die man als Erschlossensein der Wirklichkeit Gottes an mir und für mich durch den Glauben als einer neuen Lebensperspektive bestimmen kann. Gotteserfahrung ist eine solche Erfahrung, die sich am Ort und im Leben des leibhaften Menschen ereignet und ihm neue Sichtweisen und Perspektiven coram Deo eröffnet. Gotteserfahrung ist in diesem Sinn, mit dem vielzitierten, aber weder selbstevidenten noch eindeutigen Wort von E. Jüngel gesagt, eine „Erfahrung mit der Erfahrung“8. Es ist allerdings nicht unumstritten, ob man überhaupt sinnvoll von Gotteserfahrung sprechen kann. W.J. Hoye hat dies dezidiert verneint und dafür explizit theologische, im Begriff und der Wirklichkeit Gottes liegende Gründe aufgeboten. „Gotteserfahrung“, so die These, „gibt es im gegenwärtigen Leben nicht, sondern ausschließlich in der eschatologischen Existenzweise des ewigen Lebens.“9 In Aufnahme des positivistischen Erfahrungsbegriffs unterscheidet er die Erfahrung von Wirklichem vom Wirklichen selbst. Erfahren werden kann nur Wirkliches, nicht die Wirklichkeit selbst. Gott aber stellt nicht etwas Wirkliches dar, zeigt sich auch nicht als oder in Wirklichem, sondern ist Inbegriff der Wirklichkeit überhaupt. „Gott verhält sich nicht wie der Gärtner der Welt, der in dem Wie-sein der Welt sich kundgibt, sondern auf ihn verweist das Wirklich-sein der Welt überhaupt.“10 Gott offenbart sich für Hoye, mit Wittgenstein gesagt, nicht in der Welt,11 denn Gott ist kein Teil der Welt, sondern „der Grund der Wirklichkeit bzw. die Wirklichkeit selbst“. Daher ist Gott „weder konkret noch abstrakt“, er gehört weder zu den Gegenständen noch zu den Begriffen möglicher Erfahrung. Daher gibt es in diesem Leben keine Gotteserfahrung, sondern „nur das Verlangen nach Gotteserfahrung, vielmehr ist das Leben solches Verlangen“. Gotteserfahrung als der Erfahrung der Wirklichkeit selbst, die Gott nicht hat, sondern ist, kann man nur eschatologisch erhoffen. „Gotteserfahrung ist ewiges Leben“12 und „Gotteserfahrung in der Geschichte weder möglich noch denkbar“13. Sie ist keine Möglichkeit für den Menschen, sondern „ein göttliches Prärogativ“14.

————— 6 Vgl. G. Haeffner, Erfahrung – Lebenserfahrung – religiöse Erfahrung. Versuch einer Begriffsklärung; Zeindler, 74f. 7 Zeindler, Gotteserfahrung in der christlichen Gemeinde, 63. 8 E. Jüngel, Gott als Geheimnis der Welt, XIII.40f.137.225.381.517. 9 W. Hoye, Gotteserfahrung? Klärung eines Grundbegriffs der gegenwärtigen Theologie, 21. 10 Ebd., 64. 11 L. Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, Satz 6.432, 114. 12 Hoye, Gotteserfahrung, 21. 13 Ebd., 248. 14 Ebd., 250.

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Abgesehen davon, dass der hier unterstellte Weltbegriff zu eng ist und Gott, weil Welt bloß positivistisch als alles, was der Fall ist, als Menge der Tatsachen bestimmt wird, aus der Welt ausschließt, so dass er, wenn er nicht in der Welt erscheinen kann, auch nicht in der Welt erfahren werden kann, ist auch der unterstellte Erfahrungsbegriff zu eng, weil er Erfahrung auf die Erfahrung des Gegenständlichen beschränkt.

Aber daraus dass Gott kein Seiendes unter Seiendem ist, sondern der Grund der Wirklichkeit oder, wie Tillich ganz analog sagt, „das Sein-selbst“ oder die „Tiefe des Seins“15, folgt noch nicht, dass er nicht erfahren werden kann. Gegen die Bestreitung sowohl der Möglichkeit wie der Denkbarkeit von Gotteserfahrung spricht am direktesten, dass Menschen ihrem eigenen religiösen Selbstverständnis nach der festen Gewissheit sind und waren, Gott erfahren zu haben, und die solche Gewissheit zugleich fundierende und hervorrufende Erfahrung als ein Widerfahren der Wirklichkeit Gottes im eigenen Leben gedeutet haben. Die in Hoyes und analoger Argumentation „zum Ausdruck kommende theologische These, Gott sei kein Erfahrungsgegenstand unter anderen, kein Seiendes unter anderem Seienden, ist freilich nur die halbe Wahrheit. Mindestens ebenso nachdrücklich ist zu betonen, dass Gott, obschon nicht Erfahrungsgegenstand in Raum und Zeit, dennoch nach dem Selbstverständnis des christlichen Glaubens von Menschen in Raum und Zeit erfahren wurde und immer wieder erfahren wird.“16 3. Transzendentale Erfahrung? Mit der bloßen Behauptung ist jedoch die Möglichkeit von Gotteserfahrung im Raum noch nicht zureichend begründet. Zumeist hat man nämlich, in der Tradition der Kantschen Erkenntniskritik stehend, auch dann, wenn man Gotteserfahrung für möglich gehalten hat, diese als Raumerfahrung verneint und statt dessen als transzendentale Erfahrung oder „Transzendentale (Mit-)Erfahrung Gottes“17 interpretiert. Wenn „von direkter, unmittelbarer Gotteserfahrung nicht die Rede sein kann“, dann vielleicht, so Jörg Splett, in transzendentalphilosophischem „Rück-Überstieg“18? In jeder Erfahrung werde unthematisch ein Absolutes, Unbedingtes miterfahren, dessen Miterfahren-Sein in der transzendentalen Analyse explizit gemacht werden kann. In jeder Erfahrung von Realem, von Seiendem, Dingen, Menschen oder Relationen werde deren „(Ab-)Grund […] miterfahren: die ‚Tiefe der Welt‘“. In jeder Erfahrung sei als Horizont oder Bezugsfeld des Erfahrenen in symbolischer Repräsentation oder Partizipation das letzte Woher und Warum mitpräsent.19 ————— 15 S.o. Einleitung.4/II.2.5. 16 I. Dalferth, Gott. Philosophisch-theologische Denkversuche, 24. 17 J. Splett, Gotteserfahrung im Denken. Zur philosophischen Rechtfertigung des Redens von Gott, 29. 18 Ebd., 30. 19 Ebd., 31f.

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Besonders K. Rahner hat die These vom transzendentalen Miterfahren als Transzendenzerfahrung des Absoluten vertreten. Seine vielfach diskutierte und rezipierte Begründung eines religiösen Apriori kann hier nur in wenigen Sätzen sehr verkürzt resümmiert werden. Weil „der Mensch das Wesen der Transzendenz“20 ist, steht er, obwohl selbst endlich, immer schon in einem unendlichen Horizont. Daraus resultiert die Möglichkeit der Entschränkung seiner Erkenntnismöglichkeiten und all seine Erfahrung hat eine sich selbst überschreitende Struktur. Der Mensch ist a priori geöffnet für das Ganze der Wirklichkeit. Diese Erfahrung, die das mögliche Sich-selbst-überschreiten erkennt, heißt „transzendentale Erfahrung“ und ist zugleich „Erfahrung von Transzendenz“21, weil durch die Struktur von Erfahrung jede Erfahrung eines Endlichen, Einzelnen die Endlichkeit schon überschritten ist auf das unendliche Ganze hin. In jeder Erfahrung von Endlichkeit, in der der Mensch auch seine eigene Endlichkeit radikal miterfährt, hat er ein unthematisches Wissen von Gott als dem Woraufhin der eigenen Transzendenz. Jeder Erfahrung, jede Erkenntnis vollzieht sich „im Vorgriff auf das ‚Sein‘ überhaupt, in einem unthematischen, aber unausweichlichen Wissen um die Unendlichkeit der Wirklichkeit“22.

Die Gotteserfahrung ist bei Rahner in der transzendentalen Konstitution des Menschen als Subjekt mitpräsent: Subjekt sein heißt, sich als ein sich selbst auf Gott hin überschreiten könnendes Endliches zu erkennen, das, indem es sich als endlich erkennt, seine Endlichkeit schon überschritten hat, also im transzendentalen Rückstieg schon den Überstieg aufs Unbegrenzte und den Vorgriff aufs unendliche Sein erzielt. Wir halten dies für eine subjektivitätstheoretische Engführung des Schöpfungsglaubens, die auf der anderen Seite einen überhoben universalistischen Anspruch stellt und Gottes(mit)erfahrung als apriorisches Implikat von Erkennen überhaupt versteht. Die Reflexion auf die transzendentale Struktur von Erfahrung – auf das Kantsche „Ich denke“, das alle Vorstellungen begleiten können muss – als (unbewusste) Transzendenzerfahrung zu interpretieren, als Ausgriff auf das Sein selbst, ist eine Aufladung einer Struktur zur Realität, zur höheren Realität sogar als die Erfahrungen selbst und stellt eine Ontologisierung von erkenntnistheoretischen Strukturen dar. Sie schränkt außerdem das Miterfahren von Transzendenz auf die kognitive Selbstüberschreitung der Vernunft ein, der Mensch als Leibwesen und dessen Transzendenzerfahrungen, gerade die Transzendenzen des gelebten Raumes, kommen so nicht in den Blick. Gott ist aber christlich nicht nur der Grund von Rationalität, sondern von Geschöpflichkeit überhaupt. Überdies wird, wenn man die Selbstübersteigung des Erkenntnisvermögens in der ————— 20 K. Rahner, Grundkurs des Glaubens, 42; zum Folgenden vgl. außer ebd., 30–46, auch Ders., Hörer des Wortes, 91–100; ders., Gotteserfahrung heute, 166–173. 21 Rahner, Grundkurs des Glaubens, 31. 22 Rahner, Grundkurs, 44; vgl. ders., Hörer des Wortes, 96.98.

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transzendentalen Reflexion als solche mit der Präsenz der Transzendenz Gottes identifiziert, die ungebrochene Gottunmittelbarkeit des Menschen vorausgesetzt.23 Die Frage ist erstens, ob man nicht, ohne diese Differenz zu überspielen, von Gotteserfahrung reden kann und zweitens, ob man statt nur vom transzendentalen Miterfahren in der Reflexionserfahrung der Vernunft auch vom Miterfahren Gottes in der Erfahrung der geschöpflichen Welt reden kann. Wenn Gott in allen Dingen als gegenwärtig geglaubt wird, dann sollte, so J. Moltmann, – wir fügen hinzu: allerdings nicht ungebrochen und per se – „Transzendenz in jeder Erfahrung, nicht nur in der Selbsterfahrung, zu entdecken [sein]. […] Gotteserfahrung wird darum in, mit und unter jeder alltäglichen Welterfahrung möglich, sofern Gott in allen Dingen und alle Dinge in Gott sind und also Gott selbst alle Dinge auf seine Weise ‚erfährt‘“24. Gotteserfahrung in, mit und unter Welterfahrung hieße, wenn wir den oben entwickelten Offenbarungs- und Erfahrungsbegriff anwenden und Moltmanns ungebrochene Gottunmittelbarkeit in der Schöpfung mit I. Dalferth offenbarungstheologisch korrigieren, dass „Gott sich selbst in besonderer Weise in, mit und unter bestimmtem Erfahrenen in der Differenz zu diesem als Grund des Erfahrenen zur Erfahrung bringt, also sich selbst offenbart.“25 Gotteserfahrung in Raum und Zeit ist dort möglich, wo „Gott anderem als er selbst nahe kommt, […] diesem seine Nähe offenbart.“26

3.2 Leibhaft-pathische Wahrnehmungslehre 1. Nachdem nun geklärt bzw. wenigstens nicht ausgeschlossen ist, dass es Gotteserfahrung im Raum geben kann, muss nun eine geeignete Theoriesprache gefunden werden, mit der Gotteserfahrungen im Raum angemessen beschrieben werden können. Sowohl Begriff und Struktur der Erfahrung als auch das Wie der Erscheinung Gottes im Raum müssen geklärt werden. Wir müssen einen Weg finden, so von Gotteserfahrung im Raum zu reden, der sowohl der Wirklichkeit Gottes als auch der phänomenalen Struktur der entsprechenden Erfahrungen gerecht wird, und der weder einen objektivistisch-gegenständlichen noch einen subjektivistisch-erlebnispositivistischen Erfahrungsbegriff impliziert. Als Konzept, Erfahrung als Erfahrung von Realität zu denken, deren Wirklichkeit weder als rein äußerlich, von mir ————— 23 Die Rede des Katechismus der Katholischen Kirche von der „Gottfähigkeit“ des Menschen (47) ist hier nicht weit. 24 J. Moltmann, Der Geist des Lebens, 47f, im Kap. I.1, §3, Immanente Transzendenz: Gott in allen Dingen. 25 I. Dalferth, Der auferweckte Gekreuzigte, 176. 26 Ebd., 173.

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und vom Raum gegenständlich geschieden, noch introspektiv in den Innenraum der Seele oder des Bewusstseins verlagert gedacht ist, bietet sich die „aisthetische“ Wahrnehmungslehre von G. Böhme an, als Konzept, eine nichtgegenständliche äußere, im Raum präsente und an mir wirksame Realität auf den Begriff zu bringen, eignet sich das von H. Schmitz und G. Böhme entwickelte Konzept der Atmosphären. Wir stellen, nach knapper Bemerkung zur Wahrnehmungslehre (2.), zunächst, in kritischer Rezeption, die Räumlichkeit, Erkenntnistheorie und Ontologie der Atmosphären dar (3.3.), besprechen dann die Phänomenologie der atmosphärischen Erscheinungen Gottes und ihrer Erfahrungen (3.4.) und diskutieren schließlich die Kompatibilität der göttlichen Atmosphären mit der theologischen Wirklichkeitsauffassung Gottes als Person (3.5.–6.). Dieser Gedankengang gliedert die uns beschäftigende Frage in drei Teilbereiche: erstens wird diskutiert, wie Gott im Raum erfahren werden kann, dann wie Gott im Raum erfahren wird und schließlich, ob Gott im Raum erfahren wird. 2. G. Böhmes „aisthetische“ Wahrnehmungslehre27 geht nicht vom isolierten Ding aus, das vom Sinnes- und Erkenntnisapparat irgendwie identifiziert wird, sondern von einer ursprünglichen Kopräsenz von Ich und Umgebung, die erst allmählich durch einen Prozess der Emanzipation, Herausschälung und Abstraktion zum Ding hinführt. Wahrnehmung ist ein komplexer, gestufter Vorgang, der vom unmittelbaren eigenleiblichen Erleben und Spüren von Stimmungen und Atmosphären hin zur Erkenntnis des einzelnen Dings führt. Wahrnehmen von etwas geschieht zuerst durch den Leib und das Leibbewusstsein,28 welches ein nicht-intentionales Bewusstsein ist, das noch nicht die Differenz von Subjekt und Objekt enthält, sondern mit dem Bewusstsein von etwas (das auch ein kognitiv unbewusstes Inne-Sein sein kann) eine Vertrautheit mit sich enthält. Wahrnehmen von etwas ist zugleich Wahrnehmen meines eigenen Daseins. Immer erfahre ich mich und meinen Leib mit. Diese Wahrnehmungslehre ist eine pathische Erkenntnistheorie. Statt der intentionalen Grundformel: Ich (als Subjekt) erlebe/erfahre etwas (als Objekt), lautet ihre Grundformel: Etwas wird von/an mir erkannt/erlebt/wirklich. Böhme spricht von „der Geburt des Ich aus dem Mir“29, denn das Ich löst sich erst nachträglich, in der reflexiven Analyse des Wahrgenommenen, aus dem Kopräsenzzustand von Wahrnehmendem und Wahrgenommenen heraus. Wahrnehmung ist primär und zuerst „Erfahrung der Ko-Präsenz“30 von etwas und einem selbst. ————— 27 28 29 30

G. Böhme, Aisthetik. Vorlesungen über Ästhetik als allgemeine Wahrnehmungslehre. G. Böhme, Leibliches Bewusstsein. Böhme, Aisthetik, 85. Ebd., 74.

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Außerdem findet Wahrnehmung, wie Husserl und Merleau-Ponty sagen, in einem Feld statt, jedoch nicht nur bewusstseinsmäßig,31 sondern in einem äußeren „Wahrnehmungsfeld mit seinen räumlichen Horizonten“ und einem „Wahrnehmungsfeld mit seinen zeitlichen Horizonten“. Darin bin ich „bei meiner Umgebung anwesend, koexistiere ich mit allen anderen, über dies hinaus sich erstreckenden Gegenden“. Es findet eine Art regionale Ubiquität von mir im Raum und von den Dingen bei mir hier statt, allerdings keine flächig homogene (theistische) Ubiquität, sondern eine mit hohem „Grade der Unbestimmtheit“32. Wahrgenommen wir immer mehr als das, worauf sich der intentionale Sinn richtet, aber das Mehr bleibt gegenständlich unbestimmt: je weiter hinaus, desto mehr. Jeder Körper, den ich vor mir sehe, ist umgeben von einem Gesichtsfeld, das auf latente, diffuse Weise immer mitläuft, in dem jedoch, obwohl auf latente, diffuse Weise, Sinn gegenwärtig ist,33 Sinn allerdings, der nicht offen daliegt, sondern erschlossen werden muss. Jede Perspektive kann überstiegen werden, hinter dem Horizont sind beliebig weitere Horizonte, aber die Verkettung der Perspektiven schließt sich nie zu einer letzten, definitiven, runden All-Einheits-Perspektive zusammen. „Dem Ding und der Welt [ist es] wesentlich, nur ‚offen‘ gegenwärtig zu sein, uns über ihre bestimmten Bekundungen hinaus zu verweisen, und stets noch ‚anderes zu sehen‘ zu verprechen.“ So wird verständlich, „warum ihr letzter Sinn nebelhaft bleibt.“34 Wahrnehmung geschieht zusammengefasst 1. perspektivisch in einem Gesichts- und Sinnhorizont, 2. nicht nur durch mich, sondern auch an mir, und ist 3. immer leiblich vermittelt. Das Ich der Perspektive ist das befindliche, beteiligte, affektiv betroffene Ich, das seine leibliche Anwesenheit sowie seine psychische, soziale und kulturelle Verfasstheit immer mitspürt. In dieser Erkenntnislehre ist die isolierte Ich-Subjektivität als reiner Denkoder Bewusstseinsinstanz von Descartes bis Husserl überwunden, konstituiert sich – schöpfungstheologisch relevant – das Ich aus dem Mir und bedeutet Sein soviel wie räumlich, u.d.h. in Beziehung und mit der Umwelt verbunden sein. In jeder Wahrnehmung, jedem Erleben, jeder Erfahrung ist ein Transzendenzgehalt wirksam, der nicht erst durch subjektivitätstheo————— 31 „Das Einzelne ist – bewusstseinsmäßig – nichts für sich, Wahrnehmung eines Dinges ist seine Wahrnehmung in einem Wahrnehmungsfeld“ (Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie, Gesammelte Schriften 8, 165). 32 Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, 382. 33 „Toute sensation est déjà prégnante d’un sens“ (ebd., frz. 343, dt. 345); E. Cassirer, den Merleau-Ponty abschwächend aufnimmt, spricht von „symbolischer Prägnanz“ und davon, dass jedes Wahrnehmungserlebnis „als ‚sinnliches Erlebnis‘ immer schon Träger eines Sinnes“ ist, da es eine „Ganzheit“ zur Darstellung bringt (Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen III, 232.235; vgl. Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, 339), hierzu unten II.7.1. 34 Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, 384f.

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retische oder transzendentalphilosophische Reflexion aufgedeckt, sondern schon in der Wahrnehmung selbst mehr oder weniger bewusst mitgespürt wird. Transzendenzerfahrung ereignet sich in, mit und unter alltäglicher Wahrnehmung. Welcher Sinn, gar letzter Sinn, mit solcher Transzendenzerfahrung offenbart ist, liegt allerdings nicht offen da. Er bedarf der Erschließung an mir und für mich, d.h. der Erfahrung als Offenbarung. Der gelebte und gestimmte Raum ist der Ort und die Weise, in dem und mit dem solcher Sinn sich zeigt. Dies geschieht als atmosphärische Präsenz von Sinn oder, in, mit und unter solcher Präsenz, als Gotteserfahrung im Raum.

3.3 Ästhetische Theorie der räumlichen Atmosphären 1. Atmosphären sind nach H. Schmitz mit Gefühlen verwandte Phänomene, welche a) räumlich ausgedehnt, b) randlos in die Weite ergossen und c) leiblich spürbar sind.35 Atmosphären werden wahrgenommen durch eine bestimmte Art leiblichen Spürens, das man als atmosphärisches Spüren bezeichnen kann. Das atmosphärische Spüren geschieht durch den ganzen Leib, wobei die Ergreifung von außen nach innen vordringt. Eine Atmosphäre wird zunächst über das großflächigste Empfindungsorgan, die Haut, als Ganze gespürt, und setzt sich dann nach Magen, Brust und Herz ins Innere fort. Die verschiedenen noch zu unterscheidenden Arten von Atmosphären erschließen sich jeweils durch eine entsprechende Form atmosphärischen Spürens: eine klimatische Atmosphäre etwa durch ein klimatisches Spüren, eine persönliche durch persönliches Betroffensein, eine numinose durch numinose Ergriffenheit usw. Dabei werden die leiblichen Empfindungsorgane in unterschiedlicher Konstellation und Intensität, jeweils mehr oder weniger stark erregt. Das atmosphärische Spüren wird aber von der Atmosphäre relativ direkt und spontan angeregt, und zwar so, dass sich Atmosphäre und Gefühl entsprechen. Eine bestimmte Atmosphäre hat relativ klar identifizierbar ein bestimmtes atmosphärisches Spüren mit bestimmter Organbeteiligung zur Folge. Eine fröstelnde Atmosphäre löst Frösteln und Gänsehaut aus, eine bedrückende Atmosphäre einen Druck in Brust oder Magen. In einen Raum geraten, spüren wir sofort, ob es schwül oder stickig ist. Im Wald oder im Gebirge spüren wir unmittelbar am eigenen Leibe, an Haut und Haar, die frische, kühle, herbe Atmosphäre. Wir empfinden eine Atmosphäre genauso wie ein Gefühl, weshalb man eine Atmosphäre geradezu ein ausgebreitetes, randlos ergossenes Gefühl nennen kann. Diese Bezeichnung hat jedoch nur Sinn, wenn man Schmitz’ These ————— 35 H. Schmitz, Der unerschöpfliche Gegenstand, 292–296; ders., Der Leib, der Raum und die Gefühle, 22–27.

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akzeptiert, dass umgekehrt auch Gefühle „räumlich, aber ortlos, ergossene Atmosphären“36 sind. Gefühle sind ebenso räumlich ausgedehnt wie Atmosphären, jedoch nicht im Ortsraum ausgedehnt oder lokalisiert. Der Raumbegriff, der der Räumlichkeit von Gefühlen und entsprechend der von Atmosphären zugrundegelegt werden muss, ist nicht der metrisch-geometrische Ortsraum, sondern der gelebte, gestimmte Raum. Dann ist in der Tat die Parallelität von Atmosphären und Gefühlen evident. Eine Atmosphäre ist eine räumlich ausgebreitete Stimmung, die einen unmittelbar als Leibwesen in seinem gelebten Raum affiziert und sich mit einer bestimmten Gefühlsstimmung über einen legt und breitet. Eine irgendwie geladene oder gereizte oder fade Atmosphäre löst eine geladene, gereizte oder fade Stimmung aus, die sich ebenso durch den Raum wie durch den Leib verbreitet. Eine Atmosphäre stellt eine pathisch erlebte Realität dar, ein übermächtig erfahrenes Wirkliches, das mich ergreift und mich mit der Stimmung belegt, welche die Atmosphäre innehat. Eine „feierliche oder auch zarte Stille in der Natur oder in eine hohen Halle ist eine ergreifende Atmosphäre mit Weite, Gewicht und Dichte. Dumpfe, lastende, ‚brütende‘ Stille kann etwas unheimlich Drohendes und Niederschlagendes haben.“37 Man empfindet das atmosphärisch Gespürte als eine Realität außer mir, als eine fast schon dingliche, jedenfalls als eine verdichtete und dichte Substanz. Dem Gespürten wird ein Subjektcharakter zugeschrieben, eine eigenständige Substantialität, die selbst das quasi objektive Gefühl darstellt, das sie vermittelt. Man bezeichnet als Träger der Atmosphäre nicht nur allgemein das Wetter oder den jeweiligen Raum oder die Landschaft, sondern die gefühlsgeladene Atmosphäre selbst. Die als dicke Luft gespürte Atmosphäre ist dick, die feierliche Stille ist feierlich, die brütende Hitze selbst ein Brutkasten. Atmosphären haben eine halbdingliche Substantialität, weshalb sie H. Schmitz mit Recht zu den „Halbdingen“ zählt. Darauf und auf die Ontologie der Atmosphären ist gleich noch genauer einzugehen. Wichtig ist hier zunächst, dass Atmosphären keine bloß subjektiven Empfindungen sind – die Zuschreibung eines Attributs wie geladen, dick oder feierlich zu einer Atmosphäre ist keine bloße Projektion des Empfindungszustandes, sondern kommt der Atmosphäre als quasiobjektive Eigenschaft selbst zu. Die „Atmosphäre wird am eigenen Leib gespürt, aber nicht als Zustand des eigenen Leibes.“38 Eine Spannung, Schwüle etc. liegt auf mir, aber so, dass sie ‚in der Luft liegt‘ und ‚mit Händen zu greifen‘ ist. Die Atmosphäre ist von der eigenen Stimmung und Person klar unterschieden als ein anderes, außer mir befindliches ‚Gefühl‘. ————— 36 37 38

Schmitz, Der Leib, der Raum und die Gefühle, 22. Schmitz, Der unerschöpfliche Gegenstand, 293. Ebd., kursiv U.B.

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Und die Atmosphären sind im Unterschied zu den substantiellen Dingen, Körpern und Räumen nicht klar abgegrenzt. Sie sind randlos in die Weite ergossen. In Atmosphären sind wir eingebettet, sie sind uns „als Hintergrund unseres leiblichen Befindens jeweils unwillkürlich mitgegeben“39. Atmosphären haben keine diskrete, geformte, sondern ungeformte, amorphe Gegenständlichkeit. Trotz der Randlosigkeit und Amorphität haben Atmosphären eine bestimmte Art von räumlicher Form. Sie haben eine Weite „ohne Lagen und Abstände“, also ohne metrische Differenzierungen, sie sind einfach „voluminös und unteilbar ausgedehnt“40. Atmosphären sind selbst voluminöse Räume von bestimmter Stimmung, die mich als leiblich spürendes Wesen überall umgeben. Sie sind immer mitgeben als der Hintergrund und das Worin des leiblichen Empfindens. Atmosphären sind gestimmte Räume innerhalb von Räumen, Zimmern, Gebäuden oder über Gegenden, Landschaften oder Gebieten. Sie sind jeweils einem bestimmten Gefühl oder Stimmung zugeordnet und stellen deren äußere, räumlich ausgedehnte Manifestation dar. Atmosphären sind konkret gestimmte Räume: heitere, erdrückende, schwüle, dicke, fade, melancholische, fröhliche, frische, frostige Räume. 2. Kritische Ergänzung: H. Schmitz’ Charakterisierung der Atmosphären als räumlich ausgedehnte, voluminös und randlose, leiblich spürbare, quasi objektive Gefühle muss in einigen Punkten kritisiert und präzisiert werden. Unsere kritische Rückfrage betrifft die unterstellte Erkenntnistheorie und Ontologie von Schmitz’ Atmosphärenkonzept, die Präzisierung dann die Unterscheidung verschiedener Arten von Atmosphären, die bei Schmitz zwar angelegt, aber nicht explizit durchgeführt ist. Diese kritischen Rückfragen und Weiterführungen sind nötig, weil daran Möglichkeit und Unmöglichkeit der Übertragung des Atmosphärenkonzeptes auf religiös gestimmte Räume und göttliche Erscheinungen steht und fällt. G. Böhme, der die besten Klärungen zum Atmosphärenbegriff bietet,41 hat Schmitz’ erkenntnistheoretische Position mit Recht einen „phänomenologischen Realismus“42 genannt. Gegen diesen hat Böhme eingewandt, dass zwar der primäre Zugang zu Atmosphären über die pathische Haltung der Betroffenheit läuft, dass aber ihr Charakter nur bestimmbar ist, wenn man sich ihr aussetzt. Eine Atmosphäre kann man nicht vom neutralen Beobach————— 39 Ebd., 292. 40 Ebd., 293. 41 G. Böhme, Atmosphäre, 21–48.66–84; ders., Aisthetik, 45–72; ders., Die Phänomenologie von Hermann Schmitz als Phänomenologie der Natur?, 142–149. 42 Böhme, Atmosphäre, 138.

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terstandpunkt feststellen, sondern nur in affektiver Betroffenheit. Atmosphären sind daher nur quasi objektiv, ihr Was-sein ist ohne denjenigen, der von ihr betroffen ist, noch nicht vollständig bestimmt, und sie sind außerdem nur im Akt der Betroffenheit real. Gegen Schmitz’ Realismus plädiert Böhme für einen Aktualismus. Atmosphären haben „die Seinsweise von Wirklichkeit, nicht von Realität. Das heißt, sie können nur in der Seinsweise der Aktualität sein.“43 Eine Atmosphäre ist daher nicht ein etwas, weder ein Subjekt noch ein Objekt, sondern „etwas zwischen Subjekt und Objekt“. Atmosphären sind „nicht etwas Relationales, sondern die Relation selbst.“44 Sie ereignen sich in der Wahrnehmung zwischen dem Wahrnehmenden und dem Wahrgenommenen und liegen ‚vor‘ jeder Subjekt-Objekt-Spaltung. Die wesentlichen Momente hierfür, die die Atmosphären erkenntnistheoretisch charakterisieren, sind die Momente von „Ingression“ und „Diskrepanz“45. Eine Atmosphäre ereignet sich, wenn man in sie hineingerät, also durch „Ingression“. Dabei ereignet sich die Atmosphäre als ein Resonanzphänomen, die kalte Atmosphäre macht kalt, die heitere stimmt heiter usw. Die Atmosphäre ist selbst eine Art Klima, eine Gefühlsstimmung, die die Tendenz und den Drang hat, sich mir aufzudrängen und mich umzustimmen. Insoweit hat Schmitz mit seinem phänomenologischen Realismus des Pathischen recht. Aber sie trifft auch auf eine Widerständigkeit meinerseits. Die Resonanz der Übertragung ist wechselseitig und auch ein Diskrepanzphänomen. Ein Frühlingsmorgen stimmt gar nicht heiter, sondern melancholisch, wenn man selbst von Trauer erfüllt ist. Die Atmosphäre ist ein echter Kopplungszustand, meine Stimmung drängt sich ebenfalls der Atmosphäre auf, wie diese sich mir. Atmosphären sind echte Relationen oder Zwischenräume, es handelt sich um eine „spürbare Kopräsenz von Subjekt und Objekt“46. Das Subjekt ist nicht in die Atmosphäre hinein aufgelöst, ich und Raum treffen zusammen auch als Fremde, als Andere. Die Ingression meinerseits in eine Atmosphäre führt aufgrund von Diskrepanz zu einem neuen, gemeinsamen Zustand der Kopräsenz, den man als Anregungszustand von Ich und Raum beschreiben kann. Anders gesagt: Der atmosphärische Raum mit seiner „Gefühlslage“ bleibt sich nicht gleich durch mein Hineingeraten mit meiner Gefühlslage, sondern es entsteht ein neuer Zustand, ein angeregter Kopplungszustand von Ich und Raum. „Die Atmosphäre ist die gemeinsame Wirklichkeit des Wahrnehmenden und des Wahrgenommenen. Sie ist die Wirklichkeit des Wahrgenommenen als ————— 43 44 45 46

Böhme, Aisthetik, 62. Ebd., 54. Vgl. ebd., 45–50. Ebd., 57.

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Sphäre seiner Anwesenheit und die Wirklichkeit des Wahrnehmenden, insofern er, die Atmosphäre spürend, in bestimmter Weise leiblich anwesend ist.“47 3. Welche Ontologie des Raumes ist damit unterstellt? Gestimmte Räume und Atmosphären sind keine Dinge im substanzontologischen Sinne nach Art von festen Körpern. Man kann an den gestimmten Räumen keine Substanz von den akzidentiellen Eigenschaften unterscheiden, es ist nicht noch etwas hinter der Erscheinung. Atmosphären sind nur in der Erscheinung, sie haben überhaupt nur ästhetische Realität, sie sind echte Phänomene im Goetheschen Sinne, sind also nicht Phänomene von etwas, sondern sie selbst. Sie sind nur, solange sie erscheinen, sie bestehen nur in reiner Aktualität, sind nicht Erscheinungen von etwas, gar von etwas dahinter Stehendem. Die Differenz zwischen Faktizität und Aktualität, zwischen factual fact und actual fact fällt hier dahin.48 Sie sind, in Bezug auf ihre Dingfestigkeit, flüchtig. Sobald man Atmosphären dingfest machen, nach ihnen greifen will, verflüchtigen sie sich. Sobald man sie bestimmen, eingrenzen, abgrenzen will, werden sie erst recht unscharf und undeutlich. Wenn man sie aber randlos lässt und freischwebend, sind sie sehr genau identifizierbar. Sie haben Individualität und Eigenständigkeit. Von den bloßen Qualitäten sind sie durch ihre Selbständigkeit unterschieden und mit den Dingen sind sie durch einen Dies-da-Charakter verwandt. Schmitz hat sie darum „Halbdinge“49 genannt. Sie treten als bestimmte Individuen, als ungeteilte Ganze, in Erscheinung, haben also eine „Ausdrucksganzheit“50. Andererseits fehlt ihnen die Kontinuität durch die Zeit und die Substantialität hinter der Erscheinung. Kurz gesagt: Gestimmte Räume und Atmosphären sind Räume in der Zeit. Die Ontologie der Atmosphären wie überhaupt der Halbdinge sperrt sich penetrant gegen die Dingontologie nach Art der Demokritschen Atome als fester, abgegrenzter Körper mit bestimmten, ihnen anhaftender Eigenschaften. „Von den Dingen unterscheiden sich die Halbdinge einerseits durch die Eigenart ihrer Dauer, andererseits durch die Eigenart ihrer Äußerung. Zur Dauer: Dinge dauern stetig; bei zwei zeitlich getrennten Erscheinungen eines Dinges ist es immer sinnvoll, zu fragen, wie es sich in der Zwischenzeit verhalten hat. Bei den Halbdingen, z.B. einer Stimme oder dem Wind, ist das im Allgemeinen sinnlos. […] Zur Äußerung: Halbdinge haben eine besondere Dynamik, mit der sie betroffen machen und zudringlich werden. ————— 47 48 49 50

Böhme, Atmosphäre, 34. Böhme, Aisthetik, 57. Schmitz, Der unerschöpfliche Gegenstand, 216–222. E. Ströker, Philosophische Untersuchungen zum Raum, 27.

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Dazu sind zwar auch Dinge in der Lage, aber nur so, dass das Ding selbst sich gegen den kausalen Einfluß, den es ausübt, scharf abgrenzt. […] Anders das Halbding. Es ist von seiner dynamischen Äußerung im jeweiligen Augenblick nicht unterscheidbar oder wenigstens nicht deutlich abgehoben.“51 Diese beiden Eigenheiten der Halbdinge treffen auf die Atmosphären zu: Sie dauern nur während der Erscheinung und haben ‚zwischendurch‘ gar keine Existenz, und von ihrer dynamischen Äußerung kann kein Dahinter abgehoben werden, weder phänomenal, noch begrifflich. Es ist nicht ein neutraler Raum, der sekundär mit einer bestimmten Atmosphäre in Erscheinung tritt, sondern der Raum ist der atmosphärisch gestimmte Raum. Besonders in der Aktualität einerseits und in der Ausgebreitetheit andererseits liegt die Verwandtschaft von Atmosphären und Gefühlen, so dass Gefühle als räumlich, aber ortlos, ergossene Atmosphären und Atmosphären als räumlich ausgedehnte, randlos ergossene Gefühle bezeichnet werden können. Wichtig ist dafür, die Atmosphäre als räumlich ergossenes und am Leib gespürtes Gefühl von den rein leiblichen Regungen und Leibzuständen zu unterscheiden. Während letztere an den Leib gebunden und daher räumlich klar abgegrenzt sind, sind erstere randlos in die Umgebung hinein ergossen. Es ist keine scharfe Grenze zwischen Leib und umgebender Atmosphäre festzustellen. Der Kopplungs- oder Kopräsenzzustand ist auch räumlich ein Überlagerungszustand. Wegen der unscharfen Grenze sowohl nach außen als auch auf das Zentrum hin, stellen Atmosphären eine Totalität dar. Sie bilden nicht einen Gegenstand neben anderen, sondern sind ein Ganzes, und zwar nicht nur, weil das Raumganze gegenüber den einzelnen Gegenständen des Raumes deutlich in den Vordergrund tritt, sondern auch, weil der atmosphärische Raum als Ganzer einen ethischen Anspruch stellt. Dieser ist nicht von relativer Geltung, er geht nicht von einzelnem Gegenständlichem aus, sondern stellt einen Totalanspruch dar. Man kann den Atmosphären weder ausweichen, noch entkommen, und muss sich ihnen stellen und zu ihnen stellen. Im Kopplungszustand von Ich und Raum ist eine jeweilige Haltung und Einstellung integriert, möglicherweise sogar ein gefordertes Verhalten, die nicht neutral sind, sondern sich in Einfügung und Gegenstellung, in Ingression und Diskrepanz auf die Atmosphäre beziehen muss. „Leibliche Regungen sind örtlich umschrieben und können daher mehr oder weniger reibungslos auch als unvereinbare neben einander Platz finden; Gefühle als randlos ergossene Atmosphären stellen dagegen einen totalen Anspruch, den ganzen Bereich der jeweils präsenten Bühne des Geschehens mit allem, was sich darauf abspielt, in ihren Bann zu ziehen, und verwickeln dadurch den von ihnen Ergiffenen in den peinlichen Kon————— 51

Schmitz, Der unerschöpfliche Gegenstand, 216f.

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trast, wenn ihr Anspruch an dem unvereinbaren abprallt, den ein konträres Gefühl stellt, das sich in der betreffenden Konstellation ebenso oder stärker zur Geltung bringt.“52 4. Von den verschiedenen Arten von Atmosphären, die wir unterscheiden müssen, ist zunächst die Unterscheidung zwischen persönlichen und überpersönlichen Atmosphären zu nennen. Überpersönliche Atmosphären sind all solche, die nicht primär von Einzelpersonen oder Personengruppen, sondern von Räumen, Landschaften oder Gebieten ausgehen. Persongebundene Atmosphären sind solche, die von einem oder mehreren Menschen ausgehen und eine Gefühlstimmung von Trauer, Freude, Dominanz, Agression, Angst oder Zerbrechen ausstrahlen. Die persönlichen unterscheiden sich qualitativ nicht von den überpersönlichen Atmosphären, sie sind aber relativ fester umgrenzt, dazu auf ein Zentrum bezogen und von erhöhtem ethischen Anspruch. Man kann ihnen noch weniger ausweichen, und wird noch elementarer in ihren Bann gezogen und zu einer korrespondierenden Einstellung gedrängt, wenn nicht gezwungen. Die wichtigsten Unterscheidungslinien innerhalb der überpersönlichen Atmosphären sind raumstruktureller Art. Wir können Schmitz’ Raumtheorie mit Erfolg auf sein Atmosphärenkonzept anwenden, auch wenn er dies selbst explizit nicht getan hat, und weiteräumliche von richtungsräumlichen und ortsräumlichen Atmosphären unterscheiden. Der Prototyp von weiteräumlichen, überpersönlichen Atmosphären sind die klimatischen Atmosphären, die durch klimatisches Spüren wahrgenommen werden. Sie haben ihre räumliche Erscheinung im Modus des Weiteraumes. Der Kopplungszustand, der sich aus der Kopräsenz von Ich und Weiteraum ergibt, hat zwei räumliche Komponenten, einerseits die Weite der leiblich erspürten Atmosphäre und andererseits das Hier des die Atmosphäre spürenden Leibes. Dieses Hier ist ein Ort der „primitiven Gegenwart“, wie Schmitz sagt.53 Damit meint er ein „elementar-leibliches Betroffensein“, wodurch „das personale Subjekt in sein Hier und Jetzt ein[sinkt]“54, im Unterschied zur entfalteten Gegenwart, bei der das Subjekt umgebungsüberlegen über dem Hier und Jetzt steht. Der atmosphärisch betroffene Mensch sinkt gewissermaßen in sein Hier und Jetzt ein und wird von der Atmosphäre auf sich hin zentriert, wobei diese Zentrierung gekoppelt ist mit einer gänzlich konturlosen Weite der Atmosphäre. Der Weiteraum hat keine Richtungen, Gegenden, Lagen oder Abstände. Der Weite————— 52 53 54

Ebd., 296. Ebd., 280. Ebd., 49.

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raum ist das korrespondierende Rückfeld und Vorderfeld der primitiven Gegenwart. Weiteräumliche Atmosphären liegen, für sich betrachtet, bloß unbestimmt ‚in der Luft‘, sie haben keinen Anhalt an etwas, sondern bilden eine amorphe, klimatische Weite. Anders stellen sich richtungsräumliche Atmosphären dar. Diese sind auf eine Richtung oder einen Ort oder Gegend bezogen. Die richtungsräumlichen Atmosphären sind relativ objekt- und orts- oder gegendgebunden. Sie konzentrieren sich auf einen Objektbereich oder gehen davon aus und haben eine Vorzugsrichtung. Dazu gehören strukturierte Landschaften wie Flusstäler, Berge, Dörfer, aber auch orientierte und zentrierte Räume wie Kirchen oder Arbeitszimmer. Die richtungsräumlichen Atmosphären sind weniger flüchtig als die luftigen, klimatischen und mehr gegenständlich und gegenstandsbezogen. Ortsräumliche Atmosphären sind strikt gegenstands- und ortsgebunden. Sie können „wie ein Nimbus oder Hof an bestimmten, z.B. optisch oder taktil gegebenen Objekten sich abzeichnen und dabei denselben Kategorien räumlicher Anordnung unterworfen sein, wie diese Objekte selbst.“55 Die Verdichtung und Konzentration ist hier noch stärker als bei den richtungsräumlichen. Die ortsräumliche ist eine über bestimmten Objekten zusammengezogene Atmosphäre. Der Begriff kommt bei Schmitz nicht vor, wohl aber die Sache.56 Musterbeispiel für einen atmosphärischen Nimbus ist die Aura, die sich um herausragende Kunstwerke, um Gebäude, aber auch um exaltierte Bäume, Ruinen, Kreuze oder Altäre legt. Den Begriff der Aura hat Walter Benjamin in die ästhetische Theorie eingeführt. Er meint damit die Atmosphäre des Achtungsgebietenden und der Distanz, die originale Kunstwerke umgibt, um Unterschied zu ihrer technischen Reproduktion. Benjamin hat die Aura aber auch von Kunstwerken auf Naturerfahrungen ausgedehnt. Aura definiert er als „einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag. An einem Sommernachmittag ruhend einem Gebirgszug am Horizont oder einem Zweig folgend, der seinen Schatten auf den Ruhenden wirft – das heißt die Aura dieser Berge, dieses Zweiges atmen. An der Hand dieser Beschreibung ist es ein Leichtes, die besondere gesellschaftliche Bedingtheit des gegenwärtigen Verfalls der Aura einzusehen.“57 Die ‚Ferne‘ einer Aura, von der Benjamin spricht, meint natürlich nicht die ortsräumliche Ferne des auratischen Gegenstandes, sondern seine Unerreichbarkeit und Distanz, die um ihn gespürt wird. Die Aura ist aber auf ————— 55 Schmitz, Der Gefühlsraum, 368. 56 Vgl. Kozljanic, Lebensphilosophie, 233f. 57 W. Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, 15, dazu Böhme, Atmosphäre, 25–28.

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jeden Fall, auch als gebietende Ferne, räumlich um den Gegenstand ergossen. Dabei ist phänomenologisch mit Schmitz zwischen dem „Verdichtungsbereich“ und dem „Verankerungsbereich“ der Aura oder Atmosphäre zu unterscheiden. „Der Verdichtungsbereich einer Gestalt ist die Stelle, wo deren Gepräge sich anschaulich sammelt, z.B. beim Gesichtsausdruck gewöhnlich die Augengegend, beim Blatt oder belaubten Zweig der Umriss. Als Verankerungspunkt bezeichnet Metzger dagegen ‚denjenigen Punkt, von dem aus das Ganze aufgebaut erscheint, und der deshalb auch den Ort des Ganzen in seiner Umgebung repräsentiert‘; dieser befindet sich bei vielen Gestalten z.B. bei Tropfen, Baum und Muschel, ‚an dem Ende, das dem Verdichtungsbereich entgegengesetzt ist‘.“58 In der Aura ist außer der momentanen Hülle von Anwesenheit auch die Wirkungsgeschichte der Atmosphäre gespeichert. Aura meint die Überlagerung von momentaner und vergangener Ausstrahlungen. Auf diese Weise können wir auch die persönlichen Atmosphären charakterisieren und sagen, dass sie ortsräumlich zentrierte Atmosphären mit einem Verankerungsbereich und einem Verdichtungs- und Ausstrahlungsbereich sind. Eine gewichtige, überragende, einfältige oder eingefallene Person umgibt ein Nimbus, wobei die Atmosphäre ihre momentane, am Dort ihrer Anwesenheit verankerte und von dort in den Raum ausstrahlende Erscheinung meint und die Aura die spürbar wahrnehmbare Ausstrahlung ihres ganzen Lebens. 5. Ergebnis: Wir finden also von den überpersönlichen, weiteräumlichen über die richtungsräumlichen bis zu den gegenständlichen und persönlichen ortsräumlichen Atmosphären eine räumliche Verdichtung und Ausrichtung, und von der Atmosphäre zur Aura zusätzlich eine zeitliche, wirkungsgeschichtliche Verdichtung. Eine Aura kann man nicht nur allgemein weiteräumlich spüren, sondern auch, wie Benjamin sagt, atmen, oft sogar riechen und schmecken. Eine Aura ist eine besonders intensive, verdichtete und anspruchsvolle Atmosphäre eines Gegenstandes oder einer Person mit Verankerungspunkt und Verdichtungsbereich. Abschließend und zusammenfassend lässt sich sagen, dass Atmosphären Räume darstellen, welche durch die Anwesenheit von Dingen, Personen oder einfach Stimmungen, ausgebreiteten Gefühlen oder Umgebungskonstellationen wesentlich berührt und geprägt sind. Atmosphären sind Sphären der Anwesenheit von etwas, sie sind Wirkliches im Raume, das sich räumlich und leiblich-umhaft artikuliert und in leiblicher Anwesenheit des Menschen gespürt wird. Atmosphären sind ontologisch weder rein objektive Eigenschaften von oder an Dingen, noch rein subjektive Bestimmungen ————— 58 Schmitz, Der Gefühlsraum, 317 (mit Zitat W. Metzger, Psychologie, 174.176); vgl. Schmitz, Der unerschöpfliche Gegenstand, 301.

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eines Seelenzustandes. Sie sind zwischen rein Objektivem und rein Subjektivem, insofern sie halb-dinghaft-flüchtig sind, aber zum Ding oder Menschen gehören, von dem sie ausgehen. Atmosphären sind daher Anregungszustände, sie sind, wie G. Böhme sagt, „Ekstasen“ von Dingen oder Menschen.59 Eine Ekstase ist ein räumliches Aus-sich-Heraustreten eines Dinges oder Menschen in den Raum seiner Anwesenheit. Es bildet sich eine aktive Sphäre aus, eine sphaera activitatis, in der das ekstatische Wesen als anwesend spürbar wird.

3.4 Phänomenologie der göttlichen Atmosphären 1. Methode und Gegenstand: Im Folgenden versuchen wir, die Theorie der Atmosphären auf die Manifestation und Erfahrung der Gegenwart Gottes im Raum anzuwenden. Es wird eine Phänomenologie der göttlichen Atmosphären versucht. Die systematischen Ausführungen werden materialiter unterfüttert an exemplarischen Interpretationen alt- und neutestamentlicher Texte, namentlich der lukanischen Pfingsterzählung und der vorexilischen Theophanietradition. Eine Phänomenologie des Göttlichen bedarf zunächst einer Besinnung auf die Methode und den Gegenstand. In der Regel wird Religionsphänomenologie als Phänomenologie der Religion, u.d.h. ihrer Institutionen, Gesinnungen und Gedanken, dazu des religiösen Erlebens und Verhaltens betrieben. Wesentlich wichtiger als dieses deskriptive Vorgehen ist die normative Frage, welche Realität die Erfahrung des Göttlichen und der Glaube an einen Gott enthält. Eine Phänomenologie des Göttlichen selbst soll dem darin Rechnung tragen, dass es nicht nach seinen Repräsentationen in der Religion, sondern nach dem darin Repräsentierten selbst fragt. Denn der Anspruch jeglicher Religion ist, dass ihre Gedanken-, Symbol-, Kultund Verhaltenssysteme mittelbar oder unmittelbar aus Betroffensein von Göttlichem selbst resultieren.60 Jede Religion, insbesondere die jüdischchristliche, erhebt einen Offenbarungsanspruch, dass sich das verehrte Göttliche als Göttliches kundgetan hat. Das Göttliche stellt die unbedingte, erste und letzte, Realität dar.61 Phänomene des Göttlichen sind solche, die ————— 59 Böhme, Atmosphäre, 33; Aisthetik, 131. 60 Hierfür steht die Definition der Religion als „Begegnung mit dem Heiligen“, vgl. die breite Diskussion um das Heilige, seine Erscheinungen, Erfahrungen und Realität in C. Colpe, Die Diskussion um das „Heilige“, IX. 61 Das „religiöse Gefühl“ ist, so R. Otto gegen Schleiermacher, nicht primär ein „SelbstGefühl, ein Gefühl einer eigentümlichen Bestimmtheit meiner selbst, nämlich meiner Abhängigkeit. […] Das ‚Kreaturgefühl‘ ist vielmehr selber erst subjektives Begleitmoment und Wirkung, gleichsam der Schatten eines anderen Gefühls-Moments, welches selber zweifellos zuerst und

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mit einem letzten autoritativen Anspruch und einem unbedingten Ernst auftreten. Phänomene des Göttlichen sind zwar auch beschreibbare Phänomene, also Sachverhalte oder Tatsachen, die man mit wahrheitsfähigen Sätzen benennen kann, im Vordergrund steht aber ihr Wahrheitsanspruch. Phänomene des Göttlichen sind solche Tatsachen, deren Realität der davon Betroffene nicht im Ernst bezweifeln kann, und die sich mit solchem Anspruch aufdrängen, dass auch der kritische prüfende Mensch ihnen „seinen Glauben nicht im Ernst verweigern kann“62. Das Göttliche ist in einer angemessenen Phänomenologie des Göttlichen nicht allein Gegenstand des subjektiven religiösen Erlebens und Verhaltens, aber auch nicht nur einer spekulativen Theologie oder Religionsphilosophie. Eine Religionsphänomenologie des Göttlichen meint „das Bemühen um Herausschälung von Phänomenen aus Annahmen der Wirklichkeit von Göttlichem“63. Der methodische Zugang hierfür ist wie der zu den Erfahrungen des leiblichen und räumlichen Befindens oder affektiven Betroffenseins: es wird analysiert, was sich in diesem Betroffensein aufdrängt. Im Unterschied zur Phänomenologie des Leibes sind jedoch die der Phänomenologie des Göttlichen zugrundliegenden Affekte von geringerer Allgemeinheit und weniger direkt zu deuten. Christus oder der Heilige Geist kann auch der Gläubige nicht so unmittelbar wie das Empfinden von Schmerz, Müdigkeit, Weite oder Zufriedenheit zu erfahren erwarten, und er empfängt göttliche Erfahrungen in der Regel über Zeugnisse und Deutungen der Tradition vermittelt. Die Phänomene des Göttlichen liegen zwischen den klipp und klaren Evidenzphänomenen auf den einen und dem bloß geschichtlichen Material auf der anderen Seite. Es sind Phänomene mit Evidenzcharakter und Traditionshintergrund. Ihre angemessene Erfassung liegt daher zwischen der deskriptiven und der dogmatistischen Methode. Ihr Wahrheit- und Realitätsanspruch wird angemessen weder einfach hingenommen, sondern kritisch geprüft, noch einfach behauptet, sondern aus dem Anspruch der Phänomene begründet. Dieser Methode liegt die Einsicht zugrunde, dass auch dann, ————— unmittelbar auf ein Objekt außer mir geht. […] Zu einem solchen ‚Realitätsgefühle‘ aber, als erstem und unmittelbarem Datum, zu dem Gefühle eines objektiv gegebenen Numinosen ist dann das ‚Abhängigkeitsgefühl‘ eine erst nachfolgende Wirkung“ (Das Heilige, 11; zum Kreaturgefühl vgl. J. Geyser, Intellekt oder Gemüt? 311f). „Der religiöse Mensch sieht dasjenige, worum es sich in seiner Religion handelt, immer als das Primäre, Verursachende“ (G.v.d. Leeuw, Phänomenologie der Religion, 3). „Götter sind konzipiert als erste Dinge hinsichtlich Sein und Mächtigkeit. Sie überwölben und umfassen alles, und vor ihnen gibt es kein Entkommen. […] Das Göttliche soll für uns ausschließlich eine solche ursprüngliche Realität bedeuten, von der das Individuum sich zu feierlicher und ernster Antwort angetrieben fühlt. […] Es ist, als läge im menschlichen Bewusstsein ein Sinn für Realität, ein Gefühl für objektive Gegenwart, eine Wahrnehmung von – man möchte sagen – ‚da ist etwas‘ tiefer und allgemeiner als irgendeiner der einzelnen und besonderen ‚Sinne‘“ erfassen kann (W. James, Die Vielfalt religiöser Erfahrung, 44.48.68). 62 H. Schmitz, Das Göttliche und der Raum, 2. 63 Ebd., 3.

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wenn man Religiosität als „Verhalten aus Betroffensein von Göttlichem“64 definiert, dieses Göttliche selbst nicht in der Religion aufgeht. Das Göttliche ist immer mehr als die Religion, es ist als Wirklichkeit keine abgesonderte, heilige Sphäre, es hat seinen Ort nicht in einer „Provinz im Gemüte“65, sondern stellt eine Absolutheit dar, die das religiöse Erleben, Empfinden und Verhalten transzendiert. Das Göttliche zeichnet sich durch „immensitas“ und „Spontaneität“ aus: es ist ‚größer‘ als der Raum, den es im Leib und Bewusstsein des religiös Betroffenen einnimmt, und zu ihm gehört eine Spontaneität, „die es dem Ermessen des Betroffenen überschwenglich entzieht“66. 2. Die Pfingstepiphanie: Anders als die Vielzahl göttlicher Wesen der verschiedensten Religionen und Kulturen, die Schmitz in seine Phänomenologie des Göttlichen einbezieht, sollen uns nur diejenigen des biblischchristlichen Bereiches interessieren67. Als ein göttliches Wesen, das in der atmosphärischen Präsenz die beiden Eigenschaften der Immensitas und der Spontaneität innehat und zudem mit der Absolutheit seiner Präsenz eine unbedingte Betroffenheit hervorruft, also zu Religion im Schmitzschen Sinne des Verhaltens aus Betroffenheit von Göttlichem führt, ist zunächst der Heilige Geist zu nennen. Wir wollen versuchen, die Epiphanie des Geistes, wie sie in der Pfingstgeschichte von Act 2 erzählt wird, mit den Mitteln des Atmosphärenkonzeptes zu deuten. Das Pfingstereignis ist im Vergleich zu heutigen Geisterfahrungen als außerordentlich zu bezeichnen, hat aber als Gründungsereignis der christlichen Kirche archetypische und aufgrund der literarisch durchgeformten Gestalt exemplarische Bedeutung für das Wirken und die Erfahrung des Heiligen Geistes überhaupt. Die Pfingsterzählung spricht, als Erfüllung der Verheißungen Joels (Joel 3) und Jesus’ selbst (Act 1,8), dem „Herr des pneuqma“68, von einem plötzlichen (spontanen) Brausen, das vom Himmel her wie ein gewaltiger, lärmender Wind herabfährt, das ganze Haus erfüllt, sich zerteilend in Feuerzungen auf jeden der Anwesenden setzt,69

————— 64 Ebd., 11, kursiv U.B. 65 Schleiermacher, Über die Religion, Erste Rede, 26. 66 Schmitz, Das Göttliche und der Raum, 8. 67 Schmitz behandelt in eklektischer und willkürlich erscheinender Auswahl „dionysische Numina“ wie Dionysos, Odin, Shiva, Jok und „palladische Numina“ wie Athene und Sophia, also Numina aus dem Griechenland Homers, dem germanischen, hinduistischen, animistisch-afrikanischen und dem jüdisch-hellenistischen Kulturbereich. 68 E. Schweizer, Art. pneuma, pneumatikos, ThWNT, 402. 69 Es ist unklar, ob es sich um die 120 Brüder von 1,15 oder die wieder Zwölf von 1,26 handelt, und ob sich der Wind in separate Feuerzungen zerteilt, wie in der altkirchlichen Ikonographie üblich, oder sich zuerst in Feuer wandelt und dann auf alle verteilt, wie das apokalyptische Theophaniemotiv nahe legt (vgl. Jes 5,24; äthHen 14,9f.15; 71,5). Die Diversifikation auf alle bedeutet jedenfalls die Installation des endzeitlichen, prophetischen Gottesvolkes als der neuen Heils-

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wodurch sie anfingen, in den ihnen fremden Sprachen der anderen zu reden, wie der Geist ihnen eingab (2,1–4). Die übliche Interpretation des Geschehens als eines „Hörerlebnis (Audition)“, gefolgt von einem „Schauerlebnis (Vision)“ unter bestimmten, vorab genannten „Zeit- und Ortszirkumstanten“70, das von Lukas theologisch als Erfüllung mit dem Heiligen Geist gedeutet wird71 und als deren Folge sich ein entsprechendes „Sprachen- und Hörwunder“72 (Reden im fremden und hören im eigenen Dialekt) ereignet, greift schon vom geschilderten, empirischen Tatbestand zu kurz, auch dann, wenn man theologisch die (vorlukanischen) „mirakulösen und ominösen Züge“ – das Brausen, die Feuerzungen, die Glossolalie, kurz: das Schwer- und Unverständliche – der Bedeutung nach hinter dem eigentlich Wunderbaren, der „ganz unerwartbaren Verständlichkeit“ und dem „unglaublichen universalen Verstehenkönnen und Verstehen“73 zurückstellt. Die Epiphanie des Geistes ereignet sich als plötzlich auftretende, extrem dichte und durch den ganzen Raum ausgebreitete Atmosphäre, die nicht nur mit Ohr und Auge, sondern am ganzen Leib, mit Haut und Haar, gespürt wird, jedoch nicht als Zustand des Leibes. Weder die Deutung als subjektive Vision74 noch als bloß innerliches Ergriffensein wird dem Phänomen gerecht. Alle oben herausgestellten Eigenheiten einer Atmosphäre sind zu konstatieren: Die Geistsphäre ist eine übermächtige Wirklichkeit, die leiblich ergreift. Sie hat zunächst richtungsräumliche (eök touq ouöranouq), dann weiteräumliche Struktur (eöplhßrvsen oÄlon toßn oiQkon) und trifft auf das Hier der primitiven Gegenwart: Sie führt ein elementar-leibliches Betroffensein der Anwesenden herbei, das sie auf ihr Hier und Jetzt behaftet. Die Atmosphäre wird als Anwesenheit von Wirklichkeit, von Wirkmacht erlebt und am Leib als ein anderes gespürt. Die Anwesenden geraten pathisch in diese Wirklichkeit hinein (Ingression) und werden von ihr betroffen als eine fremde Wirklichkeit (Diskrepanz). Die Differenz von Mensch und Geist sowie die sozialen (kulturellen, nationalen, sprachlichen) Differenzen untereinander werden nicht beseitigt, sondern bleiben erhalten. Das „Kraftfeld des Geistes bildet eine differenzierte, nicht eine homogene Einheit.“75 Es stellt sich dann ein neuer, vorher nicht für möglich gehaltener Zustand ein, ein Kopplungszustand aus sprachlicher Vielfalt und Geist zur differenzierten Gemeinschaft des neuen Gottesvolkes aus Juden und Heiden. „Diese Differenz zwischen der Erfahrung pluraler Unzugänglichkeit füreinander und bleibender Fremdheit und Unvertrautheit einerseits und plötzlicher Gemeinsamkeit des Verstehenkönnens andererseits, dies ist das wahrhaft Spektakuläre und Schockierende des Pfingstereignisses!“76 Die Indivi-

————— gemeinde, da das LXX-Zitat von Joel 3,1–5, das die Ausgießung des Geistes auf alles Fleisch, samt Knechten und Mägden, verheißt, um „auf meine Knechte und auf meine Mägde“ ergänzt wird (Act 2,18). 70 R. Pesch, Die Apostelgeschichte 1 (Apg 1–12), 99. 71 Vgl. Luk 1,15.41.67; Act 1,8; 4,8.31; 9,17; 13,9. 72 Pesch, Die Apostelgeschichte 1, 104. 73 M. Welker, Gottes Geist. Theologie des Heiligen Geistes, 216. 74 Die Erscheinung (väfjhsan, Act 2,3) ist hier wie in 1.Kor 15,3; Gal 1,16 objektiv, außerhalb der Wahrnehmenden liegend. 75 Welker, Gottes Geist, 214. 76 Ebd., 218.

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duation, das Aufdringen des Geistes mit seinem Anspruch auf jeden Einzelnen einerseits, und die Sozialisation, der Zusammenschluss der Anwesenden zur völkerverbindenden Gemeinschaft, andererseits77 werden durch die atmosphärisch dichte Geistpräsenz vermittelt. Genauer gesagt: die Atmosphäre ist ihre Referenz, die Geistsphäre ist der Geist. Es existiert nicht noch ein isoliertes Wesen namens Heiliger Geist außerhalb dieser Raumatmosphäre, der Geist ist diese, statt als Form oder Figur regelrecht als dichter, fast massiver Stoff ergossene Atmosphäre. Der Geist ist die Sphäre, in der er als anwesend spürbar wird. Die Geistsphäre ist eine sphaera activitatis, ein ekstatischer Zustand des Gottesgeistes, ein Aus-sich-heraustreten seiner selbst in die Sphäre seiner Anwesenheit. Der Geist ist hier ein zeitlich begrenzter, aber räumlich ausgedehnter Wirkraum, ein Präsenzraum in der Zeit. Es ist nicht „der“ Heilige Geist, sondern Heiliger Geist (ohne Artikel), der als überpersönliche Atmosphäre von oben herab eindringt und Raum und Leiber aller Anwesenden vollständig und randlos erfüllt (eöplhßsjhsan paßntew pneußmatow aÖgißou, Act 2,4).

Der Heilige Geist wird hier, wie auch sonst oft im prophetischen, apokalyptischen und lukanischen Schrifttum als „eine Art Flüssigkeit“78, als flüssiger, dabei spürbarer und hörbarer Stoff wie Regen, Wind oder Feuchte über Einzelpersonen, Gruppen oder das Land ausgegossen. Der Geist Gottes ereignet sich als atmosphärische Weite von randloser Ergossenheit, manchmal weiteräumlich, manchmal richtungsräumlich, manchmal ortsräumlich auf Verdichtungspunkte oder Personen zentriert, in jedem Fall als unmittelbar und unbedingt ergreifende, als verpflichtende und fordernde, auch als fremde, aber stets als Anwesenheit heischende Macht. Immer ist die Epiphanie des Geistes Gottes mit Wirkungen verbunden, seien es natürliche wie das Leben, wenn der Geist als kosmisches Lebensprinzip die Schöpfung durchwaltet (Gen 1,2; 2,7; Ps 104,29f), seien es übernatürliche, extraordinäre wie das messianische Wirken (Jes 61,1 = Luk 4,18), die Glossolalie oder die prophetische Rede (1.Kor 12,10), seien es „reguläre“ Geistwirkungen in den Gläubigen wie die Charismen (Röm 12,3), das Leben im Geist (Röm 8,14) oder das Erfülltwerden mit Friede und Freude (Gal 5,22).79 Besonders im zuletzt genannten Fall wird deutlich, dass, wie die Präsenz des Geistes selbst, auch die Wirkungen des Heiligen Geistes als Atmosphären beschrieben werden können. Der Friede und die Freude im heiligen ————— 77 Die Völkerliste V. 9–11 meint „den Horizont der jüdischen Welt“ (J. Roloff, Die Apostelgeschichte, 45). 78 R. Albertz/C. Westermann, Art. ruah Geist, THAT, 751; nachdem in der Frühzeit Israels der Geist Gottes eine „dynamisch-explosive Kraft“ (743) darstellte, die den charismatischen Führer oder ekstatischen Propheten überfällt, ist exilisch-nachexilisch die bleibende Verleihung des Geistes an den Gesalbten (Prophet, König, Messias) und an das ganze Gottesvolk oft mit Verben des Ausgießens verbunden analog einem segenspendenden Regen (Jes 32,15; 44,3; Ez 39,29; Jo 3,1f). 79 Als Entwurf einer biblischen, dynamisch-atmosphärischen Pneumatologie vgl. H.-J. Kraus, Heiliger Geist. Gottes befreiende Gegenwart; Moltmann, Der Geist des Lebens, Kap. I.IIf; II.IX; Welker, Gottes Geist, 2–4.

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Geist (Röm 14,17; 15,13) sind, der immensitas und spontan-ergreifenden Aktivität des Geistes selbst korrespondierend, ebenfalls ein ausgebreitetes, verdichtetes und spontan ergreifendes Gefühl, welches den ganzen Leib erfüllt, nicht nur die kognitiven Bereiche. Die Freude und der Friede, welche der Geist hervorruft, sind eine leibhafte Sphäre, in die man gerät, von der man affiziert wird und in der man lebt und ruht. 3. Persönliche oder unpersönliche Atmosphären? Ob es sich bei den göttlichen Atmosphären, angesichts ihrer dargestellten Phänomenologie, eher um unpersönliche oder eher um persönliche Atmosphären handelt, ist nicht kategorisch zu beantworten. Die Epiphanie des Göttlichen, auch des christlichen Gottes und des Heiligen Geistes, kann mehr unpersönlicher oder mehr persönlicher Art sein. Die Differenz ist, wie oben allgemein diskutiert, nur quantitativ und relativ. Eine qualitative, kategoriale Differenz anzugeben wäre nur möglich, wenn die Unterscheidungen der Arten von Atmosphären, die von Dingen, Menschen oder Landschaften ausgehen, ebenso kategorial möglich wäre, wie die kategoriale Differenz der Objekte, von denen sie ausgehen. Während der kategoriale (ontologische) Unterschied zwischen Person und Nicht-Person, zwischen „jemand“ und „etwas“ so strikt ist, dass es keinen Übergangsbereich gibt,80 ist dies für die von ihnen ausgehenden Atmosphären nicht der Fall. „Persönliche“ und „nichtpersönliche“ Atmosphären, also Atmosphären, die von Personen einerseits oder von Dingen, Orten oder Landschaften andererseits ausgehen, unterscheiden sich nicht kategorial, sondern relativ ihrer Struktur nach darin, dass sie atmosphärisch dichtere und weniger dichte Bereiche haben, dass sie atmosphärisch mehr konzentriert oder mehr ausgebreitet sind. Die Atmosphären von Personen resp. von Dingen sind selbst weder Person noch Ding, sondern ekstatisch-ausgebreitete Anregungszustände, deren ontologischer Status der des reinen Phänomens, der Aktualität, der Räumlichkeit in der Zeit ist. Die Unterscheidung zwischen den unpersönlichen und den persönlichen Atmosphären, die Schmitz klassifizierend in seine Phänomenologie des Göttlichen einführt, meint m.E. nicht eine Unterscheidung der göttlichen Wesen selbst in Personen und Nicht-Personen, als vielmehr die Art und Weise, wie sie als Atmosphären erscheinen und wie man von ihnen betroffen wird. Unpersönliche, von Schmitz besser auch überpersönlich genannte, göttliche Atmosphären sind etwas weiter, etwas weniger dicht, etwas allgemeiner, homogener und undifferenzierter als die persönlichen, die verdichteter, konzentrierter, bestimmter betroffen machen. ————— 80 Vgl. R. Spaemann, Personen. Versuche über den Unterschied zwischen ‚etwas‘ und ‚jemand‘.

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Die Unterscheidung entspricht ungefähr derjenigen von Karl Barth zwischen der allgemeinen und der besonderen Gegenwart Gottes (s.o. Einleitung 5.), hat aber den Vorteil, dass nicht eine kategoriale Differenz zwischen Allgemeinem und Besonderem eingezogen wird, welche die allgemeine Gegenwart unbestimmt ließe, sondern beidesmal eine konkrete Gegenwart ausgesagt wird. Die Unterscheidung ist die von zunehmender Verdichtung ausgesagt. Die überpersönliche, allgemeine Gegenwart Gottes hat im Unterschied zur persönlichen, besonderen keinen klar bestimmten Verankerungspunkt und keinen spezifischen Verdichtungsbereich, sie ist weiter, allgemeiner, weniger verpflichtend und in Beschlag nehmend. Die überpersönliche Atmosphäre schafft räumliche Weite, die persönliche behaftet und verpflichtet. So ist es wohl bei Schmitz gemeint, wenn er – ad bonam partem interpretiert – ohne klare Unterscheidungen anzugeben, unter die unpersönlichen Atmosphären den Frieden Gottes als räumliche Ergossenheit und wunderbar erlebte Weite ebenso rechnet wie die Vorstellung von der Gottheit als einhüllendes Kleid oder als umhüllendes Meer, Luft, Ton, Duft oder Licht. Die überpersönliche ist eine umhüllende und umgreifende, eine einbettende und bergende Atmosphäre.81 Sie findet sich besonders häufig in der (deutschen) Mystik, bei Meister Eckhart, Mechthild von Magdeburg, Katherina von Siena, Gerhard Tersteegen oder Angelus Silesius, wenn sich der Gläubige in Gott wie der Fisch im Wasser, der Vogel in der Luft, wie die Blume in der Sonne fühlt und entsprechend Gott als atmosphärische Luft, Meer, Sonne, Licht, Feuer, Schönheit, Wahrheit, Liebe, Güte und Friede vorgestellt wird.82 Gott ist hier als ortlos ergossende Atmosphäre und als ergreifendes, überpersönliches Gefühl präsentiert, als Lebenselement und als Liebe selbst.83

Die räumliche Ergossenheit und der Gefühlscharakter der überpersönlichen göttlichen Atmosphären kommt darin zum Ausdruck, dass sie sinnlich wahrnehmbar und leiblich spürbar sind wie das umgebende Licht, ein Duft oder das Meer und in eine entsprechende Stimmung versetzen, z.B. der Erhebung, der Ruhe oder des Umhüllt- und Gehaltenseins.84 Gott ist hier ————— 81 Schmitz, Das Göttliche und der Raum, 96.100f u.ö. 82 Vgl. nur die Zeilen der Strophen 5–7 aus G. Tersteegens „Gott ist gegenwärtig“ (EG 165): „Luft, die alles füllet,/drin wir immer schweben,/aller Dinge Grund und Leben,/Meer ohn Grund und Ende,/Wunder aller Wunder:/ich senk mich in dich hinunter. […] // Du durchdringest alles;/lass dein schönstes Lichte,/Herr, berühren mein Gesichte./Wie die zarten Blumen/willig sich entfalten/und der Sonne stille halten,/lass mich so/still und froh/deine Strahlen fassen/und dich wirken lassen. // Mache mich einfältig,/innig, abgeschieden,/sanft und still in deinem Frieden; […]“ 83 Vgl. die vierte Strophe von A. Silesius’ „Liebe, die du mich zum Bilde, deiner Gottheit hast gemacht[…]“ (EG 401): „Liebe, die du Kraft und Leben,/Licht und Wahrheit, Geist und Wort,/Liebe, die sich ganz ergeben/mir zum Heil und Seelenhort:/Liebe, dir ergeb ich mich,/dein zu bleiben ewiglich.“ 84 Vgl. die von W. James gesammelten Empfindungen der Gegenwart Gottes: „Gott ist für mich realer denn irgendein Gedanke oder Ding oder eine Person. Ich fühle seine Gegenwart

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jeweils nicht als umrissene Figur vorgestellt, sondern als ein randloser Raum oder als ein mächtiges Gefühl, in dem man sich aufhält, das einen umgibt und von dem man durchdrungen ist. Ps 139,7 erkennt die erderfüllende Gegenwart Gottes in seinem ausgebreiteten Geist, dem man nirgendwohin entkommen kann, und wenn im 1. Johannesbrief Gott als Liebe bezeichnet wird, in dem wir bleiben, wenn wir in der Liebe bleiben (4,16), ist er als atmosphärisch ergossenes Gefühl vorgestellt. Im Unterschied zu unverbindlichen Atmosphären ist jedoch an dieser Stelle das umgebende Gefühl ein solches, „das mit unbedingter Autorität den Betroffenen ergreift und eben den Impuls, womit es ihn ergreift, zur verbindlichen Norm erhebt“85. Daher handelt es sich hier, obwohl die räumliche Ergossenheit genauso gegeben ist wie bei den unpersönlichen göttlichen Atmosphären, um eine persönliche Atmosphäre. Persönliche göttliche Atmosphären sind Machtsphären, die unbedingt verpflichten und unausweichlich angehen. Das göttliche Wesen ist hier in eminentem Sinn als dynamisch wirksam vorgestellt, als intensives Kraftfeld, das in bestimmter Weise Wirkungen – physische und psychisch-affektive – Wirkungen hervorruft. Dies ist der Fall, wenn sich der Engel Jahwes um die, die ihn fürchten, lagert und sie dadurch erettet (Ps 34,8). Dies ist auch der Fall bei der Vorstellung vom Zorn Gottes, der vom Himmel als eine entsetzenerregende Gefühlsmacht ausgegossen wird (Röm 1,18). In all diesen Fällen ist die Atmosphäre so dicht und von unbedingtem Ernst, dass sie erstens machtvoll ein Gefühl hervorruft, korrespondierend zu dem, als das sie ausgebreitet ergossen ist, und zweitens als Gefühl der Anwesenheit von jemand, nicht von etwas im Raum erlebt wird. Das Gefühl der Anwesenheit (sentiment de présence) tritt bei allen Epiphanieerlebnissen, aber auch bei den von Rudolf Otto beschriebenen numinosen Erlebnissen einer Macht im Raum auf.86 Die persönlichen Atmosphären sind in der Regel im Unterschied zu den weiteräumlichen, unpersönlichen richtungs- oder ortsräumlich verdichtet. ————— positiv […] ich fühle ihn im Sonnenschein oder Regen; und Ehrfurcht, vermischt mit einer köstlichen Stimmung von Frieden, kommt als Beschreibung meinen Gefühlen am nächsten. […]Gott umgibt mich wie die physische Atmosphäre. Er ist mir näher als mein eigener Atem. In ihm lebe ich im wahrsten Sinne des Wortes, und in ihm habe ich mein Wesen. […] Ich habe die Empfindung einer Gegenwart – stark und zur gleichen Zeit besänftigend –, die über mir schwebt. Manchmal scheint sie mich mit tragenden Armen zu umhüllen“ (Die Vielfalt religiöser Erfahrung, 79.81). 85 Schmitz, Das Göttliche und der Raum, 119. 86 Vgl. Otto, Das Heilige, 11.17 u.ö.; es wird diskutiert, ob es sich bei Ottos „numinosem Gefühl“ um ein artbesonderes, von den natürlichen Gefühlen unterschiedenes Gefühl handelt oder ob die Numinosität im besonderen Gegenstand begründet liegt, durch den das Gefühl geweckt wird, was m.E. ganz eindeutig Ottos Meinung ist, hierzu vgl. S. Holm, Apriori und Urphänomen bei Rudolf Otto, 77f; W. Baetke, Das Phänomen des Heiligen, 354f.

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Richtungs- und/oder ortsräumlich orientiert sind auch die spezifisch lokalen göttlichen Atmosphären, die mit Verankerungspunkt und Verdichtungsbereich ausgestattet sind. 4. Alttestamentliche Theophanien: Dazu gehören im Besonderen die Theophanien des Alten Testaments, die hier zur Ergänzung des Materials von Schmitz summarisch angeführt seien, um an ihnen schon vorauslaufend auf die theologisch zentrale Frage hinzuarbeiten, ob denn das Atmosphärische in den Erscheinungen Gottes bzw. des Heiligen Geistes deren Personalität widerspricht oder entspricht. Gerade die Theophanien machen deutlich, dass die göttlichen Atmosphären samt den sie begleitenden Naturphänomenen für das atl. Verständnis nicht im Widerspruch zur Personalität Gottes stehen, sondern diese gerade zur Geltung bringen. Die Theophanie am Sinai ist nach der jahwistischen Darstellung zwar von vulkanischen Erscheinungen begleitet, als Ursache der Rauchumhüllung des Sinai wird aber das Herabfahren Jahwes genannt (Ex 19,18; vgl. 34,5; Mi 1,3; Ps 18,10). Auch die vulkanische Wolken- und Feuersäule, die zum Zeichen der Gegenwart Gottes mit dem Volk durch die Wüste zieht, ist bei J nicht reines Naturphänomen, sondern verhüllte Präsenz Jahwes, während der Elohist die Theophanie am Sinai von Gewitterphänomenen (Donnern, Blitzen, Nebelwolke) begleitet sein lässt (Ex 19,16.19; 20,18), die dem kanaanäischen Kulturland gemäß dem ugaritischen Mythos von den Erscheinungen Baal-Hadads bekannt waren.87 Auch wenn die vulkanischen Umstände in Israels Frühzeit bzw. die Gewitterphänomene in der Kulturlandzeit geradezu als Epiteta Jahwes gelten können (Ri 5,4; Dtn 33,2; Ps 68), so war doch die Theophanie keine Offenbarung eines Gewittergottes, sondern Willensoffenbarung Jahwes. „Weder ist ein einzelnes Naturphänomen in sich eine Theophanie Jahwes, noch ist Jahwe in seiner Theophanie an ein einzelnes Phänomen gebunden. Jahwe war nie ‚Gewittergott‘, ‚Feuergott‘ oder ‚Lichtgott‘.“88 Das Entsetzen des Volkes, das in der Sinaiszene nach E unvermittelt in die Gewittersphäre gerät (Ingression) und um das Leben (!) fürchtet (Diskrepanz), zeigt, dass es sich nicht um bloßes Naturschauspiel handelt, sondern um die im Dunkel verhüllte Präsenz Gottes (Ex 20,21), die zum ersten Gebot verpflichtet (23). Auch die prophetischen Gerichtstheophanien zeigen, dass Jahwe eine Willensmacht ist, die in die Welt einbricht und seinen Willensanspruch in naturzerstörendem Feuer und Beben zur Geltung bringt (Am 1,2; Ps 50,3; Mi 1,4; Nah 1,3f; Hab 3,6). Noch P schildert die Erscheinung der Kabod Jahwes als verhüllende Wolke und verzehrendes Feuer (24,16f). Die Jahwe seit der Frühzeit umkleidende Kabod ist nicht harmlose ästhetische Verklärung, sondern seine Heiligkeit zur Geltung bringender, Natur und Menschen entsühnender Lichtglanz, der über die Wasser donnert, im Tempel widerhallt (Ps 29,3.9), oder umgekehrt vom Tempel aus die ganze Erde erfüllt und zur (eschatologischen) Anbetung Jahwes nötigt (Jes 6,3.5; 40,5; Hab 2,14).

————— 87 88

Vgl. J. Jeremias, Theophanie. Die Geschichte einer alttestamentlichen Gattung. Ebd., 38.

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Die Naturerscheinungen der Theophanien stellen keine, gar nur rhetorische, Darstellungsmittel oder sekundäre Begleitumstände oder Reste eines archaischen Animismus dar, sondern bilden die atmosphärische Präsenz des transzendenten Gottes selbst. Auch in der Königs- und Exilszeit, in der die Transzendenz Gottes gesteigert und peinlich gewahrt wird, bleibt die Präsenz Jahwes an Naturphänomenen sinnlich wahrnehmbar und spürbar. Bei der ebenfalls von vulkanischen Phänomenen begleiteten Gottesoffenbarung am Horeb (1.Kö 19) ist Gott zwar weder im Sturm, noch im Erdbeben, noch im Feuer, aber seine Stimme ergeht in der dichten Atmosphäre eines leisen Schweigens. Diese Audiophanie ist ohne die Begriffe der Atmosphäre und des Halbdings gar nicht zu fassen, denn es handelt sich weder um eine innere, noch um eine äußere, einem lokalisierten Sprecher zugeordnete Stimme. Die Stimme steht nicht im Gegensatz zum Schweigen, sondern ist der gestimmte Raum beredten Schweigens. Die Offenbarung Gottes im Wort schwebt, halbdinglich-atmosphärisch, im Raum als „Stimme eines verschwebenden Schweigens“89. Auch die elohistische Szene des Bundesschlusses am Sinai wahrt Gottes Transzendenz, die aber gerade in einer atmosphärisch-ausbreiteten Form zur Erscheinung kommt. Die kristallklare Fläche im lapislazulifarbenen Blau des Himmels, die die Ältesten Israels unter den Füßen Gottes sahen, ist nicht Verhüllung, sondern Erscheinung der Transzendenz Gottes. Sie ist gleichwohl Verhüllung der Präsenz Gottes, denn mit der Fläche „sahen“ und „schauten“ die Ältesten den Gott Israels – und wurden doch, gerade so, nicht vernichtet (Ex 24,11f). Die Entzogenheit Gottes ist hier gerade heilvolle Nähe und die atmosphärische Erscheinung vermag Nähe und Ferne, Zuwendung und Gerichtsmacht zugleich zum Ausdruck zu bringen.

Die Phänomenologie des Geistwirkens und der Epiphanien Gottes, die wir an exemplarischen und archetypischen alt- und neutestamentlichen Texten studiert haben, haben deutlich gemacht, dass ein geeignetes Konzept der Beschreibung das der ausgebreiteten Atmosphären ist. Differenziert können damit die Anwesenheit und Entzogenheit, die Zugewandtheit und Fremdheit, die Allgemeinheit und Konkretheit der wirkmächtigen Präsenz Gottes und seines Geistes ebenso ausgedrückt werden wie die Unbedingtheit und Diskrepanz, das Einbezogensein und die Ergriffenheit ihrer Erfahrung, weil das Konzept räumliche Richtungen, Gerichtetheit und Dichtheitsgrade zu unterscheiden erlaubt. Die phänomenologisch richtige Beschreibung der Erscheinungen Gottes im Raum ist aber noch keine Gewähr für die theologische Sachgemäßheit. Es muss geprüft werden, ob die atmosphärische Beschreibung des Geistwirkens und der Präsenz Gottes im Raum auch der Gottheit Gottes angemessen ist. Das Atmosphärenkonzept fordert zu einer systematisch-theologischen Auseinandersetzung heraus, da es in diesem Zusammenhang nicht nur ungewohnt ist, sondern sich auch sachlichen kritischen Einwänden gegenüber sieht. ————— 89

M. Buber/F. Rosenzweig, Die Schrift, Bd. IX: Das Buch der Könige, 116.

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3.5 Kritische Reflexion: Gott als Person und der Personbegriff 1. Einwände: Gegen das phänomenologische Konzept der räumlichen Atmosphären für die Erscheinungen und Manifestationen Gottes erheben sich mindestens drei kritische Einwände, die überwunden werden müssen, um die theologische Anwendung der Atmosphären zu rechtfertigen. Der erste Einwand betrifft die Frage, ob die Atmosphäre nur eine vage, unscharfe Umschreibung von Gotteserscheinungen darstellt oder um eine sogenannte „dichte Beschreibung“ (C. Geertz), also um eine deutende Beschreibung im Rahmen eines religiösen Symbolsystems, die die Wirklichkeit des Beschriebenen angemessen erfasst, oder zumindest die Gottesvorstellung „mit einer solchen Aura von Faktizität umgibt“, dass die Erscheinungen „völlig der Wirklichkeit“90 des Erscheinenden zu entsprechen scheinen. Um letzteres zu ermöglichen, muss der zweite mögliche Einwand abgewiesen werden, dass das Atmosphärenkonzept einem Polytheismus Vorschub leisten könnte. Es muss gezeigt werden, dass die Einheit und Einzigkeit Gottes nicht notwendig durch die Vielfalt möglicher atmosphärischer Erscheinungen in Frage gestellt wird. Dafür ist zu begründen, dass das Konzept der Atmosphären eine Differenz zwischen Wesen und Erscheinung sowie zwischen der Vielzahl von Erscheinungen und der Einheit des Erscheinenden zulässt. Der dritte Einwand betrifft die Frage, ob die Beschreibung Gottes als Atmosphäre nicht der theologisch fundamentalen Bestimmung Gottes als Person widerspricht. Alle drei Probleme können auf einmal behandelt werden, indem versucht wird, einen solchen Begriff von Person und von personaler Identität zu entwickeln, der zum einen mit dem Konzept personaler Atmosphären harmoniert und zum andern analog auf die Beschreibung Gottes als Person übertragen werden kann. Wenn dies gelingt, kann in einem weiteren Schritt der Mehrwert des Atmosphärenkonzeptes gerade für die Bestimmung Gottes als Person herausgearbeitet werden. Unsere These ist, dass die phänomenologische Beschreibung der Anwesenheit Gottes als Atmosphäre nicht nur der Bestimmung Gottes als Person nicht widerspricht, sondern bestimmte Aspekte daran, und zwar in einem die personale Präsenz, Wirkmacht und Transzendenz, besonders anschaulich und begrifflich präzise zur Geltung bringt. Nach einem knappen Rekurs auf das systematische Problem der Übertragung des Personbegriffs auf Gott (2.) wird die altkirchliche und neuzeitliche ————— 90 C. Geertz, Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, 48; hier die berühmte Definition von Religion als „(1) ein Symbolsystem, das darauf zielt, (2) starke, umfassende und dauerhafte Stimmungen und Motivationen in den Menschen zu schaffen, (3) indem es Vorstellungen einer allgemeinen Seinsordnung formuliert und (4) diese Vorstellungen mit einer solchen Aura von Faktizität umgibt, dass (5) die Stimmungen und Motivationen völlig der Wirklichkeit zu entsprechen scheinen.“

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Entwicklung des Personbegriffs skizziert (3.–4.). Aus den inneren Problemen des idealistischen Ich-Begriffs (5.) wird in Verfolgung der weiteren Entwicklung ein konsistenter Personbegriff erarbeitet (6.–7.), der personale Atmosphären zu integrieren erlaubt (3.6.1.) und auf Gott als personale Atmosphäre übertragen werden kann (3.6.2.). 2. Gott als Person? Bei der Problembearbeitung ist zu berücksichtigen, dass auch die Anwendung des Personbegriffs auf Gott zunehmend problematisch wurde,91 je mehr sich im Verlauf der Neuzeit unter dem Ausdruck „Person“ die Vorstellung eines selbstbewussten und selbstbestimmten Subjektes durchsetzte, das an einen Körper gebunden raumzeitlich lokalisiert und handelnd in der Welt tätig ist.92 Wird Gott als Person nach Art dieses menschlichen Personbegriffs verstanden, dann wäre er, wie Fichte und Feuerbach mit Recht kritisiert haben, lediglich eine Persönlichkeit im Goetheschen Sinne, d.h. endliche Person,93 bzw. Projektion menschlicher Persönlichkeit, also Selbstverdoppelung.94 Man könnte ihn im Gefolge des deutschen Idealismus steigern zur „absoluten Persönlichkeit“ oder zur „absoluten Person“95. Aber dieser Personbegriff bliebe tendenziell unitarisch oder höchstens modalistisch, selbst wenn unter (absolutem) Subjekt mit Hegel ein (ewiger) Prozess der Selbstdifferenzierung und Selbstidentifikation verstanden, Gott also als absolutes Prozess-Subjekt in drei Seinsweisen begriffen würde.96 Dieser Gottesbegriff wäre keinesfalls der des „konsequenten Monotheismus“ (Pannenberg) der christlichen Trinitätslehre, welche seit Tertullian Gott nur als Dreipersönlichkeit dachte, so dass Gott „Person nur in Gestalt jeweils einer der trinitarischen Personen ist“, während man „die Auffassung des einen göttlichen Wesens als Person im Sinne von Selbstbewusstsein als die Häresie des christlichen Theismus beurteilen“97 muss. Dies gilt auch noch in gewisser Weise für

————— 91 Zum Problem allgemein vgl. H. Ott, Wirklichkeit und Glaube, Bd. 2: Der persönliche Gott; F. Mildenberger, Gotteslehre, 148–151.177–184; R. Bernhardt, Ist Gott eine Person? Bedeutung und Problematik der personalen Gottesvorstellung; A. Kreiner, Das wahre Antlitz Gottes, 240–252. 92 Vgl. als Endpunkt der über den Empirismus von Locke und Hume bis zur analytischen Philosophie laufenden Entwicklung exemplarisch P. F. Strawson, Einzelding und logisches Subjekt (Individuals), 111ff, bes. 134, und E. Tugendhat, Selbstbewusstsein und Selbstbestimmung, die unter „Person“ ein empirisch in Raum und Zeit identifizierbares Individuum verstehen, welches Bewusstsein hat und zu sich „ich“ sagen kann. 93 Vgl. Goethes Sprüche, zit. bei E. Hirsch, Die Umformung des christlichen Denkens in der Neuzeit, 132.134: „Man mäkelt an der Persönlichkeit, vernünftig, ohne Scheu; was habt ihr denn aber, was euch erfreut, als eure liebe Persönlichkeit? Sie sei auch, wie sie sei. Wer etwas taugt, der schweige still, im Stillen gibts sich schon; es gilt, man stelle sich, wie man will, doch endlich ist die Person.“/„Was soll mir euer Hohn über das All und Eine? Der Professor ist eine Person, Gott ist keine.“ 94 L. Feuerbach, Das Wesen des Christentums, 2. Kap., 54f; zu Fichte s.u. 95 A.E. Biedermann, Christliche Dogmatik, §617, 537; R. Rothe, Theologische Ethik, Bd. I, §34, 136; I.A. Dorner, System der christlichen Glaubenslehre, Bd. I, §32, 430; F.H.R. Frank, System der christlichen Wahrheit, Bd. I, §14, 157; kritisch zu dieser Tradition vgl. H. Stephan, Glaubenslehre, 129. 96 G.W.F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion, 3. Teil: Die absolute Religion, I.3., Sämtliche Werke, Bd. 16, 228f. 97 Pannenberg, Die Subjektivität Gottes und die Trinitätslehre, 110.

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den Vorschlag K. Barths, den Personbegriff nur auf den einen Gott als Herrn, d.h. „als in und für sich seiendes Ich mit einem ihm eigenen Denken und Wollen“, nicht aber für die drei trinitarischen „Personen“ zu verwenden, die er lieber mit den Hegelianern die drei „Seinsweisen“98 des sich offenbarenden Herrn nennen wollte. Die Option, auf die Bezeichnung Gottes als Person zu verzichten, um den Anthropomorphismus und Projektionsverdacht zu vermeiden, ist kurzschlüssig, da es trinitätsund schöpfungstheologisch und aufgrund der Entwicklung des Personbegriffs nicht so ist, „dass von der geschöpflichen Person-Erfahrung auf das Personsein Gottes geschlossen wurde bzw. zu schließen ist. Vielmehr gilt umgekehrt […], dass das menschliche Personsein sich als ein schwaches Gleichnis göttlicher Personalität zeigt. Was Personalität im eigentlichen Sinn ist, verwirklicht sich in voller Weise nur in Gottes unendlichem Sein. Andererseits aber ist sogleich hinzuzufügen, dass der trinitarische Glaube an Personen in Gott in der geschöpflichen Abbildlichkeit und Ähnlichkeit sozusagen ‚plausibel‘, ‚erfahrungsträchtig‘, geradezu ‚erfahrungsdurchtränkt‘ wird (bei aller Betrachtung der ontologischen Differenz zwischen Gott und Mensch).“99 Mit Pannenberg gesagt: „Nur wenn die alles Wirkliche bestimmende Macht ihre Personalität, durch die sie als Gott in Erscheinung tritt, nicht aus einer Übertragung von der Selbsterfahrung des Menschen her empfängt, wenn vielmehr umgekehrt alles Reden von Personalität im Bereich der religiösen Erfahrung selbst seinen Ursprung hat, nur dann ist der Kritik Fichtes an der Auffassung Gottes als Person […] zu begegnen.“100 Es genügt daher nicht, mit E. Brunner im Gefolge von F. Ebner und M. Buber das menschliche Ich aus dem göttlichen Du konstituiert sein zu lassen, den Personbegriff aber nur völlig äquivok für Gott zu gebrauchen. Daraus, dass Gott als Person „kein Es, sondern unser primäres Du“ ist, wenn er sich in seinem Namen selbst offenbart, zu schließen, dass dann der „als persönlich gedachte Gott nicht wahrhaft persönlich“, vielmehr ein „Gedankengötze“101 sei, verkennt seinerseits, dass, wenn unter der göttlichen Person nur das schlechthin unverfügbare, unbedingte und undenkbare Du verstanden wird, sich auch der menschliche Personbegriff in ein schlechterdings undenkbares Nichtgegenständliches auflöst. Die Einlassung von W. Joest, dass der Satz „Gott ist Person“ nicht sagen will, „Gott sei ‚eine Person‘, er gehöre zur Gattung der Personwesen“102, verschleiert die theologische Aufgabe. Der richtige Satz: „Deus non est in genere“103, dispensiert nicht davon, dass man, auch wenn „Gott“ kein Gattungsbegriff ist, nur in Gemeinsamkeit und Differenz zu menschlichen Begriffen von ihm reden kann.

————— 98 K. Barth, KD I/1, 378f; ähnlich O. Weber, Grundlagen der Dogmatik I, 419; zur Nähe der Barthschen mit der Hegelsch-Dornerschen Trinitätslehre vgl. Pannenberg, Die Subjektivität Gottes und die Trinitätslehre. 99 G. Greshake, Der dreieine Gott. Eine trinitarische Theologie, 173. 100 W. Pannenberg, Die Frage nach Gott, 260f. 101 E. Brunner, Dogmatik I, 126f; 139. 102 W. Joest, Dogmatik I, 156. 103 Thomas v. Aquin, STh I, qu.3, a.5; S.c.g. I, c.25; K. Barth, KD II/1, 349.

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Die Frage ist nicht, ob, sondern wie Gott Person ist. Daher lautet unsere Aufgabe, nach einem kurzen Durchgang durch die Entwicklungsgeschichte des Gottes- und Personbegriffs, in Auseinandersetzung mit Fichtes Kritik einen solchen Personbegriff zu entwickeln, der analog auf Gott als Person anwendbar ist und zugleich erlaubt, die Erscheinungen Gottes als Atmosphären personal zu interpretieren. Dass dies nur in analoger Weise geschehen kann, ist von vornherein klar, wie auch in der Tradition niemals eine Identität von menschlichem und göttlichem Personbegriff behauptet wurde, sondern nur eine Vergleichbarkeit in Differenz. 3. Die Alte Kirche hat bekanntlich den Personbegriff104, der seit Homer die Maske sowie metonymisch die durch sie durchtönende Rolle des Schauspielers, dann weiter besonders im römischen Bereich die soziale, gesellschaftliche Rolle bezeichnet hat, seit Tertullian und Origenes nur auf die trinitarischen göttlichen Hypostasen angewandt bzw. genauer zur Bezeichnung ihrer hypostatischen Union.105 Für die Einheit des göttlichen Wesens wurde gerade nicht der Begriff Person, sondern entsprechend Joh 4,24 Geist (pneuqma, spiritus) verwendet.106 Da bei Tertullians Vorstellung von Gott als spiritus in Gestalt107 der stoische Pneuma-Begriff im Hintergrund stand als feinst-stofflichem, durch den Raum ausgebreiteten und den Kosmos zusammenhaltenden göttlichem Geist (divinus et continuatus spiritus)108, befürchtete Origenes, dass dann Gott wie ein Körper, ausgedehnt, an einen Ort gebunden und mit definiter Gestalt vorgestellt werden könnte. Origenes hingegen wollte Gott als pneuqma im Sinne des neuplatonischen nouqw als Vernunft, lat. mens verstehen. Gott sei vernünftige, ungeteilte, einfache und ganze Geist-Natur (intellectualis natura simplex […] et tota mens)109. Dieser Geist-Begriff konnte auch auf die Personeinheit der zwei Naturen Christi und allgemein auf menschliche Personen angewandt werden, wie es bei Boethius geschah, zumal im Neuplatonismus nous zugleich die göttlich-transzendente Vernunft des intelligiblen Kosmos als auch die immanent-natürliche Vernunft des sensiblen Kosmos bezeichnen konnte. Nach Boethius’ berühmter Definition ist Person eine vernünftige Natur in individueller Ausprägung (persona est naturae rationalis individua substantia)110. Diese Definition, die die mühsam gewonnene trinitätstheologische Unterscheidung von Person und Substanz wieder verdeckt,111 kann auf Gott nicht mehr, nicht einmal analog, angewandt werden, da das göttliche Wesen keine Individuierung einer übergeordneten Substanz darstellt und man die personalen

—————

104 Zur Begriffsgeschichte vgl. W. Pannenberg, Art. Person, RGG3; Art. Person, HWPh, Bd. 7 (versch. Autoren). 105 Zur Entwicklung des trinitarischen Personbegriffs insgesamt vgl. Greshake, Der dreieine Gott, 74–171, für die Alte Kirche vgl. bes. H. Dörrie, Hypostasis – Wort- und Bedeutungsgeschichte, 35–92; C. Andresen, Zur Entstehung und Geschichte des trinitarischen Personbegriffs; B. Studer, Der Person-Begriff in der frühen kirchenamtlichen Trinitätslehre, 162–177. 106 Zum Folgenden vgl. Pannenberg, ST 1, 402ff. 107 Tertullian, Adversus praxean, 7.8, 129. 108 Cicero, De natura deorum, II.19. 109 Origenes, De principiis, lib.I, c.1,1f, 100/102. 110 Boethius, Liber de persona et duabus naturis contra Eutychen et Nestorium, 5,3, 1343C. 111 Vgl. W. Pannenberg, Person und Subjekt, 82.

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Seinsweisen Gottes als Vater, Sohn und Geist gegen den lateinischen Sprachgebrauch als individuierte Substanzen, statt als Personen bezeichnen müsste. Boethius’ Definition ist innerhalb des genus-proximum- und differentia-specifica-Schemas nur von oben nach unten, auf ontologisch der Vernunftnatur untergeordnete Ausprägungen anwendbar. Noch Thomas, der die Definition Boethius’ positiv aufnimmt und die Substantialität auf die Subsistenz, auf das Durch-sich-selbst-Existieren einer vernünftigen Natur zuspitzt, verwendet den Person-Begriff nur korrigiert auf Gott, unter der Unterscheidung zwischen persona und substantia.112 Er kann aber den Geistbegriff analog auf Gott und Mensch beziehen. Die differentia specifica ist hier bei gemeinsamer Vernünftigkeit die Unendlichkeit und Vollkommenheit Gottes einerseits, die Körperlichkeit des Menschen andererseits.113

4. Weil in der Neuzeit immer mehr die Individualität und damit verbundene Eigenschaften der Person in den Vordergrund trat, wurde der Personbegriff zunehmend äquivok und auf Gott nicht mehr anwendbar. Nach Locke ist eine Person ein denkendes, vernünftiges Wesen, das Bewusstsein und Selbstbewusstsein hat, so dass es sich als dasselbe auch zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten identifizieren kann.114 Die Identität des Bewusstsein begründet Kant in der Einheit der transzendentalen Apperzeption: „Das: Ich denke, muss alle meine Vorstellungen begleiten können“115. Dass ich alle meine Vorstellungen zugleich als meine weiß, ist dadurch möglich, dass „das stehende und bleibende Ich (der reinen Apperzeption)“116 sie immer begleitet. Und „nur dadurch, dass ich ein Mannigfaltiges gegebener Vorstellungen in einem Bewusstsein verbinden kann, ist es möglich, dass ich mir die Identität des Bewusstseins in diesen Vorstellungen selbst vorstelle“117. Die Zuspitzung von Person auf die Identität des Bewusstseins, das sich im reinen Selbstbewusstsein als eines weiß und sich im Kontrast zu variablen Körperzuständen und Erkenntnisgegenständen jederzeit als identisches ————— 112 Thomas v. Aquin, STh I, qu.29. 113 Thomas v. Aquin, STh I, qu.3.4.7; S.c.g. I, c.20.28.43. 114 J. Locke, Versuch über den menschlichen Verstand, Buch II, c.27.9, Bd. 1, 419; die rationalistische Position unterscheidet sich hier nicht von der empiristischen, vgl. C. Wolff, Vernünftige Gedancken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, §924: „Da man nun eine Person nennet ein Ding, das sich bewusst ist, es sey eben dasjenige, was vorher in diesem oder jenem Zustande gewesen; so sind die Thiere auch keine Personen: hingegen weil die Menschen sich bewusst sind, dass sie eben diejenigen sind, die vorher in diesem oder jenem Zustande gewesen; so sind sie Personen.“ 115 Kant, KrV, B 132; dieser Satz „sagt nichts weiter, als, dass alle meine Vorstellungen in irgend einer gegebenen Anschauung unter der Bedingung stehen müssen, unter der ich sie allein als meine Vorstellungen zu dem identischen Selbst rechnen, und also, als in einer Apperzeption synthetisch verbunden, durch den allgemeinen Ausdruck Ich denke zusammenfassen kann“ (B 138). 116 Ebd., A 123. 117 Ebd., B 133.

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es selbst wieder zu erkennen weiß, steht im völligen Gegensatz zum Wesen Gottes, wie Fichte klar erkannte. Dieser Personbegriff würde eine Anthropomorphisierung und Verendlichung Gottes bedeuten. Verstünde man unter Gott ein von der Welt unterschiedenes Wesen mit „Persönlichkeit und Bewusstseyn“, so könnte darunter doch nur dasjenige gemeint sein, „was ihr in euch selbst gefunden, an euch selbst kennen gelernt, und mit diesem Namen bezeichnet habt? Dass ihr aber dieses ohne Beschränkung und Endlichkeit schlechterdings nicht denkt, noch denken könnt, kann euch die geringste Aufmerksamkeit auf eure Construktion dieses Begriffs lehren. Ihr macht sonach dieses Wesen durch die Beilegung jenes Prädicats zu einem endlichen, zu einem Wesen eures Gleichen, und ihr habt nicht, wie ihr wolltet, Gott gedacht, sondern euch selbst im Denken vervielfältigt.“118 Gott kann nach Fichte weder als Substanz noch als Subjekt gedacht werden. Nicht als Substanz, da der „Begriff von Gott, als einer besonderen Substanz, ein unmöglicher und widersprechender Begriff sey. (Substanz nemlich bedeutet nothwendig ein im Raum und der Zeit sinnlich existirendes Wesen)“119. Nicht als individuelles Subjekt, da ein Ich im Fichteschen Sinne als Einheit des Sich-selbst-setzenden absoluten Ich und des Sich-gegenüber-gesetzten Nicht-Ich ein anderes seiner selbst impliziert, wodurch eine Person notwendig endlich, durch etwas außer ihr begrenzt wird.120 Gott kann unter dieser Voraussetzung nur dann noch als Person angesprochen werden, wenn man auch den menschlichen Personbegriff vollkommen entstubstantialisiert, entgegenständlicht und aus der Subjekt-Objekt-Unterscheidung herausnimmt. Das ist das Gemeinsame aller nachfichteanischen Person- und Selbstbewusstseinstheorien, sei es dass man unter „Person“ mit Hegel Substanz als selbstbezügliches, prozessuales Subjekt, mit Heidegger die ungegenständliche Existenz des geschichtlichen Daseins, mit Buber das „zwischen“ Ich und Du konstituierte Sein-in-Beziehung oder mit Levinas die Unverfügbarkeit des Anderen aufgrund des unbedingten Anspruchs seines Antlitzes versteht. Die Kompatibilität all dieser Personkonzepte mit einem atmosphärischen Personbegriff sowie die Übertragbarkeit auf die Person Gottes wäre separat und detailliert zu prüfen. Wir beschränken uns auf die kritische Aufarbeitung desjenigen Personbegriffes, der auf den ersten Blick am weitesten von der Atmosphäre entfernt ist, nämlich dem idealistischen Ich-Begriff Fichtes und versuchen, indem wir zwei, drei der vielen Entwicklungslinien philosophischer Begriffsbildung folgen, aus der inneren Logik und den impliziten ————— 118 J.G. Fichte, Über den Grund unsers Glaubens an eine göttliche Weltregierung, 187. 119 J.G. Fichte, Appellation an das Publikum, 216. 120 Vgl. F. Wagner, Der Gedanke der Persönlichkeit Gottes bei Fichte und Hegel, 59–62.

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Schwierigkeiten von Fichtes Ich-Begriff heraus einen adäquates nachfichteanisches Personverständnis zu entwickeln. 5. Fichtes Ich: Die kritische Anfrage der idealistischen Ich-Philosophie an die Kantsche Transzendentalphilosophie richtet sich darauf, worin die Identität einer Person besteht und wie sie begründet werden kann. Der erste, der dafür ein schlüssiges, nicht selbstwidersprüchliches Konzept vorgelegt hat, war Fichte. Fichtes ursprüngliche, gegen Kants transzendentale Apperzeption gerichtete, Einsicht121 war die, dass das Selbstbewusstsein als Wissen von sich selbst sich selbst immer schon voraussetzt, damit es im Wissen von sich zugleich sich als den Wissenden dieses Wissens wissen kann. Da Wissen oder Bewusstsein auch nach Kant durchweg wissen von etwas ist (durchweg wurde Erkennen nach dem Muster der optischen Distanz gedacht, unabhängig davon, wie im Streit zwischen Empirismus und Rationalismus das Verhältnis von Rezeptivität und Aktivität gewichtet wurde), erscheint im Selbstbewusstsein ein Objekt, das von dem Subjekt „Selbst“, das sich zum Objekt seiner selbst macht, logisch verschieden, obwohl real identisch ist. Das Selbstbewusstsein ist der einzige Fall, bei dem der Akt des Denkens und das, was gedacht wird, nicht verschieden sind. Dies bedeutet aber, dass das Selbstbewusstsein nicht vor und außer diesem Denkakt der Reflexion des Ich auf sich selbst bestehen kann. Kants ‚Reflexionstheorie‘ des Ich erklärt, wie das Ich als Subjekt, das denkt, durch einen reflexiven Akt zum Bewusstsein seiner selbst kommt. Die reflexionstheoretische Erklärung des Selbstbewusstseins ist aber, wie Fichte zuerst erkannt hat, zirkulär, da sie das, was sie erklären will, schon voraussetzt.122 Denn es bleibt unklar, wie das Ich-Bewusstsein in der Rückwendung sich mit sich identifizieren kann. Das Selbstbewusstsein als Wissen von sich ist in jedem Denkakt schon vorausgesetzt, sonst könnte es sich nicht identifizierend auf sich beziehen. Anders gesagt: Subjektivität entsteht nicht erst durch den reflexiven Akt, sondern ist im Ich immer schon impliziert. Das Ich weiß immer schon, zumindest im Sinne einer präreflexiven Vertrautheit mit sich von sich, es ist sich unmittelbar bekannt. Jedes propositionale Bewusstsein von hat ein nicht-propositionales Selbstbewusstsein zur Voraussetzung. In dieser Weise hat die „Heidelberger Schule“ von D. Henrich und M. Frank Fichtes ursprüngliche Einsicht für eine konsistente Theorie des Selbstbewusstseins weiterzuführen versucht.123 Mit der Einsicht, dass es ein Bewusstsein gibt, das kein ObjektBewusstsein ist, sondern bei dem „das Subjective und das Objective gar nicht zu trennen, sondern absolut Eins und ebendasselbe sind“124, also mit der Erklärung des Bewusstseins aus dem unmittelbaren Selbstbewusstsein, „mit dieser Einsicht hebt der

————— 121 Zum Folgenden vgl. D. Henrich, Fichtes ursprüngliche Einsicht; ders., Fichtes ‚Ich‘; Pannenberg, Anthropologie in theologischer Perspektive, 194–215. 122 Henrich, Fichtes ‚Ich‘, 61–64. 123 D. Henrich, Selbstbewusstsein. Kritische Einleitung in eine Theorie, 275; M. Frank, Selbstbewusstsein und Selbsterkenntnis, 161.247 u.ö. 124 J.G. Fichte, Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre (1797), Fichtes Werke I, 527.

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deutsche Idealismus an.“125 Nichts anderes, als das das Ich immer schon ein Wissen von sich impliziert, ist mit dem ersten Grundsatz von Fichtes Wissenschaftslehre von 1794 gemeint: „Das Ich setzt ursprünglich schlechthin sein eignes Sein.“126 Es geht hier nicht um eine real-ontologische Selbstsetzung des Ich, sozusagen um eine selbstschöpferische causa sui, wie man dem „objektiven Idealismus“ später unterstellt hat, sondern um seinen Aktvollzug, wohl aber hat Fichte hier das Ich als „Tathandlung“127 gedacht, als actus, der zugleich ein Handeln, ein Hervorbringen ist. Um das genannte Missverständnis auszuräumen hat Fichte in der Neuformulierung der Wissenschaftslehre von 1797 das Selbstsetzen auf das Wissen von sich als diesem actus bezogen: Die Selbstsetzung des Ich ist ein „sich Setzen als setzend […], keinesweges aber etwa ein blosses Setzen“128. Die Einheit des Ich mit sich im Selbstbewusstsein resultiert danach nicht aus einer Handlung des Ich, sondern findet sich im Reflexionsakt als immer schon gesetzt vor. Das Ich setzt ein immer schon, von anderswo her gesetztes, Selbst voraus. An die Stelle des absoluten Ich tritt hier und stärker noch in der dritten Fassung von 1801 die Gesetztheit des Ich. Das Ich, heißt es jetzt, sei eine Tätigkeit, der ein inneres „Auge eingesetzt“129 ist. Das Ich durchschaut sich selbst, es weiß sich als sich wissend, aber es setzt sich nicht. Das Passiv steht für den „Gedanke[n] eines unausdenkbaren Ursprungs der ganzen Selbstheit“130. Liest man ein passivum divinum, so kann das Woher des Selbstseins in letzter Instanz als Gott bezeichnet werden, so dass für Fichte wie für Schleiermacher das Selbstbewusstsein „einen Gott voraussetzt“131. In mittelbarer Instanz ist das Selbst, welches das Ich voraussetzt, sobald es anfängt, „ich“ zu sagen, das eigene vorlaufende Leben.

6. Ich und Selbst: Diese Einsicht Fichtes, dass das Selbst (oder die Existenz) dem bewussten Ich-Subjekt vorausgeht, konnte im 20. Jh. von der Existenzphilosophie Sartres und Heideggers ebenso aufgenommen werden wie von der sozialpsychologischen Theorie der Ich-Entwicklung von Mead und Erikson. Gegen die Vorstellung vom transzendentalen Subjekt wird hier geltend gemacht, dass das Ich nicht von vornherein fertig gegeben ist, als sondern Resultat eines Entstehungsprozesses zu betrachten ist. Das Selbstbewusstsein als Bewusstsein von sich ist nach Sartre zuerst ein Für-sich-Sein (Etre-Pour-Soi)132. Das reflexive Bewusstsein auf sich setzt ein präreflexives, unthematisches Bei-sich voraus, welches auf das Sein als Person-Sein verweist. Anders gesagt: Mit dem Moment der „Anwesenheit bei sich“133 hat sich ein Moment von Differenz eingeschlichen. Das Selbst ————— 125 M. Frank, Die Unhintergehbarkeit von Individualität, 33. 126 J.G. Fichte, Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre (1794), I. Teil, §1, 18 = Fichtes Werke I, 98. 127 Ebd., 11 = Fichtes Werke I, 91. 128 Fichte, Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre, Fichtes Werke I, 528. 129 J.G. Fichte, Darstellung der Wissenschaftslehre (1801), §9, Fichtes Werke II, 19. 130 Henrich, Fichtes ‚Ich‘, 78. 131 Ebd., 79. 132 Vgl. J.P. Sartre, Das Sein und das Nichts, 163ff. 133 Ebd., 169; im Original kursiv.

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als Für-sich und das Ich koinzidieren nicht. Bewusstsein impliziert nicht die Notwendigkeit eines stehenden und bleibenden, zeitlos-identischen Ich. Das in momentanen Bewusstseinsakten hervortretende Ich weiß sich mit sich identisch nur auf dem Umweg über das Selbst. Die Identifikation des Ich mit sich in einzelnen reflexiven Akten ist durch Gedächtnisleistung allein nicht zu erklären und auch nicht durch den stetigen Bewusstseinstrom des cogito, sondern setzt eine vorbewusste Vertrautheit mit sich voraus. Die Einheit des Ich erschließt sich aus der Selbigkeit des Selbst, die Resultat unserer Lebensgeschichte und der darin erfolgten Identitätsbildung ist.134 Personale Identität ist nicht Produkt der Aktivität des bewussten Ich, wie man gegen Fichtes frühe Formel sagen muss, sondern im Leib gespeichertes Resultat der gesamten Selbst- und Lebenserfahrung. Die Identität einer Person, ihr Selbst, besteht im Leib, wie schon Nietzsche gegen die Verächter des Leibes geltend machte: „Hinter deinen Gedanken und Gefühlen, mein Bruder, steht ein mächtiger Gebieter, ein unbekannter Weiser – der heißt Selbst. In deinem Leibe wohnt er, dein Leib ist er.“135 Diese nicht-egologischen Identitätstheorien sind auch – in anderer Sprache und Intention – sozial- und entwicklungspsychologisch belegt worden. Das bewusste Ich bildet sich nach Erikson erst auf dem Boden von Vertrautheit mit sich, die wiederum aus einem Urvertrauen (basic trust)136 in die Welt resultiert, das sich seit dem Mutterleib und der frühkindlich-symbiotischen Mutterbeziehung im Leib internalisiert hat. Identität ist die sich über die Phasen der psycho-sozialen Entwicklung aus dem Wechselspiel von Identitätsverdichtung und Identitätsdiffusion aufbauende Selbstidentifikation, die eigen- und fremdvertrauendes Leben erlaubt. Identitätsbildung hat „sowohl einen Selbst-Aspekt wie einen Ich-Aspekt“. Ich-Identität bezeichnet bei Erikson, der Terminologie von Mead folgend, die interne Identifikation des bewussten Ich mit dem eigenen Körper, die Selbst-Identität ergibt sich „aus all denjenigen Erfahrungen, in denen ein Gefühl von vorübergehender Selbst-Diffusion in einer neuen und realistischeren Selbst-Definition und der entsprechenden sozialen Anerkennung aufgefangen wurde.“137 Identitäts- und damit Personbildung geschieht nach Mead138 in einem Wechselprozess von interner und externer Identifizierungsleistung. An W. James Einsicht in die soziale Bedingtheit des Selbst anknüpfend, wird zwischen dem spontanen, bewussten Ich (I) und dem in der Selbstreflexion sich als Gegenstand gegebenen Ich, dem Selbst (me), unterschieden.139 Identität (self) baut sich als Überlappung von Eigen- und Fremdbetrachtung auf, so dass in das me außer den Selbstbildern und Selbsterwartungen die Außensicht der Anderen auf mich, die

————— 134 Vgl. Pannenberg, Person und Subjekt, 91. 135 Nietzsche, Also sprach Zarathustra I,4, KSA 4, 40, Werke in drei Bd., Bd. II, 300. 136 E. Erikson, Identität und Lebenszyklus, 62ff. 137 Ebd., 191. 138 Ausführlich vgl. Pannenberg, Anthropologiein theologischer Perspektive, 179–184; C. Henning, Die evangelische Lehre vom Heiligen Geist und seiner Person, 354–367. 139 G.H. Mead, Geist, Identität und Gesellschaft, 216–221.

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sozialen Erwartungen, Rollen und Beziehungen einfließen – me ist sozusagen die innerpsychische Repräsentanz aller sozialen Relationen, das „generalized other“140 –, die das Ich in seine Selbstbetrachtung integriert und sich so zu einem Ganzen, einem self, zusammenbaut. Identität bedeutet die spontan-kreative Integration der im me gespeicherten Selbst- und Fremderwartungen zu einem einheitlichen Ganzen durch das Ich.141 Wenn auch in diesem Konzept die Rolle des bewussten Ich zu sehr nach dem Muster des idealistischen autonomen und spontanen Ich gedacht ist – nicht nur das Selbst, auch das Ich ist gegen Mead wesentlich durch soziale Beziehungen vermittelt, so richtig bei Erikson –,142 so wird doch deutlich, dass personale Identität ein dynamischer Prozess ist, der sich aus der Interaktion von bewusster und unbewusster Selbstund Fremdbetrachtung ergibt. Identität ist soziale Identität aus Aneignung und Abgrenzung von der Umwelt und zu sich selbst.

7. Personale Identität: Wenn wir zur vertrauteren philosophischen Terminologie zurückkehren, so ist die Quintessenz aller nicht-egologischen Personkonzepte, dass das Ich nicht eine stehende und bleibende Ich-Identität darstellt, sondern sich aus der Kontinuität des Selbst aufbaut, der personalen Identität, die wir aus synchronen und diachronen Aneignungs- und Abgrenzungsprozessen durch den Verlauf der Lebensgeschichte, sozial, leiblich, psychisch und geistig vermittelt, erwerben. Entgegen dem frühen Fichte kann man nicht sagen, dass das Ich sich selbst, und damit sein Selbstbewusstsein, seine Identität, setzt, sondern dass umgekehrt das Selbst, die personal-soziale Identität, das bewusste, denkende Ich integriert und ihm dadurch die Identität des Selbstbewusstseins verleiht.143 Ein Ich sind wir daher zu jedem Augenblick bewussten Lebens aufgrund der lebensgeschichtlich vermittelten Selbstidentifikation. Aber die Selbst-Werdung ist immer erst vorläufig abgeschlossen. Wie wir ein Selbst sind als Resultat des Identitätsbildungsprozesses im bisherigen Leben, so werden wir auch noch immer ein Selbst. Person bezeichnet damit sachgemäß nicht die Identität des Ich-Bewusstseins, sondern die Ganzheit des leib-geistigen Lebens über die Lebensgeschichte hinweg, die als Ganzheit sogar noch unvollendet ist bzw. erst vorläufig, im momentanen Stand zur Erscheinung kommt. Person-Sein heißt, dass zu jedem bestimmten Moment Selbst und Ich in einem solchen Zu————— 140 Bereits bei S. Freud findet sich bekanntlich die These, dass sich in den ersten fünf Lebensjahren die Ansprüche der Außenwelt, v.a. der Eltern mittels Befehl, Drohung und Strafe, derart internalisieren, dass hier „ein Stück der Außenwelt […] ein Bestandteil der Innenwelt geworden“ ist: als Über-Ich, als Gewissen (Abriß der Psychoanalyse, 101). 141 Mead, Geist, Identität und Gesellschaft, bes. 217f. 142 Zur Kritik an Mead vgl. Pannenberg, Anthropologie in theologischer Perspektive, 182– 184. 143 Pannenberg, Person und Subjekt, 91.

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sammenhang der Identifizierung und Differenzierung stehen, dass in jedem personalen Akt das Ganze der Person, obwohl noch unvollendet, präsent wird. Dies geschieht so, dass die Selbigkeit der Person, das Selbst, in jedem momentanen Akt des Ich in Erscheinung tritt, sozusagen durch den Moment als Kontinuum hindurchscheint. P. Ricoeur nennt in seinem Konzept der narrativen Identität (weil personale, sog. Ipse-Identität nur in und durch die Zeit, nicht zeitlos besteht, daher nur lebensgeschichtlich erzählbar ist) die Kontinuität des Selbst den Charakter, welcher, sich durch die Zeit nur langsam verändernd, die Selbigkeit der Person ausmacht, während die unmittelbare, selbstbewusste Übereinstimmung mit sich, die Idem-Identität des Ich erst auf dem Boden der Ipse-Identität als Aktualisierung erscheint.144

Person, so können wir mit Pannenberg abschließend definieren, ist „die Gegenwart des Selbst im Augenblick des Ich, in der Beanspruchung unseres Ich durch unser wahrhaftes Selbst und im vorwegnehmenden Bewusstsein unserer Identität“145. Für die Person steht metonymisch, pars pro toto, das „Antlitz“, welches zu jedem Moment durch das wache Ich hindurch das Selbst, die Ipse-Identität eines von sich zu sich auf dem Weg befindlichen Lebens, hindurchscheinen lässt. Das Antlitz spiegelt die inneren ebenso wie die äußeren Selbstaneignungs- und Abgrenzungsprozesse. Person ist ebenso Selbstidentifikation wie Selbstunterscheidung eines Ich von seinem Selbst. „Ich“ ist nicht mit „Selbst“ idem-identisch, sondern so verschieden wie Kontinuum und Aktualität. Die substanzontologische Fundamentaldifferenz von Wesen und Erscheinung wird in diesem Konzept abgelöst durch die Fundamentaldifferenz von Selbst-Kontinuum und Ich-Aktualität. Das Antlitz steht für die Integration des Ich in das Selbst zur Person. Integration bedeutet nicht, dass das Ich im Selbst aufginge – die Identität der Person besteht zwar nicht anders als im leiblichen Selbst, aber eine Person kann sich via Ich zu sich verhalten, und zwar identifizierend und abgrenzend. Die Differenzierungsfähigkeit des Ich vom Selbst bedeutet, anders gesagt: Eine Person ist der Verfügung durch andere von außen entzogen. „Person“ sein bedeutet, so richtig Romano Guardini bezüglich des Verhältnisses von Fremdbezug und Selbstbezug des Menschen, „dass ich in meinem Selbstsein letztlich von keiner anderen Instanz besessen werden kann, sondern mir gehöre.“146 Für diese bleibende Differenz von Selbst und Ich steht das Antlitz, das zwar die Person als Ganze repräsentiert, aber dennoch die Unterscheidung der Person von ihrer aktualen Erscheinung gewährleistet. Das Antlitz steht für die Person in der Aktualität des Selbst, aber ihre Identität bleibt der Verfügungsgewalt von außen entzogen. Eine Person bestimmt ————— 144 P. Ricoeur, Das Selbst als ein Anderer, 141–172, bes. 150f. 145 Ebd., 92; ders., Anthropologie in theologischer Perspektive, 233. 146 R. Guardini, Welt und Person, 93.

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sich im Antlitz als Spiegel ihrer bewussten wie unbewussten, also auch die Außenrelationen integrierenden Identifizierungsprozesse, als sich selbst. Sie kann kraft solcher Identität von außen identifiziert werden, aber nicht in ihrer Identität verletzt oder gewaltsam umdefiniert werden.

3.6 Personale Atmosphären und Gottes personal-atmosphärische Gegenwart 1. Personale Atmosphäre: Dieser Personbegriff kann nun so weitergeführt werden, dass er mit den persönlichen, von einer Person ausgehenden Atmosphären, korrespondiert wie Innen- und Außendeutung, und der analog auf göttliche Atmosphären übertragen werden kann. Eine personale Atmosphäre, so können wir jetzt definieren, ist eine solche Atmosphäre, die einer Person eine Außenidentität, d.h. eine identifizierbare Konkretion und Prägnanz verleiht.147 Eine personale Atmosphäre ist eine Atmosphäre, die das „Antlitz“ einer Person, insofern es für den Charakter und die aktuale Präsenz der Person steht, konkret werden und zum Vorschein treten lässt. Eine personale Atmosphäre ist die Aktualpräsenz einer Person in konkreter und prägnanter Anwesenheit, wobei das Antlitz pars pro toto den Verdichtungsbereich dieser Präsenz darstellt. Dass in diesem phänomenalen Personkonzept die Differenz zwischen Wesen und Erscheinung durch diejenige von Kontinuum (Identität des Selbst im Charakter) und Aktualität (Präsenz im Antlitz) ersetzt wird, bedeutet nicht, dass Person und Erscheinung zusammenfallen, denn die Person ist nicht ihre Atmosphäre, aber sie ist in der Atmosphäre prägnant und konkret präsent. Die personale Atmosphäre ist der Präsenzraum einer Person, eine sphaera activitatis konkreter Aktualität. Die Atmosphäre lässt die Person selbst und nicht etwa bloß ihr Äußeres in Erscheinung treten. Wenn wir sagen, jemand sei eine große, würdige oder traurige Erscheinung, meinen wird weder sein Äußeres, wie er einen Mantel anhat oder eine bestimmte Körperform besitzt, noch identifizieren wir Person und Erscheinung. In einem „eigentümlichen Schillern von Identität und Differenz“148 kann man aber doch sagen, jemand sei eine Erscheinung, insofern nämlich die Person in der Erscheinung aktual konkret wird. Die Identität einer Person als Zusammenhang von Selbst-Kontinuum und Aktual-Ich wird nach außen hin in personalen Atmosphären konkret. Die Atmosphäre kann als Personifikation der Person bezeichnet werden, insofern in ihr die Person in den Raum ihrer Präsenz ————— 147 Als Konstituivum von Subjektivität werden die von Personen ausgehenden Atmosphären gedeutet bei M. Hailer, Das Subjekt und die Atmosphären, durch die es ist. 148 Böhme, Atmosphären, 192.

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hervortritt. Dieses Hervortreten ermöglicht aufgrund der Konkretion und Prägnanz leibliche Kommunikation. Konkretion der Person in der atmosphärischen Erscheinung bedeutet, dass die Person in leiblicher Anwesenheit als selbige identifizierbar ist. Ein Konkretum unterscheidet sich allgemein von einem Abstraktum dadurch, dass es eine Eigenheit an sich hat, die es von vielen ähnlichen zweifelsfrei unterscheiden lässt, während ein Abstraktum sich nur unabgehoben präsentieren kann, da es in ein Gemisch vieler Merkmale eingebunden ist.149 Konkretion bedeutet sinnliche Prägnanz, dass etwas bei mehrmaligem Vorkommen als selbiges identifizierbar ist, ohne quantitativ identisch sein zu müssen. Was das gegenständlich genau ist, kann man nur schwer sagen, weshalb die Mustererkennung von Personen nur schwer zu funktionalisieren ist. Aber was wir phänomenologisch mit einer konkreten Person meinen, kann man genau sagen: Für die Konkretion und sinnliche Prägnanz einer Person steht das Antlitz bzw. die von ihm als Verdichtungsbereich ausstrahlende und eindeutig auf die Person zurückverweisende Atmosphäre. Konkret und damit identifizierbar ist eine personale Atmosphäre, weil durch ihre aktuale Präsenz die Selbigkeit des Selbst hindurchscheint, oder besser in Erscheinung tritt, Ausdruck findet. Die hiermit vorausgesetzte Theorie der Physiognomik150 geht gegen die ältere Theorie von Lavater nicht davon aus, dass ein verborgenes Innen in äußerlich identischer, fixierter Gestalt Ausdruck findet.151 Eine leibphänomenologisch korrekte Theorie der Physiognomik arbeitet nicht mit der Fundamentaldifferenz von außen und innen, Leib und Seele, sich zeigen und sich verbergen o.ä., sondern mit der Differenz von Kontinuum und Aktualität. Der physiognomische Ausdruck ist die Sache selbst, die sich zeigt, er ist ein reines Phänomen, ein Sichtbarwerden von etwas, das nicht noch hinter dem Phänomen gesucht werden muss. In dieser neuen, von G. Böhme entwickelten, ästhetischen Physiognomik gilt: „Die Züge einer Physiognomie werden nicht als Zeichen für einen inneren verborgenen Charakter verstanden. Sie werden vielmehr als Erzeugende aufgefasst, die einen Charakter in der Erscheinung spürbar werden lassen.“152 Physiognomien sind die Erzeugenden von Kommunikation, sie sind Atmosphären, die ————— 149 Vgl. Schmitz, Das Göttliche und der Raum, 147f. 150 Vgl. Böhme, Atmosphären, 101ff; ders., Aisthetik, 101–117. 151 J.C. Lavater hat der Versuch, Physiognomik als Wissenschaft zu betreiben, um zweifelsfrei „den Charakter (nicht die zufälligen Schicksale) des Menschen im weitläufigsten Verstande aus seinem Aeußerlichen zu erkennen“, so weit getrieben, in 100 Regeln eindeutige Zuordnungen zu geben, welche Art Nasen-, Mund-, Kinn- oder Warzenform zu einem eitlen, dummen, wollüstigen oder edlen Charakter gehören (Von der Physiognomik, 10)! 152 Böhme, Aisthetik, 110.

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den Charakter einer Person sichtbar, genauer leiblich spürbar werden lassen. Was ein Betrachter in einer lebendigen Physiognomie erfährt, ist das spürbare Wesen einer Person, d.h. sie selbst in der Anwesenheitsweise leiblicher Kommunikation. Die Person wird aber nicht in einer kognitiven Rekonstruktion aus der Körperform oder andern äußerlichen Kennzeichen des anderen erschlossen, sondern aus der „Atmosphäre, die von ihm ausgeht, und er erfährt sie in seinem eigenleiblichen Spüren.“153 Das Ausdrucksverstehen „geht nicht von innen nach außen, sondern umgekehrt, vom Anderen zu mir und erst dann von mir selber zum Anderen“154. Mittels der personalen Atmosphäre tritt also eine Person in den ekstatischen Zustand leiblicher Anwesenheit, welche die Selbigkeit der Person konkret und sinnlich prägnant werden lässt und so leibliche Kommunikation mit ihr ermöglicht. Diese Konkretion verbreitet das atmosphärische Gefühl von Autorität, das zwar in der Luft um die Person liegt, aber physiognomisch die Person selbst repräsentiert. Die Ausstrahlung ist die Person in Autorität heischender Anwesenheit, zu der man sich verhalten muss. Die Ausstrahlung einer Person ist verankert im anwesenden Leib, sie ist verdichtet in Gesicht und Blick und sie ist räumlich ergossen in der Aura um die Person. Die personale Atmosphäre ist das kondensierte Gefühl der Präsenz der Person und ihres Anspruchs. 2. Atmosphären des göttlichen Geistes: Dieses Personkonzept kann nun analog auf göttliche Atmosphären übertragen werden, sofern noch hinzugefügt wird, dass die räumliche Begrenzung von personalen Atmosphären natürlich nicht durch die Körpersilhouette gezogen wird. Person ist leibphänomenologisch nicht als Körper definiert, sondern als umweltoffenes Leibwesen. Ein entsprechendes leib- und raumphänomenologisches Personkonzept hat, Scheler, Straus, Merleau-Ponty und Schmitz folgend, T. Fuchs entwickelt. Aus seinen Einsichten zum Verhältnis von Leib und Raum soll hier nur resümmierend folgendes genannt werden.155 Der Umraum, in dem wir leben, steht nicht dem Leib gegenüber, sondern ist als gelebter Raum selbst leiblich. Er gehört dem Leib so zu, dass er eine Extension des Leibraums darstellt. Leib und Umwelt sind nicht zwei getrennte Entitäten. Im Unterschied zum Körper hört der Leib nicht an der Haut auf, sondern breitet sich ekstatisch in und mit den gelebten Richtungen in den Umraum hinein aus. Der gelebte Umraum, der im Lebensvollzug sukzessive durchmessen wird, ist dem Leib instantan nahe. Er wird leiblich————— 153 Böhme, Atmosphären, 128. 154 B. Waldenfels, Das leibliche Selbst, 221. 155 T. Fuchs, Leib, Raum, Person. Entwurf einer phänomenologischen Anthropologie, 159– 162.

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sympathetisch mitgespürt. „im unreflektierten Lebensvollzug erfüllen wir den ganzen Raum“156, so dass die von anderen wahrnehmbare, in den Umraum ausstrahlende, aktuale Personpräsenz auch für mich selbst gegeben ist. Auch für mich erfülle ich atmosphärisch den Raum, wobei in diese Erfüllung über die Aktualpräsenz hinaus noch die ganze, in das leibliche Selbst eingeschriebene Geschichte der Raumerfüllung eingeht. Ich bin, für mich, mit dem ganzen, mir leiblich und durch meinen Leib erschlossenen Raum, verbunden, während für andere jeweils ein Ausschnitt davon in der Sphäre meiner Anwesenheit hervortritt. Die Übertragung des vorstehend entwickelten atmosphärisch-leibphänomenologischen Personbegriffs auf göttliche Atmosphären ergibt sich nun wie von selbst. Um bei der zuletzt genannten Unterscheidung anzufangen: Der Unterschied zwischen der allgemeinen und der besonderen Gegenwart Gottes bedeutet den relativen Unterschied zwischen den Erscheinungsweisen als überpersonal-ausgebreiteter und als persönlicher, verdichteter Atmosphäre. Während Gott für sich mit dem ganzen Raum verbunden ist, tritt für die Welt und die Menschen jeweils ein Ausschnitt in der Sphäre seiner Anwesenheit hervor. Diese ist nach der Art der Raumerfüllung von Atmosphären, nicht von körperlichen Gegenständen strukturiert. Gottes Gegenwart ist entweder weiteräumlich unbestimmt und wird dann im unbestimmten Bewusstsein weiträumlichen Spürens erfahren oder sie ist analog zu persönlichen Atmosphären an bestimmten Orten verankert und von diesen ausstrahlend. Die lokale Konzentration und Verdichtung der Gottespräsenz bei Theophanien bedeutet, sofern das atmosphärische und nicht das körperlich-gegenständliche oder geometrische Raumkonzept zugrundegelegt wird, nicht, dass dann, wenn Gott im brennenden Dornbusch erscheint, er notwendig im übrigen Raum abwesend wäre. Als Atmosphäre erscheint Gott auch richtungs- oder ortsräumlich konzentriert als Ganzer, ohne dabei in der Atmosphäre aufzugehen. Die Beschreibung Gottes in Erscheinung als Atmosphäre leistet weder einem Pantheismus, noch einem Polytheismus Vorschub. Gott ist, wenn wir das ausgearbeitete Verhältnis von Person und personaler Atmosphäre zugrunde legen, nicht mit seiner Atmosphäre idemidentisch, ebenso wenig wie eine Vielzahl von möglichen Erscheinungen der Einheit des personalen Wesens widerspricht. Auch spricht eine göttliche Atmosphäre nicht gegen die Vorstellung Gottes als Person, sondern bedeutet gerade eine spezifisch konkrete Personifikation. Gott als Atmosphäre bedeutet, dass Gott sich in einem Akt der Selbstunterscheidung von sich zur Gegenwart in der Welt, in der Natur und unter Menschen bestimmt. Eine göttliche Atmosphäre ist das Hinaustreten Gottes ————— 156 Ebd., 159.

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in den Raum leibhaft spürbarer Präsenz. Gott als Person bedeutet hier nicht das in Erscheinung treten als umrissene Figur, sondern das Hinaustreten in die Sphäre von Präsenz. Diese Sphäre ist die Aktualisierung des ewigen Wesens Gottes. Sie kann symbolisch als sein Antlitz bezeichnet werden, d.h. als die Anwesenheit eines bewussten Willens in Form einer Kraft- und Wirksphäre, durch die das personale Wesen hindurchscheint und in den Raum hineinstrahlt. Das Hervortreten ist Gott nicht äußerlich, sondern Erscheinung seines Wesens. Solche Erscheinung verleiht Gott, als der Aktualität seines Wesens, solche Konkretion und Prägnanz, dass er in solcher Atmosphäre als er selbst identifiziert werden kann. Gott ist Person heißt in diesem Zusammenhang: Gott ist eine solche „Person, für dies es eine göttliche Atmosphäre gibt, die dadurch konkret wird, dass sie mit dieser Person identifiziert wird und in deren Gestalt zum Vorschein kommt.“157 Die Identifikation der göttlichen Atmosphäre mit der Person Gottes ist dadurch möglich, dass in der Erscheinung Gott selbst und kein anderer erscheint, und andererseits dadurch, dass Gott sich als der zeigt, als der er sich schon gezeigt hat. In Selbstunterscheidung bestimmt sich Gott in atmosphärischer Präsenz zum Vater, Sohn und Geist. Wenn etwa Tersteegen die Macht der Liebe anbetet, die sich in Jesus offenbart, so nimmt er eine Identifikation der erscheinenden Liebe mit Gott, dem Vater, vor. Jedoch wird dabei nicht in „sekundärer“ Theologie die Liebe als Gott erklärt, sondern umgekehrt an der spezifischen Konkretion der Liebe das unverkennbare Wesen Gottes erkannt. Die Liebe, die als Begriff für das Wesen Gottes nur das Abstraktum einer Gattung darstellt, wird in der atmosphärischen Verdichtung konkret, und damit unverkennbar. Wie für den Liebenden die Liebe ein Raum ist, eine Sphäre, ein atmosphärisches Element ist, in der er lebt, aber dadurch gerade nicht zur allgemeinen Gattung „Liebe“ verschwimmt, sondern, weil sie konkret ist als Raum der Liebe zwischen zwei bestimmten Menschen, die Identität von personaler Atmosphäre besitzt, so ist auch Gott als Liebe an der spezifischen Konkretion in Jesus und dem Wirken des Geistes personal identifizierbar. Wenn der lukanische Paulus Gott wie die Luft als das atmosphärisch ergossene Element bezeichnet, in dem wir leben, weben und sind (Act 17, 28), so spricht die räumliche Ergossenheit dann nicht gegen die Personalität Gottes, wenn die Konkretion und sinnliche Prägnanz die Unterscheidung zwischen Gott als atmosphärischem Raum und der Luft zulässt. Und nur in der konkret-atmosphärischen Erscheinung ist die oben schon kritisierte mystisch-unbestimmte Rede von Gott als Raum schlechthin vermieden. Und wenn für den Christen Christus der Raum ist, in dem er lebt und seine Existenz hat, so ist Christus als solche Inkarnation einer göttlichen ————— 157 Schmitz, Das Göttliche und der Raum, 152.

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Atmosphäre gesehen, die an ihm konkret wird. Das Atmosphärische widerspricht also nicht Christus als Person, sondern bringt diese, in der Zuspitzung auf die pneumatische Existenzweise des Erhöhten, gerade zur Geltung. F. Neugebauers gegen A. Deissmanns räumliche Interpretation der Formel en Christo gerichtete (heils)geschichtliche Deutung158 ist wohl eher der Furcht vor mystischen Pantheismus geschuldet. Dass Paulus in einem lokal räumlichen, nicht übertragenen Sinne die Vorstellung hatte, „dass die Christen wirklich irgendwie ‚in‘ dem Element ‚Christus‘ leben, etwa so, wie sie als animalische Wesen Lebewesen ‚in‘ der Luft leben, oder wie die Fische ‚in‘ dem Wasser“, ist deshalb unproblematisch, weil erstens für ihn „der Christus der Formel selbstverständlich der erhöhte, pneumatische Kyrios“159 ist und zweitens eine naturhafte Verwechslung gar nicht möglich ist. Die identifizierbare Prägnanz der pneumatisch-räumlichen Sphäre als Kyrios macht die Alternative zwischen „Kraft“ und „Person“ hinfällig. Entscheidend bei Paulus’ „Vorstellung von der ‚Sphäre‘, in der der Glaubende lebt“ bzw. von Christus als einer „Kraft, in deren Bereich der Mensch gekommen ist“ ist, dass „diese Kraft keine namenlose, unbekannte [ist]. Sie ist identisch mit dem erhöhten Herrn“160. Die in der älteren Forschung beliebte Abgrenzung zwischen der Personalität des Geistes Gottes und einem, angeblich alttestamentlich noch vorhandenen, aber neutestamentlich immer mehr abgestreiften, Dynamismus, ist schief. Wenn man zurecht die alttestamentliche ruach Jahwe als die Macht des „personhaften Willenswirkens Gottes“161 bezeichnet, kann man schlecht das Geistverständnis der Synoptiker, wenn sie „den Gottesgeist nicht wesentlich anders als das Alte Testament“ sehen, als „dynamistische“ „Gotteskraft“162 im Unterschied zu einem personalen Geist-Subjekt sehen.

Die Bezeichung Gottes als dynamische Geistsphäre schließlich widerspricht ebenfalls nicht seiner Personalität. Die Unterscheidungslinie zwischen Gott als dem Schöpfergeist und einer göttlichen Naturkraft bzw. zwischen dem Heiligen und einem anderen Geist läuft nicht zwischen Person oder Kraft, sondern zwischen Konkretum und Abstraktum. Die Identifizierbarkeit des Geistes Gottes als Geist Gottes reicht aus, um die Personalität sicherzustellen. Auch die „dynamistische Gotteskraft“ ist personale göttliche Willensmacht,163 wenn sie nicht als Abstraktum, sondern als Konkretum zugeordnet ————— 158 F. Neugebauers These, das en sei „nicht räumlich, sondern ‚geschichtlich‘ auszulegen“, weil Christus als „eine Geschichte, ein Handeln, ein Geschehen“, als die „eschatologische Tat Gottes“ zu verstehen sei (In Christus, 148), ist eine unnötige Zuspitzung der Texte, für die sich die Alternative zwischen räumlicher und heilsgeschichtlicher Deutung gar nicht stellt, vgl. zur Diskussion E. Brandenburger, Fleisch und Geist; K. Lehmkühler, Inhabitatio, 37–43. 159 A. Deissmann, Die neutestamentliche Formel „in Christo Jesu“, 81.84.92.99. 160 Schweizer, Art. pneuma, pneumatikos E., ThWNT, 431. 161 W. Bieder, Art. pneuma, pneumatikos B., ThWNT, 363. 162 Schweizer, Art. pneuma, pneumatikos, 401.404. 163 Der dynamisch-machtvolle Geist ist im NT ansatzweise als Person aufgefasst, wenngleich „zu den Bedingungen des antiken Personbegriffs: Personhaft ist alles, was über Menschen Macht ausüben kann, und was eine Person ist, bestimmt die in ihre wirksame typische Kraft“ (K. Berger, Art. Geist/Heiliger Geist/Geistesgaben, TRE, 188).

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wird, also Gott zugehört und nicht einem unnennbaren X. Person ist, was in Selbstbestimmung und Selbstunterscheidung Macht ausüben kann, oder vorsichtiger gesagt, Präsenz zeigen kann. Wenn eine Person ist in konkreter Wirksphäre präsent ist, ist sie personal präsent, auch wenn diese Wirksphäre dynamistisch in Erscheinung tritt. Also ist der heilige Geist darin Person, dass er als Gottes Geist in konkreter Wirksphäre erscheint, und er ist dies – konkrete Wirksphäre – gerade dann, wenn er atmosphärische Wirkkraft ausübt. Von diesem Ergebnis ausgehend kann nun der Frage nachgegangen werden, wie das Wirken des Geistes Gottes auch auf die Natur und den physischen Raum beziehbar ist und wie es sich zum naturgesetzlichen Eigenwirken verhält. Wir versuchen im Gespräch mit den Pneumatologien von W. Pannenberg, J. Moltmann, I. Dalferth, M. Welker und R. Bernhardt das atmosphärische Konzept des Geistwirkens zu einem Konzept der operativen Präsenz Gottes in der physischen Welt weiterzuführen (II.4.).

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Kapitel 4: Der physische Raum und das Wirken Gottes

Für die wirkmächtige Präsenz Gottes im Raum wird das Modell der praesentia operosa vorgestellt (4.1), welches sowohl auf das Wirken des Geistes im Raum der Kirche als auch im Raum der Schöpfung angewandt werden kann. Es wird mit einerseits pneumatologisch (Welker, Dalferth) und andererseits mit schöpfungstheologisch orientierten Feldmodellen (Moltmann, Pannenberg) in Beziehung gebracht (4.2–4), bevor unser Modell naturphilosophisch präzisiert wird (4.5.) und die Dimension der Zeit einbezogen wird (4.6), um das Wirken Gottes im physischen Raum denkbar zu machen.

4.1 Das Modell der praesentia operosa Unter Aufnahme des im vorangegangenen Kapitels entwickelten Konzeptes der atmosphärischen Präsenz Gottes kann nun ein Modell der operativen Präsenz und des Wirkens Gottes entfaltet werden, welches die schlechte Alternative zwischen einem personalen Handeln und einem überpersonalen Kraftwirken überwindet. Beide Alternativen haben für sich betrachtet ihre Schwächen: Das Wirken Gottes nach dem Modell des personalen, aktualen Handelns vorzustellen, kann anthropomorph nach anthropologischen Handlungsbegriffen1 oder interventionistisch contra naturam gelesen werden,2 das Wirken Gottes nach Art von Kraftfeldern zu denken, kann mechanistisch oder pantheistisch gedeutet werden und ist „nicht gegen Konnotationen des Mechanischen oder Automatischen geschützt […], welche Kausalität und Notwendigkeit an die Stelle der Gott zukommenden Freiheit setzen“3. ————— 1 Vgl. R. Preul, Problemskizze zur Rede vom Handeln Gottes, 5–8; zur breit geführten angelsächsischen Diskussion um die „divine action“ vgl. besonders I.T. Ramsay, Models for Divine Acitivity; B. Hebblethwaite, Providence and Divine Action; M. Wiles, God’s action in the World; R. Ellis, God and ‚Action‘; M.J. Hansson, Understanding an Act of God. An Essay in Philosophical Theology; K. Ward, Divine Action, London 1990, sowie die Sammelbände O.C. Thomas, God’s Activity in the World. The Contemporary Problem; E.H. Henderson/B.L. Hebblethwaite, Divine Action: Studies Inspired by the Philosophical Theology of Austin Farrer; T. Tracy, The God Who Acts. Philosophical and Theological Explorations, mit Artikeln von L. Gilkey, S. Ogden, G. Kaufman, A. Farrer, M. Wiles, W. Alston, T. Tracy u.a.; aufgearbeitet ist die gesamte Diskussion bei R. Bernhardt, Was heißt „Handeln Gottes“?, 313–434. 2 Vgl. A. Peacocke, Gottes Wirken in der Welt, 142–146; W. Alston, God’s Action in the World, bes. 206–213. 3 U. Körtner, Der handelnde Gott, in: Der verborgene Gott. Zur Gotteslehre, 117–142, 138.

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Physischer Raum und Wirken Gottes

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Aufgrund dieses Dilemmas hat man in jüngster Zeit ebenso dafür plädiert, „dass man auf den Handlungsbegriff in Anwendung auf Gott verzichtet und statt dessen vom Wirken Gottes spricht“4, wie für das Gegenteil, „dass das Wirken Gottes sachgemäß als Handeln dargestellt werden“ sollte.5 Wie das von ästhetischen Kategorien her entwickelte Konzept der atmosphärischen Präsenz die Alternative von „Person“ und „Kraft“ überwinden konnte, so gelingt das in Bezug auf das Wirken Gottes mit dem Modell der operativen Präsenz. Zugleich vermag dieses Modell die Spannung der klassischen Allgegenwartslehre zwischen einer flächigen, undifferenzierten Ubiquität und der je unmittelbaren, aktuosen Allwirksamkeit aufzulösen. Die operative Präsenz beschreibt in ästhetisch-atmosphärischen Kategorien die in einen Raum von konkreter Aktualität, eine sphaera activitatis, hinaustretende Gegenwart Gottes, die aufgrund ihrer konkreten und prägnanten Gestalt der Anwesenheit wirksam ist und als wirksam erfahren werden kann. Die operative Präsenz Gottes wird vermittelt und wirksam über gestimmte Räume konkreter Anwesenheit. Die Präsenz Gottes erstreckt sich über den gesamten Raum der Schöpfung, ist aber nicht einfach-ubiquitär, sondern in unterschiedliche Grade der Verdichtung spezifiziert. Der strikt ästhetisch im Sinne eines „phänomenologischen Aktualismus“, d.h. als Zeit-Raum von Erscheinung, gefasste Ort der operativen Präsenz sowie ihr Modus der Spezifikation und Konkretion des Erscheinenden im Erscheinen überwindet die Alternative zwischen der allgemeinen und der besonderen Gegenwart Gottes ebenso wie die zwischen der ruhenden Adessenz und der operativen Allmacht und die zwischen personaler Aktion und apersonaler Kausation. Das mittels ästhetischer Kategorien konzipierte Modell der operativen Präsenz vermag unter spätmodernen Bedingungen das scholastische Modell der operativen Konkursund Allgegenwartsvorstellung (I.1.5–6) einzuholen. Die neuplatonisch gefärbte Kausalvorstellung der altprotestantischen Orthodoxie, welche die praesentia operosa als influxus generalis zu denken versucht hat, wird damit dezidiert in die dem Luthertum so wichtige Aktualität der Gottespräsenz überführt,6 ohne die Generalität aufzugeben. Für die Option, das Handeln bzw. Wirken Gottes nach dem Modell der operativen Präsenz zu entwickeln, spricht mit R. Bernhardt, der ein ähnliches Modell vertritt, es

————— 4 W. Härle, Dogmatik, 284; zur Begründung rekurriert Härle paradoxerweise auf C. Schwöbel, der gerade für den, allerdings erweiterten und theologisch focussierten, Handlungsbegriff plädiert, vgl. die folgende Anm. 5 C. Schwöbel, Das Handeln Gottes im christlichen Glauben, 71; zur Diskussion vgl. C. Danz, Wirken Gottes, 8–13. 6 Vgl. C.H. Ratschows Kommentar zur auf das Liber de causis zurückgehenden, altprotestantischen Figur des influxus generalis (hierzu oben I.1.6.2.): „Dieser Influxus ist actio. Es geht nicht um so etwas wie Emanation, sondern um einen actus, quo deus influit“ (Lutherische Dogmatik zwischen Reformation und Aufklärung II, 219).

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aber von den eher problematischen (s.u.) physikalischen Feldbegriffen, statt von der Atmosphärentheorie her entwickelt hat, weil er die „Felder, die von Personen ausgehen (‚Ausstrahlung‘, ‚Aura‘) oder solche, die in Beziehungen, Gemeinschaften und Situationen herrschen (‚Atmosphären‘, ‚Klima‘)“ für „wissenschaftlich kaum erfassbar[]“7 hält: „Die Alternative zwischen den subjektanalogen und kausativen Vorstellungen des Wirkens Gottes ist damit aufgebrochen und um die partizipative Option ergänzt. Das Gegenüber der beiden Konzepte a) eines anthropomorph gedachten Selbstvollzuges Gottes (mit seiner Tendenz zur Überbetonung der partikularen Immanenz des transzendenten göttlichen Handlungssubjekts) und b) der Bestimmung göttlicher Wirksamkeit als ‚logistisches‘ principium der Seinsordnung (mit seiner Tendenz zur Überbetonung der Transzendenz) findet in dieser Option einen dritten Pol, der allgegenwärtige Immanenz bei bleibender Transzendenz des Wirkens zu denken erlaubt und damit den Gedanken unmittelbarer operativer Intimität Gottes in allem Geschehen mit der Behauptung der Generalität des göttlichen Wirkens in der Welt (und damit auch einer kritischen Distanz dieses Wirkens zu faktischen Weltgeschehen) zu verbinden vermag.“8

Das Modell der operativen Präsenz hat folgende drei wesentliche Eigenschaften: Der Modus des Wirkens Gottes ist in diesem Modell erstens die atmosphärische Verdichtung und Konzentration, welche machtvoll und sanft zugleich Wirkeinfluss ausübt. Die Atmosphäre von signifikanter, bedeutungsvoller und überzeugender Präsenz führt zu Sinnstrukturierung und sinnhafter Ausrichtung. Sie zwingt nicht, sondern nimmt geschöpfliche Freiheit und deren Eigenwirken in Anspruch. Die Geschöpfe agieren und reagieren selbst, aber nicht selbstmächtig, sondern ermächtigt im Raum und in der Kraft des Geistes Gottes. Gott wirkt per Inspiration, Motivation und Weckung von Kreativität. Er bezieht ein in das Kraftfeld seiner Präsenz statt nur von außen stoßend mechanisch zu agieren, er nimmt mit und begleitet statt nur zu befehlen oder zu zwingen, er motiviert und initiiert neue Selbstbewegung statt Eigenwirken alleinmächtig zu unterdrücken. Gottes Begleiten geschieht, mit der Tradition gesagt, „suaviter“ (König, Quenstedt), zärtlich. Gott begleitet, mit Whitehead und der Prozesstheologie gesagt, überzeugend (persuasive), statt erzwingend (coercise).9 Seine Anwesenheit wirkt zweitens situationsverdichtend: Sie bezieht sich auf weltliche Situationen und Erfahrungen und verdichtet sie zu neuer Qualität durch Erschließung von Sinntiefe. Gottes Präsenz eröffnet neuen Sinn, neue Perspektiven und Horizonte durch orientierende und sinnerschließende Prägnanz. Die „Wirksamkeit Gottes kann von hier aus als Kreation von heilshaften und schöpferischen Sinnzusammenhängen […] in individuellen ————— 7 Bernhardt, Handeln Gottes, 405; gegen die Behauptung, dass Atmosphären „wissenschaftlich kaum erfassbar“ seien vgl. das voranstehende Kapitel II.3.3. 8 Ebd., 403. 9 J. Cobb/D. Griffin, Prozesstheologie, 52.

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Lebensentwürfen, sozialen Strukturen und geschichtlichen Ereignisfolgen aufgefasst werden.“10 Das atmosphärische Feld, das Gott aufrichtet, indem er sich selbst präsent macht, ist schließlich und letztlich das Kraftfeld der Liebe. Gottes begleitendes und „ziehendes“ Wirken geschieht „langsam und in aller Stille durch Liebe“11. Die leitende Metapher, um die sonst begrifflich nur vage zu fassenden, dafür aber affektiv sehr bestimmten Modi des Wirkens Gottes auszudrücken, ist das atmosphärische Kraftfeld, welches konkret wird in der Anwesenheit der Sphäre von Gottes Wesen, der „Macht der Liebe“. Die Macht der Liebe ist die wirkmächtige Gegenwart des Wesens Gottes im Raum seiner Anwesenheit. Er zieht mächtig oder still überzeugend in das Feld, das sein Wesen repräsentiert und zur Erscheinung bringt, hinein („Ingression“), ohne dass die Differenz von göttlicher Wirklichkeit und Möglichkeit und geschöpflicher Möglichkeit und Wirklichkeit („Diskrepanz“) überspielt würde. „Dieses Modell steht von vorneherein nicht in der Gefahr, die qualitative Differenz zur menschlichen Eigenwirksamkeit zu verwischen und zu dieser in ein Konkurrenzverhältnis zu treten. Der von der ‚Macht der Liebe‘ Erfasste handelt ‚in‘ der Liebe und ‚aus‘ Liebe, ohne dass man sinnvollerweise sagen könnte, diese Macht ersetzt seine Selbstbestimmung und determiniere sein Handeln. Sie begründet vielmehr gerade seine Freiheit, indem sie andere Bindungen ‚löst‘ und damit von ihnen ‚erlöst‘. Gott wirkt als kreatives, versöhnendes und den Kosmos vollendendes Kraftzentrum durch das von ihm ausgehende Kraftfeld des Lebens. In diesen Dimensionen bringt er Leben hervor, erhält es und erneuert es.“12

Die Idee, das Wirken Gottes nach Analogie eines Kraftfeldes zu verstehen, wurde von W. Pannenberg, I. Dalferth, J. Moltmann, M. Welker und R. Bernhardt ausgearbeitet. Deren Konzeptionen unterscheiden sich allerdings erheblich nach dem Theoriekontext, dem Status des Modells und der theologischen Akzentuierung. Der Feldbegriff kann der Physik mechanischer, elektromagnetischer, gravitativer oder quantenmechanischer Feldtheorien (Pannenberg), der Physik und Biologie der selbstorganisierenden, offenen und evolutionären Systeme (Moltmann), der allgemeinen, kommunikationstheoretischen oder soziologischen Systemtheorie (Dalferth) oder sozialpsychologischer oder phänomenologisch-ästhetischer Theoriebildung entnommen werden (Welker). Das Feld kann metaphorisch, analog oder realistisch das Wirken Gottes bezeichnen, es kann innertrinitarisch für das Leben Gottes selbst (Pannenberg, Dalferth) und/oder ökonomisch für sein Welthandeln in Anspruch genommen werden (Bernhardt), und das Feldmodell ————— 10 11 12

Bernhardt, Handeln Gottes, 401. A.N. Whitehead, Prozess und Realität, 613. Bernhardt, Handeln Gottes, 401.

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kann eher schöpfungstheologisch (Moltmann), trinitätstheologisch (Dalferth) oder pneumatologisch (Welker) begründet Gottes Sein und Wirken veranschaulichen. Wir besprechen die verschienen Modelle im Überblick und beziehen sie auf unser Modell der atmosphärischen praesentia operosa. Es wird sich zeigen, dass dieses Modell sowohl zur Beschreibung des ekklesiologischen als auch des schöpfungstheologischen Wirkens des Geistes Gottes geeignet ist, wobei es allerdings im ekklesiologischen Kontext eine realistische Beschreibung, im schöpfungstheologischen Kontext nur eine metaphorische Beschreibung zulässt. Um das Wirken Gottes im Raum der Schöpfung auch naturphilosophisch zureichend zu denken und kritisch-realistisch (in Differenz und Zusammenhang) auf Natur beziehen zu können, muss das atmosphärisch-ästhetische Modell um entsprechende Dimensionen, insbesondere um den Bezug auf die physikalische Natur und um die Dimension der Zeit, erweitert werden.

4.2 Das Geistwirken als resonantes Feld von Feldern (Welker) M. Welker versucht in seiner phänomenologisch angelegten Pneumatologie13 eine solche Beschreibung des Heiligen Geistes zu finden, die dem vielfältigen biblischen Zeugnis und den vielfältigen Erfahrungen des Geistes Gottes in der Christenheit gerecht wird und zugleich die schlechten Alternativen der Vorstellung und Erfahrung des Geistes als Kraft, als Person oder als Struktur überwindet. Im Modell des Kraftfeldes wird zudem die Alternative zwischen einer schöpfungstheologisch, einer christologisch oder einer eschatologisch begründeten Pneumatologie überwunden. Der Geist Gottes ist Geist der Schöpfung, der Versöhnung und des Lebens.14 Er befreit als Lebens- und Heilsmacht aus Not und Sünde,15 er führt Recht, Erbarmen und Gotteserkenntnis herauf16 und wirkt Gerechtigkeit, Freude und Frieden unter den Menschen und zwischen Mensch und Natur.17 Das vielfältige und plurale18 (hier nicht im Einzelnen darzulegende) Wirken des Geistes, welches die Erneuerung der Schöpfung, die Versöhnung der Menschheit und die ewige Gemeinschaft mit Gott zum Ziel hat,19 kann einheitlich, jedoch ————— 13 M. Welker, Gottes Geist. Theologie des Heiligen Geistes; eine kritische Analyse der Hauptintentionen bei C. Henning, Die evangelische Lehre vom Heiligen Geist und seiner Person, 272–280. 14 Welker, Gottes Geist, 153ff; 231ff. 15 Ebd., 59ff; 290ff. 16 Ebd., 29ff; 49; 109ff; 115f; 122f; 145 u.ö. 17 Ebd., 27; 153ff; 162f; 191ff; 215ff; 279ff. 18 Ebd., 13f; 32ff. 19 Ebd., 143ff; 153ff; 304ff.

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nicht unifizierend, sondern in sich differenziert mit der Metapher des Kraftfeldes beschrieben werden.20 Die vom Himmel ausgegossene Macht des Geistes, in der Gott sich ‚verdichtet‘ erfahrbar macht, den Menschen sein ‚Angesicht‘ zuwendet, worin er höchst persönlich und lebendig präsent wird, und schöpferisch ‚handelnd‘ ungerechte Differenzen abbaut und für bereichernde Unterschiede sensibel macht,21 ergreift Welt und Menschheit so, dass „die vom Geist Gottes ergriffenen, bewegten und erneuerten Menschen […] sich in ein von vielen Seiten ergriffenes, bewegtes und erneuertes Kraftfeld gestellt wissen, dessen Glied und Träger sie sind, das sie aber nicht allein tragen, gestalten, verantworten und beleben müssen. Dieses durch die Ausgießung bewirkte Kraftfeld des Geistes bildet eine differenzierte, nicht eine homogene Einheit.“22 Mit der Figur des resonanten Feldes ist ein Ausdruck gefunden, welcher die oben am Beispiel der Pfingsterzählung entfaltete phänomenologische Beschreibung mittels der Theorie der Atmosphären signifikant auf den Begriff bringt. Für das Wirken des Geistes im Verhältnis zu den von ihm ergriffenen und im Geist handelnden Menschen eignet sich „die Figur eines Feldes, dessen Elemente ihrerseits Felder sind“23. Die Metapher des Feldes ist hier weniger in Analogie zu physikalischen Feldern gebraucht, weil dann geklärt werden müsste, inwiefern die Elemente des Feldes wieder als Felder und nicht als Feldlinien, Quellen, Senken, Anregungen oder Wirkungen des Feldes zu verstehen sind. Eine solche Klärung unterbleibt, ist aber auch nicht nötig, da nicht ein physikalischer Feldbegriff den theoretischen Rahmen bildet.24 Aus der Erläuterung, dass sich die Elemente des Feldes, die selbst Kraftfelder sind bzw. konstituieren, vergleichen lassen mit „einem in Subsysteme differenzierten System, einer aus Substrukturen gebildeten Struktur oder – anschaulicher – einem komplex strukturierten Netzwerk, dessen Bestandteile selbst Netze bilden“25, geht hervor, dass der Theorierahmen im Hintergrund eine allgemeine Systemtheorie von sozialen Systemen ist mit Betonung des Verhältnisses von Gesamtsystem und Subsystemen. Der Feld- resp. Systembegriff dient dazu, eine relationale Struktur des Verhältnisses von Ganzem und Teilen oder von übergreifendem Gesamtsystem und funktional differenzierten Untersystemen herzustellen, um damit das Wirken des Geistes strukturanalog zu gesellschaftlichen System beschreiben und so „realistisch“ auf diese und ihre konkreten Kommunika————— 20 21 22 23 24 25

Ebd., 214f; 224f. Ebd., 132ff; 143; 147f; 153f. Ebd., 214. Ebd., 224. Vgl. die richtige, aber unberechtigte Kritik bei Evers, Raum – Materie – Zeit, 273. Welker, Gottes Geist, 13; 225.

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tionsverhältnisse beziehen zu können.26 Den Bezug stellt Welker allerdings nicht schematisch mittels einer alle möglichen Strukturen und Phänomene umfassenden Kommunikationstheorie her, sondern eklektisch auf diese oder jene Phänomene und Strukturen bezogen, je nachdem, ob das Geistwirken damit strukturell beschrieben werden kann oder eher nicht. „Feld“ oder „Netzwerk“ setzt Teil- und Gesamtsystem so ins Verhältnis, dass beide sich gegenseitig bedingen und der ontologische Primat der Relation vor dem Element gilt. Das Wirken in Feldern von Feldern vollzieht sich als Verhältnisbildung von Verhältnissen, als dynamische Ereignisfolge der Universalisierung und Differenzierung. Die Figur des Feldes von Feldern verbindet die ökumenische Universalität des Geistwirkens mit der Individualität der Geistträger. Das Wirken des Geistes betrifft konkrete Individuen mit ihrem Leben, Glauben und Hoffen, aber es betrifft mich, hier und jetzt zugleich „samt allen Gläubigen“27, also als Glied und Träger christlicher Gemeinschaft inmitten von dieser. Der Feldbegriff vermag zu veranschaulichen, dass „konkrete Individualität und weltübergreifende Universalität […] im Kraftfeld des Geistes zusammengehalten“28 werden. Damit ist „das Geistwirken weder pluralistisch im Sinne eines dissoziierenden Pluralismus noch individualistisch im Sinne eines abstrakt unifizierenden Individualismus zu verstehen“, sondern als „vielstelliges, für Differenzen sensibles Kraftfeld, in dem die Freude an geschöpflichen, stärkenden Differenzen gepflegt wird, und in dem ungerechte, schwächende Differenzen in Liebe, Erbarmen und Sanftmut abgebaut werden.“29 Das Kraftfeld des Geistes konstituiert kein geschlossenes System und keine absoluten Hierarchien, sondern ein Miteinander von gegenseitiger Befruchtung und Resonanz zu einem vielgestaltigen Ganzen. Der Geist Gottes ist ein „öffentliche Kraftfelder konstituierendes Kraftfeld, Felder, in die ihrerseits Menschen als Träger und Getragene, Konstituierende und Konstituierte eintreten können bzw. hineingenommen werden.“30 Das begrifflich sonst schwer zu fassende Ineinander von „innerlichem“ und „öffentlichem“ Wirken des Geistes, die sowohl passive als auch aktive Stellung der Glaubenden, insofern ihr Glaube sowohl Wirkung als auch Träger und Movens der Ausstrahlung des Geistes ist, und sofern sie im Wirkbereich des Geistes selbst den Geist tragen und ausstrahlen, kann mittels der Feldstruktur plausibel veranschaulicht werden. ————— 26 27 28 29 30

Ebd., 12f; 38ff; 233f. M. Luther, Der kleine Katechismus, BSLK, 511f. Welker, Gottes Geist, 231. Ebd., 230.33. Ebd., 228.226.

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Wie schon an der Interpretation der Pfingstgeschichte Act 2 gesehen,31 ist für dieses Feldwirken des Geistes im Besonderen das Konzept der atmosphärischen Präsenz und Wirkung geeignet, ein Konzept, das bei Welker ebenfalls lose im Hintergrund steht. Mit der Ausgießung des Geistes wird ein Kraftfeld gestiftet, welches eine differenzierte, aber nicht homogene Einheit bildet, welches die Zerrissenheit der Welt aufhebt, gegenseitiges Verstehen und die Erfahrung von Gemeinschaft im Geist herbeiführt, ohne die kulturellen, nationalen und sprachlichen Differenzen zu beseitigen.32 Diese Wirksphäre des Geistes ist, ekklesiologisch betrachtet, ein öffentliches Kraftfeld. Im öffentlichen Kraftfeld des Geistes realisiert sich in, mit, unter und durch die konkreten Individuen, die Geistträger, Geistwirkungen und Gemeinschaftserfahrungen, die öffentliche Person des heiligen Geistes. Der Ausdruck der „öffentlichen Person“ des Geistes, welcher der heilsindividualistischen oder trinitätsimmanenten Engführung des Wirkens und der Personalität des Geistes wehrt und die Pneumatologie zurecht mit der Ekklesiologie verschränkt (unbeschadet der Verschränkung mit Schöpfungslehre, Christologie und Eschatologie), erschließt sich von der Phänomenologie der Atmosphären her. Damit wird es möglich, den Geist als Person zu verstehen, ohne damit den besonders für das Erfassen des alttestamentlichen, lukanischen und paulinischen Geistwirkens unzureichenden Begriff einer lokalräumlich zentrierten, individuellen und selbstbewussten Handlungsinstanz zu unterstellen. Der Personbegriff kann, wie bei Welker allerdings nur angedeutet wird, mit dem räumlich ausgedehnten, verbindenden und differenzierenden Wirken des Geistes verknüpft werden, wenn nicht das individuelle GeistSubjekt, sondern das von uns oben entwickelte sozialpsychologische und atmosphärische Personkonzept herangezogen wird. Ein selbstbewusstes und zentrisch agierendes Individuum wird „zur Person erst in Einheit mit dieser auf sie bezogenen gestaltenden sozialen Sphäre.“33 Erst mit der Bezogenheit auf die soziale Sphäre und die Integration der sozialen Relationen, dem „generalized other“, wird, mit Mead gesagt, ein bewusstes Ich (I) zum Selbst (me), also zur Person.34 Dies geschieht, analog der ästhetischen Theorie, durch Resonanz. „Erst durch einen Resonanzbereich wird ein Aktionszentrum zur Person“35, da Menschen in vielfältigen sozialen Beziehungsgeflechten geformt werden und ebenso in Bezug das soziale Netz mitgestalten. Diese Resonanzgeflechte konstituieren in der Summe die öffentliche Person, also wer ich für andere bin, formen aber ebenso mit an der ‚inneren‘ ————— 31 32 33 34 35

Vgl. oben II.3.4.2. Welker, Gottes Geist, 214–220. Ebd., 288. Genauer s.o. II.3.5.6. Welker, Gottes Geist, 288.

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Person, an dem, wer ich für mich bin. Interpretiert man die Wirksamkeit des Geistes sozialpsychologisch oder ästhetisch vom Resonanzbereich einer Sphäre her, dann kann der heilige Geist als eine solche Person verstanden werden, die in der Sphäre konkreter Aktualität und Präsenz wirksam zur Erscheinung kommt, also öffentlich wird und Resonanz findet. Der heilige Geist ist dann nicht noch für sich ein ganz anderer, als seine Wirksamkeit ad extra, sondern er ist das Resonanzfeld „öffentlicher heiliger Geist“. In diesem Konzept ist „der heilige Geist also durchaus als Person, aber als öffentliche Person, zu verstehen.“36 Das kraftvolle Wirken und die Personalität des Geistes widersprechen sich nicht, wenn unter Wirken das Hinaustreten in den Raum spürbarer Anwesenheit verstanden wird, welcher durch Resonanz und Interaktion zu einer vielgestaltigen Einheit von Beziehungen auf den Geist und der vom Geist Ergriffenen zueinander herstellt. Der Geist ist als öffentliche Person die differenzierte Einheit seines Resonanzbereiches, von dem die Glaubenden als Träger und Elemente dieses Feldes, die selbst Felder sind, affiziert sind und wieder darauf zurückwirken. Insofern man überdies trinitätstheologisch geltend machen kann, dass der Heilige Geist der Geist Jesu Christi ist, bzw. dass der erhöhte Christus, der Kyrios, in actu der Geist ist (oÖ de? kußriow to? pneuqma eöstin, 2.Kor 3,17), kann man mit Welker sagen: „Der Heilige Geist ist zunächst zu verstehen als die vielgestaltige Einheit der Perspektiven, der Beziehungen auf Jesus Christus und der gesprochenen und gelebten Zeugnisse von ihm. In dieser Hinsicht ist der Geist eine Einheit, an der wir teilhaben, die wir mitkonstituieren können. Er ist der Resonanzbereich Christi. Er ist die öffentliche Person, die dem Individuum Jesus Christus entspricht.“37 Der Geist ist als öffentliche Person das in Erscheinung Treten der bestimmten Person Jesu Christi, insofern im Wirken des Geistes das Antlitz Christi als des Gekreuzigten und Auferstandenen hindurchscheint. Und schließlich erscheint im Wirken des Geistes das Wesen Gottes selbst: Das Kraftfeld des Geistes ist die Wirksphäre des göttlichen Wesens, der Liebe. Die Liebe ist die Frucht des Geistes. Sie ist ein Folgefeld und zugleich Konkretion des Geistfeldes, welcher das öffentliche Präsenzfeld der in Christus erschienenen Liebe Gottes ist. „Die Liebe als Frucht des Geistes […] ist ein weltveränderndes Kraftfeld. […] Die Liebe konkretisiert – dort, wo sie nicht nur Person-zu-Person-Verhältnisse bestimmt, sondern Sozialitäts- und Gemeinschaftsverhältnisse – das Kraftfeld des Geistes auf vollkommenste Weise.“38 ————— 36 37 38

Ebd., 287. Ebd., 289. Ebd., 233.

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Das Wirken des Geistes vollzieht sich also, feldtheoretisch formuliert, in einem mehrstufigen Prozess von Resonanzen personaler Felder und genau darin, als resonantes Feld von Feldern, ist der Heilige Geist öffentliche Person: das Präsenzfeld des Wesen Gottes, das Resonanzfeld Jesu Christi und das eine differente Einheit konstituierende Beziehungsgeflecht von erwirkten und widerhallenden Resonanzzentren aus Feldwirkungen, Erfahrungen und Ausstrahlungen des Geistes. Welkers Feldmodell ist u.E. in ganz hervorragender Weise geeignet, unser einerseits auf den gestimmten Raum bezogenenes Modell der atmosphärischen Präsenz und andererseits das auf den geschöpflichen Raum bezogene Modell der operativen Präsenz zu verschränken, und zwar so, dass „Person“ und „Kraft“ nicht in eine Alternative treten. Mit dem Begriff der öffentlichen Person des Geistes werden personale und dynamische Wirkgegenwart Gottes verbunden und überdies trinitarisch begründet. Am Begriff der öffentlichen Person wurde Kritik geäußert, die wir jedoch nicht teilen, sondern das Modell für trinitätstheologisch zureichend begründet halten. Das Feldmodell erlaubt eine trinitarische Phänomenologie der Wirkgegenwart Gottes in den ekklesiologischen und schöpfungstheologischen Bezügen. Weiterführend wäre allerdings eine naturphilosophisch fundierte Bezugnahme auf die physikalische Natur zu formulieren, was bei Welker nicht im Blick ist, aber im Bezug auf Pannenbergs Feldmodell ergänzt werden kann. C. Henning hat an Welkers Feldkonzeption kritisiert, dass die Personalität des Geistes nicht zureichend zur Geltung komme. Es sei nicht einzusehen, wie der Resonanzbereich einer Person selbst auch Person sein kann, wie also Christus zugleich Aktionszentrum des Geistes und der Geist als Resonanzbereich Christi selbst Person sein kann. Weiter sei nicht einzusehen, wie man die Person Christi noch von der Person des Geistes unterscheiden soll, wenn dieser die dem Individuum Jesu Christi entsprechende öffentliche Person sei, und wie schließlich die vielgestaltige Einheit von Resonanzen, an der wir teilhaben und die wir mitkonstituieren, als (öffentliche) Person des Geistes angesprochen werden kann39. Unter Voraussetzung eines Personbegriffs von individuellen Aktionszentren ist all dies tatsächlich nicht einzusehen, mittels des vorgestellten kommunikationstheoretischen und atmosphärischen Personkonzepts löst sich das Unverständnis. Mit dem Resonanzmodell kann man Zusammenhang und Differenz der Person Christi und der Person des Geistes klar formulieren (s.o.), wenn auch bei Welker der Übergang von immanenten, innertrinitarischen Relationen zu den ökonomischen ad extra nicht aufgelöst wird und nicht explizit geklärt wird, inwiefern es sich beim Heiligen Geist auch um eine trinitarische Person ad intra handelt.

————— 39

Henning, Die evangelische Lehre vom Heiligen Geist und seiner Person, 279f.

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4.3 Der Geist als Vollzug des Gott-Feldes (Dalferth, Moltmann) 1. Eine die immanente und die ökonomische Trinität einbeziehende Feldtheorie des Geistes hat I. Dalferth vorgelegt. Der Geist wird als Vollzugsform des Lebens Gottes begriffen, welches innertrinitarisch und im Wirken nach außen als ein strukturiertes Feld anzusehen ist. „Geist“ ist nicht Name einer separaten Entität oder Bezeichnung einer Kraft, sondern lässt sich als „die Vollzugsform einer bestimmten, sich in der selbstbezüglichen Differenziertheit seiner Momente selbst epistemisch durchsichtigen Aktivitätssphäre begreifen: des Lebens Gottes.“40 Der Geist hat immanent an der trinitarischen Grundstruktur innergöttlichen Lebens teil, insofern sich Gott im Rückbezug auf sich selbst als Wirklichkeit setzt (Gott der Vater), sich als Wahrheit selbst bestimmt (Gott der Sohn) und sich selbst als trinitarisches Leben, als Gott-Feld, durchsichtig wird. Gott erkennt sich nach Dalferth im Geist als Wirklichkeit und Wahrheit, als die und zu der er sich selbst als Vater und Sohn bestimmt hat. Gott erkennt im Geist sich selbst als Gott-Feld, und indem er sich wahrnimmt als der, der er ist, ist er „die sich selbst epistemisch vollkommen durchsichtige Vollzugsform des GottFeldes, in der sich dieses als Geschehen der Liebe in der Differenziertheit der Aktivitätszentren Vater, Sohn und Geist konstituiert und selbst deutet.“41 Diese Selbstdeutung Gottes ist nun auch für unsere Fremddeutung relevant, insofern wir, durch den Geist erkennend, dass Gott nur durch den Geist erkannt wird, an seiner Selbstdeutung partizipieren und an seiner Selbstdurchsichtigkeit Anteil bekommen. Genau dies geschieht im Glauben, in dem wir uns der Wirklichkeit Gottes und der Wahrheit der Deutung der göttlichen Wirklichkeit in Christus durch den Geist gewiss werden. Der Grundsatz der Barthschen Erkenntnistheorie: „Gott wird nur durch Gott erkannt“42, wird von Dalferth, ohne Barth explizit zu nennen, pneumatologisch zugespitzt: Nur im Glauben, den der Geist wirkt, erkennen wir, dass wir als Glaubende nur durch den Geist existieren und nur durch den Geist lässt sich erkennen, dass Gott nur durch den Geist erkannt wird. Sowohl im Sein wie in der Erkenntnis des Glaubens sind wir damit in das Gott-Feld des innergöttlichen Lebens hineinbezogen. Mit „Geist“ ist „die sich selbst deutende und eschatologisch immer besser verdeutlichende Vollzugsform dieses durch bestimmte Relationen konstituierten und durch bestimmte Differenzen markierten Gott-Feldes gemeint.“43 ————— 40 41 42 43

I. Dalferth, Kombinatorische Theologie, 132. Ebd. K. Barth, KD II/1, 47. Dalferth, Kombinatorische Theologie, 133.

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Das Gott-Feld des innertrinitarischen Lebens ist differenziert in ein Konstitutions- (Vater), ein Bestimmheits- (Sohn) und ein Vollzugsprinzip (Geist). Der Geist ist das aktuose, kreative, selbstbezügliche und selbstdurchsichtige Vollzugsmoment Gottes und kann als „ursprünglich kreatives Feld“44 verstanden werden: ursprünglich, insofern es sich ausschließlich sich selbst verdankt, kreativ, insofern es als Wirkung immer neue, aber ähnliche Gestalt-Muster wie es selbst hervorbringt, wodurch sich das Feld erweitert, dynamisch verändert und auf der Basis bestehender Verhältnisse neu strukturiert. Bis hierher handelt es sich um eine strikt innertrinitarische Feldtheorie, bei der „Feld“ eine Metapher darstellt, deren Bedeutung sich von dem her ergibt, was sie beschreiben soll: das trinitarische Leben und deren innere (trinitarisch-immanente) und äußere (trinitarisch-ökonomische) Relationen. Problematisch wird der Feldbegriff allerdings an der Stelle, an der Dalferth ihn systemtheoretisch zu explizieren versucht. Unter Feld versteht Dalferth, eine allgemeine Systemtheorie unterstellend, die Gesamtheit interagierender und voneinander abhängiger Verhältnisse, die in einem prozessualen Zusammenhang stehen. Spätestens an diesem Punkt wird die Analogie unklar, wie sich dieser Feldbegriff zum innertrinitarischen „Feld“ als einem „ursprünglich kreativen Feld“ verhält, denn in der Welt gibt es weder ursprüngliche, noch ursprünglich kreative Felder. Es gibt keine Felder, die solche Innen- und Außenrelationen haben, bei denen einseitig die internen die externen Relationen konstituieren und bestimmten und bei denen nur die äußeren von den inneren, nicht aber die inneren von den äußeren Relationen abhängig sind. Kein System ist überdies sich in derselben Hinsicht selbstdurchsichtig wie es kausal auf sich bezogen ist. Ein selbstkonstituierendes und selbstdurchsichtiges System analog der ursprungslosen causa sui (Konstitutionsprinzip Vater), die sich selbst zu ihrem Wesen (als Liebe) bestimmt (Sohn) und ihre Außenrelationen in sich einzubeziehen und Innen- und Außenrelation vollständig zu durchschauen in der Lage ist (Vollzugsform Geist), gibt es in der Welt nicht. Die ontologische und erkenntnistheoretische causa sui kann weder mittels der Theorie sozialer Systeme noch der naturwissenschaftlichen Selbstorganisationstheorien veranschaulicht werden. Selbstorganisierende Systeme organisieren sich nicht aus sich selbst, sondern aus der Wechselwirkung von System und Umwelt und innersystemische Prozesse sind von den Außenwirkungen kategorial zu unterscheiden.

————— 44

Ebd., 132.

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Man kann schwerlich mit derselben Metapher „Feld“ das innertrinitarische Leben Gottes und das Wirken des Geistes in der Welt beschreiben. Man muss das innertrinitarische Feld klarer vom Geistwirken in der Welt unterscheiden, denn während ersteres rein selbstbezüglich ist und sich nur sich selbst verdankt, trifft letzteres auf weltliche und natürliche Felder, die ein Eigenwirken haben. Wird das Außenwirken Gottes und seine Innenrelation univok als „Feld“ bezeichnet, so besteht die Gefahr, dass auch die bezeichneten Sachverhalte identisch werden. Das Weltwirken des Geistes wäre nichts anderes als die Vollzugsform des innertrinitarischen Lebens Gottes, oder m.a.W. der Weltprozess panentheistisch der Vollzug des göttlichen Lebens selbst. Die innere Komplexifizierung Gottes – was immer man sich unter der Kreativität des Gott-Feldes vorstellen mag – wäre identisch mit natürlicher Kreativität und die evolutiven Prozesse der Komplexifizierung und Differenzierung von Strukturen und Systemen würden zur innergöttlichen Bewegung des Gott-Feldes selbst hypostasiert und pantheisiert. Um diese Konsequenz, die keineswegs in der Absicht Dalferths liegt, zu vermeiden, sollte man den Begriff des kreativen Feldes nur für das äußere, schöpfungstheologische Wirken Gottes verwenden, wobei Verhältnis und Differenz von schöpferischer Selbstbewegung Gottes und Eigenwirken der selbstorganisierenden Felder zu thematisieren wäre (hierzu 4.5). 2. Die Gefahr der Pantheisierung besteht mehr noch in den evolutiven Geist-Konzepten von S.M. Daecke, G. Altner und J. Moltmann, die den heiligen Geist relativ unvermittelt als „Kraft der Evolution“45 und den evolutionären Selbstaufbau aus materiellen, energetischen und informationellen Prozessen als die reale Art und Weise ansehen, wie Gott in der Schöpfung ————— 45 S.M. Daecke, Säkulare Welt – sakrale Schöpfung – geistige Materie. Vorüberlegungen zu einer trinitarisch begründeten praktischen und systematischen Theologie der Natur, 275: „Der Geist in der Materie ist Geist vom Heiligen Geist, der Leben schaffend, erhaltend und vollendend in den evolutionären Prozessen wirkt. Der Heilige Geist ist die Kraft der Evolution“; ähnlich ders., Gott – Opfer oder Schöpfer der Evolution, 241.244; neben diesem Spitzensatz stehen allerdings die sorgfältig differenzierten und vermittelnden Überlegungen Daeckes zu einer „Theologie der Natur“, welche als panentheistische „natürliche Theologie“ Gott und den Geist sowohl in der Natur immanent, also auch ihr transzendent denkt, „weil auch die Natur in Gott ist, der sie umgreift und übergreift“ und „daher die Natur nicht in sich heilig oder gar göttlich ist, sondern durch Gott geheiligt wird“ (ders., Gott in der Natur? Zur Theologie des Dialogs zwischen Naturwissenschaft und Religion, 128); vgl. auch ders., Kann man Gott aus der Natur erkennen?; ders., Gott der Vernunft, Gott der Natur und persönlicher Gott. Natürliche Theologie im Gespräch zwischen Naturwissenschaft und Worttheologie; ders., Theologie der Natur als „natürliche“ Theologie?; ders., Kann es eine Theologie der Natur geben? Zur Frage des Verhältnisses von Naturwissenschaft und Theologie; ders., Auf dem Weg zu einer Theologie der Natur? Das Verhältnis von Naturwissenschaft, „natürlicher Theologie“ und Theologie der Natur in der Sicht eines evangelischen Theologen.

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als Schöpfer wirkt46. Besonders Moltmann hat sich bemüht, auf diese Weise Gottes Immanenz inmitten der Schöpfung gegenüber, fast anstatt seiner Transzendenz zu betonen. Gott, der Schöpfer, sei „in jedem seiner Geschöpfe und in ihrer Schöpfungsgemeinschaft durch seinen kosmischen Geist präsent“. Gott sei nicht nur der Schöpfer, sondern „auch der Geist des Universums. Durch die Kräfte und Möglichkeiten des Geistes wohnt der Schöpfer seinen Geschöpfen ein, belebt sie, erhält sie im Dasein und führt sie in die Zukunft seines Reiches.“47 Moltmann hat diese panentheistische theologische Aussage nun aber in naturwissenschaftlichen Begriffen reinterpretiert und damit das Geistwirken als physikalische Prozessentwicklung und umgekehrt dargestellt, wodurch sich die Weltimmanenz Gottes zu einem, wie er selbst sagt, „dynamischen Pantheismus“ verdichtet. Gott sei durch seinen Geist in der ganzen Schöpfung, also auch „in den Materiestrukturen präsent“48. Der Kosmos bewege und entwickle sich in den Energien und Kräften des göttlichen Geistes. Gott als Geist sei die natura naturans, die sich evolutionär entwickelnde Welt, und Gott sei der Umraum oder die Umgebung der sich auf Gott hin und in Gott entwickelnden Welt. Die Welt sei ein „gottoffenes System“ und Gott ein „weltoffenes Wesen“49. Gott, so deutet Moltmann die Theorie der offenen, selbstorganisierenden Systeme, für die die Differenz zwischen dem System und der Umgebung als Energiereservoir fundamental ist, direkt theologisch, sei der außerweltliche Vorraum, in den hinein die Welt die Welt sich entwickelt, die außerweltliche Umgebung, von der und in der sie lebt, und die Welt sei als offenes System ein „sich selbst transzendierendes System“50 und – mit Gott als Umraum – damit ein sich auf Gott hin transzendierendes System. Zu kritisieren ist hieran abgesehen davon, dass der Begriff des offenen Systems nicht konsistent auf die Welt als Ganze angewandt werden kann, da er eine weltliche Umgebung als natürliches Energiereservoir voraussetzt, dass „die Argumentationsebenen der Physik (Struktur, Energie, Information) und der Theologie (Ewigkeit, Gott, Geist) ohne Vermittlung ineinandergeschoben, ja nahezu zur Deckung gebracht“51 werden. Was es heißen soll, dass Gott, der Geist, „die Gesamtübereinstimmung, die Struktur, die Information, die Energie des Universums“ sei und gerade als solcher (d.h. ————— 46 Vgl. G. Altner, Die Überlebenskrise in der Gegenwart, 112: Die „Wirklichkeit des Geistes“ zeige sich „im Sinne der Selbstorganisationstheorie in der Dynamik und in der Selbsttranszendenz der Evolution. Die Wirklichkeit des Geistes manifestiert sich im Selbstaufbau materieller, energetischer und informationeller Prozesse.“ 47 J. Moltmann, Gott in der Schöpfung, 28. 48 Ebd., 219. 49 Ebd., 213. 50 Ebd., 212. 51 C. Link, Schöpfung, Bd. 2, 427f.

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nicht nur funktional, sondern wesentlich, d.h. trinitarisch) der „Geist, der vom Vater ausgeht und in dem Sohn aufleuchtet“52, ist eine „ganz und gar unübersetzte Rede, die für die säkulare Vernunft nicht nachvollziehbar ist“53. Die Begriffe des Feldes, der offenen Systeme und der evolutionären Prozesse können nicht direkt theologisch interpretiert werden und nicht synonym für die innertrinitarischen Relationen der göttlichen Personen wie für das Wirken ad extra gebraucht werden. Ein univoker Sprachgebrauch führt zur pantheistischen Identität oder, um diese zu vermeiden, zu einer unvermittelbaren Differenz der Sachebenen. Der univoke Begriff müsste strikt nominalistisch mit strenger Äquivozität der Sachen korreliert werden. Der Feldbegriff könnte dann nur ohne sachlichen Bezug zu systemischen sozialoder naturwissenschaftlichen Feldbegriffen expliziert werden, und das Wirken Gottes bzw. des Geistes als Feld wäre bloß eine vage Metapher ohne angebbaren Bezug zur realen Natur. Um das Wirken Gottes als Feld verstehen und auf natürliche Felder beziehen zu können, ist es nötig, eine naturphilosophische Vermittlungsebene zwischen theologischer und naturwissenschaftlicher Bezeichnung dazwischenzuschalten. Dies hat W. Pannenberg mit dem physikalischen Begriff des Feldes versucht.

4.4 Das Kraftfeld als pneumatisches Wirkfeld Gottes (Pannenberg) Als vermittelnden Begriff zwischen schöpfungstheologischem Wirken Gottes und natürlichem Eigenwirken hat W. Pannenberg das physikalische „Feld“ angesehen, welches nicht nur formal, sondern inhaltlich die schöpfungstheologische und die physikalische Weltbeschreibung aufeinander zu beziehen in der Lage sei. Mittels der von Faraday zur Erklärung mechanischer Kraftwirkungen entwickelten, von Maxwell und Hertz auf elektromagnetische Kräfte erweiterten und von Einstein auf metrische Felder verallgemeinerten Feldtheorien ist es gelungen, die aristotelisch-cartesische Physik der Berührungskausalität und des materiellen Kraftbegriffs zugunsten von fernwirkenden und nichtmateriellen Kräften zu überwinden. Hierdurch werde, wie Pannenberg mit G. Süßmann sagt, eine Art „geistiges“ Verständnis der Naturwirklichkeit möglich,54 das sich dann mit der christlichen Lehre von der dynamischen Wirksamkeit des göttlichen Pneuma in der Schöpfung in Beziehung setzen lasse. Außerdem lasse sich aufgrund der ————— 52 53 54

Moltmann, Gott in der Schöpfung, 30. Altner, Die Überlebenskrise in der Gegenwart, 146. G. Süßmann, Geist und Materie, bes. 18–28; vgl. Pannenberg, ST 2, 102.

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Begriffsgeschichte, dass sich der Feldbegriff aus dem stoisch-christlichen Begriff des Pneuma entwickelt habe, auch umgekehrt die Dynamik des göttlichen Geistes, der in aller Schöpfung und Geschichte wirksam ist, nach Art eines physikalischen Kraftfeldes denken. Hierdurch bestehe zwischen der theologischen „Lehre vom göttlichen Pneuma und den Feldtheorien ein sachlich viel engerer Zusammenhang als er im Mittelalter im Verhältnis zur aristotelischen Bewegungslehre gegeben war.“55 Dieser Äußerung lässt sich entnehmen, dass Pannenberg mittels des Feldbegriffs nicht nur eine analoge Beziehung oder metaphorische Äquivalenz zwischen theologischen und naturwissenschaftlichen Aussagen, sondern einen sachlichen Zusammenhang herzustellen beabsichtigt, mithin physikalische Felder als Instrumente des Wirkens Gottes in der Welt zu interpretieren versucht. Diesen näherungsweise identifizierenden Zusammenhang stellt Pannenberg mittels des Feldbegriffs als metaphysischem Grundbegriff her, indem er den physikalischen Feldtheorien eine bestimmte, nichtmaterialistische und nichtdeterministische Ontologie entnimmt, die mit der schöpfungstheologisch und pneumatologisch erhobenen Ontologie des Geistwirkens korrespondiert bzw. näherungsweise übereinstimmt. Zwar verböten es die prinzipiellen Differenzen zwischen physikalischer und theologischer Betrachtungsweise, die physikalischen Feldtheorien direkt theologisch zu interpretieren, doch könne man der Physik immerhin entsprechend der methodischen Eigenart ihrer Theoriebildung eine Annäherung an die eine Wirklichkeit zugestehen, die auch Gegenstand der theologischen Schöpfungsaussagen ist56. Die Einheit der Wirklichkeit spiegele sich in der Parallelität und Beziehbarkeit der beiden Aussageebenen. Im Einzelnen benennt Pannenberg folgende parallele Charakteristika physikalischer und theologischer Feldontologie:57 1. Die Fundamentalität des spirituellen Feldes vor dem materiellen Teilchen, 2. die ontologische Priorität der Möglichkeit vor der Wirklichkeit, 3. die Priorität der Zukunft vor der Vergangenheit, 4. das relationale, nichtsubstantielle Verständnis von Raum und Zeit und 5. die Zurückführung des Raumes auf die Zeit. Pannenbergs Feldtheorie58 im Einzelnen zu entfalten, würde zuviel Raum einnehmen. Wir beschränken uns auf einige kritische Bemerkungen. ————— 55 Pannenberg, ST 2, 102. 56 Ebd., 103. 57 Vgl. auch Bernhardt, Was heißt „Handeln Gottes“?, 409–422. 58 Außer dem Haupttext Pannenberg, ST 2, 96–138, vgl. ders., ST 1, 412–416; ders., Schöpfungstheologie und moderne Naturwissenschaft, bes. 282–285; ders., The Doctrine of Creation and modern Science; ders., Geist als Feld – nur eine Metapher?; ders., Das Wirken Gottes und die Dynamik des Naturgeschehens, bes. 148–151; ders., Theologie der Schöpfung und Naturwissenschaft, bes. 158–161; ders., Der Glaube an Gott und die Welt der Natur, 129f.

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Ad 1.: Die modernen physikalischen Feldtheorien betrachten die Körper als Erscheinungsformen von Kräften, genauer als Singularitäten von Kraftfeldern. Daraus folgert Pannenberg, die Felder würden als den Körpererscheinungen vorgängige, ontologisch selbständige Realitäten angesehen und Materie, Masse und Kraft auf Feld zurückgeführt.59 Ebenso sei zwar seit Origenes Gott als Pneuma im Sinne des immateriellen Nous verstanden worden, doch sei die biblische Ruach als Prinzip des Lebens und der Bewegung dem stoischen göttlichen Pneuma näher, welches als direkter Vorläufer des modernen Feldbegriffs anzusehen sei. Den Feldbegriff für die Klärung der Geistigkeit Gottes in Anspruch zu nehmen, sei daher keine fremde Metaphysik, sondern eine sachgemäße Rückübertragung.60 Pannenbergs Begründung wäre dann gut, wenn sich 1. aus den physikalischen Feldtheorien ein ontologischer Primat des Feldes vor dem Teilchen erheben ließe und 2. die Begriffsgeschichte einen sachlichen Zusammenhang von physikalischem Feld und Gott als Geist belegen würde. Beides ist nicht der Fall. Pannenbergs wiederholt angeführter Gewährsmann M. Jammer liefert in seinem Art. Feld im HWPh keinen Beleg für einen Sachzusammenhang, sondern nur eine strukturelle Parallelität der stoischen Pneumalehre zur Feldtheorie, nämlich als Theorie der Nahwirkung, nach der das alles durchdringende Pneuma per Spannung (tonos) Ursache der Bewegung und der Stoffqualitäten ist.61 Ein ideengeschichtlicher Zusammenhang (plausibler wäre für Faraday auf die Korrespondenz seiner Feldtheorie mit seiner der newtonschen ähnlichen, theistischen natürlichen Theologie zu verweisen, da er, wie auch später Maxwell, das Erhaltungsgesetz der Kraft als Grund der „Stabilität der Schöpfung“ und den Raum via Äther als Träger der nahwirkenden Kräfte und Vermittler der erhaltenden göttlichen Allgegenwart ansah62) besagt für die Ausbildung eines Begriffs und für seine illustrative Rückbeziehung in die Alltagswelt sehr viel, für seine Verwendung und Bedeutung in der ausgearbeiteten (mathematischen!) Theorie63 aber nicht ebenfalls, zumal das Faraday-Maxwellsche Feld essentiell mit dem inzwischen widerlegten (fein-stofflich-materiellen!) Äther als Träger verbunden

————— 59 Pannenberg, ST 2, 100. 60 Pannenberg, Geist als Feld – nur eine Metapher? 257. 61 M. Jammer, Art. Feld, HWPh, Bd. 2, 923; ders., Art. Fernwirkung, HWPh 2, 994f; ders., Art. Kraft, HWPh, Bd. 4, 1178f; zur stoischen Raum- und Pneumavorstellung vgl. oben I.2.5. 62 Vgl. T.F. Torrence, Das Verhältnis zwischen christlichem Glauben und moderner Naturwissenschaft. Die geistesgeschichtliche Bedeutung von James Clerk Maxwell, 13; W. Berkson, Fields of Force. The Development of a World View from Faraday to Einstein, 58f; D. Gooding, Metaphysics versus measurement: The conversion and conservation of force in Faraday’s Physics; G. Cantor, Michael Faraday: Sandemanian and Scientist, 168–173, (hier 170 das Zitat, dass “the conservation of force” der Grund der “stability of creation” und diese wiederum in der göttlichen Erhaltung begründet sei, da allein Gott Kräfte schaffen könne und daher Kräfte in der physikalischen Welt erhalten werden müssten. Die Selbsterhaltung des Systems Materie und Kräfte bewies für Faradays natürliche Theologie den Schöpfer als perfekten Designer). 63 Vgl. F. Hund, Geschichte der physikalischen Begriffe, Teil 2, 46–61.

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war.64 Die Allgemeine Relativitätstheorie und die Quantenfeldtheorien zeichnen den Begriff des Feldes nicht ontologisch aus, da sie das, was Materie ist, ungeklärt lassen. Ebenso kann man Materie als Manifestation oder Singularität von Raum-Zeit- bzw. Energiefeldern ansehen, wie umgekehrt.65 Feld ist ebenso „materiell“ und keineswegs „geistiger“ wie Masse, Kraft usw.66 Wenn man dann noch den Feldbegriff univok innertrinitarisch verwendet und die Person des Heiligen Geist als „einmalige Manifestation (Singularität) des Feldes der göttlichen Wesenheit“67 bezeichnet, handelt es sich um eine vielleicht illustrative Metapher, höchstens um eine analogia nominum ohne fundamentum in re.

Dieser Einwand gilt auch gegen die 2.–3. Eigenschaft der Pannenbergschen Feldontologie. Die theologische Interpretation des Heiligen Geistes von Röm 8 her als „Macht der Zukunft“68 lässt sich zwar, wie wir unten zeigen werden, auf ein bestimmtes modallogisches Zeitverständnis beziehen und von diesem her das Kraftfeld des Geistes als Eröffnung eines Möglichkeitsfeldes interpretieren, welches von der Zukunft her, sozusagen in finaler Kausalität wirkt und die Schöpfung ihre Möglichkeiten entfalten lässt. Aber solches Wirken Gottes kraft der Zeit, genauer kraft der Zukunft der offenen Möglichkeiten, lässt sich nicht mit physikalischen Feldbegriffen erhärten. Denn die Rede vom „Möglichkeitsfeld zukünftiger Ereignisse“69 als Umkehrung des Zeitpfeils der deterministischen Physik lässt sich gewiss nicht aus der mathematischen Physik der Quantenfeldtheorien70 erheben, die ebenso kausal-deterministisch sind wie die (physikalisch sehr anderen) Feldtheorien von Maxwell und Einstein, sondern nur unter Unterstellung eines bestimmten philosophischen Zeitverständnisses, welches der Zukunft als dem „Reich des Möglichen“ eine größere „Mächtigkeit“ gegenüber dem Faktischen zuspricht. Die Quantenfeldtheorien und die Theorie der selbstorganisierenden, offenen Systeme stützen solches Zeitverständnis nicht direkt, sondern nur über den Umweg naturphilosophischer Reflexion, begründen höchstens die Denkmöglichkeit und Anschlussfähigkeit der theologischen Deutung, nicht aber, wie Pannenberg beansprucht, die Denk- und Anschlussnotwendigkeit71. Die „Möglichkeiten“ sind physikalisch kein „wirk-mächtiges Feld“, sondern die statistisch

————— 64 Vgl. S. Mason, Geschichte der Naturwissenschaft, 567–572; Berkson, Fields of Force, 148–152; G. Cantor/D. Gooding/F. James, Michael Faraday, 81–83. 65 Vgl. A. Einstein, Maxwells Einfluss auf die Entwicklung der Auffassung des Physikalisch-Realen, in: Mein Weltbild, 177–182; ders./L. Infeld, Die Evolution der Physik, 231–236. 66 Vgl. H.-D. Mutschler, Schöpfungstheologie und physikalischer Feldbegriff bei Wolfhart Pannenberg. 67 Pannenberg, ST 2, 104. 68 Ebd., 119–124. 69 H.-P. Dürr, Über die Notwendigkeit, in offenen Systemen zu denken, 28. 70 Eine Einführung mit Mitteln der strikt zeitdeterministischen Feynmanschen Pfadintegrale geben J.D. Bjorken/S.D. Drell, Relativistische Quantenfeldtheorie. 71 So Pannenberg, Geist als Feld, 258, gegen die Kritik Mutschlers, Schöpfungstheologie und physikalischer Feldbegriff, 556.

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erwartbaren Wahrscheinlichkeiten, die sich aus dem Faktischen ergeben. Sie „bewirken“ nichts, obwohl sie die Kausalstruktur bestimmen.

Auch kann man (ad 4.–5.) nicht sagen, dass der relationale Raumbegriff, welcher das substantielle receptaculum überwand, eine Rückführung des Raumes auf die Zeit impliziere. Die Physik kennt keinen ontologischen Vorrang der Zeit vor dem Raum. Dass in Wahrheit „der Raum Zeit ist“72, konstituiert durch die Gleichzeitigkeit des Verschiedenen, ist Ergebnis einer respektablen metaphysischen Zeittheorie, aber die „Reduktion des Raumes auf die Zeit“ ist weder physikalische Begründung noch Bedingung für die theologische These, dass die Ewigkeit Gottes „reale Bedingung“ von Raum und Zeit und die göttliche Unermesslichkeit und Ewigkeit Bedingung der Möglichkeit physikalischer Felder ist.73 Die theologische Interpretation der Gegenwart Gottes im Raum als „Dynamik des göttlichen Geistes, die als Macht der Zukunft, in allem Geschehen schöpferisch ist“, kann als „ein Feld mit spezifisch temporaler Struktur“74 verstanden werden, jedoch nicht als Feld im physikalischen Sinn, sondern in einem spezifisch theologischen Sinn als „eschatologisches WirkFeld Gottes“, wobei die Semantik dessen, was hier mit Feld gemeint ist, eher quer zu den zeitumkehrinvarianten physikalischen Feldbegriffen steht. Gott als Macht der Zukunft kann aber, wie wir unten zeigen wollen, naturphilosophisch begründet auf die Struktur der Zeit bezogen werden. Pannenbergs theologischer Feldbegriff ist nicht hinreichend gegen physikalische Feldbegriffe abgegrenzt, ganz gegen seine Absicht, die prinzipiellen Differenzen physikalischer und theologischer Wirklichkeitsbetrachtung nicht zu übergehen. Aber die schöpfungstheologische Prämisse, dass Gott der einende Grund der ganzen Wirklichkeit ist und sich daher physikalische und theologische Aussagen auf „dieselbe Wirklichkeit“ beziehen, verleitet ihn dazu, bestärkt durch die angebliche Begriffsgeschichte, den neuzeitlichen Feldtheorien eine „implizit theologische Relevanz“ zu unterstellen. Die (im Übrigen höchst divergenten) physikalischen Feldtheorien erlauben höchstens eine unscharfe Illustration der „Auffassung des göttlichen Geistes als alles durchdringendes und dynamisch alldurchwaltendes Feld“75. Die geeignete, physikalisch und metaphysisch gleichermaßen begründete, Theorie wäre hierfür die Raumtheorie von More, Raphson, Newton und Clarke gewesen,76 wenn sie nicht sowohl physikalisch wie metaphysisch überholt ————— 72 73 74 75 76

G. Picht, Die Zeit und die Modalitäten, 74 Pannenberg, Geist als Feld, 259; ders., ST 2, 111. ST 2, 122f. Geist als Feld, 257. Vgl. oben I.8.3–6.

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wäre. Mit anderen Worten: Pannenbergs Feldtheorie stellt den Versuch dar, ein sowohl metaphysisch als auch physikalisch begründetes Modell für das dynamische Geistwirken zu geben. Der Feldbegriff kann diese Begründungslast aber nicht tragen. Ein physikalisches Feld kann nicht realistisch als das Instrument, sondern nur metaphorisch als die Art und Weise begriffen werden, wie Gott in der Welt wirksam gegenwärtig ist. Dafür ist das physikalische Feld gewiss illustrativ, der atmosphärische und systemtheoretische Feldbegriff jedoch weit ertragreicher. Zurecht hat Pannenberg jedoch darauf insistiert, dass erstens Gottes Wirken in der Welt nur über vermittelnde, naturphilosophisch reflektierte Kategorien realistisch auf die wirkliche Welt bezogen werden kann, und dass zweitens die Dimension des Raumes um die Dimension der Zeit erweitert werden muss, um über die räumliche Gegenwart und Wirksamkeit Gottes auch den dynamisch-geschichtlichen und eschatologischen Aspekt zur Geltung zu bringen. Um als theologisch zureichendes Modell für das Wirken Gottes im Raum dienen zu können, ist es daher erforderlich, das oben entwickelte Konzept der praesentia operosa über den theologischen Aspekt der räumlichen Präsenz, der mit den atmosphärischen und systemtheoretischen Feldkonzepten befriedigend ausgedrückt werden kann, um den naturphilosophischen Aspekt sowie um die Wirksamkeit in und kraft der Zeit zu ergänzen. Eine umfassende Diskussion der Problematik, wie das Wirken Gottes mit dem naturgesetzlichen Eigenwirken vermittelt werden kann, kann hier nicht erfolgen. Naturphilosophisch wären das Verhältnis von Kausalität und Finalität, von Determination und Kontingenz, von Erhaltung und Kreativität u.v.m. zu diskutieren. Theologisch wäre das Verhältnis von Handeln und Wirken Gottes, von Universalität und Partikularität, von Allein- und Zusammenwirken zu behandeln, kurz eine naturphilosophisch und theologisch gleichermaßen begründete Neufassung der Lehre vom concursus divinus vorzulegen.77 Wir beschränken uns auf die Skizze eines theologischen Weltbegriffs78 und konzentrieren uns auf die für die Dimensionen von Raum und Zeit zentralen Punkte des offenen Weltbegriffs, des Verhältnisses von Naturgesetz, Kausalität und Kontingenz sowie der Struktur der Zeit. ————— 77 Hierzu vgl. u.a. B. Weissmahr, Gottes Wirken in der Welt; Peacocke, Gottes Wirken in der Welt; Bernhardt, Was heißt „Handeln Gottes“? 271–434; zur Diskussion um die „divine action“ bes. die Art. in der ersten Anm. dieses Kap. 78 Ausführlicher vgl. Beuttler, Gottesgewissheit in der relativen Welt, 335–386; ders., Die „offenen Dimensionen“ des raumzeitlichen Weltgeschehens. Skizze eines theologisch und naturphilosophisch verantworteten Weltbegriffs; ders., Die Welt ist noch nicht fertig. Die Zeit, die Naturgesetze und das Wirken Gottes; ders., Gottes Wirken in der Zeit – Über die Vereinbarkeit von Naturgesetzlichkeit und freiem Wirken Gottes. Eine Gottesbildklärung angesichts des naturwissenschaftlichen Weltverständnisses.

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Dass wir hierfür u.a. auf die naturphilosophisch höchst präzisen und fundierten Überlegungen Pannenbergs zurückgreifen können, soll ausdrücklich erwähnt werden.79

4.5 Offener Weltbegriff und Kontingenz der Naturordnung 1. Offener Weltbegriff: Eine notwendige, wenn auch noch nicht hinreichende Bedingung dafür, das Wirken Gottes in der physischen, raumzeitlichen Welt denken zu können, ist ein sog. offener Weltbegriff.80 Der nomologische Weltzusammenhang bildet keinen in sich geschlossenen, einlinigdeterministischen Kausalzusammenhang, wie der Laplacesche Mechanismus meinte, der offene Weltbegriff darf aber auch nicht der empirisch vielfach bestätigten energetisch-materiellen sowie raumzeitlichen Geschlossenheit der Welt widersprechen, wie es die Erhaltungssätze der Physik widerspiegeln. Die Erhaltungssätze der empirischen Welt müssen auch als Erhaltungstätigkeit Gottes interpretiert werden können. Das Wirken Gottes ist zwar immer neu, agiert aber nicht gegen die geschaffene Welt. Das Welthandeln Gottes knüpft an das Bestehende an und bleibt im Rahmen der regulären Naturordnung. Das erhaltende und erneuernde Wirken Gottes bedeutet auch die Erhaltung und Erneuerung der Naturordnung. Die „Naturgesetze“ schließen das Wirken Gottes dann nicht aus, wenn die Natur keinen deterministisch-geschlossenen, alleinzigen Kausalzusammenhang darstellt. Dann ist die Offenheit der Welt für „Kontingenz“ und „Neues“ auch im naturwissenschaftlichen Weltbegriff gewahrt, welche theologisch als Offenheit für die weltimmanent unvorhersehbaren Möglichkeiten Gottes gedeutet werden kann. Die Bedingung dafür ist ein auch empirisch tragfähiger, offener, nicht-deterministischer Weltbegriff, wofür die Naturwissenschaften des 20. Jahrhunderts selbst ihren Beitrag geleistet haben. Doch sind der mikrophysikalisch statistische Kausalitätsbegriff der Quantentheorie, der Erwartungswahrscheinlichkeiten, aber keine Notwendigkeiten für zukünftige Ereignisse formuliert, und der offene Systembegriff der Synergetik, der die Selbstorganisation von „neuen“ Ordnungsstrukturen zulässt, nur notwendige, aber nicht hinreichende Basis für einen theologischen Weltbegriff. ————— 79 Vgl. bes. W. Pannenberg, Kontingenz und Naturgesetz; ders., ST 2, 79–92; 111–124; ders., Das Wirken Gottes und die Dynamik des Naturgeschehens; ders., Die Kontingenz der geschöpflichen Wirklichkeit. 80 Die folgenden Abschnitte wurden zu weiten Teilen entnommen aus Beuttler, Die „offenen Dimensionen“ des raumzeitlichen Weltgeschehens.

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Die sog. Nichtgleichgewichtsthermodynamik der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat einen neuen, offenen Systembegriff entwickelt und zeigen können, dass sich in offenen Systemen fernab des thermodynamischen Gleichgewichts durch den beständigen Zustrom von Energie die zuvor statistisch ungeordneten mikroskopischen Systemvariablen gleichtaktig zusammenordnen zu einer makroskopischen Ordnungsstruktur.81 Im Unterschied zu den geschlossenen Systemen der Gleichgewichtsthermodynamik, die bei Energieerhaltung ins Gleichgewicht der größten Entropie, d.h. in den statistisch wahrscheinlichsten Gleichverteilungszustand übergehen, gilt in den offenen Systemen weder der erste (Energiesatz) noch der zweite Hauptsatz (Entropiesatz). Während in den abgeschlossenen Systemen die Zeit nur als Parameter auftritt und die Entwicklung determiniert, also im Prinzip zeitumkehrinvariant, verläuft, sind die offenen Systeme mit einer echten Zeitrichtung versehen und durch Offenheit des Prozesses hinsichtlich der Zukunft charakterisiert. Die irreversible Zeit tritt als wirkende Größe auf,82 so dass den offenen Systemen „der Zug von Offenheit als Offenheit gegenüber künftigem Geschehen zukommt“83. Den selbstorganisierenden, offenen Systemen eignet 1. zeitliche Irreversibilität, 2. die Fähigkeit zum Aufbau von Komplexität aufgrund der systemimmanenten Potentialitäten und 3. Offenheit und Nichtdeterminiertheit hinsichtlich der Zukunft.84 Allerdings kann, wie schon gegen Moltmanns theologische Rezeption eingewandt, der Begriff des offenen Systems naturwissenschaftlich nicht konsistent auf das Universum als Ganzes angewandt werden, da er äußere Umgebung und Energiezufuhr benötigt. Als theologischer Weltbegriff ist daher der physikalische Begriff des offenen Systems nicht hinreichend. Denn die offenen Möglichkeiten Gottes gehören nicht zum Bestand, auch nicht zum möglichen energetisch-materiellen Bestand der Welt, sondern kommen aus dem „Nichts“ bzw. der offenen Zukunft. Damit die naturwissenschaftliche Welt auch im theologischen Sinn als „offenes System“, d.h. als die creatio continua ex nihilo denkmöglich machendes System, gedacht werden kann, muss sie im Ganzen und in ihren Teilen von sich aus offene Stellen oder besser offene Dimensionen enthalten, welche dann theologisch als die Einfallsstellen des Neuen in die bestehende Welt interpretiert werden können. Dass diese offene Stellen in der Welt, nicht nur an ihrem „äußeren“ Rand, schon aus natürlich-alltäglicher Welterfahrung, aber auch aus naturphilosophisch reflektierter und auf naturwissenschaftliche Theorie und Empirie bezogener Welterfahrung zutage treten, versteht sich angesichts der auf vollständige und lückenlose Erklärung des Naturgeschehens zielenden Naturwissenschaften nicht von selbst. Und noch weniger wird Gott dadurch zum Lückenfüller des Naturgeschehens oder zum Lückenbüßer der

————— 81 Bekannte Beispiele sind der LASER, die Konvektionsmuster, die in erhitzten Flüssigkeiten entstehen, sowie die Supraleitung und der Magnetismus, vgl. H. Haken, Erfolgsgeheimnisse der Natur. Synergetik: Die Lehre vom Zusammenwirken, 39–42; 61–72. 82 Vgl. I. Prigogines Formulierung der Zeit als Operator, d.h. als wirkende Größe, statt als Parameter (Vom Sein zum Werden. Zeit und Komplexität in den Naturwissenschaften, 240–244). 83 H. Wehrt, Über Irreversibilität, Naturprozesse und Zeitstruktur, 141. 84 Ebd., 135–144.

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Naturerklärung.85 Die offenen Dimensionen des Weltgeschehens sind keine Lücke, sondern echte Offenheit für neue, kontingente Ereignisse. Dass die phänomenale Welt von sich aus offene Dimensionen zeigt, soll im Folgenden am Problem des Verhältnisses von Naturgesetzlichkeit und Kontingenz sowie der Struktur der Zeit aufgezeigt werden. In einem zweiten Schritt kann dann jeweils Gottes Wirken in ein Verhältnis zu den offenen Weltdimensionen gesetzt werden.

2. Kausalität und Kontingenz: Zunächst ist zu klären, inwiefern der offene Weltbegriff auch wissenschaftstheoretisch angesichts neuerer Überlegungen zur Naturgesetzlichkeit vertreten werden kann und wie naturgesetzliche Kausalität, Kontingenz und Wirken Gottes zusammengedacht werden können. Die Dialektik des geschlossenen und des offenen Weltaspektes zeigt sich in Bezug auf die Naturgesetzlichkeit daran, dass einerseits alle Gegenstände und Ereignisse im geschlossenen Kausalzusammenhang stehen, insofern jedes Weltereignis mit einem zurückliegenden Ereignis kausal verknüpft werden kann, aber andererseits jedes Ereignis in der unmittelbaren Erfahrung als unvermittelt neu, d.h. als akausal gesetzt erlebt wird. Alles hat einerseits ein Warum und ist andererseits ohne Warum.86 Die unmittelbare existentielle Erfahrung erlebt alles Wirkliche als im Augenblick gesetzt, erst das objektivierende Erkennen löst den unendlichen Regress der kausalen Frage aus.87 Diese Doppelgesichtigkeit der alltäglichen Naturerfahrung zeigt sich in Bezug auf den naturwissenschaftlichen Begriff des Naturgesetzes in der Dialektik von Gesetz und Randbedingungen beziehungsweise von „Kontingenz und Naturgesetz“88. Jedes bekannte und mathematisch formulierte ————— 85 Die Gefahr, den schon von Bonhoeffer, v. Weizsäcker u.a. abgelehnten „Lückenbüßergott“ wieder einzuführen, besteht in J. Polkinghornes Ansatz, „mittels einer ontologisch interpretierten Chaostheorie menschliches und göttliches Handeln zu verstehen“, da er für beides die „kausale Fuge in den Wolken der Unvorhersagbarkeit physikalischer Prozesse“ in Anschlag bringt (Theologie und Naturwissenschaften, 122f). Auch die „mentale Verursachung“, die man durchaus als Analogie für das Handeln Gottes heranziehen kann (so etwa H.-D. Mutschler, Physik und Religion, 251–254), kann man nicht in kausalen Lücken, etwa den Unbestimmtheiten der Quanten- oder Chaosprozesse, verorten, hierzu vgl. U. Beuttler, Leib und Seele, Gehirn und Geist – Geschichte und Systematik möglicher Verhältnisbestimmungen. 86 Vgl. Angelus Silesius’ schönen Sinnspruch: „Die Ros’ ist ohn warumb/sie bluehet weil sie bluehet/Sie achtt nicht jhrer selbst/fragt nicht ob man sie sihet“ (Cherubinischer Wandersmann, Buch I, Nr. 289, 69). 87 Phänomenologisch ist beim Wahrnehmungsvorgang das unvermittelt-widerfahrende, leiblichatmosphärische Erleben, das „Spüren von Anwesenheit“, bei dem Wahrnehmung und Wahrgenommenes noch völlig ineinander liegen, primär vor der sekundären Dingwahrnehmung, bei der das Ding festgestellt, objektiviert und im Raum lokalisiert wird, vgl. Böhme, Aisthetik, 45.172, s.o. II.3.2. 88 Vgl. Pannenberg, Kontingenz und Naturgesetz, der entsprechend dem biblischen Verständnis von Naturordnung Naturgesetzlichkeit aus der Kontingenz des Naturgeschehens und nicht im Widerspruch dazu begreiflich macht.

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Naturgesetz enthält aufgrund der mathematischen Form der Differentialgleichung offene Konstanten und Randbedingungen, die durch dieses Naturgesetz nicht festgelegt sind, sondern höchstens durch übergeordnete Gesetze, die wiederum offene Randbedingungen enthalten usf. Sofern der Naturzusammenhang aus einer Vielzahl von unabhängigen Kausalfäden besteht, die nicht restlos in einen einzigen Kausalzusammenhang überführt werden können – obwohl auch dieser noch die erste Anfangsbedingung offen ließe –, bleiben die konkreten Ereignisse frei. Dass in Bezug auf ein Gesetz gerade diese und nicht jene der möglichen Randbedingungen realisiert wird, unterliegt nicht dem Gesetz, sondern bleibt frei wählbar. Im deduktiv-nomologischen Erklärungsschema von Hempel-Oppenheim89 kommt der Gesetzesaussage der modallogische Status des Möglichen, den kontingenten Anfangsbedinungen aber der Status des Wirklichen zu. Das Wirkliche ist in Bezug auf das korrelierte Gesetz akausal, d.h. unerklärbar und unvorhersehbar. Die Freiheit des Wirklichen hat keine Ursache, aber einen Grund: das „primäre Werden“90, das noch diesseits der gegenständlichen, im kausalen Gesetzeszusammenhang gefügten Welt steht. Unsere Behauptung, dass die Gesetze den kontingenten Ereignissen untergeordnet sind und nicht umgekehrt, die Zeitstruktur unterbreche auch den Gesetzescharakter der Naturgesetze, bedarf einer wissenschaftstheoretischen Begründung. Inwiefern kann eingesehen werden, dass Naturgesetze nicht den Status der Notwendigkeit innehaben, sondern einen Zusammenhang von Kontingenzen beschreiben und damit selbst kontingent sind? Bereits die Humesche und Kantsche Analyse der Naturgesetze hat gezeigt, dass Naturgesetze Konstruktionen der objektivierenden und verallgemeinernden Naturbeobachtung sind.91 Quantitative empirische Naturgesetze beruhen auf qualitativen Naturerfahrungen und sind zu Gesetzen hypostasierte Regelhaftigkeiten der praktischen Lebenserfahrung. Kein Naturgesetz ist universell verifizierbar. Insbesondere das Induktionsgesetz, dass sich alle Naturgesetze induktiv auf Erfahrung gründen lassen müssen, ist „ein Spezialfall seiner selbst. Unser einziger Wegweiser im Reich der Erfahrung, lässt es doch selbst sich nicht auf Erfahrung gründen.“92 Naturgesetze können weder deduktiv noch empirisch-induktiv verifiziert werden kann,93 sondern ————— 89 Vgl. C.G. Hempel, Philosophie der Naturwissenschaften, 72ff. 90 K. Heim, Glaube und Denken, 1. Aufl., 152. 91 „Die Ordnung und Regelmäßigkeit also an den Erscheinungen, die wir Natur nennen, bringen wir selbst hinein, und würden sie auch nicht darin finden können, hätten wir sie nicht, oder die Natur unseres Gemüts ursprünglich hineingelegt“ (Kant, KrV, A 125, 179). 92 E. Schrödinger, Was ist ein Naturgesetz? Beiträge zum naturwissenschaftlichen Weltbild, 56. 93 Der kritische Rationalismus ersetzt daher das empiristische Verifikationskriterium durch das Falsifikationskriterium: „Ein empirisch-wissenschaftliches System muss an der Erfahrung scheitern können“ (K. Popper, Logik der Forschung, 15).

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müssen aus näherungsweisen, vereinzelten Hinweisen behauptet werden. Naturgesetze können nur „geglaubt“ werden: Aus ähnlichen Erfahrungen und Gewohnheiten resultiert die Wahrscheinlichkeit und praktische Überzeugung („belief“), im ähnlichen Fall wieder Ähnliches zu erwarten.94 Naturgesetze setzen ihre qualitativ-prinzipielle Geltung zu ihrer quantitativen Bestätigung schon voraus. Dies gilt im Besonderen für das Kausalgesetz. Das Kausalgesetz im Humeschen Sinn behauptet, dass in ähnlichen Fällen von Ursachen ähnliche Wirkungen zu erwarten sind: Falls der Zusammenhang „Wenn A (Ursache), dann B (Wirkung)“ gilt, dann gilt auch „Wenn A’, dann B’“. Die Analyse von Günther Posch95 zeigt, dass dies Kausalgesetz, um verifiziert werden zu können, schon vorausgesetzt werden muss. Denn sowohl die scharfe Trennung von Ursache und Wirkung sowie der ursächliche Zusammenhang von A und B ist nicht empirischrezeptiv, sondern nur konstruktiv und idealiter präparativ möglich. In der Natur ‚gibt es‘ weder Ursachen noch Wirkungen noch isolierte ‚Dinge‘ oder Sachverhalte. Daher verzichtet die moderne Wissenschaftstheorie auf die „animistischen“96 Begriffe „Ursache“ und „Wirkung“ und ersetzt sie durch logische Ausdrücke. Die kausale Notwendigkeit „A verursacht B“ wird ersetzt durch die logische Folge „wenn A, folgt unter Voraussetzung von Gesetz G Ereignis B“. Kausalität ist damit ein semantisches Konzept zur Beschreibung von bedingenden Folgezusammenhängen zwischen Weltereignissen unter der hypothetisch vorausgesetzten Geltung von Naturgesetzen. Die Rettung des Kausalgesetzes hat den Preis des Verzichtes auf den Gesetzesrealismus. Die Kausalrelation kann nicht als Beziehung zwischen Dingen, Eigenschaften oder Zuständen, sondern nur zwischen Ereignissen formuliert werden,97 wobei die dinglich-atomare Basis und die mikrokausalen Verursachungsrelationen außer Betracht bleiben müssen. Die Möglichkeit der vollständigen experimentellen Präparation eines Anfangszustandes A, dessen kausal-determinierte Weiterentwicklung zum Zustand B durch das mathematische Naturgesetz exakt beschrieben würde, ist nicht erst in der Quantenmechanik unmöglich, weil die Unschärferelation die gleichzeitige, exakte Messung von Impuls und Ort verbietet. Schon in der klassischen Physik basieren das Kausalgesetz und die mechanischen Grundgleichungen auf der Annahme des mechanistischen Atomismus, also der Möglichkeit der Separation von substantiell fundamentalen und isolierten Entitäten, von „Massepunkten“. Naturgesetze haben Gesetzescharakter unter der Voraussetzung, dass die idealisierte Präparierung der Natur so möglich ist, dass das Kausalgesetz Gültigkeit hat.

3. Naturgesetz und Naturerfahrung: Dennoch ist die Annahme von Naturnotwendigkeit oder wenigstens von Regelhaftigkeit notwendig für Naturerfahrung. „Naturgesetze“ sind also Bedingungen für die Möglichkeit von regelhafter Naturerfahrung. In der Natur gibt es keine Notwendigkeit, aber ————— 94 95 96 97

D. Hume, Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand, V/1, 62–67 u.ö. G. Posch, Zur Problemlage beim Kausalitätsproblem, 9–29. R. Carnap, Einführung in die Philosophie der Naturwissenschaft, 189. Vgl. M. Bunge, Die Wiederkehr der Kausalität, 144.

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die Naturgesetzlichkeit ist notwendig für unsere Naturerfahrung in Alltag und Wissenschaft. Daraus folgt: Naturgesetze sind nicht naturnotwendig, sondern sind die notwendigen „Bedingungen der Möglichkeit der Objektivierbarkeit“98 des Naturgeschehens. Naturgesetze legen das Naturgeschehen und die Naturerfahrungen nicht fest, sondern ermöglichen letztere. Notwendig und hinreichend sind die Naturgesetze nur für die rückblickende Kausalerklärung des vergangenen Naturgeschehens; für die zukünftigen Erfahrungen sind Naturgesetze relativ notwendig – weil nur an vergangenes anknüpfendes und mit ihm vergleichbares, d.h. regelhaftes Naturgeschehen identifizierbar und verstehbar ist –, aber nicht hinreichend. Für die zukünftige Wirklichkeit sind sie nicht einmal notwendig. Die Naturgesetze könnten, damit die Erfahrung des Wirklichen und die Wirklichkeit so zustande kommt, wie sie zustande kommt, auch anders sein.99 Kausalität und Naturgesetzlichkeit sind Reflexions-, aber keine Seinskategorien.100 Sie sind notwendig zur Beobachtung und Erklärung der Welt. Primäre Wirklichkeit sind die unerklärlichen und freien Ereignisse, nicht aber die naturgesetzlichen Bedingungen, aus denen sie sekundär erklärt werden können. Naturgesetze können sich ändern.101 Sie sind Strukturen in der Zeit. Erkennbar ist von ihnen das, „was als Struktur in der Zeit erscheint“102. Auch die Objektivierung der Erfahrungen in der Zeit kann nur Beschreibung dessen sein, was strukturhaft in der Zeit erscheint. Objektivierende Erklärung des Naturgeschehens aus Naturgesetzen widerspricht nicht der Kontingenz der Ereignisse und Naturgesetze, sondern setzt beide, also die wirklichen, unverfügbaren Ereignisse der Welt und ihren Zusammenhang, der aber erst durch die wirklichen Ereignisse konstituiert wird, voraus. Absolute Notwendigkeit kommt nur der eigentlichen, primären Wirklichkeit, also dem Geschehen der Gegenwart zu. Dieses aber ist zugleich absolut kontingent von der Zukunft her und relativ kontingent von der bisher erfahrenen nomologischen Struktur der Vergangenheit her. Das zukünftige ————— 98 Weizsäcker, Die Einheit der Natur, 288. 99 Pannenberg, ST 2, 85.88f, unterscheidet hilfreich zwischen der nomologischen Kontingenz der Ereignisse relativ zu den Naturgesetzen als deren freie Randbedingungen, zwischen der Geschehens- oder Ereigniskontingenz des einzelnen Ereignisses relativ zur Zeit, das wegen der Irreversibilität der Zeit einmalig und insofern kontingent ist, unbeschadet seines gesetzmäßigen Zusammenhanges zu anderen Ereignissen, und zwischen der Kontingenz des Naturgeschehens und der Naturordnung selbst, deren Regelmäßigkeit den Charakter der „offenen Prozesshaftigkeit“ (89) hat. 100 Mit Kant, KrV, A 80.91, 118.130, gegen Nicolai Hartmann, Neue Wege der Ontologie, 52. 101 Es gibt „kein einziges Naturgesetz, und wäre es auch durch eine noch so lange Vergangenheit bestätigt, das nicht durch die Zukunft in Frage gesellt werden könnte“ (K. Heim, Das Weltbild der Zukunft. Eine Auseinandersetzung zwischen Philosophie, Naturwissenschaft und Theologie, 137). 102 A.M.K. Müller, Naturgesetz, Wirklichkeit, Zeitlichkeit, 323; kursiv U.B.

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Geschehen ist akausal und nichtdeterministisch, aber nicht notwendig indeterminiert-regellos. Die geregelte Gleichförmigkeit und die Nichtdeterminiertheit des Naturgeschehens sowie das freie „Handeln Gottes im Naturgeschehen“ und seine Anknüpfung am Naturgeschehen werden zusammen denkbar, weil gezeigt wurde, dass erstens die „Kontingenz des Naturgeschehens […] für den Begriff des Naturgesetzes selbst konstitutiv ist, und zweitens Ereigniskontingenz nicht nur für das durch Gesetzesformeln nicht geregelte Einzelgeschehen, sondern generell für alles natürliche Geschehen behauptet werden kann.“103

4.6 Zeitstruktur und Gottes Wirken in der Zeit 1. Die Struktur der Zeit kann als Modalzeit begriffen werden, indem mit G. Picht und C.F. von Weizsäcker den drei Modi der Erfahrungszeit (Vergangenheit – Gegenwart – Zukunft) die drei Modi der modalen Logik zugeordnet werden:104 Das Vergangene ist der Raum des Faktischen,105 das Gegenwärtige das Wirkliche und das Zukünftige der Raum des Möglichen. Weil diese Zuordnung eindeutig ist, verbinden sich von der logischen Struktur her die drei Modi der Zeit zu einer Gesamtstruktur, so dass die gegliederte Modalzeit „nicht nur eine Struktur hat, sondern selbst eine Struktur ist“106. Die Weizsäckersche Modalstruktur (faktische Vergangenheit, wirkliche Gegenwart, mögliche Zukunft) überwindet die zeitlose, künstlich beschnittene, „präparierte Zeit“107 der klassischen Physik hin zur irreversiblen, erfahrenen Zeit. Diese präparierte reversible, aber in Wahrheit zeitlose Zeit, ist schon physikalisch zu stark beschnitten, weil sie fundamentalen Naturgesetzen nicht gerecht wird.

————— 103 Pannenberg, ST 2, 90. 104 G. Picht, Die Zeit und die Modalitäten; C.F.v. Weizsäcker, Zeit und Wissen; vgl. A.M.K. Müller, Die präparierte Zeit. Der Mensch in der Krise seiner eigenen Zielsetzungen, 287–291. 105 Picht hat der Vergangenheit den Modus „Notwendigkeit“ zugeordnet, was aber das Problem hat, dass die historische Kontingenz des Vergangenen nicht genügend zum Ausdruck kommt. Notwendig ist ein einzelnes vergangenes Ereignis nur in Bezug auf sich selbst, sowie im Sinne einer kontingenten Randbedingung in Bezug auf die folgenden Ereignisse, aber nicht in Bezug auf seine eigene Vergangenheit. Man müsste, um die Kontingenz aller zeitlichen Ereignisse zu erhalten, innerhalb der Vergangenheit noch einmal modale Differenzierungen einbauen, denn „es gibt stets eine Reflexionsstufe, von der aus Notwendiges als kontingent erscheint“ (Müller, Naturgesetz, Wirklichkeit, Zeitlichkeit, 340). Um keine mehrfach iterierten Modaloperatoren einzuführen, soll die Modalität „Faktisches“ das „mögliche Notwendige“ im Unterschied zum „notwendigen Notwendigen“ zum Ausdruck bringen. 106 Link, Schöpfung, Bd. 2, 448. 107 Müller, Die präparierte Zeit, 288 u.ö.

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Carl Friedrich von Weizsäcker hat bereits 1939 zeigen können, dass die Ableitung des zweiten Hauptsatzes der Thermodynamik gegen Gibbs und Boltzmann nicht wahrscheinlichkeitstheoretisch aus einem reversiblen Zeitbegriff oder einer reversiblen statistischen Theorie möglich ist, sondern den Unterschied von Vergangenheit und Zukunft voraussetzt. Dieser Unterschied gehört „zu den unzweifelhaften Bewusstseinstatsachen, welche Vorbedingungen jeder möglichen Erkenntnis und daher, methodisch gesehen, das einzig sichere Fundament der Wissenschaft sind“108. Der zweite Hauptsatz kann nur dann wahrscheinlichkeitstheoretisch abgeleitet werden, wenn man die Wahrscheinlichkeiten nur auf die Zukunft, aber nicht auf die Vergangenheit anwendet, also die Modalstruktur der Zeit berücksichtigt.109 Ganz allgemein gilt, dass die Wahrscheinlichkeiten der statistischen Mechanik wie der Quantenmechanik nicht bloß unsere subjektive Unkenntnis bezüglich der Zukunft spiegeln, sondern die objektiv inhomogene Struktur der Zeit. Wenn die Zeit objektiv eine Richtung hat, dann sind auch die Wahrscheinlichkeiten hinsichtlich zukünftiger Ereignisse objektiv, d.h. prinzipiell nicht in Faktizitäten oder Notwendigkeiten überführbar.110 Der Zukunft kommt real und irreduzibel der Modus des Möglichen zu.

2. Gott und die Zeit: Wie kann nun die gegliederte Modalstruktur der Zeit und insbesondere die offene Zeit-Dimension der werdenden Gegenwart und der unbestimmten Zukunft theologisch interpretiert werden? Die modal gegliederte Zeit kann um religiöse Zeitdimensionen erweitert werden und mit der Präsenz Gottes in Raum und Zeit verschränkt werden. Hierzu können wir uns auf die Zeitmatrix von A.M.K. Müller beziehen, der die Weizsäckersche Modalzeit durch Verschränkung der Zeitmodi zu einer 3x3Matrix erweitert hat.111 Zeitgefüge (lässt Transzendenzerfahrung zu) VV VG VZ GV GG GZ ZV ZG ZZ

Æ Abblendung der Zeitwirkung

Weizsäckersche Zeit (lässt objektivierte Erfahrung zu) GV

GG

GZ

Newtonsche Zeit Æ (beseitigt irreversible Beseitigung Zeiterfahrung) der Zeitwirkung V = G = Z

Die mittlere Zeile, die Weizsäckersche Zeit, ist die Zeitstruktur des objektivierbaren Wissens. Sie repräsentiert die Zeit der bewussten Erfahrung und der objektivierenden Erfahrungswissenschaften, stellvertretend der Physik. Sie benennt das aus verschiedenen Zeitmodi jeweils in der Gegenwart erscheinende. Das ist einerseits die Augustinische Kopräsenz der Zeitmodi in Gestalt der memoria (Erinnerung als Gegenwart der Vergangenheit = GV), des contuitus (Anschauung als Gegenwart der Ge-

————— 108 C.F.v. Weizsäcker, Der zweite Hauptsatz und der Unterschied von Vergangenheit und Zukunft, in: Die Einheit der Natur, 182. 109 Vgl. C.F.v. Weizsäcker, Die Geschichte der Natur, 41f.64. 110 Vgl. Müller, Die präparierte Zeit, 287. 111 A.M.K. Müller, Zeit und Evolution; ders., Naturgesetz, Wirklichkeit, Zeitlichkeit, 356.

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genwart = GG) und der expectatio (Erwartung als Gegenwart der Zukunft = GZ).112 Das ist andererseits die Welt der objektivierbaren Phänomene: die vermessenen Fakten (GV), das in der Messung sich Zeigende (GG) und die prognostizierbaren Phänomene (GZ). In den Zeilen bleibt jeweils der Modus des Erscheinens bei variablem Zeitmodus konstant (in der mittlern Zeile der Erscheinungsmodus der Gegenwärtigkeit), während in den Spalten der Zeitmodus fix bleibt und die Modi des Erscheinens wechseln. Jede Zeile repräsentiert die Einheit des Erscheinens, jede Spalte die zeitliche Einheit dessen, was erscheint. Die mittlere Spalte repräsentiert die Phänomene von Kunst, Mythos und Religion. In diesen Phänomenen zeigt sich Gegenwart nicht „nackt“, sondern umspielt von wechselnden Erscheinungsformen in der Spannung des nicht mehr, jetzt schon und noch nicht. Diese Phänomene sind keine nackten Fakten, sondern haben eine „Aura“ um sich, in der ihre Vergangenheit und ihre Zukunft mit erscheint. GG ist im Horizont von Kunst und Religion das ästhetische und religiöse Gegenwartserleben, in dem das kulturelle Gedächtnis (VG) und seine künftige Präsenz (ZG) mit anwesend sind. Die Kopräsenz der Zeithorizonte macht es unmöglich, ästhetische und religiöse Phänomene auf bloße Fakten und ihre Erfahrung auf bloßes, objektives Wissen zu reduzieren. Phänomene der Wissenschaft und der Kunst bzw. der Religion stehen nach dieser Zeitmatrix „quer“ zueinander.

Die etwas schematisch erscheinende Zeitmatrix Müllers bedürfte genauerer Diskussion.113 Sie macht aber die Irreduzibilität und gleichzeitige Bezogenheit der religiösen und der wissenschaftlichen Zeithorizonte besonders deutlich. Die mittlere Spalte stellt die atmosphärische Präsenz von Erscheinendem in einen Zeithorizont und verbindet diesen mit der dazu „quer“ stehenden, wissenschaftlichen Zeit: beide „treffen“ sich im Zeitmodus „Gegenwärtigkeit der Gegenwart“. Das Modell der atmosphärischen Präsenz Gottes kann auf die physikalisch erfassbare Welt bezogen werden, wenn das Zeitwirken Gottes über den Zeitmodus Gegenwart auf die physische Welt bezogen werden kann. In der Tat ist es möglich, über ein strukturiertes Verständnis von Gegenwart die Zeit Gottes auf die Zeit der Welt zu beziehen und in der Zeit der Welt die Zeit Gottes präsent zu denken. Die gegliederte Modalstruktur der Zeitmatrix erlaubt es, das Wirken Gottes in der Welt als zeitliche Raumpräsenz, als temporale praesentia operosa zu denken. Dazu ist es nötig, die Zeit Gottes, die Ewigkeit, in bestimmten Zeitmodi der erfahrenen Zeit als immanent anwesend zu verstehen. Tatsächlich ist es möglich, der Zeit eine Art ungegenständliche Innenstruktur zuzuschreiben, und zwar vom Zeitmodus der „gegenwärtigen Gegenwart“ her. ————— 112 Augustinus, Confessiones, XI, 20,26, 640/642: „tempora ‚sunt‘ tria, […] praesens de praeteritis memoria, praesens de praesentibus contuitus, praesens de futuris expectation.“ 113 Hierzu G. Liedke, Zeit, Wirklichkeit und Gott, 1974; W. Achtner/S. Kunz/T. Walter, Dimensionen der Zeit. Die Zeitstrukturen Gottes, der Welt und des Menschen, 1988, 170–174; Link, Schöpfung, 452f; kritisch Pannenberg, ST 2, 113f.

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Als Dimension des Werdens ist die Gegenwart ein echter Zeitmodus und ihr kommt eine gewisse Ausdehnung zu, die Augustin, Bergson und Husserl als Ausdehnung des erlebenden Zeitbewusstseins beschrieben haben.114 Im intentionalen Zeitbewusstsein sind nach Augustin alle drei Zeitmodi kopräsent aufgrund der Anspannung (attentio) und inneren Ausdehnung der Seele (distentio animi), nach Husserl, weil sich das Zeitbewusstsein retentional auf Vergangenes und protentional auf Zukünftiges bezieht.115 Diese Ausdehnung der Gegenwart kann nun nicht nur empirisch als die äußere Zeitspanne von ca. 1–3 Sekunden gedeutet werden, die das retentionale Zeitbewusstsein maximal zusammenzuhalten vermag,116 sondern auch als ungegenständliche Ausdehnung sozusagen nach innen hin, welche Gegenwart als Qualitätszeit (kairos), als „Augenblick“ oder „Atom der Ewigkeit“ (Kierkegaard)117, begreift. Ewigkeit ist so gesehen eine Dimension der Zeit und Gegenwart die zeitliche Dimension der Ewigkeit.118 Ewigkeit ist die Ganzheitsdimension der Zeit, die im Zeitmodus der Gegenwart erscheint: „Ewigkeit ist ungeteilte Gegenwart des Lebens in seiner Ganzheit“119. Ewigkeit ist mit dem Modus Gegenwart verknüpft, aber nicht mit ihm identisch, sondern die nichtgegenständliche Innenseite der Gegenwart: das primäre Werden, das qualifiziertes Erleben und Fluss der Zeit ermöglicht. Das nichtgegenständliche Zeitmoment – die Ewigkeits- und Einheitsdimension der Zeit – ist die nichtobjektivierbare, transzendentale Voraussetzung der erlebten und der objektiven, sich abrollenden, Zeit. Insofern kann mit C. Link „Gott als Quellort der sich entrollenden Zeit“120 verstanden werden, ohne dass er mit einem Zeitmodus identisch und selbst zeitlich würde. Gott bleibt Schöpfer, Quelle und letzter Sinn der Zeit. Die offenen Möglichkeiten der Zukunft kommen nicht aus der Zeit. Wir müssen, wie J. Moltmann zurecht betont, „unterscheiden zwischen der Zukunft als Zeitmodus und der Zukunft als Quelle der Zeiten“121, aber ————— 114 Augustinus, Confessiones, XI, 28f, 662–667; H. Bergson, Zeit und Freiheit, 90; E. Husserl, Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins, 23 u.ö. 115 Genauer vgl. Beuttler, Gottesgewissheit in der relativen Welt, 198–202. 116 Vgl. E. Pöppel, Erlebte Zeit und Zeit überhaupt, 372; B. Suchan, Die Zeit – eine Illusion? 21f. 117 S. Kierkegaard, Der Begriff Angst, 82; der Augenblick sei das unörtliche, „wunderliche Wesen […], das zwischen Ruhe und Bewegung liegt, ohne doch zu irgendeiner Zeit zu sein“ (77). Der Augenblick sei die Kategorie des Übergangs und zugleich die wahre Gegenwart, die erfüllte Zeit. Daher ist „der Augenblick nicht eigentlich das Atom der Zeit, sondern das Atom der Ewigkeit“ (82). 118 Vgl. der Hinweis auf die Differenz zwischen leerem Chronos und erfüllter Zeit, welche „die Wahrnehmung des Lebens der Ewigkeit im vergänglichen Augenblick“ eröffnet bei W. Schoberth, Leere Zeit – Erfüllte Zeit. Zum Zeitbezug im Reden von Gott, 141. 119 Pannenberg, ST 2, 113. 120 Link, Schöpfung, Bd. 2, 451. 121 J. Moltmann, Was ist die Zeit und wie erfahren wir sie?, 109; wenn Moltmann sagt: „Die Erfahrung der Ewigkeit in der Zeit ist nichts anderes als die Tiefendimension der Gegenwart“

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darüber hinaus noch zwischen der Zukunft als Quelle der Zeit und als Quelle der zukünftigen Möglichkeiten. Die zukünftigen Möglichkeiten sind, so A.M.K. Müller, ein „Feld des Unverfügbaren“. In der Zeitmatrix steht für dieses Feld die Verschränkung die „Zukunft an der Zukunft (ZZ)“. Diese meint einen „Überschuss an Zukunft, der jenseits jeder Gegenwart, in der ich mich befinde, liegt. Dieser Überschuss ist seinem Wesen nach unverfügbar und zugleich im transwissenschaftlichen Sinne offen“122. Die prinzipielle Unverfügbarkeit des Zukünftigen vermeidet die Verwechslung zwischen der Zukunft als Zeitmodus, als Quelle der Zeit und als ereigniswirkender Macht. Die modale Weltzeit hat keine schöpferische Qualität, sie gehört zur geschaffenen Welt, und ist doch der ‚Ort‘, an dem und durch den Gott in der Welt unverfügbar-schöpferisch wirkt. Die von der Zukunft her sich entrollende Gegenwarts-Zeit ist der Ort der wirkenden Präsenz Gottes in der Welt und zugleich der Ort seines Erscheinens, wenn er sich als die Macht der Zukunft erschließt. 3. Temporale Präsenz Gottes: Die Zeit ist also der Ort und das Mittel des Wirkens Gottes in der Welt. Gott wirkt als schöpferische „Kreativität, als schaffendes Zentrum mitten in unserem Sein – und gerade so jenseits unseres eigenen Seins“123. Gottes Wirken im Raum kraft und mittels der unverfügbaren Zeit zu denken, bedeutet, Gott als den in jedem Raum- und Zeitpunkt und in allem Seienden präsenten, alles von innen wirkenden und bewahrenden, aber doch von allem unterschiedenen Schöpfer zu denken. Gottes unverfügbare Transzendenz hat ihr Ubi nicht im „Außen“ oder „Über“, sondern im unverfügbar-offenen „Innen“ der Welt. Als Schöpfer ist er nicht vor, über oder nach aller Schöpfung, sondern in, mit und unter aller Schöpfung. Jedoch ist Gott nicht das Innen, und das Werden der Welt ist nicht von sich her das Wirken Gottes. Gottes Immanenz im Innenraum der Welt ist von der Welt her transzendent. Seine transzendente Immanenz bzw. immanente Transzendenz ist präzise als „Innen des Innen“ der Welt zu denken. Indem Gottes Transzendenz als „Innen des Innen“ gedacht wird, wird die schlechte Alternative zwischen deterministischem Deismus (schlechthinnige Transzendenz) und evolutionärem Pantheismus (schlechthinnige Immanenz) in einem dritten Weg überwunden. Der von der Welt ————— (114), verwechselt er Seins- und Erkenntnisgrund. Die Zerdehnung der Gegenwart zum ewigkeitserfüllten Augenblick ist Erkenntnisgrund für die Ewigkeitsdimension der Zeit, ihr Seinsgrund ist nicht die im Wesen der Zeit liegende Möglichkeit der Ewigkeit, sondern die aus dem nichtgegenständlichen Innenraum hervortretende, also letztlich aus Gott kommende und in der Zeit erscheinende Ewigkeits-Dimension. 122 Müller, Naturgesetz, Wirklichkeit, Zeitlichkeit, 349. 123 E. Wölfel, Welt als Schöpfung. Zu den Fundamentalsätzen der christlichen Schöpfungslehre, 24.

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unterschiedene Gott in der Natur ist der trinitarische Gott, „der als Schöpfer der Natur zugleich transzendent und immanent ist, der als in Jesus Christus Geschöpf gewordener Schöpfer in die Welt ein-, aber nicht in ihr aufgeht, und der als Geist zwar in der Materie wirkt, aber sie im Werdeprozess transzendiert“124. Gottes Wirkpräsenz im unverfügbaren Innen der Welt bedeutet weder eine Unabhängigkeit noch eine Identität von Wirken Gottes und naturgesetzlichem Geschehen. Die temporale praesentia operosa ist weder ein theologisch überhöhtes physikalisches Feld noch die gottoffene Kraft der Evolution, sondern die weltoffene Anwesenheit der Schöpfermacht Gottes, die im Raum der Welt einen unverfügbaren Raum, nämlich Zukunft, eröffnet. Gottes wirkmächtige Gegenwart, durch die er Leben hervorbringt, erhält und erneuert, ereignet sich als die aus der Zukunft in die Zeit tretende Schöpfermacht, die wesentlich, d.h. trinitarisch eingeholt, die Macht der Liebe ist. Denn wenn Liebe die Macht ist, die in der Gegenwart Zukunft eröffnet, so ist Gott als Macht der Zukunft in der Gegenwart zugleich die Macht der Liebe, die Leben lässt. Gottes Präsenz im Raum der Welt bewirkt die Gegenwärtigkeit von Gegenwart: sinnerfülltes und zukunftsfähiges Leben im Hier und Jetzt. Das Modell der räumlichen Präsenz Gottes als temporaler praesentia operosa vermag sowohl den schöpfungstheologischen als auch den soteriologisch-pneumatologischen Aspekt des Wirkens Gottes zur Sprache zu bringen. Die dynamische Präsenz Gottes in der Welt über seine naturphilosophische Denkbarkeit hinaus auch hinsichtlich einer Theologie der Natur und der „natürlichen“ Anwesenheit Gottes in der Schöpfung zur Sprache zu bringen, ist Aufgabe eines späteren Kapitels (II.7.), vor dessen Behandlung die Frage stehen muss, wie Gott sich prinzipiell und ursprünglich zu Raum und Zeit verhält. Zu thematisieren ist das Verhältnis von kosmischem Vorhandensein von Raum und Zeit und der schöpfungstheologischen Rede von Gottes Schöpfertätigkeit als dem zur Verfügung stellen von Raum und Zeit. Das Verständnis der uranfänglichen Schöpfung Gottes ist infolge der modernen Kosmologie im Besonderen problematisch geworden, so dass das Verhältnis von Schöpfungsakt und Weltanfang ausführlich diskutiert werden muss (II.5.).

————— 124 Daecke, Gott in der Natur?, 123.

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Kapitel 5: Das Werden des Raums und Gottes Anfangen

Nach einer Situierung in der Geschichte von Kosmologie und Schöpfungstheologie (5.1) wird das systematisch-theologische Problem um den Weltanfang benannt (5.2). Die detaillierte Diskussion zwischen Grünbaum, Quinn, Craig u.a. um das Verhältnis von Schöpfungsakt und Weltanfang wird aufgearbeitet (5.3f), bevor die Rede von der Schöpfung als „Anfang“ (5.5) und von Gott als „Grund“ der Welt (5.6) phänomenologisch und metaphysisch geklärt wird.

5.1 Weltraum und Weltschöpfung Der kosmische Raum hat sich im Laufe der Neuzeit in den drei Schüben, die man mit den Namen Kopernikus, Bruno und Newton charakterisieren kann, zum zentrumslos homogenen, unendlich ausgedehnten und absolut ruhenden Raum gewandelt, der von zahllosen Gestirnkörpern und Planetensystemen erfüllt, dabei selbst völlig nacht, schwarz und leer ist. Der kosmische Raum wird zum geometrischen, euklidischen Raum, der spätneuzeitliche Raum des Kosmos ist Geometrie. Dass sich dieser Raumbegriff aus physikalischen, mathematischen und naturphilosophischen Gründen noch einmal transformieren musste, kann für den Augenblick dahingestellt bleiben. Der Unterschied des Newtonschen zum Einsteinschen Raum betrifft die Form der Raum-Zeit-Struktur, nicht die Geometrizität des Raumes überhaupt. Auch der Raum der allgemeinrelativistischen Kosmologie ist ein endlos ausgedehnter, nahezu leerer und schwarzer, von Abermillionen Sternsystemen und Galaxien erfüllter, homogener und isotroper Raum. Der Weltraum des 19./20. Jh. steht mit seinen Eigenschaften der Unendlichkeit, der Gleichförmigkeit und der Rationalität in solch fundamentalem Gegensatz zum vorneuzeitlichen endlichen, hierarchischen und von der sinnlichen Wahrnehmung gestützten Kosmos, dass nicht nur das mittelalterliche Weltbild, sondern die christliche Schöpfungsvorstellung überhaupt, die damit in organischer Synthese verbunden gewesen war, keine kosmologische Plausibilität mehr beanspruchen konnte. Dass der unendliche Weltraum, historisch und systematisch betrachtet, nicht einfach gegen den vormodernen Kosmos gesetzt wurde, sondern in einem mehrstufigen Abstraktions- und Transformationsprozess aus diesem

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hervorging, spielt für das Resultat keine Rolle. Dass der unendliche Raum im Unterschied zum vormodernen Kosmos nicht sinnlich erfahrbar ist und darum umgekehrt keine Plausibilität in der lebensweltlichen Himmelserfahrung hat, sondern eine ideale, aus der Theorie konstruierte und auf instrumentelle Beobachtungen gestützte Anschauung darstellt, also kein Gegenstand der Erfahrung, sondern allein des Wissens ist, so dass man biblische Kosmologie in erfahrungsbezogener Veranschaulichung und teilmetaphorischer Übertragung in den gelebten Raum, etwa für Predigtzwecke, noch lange betreiben konnte und bis heute betreiben kann, spielt für das Resultat ebenfalls keine Rolle. Die mittelalterliche Synthese von ptolemäischer Astronomie, platonischaristotelischer Kosmologie und biblisch-christlicher Schöpfungsvorstellung war im 19. Jh. keine restaurierbare Option mehr. Mit der Ersetzung der biblischen durch die physikalische Kosmogonie musste auch die Schöpfungsvorstellung des Sechs-Tage-Werks als Wahrheit der Weltentwicklung verabschiedet werden. Vielleicht hat tatsächlich, wie K. Hübner vermutet, „kaum etwas den Christlichen Glauben tiefer erschüttert als der Widerspruch, der zwischen der Schöpfungsgeschichte des Alten Testaments und der kosmologischen und biologischen Evolutionslehre besteht“1. Solange man erstens die Geozentrik noch als astronomische Alternative diskutieren konnte, was bis zum Nachweis der Fixsternparallaxe, also der Bewegung der Erde gegen den Fixsternhimmel durch Bessel 1838 noch theoretisch, wenn auch seit 1750 nicht mehr praktisch der Fall war – im 17. Jh. favorisierten die jesuitischen Astronomen und die lutherischen Theologen auch aus naturphilosophischen Gründen das geozentrische tychonische System und das katholische Lehramt hob erst 1824 das Verbot der Heiliozentrik auf –, solange man zweitens noch keine der Sechs-TageSchöpfung widersprechende mechanische Theorie der Weltentwicklung hatte, was nach den deistischen Entwürfen von Descartes und Kant erst mit Laplace’ und Helmholtz’ Kosmogonie der Fall war, und solange man drittens noch keine biologische Theorie der „Entstehung der Arten“ hatte (Lamarck, Darwin), solange konnte man noch wortwörtlich an der biblischen Genesis festhalten und die Schöpfung als konkretes Werk Gottes in sechs Tagen verstehen.2

Als Alternative blieb im räumlich und zeitlich unendlichen, sich materiell und energetisch selbst erhaltenden und aus eigenen mechanischen und biologischen Gesetzen selbsttätig entwickelnden und regulierenden Universum des 19. Jh. nur, die Schöpfungslehre von der naturwissenschaftlichen Kosmologie und Kosmogonie abzukoppeln und subjektivitätstheoretisch auf die menschliche Existenz zu beziehen und aus dem „Gefühl der ————— 1 K. Hübner, Die biblische Schöpfungsgeschichte im Lichte moderner Evolutionstheorien, 188. 2 Noch Hollaz differenziert das Schöpfungswerk nach den Werken der sechs Tage (De Operibus Hexaemeri, Examen theologicum acroamaticum, p.I, c.III, qu.16–28, 525–547).

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schlechthinnigen Abhängigkeit“3 als „Endlichkeitsreflexion“ zu reformulieren.4 Restaurativ am Sechstagewerk festzuhalten, wäre nicht mehr als „Barbarei“ gewesen, wie Schleiermacher um 1830 illusionslos feststellte: „Wenn Sie den gegenwärtigen Zustand der Naturwissenschaft betrachten, wie sie sich immer mehr zu einer umfassenden Weltkunde gestaltet, von der man vor noch gar nicht langer Zeit keine Ahndung hatte: was ahndet Ihnen von der Zukunft, ich will nicht einmal sagen für unsere Theologie, sondern für unser evangelisches Christentum? […] Deshalb will mir nun nichts anderes ahnden, als dass wir werden lernen müssen uns ohne vieles zu behelfen, was viele nicht gewohnt sind, als mit dem Wesen des Christentums unzertrennlich verbunden zu denken. Ich will gar nicht vom Sechstagewerk reden, aber der Schöpfungsbegriff, wie er gewöhnlich konstruiert wird, auch abgesehen von dem Zurückgehn auf die mosaische Chronologie und trotz aller freilich ziemlich unsichern Erleichterungen, welche die Auslegung schon herbeigeschafft hat, wie lange wird er sich noch halten können gegen die Gewalt einer aus wissenschaftlichen Kombinationen, denen sich niemand entziehen kann, gebildeten Weltanschauung? Und das zu einer Zeit, wo die Geheimnisse der Geweiheten nur in der Methode und im dem Detail der Wissenschaften liegen, die großen Resultate aber sehr bald allen helleren und umsichtigen Köpfen auch im eigentlichen Volke zugänglich werden! […] Und so ist es auch hier wieder der Begriff des Wunders, der in seiner bisherigen Art und Weise nicht wird fortbestehen können. Was soll dann werden, mein lieber Freund? Ich werde diese Zeit nicht mehr erleben, sondern kann mich ruhig schlafen legen. Aber Sie, mein Freund, und Ihre Altersgenossen, so viele deren mit uns gleichen Sinnes sind, was gedenken Sie zu tun? Wollt ihr euch dennoch hinter diesen Außenwerken verschanzen, und Euch von der Wissenschaft blockieren lassen? Das Bombardement des Spottes, welches dann auch von Zeit zu Zeit erneuert werden wird, will ich für nichts rechnen; denn das wird auch euch, wenn ihr nur Entsagung genug habt, wenig schaden. Aber die Blockade! die gänzliche Aushungerung von aller Wissenschaft, die dann, notgedrungen von Euch, eben weil Ihr Euch so verschanzt, die Fahne des Unglaubens aufstecken muss! Soll der Knoten der Geschichte so auseinander gehen; das Christentum mit der Barbarei, und die Wissenschaft mit dem Unglauben?“5

Zwar gab es noch im späten 19. und frühen 20. Jh. apologetische Versuche, Teile oder die ganze biblische Genesis zu retten,6 aber insgesamt galt im ————— 3 „Die Lehre von der Schöpfung ist vorzüglich in der Hinsicht zu entwickeln, dass Fremdartiges [aus dem Gebiet des Wissens] abgewehrt werde, damit nicht aus der Art, wie die Frage nach dem Entstehen anderwärts beantwortet wird, etwas in unser Gebiet einschleiche, was mit dem reinen Ausdruck des schlechthinnigen Abhängigkeitsgefühls im Widerspruch steht“ (Schleiermacher, Der christliche Glaube, §39 Leitsatz). 4 Vgl. die Darlegung bes. zu Schleiermacher bei U. Barth, Abschied von der Kosmologie, 32. 5 Schleiermacher, Zweites Sendschreiben an Lücke, 36f; in: Schleiermacher-Auswahl, 145f. 6 O. Zöckler z.B. hat die mosaischen sechs Tage als kosmische Zeitepochen gedeutet und mit astronomischen und geologischen Perioden vermittelt (Die Urgeschichte der Erde und des Menschen, 42–45), aber andererseits die Verwerfung der biblischen Urgeschichte und Chronologie aufgrund geologischer Theorien (C. Lyell) als wissenschaftsgläubigen Skeptizismus und Aber-

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19. und 20. Jh. das Sechs-Tage-Werk nicht mehr als Alternativ- oder Konkurrenztheorie zur naturwissenschaftlichen Kosmogonie:7 Die Schöpfungslehre wurde unabhängig davon und dezidiert nicht mehr als Weltentstehungslehre formuliert und der biblische Schöpfungsmythos dezidiert nicht mehr als konkurrierende Weltentstehungserklärung gelesen8. Die Weltentstehung war mit dem theologischen Ausdruck „Schöpfung“ jedenfalls nicht mehr gemeint. Vor diesem Hintergrund ist es verständlich, dass von Seiten apologetisch oder restaurativ eingestellter Kreise die Urknalltheorie als neuerliche Bestätigung der Schöpfungsvorstellung, zumindest der creatio prima, also der creatio originans ex nihilo, gesehen werden konnte. „Wen wundert’s, dass naive Christen die Theorie vom Ur-knall heranzogen zum Beweis der Wahrheit einer Weltschöpfung?“9, unterstellt H. Küng und T. Peters vermutet: „Bei der Urknalltheorie denken viele von uns gerne, dass Gott die ursprünglichen Grenzbedingungen gesetzt hat und Zeit und Raum aus dem Nichts schuf.“10 Ist es nur ein Ausdruck von theologischer Naivität, dass 1951 Papst Pius XII. die damals ganz neue Urknalltheorie als Bestätigung der Weltschöpfung durch Gott „vor endlicher Zeit“, gar als neuen Gottesbeweis, interpretierte11 und dass 1981 Papst Johannes Paul II. gegenüber St. Hawking den ————— glaube diskreditiert (Über Schöpfungsgeschichte und Naturwissenschaft, 44f); hierzu vgl. S. Meindl, Otto Zöckler, bes. 159–181. 7 Vgl. die erst 1909 erfolgte (schon von Galilei und der liberalen Bibelkritik als Akkomodationsthese geäußerte) Ansicht der päpstlichen Bibelkommision, Gen 1 ginge es nicht darum, den vollständigen Ablauf der Schöpfung wissenschaftlich zu lehren, sondern eine volkstümliche Kenntnis zu überliefern („non ordinem creationis completum scientifico more docere, sed potius suae genti tradere notitiam popolarem“, DS 3518). Die Evolutionslehre wurde vom Lehramt erst 1950 unter Pius XII. anerkannt, aber noch immer unter Festhalten am Monogenismus und der unmittelbaren Erschaffung der Geistseele durch Gott („Kreatianismus“, DS 3896), was Johannes Paul II. noch am 22.10.1996 in einem Brief an die päpstliche Akademie der Wissenschaften bestätigte. 8 Vgl. K. Barths berühmtes Vorwort zu KD III/1, wo der für den Glauben an den Schöpfer und die Schöpfung freien Raum jenseits aller „naturwissenschaftlichen Fragen, Einwände oder auch Hilfestellungen“ reklamiert, wie auch die Naturwissenschaft „freien Raum“ habe „jenseits dessen, was die Theologie als Werk des Schöpfers zu beschreiben hat“, weshalb er die sachgemäße und auch lohnendere Aufgabe für die Dogmatik im Nachsagen jener „Sage“ fand als „die dilletantischen Quälereien, denen ich mich im anderen Fall hätte hingeben müssen“ (Barth, KD III/1, Vorwort); dazu grundsätzlich G. Cliqué, Differenz und Parallelität. Zum Verständnis des Zusammenhangs von Theologie und Naturwissenschaft am Beispiel der Überlegungen Günter Howes, 43–69; M. Rothgangel, Anthropologische Zwischentöne: Karl Barths Verhältnisbestimmung von Theologie und Naturwissenschaft. 9 H. Küng, Existiert Gott? 696f. 10 T. Peters, Urknallkosmologie und Gottes Schöpfungstätigkeit, 155; ders., Cosmos as Creation, 55f. 11 Pius XII.,Theology and Modern Science, 165; ders., Modern Science and the Existence of God, 165; ders., Le prove della esistenza di dio alla luce della scienza naturale moderna, 42: „La

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Urknall als Augenblick der Schöpfung und damit als Werk Gottes deutete,12 nicht ahnend übrigens, dass Hawkings Ohne-Grenzen-Theorie die Urknallsingularität gerade umgehen möchte? Führen uns, wie der Astronom und Agnostiker R. Jastrow meinte, „die Aussagen der Astronomen [wieder] zu einer biblischen Sicht des Beginns der Welt“13? Handelt es sich bei der Frage nach der Weltschöpfung überhaupt um eine von der physikalischen Kosmogonie behandelbare Frage? Handelt es sich beim Problem des Weltanfangs genauerhin um ein spezifisch theologisches, um ein philosophisches oder um ein physikalisches Problem? Inwiefern verleitet die Urknalltheorie eher als die Kosmogonie des 19. Jh. zur Deutung als „Weltschöpfung“? Schließlich hat sich an der Gestalt des kosmischen Raumes nichts Wesentliches gegenüber dem des 19. Jh. geändert, außer dass er statt ewig nun 15 Milliarden Jahre alt und statt euklidisch flach unendlich nun nichteuklidisch sphärisch geschlossen unendlich ausgedehnt ist? Auch der Weltraum des Standardmodells ist noch immer genauso riesig, schwarz, nahezu leer und, bis auf unsere Erde, durchweg lebensfeindlich und im Vergleich zur Lebenszeit und Geschichte der Menschheit unvorstellbar alt. Wie ein geordneter, in Teilakten verwirklichter Stufenbau a la Gen 1 sieht er immer noch nicht wieder aus! Kann man die Entstehung der Welt im Urknall wirklich analog oder gar identisch zur tradierten creatio prima ex nihilo des ersten Tages ansehen, oder muss die Schöpfungslehre sich nicht ganz auf die creatio continua konzentrieren und die Entstehungsfrage auf sich beruhen lassen?14 Überlegen wir zunächst, worin die theologische Attraktivität der Urknalltheorie beruht, und ob und inwiefern es sich beim Weltanfang um eine theologisch relevante Frage handelt (5.2). Erst danach können wir die naturphilosophischen (5.3–4) und die theologischen Aspekte (5.5–6) um die Interpretation der Anfangssingularität im Einzelnen behandeln.

————— creazione nel tempo, quindi; e perciò un Creatore; dunque Dio!“ = dt. Die Gottesbeweise im Lichte der modernen Naturwissenschaft, 169: „Die Erschaffung also in der Zeit; und deshalb ein Schöpfer; und folglich ein Gott. Das ist die Kunde, die Wir, wenn auch nicht ausdrücklich und abgeschlossen, von der Wissenschaft verlangten und welche die heutige Menschheit von ihr erwartet.“ 12 S. Hawking, Eine kurze Geschichte der Zeit, 148; vgl. Message of his Holiness Pope John Paul II., in: R.J. Russell, W. R. Stoeger, G.V. Coyne, Physics, Philosophy and Theology (1988), M 11f, hier aber mit Warnung vor „uncritical and overhasty use for apologetic purposes“ bzgl. des „Big Bang“. 13 R. Jastrow, God and the Astronomers, 116; zit. bei T. Peters, Cosmos as Creation, 46; I. Barbour, Creation and Cosmology, 120. 14 So unterstellt T. Peters den meisten Theologen, On Creating the Cosmos, 288.

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5.2 Die theologische Relevanz der Frage nach dem Weltanfang 1. Der Weltanfang und seine Ursache: Nehmen wir an, wir könnten aus zuverlässigen Gründen sei es empirischer oder metaphysischer Art sagen, die Welt habe einen Anfang gehabt und nehmen wir weiter an, diese Rede von Anfang sei halbwegs verständlich, dann stellt sich zwangsläufig die Frage nach der Ursache dieses Anfangs. Wenn die Welt einen Anfang gehabt hat, kann dieser Anfang nur entweder selbstursächlich oder von einer äußeren Ursache oder von gar keiner Ursache initiiert worden sein. Ein selbstursächlicher Anfang wäre, zumindest auf einer elementaren Reflexionsstufe, schwer verständlich, denn die Welt oder ein Teil ihrer selbst müsste als Ursache für den Rest dagewesen sein, bevor sie selbst da war. Die Welt müsste dafür, zumindest im initialen Stadium, etwas in sich haben, was nicht sie selbst ist, was einen logischen Widerspruch darstellt. Die Rede von der Selbstursächlichkeit (causa sui) bezog sich in der klassischen Metaphysik immer auf eine Identität mit sich selbst. Ursache seiner selbst ist etwas dann, wenn es nicht von anderswoher hervorgebracht worden ist, sondern nur aus sich selbst stammt, was logisch eine Identitätsrelation mit sich und metaphysisch ein anfangsloses Sein impliziert. Hätte die Welt also einen Anfang halbwegs im allgemeinen Verständnis des Wortes, müsste ihr Anfang außerhalb ihrer selbst liegen und könnte nicht die Welt, höchstens eine andere, vorgängige Mutter-Welt sein. Die Ursache des Anfangs wäre jedenfalls unserer Welt gegenüber transzendent und müsste die Fähigkeit haben, eine Welt aus nichts, d.h. aus sich selbst und sonst nirgendwo her, hervorzubringen. Ob man dieser Ursache auch andere göttliche Eigenschaften zuschreiben müsste, wäre nicht zwingend, aber jedenfalls wäre eine naturalistische Interpretation wenig überzeugend. Die Mutterwelt müsste nicht nur ein Welt-Baby, sondern eine selbständige und separate Welt als Ganze erzeugen können. Unter der Voraussetzung, dass Gott existiert, wäre die creatio ex nihilo die naheliegenste Lösung für die Erklärung des Weltanfangs.15 Wenn also die Welt einen Anfang hat, egal ob in oder mit der Zeit, war ‚vorher‘ nichts, d.h. keine bzw. nicht diese Welt. Der Anfang wäre daher ein Anfang ex nihilo: der Anfang wäre der Akt der Schöpfung und könnte als creatio originans interpretiert werden. Ihn auf Gott als prima causa zurückzuführen wäre nur aufgrund der anderwärts zu begründenden An————— 15 Vgl. R. Swinburne, Die Existenz Gottes, 174: „Es besteht die Möglichkeit, dass, wenn es einen Gott gibt, er etwas von der Endlichkeit und Komplexität eines Universums schafft. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass ein Universum unverursacht existiert; dagegen ist es um einiges wahrscheinlicher, dass Gott unverursacht existiert. Die Existenz eines Universums ist sonderbar und verwunderlich. Sie wird verständlich, wenn wir annehmen, dass Gott ihre Ursache ist“; zustimmend zit. bei P. Davies, Gott und die moderne Physik, 73.

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nahme der Existenz Gottes zwingend. Denn alternativ dazu bliebe – wenn die Welt einen Anfang hat – noch die Lösung, dass es gar keine Anfangsursache gab, sondern die Welt einfach ursachlos irgendwie ins Sein getreten ist. Ob dies eine metaphysisch sinnvolle Option darstellt, muss diskutiert werden. J. Mackie hielt den Begriff eines unverursachten Existenzbeginns für sinnvoll, indem er fragte, „weshalb es unannehmbar sein sollte, dass Dinge, durch nichts verursacht, einfach entstehen, während die Existenz eines Gottes mit der Macht, etwas aus nichts zu schaffen, akzeptabel sein soll“16. Mackie hielt ursachlose Existenz sogar „beständig durch unsere Erfahrung bestätigt“17 (allerdings ohne Beleg oder Beispiel), während W. Craig gegen die unverursachte Existenz von allem einwandte: „If nothing existed – no matter, no energy, no space, no time, no deity – if there were absolutely nothing, then it seems unintelligible to say that something schould spring into existence.“18 Die Entscheidung in dieser Debatte, die wir später diskutieren wollen (II.6.4), hängt natürlich daran, ob man einen unverursachten Anfang aus dem Nichts denken und ob man diesen auch auf das Universum als Ganzes anwenden kann, oder ob man für alles einen Anfang, Grund und Ursache annehmen, also ein Prinzip des zureichenden Grundes unterstellen muss. Wenn die Welt einen Anfang hat, bedürfte sie jedenfalls intuitiv doch eher eines transzendenten Grundes als nicht. Wenn nun zusätzlich der Weltanfang auch empirisch belegt wäre, würde das empirische in Kombination mit dem metaphysischen Argument, für einen Anfang auch eine Ursache zu fordern, eher für die Annahme einer Weltschöpfung durch eine transzendente Ursache als dagegen sprechen. Ob man den physikalischen Urknall als solchen Anfang sehen kann, ist eine ganz andere Frage. Was die Urknallsingularität für die Anfangsfrage hergibt, muss detailliert geprüft werden (5.3–4). Aber wenn der Urknall als Weltanfang verstanden werden kann, dann wäre er der physikalische Beleg für Schöpfung. So hat sich klar St. Hawking geäußert und damit auch seine Motivation dafür offengelegt, eine anfanglose und singularitätsfreie Keine-Grenzen-Theorie des Universums zu entwickeln19: „Wenn das Universum einen Anfang hatte, können ————— 16 J. Mackie, Das Wunder des Theismus, 150. 17 Ebd., 143; die unmittelbare Erfahrung zeigt möglicherweise unverursachte Anfänge, die nachträgliche Reflexion kann aber immer Ursachen ausfindig machen. Das Kausalprinzip, dass alles eine Ursache hat, kann zwar nicht a priori begründet werden, wie schon Hume geltend machte, wohl aber a posteriori aus der Gewohnheit der Erfahrung. 18 W. Craig, The caused Beginning of the Universe, 146. 19 In der Keine-Grenzen-Theorie von Hawking und Hartle besteht „die Randbedingung des Universums […] darin, dass es keinen Rand hat“ (S. Hawking/R. Penrose, Raum und Zeit, 111); einführend zu Hawkings singularitätsfreier Quantenkosmologie vgl. D. Evers, Raum – Materie – Zeit, 222–225; J. Colditz, Kosmos als Schöpfung, 154–158; Davies, Der Plan Gottes, 69–80; C. Isham, Quantum theories of the creation of the universe.

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wir von der Annahme ausgehen, dass es durch einen Schöpfer geschaffen worden sei. Doch wenn das Universum wirklich völlig in sich selbst abgeschlossen ist, wenn es keine Grenze und keinen Rand hat, dann hätte es auch weder einen Anfang noch ein Ende: Es würde einfach sein. Wo wäre dann noch Raum für einen Schöpfer?“20 2. Schöpfung als Weltentstehung? Dass sich die Theologie dennoch mehrheitlich nicht darauf eingelassen hat, den Urknall mit dem Akt der Weltschöpfung durch Gott zu identifizieren hat physikalische, naturphilosophische und prinzipielle theologische Gründe. Zum einen ist das „Standardmodell“ des Urknalls zwar gegenwärtig das mehrheitlich vertretene, aber keineswegs ohne Alternativen und Probleme.21 Man will sich verständlicherweise nicht von einem revidierbaren Stand der Forschung abhängig machen. Wenn man den Urknall als Weltanfang und diesen als Schöpfungsakt interpretierte, hätte die Welt dann, wenn die anfangslosen Kosmologien doch die besseren Argumente für sich hätten, keinen Anfang, wäre dann aber auch nicht aus einem primordialen Schöpfungsakt entstanden. Zum zweiten ist die Rede vom Anfang des Weltganzen, wie man seit den antiken Diskussionen um die Ewigkeit der Welt, die bei Thomas und in den Kantschen Antinomien wiederkehren, auch philosophisch so widersprüchlich, dass man theologisch den Ausdruck „Schöpfung“ nicht mit der Anfangsproblematik belasten will. Und zum dritten hat die Theologie, um die prinzipielle Differenz zwischen dem theologischen Ausdruck „Schöpfung“ und der physikalischen Weltentstehung festzuhalten, dafür plädiert, den Urknall nicht als Schöpfungsakt zu verstehen. Die theologische These, Schöpfung sei keine Theorie der Weltentstehung hat aber ein massives theologisches Problem. Angenommen nämlich, die ————— 20 Hawking, Eine kurze Geschichte der Zeit, 179; auch für T. Peters hat Hawking „vollkommen richtig erkannt, dass der Begriff des absoluten Anfangs, den die übliche Urknalltheorie impliziert, auch die Existenz Gottes nach sich zieht. Aus dem Begriff des Anfangs folgt, dass es eine Grenze für den Kosmos gibt, und die Anerkennung einer Grenze nötigt uns zu fragen, was jenseits davon liegt“ (Peters, Urknall und Gottes Schöpfungstätigkeit, 153; ders., Cosmos as Creation, 54); vgl. auch W. Craig, ‚What Place, then, for a Creator?‘: Hawking on God and Creation; J. Knöppler, Welt ohne Schöpfer? Theologische Implikationen moderner Kosmologie. 21 Alternativen zum Standardmodell werden diskutiert bei B. Thüring, Methodische Kosmologie. Alternativen zur Expansion des Weltalls und zum Urknall; Colditz, Kosmos als Schöpfung, 125–164; das Standardmodell des Urknalls ist so häufig dargestellt worden, auch im theologischen Kontext, dass wir darauf verzichten, vgl. u.a. S. Weinberg, Die ersten drei Minuten. Ursprung des Universums; H. Fritzsch, Vom Urknall zum Zerfall. Die Welt zwischen Anfang und Ende; H. Goenner, Einführung in die Kosmologie; J. Audretsch/K. Mainzer (Hg.), Vom Anfang der Welt; J. Dorschner, Mensch und Universum; J. Audretsch/H. Weder (Hg.), Kosmologie und Kreativität; Evers, Raum – Materie – Zeit, 83–110; A. Krabbe/W. Valet (Hg.), Kosmologie. Die Wissenschaft vom Universum und der Glaube an Gott, den Schöpfer; J. Ehlers, Das Standardmodell des Universums.

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Urknallhypothese sei tatsächlich hinreichend begründet, soweit man physikalische Theorien eben begründen kann, und der Urknall sei in einigermaßen bestimmter Weise als Weltanfang anzusehen, dann ergibt sich, wenn man den Urknall nicht als den von Gott gesetzten Schöpfungsakt ansieht, den Urknall also weder als von Gott gewirkten Anfang noch Gott als Ursache dieses Anfangs zugesteht, die Schwierigkeit, was der primordiale Schöpfungsakt dann überhaupt noch meinen soll. Denn dass die Weltschöpfung theologisch eine creatio ex nihilo und damit ein Akt des Ins-Seinsetzen der Welt sein soll, wäre dann schlichtweg unverständlich. Wenn der Schöpfungsakt unter der Voraussetzung, dass es einen Akt der Weltenstehung gab, nicht mindestens auch diesen meint, dann wäre die Rede von der creatio originans überflüssig. Und wenn die creatio ex nihilo nicht irgendwie auch den Vorgang der Weltentstehung mitmeint, dann bezieht sich „Schöpfung“ auch nicht auf das Werden der physischen Welt, sondern „nur“ auf das innerweltliche Werden. Gott aber rein als innerweltliche und nicht auch als außerweltliche Ursache anzusehen, also nicht auch das Werden des Weltganzen auf die Ursächlichkeit Gottes zurückzuführen, schmeckt den meisten Theologen zu pantheistisch. Wenn die Weltentwicklung nicht in einer creatio originans ex nihilo gründet und von ihr herkommt, ist sie schwerlich noch Schöpfung (creatio continuans), sondern doch wohl „nur“ Erhaltung (conservatio) und Entwicklung (creatio evolutiva).22 Das aber hätte zur Folge, dass die von Gott erhaltene und in der Entwicklung vorwärtsgetriebene Welt nicht von ihm geschaffen, sondern letztursächlich von anderswo her oder ewig wäre. Auf die Deutung der creatio ex nihilo als primordialem Schöpfungsakt zu verzichten, untergräbt nach dieser Logik die Souveränität und Freiheit Gottes. Die Haltung, die Schöpfung zugunsten der Souveränität Gottes als creatio ex nihilo und nicht als Weltentstehung ansehen zu wollen, impliziert, kurz gesagt, die Gegenthese, die Schöpfung um der Souveränität Gottes als Weltentstehung ansehen zu müssen. So hat, um das Dilemma an einem konkreten Entwurf aufzuzeigen, Emil Brunner „Schöpfung“ dezidiert nicht als „Theorie über die Weltentstehung“23 verstehen wollen, sondern als creatio ex nihilo, weil von der Schöpfung zu reden etwas anderes sei als zu erklären, warum die Welt existiert und wie das Dass der Welt zustande kam. Rede von der Schöpfung ist primär Rede vom Schöpfer, von dem wir angeredet und der Sinn unserer und aller Existenz bestimmt wird. Der Schöpfer ist der Schöpfer schlechthin, der „unbedingt Bedingende oder der alles bedingende Unbedingte“24, was in der Formel von der creatio ex nihilo zum Ausdruck kommt. Schöpfung meint, dass Gott allein, ohne außer ihm liegende kooperierende Faktoren die Welt schafft.

————— 22 23 24

Zu dieser Unterscheidung vgl. A. Kreiner, Das wahre Antlitz Gottes, 261ff. E. Brunner, Die christliche Lehre von Schöpfung und Erlösung, Dogmatik, Bd. II, 17. Ebd., 20.

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Der Machtaspekt, dass die Schöpfung keine andere Ursache als die göttliche Allmacht, der sie ins Werk setzte, und keinen anderen Grund hat als den göttlichen Willen, der die Welt aus Liebe und Freiheit will, drückt sich darin aus, dass die Welt einen Anfang hat und mit ihr die Zeit, dass sie also geschaffen und nicht aus Vorgegebenen geformt ist. Die Welt ist das Werk der göttlichen Freiheit. Schöpfung ist der Akt, in dem „Gott die Welt ‚ins Dasein rief‘.“25 Schöpfung ist für Brunner damit nicht allein eine Aussage über den Schöpfer, sondern auch über die Welt – „indem Gott eine Welt schafft, schafft er etwas, was nicht Gott ist, nämlich Welt“26 – und beinhaltet sowohl den Akt wie das Resultat des Erschaffens. Schöpfung meint, kurz gesagt, die Erschaffung der Welt durch den Schöpfer. Was aber, so fragen wir, soll „Erschaffung“ der Welt bezeichnen, wenn nicht auch Weltanfang und Weltentstehung?

Das Dilemma, die creatio ex nihilo nicht als Weltentstehung ansehen zu wollen, aber dann doch zu müssen, rührt einfach daher, dass man mit der Formel das Schema erbt, nach dem sie konzipiert wurde. Das Insistieren auf einem primordialen Schöpfungsakt ex nihilo war in Abgrenzung von den konkurrierenden Vorstellungen (ungewordene gestaltlose Urmaterie; Ewigkeit der Welt; Emanation aus dem göttlichen Einen; dualistisch aus bösem Prinzip)27 trotz der Unanschaulichkeit des Nichts als nihil pure negativum28 („particula EX non designat materiam ex qua, sed excludit“29) mit einem klaren begrifflichen und anschaulichen Gehalt verbunden. Man denke nur an die mittelalterlichen Sechs-Tage-Werk-Darstellungen, welche die creatio ex nihilo am ersten Tag so ins Bild setzten, so dass der Schöpfer, in Synthese des platonischen Demiurgen mit dem biblischen Schöpfer-Gott, als Architekt und Weltbaumeister erschien.30 Aber auch begrifflich ist das hier zur Anschauung gebrachte unaufgebbar mit dem Schöpfungsgedanken verknüpft. Die christliche Schöpfungslehre, so W. Pannenberg mit Recht, „führt das Dasein der Welt auf Gott als ihren Ursprung zurück. […] Das geschieht, durch die Vorstellung von einem Handeln Gottes, und erst dadurch wird die Welt hinsichtlich ihres Ursprungs aus Gott als Schöpfung bestimmt. Die Welt ist Produkt einer Tat Gottes.“31 ————— 25 Ebd., 30. 26 Ebd., 37. 27 Zum historisch-systematischen Kontext der Formel vgl. G. May, Schöpfung aus dem Nichts. Die Entstehung der Lehre von der creatio ex nihilo, der zeigt, dass die Schöpfung aus dem Nichts gegen den Platonismus und die Gnosis nicht den ungeformten Stoff angibt, aus dem Gott schafft, sondern verhindern soll, dass vor der Schöpfung „etwas“ außer Gott angenommen wird. 28 Zum systematischen Gehalt der Formel vgl. E. Wölfel, Welt als Schöpfung, 28. 29 Quenstedt, Theologia didactico-polemica, p.I, c.X, sect.I did., th.XIII, 417, exemplarisch für die (alt)protestantische Theologie; vgl. Brunner, Dogmatik II, 20: „Das ‚ex‘ der creatio ex nihilo gibt keinen Stoff an […], sondern es bedeutet das Alleinsein Gottes in der Hervorbringung der Welt.“ 30 Zur Interpretation der Hexaemerondarstellungen, insbesondere in mittelalterlichen Genesisillustrationen, vgl. J. Zahlten, Creatio mundi. Darstellungen der sechs Schöpfungstage und naturwissenschaftliches Weltbild im Mittelalter. 31 Pannenberg, ST 2, 15.

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Was aber soll man unter „Produkt“ und „Werk“ und „Tat“ verstehen, wenn damit nicht die Weltentstehung gemeint sein darf, und wie soll man, um einen weiteren Entwurf von W. Härle zu zitieren, von Gott als Schöpfer der Welt reden, wenn dafür weder anthropomorphe Vorstellungen wie der Architekt, Programmierer oder Baumeister noch metaphysische Begriffe und Kategorien wie Ursache und Kausalität zugelassen sind? Wenn die geschaffene Welt nicht „als Resultat einer Kausalbeziehung“ verstanden sein soll, „deren Ursache Gott ist“, dann aber doch „Gottes Schöpferwirken“ als sich „an der Weltenstehung und durch sie“ ereignend gedacht wird, wenn also die Schöpfung zwar nicht als „(kausale) Ursache der Weltentstehung“, aber als „Realisierung“ und „Folge“ eines inneren Grundes, des Schöpferwillens Gottes nämlich, zu denken ist,32 wie soll man sich dann den Zusammenhang nicht ursächlich denken, wenn der Schöpfungsakt sachlich und nicht nur logisch auf die Weltentstehung bezogen ist. Wenn, wie Härle schön sagt, die „Schöpfung der innere Grund der Weltentstehung“ und die „Weltentstehung der äußere Grund der Schöpfung“33 ist, dann erfordert die Realisierung eines inneren, geistigen Grundes doch äußere Gründe, sprich ursächliche Handlungen oder zumindest die Vermittlung durch Ursachen. Ein bloß innerer Grund bewegt nichts. Der antimetaphysische Affekt der modernen Theologie, Gott von der Ursachen- und Kausalitätskategorie frei zu halten, verträgt sich schlecht mit einer geschaffenen, von Gott als Gegenüber zu sich ins Werk gesetzten Schöpfung. Auch wenn man bloß metaphorisch von der Schöpfung als dem „Werk Gottes“ und vom Schöpfer als dem „Grund der Welt“ reden will, kommt man um die Diskussion der Anfangsproblematik nicht herum, jedenfalls nicht, wenn man an der Unterscheidung von anfänglicher creatio ex nihilo und sachlich folgender creatio continua festhalten will. Wenn die creatio ex nihilo „die ursprüngliche Konstituierung des so und so beschaffenen natürlichen Seins in seinen Grundkonstituentien und basalen raum-zeitlichen Wirkungszusammenhängen“34 meint, oder einfacher gesagt, der theologische Ausdruck dafür ist, dass „sich Welt und Mensch samt Raum und Zeit Gott allein und keiner anderen Ursache verdanken“35, dann ist eine naturphilosophische und metaphysische Klärung des Anfangs- und Ursachenbegriffs unumgänglich. Kurz gesagt: Die theologische Rede von der Schöpfung wäre leer ohne den naturphilosophisch aufgeklärten Bezug zur Weltentstehung und sie wäre blind ohne eine diese Rede klärende Metaphysik der Schöpfung, oder ————— 32 33 34 35

Vgl. W. Härle, Dogmatik, 410.422. Ebd., 420. Evers, Raum – Materie – Zeit, 257. Küng, Existiert Gott, 699.

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bescheidener gesagt, einer Phänomenologie des Anfangs (5.5–6). Mit dem Ausdruck „Metaphysik der Schöpfung“ soll nicht eine apriorische und deduktive cosmologia rationalis beabsichtigt werden, die heute nicht mehr möglich ist, sondern eine begriffliche Aufhellung der im christlichen Schöpfungsbekenntnis implizierten Rede von Schöpfung als „Anfang“ und von Gott als „Grund“ der Welt.

5.3 Der Weltanfang als Schöpfungsakt? Über das Verhältnis von Weltanfang, Urknall und Schöpfungsakt existiert in der angelsächsischen Religionsphilosophie eine ausgeprägte Debatte,36 die hierzulande noch kaum zur Kenntnis genommen wurde.37 Am wichtigsten sind die Diskussionsgänge aus den 1980er/90er Jahren zwischen W. Craig, Q. Smith, J. Mackie u.a.38 sowie zwischen A. Grünbaum, Ph. Quinn, J. Narlikar u.a.39 Sie berühren sich z.T. mit der klassischen Debatte um den kosmologischen Gottesbeweis. Dennoch wollen wir deren Argumente für sich diskutieren und die bekanntere, im Anschluss an Thomas, Leibniz und Kant geführte Diskussion um das kosmologische Argument nur am Rand einbeziehen.40

1. A. Grünbaum verfolgt das Ziel, die Interpretation des Weltanfangs im Sinn einer „Schöpfung als Scheinproblem der physikalischen Kosmologie“41 zu entlarven. Weder die Urknall- noch die konkurrierende Steady————— 36 Vgl. v.a. die Sammelbände R.J. Russell, W.R. Stoeger, G.V. Coyne (Hg.), Physics, Philosophy, and Theology. A Common Quest for Understanding; T. Peters (Hg.), Cosmos as Creation; J. Leslie (Hg.), Physical Cosmology and Philosophy; V. Brümmer (Hg.), Interpreting the Universe as Creation; R.J. Russell/N. Murphy/C.J. Isham (Hg.), Quantum Cosmology and the Laws of Nature. Scientific Perspectives on Divine Action. 37 Vgl. jetzt aber Kreiner, Das wahre Antlitz Gottes, 270–283, angedeutet bei Kanitscheider, Kosmologie, 457–468. 38 Vgl. W.L. Craig, The Kalam Cosmological Argument; W. L. Craig/Mark S. McLeod, The Logic of Rational Theism; W.L. Craig/Q. Smith, Theism, Atheism, and Big Bang Cosmology; W.L. Craig, Creation and Conservation once more; J. Mackie, Das Wunder des Theismus, 130– 151. 39 A. Grünbaum, The Pseudo-Problem of Creation in Physical Cosmology; ders., PseudoCreation of the Big Bang; ders., Creation as a Pseudo-Explanation in Current Physical Cosmology; ders., Narlikar’s ‚Creation‘ of the Big Bang Universe Was a Mere Origination; ders., Origin versus Creation in Physikal Cosmology; ders., A New Critique of Theological Interpretations of Physical Cosmology; Ph. Quinn, Creation, Conservation, and the Big Bang; J. Narlikar, Was there a Big Bang?; ders., The Concepts of “Beginning” and “Creation” in Cosmology; L. Krüger, Comment on Origin versus Creation in Physical Cosmology. 40 Hierzu vgl. u.a. A. Antweiler, Die Anfangslosigkeit der Welt nach Thomas von Aquin und Kant; J. Schmucker, Das Problem der Kontingenz der Welt. Versuch der positiven Aufarbeitung der Kritik Kants am kosmologischen Argument; Swinburne, Die Existenz Gottes, 151–174; J. Schmidt, Philosophische Theologie, 39–78. 41 A. Grünbaum, Die Schöpfung als Scheinproblem der physikalischen Kosmologie, vgl. die vorletzte Anm.

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state-Theorie oder die Quantenkosmologie könnten als göttliche Schöpfung aus dem Nichts interpretiert werden. Zwar haben alle ein offenes physikalisches Problem, nämlich die unerklärliche Herkunft der Materie-EnergieEntstehung, aber keine erfordert dafür eine übernatürliche, äußere Ursache und sei deswegen auch nicht als göttlicher Schöpfungsakt zu deuten. Die Gegenthese vertrat schon 1959 der Radio-Astronom A. Lovell. Sowohl in der Steady-State- als auch in der Urknallkosmologie gebe es ein Schöpfungsproblem, für das keine dieser Kosmologien eine zufrieden stellende Lösung anbieten können. Eine befriedigende Erklärung werde erst erreicht, wenn man eine göttliche Schöpfung postuliert, woraus folgt, „dass jede Kosmologie schließlich in Metaphysik übergehen muss, und das aus Gründen, die der modernen wissenschaftlichen Theorie inhärent sind.“42 Zwischen diesen Extrempositionen liegen eine Reihe weiterer Abstufungen. H. Bondi selbst hatte die Steady-state-Theorie dem Urknallmodell für überlegen angesehen, weil sie mit der Hypothese der andauernden Schöpfung von Materie die Frage nach dem Ursprung der Materie beantwortet. Somit komme „das Problem der Schöpfung […] in den Bereich der physikalischen Diskutierbarkeit“43. Gegen den Einwand hiergegen, dass eine andauernde Schöpfung eine dauernde Verletzung der Materie-EnergieErhaltung bedeute und statt einem einzigen Schöpfungswunder eine andauernde Reihe von Wundern postuliert werden müssten, wurde geltend gemacht, dass nicht die Steady-state-Schöpfung, sondern das gigantische eine Wunder des Urknalls ein viel größeres Vertrauen auf übernatürliche Wunder erfordert. Grünbaum nimmt die Debatte so auf, dass er erstens mit J. Narlikar zugesteht, das es bei der Frage um den Ursprung der Materie um ein grundlegendes und relevantes physikalisches Problem handelt, das man nicht übergehen darf,44 dass man aber nicht „das echte Problem des Anfangs des Universums oder der Materie in ihm in unerlaubter Weise in das Scheinproblem der ‚Schöpfung‘ des Universums oder seiner Materie durch eine äußere Ursache verwandel[n]“45 darf. Der Schluss, dass die einmalige Ver————— 42 A.C.B. Lovell, The Individual and the Universe/Der Einzelne und das Universum, 71, hier schlecht übersetzt: „[…] die der modernen Wissenschaftstheorie eigen sind.“ 43 H. Bondi, Cosmology, 140; „Die Hypothese der andauernden Schöpfung ist fruchtbarer, weil sie mehr Fragen beantwortet und mehr Resultate liefert, die, wenigstens im Prinzip, beobachtbar sind“ (152). 44 „Die grundlegenste Frage der Kosmologie ist ‚Wo ist die Materie, die wir um uns herum sehen, überhaupt erst entstanden?‘. In den Urknall-Kosmologien, gemäß derer zu t=0 eine plötzliche und fantastische Verletzung des Erhaltungssatzes von Materie und Energie stattfindet, wurde diese Problematik nie behandelt. Nach t=0 gibt es dann keine solche Verletzung mehr. Indem sie die ursprüngliche Schöpfung vernachlässigen, verschließen die meisten Kosmologen ihre Augen vor der obigen Frage“ (J. Narlikar, The Structure of the Universe, 136f). 45 Grünbaum, Die Schöpfung als Scheinproblem, 167.

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letzung der Materie-Energie-Erhaltung zu t=0 im Urknall auf einen Schöpfer schließen lasse, resultiere aus der falschen Prämisse, dass alles eine Ursache haben muss. Grünbaum bemüht sich, den Fehlschluss logisch und physikalisch nachzuweisen und rekonstruiert dazu das Schöpfungsargument wie folgt: Ausgegangen wird von der Prämisse „Alles hat eine Ursache“, und zwar in dem Maß, wie man aus der alltäglichen oder wissenschaftlichen Erfahrung Ursachen zur Erklärung von Ereignissen annimmt. Daraus wird die Konklusion gezogen: „Das physikalische Universum als Ganzes hatte vor endlich langer Zeit seinen Beginn, und zwar als Resultat eines Schöpfungsaktes aus dem Nichts durch eine einzige, bewusste äußere URSACHE oder durch einen bewusst Handelnden. Und sodann wird behauptet, dass diese äußere Ursache oder dieser Schöpfer der persönliche Gott der biblischen theistischen Tradition ist.“46 Dieser Schluss sei aber ein dreifacher Fehlschluss, weil die Konklusion weder logisch noch induktiv noch metaphysisch aus der Prämisse folgt. Logisch unterscheidet sich der Ursachenbegriff der Konklusion deutlich von dem der Prämisse, da innerweltlich weder bei allen Fällen von Verursachung bewusst Handelnde involviert sind, noch überhaupt jemals etwas aus dem Nichts schaffen. Und selbst wenn beides der Fall wäre, würde nicht folgen, dass ein einziger bewusster Agent für den Anfangszustand des gesamten physikalischen Universums kausal benötigt würde. Aus allen Fällen, dass Wirkungen Ursachen erfordern, folgt induktiv nicht notwendig der Schluss auf das Ganze. Das wäre eine Verwechslung des Existenzquantors mit dem Allquantor. Aus „Alles hat eine Ursache“ folgt nicht, dass das All eine Ursache haben muss. Denn Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge gibt es nur in der Zeit und selbst wenn die Masse-Energie-Erhaltung universal gültig wäre (was man auch nur dogmatisch postulieren, nicht induktiv begründen könnte), müsste sie nicht für die ‚Zeit vor‘ der Zeit gelten. Würde man das Erhaltungsgesetz und das Kausalitätsprinzip metaphysisch auch fordern, wenn noch keine Zeit existierte, dann müssten sie schlechthin universal, also auch für Gott gelten. Denn wenn „einfach alles – das Universum als Ganzes eingeschlossen – eine Ursache hat, dem es entweder seinen Seinszustand oder sogar seine Existenz verdankt, dann müssen wir nach der Ursache des Seinszustandes von Gott oder sogar seiner Existenz fragen. Warum sollte Er eine nicht-verursachte Ursache sein?“47 Wenn man, statt weiter nach der Ursache Gottes zu fragen, abbricht, dann kann auch der Erklärungsabbruch, eine Schöpfung ex nihilo zu behaupten, nichts erklären. Denn die übernatürliche Kausalität eines höheren, alle menschlichen Möglichkeiten übersteigenden Wesens, wird als ganz andere Kausalität angeboten und dennoch als verständlicher Begriff behauptet. Eine Hypothese aber, die alles Begreifen übersteigt, erklärt nichts, sondern ist „einfach sinnlos“48. Anders gesagt: Wenn der Ursachenbegriff völlig äquivok gebraucht

————— 46 Ebd., 171. 47 Ebd., 176; schon Kant hat die Frage gestellt, warum Gott nicht sich selbst fragen sollte: „Woher bin ich?“ (KrV B 641) und B. Russell postulierte: „Wenn alles eine Ursache haben muss, dann muss auch Gott eine Ursache haben“ (Warum ich kein Christ bin, 20). 48 Ebd., 177.

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wird, besagt er nichts, wenn er aber univok gebraucht würde, würde er das nicht leisten können, was er leisten soll, nämlich die Schöpfung aus dem Nichts zu erklären.

Weder das Steady-state-Modell noch die Urknalltheorie erfordern nach Grünbaum eine Erklärung der Materieentstehung in einer äußeren, übernatürlichen Ursache. Denn die steady-state behauptet nicht außerweltliche Schöpfung, sondern natürliche Bildung von Materie, was nur physikalisch ausgeschlossen wäre, wenn man Materie-Erhaltung im kosmischen Maßstab dogmatisch postulierte. Eine universale Energie-Dichte-Erhaltung hingegen wäre damit verträglich. „Genau wie eine Theorie, die Materie-Erhaltung postuliert, Gott nicht braucht, um die erhaltene Materie von der Vernichtung abzuhalten, so braucht auch die ‚steady-state‘-Theorie überhaupt keinen göttlichen Handelnden, um die Entstehung neuen Wasserstoffes zu verursachen!“49 Und der Urknall ebenso wie die Erklärung der Weltentstehung aus einer Quantenfluktuation des Urvakuums erfordern nur dann eine äußere Ursache, wenn man mit Gründen eine Zeit vor t=0 annehmen könnte. Der physikalisch richtige Satz, dass zu t=0 der Existenzbeginn der Materie anzusetzen ist, wird bestritten, wenn man nach seiner Ursache fragt. Ohne einen zwingenden Grund zu haben, vor t=0 zurückzufragen, kann man sich nicht beklagen, das das Urknallmodell Fragen nicht beantworten kann, die auf mit dem Modell unverträglichen Annahmen beruhen. Die Frage, wie die Materie im Urknall entstand, postuliert ein Erhaltungsgesetz als natürlichen Zustand („ex nihilo nihil fit“) auch für davor und unterstellt, man könnte irgendwie sinnvoll von einer Nichtexistenz der Materie vorher reden. Dies Problem, eine Art Zeit vor der Zeit annehmen zu müssen, verfolgt, wie wir bei Ph. Quinn und besonders bei W. Craig sehen werden, alle Versuche, den physikalischen Weltanfang als Schöpfungsakt zu identifizieren oder gar den Schöpfer daraus zu beweisen. 2. Ph. Quinn bemüht sich gegen Grünbaum, dessen These, Schöpfung sei ein Pseudoproblem der Kosmologie, zurückzuweisen. Dazu definiert er den Ausdruck „Schöpfung“ wie folgt (Postulat P): Für alle x und t gilt, wenn x kontingent ist und zur Zeit t existiert, dass Gott wollte, dass x an t existiert, und x existierend an t hervorgebracht hat. Schöpfung hat in dieser metaphysischen Verursachungs- und Abhängigkeitsrelation die kausalen Eigenschaften der Totalität, der Exklusivität, der Aktivität, der Plötzlichkeit und der Notwendigkeit der Verursachung (totality, exclusivity, activity, immediacy, and necessity50). Der Schöpfungsakt ist ————— 49 50

Ebd., 183. Quinn, Creation, Conservation, and the Big Bang, 597.

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die einzige, hinreichende, tätige, unmittelbare und notwendig wirksame Ursache für die Entstehung von x an t. Er ist als creatio ex nihilo in dem Sinn verstanden, dass, wenn Gott existiert und er ein kontingentes Individuum will, dieses auch zu dem Augenblick hervorbringt, zu dem er es hervorbringen will. Dafür ist unerheblich, ob das Individuum x auch schon zu früheren Zeiten existierte, d.h. die Definition ist auch für die Erhaltung, verstanden als creatio continua, anwendbar, mit dem einzigen Unterschied, dass es hier vorausgehende Zeitpunkte gab, an denen x schon existierte. Der Akt der Schöpfung ist identisch mit dem Akt der Erhaltung als fortgesetzt wiederholte Schöpfung. So definiert Quinn: Definition D1 (Schöpfung): Gott erschafft x an t = def.: Gott will, dass x an t existiert, und bringt x existierend an t hervor, wobei es kein tƍ früher als t gibt, für das x an tƍ existierte. Definition D2 (Erhaltung): Gott erhält x an t = def.: Gott will, dass x an t existiert, und bringt x existierend an t hervor, wobei es einige tƍ früher als t gibt, für die x an tƍ existierte.

Quinn ist nun gegen Grünbaum der Ansicht, dass das Postulat im Sinne der Schöpfungsdefinition D1 auf den Urknall anwendbar ist, da hier bei t=0, also zu einem bestimmten, wenngleich ersten Zeitpunkt, eine Verletzung Materie-Energie-Erhaltung stattfand, das Universum also vorher nicht existierte, es m.a.W. kein früheres tƍ gab, an dem das All existierte, weil es gar kein früheres tƍ gab. Kann man aber, so fragen wir, sinnvoll eine Nichtexistenz vorher ausdrücken, wenn man nicht eine Art Vor-Zeit, zumindest eine Relation des ersten Zeitpunkts t=0 auf die Nichtexistenz vorher annimmt? Man kann nicht einmal die Frage, was vorher war, sinnvoll stellen, wenn es vor t=0 einfach keine Zeit gegeben hat. Kniffliger ist die Anwendung von Quinns Schöpfungspostulat auf einen zweiten Fall von Urknall-Modellen. Diese sog. Ohne-Grenzen-Modelle nehmen zwar die Dauer des Universums als endlichen Abschnitt von 13 Milliarden Jahren an, aber nicht einen ersten Zeitpunkt, sondern eine offene Zeit bei Annäherung an den Urknall. Darauf hält Quinn zwar nicht das Postulat im Sinne der Definition 1 (Schöpfung) für anwendbar, weil kein erster Zeitpunkt existierte, wohl aber die Definition 2 (Erhaltung), da er die in die Vergangenheit nicht abgegrenzte, sondern offene Zeit, als Zeit vor der Zeit, interpretiert.51 Das aber ist falsch. Denn auch im Ohne-GrenzenModell gibt es keine Zeit vor t=0, da es „überhaupt keinen ersten ZeitMoment“ gibt, wie Grünbaum mit Recht dagegen hält.52 ————— 51 52

Ebd., 600f. Grünbaum, Die Schöpfung als Scheinproblem, 187.

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Strittig zwischen Quinn und Grünbaum ist auch die Definition von Erhaltung als ständige Schöpfung. Eventuell wäre, wenn die Welt und damit die Zeit schon existiert, Schöpfung im Sinne der Definition 2 möglich. Es wäre zwar metaphysisch aufwendig, die Welt hypothetisch aus der Zeit wieder weg zu nehmen, die doch erst mit ihr besteht. Die Erhaltung des Weltganzen ist mit Definition 2 nur schwer zu beschreiben, weil sie Weltzeit voraussetzt. Aber angenommen, die Definition wäre verständlich, trifft sie auch zu? Grünbaum hat gegen das Postulat der Erhaltung eingewandt, dass nach neuzeitlicher Physik „Erhaltung“ keine Intervention einer äußeren Ursache erfordere.53 Dies hat Quinn zugestanden, aber zugleich geltend gemacht, dass physikalische Selbsterhaltung nicht Gott als Erhalter ausschließt, sofern die „divine causality“ als „perpetual immediate influence“ gedacht werde. Ein geschlossenes physikalisches System sie nicht isoliert gegen „divine influence“, das es keinen empirischen Beweis dafür gibt, dass natürliche Systeme, wenn sie physikalisch geschlossen sind, auch gegen göttlich Erhaltung geschlossen sind.54 Dagegen kann man mit Grünbaum die These setzen, dass die physikalische Geschlossenheit kausal hinreichend ist für Materie-Energie-Erhaltung,55 also eine göttliche Erhaltung jedenfalls nicht zusätzlich nötig ist. Der Theist hingegen behauptet, dass die Materie-EnergieSumme in jedem Moment eines Aktes Gottes bedarf, so dass physikalische Erhaltung nicht kausal hinreichend sei: „divine conserving activity is causally necessary for the conservation of matter-energy even in physically closed systems“56. Erhaltung, so Quinn, sei theistisch und naturalistisch interpretierbar, aber es existierten jedenfalls keine empirischen Gründe gegen die theistische Interpretation, so dass Grünbaums folgernde These, die Unmöglichkeit, den physikalischen Weltanfang als Schöpfung zu interpretieren, sei eine Bestärkung des Atheismus, und nicht er, sondern der „divine creationism“ müsse die Kosmologie fürchten,57 nicht haltbar sei.

3. Ähnlich hat auch L. Krüger gegen Grünbaums Antwort auf Quinn eingewandt, dass mit der Zurückweisung der Position, die unerklärliche Herkunft der Materie-Energie-Entstehung im Urknall im Sinne einer göttlichen Verursachung als einer externen Ursache zu interpretieren, zwar mit Grünbaum erstens der Atheismus vom Urknall nichts zu fürchten hat, aber gegen Grünbaum zweitens der Schöpfungsglaube umgekehrt auch nichts von der Kosmologie zu fürchten hat.58 Das Versagen der Deutung des Urknalls als Schöpfung spricht nach Krüger weder für noch gegen den Atheismus, da kein logisch notwendiger Zusammenhang zwischen physikalischer Theorie und theologischem Denken besteht. Der Urknall ist „locically incompatible“ mit der Lehre von der „divine creatio continuans“, da weder in der Steady-state- noch in der Urknall-Theorie eine äußere kausale Instanz not————— 53 Ebd., 170. 54 Quinn, Creation, Conservation, and the Big Bang, 603. 55 Grünbaum, Origin versus Creation in Physical Cosmology, 245, als Antwort auf Quinn: „the physical closure of this universe is causally sufficient for the conservation of its mass-energy-content.“ 56 Quinn, Creation, Conservation, and the Big Bang, 603. 57 Grünbaum, Origin versus Creation, 221. 58 Krüger, Comment on Origin versus Creation, 255.

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wendig bzw. die Theorie mit Grünbaum „causal sufficient“ ist. Problematisch wird es nur, wenn Grünbaum, so unterstellt Krüger, kausal suffizient als explanatorische Selbstsuffizienz versteht. Denn keine physikalische (oder sonstige) Theorie ist explanatorisch selbstsuffizient. Jede Erklärung kann durch andere ergänzt oder ersetzt werden. (Hierzu braucht nur auf die Duhem-Quine-These der Unterbesimmtheit von Hypothesen verwiesen werden, nach der ein Datenbestand mit beliebig vielen verschiedenen Hypothesen verträglich ist, wenn man nur entsprechende, evtl. drastische oder wenig plausible Anpassungen in anderen Teilen der Theorie vorzunehmen bereit ist.59) Ein essentialistisches Verständnis kausaler Suffizienz ist inadäquat in der Naturphilosophie. Eine Kausalerklärung ist noch lange kein Kausalgesetz, das Kausalprinzip keine Realkategorie der Natur, sondern eine Erklärungskategorie, und keine Kausalursache ist letztursächlich und ontologisch fundamental. Wie soll man physikalisch je behaupten können, die vollständige Ursächlichkeit auch nur eines einzigen Vorgangs aufgeschlüsselt zu haben? Die Physik erhebt keine Letzterklärungen, sondern verbleibt innerhalb der ihr durch ihre Modelle selbst gesetzten Grenzen. Die kausale Suffizienz des Urknalls für die letztlich unerklärliche Materie-Energie-Herkunft schließt eine göttliche Kausalität für denselben Vorgang nicht aus, sofern man verstehbar sagen kann, was mit göttlicher Kausalität gemeint sein soll und wie sie auf den Weltanfang bezogen werden kann. Man muss mindestens eine logisch mögliche Kompatibilität der beiden Kausalbegriffe herstellen. Auf der anderen Seite gilt aber, dass es, die metaphysischen Erklärungen als Letzterklärungen anzusehen, ebenfalls bedeutet, den Ursachen essentialistischen Letztstatus zuzuschreiben. Das ist dann der Fall, wenn man den Weltanfang zwingend als Schöpfungsakt und Beweis für den Schöpfer ansehen will, wie es W. Craig unternimmt. Sein Argument, das wir jetzt diskutieren wollen, zieht nur unter der Voraussetzung eines bestimmten, essentialistischen Zeitverständnisses.

5.4 Anfanglose und ursachlose Welt? 1. W. Craigs in zahlreichen Arbeiten in allen Details vorgebrachtes und verteidigtes Argument ist eine besondere Spielart des kosmologischen Beweises, das auf die islamischen Theologen des Mittelalters wie Al Kindi und Al Gazhali zurückgeht und darum Kalam-Argument genannt wird.60 Es ————— 59 Vgl. hierzu M. Carrier, Wissenschaftstheorie, 95. 60 Vgl. Craig, The Kalam Cosmological Argument, 19–49; E. Behler, Die Ewigkeit der Welt, 149ff.

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läuft daraus hinaus, die Unmöglichkeit einer anfanglosen Welt aus der Unmöglichkeit eines aktual Unendlichen zu begründen. Das Argument ist zwar geistreich und suggestiv, besonders in den veranschaulichenden Beispielen, aber sachlich schwach bis falsch.61 Craig hat seine viel zu hohen Voraussetzungen jedoch nicht sehen wollen oder können.62 Das Argument basiert auf der Prämisse, dass ein aktual Unendliches nicht existieren kann. Da zweitens eine unendliche Reihe ohne Anfang von Ereignissen in der Zeit ein aktual Unendliches sei, folge drittens, dass eine unendliche Reihe ohne Anfang von Ereignissen in der Zeit nicht existieren kann, die Welt mithin einen Anfang gehabt haben muss.63 Die Prämisse wird aus der Mächtigkeit unendlicher Mengen begründet, für die, sofern sie eine unendliche Anzahl gleich mächtiger Teilmengen umfasst, gilt, dass das Ganze nicht größer, sondern ebenso groß wie jeder der Teile ist. Die Menge der ganzen Zahlen z.B. ist nicht größer als die Menge aller geraden Zahlen etc. Sobald man die Verhältnisse der aktual unendlichen Mengen auf Mengen endlicher Gegenstände anwendet, kommt man zu den hübschen suggestiven Absurditäten wie der, dass man in ein voll belegtes Hotel mit unendlich vielen Zimmern noch einmal und beliebig (unendlich) oft unendlich viele Gäste unterbringen kann, wenn man jeden Gast in das Zimmer mit der doppelten Nummer umziehen lässt. Folgt aber, so Craigs Schluss, daraus, dass es in der endlichen Welt keine aktual unendliche Menge endlicher Gegenstände geben kann, auch, dass die Zeit keine unendlich lange Dauer durchschritten haben kann? Das wäre nur der Fall, wenn die Zeit analog den natürlichen Zahlen aus diskreten Einheiten zusammengesetzt wäre. In der Tat könnte es, so Craig richtig, keinen heutigen Tag geben, wenn man dafür eine unendliche Zahl von früheren Tagen hätte durchschreiten müssen, denn der heutige Tag als aktual unendliches Zeitglied wäre identisch mit allen vorigen und folgenden Tagen. Eine tatsächlich unendlich durchschrittene Tagesfolge hätte kein definiertes Heute, man könnte gar nicht zum gegenwärtigen Zeitpunkt gelangt sein, weil das aktual Unendliche nicht ein einzelnes Glied einer unendlichen Menge sein kann. Eine unendliche Menge ist nur als Ganze (aktual) unendlich, beim Abzählen einzelner Glieder ist sie nur potentiell unendlich. Die Frage ist aber, so unser Einwand, ob man die Zeit als eine durchschrittene Folge identisch gleich großer Zeitintervalle ansehen muss.

Erstens unterstellt das Argument, man habe nicht eine unendliche Dauer tatsächlich durchschreiten können, dass es eine Art realen Unendlichkeits————— 61 Gegen Craig vgl. Q. Smith, Infinity and the Past; ders., The Uncaused Beginning of the Universe; R. Prevost, Classical Theism and the Kalam Principle. 62 Dies gilt leider auch für T. Dennebaum, Kein Raum mehr für Gott? Wissenschaftlicher Naturalismus und christlicher Schöpfungsglaube, der 137–150 Craigs Kalam-Argument referiert, ohne auf die kritischen Gegeneinwände noch auch nur auf die direkte Diskussion einzugehen. 63 So schon Kant in seinem Beweis gegen die These, die Welt habe einen Anfang in der Zeit: hätte die Welt keinen Anfang in der Zeit, wäre „eine unendliche Reihe auf einander folgender Zustände“ verflossen. Die Unendlichkeit einer Reihe kann aber „durch sukzessive Synthesis niemals vollendet sein“ (Kant, Krv B 456); ähnlich schon Philoponos gegen Simplicius resp. Aristoteles, vgl. oben I.2.6.

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punkt gab, von dem die Reihe ausging. Das wäre aber nur bei einer endlichen Reihe der Fall, so dass Craigs Argument in der Widerlegung des Einwands schon die Konklusion voraussetzt. Wenn es überhaupt keinen Anfangspunkt der Zeit gab, so Mackies Einwand gegen Craig, kann man auch nicht erwarten, dass eine tatsächlich unendliche Reihe bis heute durchschritten worden sein muss. Ein anfangloses Universum, so auch S. Hawking, würde „einfach SEIN“64 – ohne rückzählbaren Anfang. Man hat keinen Anlass, „die Möglichkeit einer unbegrenzten Vergangenheit a priori auszuschließen“65. Für eine aktual unendliche Reihe ohne Anfang, aber mit einem vorläufigen Ende heute, gilt nicht, dass die Summe größer als jeder ihrer Teile ist. Craig hat diesen Einwand nicht akzeptiert, weil für ihn, der die Zeitdauer zählen können will, natürlich t + 1 immer um einen Tag größer als t ist. Er hat die Behauptung, dass das Axiom „Das Ganze ist größer als sein Teil“ für die Zeit gelten muss, an einer Absurdität illustriert, die auf Al Gazhali zurückgeht. Obwohl der Jupiter knapp dreimal solange wie die Erde für eine Umlaufbahn braucht, hätten beide bei unendlich langer Zeit dennoch genauso viele Umläufe vollendet. Die Absurdität entsteht jedoch nur, wenn man ins Unendliche auszählt und die beiden Umlaufzahlen als quasi endliche miteinander vergleicht. Unendliche Mengen sind aber, so richtig dagegen Mackie, nicht größer oder kleiner gegeneinander, wie die Reihe der geraden Zahlen nicht halb so viel Elemente wie die ganzen Zahlen hat, sondern genauso viel, jedoch nicht als Zahl, sondern als unendliche Menge. Das Unendliche ist keine Kardinalzahl, daher hat die unendliche Zeit keine als Zahl angebbare Dauer. Die Welt hat eine endliche Dauer von jedem Zeitpunkt der Vergangenheit an berechnet, aber dass sie insgesamt eine endliche Zeit existiert habe, setzt schon die Annahme voraus, sie habe einen Anfang gehabt. Gott aber hätte, wie schon Thomas gegen die Aristoteliker zugeben musste, die Welt auch ohne Anfang schaffen können, so dass nicht einmal der Schöpfungsgedanke notwendig auf die zeitliche Endlichkeit schließen lässt.66 Die Geschöpflichkeit der Welt vorausgesetzt, ist zwar ihre zeitliche Endlichkeit intuitiv plausibler, weil der Schöpfungsakt als Anfang leichter vorstellbar ist als ein ewiger Akt. Aber weder widerspricht eine unbegrenzte Schöpfungszeit der Kontingenz der Schöpfungsaktes, noch erfordert die Zeitreihe der Welt als Ganzer einen Anfang. Das wäre zweitens nur der Fall, wenn man mit Craig Zeit definierte als Folge von Gliedern, die eines nach dem anderen addiert wird. Eine solche Folge kann tatsäch-

————— 64 Hawking, Eine kurze Geschichte der Zeit, 173. 65 Mackie, Das Wunder des Theismus, 149. 66 Thomas, STh I, qu.46, a.2; hierzu vgl. Pannenberg, ST 2, 174–176; Antweiler, Die Anfangslosigkeit der Welt nach Thomas von Aquin und Kant, 73–81.

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lich nicht bis ins aktual Unendliche gebildet werden (weil ein potentiell Unendliches nie aktualisiert werden kann), daher kann die Zeit nicht als Summe diskreter Zeitatome unendlich sein. Hier wird unterstellt, dass Zeit überhaupt mit der an periodischen Vorgängen abgelesenen Zeitdauer identisch ist, und dass die Zeitatome seit Beginn des Universums immer und überall die identische Ausdehnung hatten. Die in der speziellen Relativitätstheorie abgeleitete Relativität der Zeitdauer sollte davor warnen, eine absolute Zeit fürs Universum ohne Bezug auf die konkrete Vorgänge und Bezugssysteme zu reklamieren. Wie wir gleich zeigen wollen, gilt die Relativität der Zeitdauer auch für die Zeit seit dem Urknall, so dass nicht einmal die Weltdauer von 15 Milliarden Jahren „einen absoluten Anfang“67 der Welt beweist. Die Welt muss nur unter Voraussetzung eines Atomismus der Zeit und der sukzessive durchschrittenen Zeitdauer seit einem Anfang einen Anfang gehabt haben. Schon Aristoteles hat die Anfangslosigkeit der Zeit mit dem Kontinuum von Zeit und Bewegung begründet, während die Zenonschen Paradoxien aus der Diskretisierung der Zeit resultieren. Wenn man den Fluss und die Einheit der Bewegung teilt in durchlaufene Raumstücke und dafür benötigte Zeitstücke, erreicht Achill die Schildkröte nie. Wird hingegen die Raumstrecke in ungeteilter Bewegung durchlaufen, überholt Achill die Schildkröte in einem Zug. Die wahre Dauer (durée reelle), wie Bergson sagt, und der Akt der Bewegung sind unteilbar, sie bilden ein Ganzes und sind daher auch nicht in sukzessiven Schritten, sondern nur durch einen unmittelbaren, intuitiven, unteilbaren Akt erfassbar. „Die wahre Dauer, wie sie das Bewusstsein unmittelbar perzipiert […] [ist] in Wahrheit […] überhaupt keine Quantität, und sobald man sie zu messen versucht, substituiert man ihr unbewusst Raum.“68 Die Zeit ist gegen Craig ein Kontinuum, keine Folge von diskreten Atomen, der man allerdings ein Maß und damit Dauer aufprägen kann. Da wir uns immer schon in diesem Ganzen, im Zeitfluss, befinden, ist ein Anfang nur unter theoretischer oder praktischer Setzung eines Anfangs, sei es aus metaphysischen, empirischen oder pragmatischen Gründen, gegeben. Nur wenn man die gesetzte Zeitdauer essentialistisch überhöht zur Zeit an sich und dazu ein atomistisches Ticken unterstellt, erfordert Zeit notwendig einen initialen Anfang.

2. Einwand Mackie: Ob man daraus, dass man einen Anfang der Welt nicht aus der Struktur der Zeit begründen kann, allerdings schließen muss, dass die Welt eine unverursachte Existenz hat, so Mackie, ist eine andere Sache. Die Behauptung, „dass wir zweifellos den Begriff eines unverursachten Existenzbeginns von irgend etwas bilden können“69 und uns dies auch noch „so vorstellen“ können, gilt wohl nur, wenn entweder „Verursachung“ oder „Beginn“ uneigentlich verwendet werden. Einen unverursachten Existenzbeginn können wir uns eher schwer vorstellen. Die spontane Entstehung von Dingen, die „durch nichts verursacht, einfach entstehen“70, heißt doch eher, dass uns die Ursache unbekannt ist, als dass es dogmatisch keine gibt. ————— 67 W. Craig, Die Existenz Gottes, 74. 68 H. Bergson, Zeit und Freiheit, 82. 69 Mackie, Das Wunder des Theismus, 143; vgl. Smith, The Uncaused Beginning of the Universe. 70 Mackie, Das Wunder des Theismus, 150.

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Das metaphysische Axiom „ex nihilo nihil fit“ durch sein Gegenteil zu ersetzen, ist keine Lösung. Wenn man keine letzten Ursachen kennen kann, kann man auch keine definitive Nicht-Verursachung behaupten. Die „Annahme eines ‚spontanen‘ Entstehens oder einer statistischen Schwankung innerhalb eines umfassenderen, schlicht da-seienden Möglichkeitsraumes“ ist keine gleichwertige „Alternative“ zur creatio ex nihilo durch Gott, wie D. Evers meint,71 sondern bewegt sich in einem logisch unabhängigen Theorierahmen. Ob man einen unverursachten Existenzbeginn der Welt, sei es als spontanen oder ewigen Anfang, annehmen kann und will, ist eine metaphysische Frage, deren Preis und Ertrag zweitens in die Rechnung mit einkalkuliert werden muss. Die Frage ist hier nicht, ob man einen solchen Begriff denken kann, sondern was aus ihm folgt. Ein rein spontanes Entstehen der Welt aus dem Nichts würde nicht erklären, weshalb das so Entstandene nicht selbst völlig flüchtig, sondern mit der Kraft der Selbsterhaltung ausgestattet ist, und auch nicht, weshalb nicht innerhalb der Welt hier und da spontan selbständige Weltblasen entstehen.72 Nimmt man eine häufigere spontane Weltbildung an, also ein Multiversum, dann wäre die Entstehung nur spontan in Bezug auf eine a priori Wahrscheinlichkeit aus einem Möglichkeitsraum. Ein Möglichkeitsraum ist aber immer bezogen auf etwas, was die Möglichkeiten in Wirklichkeiten überführen kann, ist also nicht einfach schlicht da. „Das Mögliche ist nicht etwas an sich Gegebenes […], sondern wird […] durch das Vermögen, es hervorzubringen, in seinem Möglichsein konstituiert.“73 Eine unversursachte Existenz – drittens – im Sinne eines ewigen Anfangs wurde klassisch mit dem Begriff des nicht von anderswoher verursachten, sondern selbstursächlichen Seins belegt: causa sui. Ohne auf die Entwicklung des Begriffs durch die Geschichte der Metaphysik und seine Differenzen bei Plotin, Spinoza, Hegel u.a. eingehen zu müssen, heißt causa sui im stärksten Fall reine Notwendigkeit, was die Kontingenz der Welt völlig vernichten und die selbstursächliche Welt zum zureichenden Grund für alles, was ist, machen würde. Sie wäre als natura naturans identisch mit dem notwendigen Wesen Gottes. Mackies Behauptung der unverursachten Weltexistenz will aber gerade das Prinzip des zureichenden Grundes umgehen und keinen letzten Grund, auch keinen zureichenden Selbstgrund annehmen. Im schwächeren Fall hieße causa sui, etwas ist „Ursache seiner selbst und frei, weil es sich will, wie es ist, und weil es ist, wie es sich will“74. Die Entstehung wäre dann keine spontan-zufällige Quantenfluktuation, sondern eine absichtliche. Die Welt wäre aus innerer Notwendigkeit ihrer selbst, sprich aus Freiheit entstanden. Die Welt wäre mit intentionaler Selbstbezüglichkeit ausgestattet, also ein geistiges Wesen, was aber ebenfalls der naturalistischen Position Mackies widerspricht, der die Absichtslosigkeit der kausalen Naturprozesse annimmt.

————— 71 Evers, Raum – Materie – Zeit, 257. 72 Spekulativ angenommen von A. Linde, A. Guth u.a., vgl. A. Strominger, Baby universes; P. Davies, Der Plan Gottes, 80–83. 73 B. Weissmahr, Ontologie, 147. 74 P. Hadot, Art. Causa sui, HWPh, 976, mit Bezug auf Plotin und Mario Victorinus.

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Ein unverursachter Existenzbeginn ist also gerade von einem naturalistischen Standpunkt aus, der auf eine höhere Ursache verzichten will, widersprüchlich bis unsinnig. Wenn die Welt physikalisch begründet einen Anfang hat, dann kann man einen unverursachten Existenzbeginn nur als Grenzbegriff oder als offene Frage formulieren. Die Selbsterzeugung der Welt als Materieerzeugung „aus sich selbst heraus“ muss man als „kosmologischen Münchhausen-Effekt“ bezeichnen.75 Die Weltenstehung als Selbsterzeugung stellt eine schlichtweg unverstehbare und unerklärliche causa sui dar, da die Welt sich mit allem, was sie ist, inklusive den diese Hervorbringung und die nachfolgende Entwicklung steuernden Gesetzen, „buchstäblich aus dem Nichts“76 generieren müsste. 3. Aber auch physikalisch ist die Rede vom Weltanfang nicht ohne Probleme. Dass man den Urknall nicht als zeitlichen Anfang, genauer nicht als quasizeitlicher Anfang in einer dem Anfang vorauslaufenden Art leeren Zeit verstehen kann, aber auch nicht als zeitlichen Anfang im Sinn eines quantitativen Anfangs- oder Nullpunktes, ergibt sich aus dem Standardmodell selbst. Der Anfang des Universums im Urknall ist kein Nullpunkt der Zeit, sondern eine Singularität der Raum-Zeit, bei der diese zusammenbricht. Man kann zwar beliebig nahe an den Nullpunkt herankommen, so dass man ein Weltalter berechnen kann, indem man die gegenwärtige Expansionsrate zurückextrapoliert und den ersten theoretisierbaren Zeitmoment, z.B. die Planckzeit von 10-43 s rückwirkend auf einen gesetzten Anfang bezieht. Der Nullpunkt selbst gehört aber weder theoretisch noch empirisch zur Zeit dazu. Unter 10-43 s „verlieren Raum und Zeit ihre üblichen Eigenschaften. Räumliche und zeitliche Komponenten gehen statistisch durcheinander, sodass wir nicht mehr von einer Zeitrichtung sprechen können. Nicht nur die Frage nach dem, was vor dem Urknall war, wird damit sinnlos, sondern schon vor Erreichen des Zeitnullpunkts wird der Zeitbegriff außer Kraft gesetzt.“77 Theoretisch haben wir vom Urknall keine definierte Vorstellung. Die Geschichte des Universums von 10-6 s bis heute (15 Milliarden Jahre) kann aus den Beobachtungsdaten mithilfe von im Labor gut bestätigten Theorien beschrieben werden. Bis 10-6 s kann man sich mit der Extrapolation bestätigter Theorien behelfen. Davor hat man höchstens „eine theoretische Phy————— 75 J. Audretsch, Physikalische Kosmologie II: Das inflationäre Universum und der kosmologische Münchhausen-Effekt, 105; P. Davies, Gott und die moderne Physik, 73. 76 P. Davies, Die Urkraft, 263: „Der kosmische Münchhausen kommt dem theologischen Konzept der Schöpfung aus dem Nichts sehr nahe“ – aber nur, wenn man den Schöpfer mit dem Nichts identifiziert! 77 V. Weidemann, Die Kosmologie und ihre Modelle – Voraussetzungen und Hinterfragung, 42f.

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sik ohne empirische Basis. Es handelt sich also um nichts anderes als mathematisch sauber und widerspruchsfrei formulierte Spekulationen.“78 Vor der Planck-Mauer wären Raum und Zeit zu quantisieren, wofür es noch keine in sich widerspruchsfrei formulierte Theorie gibt. Der Urknall taucht nur als Rand, als Grenze auf.79 „Ein Urknall als Singularität der Raum-Zeit, in der die Raum-Zeit vierdimensional punktuell entstanden ist, ist eine Vorstellung, die wir aufgeben müssen. Es ist vielmehr so, dass unser Blick zurück in Spekulationen endet.“80 Ebenso ist die Frage nach der Herkunft der Materie physikalisch nicht beantwortbar. Die physikalische Kosmologie setzt erst da an, wo schon etwas da ist. Auch ein Quantenvakuum, als dessen spontaner Symmetriebruch der Urknall betrachtet werden kann, ist schon etwas, nämlich Struktur- und Möglichkeitsraum.81 Dass der Urknall nicht als definiter Punkt des Zeitanfangs angesehen werden kann, ergibt sich auch, wenn man genauer studiert, was mit der Urknallsingularität gemeint sein soll. Sowohl theoretisch als auch empirisch ist der Zeitanfang schwer zu fassen, es gibt aber eine Analogie in innerweltlichen Raum-Zeit-Singularitäten, den sog. Schwarzen Löchern. Schwarze Löcher konnte R. Penrose erstmals 1965 theoretisch beschreiben und aus den Einsteinschen Feldgleichungen einige fundamentale Sätze ableiten. St. Hawking gelang es, Penroses Theoreme auf den Urknall anzuwenden und als Raum-ZeitSingularität zu deuten. Wie Sternysteme oberhalb einer kritischen Masse, der Chandrasekar-Grenze von 1,4 Sonnenmassen, einem Gravitationskollaps unterworfen sind, bei dem die Raum-Zeit-Linie der Eigenzeit in einer Singularität endet, so muss ein nach den Friedmannschen Lösungen expandierendes Universum in einer Singularität begonnen haben. Eines der Theoreme, die Penrose ableiten konnte, das Theorem der kosmischen Zensur,82 besagt, das die singulären Punkte tatsächlich wie Löcher in der Raumzeit anzusehen sind, die ohne Verbindung zu ihrem eigenen Zukunftslichtkegel sind. Die Singularitäten sind äußeren Beobachtern verborgen. In ihnen enden nur Raum-ZeitLinien, aber beginnen keine. Es gibt keine ‚nackten‘ Singularitäten, sondern die schwarzen Löcher sind durch einen Ereignishorizont nach außen abgeschirmt. Schwarze Löcher liegen für die gesamte Umgebung immer in der Zukunft, nie in der Vergangenheit. Man kommt, salopp gesagt, nur hinein, nie wieder heraus. Interessanterweise ist es nun aber so, wie man zeigen kann, dass die Lichtstrahlen, die ein kollabierender Stern aussendet, je näher er dem kritischen sog. Schwarzschildradius

————— 78 Audretsch, Kosmologie und Kreativität, 36. 79 Vgl. Kanitscheider, Kosmologie, 443; Audretsch, Physikalische Kosmologie I: Das Standardmodell, 81. 80 Audretsch, Kosmologie und Kreativität, 36. 81 Vgl. C.J. Isham, Creation of the Universe as a Quantum Process. 82 Vgl. Penrose/Hawking, Raum und Zeit, 33; Hawking, Eine kurze Geschichte der Zeit, 116ff.

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kommt, innerhalb dem keine Strahlen mehr nach außen dringen können, immer länger braucht, um zu einem äußeren Beobachter zu gelangen. Die Lichtstrahlen, die vom Ereignishorizont aus ausgesandt werden, erreichen den Beobachter erst nach unendlich langer Zeit.83

Interpretiert man die Urknallsingularität als umgekehrtes schwarzes Loch, hieße dies, dass die Zeit, die ein ausgesandter Lichtstrahl bis heute braucht, je näher man dem Nullpunkt kommt, ins Unendliche gedehnt wird. Die Welt hat also nur dann das Alter von 15 Milliarden, wenn man die Zeitdilatation gegen den Anfang hin vernachlässigt. Sie ist so alt für einen rückwärts in der Zeit mitlaufenden Beobachter, bevor er im Ereignishorizont verschwindet. Seine letzten ausgesandten Lichtstrahlen dehnen sich aber bis zu uns ins Unendliche. Man kann also ebenso sagen, die Welt habe ein endliches Alter, als wie, sie ist unendlich alt. Es hängt vom Standpunkt ab, von dem man das Alter bemisst.84 Daraus ergibt sich die überraschende These, dass physikalisch betrachtet der zeitlich endliche Beginn des Universums äquivalent ist zu einem sich in der Nähe des Anfangs zu unendlicher Zeit dehnenden Anfang. Wenn diese Überlegung richtig ist, dann ist das im Urknall zu existieren begonnen habende Universum äquivalent zu einem Universum ewigen Anfangs zu betrachten.85 Das Universum hat nach dieser Interpretation des Standardmodells keinen Anfangszeitpunkt, obwohl es einen Anfang hat. Der Anfang ist kein definiter Zeitpunkt, sondern eine verschwindende Zeitlinie.

5.5 Die theologische Rede von der Schöpfung als Anfang 1. Weltanfang als Anfang der Schöpfung: Aus den qualitativen physikalischen Überlegungen folgt, dass der naturwissenschaftlich datierbare Weltanfang theologisch zwar nicht als erster Zeitpunkt des Schöpfungsaktes, wohl aber als Anfang der Schöpfung gedeutet werden kann. Dieser Anfang ist, als Zeitpunkt und Dauer, quantitativ unbestimmt. Er ist einem ewigen Anfang äquivalent. Wegen der Äquivalenz des Urknalls als initialem resp. ewigem Anfang kann man weder sagen, Gott habe die Welt in einer Zeit, ————— 83 Vgl. die Rechnung und Illustration bei R. u. H. Sexl, Weiße Zwerge – schwarze Löcher, 74–77; Hawking, Eine kurze Geschichte der Zeit, 114f. 84 Grundsätzliches zur Bezogenheit der Kosmologie auf den kosmologischen Standpunkt s. II.6.3 85 Auch das anfanglose Hawkingsche Ohne-Grenzen-Universum ist äquivalent zu einem ewigen Anfang, da seine Raumzeit zwar endlich, aber in sich zurücklaufend, also grenzenlos ist, vgl. R.J. Russell, Finite Creation Without a Beginning. The Doctrine of Creation in Relation to Big Bang and Quantum Cosmologies; C.J. Isham, Quantum Theories of the Creation of the Universe; Q. Smith, The Wave Function of a Godless Universe.

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sei es einer vorgeschöpflichen idealen oder der realen Universumszeit, geschaffen, noch dies habe sich zu einem definiten, auf der Zeitachse absolut aufsuchbaren Zeitpunkt 0 ereignet. Die Unbestimmtheit des Anfangs befreit die Theologie davon, einen empirisch fixierbaren Zeitpunkt als Schöpfungsakt angeben zu müssen, und auch davor, dem Schöpfungsakt selbst eine weltzeitliche Dauer zulegen zu müssen. Die kosmische Zeit des Standardmodells unterscheidet sich wegen der Relativität der Perspektiven auf den Anfangspunkt grundlegend vom vorneuzeitlichen, aber auch vom neuzeitlichen Zeitverständnis. Die Zeit hat einen Anfang, der kein Beginn ist. Weder ist die Zeit ewig, noch geht der Weltzeit eine anfanglose leere Zeit voraus, so dass in dieser, wie in den Kantschen Antinomien vorausgesetzt,86 der Weltbeginn gesetzt wird, noch ist der Anfang ein punktueller Beginn. Es wird nicht der Startschuss gegeben und dann läuft die Zeit wie eine Atomuhr, sondern die Zeit selbst und ihr Verlauf entwickelt sich aus dem Singularitäts-Anfang heraus. Die Zeit wird also mit dem „Urknall“, ohne dass wir wissen, wie (weshalb Urknall nur eine Metapher darstellt, da eine Explosion umgebenden Raum und Zeit voraussetzen würde). Der Anfang meint das anfängliche Werden von Zeit und Raum. Es wird die Zeit als Fluss und ebenso der Raum und nicht nur Dauer und Ausdehnung konstituiert. Die Welt ist also mit der Zeit entstanden, so dass man mit Augustin sagen kann, sie sei cum tempore und nicht in tempore erschaffen,87 oder noch treffender mit Bonaventura, die Welt sei aus der Zeit (ex tempore) erschaffen. „Das gesamte Gefüge der Welt wurde ex tempore, aus Nichts, von dem einen und einzigen, höchsten und ersten Ursprung ins Sein gesetzt.“88 Diese der Rede von der creatio ex nihilo nachgebildete, schwer ins Deutsche übersetzbare Formel, versteht die Zeit resp. das Nichts natürlich nicht als die amorphe Masse, aus der heraus alles geschaffen wurde, sondern als Ausschließlichkeitspartikel.89 Das ex tempore schließt für Bonaventura die Ewigkeit der Zeit aus wie das ex nihilo die Ewigkeit der Materie ausschließt. Damit ist nicht nur gemeint, dass Gott die Welt als zeitliche und endliche geschaffen hat, sondern auch, dass dies aus der Nichtzeit heraus geschah. Als noch keine Zeit war, als bloß Nichtzeit war, wurde Zeit, könn————— 86 Der Beweis gegen die Antithese, die Welt habe keinen Anfang in der Zeit, lautet: „Da der Anfang ein Dasein ist, wovor eine Zeit vorhergeht, darin das Ding nicht ist, so muss eine Zeit vorhergegangen sein, darin die Welt nicht war, d.i. eine leere Zeit“ (Kant, KrV B 457); die Augustinische Alternative, „wonach mit dem ersten Ereignis auch die Raumzeit selbst entstanden sein könnte“ (Kanitscheider, Kosmologie, 440), diskutiert Kant gar nicht. Anfang setzt bei ihm, wie auch bei Craig, eine vorausgehende, mindestens leere Zeit voraus. 87 Augustinus, De civitate Dei, XI.6, Bd. 2, BKV 16, 151. 88 Bonaventura, Breviloquium, 78. 89 Zur systematischen Analyse der Formel vgl. Wölfel, Welt als Schöpfung, 27ff.

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te man den Weltanfang als Schöpfungsakt erzählen. Zwar ist die moderne Kosmologie relativ spröde gegen eine schöpfungsmythische Erzählung, weil sie nur ein vorgängiges Nichts, also tatsächlich nichts als Davor anzunehmen gestattet, aber wenn man den Weltanfang als Ursprungsakt erzählen wollte, könnte man in Anlehnung an den negativen Anfang von Gen 2,4bff so anheben: „Am Anfang war das Nichts, weder Zeit noch Raum, weder Sterne noch Planeten, weder Gestein noch Pflanzen, Tiere und Menschen. Alles entstand aus dem Nichts, zuerst ein sehr heißes Plasma aus Quarks, Elektronen und anderen Teilchen, zusammen mit Raum und Zeit. Schnell kühlte dieses Plasma ab; es bildeten sich Protonen, Neutronen, Atomkerne, Atome, Sterne, Galaxien und Planeten. Schließlich entstand das Leben […]“90 Der Weltanfang markiert eine Grenze des Wissens und einen Rand der Welt. Und auch wenn sich in bestimmter Perspektive in der Nähe des Anfangs die Zeit ins Unbegrenzte dehnt, so ist „mit dem Anfang auch eine Grenze gesetzt, mit der aber die Weltzeit nicht an eine ihr vorausgehende Zeit, sondern an die Ewigkeit grenzt“91 – an die die Ewigkeit der Welt ausschließende Ewigkeit Gottes.92 Theologisch positiv bezeichnet das ex tempore wie das ex nihilo seit jeher die Fülle Gottes, aus der heraus allein die Welt geschaffen wurde.93 Die Zeit ist, theologisch positiv gesagt, aus der Ewigkeit Gottes heraus geschaffen und der Raum aus der göttlichen Allgegenwart heraus, und zwar so, dass Gott sich in einem von ihm aus gesehen ewigen Akt der Schöpfung selbst begrenzt und der Schöpfung Raum und Zeit gibt. Eine modere Version der Schöpfungsgeschichte könnte mit A. Peacocke so aussehen: „There was God. And God was All-That-Was. God’s Love overflowed and God said: ‚Let other be. And let there be Laws for what it is and what it can be – an let it explore his possibilities and potentialities.‘ And there was Other, a field of energy, which exploded as the Universe from a point ten or so billion years in our time. Swirling basic matter appeared, expanded and expanded and cooled into clouds of gas, bathed in radiant light. […]“94 ————— 90 Mit diesem säkularen Schöpfungsmythos beginnt Fritzsch, Vom Urknall zum Zerfall, 9. 91 Pannenberg, ST 2, 184. 92 Damit ist nicht gesagt, dass die Ewigkeit Gottes in jeder Hinsicht unzeitlich verstanden werden muss, im Gegenteil: es ist nur die göttliche Ewigkeit der Welt ausgeschlossen. Die Ewigkeit Gottes ist schöpfungstheologisch als bezogen auf Zeit und eschatologisch als Vollzeit oder Vollendung von Zeit zu denken, hierzu vgl. II.4.6.2. 93 Die negative Konnotation nec ex materia resp. nec ex tempore korrespondiert der positiven: „‚Schöpfung‘ schöpft nicht aus nichts, sondern aus der Überfülle Gottes heraus: Er ist das ontologische ‚principium ex quo‘, aus dem alles Kontingente stammt“ (Wölfel, Welt als Schöpfung, 34). 94 A. Peacocke in einer Predigt 1997, vgl. C.C. Knight, Wrestling with the Divine, 11f, zit. nach Kreiner, Das wahre Antlitz Gottes, 282f.

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Mit dieser Art Erzählung haben wir das Faktum der Weltentstehung schon überschritten zu einem inneren Grund in Gott, welcher aus Liebe und Freiheit wollte, dass die Welt werde. Die Rede von der Schöpfung als Selbstbegrenzung Gottes aus Freiheit und Liebe geht auf E. Brunner zurück95 und wurde von E. Jüngel gegen H. Jonas’ Neomythos von der Selbstpreisgabe der göttlichen Allmacht zugunsten der Welt neben sich erneut zur Geltung gebracht. Schöpfung heißt, dass Gott in einem „Akt schöpferischer Selbstbegrenzung“96 sich durch sein eigenes Werk begrenzen lässt und der Welt neben sich Raum gewährt. Es ist der Wille zur Schöpfung, aus dem Gott ein anderes neben sich sein lässt und sich darin selbst begrenzt, aber auch der Schöpfung damit eine Grenze setzt. Die begrenzte Schöpfung ist endlich und als solche entspringend und für immer bezogen auf die Unendlichkeit Gottes. Der Schöpfungsakt ist eine ursprüngliche und damit, wie gleich noch zu thematisieren ist, bleibende Relationierung von Schöpfer und Geschöpf. Das Geschöpf wird als endliches und kontingentes im Gegenüber zum unendlichen und aus Freiheit handelnden Schöpfer konstituiert. Darin hat es seine ihm zugewiesene Freiheit als auch seine Begrenztheit. 2. Gott als Anfang, nicht als Beginn: Wie man die theologische Rede von Schöpfung auf den Weltanfang beziehen und damit die Relation von Schöpfung und Geschöpf als Relation auf die physikalische Welt denken kann, soll im Folgenden knapp entfaltet werden. Es geht um die Aufhellung der Rede vom Anfang sowie von Gott als dem Grund und der Ursache der Welt. Angestrebt ist eine solche Semantik, welche im Festhalten an der Transzendenz und – relativ zum Weltanfang –Extramundanität Gottes seine Immanenz in der Welt nicht ausblendet, sondern einbezieht. Dazu ist die Rede von der uranfänglichen Schöpfung so zu entfalten, dass sie auch als Erhaltung denkbar wird. Wenn nämlich Schöpfung aus dem Nichts theologisch positiv die Schöpfung als der Fülle Gottes bedeutet, dann ist Gott allein und nicht das Nichts oder der spekulativ angenommene vorgeschöpfliche Raum in oder neben Gott „das ontologische ‚principium ex quo‘, aus dem alles Kontingente stammt: Nicht hat das Sein seine Herkunft aus dem ‚Nichts‘, sondern das Nichtige aus dem Sein: Von Gott geschaffen werden, zum Dasein kommen, heißt also ‚erhalten‘ werden, indem man sich nach Sosein und Dasein im Gesamtbestand der jeweils zugeeigneten Entität als Geschenk Gottes empfängt. Gerade durch Inanspruchnahme des Gedan————— 95 Brunner, Dogmatik II, 31. 96 E. Jüngel, Gottes ursprüngliches Anfangen als schöpferische Selbstbegrenzung, 153, gegen H. Jonas, Der Gottesbegriff nach Ausschwitz; zur Diskussion der Zim-zum-Figur, auch zu J. Moltmanns eher problematischer Rezeption, vgl. II.8.3.

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kens der ‚conservatio‘ geht der Gedanke der ‚creatio‘ über in ‚creatio continua‘ und entfaltet so erst seinen eigentlichen Gehalt.“97 Der Unterschied einer als Erhaltung fortwirkenden Schöpfung und einer bloß initialen Schöpfung kann durch die Ausdrücke principium (fortwirkender Anfang) und initium (Beginn) markiert werden. Wir wollen in einer kleinen Phänomenologie des Anfangs diese zwei Arten von Anfang unterscheiden und mit den Begriffen Anfang (principium) und Beginn (initium) belegen, wohl wissend dass die Begriffe im Alltag synonym verwendet werden. Der damit ausgedrückte Sachverhalt ist hingegen klar zu unterscheiden. Der Unterschied von Anfang und Beginn kann phänomenologisch so beschrieben werden, dass ein Beginn eine Zäsur innerhalb einer Reihe, ein Anfang hingegen eine Grenze für eine Folge markiert. Einem Beginn gehen Ereignisse voraus und folgen ihm, relativ auf ihn bezogen, der Anfang steht auf die Folge bezogen absolut: es geht ihm nichts voran; der Beginn steht innerhalb einer Ordnung, der Anfang setzt eine Ordnung. Der Anfang konstituiert eine Ordnung gegen ungeordnete Verhältnisse, er steht, metaphysisch gesagt, „stellvertretend für das Wahre und Gute. In ihm haben wir die Erinnerung an das verlorene Paradies“98. Anfang steht initiativ und bleibend für die Kraft der Ordnung gegen das chaotisch Ungeordnete. Ein Beginn ist nur die Realisation eines Anfangs, er hebt an, was als Anfang anheben soll. Ein Beginn ist mit Ursachen verbunden, die, rückbezogen auf eine vorauslaufende Reihe, eine Reihe von Ursachen-Wirkungs-Folgen initiieren. Ein Anfang unterscheidet sich von der Reihe, er grenzt ab und bezieht aus innerem Grund. Ein Beginn ist auf etwas, ein Anfang von jemand auf etwas und auf sich bezogen. Wer nichts mit sich anzufangen weiß, kann auch nicht etwas anfangen, beginnen tut immer irgendwo irgendwas. Ein Anfang setzt einen Weltbezug in Gang, der weiterwirkt. Dafür sind Motive und Absichten leitend. Dass eine Ursache-Wirkungs-Reihe mit einer bestimmten Ursache beginnt, ist etwas ganz anderes, als eine Handlung aus einem Grund anzufangen. Gründe sind zwar auf Ursachen-Wirkungs-Zusammenhänge bezogen, weil sie ihre wirksame Funktion nur im Kontext der ursächlich geordneten Welt entfalten können, sie erschöpfen sich aber nicht darin.99 Wären Ursachen ausreichend zur Erklärung, warum etwas ist und warum es so ist, wie es ist, bräuchte man keine Gründe dafür. Bloße Ursachen (causae efficientes) sind ohne Sinn und Ziel: sie bewirken nur, ohne Warum und Wozu. Daher sind Ursachen nur im Zusammenhang von Zielen und Zwe————— 97 98 99

Wölfel, Welt als Schöpfung, 34. W. Dupré, Art. Anfang, HPhG, 80. Vgl. V. Gerhardt, Gott und Grund, bes. 90–95.

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cken, resp. von Gründen von Bedeutung. Ursachen können nur dann als Grund gelten, wenn etwas verlässlich begründet wird, d.h. wenn damit ein Anfang gesetzt wird. Anfänge sind im Unterschied zum Beginn solche Initialereignisse, die ausreichend zur Erklärung von etwas sind. Ein Anfang ist ein zureichender Grund, eine aörxh?. Jede Ursache kann auch als Wirkung aufgefasst werden, jeder Beginn als Übergang, ausgenommen, wenn ich selbst die Ursache bin und einen Anfang gesetzt habe. Dann bin ich der zureichende Grund für die Folge. Gründe sind Gründe eines Ich, wiewohl dieses in den Natur- und Geschichtszusammenhang eingewebt ist. Als Grund und Anfang eines Ich transzendiert das Initialereignis die Reihe. Ein Anfang wird gesetzt (vgl. Gen 1,1: ʭʩʤʬʠ ʠʸʡ ʺʩʹʠʸʡ). Allein intentionale Verursachung bildet den Anfang einer Wirkungs-Reihe. Ein Beginn ist ein verortbarer Zeitpunkt im Ablauf von Dauer, ein Anfang ist bleibend auf ein Hier und Jetzt bezogen. Ein Anfang geschieht in Raum und Zeit, aber transzendiert auch Raum und Zeit, insofern er sich im Hier und Jetzt vollzieht. Nur aufgrund dieses Herausstehens aus der Reihe kann ein Anfang als ein bleibender Grund gelten. Ein Anfang, so können wir mit W. Dupré definieren, „bedeutet Gegenwart, die in Differenz zur Andersheit des Artikulierten die Nichtandersheit des Sinnes dadurch offenbart, dass sie in Raum und Zeit im Räumlichen und Zeitlichen enträumlicht und entzeitlicht. Damit aber erweist er sich als der bleibende Grund (Prinzip), aus dem und durch den das Begründete seine Struktur und auch sein Sein erhält.“ Ein Anfang ist seins- und „sinnstiftend für das Hier und Heute, Gestern und Morgen“, er ist dasjenige Initialereignis, durch welches „die konkrete Situation des Menschen ihren Sinn erhält, bzw. erinnert und erwartet“100 wird. Der Anfang wird als principium, nicht als initium erinnert, aber wenn er sich nicht mehr als konkreter Anfang mit Bezug auf ein initium erinnern lässt, weil es zu lange her ist oder der Beginn unbekannt ist, wird er mythologisch erzählt oder beschworen oder theoretisch rekonstruiert. „Schöpfung“ ist also ein Initialereignis als zureichender und bleibender Grund für das, was ist: dass es ist, wie es ist und wie es sein soll. Es ist klar, dass die Idee des Anfangs als erster Ursache, als principium, keine empirische Idee ist. Denn als Ereignis in Raum und Zeit kann man für jedes Ereignis fragen, wovon es Wirkung ist. Und natürlich kann der zureichende Grund intentionaler Verursachung sich selbst fragen, wovon er Wirkung ist. Aber er kann eben nur noch sich selbst fragen. Denn natürliche Ursachen und Beginne sind passive Glieder in Kausalketten, Ursachen bleiben den Ereignissen, die sie bewirken äußerlich, Anfänge hingegen sind ————— 100 W. Dupré, Art. Anfang, 83.

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innerlich bezogen auf die Folge, da sie mit Gründen verbunden und nur mittelbar und aus eigener Veranlassung auf Ursachen bezogen sind. Nur ein „personaler“ Anfang ist daher, wie P. Strasser sagt, ein befriedigender, ein „guter“ Anfang.101 Im Bereich natürlicher Anfänge, also Beginne, gibt es kein ausreichendes Intialereignis und keine zureichenden Gründe. Die Idee der ersten Ursache oder des verlässlich begründenden Anfangs ist naturwissenschaftlich unsinnig, da man nicht den geringsten Grund hat, eine empirische Reihe von Kausalfaktoren abzubrechen. Der Abbruch einer Kausalreihe würde ja bedeuten, dass gar keine Ursache vorhanden, das Ereignis also reiner Zufall, ohne Richtung und Wirkung wäre. Wird der Urknall als empirisch erstes Ereignis ohne Ursache verstanden, wäre seine Folge eben dies: richtungsloser Zufall. Da er dies nach allem, was man von der Wirkung (der Evolution unserer Welt) her über ihn sagen kann, aber nicht ist, kann der Urknall auch nicht als grundloser Anfang angesehen werden, sonst wäre er kein guter Anfang. Anders gesagt: „Nur wenn der Urknall als Schöpfung aufgefasst wird, taugt er als Initialereignis.“102 Nur wenn der Urknall als Schöpfung begriffen wird, kann er als Weltanfang gelten, also als guter, bleibender Anfang. Der Urknall als Schöpfung begriffen stellt das initiale Ereignis dar, mit dem das Werden von Raum und Zeit beginnt und sich in der Entwicklung des Kosmos fortsetzt. Der primordiale Schöpfungsakt am Anfang ist so bezogen auf das Werden und die Entwicklung der Schöpfung: die creatio ex nihilo setzt sich fort als creatio continua und als creatio evolutiva. Schöpfung als Anfang bezeichnet das zur Verfügung stellen von Raum und Zeit für die Welt durch Gott. Raum und Zeit wird der Welt von Gott zur Verfügung gestellt, damit sich im Entwicklungprozess des Kosmos Raum und Zeit je neu bilden und in ihnen die Welt nach und mitsamt von Naturgesetzen entwickeln kann. Es handelt sich beim Schöpfungsakt also um einen initialen und dann beständig durchgehaltenen Akt der Bereitstellung der Möglichkeiten zur Entwicklung des Kosmos. Raum und Zeit sind die immer neu benötigten Bedingungen der Möglichkeit von raumzeitlichen Sein und der Entfaltung von Leben. Damit die Welt als Raum der Dinge und Ereignisse sich entwickeln kann, benötigt sie Raum und Zeit als Grundkonstituentien. Indem sie von Gott zur Verfügung gestellt werden, ist der Schöpfer bleibend auf die Schöpfung bezogen. Er bildet, zunächst metaphorisch gesagt, das Woraus, das Worin und Wohin des geschöpflichen Raumes und der Zeit. Aus ihm, dem Schöpfer, entspringen Raum und Zeit, die basalen Möglichkeitsbedingungen der Entwicklung des raumzeitlichen Kosmos. ————— 101 P. Strasser, Theorie der Erlösung, 56f. 102 Ebd., 58.

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Ob man bei der bleibenden Bezogenheit des Schöpfers auf die Schöpfung als Fortsetzung des Anfangs mehr das bewahrende Moment (conservatio) oder mehr das innovative Moment (creatio continua ex nihilo) betont, ist eine Frage des Gewichts. Bereits bei den lutherischen Theologen wurde diskutiert, ob man die conservatio mehr im Sinne eines aktiven Handelns Gottes analog der creatio prima verstehen – so A. Quenstedt103 – oder mehr die Kontinuität der Anknüpfung an die bestehende Schöpfung betonen soll – so J. Gerhard104. Die Entscheidung hängt davon ab, welche Stabilität man dem Seinsbegriff und welchen Grad an relativer Eigenständigkeit und Permanenz man der Schöpfung zugesteht. K. Barth betonte die Kontinuität der göttlichen Erhaltung, während E. Brunner in der continuatio die Gefahr der pantheistischen Selbständigkeit der Welt und der Begrenzung der Freiheit Gottes witterte. Daher betonte er weniger das fortgesetzte Erhalten und die Kontinuität der creatio continuata als vielmehr das fortgesetzte Erneuern105, so heute auch C. Link, E. Jüngel und J. Moltmann106.

Das Recht des innovativen Verständnisses der creatio continua als Fortsetzung der anfänglichen ex nihilo-Schöpfung besteht darin, dass physikalisch Raum und Zeit nicht von jeher ewig und unendlich ausgedehnt existieren, sondern mit der evolutiven Entwicklung des Kosmos werden. Raum und Zeit werden beständig der schon gewordenen Ausdehnung und Dauer hinzugefügt. Mit unserer Formel von der Schöpfung als dem zur Verfügung stellen von Raum und Zeit wird dieses immer neue Entstehen und zur Verfügung gestellt werden zur Geltung gebracht.

5.6 Die endliche Welt und ihr unendlicher Grund 1. Gott als Grund der Welt: Ist Schöpfung als bleibender Anfang und als dauerndes zur Verfügung Stellen von Raum und Zeit bestimmt, so ist darin eine „Metaphysik der Schöpfung“, impliziert, die Gott als Grund der Welt versteht. Die raumzeitlich werdende Welt ist eine endliche und kontingente, sie gründet mithin in einem nicht endlichen und nicht kontingenten Grund. Da der Grund bleibend ist, oder anders gesagt, die aus einem bleibenden Anfang resultierende Welt durchgängig als endlich und kontingent zu ver————— 103 Quenstedt, Theologia didactico-polemica, p.I, c.XIII, sect.I did., th.XIV, 531: „Deus res omnes conservat continuatione actionis, qua res primum produxit.“ 104 J. Gerhard, Loci theologici, loc.VI, c.6, §62, tom.II, 27: „Conservatio […] nihil aliud est quam existentiae continuatio.“; vgl. die Mittelstellung von Thomas, STh I, qu.104, a.1: „conservatio rerum a Deo non est per aliquam novam actionem, sed per continuationem actionis, qua dat esse.“ 105 Brunner, Dogmatik II, 45; Barth, KD III/3, 78–80. 106 Link, Schöpfung II, 562: „Erhaltung ist ein fortgesetztes Anfangen und ‚ex nihilo Erneuern‘ (Jüngel)“; vgl. E. Jüngel, Das Entstehen von Neuem, 147; Moltmann, Gott in der Schöpfung, 217.

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stehen ist, kommen dem Grund die ontologischen Prädikationen der Unendlichkeit und der freien Notwendigkeit zu. Der in phänomenologischen und naturphilosophischen Kategorien – als „gutem Anfang“ und „Werden“ von Raum und Zeit – ausgedrückte Schöpfungsgedanke sollte auch in metaphysischen Kategorien formulierbar sein: Gott verhält sich demnach als Schöpfer zur Welt wie das Unendliche zum Endlichen, wie das Notwendige zum Kontingenten. In diesen zeitlosen metaphysischen Kategorien kommt das Bleibende des Anfangs besonders klar zum Ausdruck. Wir versuchen im letzten Abschnitt dieses Kapitels eine ontologische Aufhellung des mit dem Ausdruck „unendlicher Grund“ Gemeinten. Dabei gehen wir nicht apriorisch vor – wir beabsichtigen keine vorkantische cosmologia rationalis –, sondern aposteriorisch, setzten also die Existenz und Endlichkeit der Welt voraus und fragen, was von daher – transzententalphilosophisch – über den Grund der Welt geschlossen werden kann und was nicht. Es wird sich zeigen, dass „Grund“ ein dialektisches Verhältnis des Unendlichen im und gegenüber dem Endlichen meint. Die scheinbar unzeitlichen metaphysischen Kategorien werden zu bleibend zeitlichen und damit räumlichen Kategorien. In der Rede von Gott als Schöpfer der Welt ist ein räumlichbleibendes Verhältnis impliziert, das zutage tritt, wenn die Schöpfungslehre als konsequente ontologische Endlichkeitsreflexion durchgeführt wird. Verstehen wir die Weltentstehung als Anfang, so wird mit diesem Anfang erst der Unterschied zwischen Sein und Nichts gesetzt. Vorher war, relativ auf die Welt und ihr Sein, nicht ein Nichts, sondern nichts. Die ontologische Differenz zwischen Sein und Nichts „ist erst durch den Schöpfungsakt möglich geworden. Was nämlich überhaupt nicht ist, ist auch von nichts unterschieden. Der Unterschied zwischen Sein und Nichts ist keiner. Erst indem Seiendes entsteht, das auch nicht sein kann und von sich her nichts ist, sondern ins Sein gerufen werden muss, entsteht dieser ‚größte‘ aller Unterschiede.“107 Anders gesagt: Die Kontingenz der Welt, dass sie auch nicht sein könnte, jedenfalls allein von ihr selbst her nicht sein müsste, dass sie nicht aus einem inneren, sondern aus extramundanem Grund ins Sein kam, impliziert, dass wenn ein Grund für eine kontingente Welt gesucht und gefunden wird, dieser nicht selbst wieder kontingent sein kann.108 Die Kontingenz der Welt wird aber erst mit der Schöpfung der Welt gesetzt, weil erst mit ihr die Differenz von Sein und Nichtsein entsteht, so dass die Kontingenz der Welt eine auf einen ihr äußeren Grund bezogene ist: die ————— 107 G. Scherer, Welt – Natur oder Schöpfung? 210. 108 Der Grund des Seienden oder das Sein selbst wird mit Heidegger und Tillich metaphysisch gedacht „als die Ur-Sache, als die causa prima, die dem begründenden Rückgang auf die ultima ratio, die letzte Rechenschaft, entspricht. Das Sein des Seienden wird im Sinne des Grundes gründlich nur als causa sui vorgestellt. Damit ist der metaphysische Begriff von Gott genannt“ (M. Heidegger, Die onto-theologische Verfassung der Metaphysik, in: Identität und Differenz, 51).

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Endlichkeit der Welt ist nicht für sich, sondern bezogen auf eine Unendlichkeit, aus der her sie ihre Endlichkeit hat. Jedes einzelne Seiende kann auch nicht sein, aber die Antwort auf die „letzte verzweiflungsvolle Frage: warum ist überhaupt etwas? warum ist nicht nichts?“109 kann auch nur als Frage nur formuliert werden, wenn die Welt schon ist. Denn die Frage betrifft „nicht dieses und nicht jenes, auch nicht, es der Reihe nach durchgehend, alles Seiende, sondern im vornhinein das ganze Seiende […]: das Seiende im Ganzen als ein solches“110. Die Frage nach dem Seienden als solchem, für Leibniz, Schelling und Heidegger bekanntlich die Grundfrage der Metaphysik,111 setzt voraus, dass es etwas gibt und nicht nichts. Ebenso wie die endliche Welt nur herkommend aus einem nichtendlichen und nichtkontingenten Unendlichen gedacht werden kann, so ist ihre Faktizität Voraussetzung dafür, die Frage nach ihrem zureichenden Grund zu stellen. Wer nicht die Endlichkeit des Endlichen erkannt hat, wer nicht dem „ontologischen Schock“112 des Nichtseins ausgesetzt war, wird nicht nach dem Unendlichen fragen. Wie das Unendliche als Antwort bezogen ist auf das Endliche, so ist das Endliche als Frage rückbezogen auf das Unendliche. Besonders W. Pannenberg hat im Anschluss an Descartes und Hegel darauf hingewiesen, dass schon der Begriff des Endlichen gar nicht gedacht werden kann, ohne dass das Unendliche mitgedacht wird. Denn das Endliche hat eine Grenze, die man nicht denken kann ohne das andere mitzudenken, das jenseits der Grenze liegt.113 Das andere, von dem ein Endliches abgegrenzt ist, ist „entweder ein anderes Endliches oder das Andere des Endlichen als solchen, also das Unendliche. Beides ist mit der Grenze, die im Begriff des Endlichen liegt, schon gegeben – mit dem Endlichen in seiner Besonderheit das andere Endliche, von dem es unterschieden ist, mit dem Endlichen als Endlichen überhaupt, in seiner Allgemeinheit, das Unendliche. Der Begriff des Endlichen als solchem kann also nicht gedacht werden, ohne dass das Unendliche schon mitgedacht wird, jedenfalls konnotativ, keineswegs immer auch ausdrücklich: Erst die Reflexion auf die Endlichkeit des Endliches führt auf den expliziten Gedanken des Unendlichen.“114 Das Unendliche steht aber nicht nur in Gegensatz zum Endlichen, sonst wäre es selbst nur ein angrenzendes anderes Endliches oder das vom ————— 109 F.W.J. Schelling, Philosophie der Offenbarung, 7. 110 M. Heidegger, Einführung in die Metaphysik, 4; vgl. Identität und Differenz, 45. 111 Hierzu vgl. Scherer, Welt – Natur oder Schöpfung? 43–52.84–89. 112 Tillich, ST 1, 137.193. 113 Das Endliche impliziert real und als Begriff nach Hegel, „dass eine Grenze ist, und das die Grenze ebenso sehr nur eine aufgehobene ist, dass die Grenze ein Jenseits hat, mit dem sie aber in Beziehung steht“ (Wissenschaft der Logik I, Hauptwerke Bd. 3, 232); das Endliche „hat es in seinem Begriffe ein Jenseits seiner zu haben; […] so bezieht es sich auf sein Jenseits als auf seine Unendlichkeit“ (220). 114 W. Pannenberg, Metaphysik und Gottesgedanke, 21.

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Endlichen her erstrebte potentiell Unendliche.115 „Um wahrhaft als unendlich gedacht zu sein, darf das Unendliche dem Endlichen nicht nur entgegengesetzt sein, sondern muss zugleich diesen Gegensatz übergreifen. Es muss sowohl als im Verhältnis zum Endlichen transzendent als auch als ihm immanent gedacht werden.“116 Das wahre oder absolut Unendliche steht für die Grenzenlosigkeit des Seins, das alles umfasst und in allem anwesend ist, so dass das Endliche durch Einschränkung des Unendlichen entsteht und nicht umgekehrt das Unendliche aus Negation des Endlichen: „Alles Endliche besteht nur durch die Bestimmung seiner Grenzen, die aus dem Unendlichen gleichsam herausgeschnitten werden müssen.“117 Der noetische Rückgang des Endlichen auf das Unendliche als der Bedingung der Möglichkeit seiner Existenz als eines Endlichen führt auf die ontologische Priorität des Unendlichen vor dem Endlichen oder dem Ganzen vor dem Teil. Dieser Begriff des Unendlichen, das dem Endlichen zugleich transzendent als auch immanent ist, steht insofern dem monotheistischen Gottesbegriff der Metaphysik parallel, als man auf diese Weise „den einen Gott nicht nur als der Welt transzendent, sondern diesen jenseitigen Gott auch als zugleich der Welt immanent zu denken vermag.“118 Der nur in abstrakter Transzendenz, im einfachen Gegensatz zur Welt gedachte Gott, wäre selber endlich. Nur wenn er als Sein selbst jenseits des Seins steht und den Gegensatz zum endlichen Sein selbst noch einmal umgreift und dabei das Endliche als das ontologisch Frühere, sprich als Grund des endlichen Seins, durchwebt, kann das Unendliche strukturell parallel zu Gott als transzendent-immanentem Grund der Welt stehen. Eine Identifizierung des Unendlichen oder des Absoluten mit dem christlichen, trinitarischen Gottesgedanken ist allerdings noch nicht vom Begriff des Unendlichen, sondern erst vom positiven Gottesgedanken her möglich. „Nur wenn der Gedanke Gottes schon vorgegeben ist, lässt sich erstens zeigen, dass die Vorstellung des einen Gottes notwendig die Momente der Unendlichkeit, der Absolutheit und höchsten Vollkommenheit sowie des notwendigen Daseins impliziert, und zweitens, dass diese Eigenschaften niemand anderem als dem Einen Gott zukommen können.“119 Nur wenn die Realität und Eigenschaften Gottes schon vorausgesetzt sind, kann er als dasjenige aktual Unendliche oder Absolute identifiziert werden, das aufgrund seines Verhältnisses zum Endlichen als der ————— 115 Hegel nennt das potentiell Unendliche die „schlechte Unendlichkeit“, das sie nur die „Form des Progresses des Quantitativen ins Unendliche“ (222) hat. Das „wahrhafte Unendliche“ oder „das Absolute“ steht nicht im einfachen Gegensatz zum Endlichen als Negation, sondern ist übergreifende Aufhebung des Gegensatzes als „Negation der Negation“ (124f). 116 Pannenberg, Metaphysik und Gottesgedanke, 29. 117 Schleiermacher, Über die Religion, 37. 118 Pannenberg, Metaphysik und Gottesgedanke, 29. 119 Ebd., 30.

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endlichen Welt transzendent und im Übergreifen dieses Verhältnisses der Welt immanent gedacht werden kann. 2. Gottes Unendlichkeit: Es ist jedoch nicht möglich, vom Endlichen aus mit dem mitgedachten Begriff des Unendlichen auch dessen notwendige Realität als eines aktual Unendlichen zu erschließen und daraus einen Gottesbeweis zu führen, wie es Descartes als Spielart des ontologischen Arguments versucht hat. Dies haben, in kritischer Analyse von Descartes’ Unendlichkeitsbegriff, W. Pannenberg und Ph. Clayton klar gezeigt und hierzu die bei Descartes verwischte Differenz zwischen der Intuition des Unendlichen und seinem Begriff als höchste vollkommene Realität herausgestellt. Während der Übergang vom Endlichen zum Unendlichen auf der Ebene der Intuition möglich und folgerichtig ist, ist dies auf der Ebene des Begriffes als eines realen Vollkommenen nicht notwendig, der entscheidende Schritt im ontologischen Argument mithin nicht zwingend. Die Intuition des Unendlichen resultiert nach Descartes aus der Erfahrung des Endlichen: Ich selbst bin endlich und „weil ich endlich bin (cum sim finitus)“120, bin ich nicht unendlich. Das Bewusstsein der Endlichkeit impliziert die Idee der Unendlichkeit. Beide Ideen sind gleichursprünglich. Mit dem Bewusstsein der Endlichkeit ist die Idee der Unendlichkeit mitgesetzt als deren Negation. Insofern das Endliche damit als Einschränkung des Unendlichen anzusehen ist, geht „in gewissem Sinne die Vorstellung des Unendlichen der des Endlichen voraus (priorem quodammodo in me esse perceptionem infiniti quam infiniti)“121. Allerdings ist der Übergang vom Endlichen zum Unendlichen, so zeigt Clayton,122 nur auf der Ebene der Intuition möglich und nicht auf der Ebene des Begriffs, da das Unendliche zunächst nur in negativer Hinsicht als Nicht-Endliches eindeutig bestimmt ist, während das Nichtendliche positiv in vielfacher Beziehung zum Endlichen stehen kann. Das Unendliche kann ontologische Priorität vor dem Endlichen haben oder auch nicht, es kann real sein oder nur potentiell, es kann Vollkommenheit implizieren oder auch nicht und wenn, dann in alethologischer, moralischer oder ästhetischer Hinsicht. Jedenfalls ist Descartes Behauptung, er erfasse das Unendliche nicht allein „durch Negation des Endlichen“, sondern positiv durch eine „wahre Idee“ und erkenne klar, „dass die unendliche Substanz mehr Realitätsgehalt (plus realitatis) enthält als die endliche, so dass mithin die Vorstellung des Unendlichen der des Endlichen, d.h. die Vorstellung Gottes der meiner selbst vorausgeht“123, ————— 120 Descartes, Meditationes de prima philosophia, III, 23. 121 Ebd., III, 24. 122 P. Clayton, Das Gottesproblem, 111. 123 „Nec putare debeo me non percipere infinitum per veram ideam, sed tantum per negationem finiti; […] nam contra manifeste intelligo plus realitatis esse in substantia infinita quam in

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nicht zwingend. Im Begriff des Unendlichen ist der des Vollkommensten, also des Maximums an Mehr an Realität, nicht impliziert. Während die Intuition des Unendlichen Bedingung aller Erfahrung von Endlichem ist, verhält es sich bei dem Gedanken des Vollkommensten „nicht so: wir können uns sehr wohl Endliches von begrenzter Vollkommenheit vorstellen, ohne als Bedingung dafür ein Vollkommenstes voraussetzen zu müssen“124. 3. Ergebnis: Die Vergewisserung der eigenen Existenz als einer endlichen ebenso wie die Erfahrung der weltlichen Dinge als endlicher führt auf die Idee des Unendlichen. Die Intuition der ontologischen Priorität des Unendlichen, die daraus resultiert, dass die Idee des Unendlichen nicht allein als Negation einer Grenze gebildet wird, sondern jede Abgrenzung als einschränkende Negation des Unendlichen anzusehen ist, impliziert die Vermutung der realen Existenz des Unendlichen. Seine Realität bleibt allerdings unbestimmt und kann nicht deduktiv, rein aus dem Begriff mit der Realität des vollkommensten Wesens identifiziert werden. Die Eigenschaft der Unendlichkeit ist auch als Gottesprädikat nicht notwendigerweise mit der Vollkommenheit verbunden, jedenfalls ergibt sich die Vollkommenheit Gottes nicht notwendig aus seiner Unendlichkeit, während die Vollkommenheit in jeder Hinsicht gewiss die Unendlichkeit einschließt. Auf jeden Fall folgt aber aus dem im Hegelschen Sinn verstandenen Begriff des Unendlichen, dass dieser sowohl Transzendenz als auch Immanenz gegenüber dem Endlichen einschließt und in besonderem Maße geeignet ist, die Unterschiedenheit und Weltimmanenz Gottes als des absolutunendlichen Grundes der endlichen Welt zur Geltung zu bringen. Gott als unendlicher Grund meint räumlich ausgedrückt dasselbe wie Gott als Anfang und bezeichnet das bleibende Verhältnis von Schöpfer und geschaffener Welt. Wird die Rede von Gott als Anfang konsequent durchgeführt, nämlich als ontologische Endlichkeitsreflexion, dann führt die Phänomenologie des Anfangs hinüber zu einer Verhältnisbestimmung von Gott und Raum. Das Verhältnis Gottes zur Zeit impliziert ein Verhältnis zum Raum und umgekehrt. Die ontologische Reflexion bestätigt das Ergebnis der naturphilosophischen Reflexion von Kap. II.4. und bringt in ontologischen Kategorien zum Ausdruck, was wir in naturphilosophischen Kategorien als raum-zeitliche praesentia operosa formuliert hatten: die dynamische Präsenz Gottes in Raum und Zeit als Grund von Raum und Zeit. ————— finite, ac proinde priorem quodammodo in me esse perceptionem infiniti quam finiti, hoc est Dei quam mei ipsius“ (Descartes, Meditationes, III, 24). 124 W. Pannenberg, Theologie und Philosophie, 148.

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Kapitel 6. Kosmologischer Raum und kosmischer Sinn

Das Verhältnis von Gott und Raum wurde bisher einerseits in Bezug auf den gelebten und gestimmten (II.2f) und andererseits in Bezug auf den physischen Raum betrachtet (II.4f). Man könnte daraus den Schluss ziehen, dass es sich jeweils um verschiedene Räume gehandelt hat, was theologisch dazu führen würde, dass der Bezug Gottes zu meinem gelebten Raum ein völlig anderer als der zum physischen Raum wäre. Das wiederum würde bedeuten, dass keinerlei Bezug von Gott als Schöpfer und Erhalter der Welt zu Gott als Schöpfer und Erhalter meiner Existenz herzustellen wäre. „Weltschöpfung“ und „Menschenschöpfung“ fielen unvermittelbar auseinander, wenn Weltraum und gelebter Raum nicht aufeinander beziehbar wären. Dies widerspräche eklatant dem christlichen Schöpfungsglauben, der mit dem Bekenntnis zu Gott dem Schöpfer beides verbindet: dass „mich Gott geschaffen hat sampt allen Kreaturn“1. Das Verhältnis von kosmischem und gelebtem Raum muss daher gerade im theologischen Interesse geklärt werden. Wir gehen methodisch so vor, dass wir von der vorlaufend genannten Einsicht aus, dass der kosmologische Raum nicht unabhängig vom Betrachter konzipiert werden kann (6.1), schrittweise die Bezogenheit des kosmologischen auf den gelebten Raum darlegen. Der kosmologische Raum wird mathematisch per Konvention konstituiert (6.2), er basiert auf vorempirischen kosmologischen Prinzipien (6.3) und ist auf die Lebenswelt des Kosmologen rückbezogen (6.4). Daher sollte es möglich sein, den kosmischen Raum auch sinnhaft auf den Menschen zu beziehen. Wenn überhaupt ein kosmischer Sinn möglich ist (6.5), dann über die Lebenswelt vermittelt (6.6). Dieser phänomenologisch begründete Zusammenhang erlaubt es, sinnhafte Raum- und Kosmoswahrnehmungen, insbesondere sinnlich-ästhetische und/oder religiös-symbolische, mit dem kosmologischen Kosmos zu vermitteln bzw. am sinnlich-gelebten Raum ausgerichtete Sinnstrukturen auch auf den kosmischen Raum zu beziehen. So wird es einerseits möglich, Züge des vormodernen biblisch-mythischen Weltbilds ins moderne zu integrieren sowie andererseits gelebten Nah-Raum und kosmischen Fern-Raum sinnhaft zu vermitteln, oder anders gesagt, Schöpfung in klein- und großräumigen Strukturen wahrzunehmen (Kap. 7.).

————— 1

M. Luther, Der kleine Katechismus, BSLK, 510,33f.

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6.1 Das Verhältnis von gelebtem und kosmischem Raum Unser Vorgehen, entgegen der metaphysischen Tradition mit einer phänomenologischen Betrachtung einzusetzen und religiös signifikante Aspekte des Raumes zunächst im gelebten Raum aufzusuchen, stellte den gelebten Raum in einen Gegensatz zum physisch-kosmischen Raum. Der Gegensatz, der dazu zwischen den theoretischen, auf das Modell des homogenen und isotropen euklidischen Raums aufbauenden Raumtheorien und dem inhomogenen gelebten Raum aufgemacht wurde, ist aber nicht derart absolut, wie es in einer bloßen Gegenüberstellung erscheinen mag. Denn es handelt sich beidesmal um denselben Raum, der nur in unterschiedlicher Weise konzeptualisiert wird. Auch der gelebte Raum ist nämlich „nichts Seelisches, nicht bloß Erlebtes oder Vorgestelltes oder gar Eingebildetes, sondern etwas Wirkliches: der wirkliche konkrete Raum, in dem sich unser Leben abspielt.“2 Es gibt nicht noch einen anderen Raum hinter oder gar außer dem gelebten Raum, sondern der gelebte Raum ist bereits der wirkliche Raum der Dinge und Ereignisse. Der physische Raum der räumlichen Dinge und der raumzeitlichen Geschehnisse unterscheidet sich vom gelebten Raum nicht der Extension, sondern nur der Intension nach. Es sind zwei unterschiedliche Raumbegriffe, die sich in je anderem Theoriekontext auf einen und denselben Raum beziehen. Der eine, reale, wirkliche Raum kommt einmal als physischer und einmal als erlebter in den Blick, als physischer im Rahmen physikalischer Theoriebildung, als erlebter im Rahmen phänomenologischer Analyse. Dass es sich dabei um einen und denselben Raum in je verschiedener Perspektive (und damit unterschiedlicher Quantität, Qualität, Struktur und Form) handelt, ergibt sich einerseits daraus, dass der physikalische vom gelebten Raum nicht unabhängig ist, sondern, wie wir zeigen werden, sich auf diesen aufbaut, und andererseits daraus, dass die Einheit des Raums auch in der phänomenologischen Analyse implizit vorausgesetzt war ohne explizit ausgesprochen zu werden, sozusagen als metaphysischer Rest einer nachmetaphysischen Raumanschauung, oder umgekehrt als intuitiv evidente Gegebenheit der Alltagsphilosophie, die in den metaphysischen Raumtheorien nur prinzipialisiert wurde. Die in der Phänomenologie des gelebten Raumes implizierte Einheit des Raums war in der Annahme unterstellt, „dass wir im Raumerlebnis nie nur einen subjektiv-‚privaten‘ Raum haben, sondern den Raum als eine allen Menschen gemeinsame, intersubjektive und daher objektiv gültige, Struktur erfahren.“3 Im phänomenalen Raum kommt eine „objektive Struktur zur ————— 2 3

O.F. Bollnow, Mensch und Raum, 19. W. Gölz, Dasein und Raum, XIII.

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Kosmologischer Raum und kosmischer Sinn

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Erscheinung“4. Die verschiedenen Schichten des gelebten Raumes – der elementar orientierte, der gestimmte und der nach Richtungen orientierte Raum, als dessen Abstraktion der dreidimensionale euklidische Anschauungsraum gelten kann – fallen deshalb nicht auseinander, weil in den Raumerfahrungen eine Struktur des Raums zur Erscheinung kommt, die nicht beliebig variierbar ist, sondern intersubjektive Konstanz aufweist. Der gelebte Raum hat eine strukturelle Stabilität, welche „die Möglichkeit für eine Identifikation des von uns aus erlebten Raumes mit dem vom Anderen aus erlebten Raum begründet“5. „In diesem Sinne stimmt die intersubjektiv gültige Struktur des Raumes überein mit der von einem einzigen Subjekt im Wechsel der Perspektiven konstituierten objektiven Struktur, die als das im Wechsel sich durchhaltende Invariante bezeichnet werden kann.“6 Die Einheit des Raums ergibt sich m.a.W. daraus, dass er sich in aller Erfahrung als invariant unter dem Wechsel der Perspektiven erweist und daher in aller Erfahrung als für alle Erfahrung vorausgesetzte Einheit anzusehen ist. Die Einheit des Raums ist kein metaphysisches Prädikat der Welt an sich, sondern die phänomenologisch erschlossene Strukturbedingung räumlicher Erfahrung. Der daraus abstrahierte Raum objektiver Strukturen an sich ist reines Konstrukt. Er entsteht durch Absehen von der Perspektivität der Raumerfahrung überhaupt als ideale perspektivenfreie Raumanschauung. Die von Einstein im Vorwort zu Jammers „Problem des Raumes“ als ContainerRaum karikierte Raumanschauung, die dadurch entsteht, dass man aus einer Schachtel alle Gegenstände entfernt und die Wände über alle Grenzen ins Unendliche verschiebt,7 ist nicht einmal ein zureichender Begriff des wirklichen, erfahrenen Raumes, sondern der konstruierte, inhaltsleere Absolutraum. Diese Idee des leeren Raums „ist also gar nichts, was zur Existenz der Dinge, sondern bloß zur Bestimmung der Begriffe gehört, und sofern existiert kein leerer Raum.“8 Schärfer gesagt: Es gibt den absoluten Raum nicht einmal als ideale Anschauung. Husserl hat die Unhintergehbarkeit der Perspektive so formuliert, dass „so etwas wie Raumdingliches nicht bloß für uns Menschen, sondern auch für Gott – als den idealen Repräsentanten der absoluten Erkenntnis – nur anschaubar ist durch Erscheinungen, in denen es ‚perspektivisch‘ in mannigfaltigen aber bestimmten Weisen und dabei in wechselnden ‚Orientierungen‘ gegeben ist und gegeben sein muss.“9 ————— 4 Ebd., 31. 5 Ebd., 70. 6 Ebd., 69. 7 M. Jammer, Das Problem des Raumes, XIII. 8 I. Kant, Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft, A 155, Schriften zur Naturphilosophie, 133; hierzu s.o. II.1.1.–2. 9 E. Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie I, Hua III/1, 351.

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Raum und Gott

Es gibt keinen wirklichen Raum, bei dem man von den Raumdingen in ihm und von dem Bezug auf uns absehen könnte. Auch die Naturwissenschaft kann den Raum nicht „vom Standpunkt von Niemand“10 aus betrachten. Der „Blick von nirgendwo“11 ist gerade im Blick auf den Raum unmöglich, weil derjenige, der den Raum anschaulich oder theoretisch beschreiben will, sich immer im Raum befindet und auch bei der theoretischen Abstraktion nicht davon absehen kann, wenn er denn den wirklichen Raum theoretisieren will, also den Raum, in dem er steht. Diese beiden Einsichten, die für den gelebten Raum evident sind, dass man weder von seinem Inhalt noch von dem Bezug des Betrachters auf ihn absehen kann, waren auch grundlegend für die Entwicklung der nachnewtonschen physikalischen Raumtheorie weg vom absoluten „Container“Raum hin zum Einsteinschen relativen Raum. Es braucht hier nicht der Entwicklungsgang im Einzelnen rekonstruiert werden, es soll nur an einigen Hauptstationen illustriert und naturphilosophisch reflektiert werden, dass der physikalische Raumbegriff aus innerphysikalischen und innermathematischen Gründen nicht mehr als etwas für sich Bestehendes betrachtet werden konnte, sondern als ein auf den Betrachter einerseits und auf die materiellen Dinge andererseits bezogenes Gebilde konzeptualisiert werden musste. Die beiden folgenden Abschnitte bringen die naturphilosophische Reflexion der neueren Mathematik (6.2) und Begrifflichkeit (6.3) des kosmischen Raumes.

6.2 Die mathematische Konstitution des kosmologischen Raums 1. Der Zusammenhang von Metrik und Materie: B. Riemann hat erstmals die Vermutung geäußert, dass ein Zusammenhang zwischen der Metrik des Raumes und der darin befindlichen Materieverteilung bestehen könnte. Am Ende seines Göttinger Habilitationsvortrags vom 10.6.1854 „Über die Hypothesen, welche der Geometrie zugrunde liegen“ stellte er die „Frage nach dem inneren Grund der Maßverhältnisse im Raum“12. Wenn der Raum, so die Überlegung, eine diskrete Mannigfaltigkeit wäre, wo wären die Maßverhältnisse schon in den Ausdehnungsverhältnissen enthalten. Ist der Raum jedoch ein Kontinuum, so sind die Maßverhältnisse nicht schon in den Ausdehnungsverhältnissen enthalten. Sie müssen „anders woher hinzukommen“. Der Grund der Maßverhältnisse des Raums kann entweder der sein, dass „das dem Raume zu Grunde liegende Wirkliche eine discrete ————— 10 11 12

E. Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, Bd. III, 560. Vgl. T. Nagel, Der Blick von nirgendwo. B. Riemann, Über die Hypothesen, welche der Geometrie zugrunde liegen, 23.

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Mannigfaltigkeit“ bildet, oder aber muss „der Grund der Massverhältnisse ausserhalb, in darauf wirkenden Kräften, gesucht werden.“ Aus der Unterscheidung zwischen Ausdehnung und Maß folgt erstens, dass man „aus den Maßverhältnissen im Großen nicht auf die im Unendlichkleinen schliessen“13 kann und umgekehrt. Ein im Großen ebener, euklidischer Raum könnte im Kleinen in verschiedenen Richtungen unterschiedliches Krümmungsmaß haben, also nicht euklidisch sein. Diese nichteuklidische Geometrie im unendlich Kleinen müsste dann zweitens, ungeachtet der (näherungsweisen) Euklidizität im Großen eine nichtgeometrische, womöglich aus gravitativen Kräften herrührende, Ursache haben. Und drittens folgt aus der Unterscheidung von Ausdehnung und Maß die Unterscheidung von Unbegrenzheit und Unendlichkeit für unmessbar ausgedehnte Räume.14 Anders gesagt: Ein unbegrenzt ausgedehnter Raum muss nicht notwendig unendlich sein. Wenn er ein von null verschiedenes positives Krümmungsmaß hat, ist er trotz Unbegrenztheit der Ausdehnung endlich im Maß. Räume positiver Krümmung haben eine sphärische Geometrie, sie lassen sich auf eine Kugel entsprechender Dimension abwickeln. Es ist dann so, dass eine „unbegrenzte Fläche mit constantem positivem Krümmungsmaß […] die Gestalt einer Kugelfläche annehmen würde und welche folglich endlich ist.“15 Riemanns auf der fundamentalen Unterscheidung von Ausdehungs- und Maßverhältnissen beruhende Geometrie ist eine Weiterführung der Gaußschen Differentialgeometrie von Flächen16 auf beliebige Dimensionen. Gauß hatte schon vor Riemann versucht, die Geometrie von Flächen unabhängig von ihrer Einbettung in den dreidimensionalen euklidischen Raum rein aus inneren Maß- und Krümmungsverhältnissen zu begründen. Er hatte dazu ein intrinsisches Längenmaß auf der Fläche, das sog. Linienelement, sowie verschiedene Krümmungsmaße eingeführt und war dabei auf die Möglichkeit nichteuklidischer, gekrümmter Räume gestoßen. Die Riemannsche Geometrie n-fach ausgedehnter Mannigfaltigkeiten, der „Riemannschen Räume“, basiert, axiomatisch betrachtet,17 auf einer kontinuierlich zusammen-

————— 13 Ebd. 14 „Bei der Ausdehnung der Raumconstructionen in’s Unmessbargrosse ist Unbegrenztheit und Unendlichkeit zu scheiden; jene gehört zu den Ausdehnungsverhältnissen, diese zu den Massverhältnisen“ (ebd., 21). 15 Ebd., 22. 16 C.F. Gauß, Allgemeine Flächentheorie (Disquisitiones generales circa superficies curvas) 1827. 17 Vgl. H. v. Helmholtz, Über die Thatsachen, die der Geometrie zugrunde liegen; H. Weyl, Raum – Zeit – Materie, 77–88; eine gegenwärtige Einführung, die auch dem mathematischen Laien halbwegs zugänglich scheint, gibt D. Laugwitz, Differentialgeometrie, daneben vgl. die Lehrbücher über Allgemeine Relativitätstheorie, z.B. R. Sexl/H. Urbantke, Gravitation und Kosmologie, 194–215; H. Goenner, Einführung in die spezielle und allgemeine Relativitätstheorie, 221–256.

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hängenden Punktmenge, dem sog. topologisch dichten Hausdorffschen Raum, auf der im zweiten Schritt lokale Abbildungen auf den n-dimensionalen euklidischen Raum, sog. Karten, definiert werden, wodurch lokale Koordinatensysteme etabliert werden und der Raum zur differenzierbaren Mannigfaltigkeit wird. Im dritten Schritt werden intrinsisch Kurven, Vektoren, Flächen usw. erzeugt und im vierten Schritt, unabhängig von Ausdehnung und Koordinatensystem, ein metrischer Tensor (ein verallgemeinertes Linienelement) definiert, mittels dem intrinsische und koordinateninvariante Längenmessungen möglich werden, die Maßverhältnisse also allein aus der intrinsisch definierten Metrik ohne Einbettung in eine höhere Dimension begründet werden. Besonders ausgezeichnete Riemannsche Räume sind diejenigen konstanter Krümmung, bei denen das Krümmungsmaß in allen Richtungen und an allen Punkten über den gesamten Raum hinweg konstant ist. Die Räume konstanter Krümmung können positives Krümmungsmaß k > 0 haben, dann erhält man sphärisch geschlossene nichteuklidische Geometrie, bei k < 0 erhält man offene hyperbolisch-nichteuklidische Geometrie und bei k = 0 die flache euklidische Geometrie.

Die Räume konstanter Krümmung kehren als einfachste Lösungen der Einsteinschen Feldgleichungen wieder, den sog. Friedmannschen Lösungen. Einstein erhob in seiner Allgemeinen Relativitätstheorie von 1916 die Riemannsche Vermutung des Zusammenhangs von gravitativen Kräften und Metrik des Raumes zum „Prinzip, dass die Materie die Metrik erzeugt“18, und ersetzte die Gravitationskraft durch ein geometrisches Führungsfeld. Aus „Gravitation wird gekrümmte Geometrie“19. Masseteilchen oder Lichtstrahlen bewegen sich in Einsteins geometrischer Theorie der Gravitation nicht mehr auf durch äußere Kräfte angetriebenen gekrümmten Bahnen im ebenen Raum, sondern werden auf sog. geodätischen (kürzesten) Linien durch den aufgrund des Gravitationsfeldes gekrümmten Raum geführt. Die von Alexander Friedmann 1922/1924 gefundenen Lösungen20 für den einfachsten, kugelsymmetrischen Fall einer homogen und isotrop gleichmäßigen Masseverteilung konstanter Materiedichte (Modell der druckfreien idealen Flüssigkeit) über den ganzen Raum lassen drei Fälle zu, bei denen als einzige Variable die Raumkrümmung im Verhältnis zur durchschnittlichen Materiedichte und zur derzeitigen Expansionsrate des Universums verbleibt. Entspricht die Materiedichte einer bestimmten kritischen Dichte, ist der Raum euklidisch flach, ist sie größer, ist der Raum (d.h. die Raumzeit) sphärisch geschlossen, ist sie kleiner, erhält man ein unendliches hyperbolischoffenes Universum.

————— 18 H. Weyl, Raum – Zeit – Materie, 296. 19 J. Audretsch, Ist die Raum-Zeit gekrümmt? Der Aufbau der modernen Gravitationstheorie, 72. 20 A. Friedmann, Über die Krümmung des Raumes; ders., Über die Möglichkeit einer Welt mit konstanter negativer Krümmung.

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Es sollte daher aus Messung der mittleren Massendichte des Universums möglich sein, eine empirische Entscheidung darüber zu treffen, welche Geometrie im Universum realisiert ist. Dass diese Messung sehr schwierig ist und von vielen Faktoren abhängt, von der Gleichverteilung und der Hubble-Expansionsrate etwa und in welchem Maß die sog. „dunkle“ Materie existiert, ist ein anderes Problem. Zum gegenwärtigen Stand ist eine definitive Entscheidung nicht möglich, die Materiedichte scheint knapp unterhalb des kritischen Wertes zu sein, was auf ein offenes Universum hinweisen würde – für ein geschlossenes Universum müsste sie 20–100 mal größer sein.21

2. Das Verhältnis von Empirie und Geometrie: Uns sollen hier nicht die theoretischen und experimentellen Details, sondern nur die naturphilosophisch prinzipielle Frage nach dem Verhältnis von Empirie und Geometrie des Raumes interessieren. Erstmals hatte Gauß aufgrund der Entdeckung nichteuklidischer Geometrien die bis Newton und Kant ganz unkritisch vorausgesetzte Annahme der apriorischen Gültigkeit der euklidischen Geometrie auch für den realen Raum (als synthetisches Apriori) hinterfragt. Die Entscheidung über das Maß der Raumkrümmung und damit über die „wahre“ Geometrie des Raumes sei nur a posteriori möglich durch Messung der Krümmungskonstante über einen größeren Raumabschnitt hinweg. „Wäre die Nicht-Euklidische Geometrie die wahre, und jene Constante in einigem Verhältnisse zu solchen Grössen, die im Bereich unserer Messungen auf der Erde oder am Himmel liegen, so ließe sie sich a posteriori ausmitteln“22. Dazu hatte Gauß über ein Dreieck von 69 x 85 x 107 km zwischen dem Brocken im Harz, dem Hohen Hagen im Spessart und dem Inselberg bei Göttingen die Winkelsumme gemessen, aber innerhalb der Messsicherheit keine Abweichung von 180° feststellen können (sphärische Geometrie hätte eine Winkelsumme >180°, hyperbolische < 180° zur Folge). Es gibt eine Reihe von prinzipiellen Einwänden gegen Gauß’ Verfahren, die wir summarisch diskutieren wollen23, weil sie Grundlegendes über das Verhältnis von Empirie und Theorie des Raumes besagen.

————— 21 Vgl. R. u. H. Sexl, Weiße Zwerge – Schwarze Löcher, 125. 22 C.F. Gauß, Brief an Taurinus (8.11.1824), in: Werke, Bd. 8, 187; vgl. ders., Brief an Olbers (28.4.1817), in: Werke, Bd. 8, 177: „Ich komme immer mehr zu der Überzeugung, dass die Nothwendigkeit unserer Geometrie nicht [a priori, U.B.] bewiesen werden kann, wenigstens nicht vom menschlichen Verstande noch für den menschlichen Verstand. Vielleicht kommen wir in einem andern Leben zu andern Einsichten in das Wesen des Raums, die uns jetzt unerreichbar sind. Bis dahin müsste man die Geometrie nicht mit der Arithmetik, die rein a priori steht, sondern etwa mit der Mechanik in gleichen Rang setzen.“ 23 Vgl. R. Carnap, Einführung in die Philosophie der Naturwissenschaft, 144–151.

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Der schwächste Einwand von H. Dingler, dem Begründer des Operationalismus,24 betrifft die Konstruktion der Messgeräte, die unter Annahme der Euklidizität der Geometrie verfertigt wurden, also auch nur euklidische Messergebnisse zeigen könnten. Der Einwand wäre richtig, wenn Gauß ein euklidisches Riesengeodreieck angelegt und daran die Winkel abgelesen hätte. Die Instrumente waren aber im Vergleich zur Entfernung sehr klein, weshalb die Euklidizität im Kleinen nichts über die Geometrie im Großen vorherbestimmt. Der zweite Einwand betrifft das Messverfahren. Es setzt voraus, dass sich Lichtstrahlen auf kürzesten, sog. geodätischen Linien bewegen. Statt die euklidische Geometrie aufzugeben, könnte man die Winkelabweichung von 180° auch auf die Krümmung der Lichtstrahlen auf dem Weg durch den Raum zurückführen. Dieser Einwand ist im Prinzip beherrschbar, indem man alle möglichen Strecken zwischen zwei Punkten mit einem starren Maßstab nachmisst. Wenn dann der per Licht gemessene Abstand dem kürzesten per Maßstab gemessenen Abstand entspricht, wäre bewiesen, dass Licht sich auf geodätischen Linien bewegt. Dafür wäre allerdings die Existenz von absolut starren Maßstäben erforderlich, also von solchen Maßstäben, die auf dem Weg durch den Raum ihre Eigenlänge weder durch innere physikalische Vorgänge noch durch Änderung der Raumstruktur verändern. Ob sie das täten, könnte man wiederum aber nur durch den Abgleich an anderen, tatsächlich völlig starren und unveränderlichen Maßstäben feststellen. Daher war schon Helmholtz25 der Meinung gewesen, dass die intuitiv evidente und aus der Alltagserfahrung hinreichend begründete Annahme der Längenkonstanz von Maßstäben durch den Raum für alle praktischen Zwecke ausreiche, so dass man pragmatisch an der näherungsweisen Starrheit festhalten kann und insoweit zu einer umso exakteren empirischen Entscheidung über die Geometrie kommen kann, sofern man eine mechanische Theorie über das Verhalten der Körper bei Bewegung und Beschleunigung hinzuzieht. In Ermangelung einer solchen exakten Mechanik der Körperverformung bei Bewegung hat allerdings Einstein die Längenmessung durch Transport von Maßstäben in seiner speziellen Relativitätstheorie aufgegeben und durch die Zeitmessung von Lichtlaufstrecken ersetzt, also den Lichtweg als geodätisch definiert. Er hat damit dem Machschen Prinzip Rechnung getragen, dass niemals der Raum selbst, sondern immer empirisch gegebene Objekte und Abstände durch Stäbe und Lichtstrahlen gemessen werden. Niemals wird der Raum an sich gemessen, sondern so wie er sich unter den Raum- und Zeitmessungen verhält, also relativ zu bewegten Körpern. Dass dem Begriff der „absoluten Ruhe“ weder in Mechanik noch in Elektrodynamik Erscheinungen entsprechen, hat Einstein 1905 zum „Prinzip der Relativität“ seiner speziellen Theorie erhoben.26 Dem absoluten Raum, also dem leeren unendlichen „Behälter“ ohne Inhalt, kommt auch nach Mach und Poincaré keine Existenz zu, womit sie ihrer „antimetaphysischen“ Einstellung Rechnung tragen, wonach unbeobachtbaren Größen keine Bedeu-

————— 24 Die Grundbegriffe der Geometrie werden hiernach durch ideale Verfahren, für die prinzipielle Konstruktionsvorschriften angegeben werden müssen, erzeugt, s.u. 6.2.4. 25 Quellenzitate bei D. Evers, Raum – Materie – Zeit, 47f. 26 A. Einstein, Zur Elektrodynamik bewegter Körper, 26.

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tung zukommt. Die Behauptung des „absoluten Raums“, so Poincaré, sei „eine Behauptung, welche an sich keinen Sinn hat“27. „Über den absoluten Raum und die absolute Bewegung“, so Mach, „kann niemand etwas aussagen. Sie sind bloße Gedankendinge, die in der Erfahrung nicht aufgezeigt werden können.“28 Daher habe der Begriff „gar keinen praktischen und auch keinen wissenschaftlichen Wert“, es sei „ein müßiger ‚metaphysischer‘ Begriff“29.

3. Die Konventionalität der Geometrie: Daraus folgt noch nicht, dass über die Geometrie des Raumes gar keine Aussagen getroffen werden können, aber sie können es nur als empirische Aussagen a posteriori, nachdem schon die Geometrie per Konvention festgelegt wurde. Henri Poincaré gilt als Begründer des Konventionalismus30, nach dem der Raum überhaupt keine Geometrie trägt, sondern ihm per Konvention aus Gründen der Bequemlichkeit aufgeprägt wird. Poincaré radikalisierte die Unterscheidung Riemanns zwischen „Ausdehnung“ und „Maß“ dahingehend, dass außer dem mathematischen kontinuierlichen Punktraum auch der wirkliche Raum für sich ohne jede metrische Eigenschaft sei, also keine intrinsische, quasi natürliche Metrik besitze, sondern die Geometrie durch freie Wahl festgesetzt würde. Was für die Axiomatik der Geometrie überhaupt gilt, gelte auch für die Geometrie des physischen Raumes: „Die geometrischen Axiome sind also weder synthetische Urteile a priori noch experimentelle Tatsachen. Es sind auf Übereinkommen beruhende Festsetzungen.“31 Zwar sei die Wahl der Geometrie frei und nur durch das Gebot der Widerspruchsfreiheit des Axiomensystems begrenzt, aber sie sei nicht willkürlich oder beliebig. Die Wahl solle „von experimentellen Tatsachen geleitet“ sein, d.h. eine möglichst genaue Übereinstimmung mit dem beobachteten Verhalten der Körper zeigen. Als zweites Kriterium der Auswahl nennt Poincaré die mathematische Einfachheit. „die Euklidische Geometrie ist die bequemste und wird es immer bleiben: 1. weil sie die einfachste ist […] 2. weil sie sich hinreichend gut den Eigenschaften der natürlichen, festen Körper anpasst.“32 Die Konventionalität der Geometrie hat, Poincaré folgend, der Wiener Kreis, namentlich M. Schlick, H. Reichenbach und in besonders scharfer Form, R. Carnap vertreten33. Notwendig vorbestimmt sei der physische Raum nur in seiner topologischen Struktur als Kontinuum, weil diese Form notwendig in aller Erfahrung erscheine und

————— 27 H. Poincaré, Wissenschaft und Hypothese, 92; in der zweiten Auflage hieß es: „Wer vom absoluten Raum spricht, gebraucht ein Wort ohne Bedeutung“ (ebd., 21906, 93). 28 E. Mach, Die Mechanik. Historisch-kritisch dargestellt, II.6., 222f. 29 Ebd., 217. 30 Vgl. G. Wolters, Art. Konventionalismus, EPWTh, zu den verschiedenen Spielarten, ebenso zum hier verhandelten Problem Gölz, Dasein und Raum, Kap. II, §9: Die Unbestimmtheit der metrischen Struktur des wirklichen Raumes und die sogenannte Konventionalität der Geometrie. 31 Poincaré, Wissenschaft und Hypothese, 51. 32 Ebd., 52. 33 Carnap, Der Raum, 38–40, Zit. 39f.

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vorausgesetzt sei, und daher als „‚Tatbestand‘ der Erfahrung“ bezeichnet werden kann. Alle geometrischen Formen einschließlich der Maßstäbe und Maße hingegen seien „wahlfreie Form“ und werden per definitionem zu solchen. Die Metrik ergibt sich daraus, dass der „Tatbestand“ bzw. die „notwendige Form“ des Kontinuums „einer weiteren Formung in wahlbestimmter Form unterworfen“ wird, so dass sich „aus der Wahl einer Maßsetzung ein bestimmter metrischer Naturraum“ ergibt.

Die Gültigkeit einer bestimmten Geometrie ist damit aus der Wahl der Metrik bestimmt. H. Reichenbach hat diese Form des Konventionalismus die These von der „Relativität der Geometrie“34 genannt, nach der es gar keinen Sinn hat zu fragen, ob eine bestimmte Geometrie die wahre sei, da sie durch die Wahl des Maßes festgelegt wird. Einstein selbst hat in „Geometrie und Erfahrung“, einem Vortrag vor der Preußischen Akademie der Wissenschaften 1921, in Auseinandersetzung mit Poincaré dem Konventionalismus teilweise recht gegeben, aber die extreme Form der rein konstruktivistischen Geometrieauffassung abgelehnt. Zwar sei die Axiomatik der Geometrie rein konstruktiv und ohne Bezug auf den realen Raum: „Insofern sich Sätze der Mathematik auf die Wirklichkeit beziehen, sind sie nicht sicher, und insofern sie sicher sind, beziehen sie sich nicht auf die Wirklichkeit.“35 Das bedeutet aber nicht, dass die Geometrie der Wirklichkeit nicht zugeordnet werden kann. Denn wenn man zur axiomatischen Geometrie eine Annahme über das geometrische Verhalten praktisch starrer Körper hinzufügt, wenn man sagt: „Feste Körper verhalten sich bezüglich ihrer Lagerungsmöglichkeit wie Körper der euklidischen Geometrie von drei Dimensionen; dann erhalten die Sätze der euklidischen Geometrie Aussagen über das Verhalten praktisch starrer Körper.“36 Mittels dieser sog. Referenzhypothese37, also der Zuordnungsdefinition der Anwendung von Geometrie auf Körper, wird die axiomatische Geometrie zur praktischen und „die Frage, ob die praktische Geometrie der Welt eine euklidische sei oder nicht, hat einen deutlichen Sinn, und ihre Beantwortung kann nur durch die Erfahrung geliefert werden.“38 Fragen der Raumgeometrie, etwa ob der Weltraum endlich oder unendlich ist, euklidisch oder nicht, sind kraft der Referenzhypothese „eigentlich physikalische Fragen“ und empirisch entscheidbar. Die Geometrie (G), so Einstein, sagt für sich nichts über das Verhalten der wirklichen Dinge aus, sondern nur zusammen mit den physikalischen ————— 34 H. Reichenbach, Philosophie der Raum-Zeit-Lehre, 41; auch M. Schlick, Raum und Zeit in der gegenwärtigen Physik, 195ff; heute vertreten etwa von Audretsch, Ist die Raum-Zeit gekrümmt?, 76; B. Kanitscheider, Kosmologie, 426. 35 A. Einstein, Geometrie und Erfahrung, 133. 36 Ebd., 135. 37 Vgl. B. Kanitscheider, Das Weltbild Albert Einsteins, 175. 38 Einstein, Geometrie und Erfahrung, 135.138f.

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Gesetzen (P). Nur die Summe G + P unterliegt der Kontrolle der Erfahrung. G kann willkürlich gewählt werden, ebenso Teile von P. Aber der Rest von P muss in Beziehung auf G so gewählt werden, dass G + P der Erfahrung gerecht wird. So kann etwa die von Newtons Gravitationsgesetz nicht erklärbare Periheldrehung des Merkur oder die 1919 als triumphale Bestätigung von Einsteins Allgemeiner Relativitätstheorie gemessene Lichtablenkung im Gravitationsfeld durch Einsteins Gravitationsgleichungen im Riemannschen Raum beschrieben werden, oder aber durch ein verändertes Newtonsches Gesetz im Euklidischen Raum. Im zweiten Fall ist die (euklidische) Geometrie einfach, die physikalischen Gesetze aber sehr kompliziert (und bis heute nicht geschlossen formulierbar), im ersten Fall ist die (nichteuklidische) Geometrie komplizierter, die physikalischen Gesetze dagegen einfach und geschlossen formulierbar (wenn auch nur für einfache Fälle lösbar). Die Kombination von Geometrie und Physik ist jeweils gleichwertig, die Entscheidung aber keine bloße Frage der Konvention oder der Zweckmäßigkeit, sondern eine physikalische Frage.

Die Wahl der Geometrie bedeutet je eine andere Physik, deren Richtigkeit in der Zuordnung von G + P empirisch prüfbar ist. Die „Relativität der Geometrie“ bedeutet nicht, dass keine objektive Aussage über die Geometrie des wirklichen Raumes möglich wäre. Im Gegenteil: Wenn die Geometrie G und das Maß M festgesetzt wurde, dann gilt die Geometrie auch objektiv; zwar nur dann, dann aber nicht mehr beliebig, sondern nach Festsetzung von M ist G „eine inhaltliche Aussage über die Struktur des wirklichen Raumes“39. Objektive Aussagen über den realen Raum sind, so hat H. Reichenbach den konstruktivistischen Konventialismus Carnaps im Sinne Einsteins abgemildert, möglich, aber als „Relationsaussage“40. Realitätsaussagen, etwa über die Geometrie des realen Raumes, können empirisch ermittelt werden „durch Kombination einer Maßaussage mit der zugrunde liegenden Zuordnungsdefinition.“41 4. Raumgeometrie und Dimensionalität: Durch die vorgestellten naturphilosophischen Überlegungen werden unsere beiden Eingangsthesen bestätigt, dass die Raumstruktur durch die Körper und durch die Art der Betrachtung konstituiert wird. Es ergibt sich, dass man in einer quantitativen, maßgeometrischen Weise nicht vom Raum an sich reden kann ohne Bezug auf die darin befindlichen und bewegten Körper, d.h. nicht ohne Bezug auf die physikalischen Gesetze und nicht ohne Rücksicht auf sein Verhältnis zu uns, d.h. zur gewählten Struktur von Raum und Gesetzen. G bestimmt P ————— 39 40 41

Gölz, Dasein und Raum, 141. Reichenbach, Philosophie der Raum-Zeit-Lehre, 50. Ebd., 47.

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und P wirkt auf G zurück. „Der Raum wirkt auf die Materie und schreibt ihr vor, wie sie sich zu bewegen hat. Umgekehrt wirkt die Materie auf den Raum zurück und schreibt ihm vor, wie er sich zu krümmen hat.“42 Aber beide Wirkungen sind ihrem quantitativen Gehalt nach abhängig von der Raumtheorie, also der gewählten Form von G. Diese ist, wenn sie empirisch prüfbar und zweckmäßig sein soll, so zu wählen, dass die physikalischen Gesetze möglichst einfache Form annehmen, und überdies so, dass die empirische Prüfung auch technisch ausgeführt werden kann. Dazu ist aber eine Zuordnungsdefinition von G auf das praktische geometrische Verhalten von Körpern nötig. Das praktisch geometrische Verhalten von Körpern beim Einsatz im Experiment hängt aber auch davon ab, nach welcher Geometrie die Messgeräte hergestellt wurden. Dazu benötigt man eine operative Geometrie, also ein operatives Verfahren, wie man die geometrischen Grundbegriffe wie Länge, Fläche, Winkel usw. in geformte Materialien übersetzt. Dafür scheint die euklidische Geometrie die natürliche oder wenigstens die einfachste zu sein. So kann man etwa, um Hugo Dinglers Musterbeispiel für den „Operationalismus“ zu nehmen, eine ebene Fläche durch gegenseitiges Reiben dreier Körper aneinander herstellen (das Reiben von zwei Körpern ergibt nur eine konvex/konkav gekrümmte Oberfläche). Durch solche Verfahren wird die euklidische Geometrie „technisch erzwingbar“43. Dass dies möglich ist, wäre im Einzelnen zu zeigen. Hierzu ist auf die „Protophysik des Raumes“ zu verweisen, die P. Janich auf den Vorarbeiten von H. Dingler, P. Lorenzen und R. Inhetween aufbauend entwickelt hat.44

Uns geht es mit der Behauptung, dass die Zuordnungsdefinition der axiomatischen auf die praktische Geometrie auch in praxi durchführbar ist, nur um die Plausibilisierung der These, dass die Geometrie des physikalischen Raums zwar axiomatisch gesetzt wird, aber in praxi (jedenfalls für euklidische Wahl) durch den Bezug auf lebensweltliche geometrische Formen und Körper fundiert ist, auf diese zurückgeführt und aus diesen konstruiert werden kann. Die Struktur des kosmischen Raums ist damit (jedenfalls in euklidischer Näherung) begründet in den geometrischen Strukturen alltagsweltlicher Praxis. Die Überführung von Raumstrukturen des gelebten Raums auf den kosmischen Raum ist in kontrollierten Verfahren möglich. Dies gilt nicht nur für die Maßstruktur, sondern auch für die Ausdehnungsstruktur. Die Dreidimensionalität des Raums im Besonderen ist weder erst durch den topologischen Raumbegriff als ausgedehntes Kontinuum noch sonst wie naturgesetzlich gegeben, sondern ein kulturelle Errungen————— 42 C. Misner/K. Thorne/J. Wheeler, Gravitation, 5. 43 Janich, Das Maß der Dinge, 73–89, 89. 44 P. Janich, Zur Protophysik des Raumes, in: G. Böhme (Hg.), Protophysik. Für und wider eine konstruktive Wissenschaftstheorie der Physik, 83–130; Janich, Das Maß der Dinge, 35ff; ders., Kleine Philosophie der Naturwissenschaften, 117–127.

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schaft, die in lebenspraktischen Vollzügen beruht. Die dreidimensionale Strukturierung und Erschließung des Raums beginnt beim Spiel des Kindes mit Klötzen und reicht, über das Stapeln von Quadern zu verschienen Zwecken bis zum Bau des Hauses in drei Raumrichtungen. Im Prinzip wäre es auch möglich, der Zylindersymmetrie des gelebten Raums folgend, zylindrische oder halbkugelige Häuser zu bauen, aber die Quaderform hat sich praktisch durchgesetzt. Auf jeden Fall ist die Dreidimensionalität des Raums nicht naturgegeben, sondern wird ihm durch lebenspraktische Kulturtätigkeit aufgeprägt. „Die Dreidimensionalität ist also keine naturgesetzliche Eigenschaft der Welt, sondern eine kulturgesetzliche Errungenschaft der Lebensbewältigung des Menschen mit Hilfe poietisch produzierter Artefakte.“45 Ob und warum der Raum gerade drei Dimensionen hat, ist eine in der Naturphilosohie vieldiskutierte Frage.46 Aristoteles sah mit den Pythagoräern die Dreidimensionaität in der Vollkommenheit der Dreizahl begründet, da jeweils Anfang, Mitte und Ende ein vollkommenes Ganzes, eine Allheit bilden.47 Galilei wandte sich gegen die allgemeine Übertragung der Dreizahl auf die Natur – in Ansehung der Beine etwa sei zwei oder vier vollkommener als drei – und forderte einen strengen Beweis, wie es sich in den deduktiven Wissenschaften gehört.48 Zur Ausmessung eines Zimmers benötigt man drei gerade, zueinander rechtwinklige Linien, und zwar genau drei, da man durch einen Punkt nicht mehr als drei aufeinander rechtwinklige Linien legen kann. Das Argument bezieht sich aber nur auf die Abbildung und Messung des Raumes durch rechtwinklige, kartesische Koordinaten, nicht auf die Dimensionalität des Raumes selbst. Leibniz meinte ähnlich, dass Gott bei der Schöpfung die Welt notwendigerweise dreidimensional schafften musste, weil die Geometer bewiesen hätten, dass sich in einem Punkt höchstens drei Geraden paarweise rechtwinklig schneiden können. Ein solcher Beweis war aber noch nie gegeben worden. An der Stelle, auf die Leibniz sich beziehen könnte,49 dem XI. Buch Euklids, bewies Euklid für die räumliche Geometrie, die Stereometrie, nicht die Dreidimensionalität, sondern setzte sie voraus, indem er definierte: Ein Körper ist, was Länge, Breite und Tiefe hat.50 Erst im 19. Jahrhundert kam es zur streng mathematischen Behandlung des Problems,51 für Gauß fiel es zusammen mit der für ihn unbeantworteten Frage, ob der Raum eine euklidische oder eine nichteuklidische Geometrie trägt. Poincaré konnte ein geometrisch-topologisches Argument für die untere Grenze der Zahl der Dimen-

————— 45 Janich, Das Maß der Dinge, 128. 46 Vgl. Jammer, Problem des Raumes, 193–208; P. Janich, Euklids Erbe. Ist der Raum dreidimensional? 47 Aristoteles, Über den Himmel, A I,1, 268a. 48 G. Galilei, Dialog über die beiden hauptsächlichsten Weltsysteme, das ptolemäische und das kopernikanische, Schriften I, 185–190. 49 Vgl. Janich, Das Maß der Dinge, 103. 50 Euklid, Die Elemente, lib.XI, Def.1. 51 B. Bolzano, Versuch einer objektiven Begründung der Lehre von den drei Dimensionen des Raumes.

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sionen geben: Um den Raum zu teilen, braucht man Schnittflächen; um Flächen zu teilen, braucht man Linienschnitte; um Linien zu teilen, braucht man Punkte. Ein Punkt kann nicht mehr geteilt werden, denn er ist kein Kontinuum. Also sind Linien die niedrigstdimensionalen Kontinua, Flächen die nächsthöheren und der Raum ein dreidimensionales Kontinuum. Ein physikalisch-dynamisches Argument für die Dreidimensionalität des Raumes formulierte zuerst Kant auf Basis der Newtonschen Physik (den Beweis Leibniz’ hielt er mit Recht für einen „Zirkelschluss“52, denn er setzt das, was er beweisen will – die Dreidimensionalität – für den Beweis schon voraus). Das Kraftgesetz, nach dem die Substanzen aufeinander wirken, sollte im Zusammenhang stehen mit der Dimension des Raumes, in dem sie sich bewegen. Da nach dem Newtonschen Gravitationsgesetz die Gravitationskraft mit dem Quadrat der Entfernung abnimmt, sollte der Raum dreidimensional sein. In der Tat zeigt eine neuere allgemeine Überlegung, dass eine Zentralkraft nur dann stabile Zustände erlaubt, wenn die Kraft mit der (n-1)ten Potenz des Abstandes abnimmt.53 Der Raum, in dem das quadratische Newtonsche Gesetz gilt, muss daher dreidimensional sein. Allerdings, fügt Kant hinzu, hätte Gott auch ein anderes Kraftgesetz und damit eine andere Dimension des Raumes wählen können.54 Nach der Relativitätstheorie ist das Kraftgesetz in der Tat nicht quadratisch und die Frage nach der Dimensionalität des Raumes aufgrund der Koppelung von Gravitation und Geometrie nicht eindeutig zu beantworten. Entweder man geht von einem ebenen euklidischen Raum der Dimension drei aus, dann kann das Kraftgesetz nur als Reihenentwicklung der Potenz zwei mit Störung angegeben werden, oder man nimmt einen nichteuklidischen Raum an, in dem sich die Körper auf gekrümmten Bahnen bewegen, dann kann man die euklidische Dreidimensionalität nur lokal behaupten. Poincarés Konventionalismus hat die Wahl der Geometrie des Raumes und damit auch seiner (rechtwinkligen) Dimensionen für Konvention gehalten. Eine außerphysikalische, transzendentalphilosophisch-phänomenologische Begründung für die Dreizahl der Dimensionen versuchte O. Becker zu geben. Aufgrund der „Geometrie“ des Seh- und Wahrnehmungsfeldes argumentierte er, dass der homogene Raum immer eine Dimension mehr als das Sinnenfeld haben muss. Da das Sinnenfeld wenigstens zwei und höchstens zwei Dimension hat, muss der homogene Raum drei Dimensionen haben.55 Eine evolutionsbiologische Erklärung gab die evolutionäre Erkenntnistheorie darin, dass sich im Laufe der Evolution unsere Raumanschauung in Anpassung an die dreidimensionale Welt entwickelt habe.56 In der Phylogenese des Menschen habe sich zur Orientierung im Schwerefeld der Erde das Gleichgewichtsorgan im Ohr mit drei

————— 52 I. Kant, Gedanken von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte, §9, Vorkritische Schriften 1, 33. 53 G.J. Whitrow, Why physical space has three dimensions? 54 Kant, Gedanken von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte, §10, 34. 55 O. Becker, Beiträge zur phänomenologischen Begründung der Geometrie und ihrer physikalischen Anwendungen, vgl. auch A. Gosztonyi, Der Raum, Bd. 2, 1072f. 56 G. Vollmer, Evolutionäre Erkenntnistheorie, 56.

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paarweise aufeinander senkrecht stehenden Bogengängen ausgebildet. Allerdings wird in dieser Anpassungsthese das zu Begründende schon vorausgesetzt, nämlich die Dreidimensionalität des Raumes. Man kann eher von einer „kognitiven Konstitution“ des euklidisch-dreidimensionalen Raumes sprechen.57 Eine linguistisch-phänomenalistische Erklärung meint, dass die Dreidimensionalität des Raumes mit den Sprachkonventionen der Alltagssprache gegeben sei. „Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass weder die Mathematik noch die Naturwissenschaften noch die Sprachwissenschaften eine Begründung geben, worauf die Auszeichnung der Dreidimensionalität beruht.“58 Die kulturgeschichtliche Erklärung scheint die plausibelste zu sein.

6.3 Die vorempirischen kosmologischen Prinzipien Kosmologie ist wie jede physikalische Disziplin nicht voraussetzungslos. Als systematisch konzipierte und methodisch geleitete Wissenschaft erfordert sie eine Reflexion über ihren Gegenstand (1.), ihre Prinzipien (2.) und ihre Grundbegriffe (3.). 1. Gegenstand der Kosmologie ist nicht die Welt im Ganzen oder als Ganze,59 sondern die Weltstruktur im Großen.60 Physikalische Kosmologie ist entgegen der generalen philosophischen Kosmologie eines Christian Wolff (cosmologia generalis), deren Gegenstand die Welt als Ganze war und die „eine allgemeine Theorie der Welt aus Prinzipien der Ontologie demonstriert[e]“61, eben „nicht eine Art Ontologie, sondern Megaphysik, die Wissenschaft von den globalen Zügen der Natur.“62 Kosmologie behandelt die großräumigen Strukturen des Kosmos, ihr Gegenstand ist das beobachtbare Universum. Der Kosmos der Kosmologie ist also mitnichten „die Welt“ oder „das All“ – denn zum „Weltganzen“ gehörte „alles“, also mit Poppers Drei-Welten-Theorie gesagt nicht nur die WELT 1 der physischen Dinge und Prozesse, sondern auch die WELT 2 der subjektiven Bewusstseinszustände sowie die WELT 3 des objektiven Wissens – sondern der beobachtete bzw. für beobachtbar gehaltene Bereich der außerterrestrischen physikalischen Objekte und Prozesse, der aus dem physikalisch unzugänglichen, ————— 57 U. Heiden/G. Roth/M. Stadler, Das Apriori-Problem und die kognitive Konstitution des Raumes. 58 Janich, Das Maß der Dinge, 101. 59 Gegen C. Wassermann, Art. Kosmologie, WdC, 682, der Kosmologie definiert als das, was „mit naturwissenschaftlichen Methoden von Aufbau, Entstehung und Entwicklung des Weltalls als Ganzes“ erforscht wurde, wird und werden kann. 60 B. Thüring, Methodische Kosmologie, 11. 61 „cosmologia generalis scientifica, quae theoriam generalem de mundo ex Ontologiae principiis demonstrat“ (C. Wolff, Cosmologia generalis, 3). 62 Kanitscheider, Kosmologie, 19.

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nur als reinem Begriff fassbaren Weltganzen herausgeschnitten wurde. Der Bedeutungsumfang des Begriffs „Universum“ ist weder seiner Extension noch seiner Intension nach ohne weiteres klar. Die Extension ist durch die experimentellen Methoden und die Reichweite von Theorie und Experiment beschränkt. Die Beobachtungsgrenzen verschieben sich mit dem Stand der Forschung, so dass Kosmos in diesem Sinn „das gegenwärtig der Beobachtung zugängliche größte gravitativ wechselwirkende System“63 meint. Der Beobachtung sind auch prinzipielle physikalische Grenzen gesetzt. Der Beobachtungshorizont ist die Grenze, über die hinaus – ein expandierendes Universum nach dem Hubble-Gesetz vorausgesetzt – keine Beobachtung möglich ist, weil dort die Expansionsgeschwindigkeit des Raums und der Galaxien Überlichtgeschwindigkeit annimmt (sog. Teilchenhorizont), bzw. die Grenze als dem geometrischen Ort aller Ereignisse, von denen aus Lichtsignale nicht in endlicher Zeit beim Beobachter ankommen können (sog. Ereignishorizont). Beobachtung ist nur innerhalb des raumzeitlich kausal zusammenhängenden und in endlichem Zeitabstand zum Beobachter befindlichen Bereiches der Raumzeit möglich. Dies ist der sog. zeitartige Vergangenheitslichtkegel des Beobachters, also der Bereich, aus dem den Beobachter kausal verknüpfte Ereignisse aus der Vergangenheit in endlicher Zeit erreichen können. Ebenso sind Extrapolationen und Voraussagen nur für den Innenbereich des zeitartigen Zukunftlichtkegels möglich. Die sog. raumartigen Ereignisse, die zu uns jetzt und hier keinen kausalen Wirkungszusammenhang haben können, liegen außerhalb des Ereignis- und damit auch außerhalb des Beobachtungshorizonts. Horizonte sind, wie man sich aus der optischen Analogie leicht klarmachen kann, zwar als Horizonte prinzipielle Erkenntnisschranken, sie legen aber den Umfang des Erkennbaren nicht fest, sondern verschieben sich mit dem Standpunkt des Beobachters. Um die intensionale Differenz zwischen dem lediglich der Beobachtung nach begrenzten Universum und dem gänzlich unzugänglichen Weltganzen deutlich zu machen, hat E. Harrison vorgeschlagen, zwischen „UNIVERSUM“ (Universe) als Begriff für das Weltganze und „Universum“ (universe) als Begriff für den herausgeschnittenen beobachteten Bereich zu unterscheiden.64 Das UNIVERSUM enthält das Universum, es enthält auch uns, die Kosmologen, welche Modelle des UNIVERSUMS (=Universa) konstruie————— 63 H. Goenner, Einführung in die Kosmologie, 2; gegen Evers, Raum – Materie – Zeit, 388, der das „gegenwärtig“ unterschlägt. 64 E. Harrison, Kosmologie, 31–33; hierzu vgl. Kanitscheider, Kosmologie, 388; W. Saltzer/P. Eisenhardt, Die Erfindung des Universums? 9.

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ren. „Universum“ ist das wissenschaftliche Modell von „UNIVERSUM“. Diese Unterscheidung ist physikalisch unnötig, weil der Bezug (die Referenz oder das Abbildungsverhältnis) von Universum auf UNIVERSUM ganz unbestimmt bliebe, UNIVERSUM lediglich eine Art Ding an sich (das „Ganze“) bezeichnete, das nie zur Erscheinung kommt, und daher physikalisch ohne jegliche Bedeutung wäre. Die Unterscheidung ist theologisch vordergründig sinnvoll, weil das physikalische Universum zu unterscheiden ist von der Welt, die als Schöpfung Gottes angesprochen wird. Aufgrund der methodischen und erkenntnistheoretischen Beschränkungen physikalischer Kosmologie sind Universum und Schöpfung nicht identisch, weshalb Gottes Schöpfersein nicht direkt auf den physikalischen Kosmos bezogen werden kann. Die Unterscheidung zwischen dem UNIVERSUM als Schöpfung Gottes und dem physikalisch beschreibbaren Universum ist aber hintergründig auch theologisch eher Verschleierung als Lösung des Problems, da auch theologisch der Bedeutungsumfang dessen, was „UNIVERSUM“ bezeichnen soll, bestimmt werden müsste. Man müsste „Schöpfung“ und „UNIVERSUM“ in Korrelation bringen und dann auf „Universum“ beziehen, aber weshalb sollte der Bedeutungsumfang von „UNIVERSUM“ als Schöpfung noch ein anderer sein als der des geschaffenen „Universums“? Die erkenntnistheoretische Schranke, UNIVERSUM weder empirisch noch theoretisch bestimmen zu können, ist keine, die einen bekümmern muss, es sei denn, man wollte hinter Kant zu einem metaphysischen Realismus zurückkehren und die Kosmologie aus einem apriorischen Begriff „UNIVERSUM“ deduzieren. Wichtiger ist es, die Erkenntnishorizonte von „Universum“ klar zu benennen, um den Kosmos der Kosmologie nicht für „die Welt“ zu halten. Der Kosmos der Kosmologie ist, wie alle physikalischen Gegenstände, ein Objekt, während „die Welt“ als regulative Idee gerade kein Objekt ist. Wenn der Kosmos ein Objekt ist, stellt sich die Frage, für wen er Objekt ist. „Wenn es das Objekt ‚Welt‘ gibt, für wen ist es Objekt?“65 Wenn „Natur“, so die Überlegung von Carl Friedrich v. Weizsäcker, die Allheit der physikalischen Objekte in der Einheit der Zeit meint, dann gehört dazu auch ihre Erfahrung, denn: „Zur Allheit der Objekte gehören nun auch die Subjekte, für welche die Objekte Objekte sind.“66 Zum Kosmos als Objekt gehört dessen Erfahrung als Objekt mit hinzu. Der Kosmos der Kosmologie ist der als Objekt „Kosmos“ durch den Kosmologen erfahrene und beschriebene Gegenstand, zu deren Konstitution der Kosmologe in zweifacher Hinsicht beiträgt: Der Kosmos ist erstens das beobachtete und kein an sich bestehendes Universum, das zweitens außer ————— 65 66

C.F.v. Weizsäcker, Die Einheit der Natur, 469. Ebd., 470.

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durch die Methoden auch durch die Voraussetzungen präformiert wird, unter denen die Beobachtungen erfolgen und überhaupt möglich sind. Daher ist es für eine systematische aufgebaute und methodisch reflektierte Kosmologie unumgänglich, diese Voraussetzungen, die sog. „kosmologischen Prinzipien“ aufzuklären. Die kosmologischen Prinzipien sind die notwendigen Bedingungen dafür, überhaupt Kosmologie betreiben zu können. Ihre Geltung und ihr Anspruch ist der „eines synthetischen Apriori, also einer nichtempirischen Information über die Welt als Bedingung der Bezugnahme auf die Welt überhaupt.“67 2. Kosmologische Prinzipien: Für die Möglichkeit von Kosmologie muss unterstellt werden, dass das Universum im anvisierten Bereich auch beobachtbar ist, wofür die „Existenz eines gesetzesartigen Zusammenhangs“68 unterstellt werden muss. Die physikalischen Gesetze müssen, wie sie hier und heute gültig sind, überall und zu allen Zeiten gültig sein. Kosmologie erfordert einen nomologischen Zusammenhang und eine nomologische Konstanz des Universums über Raum und Zeit hinweg. Nur dann kann der beobachtete Teil repräsentativ für das (unbeobachtete und unbeobachtbare) Ganze des Universums stehen (Äquivalenz von Teil und Ganzem), nur dann ist das Übertragungsprinzip gerechtfertigt, Beobachtungen auf verschiedenen Längenskalen und zu verschiedenen Zeiten zu vergleichen (Übertragbarkeit von Laborphysik und kosmischer Physik; Wiederholbarkeit von Experimenten).69 Weiter muss das kosmologische Prinzip im engeren Sinn erfüllt sein, also das Homogenitäts- und Isotropiepostulat des Raumes, ebenso die Homogenität der Zeit: Es darf im Universum räumlich und zeitlich keine ausgezeichneten Punkte, keine Brüche, Löcher oder Unebenheiten der Raumzeitstruktur geben, sondern das Universum muss von jedem Punkt aus und in allen Bereichen dieselbe Struktur aufweisen. Es wird in der Naturphilosophie diskutiert, ob das kosmologische Prinzip – erste Möglichkeit – anzusehen ist als ein „Apriori-Prinzip, das eines Beweises weder fähig noch bedürftig ist“70, ob es zweitens ein heuristisches Prinzip ist, das den Tatsachen näherungsweise entspricht und so lange, aus ökonomischen Gründen, in Geltung steht, wie es nicht empirisch widerlegt wird, oder ob es drittens ein theoretisch zunächst unterstelltes, dann aber durch empirische Bestätigung der Theorie exakt gültiges Prinzip darstellt. Für die zweite und dritte Version wird meist die Entdeckung der 3-KHintergrundstrahlung geltend gemacht, welche die Homogenität und Iso————— 67 68 69 70

Saltzer/Eisenhardt, Die Erfindung des Universums? 13. Kanitscheider, Kosmologie, 395. Vgl. J. Meurers, Kosmologie heute, 173–184. Kanitscheider, Kosmologie, 417.

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tropie des Raumes empirisch zu beweisen scheint. Aber erstens hat die Messung der Strahlung nach allen Richtungen durch den COBE-Satelliten geringfügige Abweichungen von der Isotropie ergeben,71 und zweitens ist die Isotropie des Raums für das Messverfahren schon vorausgesetzt, sonst könnte man Abweichungen von der Isotropie ebenso wenig messen wie die Messungen in den verschiedenen Raumrichtungen als Messungen derselben Größe auffassen. Die kosmologischen Prinzipien sind u.E. strikt als synthetische Apriori aufzufassen, die durch die Erfahrung nahegelegt oder näherungsweise bestätigt, aber nicht definitiv bewiesen oder begründet werden können. Sie wären nur im Rahmen einer metaphysischen Kosmologie des Weltganzen begründungfähig und begründungspflichtig. Im Rahmen empirischer Kosmologie können sie nur plausibilisiert werden, etwa durch eine Theorie darüber, wie die Isotropie der Hintergrundstrahlung aus einem hochgradig isotropen Frühzustand des Universums hervorgegangen sein kann, da dessen hohe Expansionsrate einem kausal zusammenhängenden Anfangsgebiet widerspricht (sog. Horizontproblem) und eher einen inhomogenen Anfangszustand nahe legt (sog. Homogenitätsproblem, aufgelöst durch inflationär-exponentielle Frühexpansionsphase).72 Die kosmologischen Prinzipien sind die Residuen der metaphyischen cosmologia generalis, deren Geltung allerdings nicht an sich, sondern in methodischer Hinsicht, also hypothetisch unter dem Vorhaben von Kosmologie behauptet wird. Die kosmologischen Prinzipien sind, kurz gesagt, regulative Ideen, unter denen der Kosmos betrachtet wird, als ob das kosmologische Prinzip gültig oder bewiesen wäre. Sie sind die Inanspruchnahme des absoluten, d.h. des einen, homogenen und isotropen, Raumes in methodologischer, nicht in an sich geltender, ontologischer Hinsicht. Gleichwohl sind diese metaphysischen Reste vorempirische, d.h. empirisch weder beweisbare noch beweisbedürftige Annahmen. Sie unterstellen zusammengefasst erstens die Einheit der Welt, dass die Welt eine und dieselbe über das gesamte Raum-Zeit-Kontinuum hinweg ist, dass sie zweitens einfach, d.h. überall gleich strukturiert ist, und dass sie drittens für uns verständlich, d.h. nomologisch zusammenhängend ist. Diese Unterstellungen gelten zum Zweck von Theorie und Empirie. Ob in der Natur tatsächlich im Innersten einfache Gesetze, ob überhaupt eine letztnomologische ————— 71 Vgl. W.H. Kegel, Neuere Beobachtungen der kosmischen Hintergrundstrahlung. 72 A. Guth, Inflation Universes, a Possible Solution of the Horizon and Flatness Problem; ders., Das inflationäre Universum; A. Linde, Elementarteilchen und inflationärer Kosmos; vgl. auch J. Audretsch, Physikalische Kosmologie II: Das inflationäre Universum oder der kosmologische Münchhausen-Effekt; Goenner, Einführung in die Kosmologie, 203–250; B. Suchan, Die Stabilität der Welt, 145–150; Evers, Raum – Materie – Zeit, 214–221.

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Basis vorliegt oder ob darunter ein anomischer Grund verborgen ist, das ist weder empirisch noch theoretisch zu entscheiden. Experimentell prüfbar ist nur, ob die Natur sich auf bestimmten Skalen so verhält, wie das Gesetz vermutet. Die Rationalität der Natur und ihre Entsprechung in verständlichen Naturgesetzen ist ein Postulat, das wir machen müssen, um Naturwissenschaft betreiben zu können. Man „postuliert somit, dass die Naturvorgänge verständlich sind. […] Es muss praktisch angenommen werden, dass das Gesetz des Seins und das Gesetz des Denkens eins sind.“73 Ch. S. Peirce nennt die Annahme einer nomologisch-rationalen Naturordnung und damit der Verständlichkeit der Naturprozesse eine „verzweifelte Hoffnung“74, die man als geltend postulieren muss, ohne wissen zu können, ob sie wahr ist oder nicht. Auch ob die Gesetze immer schon so waren, ob sie auf einer anomischen Basis oder auf einer (tiefergesetzlichen oder ungesetzlich-spontanen) Entwicklung der Gesetze, auf einer „law without law“-Basis beruhen, wie J.A. Wheeler vorgeschlagen hat, so dass das Universum seine eigenen Gesetze erst nach und nach aus sich erzeugen und die Kontingenz der nomologisch bereits vollständigen Anfangssingularität verschwinden würde,75 können wir nicht wissen. Die logische Inkonsistenz der Annahme einer letztnomologischen Basis und sei dies auch nur die der gesetzlosen, chaotischen Komplexität, hat David Deutsch deutlich gemacht.76 Gäbe es ein Basisprinzip B der Physik, aus dem sich deduktiv alle anderen Prinzipien P und Gesetze G ableiten ließen, bliebe die Notwendigkeit von B immer noch offen. B wäre entweder ein analytischer Satz, dann bestünde sein Wahrheitswert in seiner logischen Form, würde aber nichts über die Welt besagen. Oder B wäre ein synthetischer Satz, dann könnte sein Wahrheitswert nur empirisch, a posteriori, festgestellt werden und wäre nicht notwendig. Es bleibt nichts anderes übrig, als die kosmologischen Prinzipien als „synthetische Apriori“ in methodologischer Hinsicht zu setzen, ohne eine Letztbegründung dafür geben zu können. Anders gesagt, folgt aus diesen Überlegungen der physikalisch wie theologisch eminent bedeutsame Satz: „Die Kontingenz der Welt ist letztlich nicht eliminierbar.“77 Die Unterstellung der Gültigkeit der kosmologischen Prinzipien und damit der nomologischen Strukturiertheit des Kosmos ist eine „verzweifelte Hoffnung“, ein Glaube an die Rationalität und Logizität des Seins. ————— 73 C.S. Peirce, Naturordnung und Zeichenprozess, 133. 74 Ebd. 75 J. Wheeler, On recognizing law without law; vgl. dazu B. Kanitscheider, Von der mechanistischen Welt zum kreativen Universum, 195. 76 D. Deutsch, On Wheeler’s Notion of ‚Law Without Law‘ in Physics. 77 Kanitscheider, Von der mechanistischen Welt zum kreativen Universum, 196.

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3. Kosmologische Grundbegriffe: Wie die kosmologischen Prinzipien kann die Physik auch ihre Grundbegriffe wie Raum, Zeit, Masse, Kraft, Energie, Bewegung etc. weder deduktiv noch induktiv letztgültig ableiten. Die Grundgrößen kann die Physik, wie schon E. Du Bois-Reymond in seiner berühmten Ignorabimus-Rede „Über die Grenzen des Naturerkennens“ vor der Gesellschaft deutscher Naturforscher und Ärzte 1872 deutlich machte, nur setzen, aber nicht induktiv aus der Erfahrung der Natur gewinnen. Die Grundbegriffe, so zeigt Du Bois am Beispiel der Atomhypothese, sind eine „äusserst nützliche Fiction“ zum Zweck der Theorie, keine An-sich-Gegebenheiten. Sie liefern das „Surrogat einer Erklärung“78, nicht Erkenntnis der Natur an sich. Die Grundbegriffe können allerdings im Rahmen von sog. protophysikalischen Theorien von alltagspraktischen Vollzügen und Erfahrungen eingeführt und dann vorkosmologisch normativ definiert werden.79 Damit gilt für die kosmologischen Grundbegriffe ebenso wie für die kosmologischen Prinzipien, dass sie ihre Grundlage in der Alltagserfahrung oder genauer: in den Strukturen des gelebten Raumes haben. Die kosmologischen Prinzipien sowie die Elementargrößen der Geometrie, der Chronometrie, der Hylometrie usw. haben ihre natürliche Basis in den Erfahrungen des Alltags, dass sich der metrisierte Raum in allen Richtungen gleichwertig, kontinuierlich und nomologisch konstant verhält, ebenso die Zeit, die Masse usw. Daraus folgen die beiden extrem wichtigen Einsichten, dass der kosmische Raum durch den gelebten (orientierten und handelnd erschlossenen) Raum fundiert ist und durch ihn seine Struktur erhält, sowie dass alle quantitativen Größen der Kosmologie, die in den induktiv-empirisch erhobenen Gesetzen auftauchen, physikalische Setzungen sind, die aber auf eine vorempirische Basis bezogen sind und darin ihren anschaulichen Gehalt haben. Von Alter, Ausdehnung, Masse, Energie des Universums kann nur im Zusammenhang innertheoretischer Begriffsdefinitionen präzise gesprochen werden. „Alter“ oder „Ausdehnung“ des Universums hat keinen außerphysikalischen Sinn, sondern bezieht sich strikt auf den physikalischen Kosmos. Ein Alter des Universums z.B. kann man nur bestimmen, wenn der Begriff theoretisch definiert und seine Messung methodisch kontrollierbar ist.80 Die absolute Behauptung des Weltalters ist unmöglich. In einem außerphysikalischen Sinn von Zeit, Anfang, Alter, Grenze des Weltalls zu ————— 78 E. Du Bois-Reymond, Über die Grenzen des Naturerkennens, 18f; vgl. H.-J. Rheinberger, Historische Epistemologie zur Einführung, 16f. 79 Vgl. Thüring, Methodische Kosmologie, 11–13; Janich, Das Maß der Dinge; ders., Kleine Philosophie der Naturwissenschaften. 80 Vgl. Thüring, Methodische Kosmologie, 110f.

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sprechen, ist nur in analoger Weise, d.h. in näherungsweisem Bezug auf das alltagsweltliche Verständnis der Begriffe möglich. Außerphysikalisch kann man beispielsweise „Alter“ des Universums nur im Sinne einer Proportionalitätsanalogie gebrauchen. „Weltalter“ bezieht sich auf das Universum in etwa so wie die Lebenszeit eines Menschen auf die definierte Kalenderzeit. Wenn man das Universum als ein Ganzes mit Anfang und Zeit betrachten kann, kann man ihm ein Alter im ungefähren Sinn des Wortes zurechnen. Das genaue Verhältnis bleibt unbestimmt, weil man nicht noch einmal absolut, abgesehen von den physikalischen Zuordnungen, prüfen kann, ob ein „Jahr“ des Universums immer exakt ein Kalenderjahr ausmacht. Es gibt keine Uhr des Universums. Nur wenn man den Anfang festlegt und das Maß von Zeit, kann man das Alter in Bezug darauf bestimmen.81 Entsprechendes gilt für die Ausdehnung des Universums, die nicht absolut bemessen werden kann, sondern sich auf eine physikalisch definierte Distanz, den Durchmesser des Raums innerhalb des Ereignishorizonts, bezieht.

6.4 Die Bedeutung der Lebenswelt für die Kosmologie 1. Husserls Lebensweltkonzept: Es hat sich gezeigt, dass der kosmische Raum in vielfacher Weise auf den Kosmologen bezogen und von ihm her und durch ihn strukturiert ist. Dabei wurden bisher erkenntnistheoretische, wissenschaftstheoretische und wissenschaftspraktische Aspekte berücksichtigt. Ein ganz wesentliches Moment der Bezogenheit des kosmischen Raumes auf die Kosmologie ist nun noch zu betrachten: der Bezug des Raumes auf die Lebenswelt des Wissenschaftlers. Das Konzept der Lebenswelt als der vorempirischen Voraussetzung und dem Sinnhorizont der Wissenschaft geht bekanntlich auf E. Husserl zurück.82 Er hat in seiner letzten großen Schrift „Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie“ von 1936 die These vertreten, dass das Ideal der klassischen Physik seit Galilei, mittels der Mathematisierung der Natur eine perspektivenfreie Objektivität der Naturerkenntnis zu erreichen, zugleich die Krise der Naturwissenschaften darstelle, weil sie mit einem Verlust an Lebensbedeutsamkeit einhergehe. Husserl hat als Grund dieses Verlustes und zugleich der Möglichkeit seiner Überwindung „die Lebenswelt als vergessenes Sinnfundament der Naturwissenschaft“83 ausgemacht. ————— 81 Zum Problem des Weltanfangs, der evtl. Zeitdehnung am Urknall etc. s.o. II.5.4.3. 82 Vgl. E. Ströker (Hg.), Lebenswelt und Wissenschaft in der Philosophie Edmund Husserls. 83 E. Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie, Hua VI = Gesammelte Schriften 5, 48.

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Uns soll hier nicht das Motiv der Analyse Husserls interessieren – Husserl hat im Spätwerk versucht, über den subjektivitäts- und bewusstseinsphilosophischen Ansatz der Ideen und der cartesianischen Meditationen hinaus auch Wissenschaft, Geschichte und Kultur als fundamental für die Begründung der Philosophie als einer reinen, transzendentalen Phänomenologie heranzuziehen –, uns geht es nur um Grundzüge von Husserls Analyse insofern, als hier der lebensweltliche Bezug von Wissenschaft, speziell der Kosmologie aufgezeigt wird. Husserl kämpfte im Anschluss an Heidegger84 darum, einen Zugang für „das Ganze des Seienden“ zu finden, das wir nie „an sich absolut erfassen“ können, in das wir aber immer mitten hineingestellt sind.85 Welt, mit Husserl verstanden als „All der Dinge“86, kann nur als Totalität erfasst werden, wenn dabei das Erfassen der Welt als Totalität miterfasst wird. Das Ganze als Totalität der existierenden Dinge, so Heidegger, ist dann nicht als reiner Vernunftbegriff, sondern in erschließendem Gestimmtsein ‚da‘, das uns „inmitten des Seienden im Ganzen befinden“ lässt und „je nach ihrer Weise das Seiende im Ganzen“ enthüllt – und damit „das Grundgeschehen unseres Da-seins“ mit enthüllt.87 Etwas neutraler und ohne die Heideggersche Konnotation der Gestimmtheit als Sorge und Angst gesagt: Zur Totalität der Welt gehört ihre Erfahrung als Totalität, die aber nicht „objektiv“ im Gegenüber zur Welt, sondern nur „inklusiv“ inmitten und umgeben von Welt möglich ist. Die Erfahrung der Welt vollzieht sich in der Welt und kann sich nicht auf die Welt als solche beziehen. Die Erfahrung der Welt ist nicht die Welt, gehört aber zur Welt: Der Begriff „Welt“ muss die Erfahrung der Welt einschließen, so dass die Totalität der Dinge, das All, das Ganze, nicht allein (mit Kant) als Inbegriff der Dinge, sondern auch als Inbegriff ihrer möglichen Erfahrungen gedacht werden muss.88 Diese Welt, die man nicht objektivieren und nicht per Epoché wegreduzieren kann, weil man immer in ihrer Mitte steht, ist die Lebenswelt. Der Ausdruck „Lebenswelt“, so nimmt Blumenberg Husserl auf, bringt zum Ausdruck, dass „Welt“ kein Gegenstand von Erfahrung sein kann, er zeigt aber „anschauliche Wesenszüge dessen, was eine Welt überhaupt ist – eine Struktur der Vertrautheit, die dazu nicht ‚Gegenstand‘ zu sein braucht. […] Das Thema ‚Lebenswelt‘ steht für die Einsicht, dass sich die Reduktion nicht von den Dingen auf die Welt übertragen lässt. […] Aus der Erfahrung wie aus der Einfühlung zieht man sich zurück; aus der Einlebung in eine Welt kann man es nicht.“89

Die Lebenswelt, so definiert Husserl in Unterscheidung von der Dingwelt, ist „ein Reich eines ganz und gar in sich abgeschlossenen Subjektiven, in seiner Weise seiend, in allem Erfahren, allem Denken, in allem Leben fun————— 84 Vgl. H. Gander, Selbstverständnis und Lebenswelt. Grundzüge einer phänomenologischen Hermeneutik im Ausgang von Husserl und Heidegger; G. Figal, Gegenständlichkeit. Das Hermeneutische und die Philosophie, 173–182. 85 Heidegger, Was ist Metaphysik? 110. 86 Husserl, Krisis, Hua VI = Gesammelte Schriften 5, 145. 87 Heidegger, Was ist Metaphysik? 110. 88 Vgl. Figal, Gegenständlichkeit, 178. 89 H. Blumenberg, Lebenszeit und Weltzeit, 60f.

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gierend, also überall unablösbar dabei, und doch nie ins Auge gefasst, nie ergriffen und begriffen.“90 Aufgrund des „lebendigen Horizont[s]“91 von lebensweltlichen Einstellungen, Geltungen, Bedeutungen usw. weitet sich die bloße Ding-Welt zur Phänomenwelt. Die bloß raumdingliche Welt – der Welt als dem „All der Dinge, der in der Weltform Raumzeitlichkeit in doppeltem Sinne ‚örtlich‘ (nach Raumstelle, Zeitstelle) verteilten Dinge, der raumzeitlichen ‚Onta’“92 – wird einbezogen in das „Universum des Subjektiven“93, in dem das All der Dinge zu ihrem Dasein für uns kommt. Die Lebenswelt ist der „Horizont“, in dem alles zur Erscheinung kommt. Die Lebenswelt ist das immer vorgegebene „Universalfeld aller wirklichen und möglichen Praxis“94. Die Lebenswelt ist die Gesamtheit des möglichen Erfahrungshorizontes, innerhalb dessen etwas für jemand zur Erscheinung und zur Erfahrung kommen kann, und ist „nichts anderes als ein universaler, unthematischer Horizont präreflexiven, praktischen Lebens“95. 2. Die Lebenswelt als Sinnfundament der Wissenschaft: Als umgreifender Erfahrungshorizont ist die Lebenswelt auch der „Geltungsboden der Wissenschaft“96. Weil in der Lebenswelt die Dinge auf vielerlei Weise bedeutsam sind und als bedeutsam erfahren werden können, ist die Lebenswelt auch die Sinnsphäre und das Sinnfundament für die objektive Wissenschaft. Husserl hat die „Bodenfunktion“ der Lebenswelt für die objektiven Wissenschaften am Vorgang der Mathematisierung der Natur durch die neuzeitliche Physik seit Galilei aufgezeigt.97 Die Möglichkeit solcher Mathematisierung beruht auf der metaphysisch-apriorischen Idee, „dass die unendliche Allheit des überhaupt Seienden in sich eine rationale Alleinheit sei“98. Die Erscheinungen sind damit Erscheinungen einer idealen realen Natur. Galilei begriff die reale Natur als ideales mathematisches Universum, wodurch die mathematische Physik zur Universalwissenschaft, zur Wissenschaft vom Wahren und Ganzen wird. Die Naturvorgänge werden so als Formen idealer Objektivität und absoluter, mathematischer Identität angesehen, die empirisch durch Messverfahren immerhin näherungsweise rekonstruiert werden können. ————— 90 Husserl, Gesammelte Schriften V = Ha VI, 114. 91 Ebd., 152. 92 Ebd., 145. 93 Ebd., 150. 94 Ebd., 145. 95 E. Ströker, Husserls Werk, 110. 96 Ebd., 109. 97 Zu den wesentlichen Momenten neuzeitlichen Naturverständnisses vgl. U. Beuttler, Das neuzeitliche Naturverständnis und seine Folgen. 98 Husserl, Krisis, 20.

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Husserl hat dagegen mit Recht eingewandt, dass die Idee der mathematischen Natur eine Hypothese ist und bleibt und „trotz der Bewährung auch weiter und für immer Hypothese bleibt“99 – eine Bewährung wäre nur als unendliche und unabschließbare Aufgabe möglich, durch einen „unendlichen historischen Prozess der Approximation“100 der Theorien an die vorgestellte, ‚wahre‘ Natur. Diese Approximation ist auch empirisch beschränkt, insofern die Messverfahren nie exakt sind (da konkrete Messkörper der idealen mathematischen Form nur näherungsweise entsprechen können). Vor allem aber muss das Ideal einer universalen philosophia perennis auf Grundlage der mathematisch-physikalischen Objektivierung der Natur scheitern, weil, wie das Beispiel der Mathematisierung des Raumes durch die Geometrie zeigt, dies nur auf Kosten der „Entleerung ihres Sinnes“101 möglich ist. Die Sinnentleerung der mathematischen Naturwissenschaft beruht in der Technisierung der Naturgesetze in einen „Formelsinn“, welche übersieht, dass der Objektivismus einer idealen Natur eine Idealisierungsleistung darstellt, die per Abstraktion aus der Lebenswelt hervorgeht. Die Geometrie der Idealitäten geht aus der praktischen Geometrie, etwa der Feldmesskunst hervor. Daher ist die Lebenswelt der nicht abschüttelbare subjektive Grund der objektiven Wissenschaft und damit ihr bleibendes Sinnfundament. Die reine Geometrie ist im Vergleich zur lebendig betätigten Geometrie sinnentleert, jedenfalls dann, wenn die vorwissenschaftlich anschauliche Natur nicht mehr als der lebendige Untergrund der wissenschaftlichen Idealisierung angesehen wird, sondern durch diese ersetzt wird. „Die einzig wirkliche, die wirklich wahrnehmungsmäßig gegebene, die je erfahrene und erfahrbare Welt – [ist] unsere alltägliche Lebenswelt“102. Husserls These von der Lebenswelt als dem vergessenen subjektiven Sinnund Geltungsfundament der objektiven Wissenschaften bedürfte er genauen Erörterung, was damit gemeint sein kann und was daraus zu folgern ist.103 Wir begnügen uns für den Zweck unserer Überlegungen mit einer ganz allgemeinen Lesart, die man mit Walter Schulz so formulieren kann und die wir im Sinne des oben zu den vorempirischen kosmologischen Prinzipien Gesagten verstehen wollen: „Der Forscher bleibt als Mensch in der Lebenswelt ‚befangen‘.“104 Damit soll gemeint sein, dass alle physikalischen ————— 99 Ebd., 41. 100 Ebd., 42. 101 Ebd., 44. 102 Ebd., 49. 103 Hierzu vgl. die Artikel in E. Ströker (Hg.), Lebenswelt und Wissenschaft in der Philosophie Edmund Husserls, sowie F. Welz, Kritik der Lebenswelt. 104 W. Schulz, Philosophie in der veränderten Welt, 136.

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Aussagen auf alltagsweltliche Vorgänge rückbezogen sind und daraufhin rückübersetzbar, jedenfalls in der Alltagssprache interpretierbar sein müssen, wenn die Physik nicht zu einem „harmlosen Rechenspiel“105 verkommen soll. Die physikalischen Grundbegriffe und die kosmologischen Prinzipien beziehen ihre Geltung aus bestimmten Erfahrungen des Alltags und der Strukturen des gelebten Raumes, von denen sie gebildet und abstrahiert sind. Die Lebenswelt bildet das Sinn- und Geltungsfundament für alle metaphysischen Reste und vorwissenschaftlichen Implikate moderner Kosmologie. Der Kosmos wird als Einheit und als raumzeitlicher Zusammenhang generiert durch den Kosmologen, der ihn als einen sowie als raumzeitliches Kontinuum konzeptualisiert. Der Kosmologe übernimmt die Funktion, die Einheit von Denken und Sein herzustellen, eine Funktion, die im deutschen Idealismus durch die Subjektivität des Ich vollzogen und in der klassischen Metaphysik durch Gott sichergestellt wurde. Der moderne Kosmologe übernimmt diese Funktion nur methodologisch im Sinne eines hypothetischen und nicht eines metaphysischen Realismus – „die moderne Physik erhebt nicht wie die klassische Physik den Anspruch, eine wahre Wesenswelt zu erstellen“106 –, aber er muss diese Funktion übernehmen, um überhaupt einen Wirklichkeitsbezug der Physik herstellen zu können. Dafür bleibt er aber auf die Vermittlungsleistung der Lebenswelt angewiesen, wofür die Sprache der Alltagswelt eine entscheidende Rolle spielt, wie W. Heisenberg und C.F.v. Weizsäcker gezeigt haben, ganz zu schweigen von seinen vorwissenschaftlichen Motiven und Zielen für Wissenschaft, worin er ebenfalls als Mensch in der Lebenswelt befangen bleibt. W. Heisenberg hat in einer seiner Gifford-Vorlesungen „Sprache und Wirklichkeit in der modernen Physik“107 am Beispiel der Interpretation der Quantenmechanik auf die Bedeutung der Alltagssprache für die Realitätsauffassung der Physik hingewiesen. Elektronen verhalten sich in quantenmechanischen Prozessen in gewisser Weise sowohl als Teilchen wie auch als Welle. Keine der klassischen Begriffe reicht hin, um das Phänomen zu erfassen, denn klassisch kann man „Teilchen“ und „Welle“ nur alternativ gebrauchen: tertium non datur. Um ihre Anwendung in der Quantenmechanik zu ermöglichen, hat Bohr das Konzept der Komplementarität entwickelt, welches eine Erweiterung der Logik auf einen dritten Zustand „sowohl als auch“, „ja und nein“ bzw. „unbestimmt“ bedeutet und die Art und Weise bezeichnet, wie klassische Begriffe in der Quantentheorie angewandt werden können, wie man also trotz Verwendung der ungenauen Begriffe „Bahn“, „Ort“, „Geschwindigkeit“ des Elektrons dennoch der Heisenbergschen Unschärferelation gemäß der Kopenhagener Deutung Rechnung tragen kann. Alternativ dazu könnte man eine Beschreibung in mathematischer Terminologie geben, die exakt, aber semantisch unbestimmt wäre, weil der

————— 105 Ebd., 142. 106 Ebd., 132. 107 Veröffentlicht unter dem Titel W. Heisenberg, Physik und Philosophie, hier 137–153.

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Realitätsbezug unklar und die Formel ohne anschaulich-vorstellungsmäßigen Gehalt blieben. Um des Realitätsbezugs willen, d.h. um mit der physikalischen Sprache auf reale Objekte zu referieren, benutzt man zur Interpretation so weit wie möglich lieber die ungenaue Alltagssprache mit abgeänderter, komplementärer Logik, als die eindeutige mathematische Quantensprache. „Die sog. exakte Wissenschaft kann niemals und unter keinen Umständen die Anknüpfung an das, was man die natürliche Sprache oder die Umgangssprache nenne, entbehren.“108 Denn „wir müssen uns daran erinnern, dass das, was wir beobachten, nicht die Natur selbst ist, sondern Natur, die unserer Art der Fragestellung ausgesetzt ist. Unsere wissenschaftliche Arbeit in der Physik besteht darin, Fragen über die Natur zu stellen in der Sprache, die wir besitzen, und zu versuchen, eine Antwort zu erhalten durch Experimente, die wir mit den Mitteln ausführen, die zu unserer Verfügung stehen.“109 Zu deren Interpretation – man denke etwa an das berühmte Doppelspaltexperiment oder die Deutung des Messprozesses mittels „Schrödingers Katze“ – wird man „lieber eine zweideutige, statt eine eindeutige Sprache benützen; also die klassischen Begriffe in einer etwas ungenauen Art zu gebrauchen, die zu den Unbestimmtheitsrelationen passt, abwechselnd verschiedene klassische Begriffe zu verwenden, die zu Widersprüchen führen, wenn man sie gleichzeitig anwenden wollte. […] Sobald dieser vage und unsystematische Gebrauch der Sprache zu Schwierigkeiten führt, muss sich der Physiker in das mathematische Schema zurückziehen und dessen eindeutige Verknüpfung mit den experimentellen Tatsachen benützen.“110 Die mathematische Sprache ist, um den Kantschen Ausdruck zu benutzen, ein „Schema“, um unanschauliche Tatsachen exakt auf den Begriff zu bringen, die Alltagssprache ist hingegen ein „Schema“, um physikalischabstrakten, unanschaulichen Begriffen, die nie Gegenstand der Erfahrung sein können, eine konkrete Veranschaulichung zu geben.111

3. Äquivalente Struktur von lebensweltlichem und kosmologischem Raum: Wir wollen an der Struktur des kosmischen Raums die Lebensweltfundierung der modernen Kosmologie einerseits und ihre mögliche Rückübersetzbarkeit in die lebensweltliche Erfahrung, also ihre Schematisierung durch die Alltagssprache und –erfahrung andererseits aufzeigen. Unsere These ist, dass die natürliche Weltanschauung – verstanden im wörtlichen Sinn als Anschauung vom Kosmos – die Veranschaulichung für den wissenschaftlichen Kosmosbegriff liefern kann. Sie kann dies deshalb, weil phänomenologisch der kopernikanische bzw. der einsteinsche mittelpunktslose Kosmos durch den geozentrischen fundiert ist, so dass die Freilegung dieses Fundaments sozusagen, wie Husserl einen instruktiven Text betitelt hat, eine „Kopernikanische Umwendung der Kopernikanischen Umwendung“ darstellt. ————— 108 Weizsäcker, Die Einheit der Natur, 65. 109 Heisenberg, Physik und Philosophie, 40. 110 Heisenberg, Physik und Philosophie, 148. 111 Kant versteht unter einem „Schema“ die konkrete Veranschaulichung eines abstrakten Verstandesbegriffs, der kein Erfahrungsgegenstand werden kann, vgl. KrV, B 176–187.

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Die Erde, so Husserls Analyse, ist der Boden der Welterfahrung. Obwohl die Erde für uns als Kopernikaner – als neuzeitliche Weltraumforscher – nur „einer der Sterne im unendlichen Weltraum“112 darstellt (genauer müsste man sagen: nur ein Planet eines der unendlich vielen Sterne im unbegrenzten Raum), obwohl die Erde ein Körper wie unzählige andere Körper ist, ist sie doch „für uns der Erfahrungsboden für alle Körper in der Erfahrungsgenesis unserer Weltvorstellung“, und insofern eine Art „Totalkörper“: der „Träger“ aller erfahrbaren Körper. Die Geozentrik mit ihrer Unterscheidung der Erde als Fundamentalkörper von den davon abständigen und darauf bezogenen Körpern ist für die praktische Astronomie unaufhebbar, insofern die Bewegung der stellaren Objekte „auf der Erde, oder an der Erde, von ihr weg, auf sie hin“113 stattfindet. Auf der ersten Stufe der Konstitution der Erde als Boden ist die Erde weder in Ruhe noch in Bewegung, sondern absolut. Erst von der Erde her und auf sie hin, kann Ruhe und Bewegung bestimmt werden. Erst wenn die Erde auf zweiter Stufe zum Weltkörper wird, ruht oder bewegt sie sich selbst, ebenso wie die anderen Körper relativ zu ihr und zueinander. Eine einheitliche Weltanschauung als Integral aller Horizonte möglicher Bewegungen, oder, wie Husserl sagt, die „neuzeitliche Apperzeption der Welt als Welt der unendlichen kopernikanischen Horizonte“114 ist, als für uns wirklich durchgeführte und bewährte „Weltapperzeption“, nur von antikopernikanischem Boden aus möglich bzw. nur in kopernikanisch umgewendetem Kopernikanismus. Ursprünglich konstituiert ist die Erde als ‚Boden‘ mit umgebendem Raum. Das ist der Fall, wie wir schon bei der Analyse des gelebten Raumes gesehen haben, durch den leibkonstituierten und –orientierten gelebten Raum. „Ursprünglich konstituiert sein kann nur der Erdboden mit umgebendem Raum von Körpern, das setzt aber schon voraus, dass mein Leib konstituiert ist und bekannte Andere, und offene Horizonte von Anderen, verteilt im Raum – im Raum, der als offenes Nah-Fern-Feld von Körpern die Erde umgibt und den Körpern den Sinn von erdischen Körpern und dem Raum den von Erdraum gibt. […] Dieser Sinn ist verwurzelt und hat sein Orientierungszentrum in mir und einem engeren Wir miteinander Lebender.“115 Wie der Raum als Erdraum seinen Sinn hat und von mir, d.h. von meinem Leib und dessen Orientierung im Raum her, aufgebaut ist, so hat auch der kosmologische Raum seinen Sinn als Erdraum für uns und von uns her. Das nach dem Hubble-Gesetz sich stetig nach allen Richtungen ausdehnende, isotrope und homogen mit Materie durchsetzte Universum hat zwar ————— 112 113 114 115

E. Husserl, Kopernikanische Umwendung der Kopernikanischen Umwendung, 153. Alle ebd. Ebd., 155. Ebd., 158.

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eigentlich, aufgrund dessen, dass alle Punkte gleichberechtigt sind, den „Verlust der Mitte“ zur Folge und „die Entrückung des Menschen an den Rand des Geschehens im Universum“116. Von jedem Punkt aus stellt sich die Galaxienflucht in gleicher Weise dar, so dass jeder Punkt des Universums die scheinbare (subjektive) Mitte darstellt.117 Jeder Punkt kann als scheinbare Mitte gewählt werden. Weil aber als Beobachtungsstandpunkt ein Punkt ausgezeichnet werden muss, scheint es zweckmäßig, den Erdmittelpunkt als ruhende Mitte auszuzeichnen. Denn dann entsprechen sich die tatsächliche und die objektivierte Beobachtung. Der Weltraum wird zum Erdraum und die Erde zum absoluten Zentrum der Kosmologie, zum Boden des Kosmos, jedenfalls in methodologischer Hinsicht. Inwiefern mit dieser nachmodernen Geozentrik (wieder) ein Sinn des Menschen im Kosmos verbunden sein kann, müssen wir gesondert diskutieren (6.6.). Hier kommt es zunächst nur auf die phänomenologische Äquivalenz von natürlicher und wissenschaftlich-kosmologischer Weltanschauung an. Diese Äquivalenz betrifft nicht nur das Zentrum, sondern auch die Peripherie. Mit der Erde als durch den (elementar orientierten) Leib konstituiertem Boden und dem durch den (orientierten) Leib konstituierten Um-Raum ist auch der „Himmel“ mitkonstituiert „als Feld des äußerst noch räumlich Erfahrbaren für mich und für uns alle – vom Erdboden aus“118. Der Himmel ist phänomenologisch „ein offener Horizont der [optisch, U.B.] erreichbaren Ferne; von jedem Raumpunkt aus, der für mich erreichbar ist, ein äußerster Horizont, Limes (Horizontkugel), worin das als Fern-Ding noch Erfahrbare mit der Entfernung schließlich verschwindet.“119 Der Himmel hat in diesem Sinn exakt die Funktion des Ereignishorizontes im Friedmannschen Universum und er ist im geozentrischen Kosmos äquivalent zur Fixsternsphäre als der Horizontkugel, bis zu der der wahrnehmbare Kosmos reicht, hinter der aber das Erfahrbare mit der Entfernung verschwindet. ‚Hinter‘ dem Fixsternhorizont geht die beobachtbare (sichtbare) in den unbeobachtbaren (unsichtbaren) Bereich über. Natürlich ist der Ereignishorizont der modernen Radioastronomie quantitativ viel größer als der Himmelshorizont und natürlich ist der Unterschied zwischen dem physikalisch unbeobachtbaren Teil des Universums und dem Empyreum als dem unsichtbaren Lichtraum Gottes qualitativ unendlich, aber beide Horizontkugeln haben dieselbe optische Funktion und Gestalt. Das sichtbare Univer————— 116 F. Krafft, „[…] denn Gott schafft nichts umsonst!“. Das Bild vom Kosmos im historischen Kontext des Spannungsfeldes Gott – Mensch – Natur, 182. 117 Vgl. die Abbildung ebd., 185. 118 Husserl, Kopernikanische Umwendung, 158. 119 Ebd.

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sum stimmt für vormoderne und nachmoderne Kosmologie überein: es ist geozentrisch gegliedert in Erdzentrum und Himmelsperipherie. Aufgrund dieser kosmographischen Äquivalenz sollte es möglich sein, bestimmte Sinnstrukturen des vormodernen Weltbilds, die mit kosmographischen Ordnungen verbunden waren, in gewissen Zügen auch ins moderne zu adaptieren und umgekehrt das moderne auf das vormoderne zu beziehen. Es stellt sich insbesondere die Frage, wie das vormoderne Bild des Kosmos, das nicht nur gegenständlich, sondern in vielfacher Weise religiös konnotiert ist, auf das moderne, rein säkulare Kosmosmodell bezogen werden kann bzw. ob und inwiefern Sinn und Gehalt der antiken Weltbilder noch angesichts der heutigen Kosmosvorstellung nachvollzogen werden können. Bevor wir uns im Kapitel II.7. dieser Aufgabe zuwenden können, muss zuvor gefragt werden, ob und inwiefern mit dem modernen Kosmos überhaupt ein Sinn für den heutigen Menschen verbunden ist oder zumindest sein kann (6.5). Es wird sich zeigen, dass dies nur vom lebensweltlichen Nahraum aus und dessen Beziehung auf den kosmischen Raum möglich ist (6.6). Aus der Bearbeitung dieser Fragestellung werden sich Bedingungen formulieren lassen, die erfüllt sein müssen, damit ein Bild vom Kosmos Sinn für den Menschen haben kann. Vor diesen Bedingungen werden wir weiterfragen können, ob und inwiefern der Sinn, den das vormoderne biblische, mythische oder mittelalterliche Weltbild geleistet hat, auch durch den modernen Kosmos vermittelt werden kann. Wir tun dies am Beispiel des biblischen Weltbilds, indem wir uns um seine Hermeneutik bemühen, also nach seiner Übersetzbarkeit in heutige Lebensvollzüge fragen, was auf dem Hintergrund der allgemeinen Frage nach dem Verhältnis von mythischem und wissenschaftlichem Raum diskutiert werden wird (7.1–2).

6.5 Kosmischer Sinn? Die Antwort auf die Frage, ob auch durch den modernen physikalischen Kosmos analog zum biblisch-mythischen, antik-mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Kosmos ein Sinn für den Menschen vermittelt werden kann, hängt fundamental von der Stellung des Menschen in diesem Kosmos und von der Relation auf den Kosmos ab. Voraussetzung hierfür wäre erstens, dass der Kosmos durchlässig auf eine Sinnsphäre ist, zweitens, dass der Kosmos als bergender und haltender Umraum des Menschen vorgestellt werden kann, dass also eine räumliche Relation des Kosmos als einhüllender Raum um den Menschen auf den Menschen als Zentrum dieser UmRelation hergestellt werden kann und dass drittens der Mensch symbolisch als das Zentrum begriffen werden kann, auf den in der Kosmos zentriert ist.

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Die Tatsache, dass der moderne physikalische Kosmos realräumlich keine der drei Bedingungen erfüllt, da er weder ein absolutes Zentrum hat, noch der Mensch räumlich, teleologisch oder ontologisch in seiner Mitte steht, hat in der Spätmoderne dazu geführt, das Weltall als All ohne Sinn zu begreifen. Kann man, so fragt sich dann, dem Weltall ohne Sinn noch einen Sinn unterlegen, einen Sinn gar, der der Struktur des Universums entspricht und ihm nicht durch kosmos- und wissenschaftsfremde religiöse, weltanschauliche oder sonstige Sinndeutungen aufgezwungen wird? Trotz oder gerade wegen der spätneuzeitlichen Einsicht in die Sinnleere des physikalischen Kosmos hat es eine Reihe von Versuchen gegeben, das sinnleere Weltall naturalistisch mit Sinn zu erfüllen. Wir wollen solche Versuche samt ihrer Voraussetzungen summarisch diskutieren und beziehen uns dabei auf die weitgreifende Analyse von F.J. Wetz120 sowie auf Darlegungen B. Kanitscheiders121, die auch beide einen diskutablen eigenen Lösungsversuch vorgelegt haben. 1. „Absolutismus der Welt“: Besonders Wetz bemüht sich um „eine Hermeneutik des Universums im Sinn einer Auslegung der naturwissenschaftlich erforschten Welt“. Damit ist auf eine „existentielle Interpretation“ der naturwissenschaftlichen Erkenntnisse vom Kosmos auf den Menschen hin abgezielt. Der wissenschaftliche Kosmos wird daraufhin befragt, wie er sich dem „von letzten Fragen bedrängte[n], um sein Selbstverständnis ringende[n] Mensch[en]“122 darstellt, kurz, welche Antworten der Kosmos dem um letzte Fragen kämpfenden Menschen bereithält. Für solche „Hermeneutik des wissenschaftlichen Weltbildes“ müssen wir uns zunächst schonungslos die Situation klarmachen, auf deren Hintergrund kosmologische Sinnerwartungen und Sinndeutungen überhaupt formuliert werden können. Die schärfste mögliche Fassung der Situation, in die wir angesichts der modernen Kosmosvorstellung hineingeraten sind, bezeichnet Wetz als „Absolutismus der Welt“123. Darunter ist eine dem Naturalismus verwandte Position gemeint, welche der Vermutung Rechnung trägt, dass „das physische Weltall bereits das gesuchte Ganze im letzten ist“124. „Der Absolutismus der Welt bezeichnet einen Standpunkt, nach dem das sich in nahezu unermessliche Weiten hin erstreckende, expandierende Universum mit seinen Milliarden von Sonnen umfassenden Milliarden Galaxien eben alles ist. Innerhalb dieses Universums ist der Mensch als absolut vergängliches Stück sich um sich selbst

————— 120 F.J. Wetz, Lebenswelt und Weltall; ders., Die Gleichgültigkeit der Welt. 121 B. Kanitscheider, Auf der Suche nach dem Sinn; ders., Philosophie und moderne Physik, 398–403. 122 F.J. Wetz, Hermeneutischer Naturalismus, 117.123. 123 Wetz, Lebenswelt und Weltall, 326ff. 124 Ebd., 253.

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sorgende organische Materie auf einem winzigen, vergänglichen Planeten am Rande einer durchschnittlichen Spiralgalaxie angesiedelt. Das physische Weltall ist ohne Grund und Zweck einfach da. […] Die grund- und zwecklos existierende Welt als die Totalität dessen, was der Fall ist, das Insgesamt der Tatsachen und Sachverhalte, trägt nicht die Signatur des Sinnhaften. Alle Wertbestimmungen, wie Schönheit, Zweckmäßigkeit, Vernünftigkeit, bleiben ihr äußerlich. Das grund-, zweck-, wert- und vernunftlose Weltall ist eine neutrale Tatsache. Im rückstandslos neutralisierten Universum herrschen universal Gleichwertigkeit und Gleichgültigkeit.“125

Durch den Absolutismus der Welt werden die letzten Fragen: Warum und wozu die Welt und die Menschen zuletzt da sind, zwar nicht sinnlos, aber gegenstandslos, da unbeantwortbar. Das Universum ist im Letzten einfach da, ohne Grund, ohne Zweck. Im Absolutismus der Welt herrscht Gleichgültigkeit, Unerheblichkeit und Nichtigkeit gegenüber dem menschlichen Dasein. Weder ist die Welt für den Menschen da noch der Mensch für die Welt. In einer Welt, in der die Menschheit nichts weiter ist als eine Episode zwischen Evolution und Wärmetod, ist auch die Frage nach dem Sinn der Menschheit und der Geschichte gegenstandslos. Die Geschichte der Menschheit ist kosmisch gesehen ohne Sinn und Bedeutung. Das Weltall ohne Sinn ist indifferent gegen das, was in ihm geschieht. Es verleiht der Geschichte und der geschichtlichen Lebenswelt des Menschen keinen höheren, „kosmischen“ Sinn. Mit der Frage nach dem Sinn der Welt, ob die Geschichte ein Ziel hat oder das Leben lebenswert ist, muss jeder selbst fertig werden – aus dem Weltall lässt sich die Antwort nicht ablesen. Das gilt erst recht für den wissenschaftlich rekonstruierten Kosmos. Das wissenschaftliche Weltall ist ein Weltall ohne Sinn. Es ist neutral gegen jeden höheren Zweck, Wert und Sinn. Zwar folgt daraus, dass die wissenschaftliche Kosmologie die Frage nach dem Sinn der Welt prinzipiell ausschließt, noch nicht, dass durch die Wissenschaft ein Sinn der Welt prinzipiell ausgeschlossen wird.126 Aber es wird den Sinndeutungen von der Kosmologie nicht leicht gemacht. Die traditionellen Deutungen verlieren ihre Plausibilität, nicht so sehr wegen dem nackten Dass des modernen Alls, als vielmehr wegen seines Gesichtes, seiner Physiognomie, die den überkommenen Sinndeutungen entgegensteht.127 Der Gegensatz betrifft insbesondere die stoisch-christliche Schöpfungs- und Providenzlehre. Das Universum sieht nicht mehr so aus, als sei es von einer weisheitlichen Schöpfungs-Ordnung durchwebt und von einem fürsorglichen Schöpfer getragen. Das physikalische Weltall gibt sozusagen ein Anti-Intelligent-Design————— 125 Ebd., 327f. 126 Ebd., 334. 127 Vgl. ebd., 342f.

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Argument. Der physikotheologische Rückschluss von den Zwecken, der Ordnung und Schönheit der Welt ist weder aus dem Zweck, noch aus der Ordnung, noch aus der Schönheit mehr möglich.128 Die Transformation des vor- und frühneuzeitlich erstens endlichen, zweitens hierarchisch geordneten und drittens nach Zielen und Zwecken laufenden Kosmos in das unendliche, hierarchiefreie und evolutionäre Universum hat als immanente Ordnung nur noch „die Gleichgültigkeit und Gleichwertigkeit jedes Augenblicks und jeder Raumstelle, jedes physischen Prozesses und Zustandes gegenüber allen anderen“129. Als Ziel ist nur noch die zielloszufällige evolutionäre, auf den Kältetod bzw. den Gravitationskollaps zulaufende Weltentwicklung auszumachen. Auch die Stellung und Bedeutung des Menschen wurde durch das mittelpunktsfreie, ateleologische und ontologisch homogene All gründlich verändert. Alle Formen des antiken und frühneuzeitlichen Anthropozentrismus, der kosmologisch-topologische ebenso wie der teleologische und der ontologische,130 haben ihre Plausibilität verloren. In einem Kosmos, dessen zweckhafte Ordnung an der Gestalt des Kosmos selbst ablesbar war, konnte man kosmologisch plausibel von der zweckhaften Hinordnung der kosmischen Strukturen auf den Menschen reden. Die Welt und alles, was in ihr ist, sei um der Menschen wegen geschaffen („hominem causa factum esse mundum, quaeque in eo mundo sint omnia“)131, konnten die Stoiker sagen, und noch die neoplatonische Kosmosfrömmigkeit der frühen Neuzeit wiederholte, dass die „Weltmaschine (machina mundi) um unsretwillen (propter nos) vom besten und genauesten aller Werkmeister gebaut ist“132. Die Teleologie des Kosmos und die darin angelegte Anthropozentrik sind nicht mehr von der Gestalt des Kosmos gestützt. Natürlich kann man nach wie vor in außerwissenschaftlicher Perspektive die Überzeugung vom Menschen als Mitte, Ziel und Krone der Welt vertreten, wie ein schöpfungsgläubiger Sinnüberbau der Welt nicht wissenschaftlich ausgeschlossen ist, aber das „Design, das Wie des Sichzeigens des wissenschaftlichen Weltbildes, will damit nicht so recht übereinstimmen. So deutet in der Hermeneutik ————— 128 Zu Struktur, Geltung und Scheitern des physikotheologischen Design-Arguments vgl. U. Beuttler, „Denn Zweck der Welt ist der Mensch.“ Das anthropische Prinzip und die abendländisch-christliche Geschichte des Design-Arguments. 129 Wetz, Lebenswelt und Weltall, 328. 130 Zu dieser Unterscheidung vgl. ebd., 344. 131 Cicero, De natura deorum, II.133, 244. 132 N. Copernicus, De revolutionibus orbium coelestium, lib.I, praefatio, in: Das neue Weltbild, 73.

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des wissenschaftlichen Weltbildes erneut das, was wir wissen, auf das, was wir nicht wissen, auf den Absolutismus der Welt hin.“133 Das in vielen Zitaten ausgedrückte Empfinden, ein unerhebliches Staubkorn in einem Winkel des Weltalls zu sein, wird durch den Kosmos eher vermittelt als die anthropozentrische Gegenthese. Ist der Mensch, so fragt J. Wheeler, mit seinem kleinen Gehirn derjenige, der dem riesigen Weltall Bedeutung verleiht, oder ist er nicht umgekehrt „an unimportant speck of dust in a remote corner of space“134, der sein Leben und Bewusstsein eben von jenem Universum herhat, das dennoch ganz gleichgültig gegen ihn ist? Wenn das physikalische Universum auch ohne Sinn für den Menschen ist, so ist dies doch auch für den Physiker nicht einfach, sich damit abzufinden. Wer den fehlenden Sinn beklagt oder auch nur fordert, ihn nicht weiter zu suchen, der hat zumindest die Möglichkeit von Sinn schon unterstellt. Wenn J. Monod mit Genugtuung die Botschaft von der „gleichgültigen Leere des Universums“ aus Zufall und Notwendigkeit verkündet und daraus die Forderung erhebt, nun müsse der Mensch, wenn er diese Botschaft in ihrer vollen Bedeutung erkennt, „endlich aus seinem tausendjährigen Traum erwachen und seine totale Verlassenheit, seine radikale Fremdheit erkennen. Er weiß nun, dass er seinen Platz wie ein Zigeuner am Rande des Universums hat, das für seine Musik taub ist und gleichgültig gegen seine Hoffnungen, Leiden oder Verbrechen“135, dann beschwört doch zugleich mit nihilistischem Pathos die Sinnleere des Kosmos als letzten Sinn. Die Sinnfrage verschwindet auch dann nicht, wenn sie als gegenstandslos behauptet wird, weil ein „Bedürfnis nach sinnhaftem Aufbau der Welt besteht und die Menschen ohne Sinnwelten nicht auskommen können“136. Wenn es dem Kosmos egal ist, ob der Mensch einen Sinn in ihm hat, so ist es dem Menschen nicht egal. Wenn er mit Monod unterstellt, dass der Kosmos ihn einmal „gehört“ haben könnte und einst nicht „gleichgültig“ gegen ihn war, dann ist schon die Negation des kosmischen Sinns eine anthropomorphe Sinnaufladung sondergleichen. „Rand“ ist nur in Bezug auf eine Mitte ein verlassener Ort, der Vagabund nur in Bezug auf eine Bleibe ein Zigeuner. Wer „über die Taubheit und Sinnlosigkeit des Universums klagt, der unterstellt, dass es einen Hörenden und eine Sinn-Ordnung geben könnte.“137 Etwas kann man nur dann „als sinnlos erfahren, wenn man eine Sinnerwartung hegt. Von einem sinnlosen Leben [resp. Kosmos, U.B.] lässt sich nur ————— 133 Wetz, Lebenswelt und Weltall, 350. 134 J. Wheeler, The universe as a home for man, 685, zit. nach Kanitscheider, Philosophie und moderne Physik, 398. 135 J. Monod, Zufall und Notwendigkeit, 151. 136 Wetz, Lebenswelt und Weltall, 401. 137 H.D. Mutschler, Der Mensch im Universum, 51.

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reden, wenn man von einem sinnvollen ausgeht. […] Niemand glaubt stärker an den Sinn des Lebens, als derjenige, der ihn bestreitet.“138 Wenn es egal wäre, dass wir dem Kosmos egal sind, dann bräuchte man dies nicht pathetisch beschwören. Die Sinnfrage ist keine Scheinfrage. Wenn der Mensch schon im Weltall ohne Sinn leben muss, dann kann er dies nicht sinnlos tun. Die Frage ist nur, woher und auf welcher Grundlage dem Universum ein Sinn unterstellt oder abgesprochen werden kann. Um nicht in eine anthropomorphe unangemessene Sinnaufladung zu verfallen, hat man von Seiten der Naturwissenschaftler versucht, mit wissenschaftstheoretischen Argumenten den Bedeutungsverlust des Menschen wenigstens etwas zu kompensieren und die verlorene Mittelpunktsstellung in bestimmter Hinsicht wiederzugewinnen. Wir wollen vier verschiedene Versuche naturalistischer Sinnerfüllung diskutieren. 2. Vier Varianten naturalistischer Sinnerfüllung: Die erste Möglichkeit besteht darin, die oben 6.3.1. erörterte erkenntnistheoretisch konstitutive Rolle des Kosmologen für Begriff und Beobachtung des Kosmos auch auf den Kosmos selbst zu beziehen und subjektivistisch aufzuladen. So könnte man sich auf E. Wigners Deutung des quantenmechanischen Messprozesses beziehen,139 wonach erst das wahrnehmende Bewusstsein des Beobachters die Reduktion der Wellenfunktion in den beobachteten Zustand und damit die Realität des Objekts erzeugt. Zwar kann man im Rahmen der Kopenhagener Deutung sagen: Die „Bahn“ entsteht erst durch die Beobachtung, da die Wellenfunktion nicht einen raumzeitlichen Vorgang, sondern „eine Gesamtheit von möglichen Vorgängen“ beschreibt, so dass durch den Beobachtungsakt „der Übergang vom Möglichen zum Faktischen“ stattfindet. Aber dadurch führt man „keine eigentlich subjektiven Züge, […] nicht den Geist oder das Bewusstsein des Physikers als einen Teil des Atomvorgangs“140 ein. Die Beobachtung ist nicht der Verursacher der Realität des Objekts, sondern, wie man an Schrödingers berühmter Katze veranschaulichen kann, die semantische Vereindeutigung des semantisch unbestimmten „verschmierten“ Zustandes. Und abgesehen davon, dass der Kosmos kein quantenmechanisches Objekt ist, so dass nicht ohne Weiteres klar ist, inwiefern die Deutungsvarianten der Quantentheorie in Anschlag gebracht werden können, ist rein erkenntnistheoretisch klar, dass durch die Beobachtung des Kosmologen der Kosmos zu dem wird, als was er beobachtet wird, aber nicht zu dem, was er an sich ist. Der physikalische Kosmos ist Kon————— 138 J. Grondin, Vom Sinn des Lebens, 17. 139 Vgl. Kanitscheider, Philosophie und moderne Physik, 399. 140 Heisenberg, Physik und Philosophie, 36–38.

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struktion des Physikers, so dass der Physiker Grund und Ursache der physikalischen Welt ist, also des Universums, wie es seiner Fragestellung ausgesetzt ist, aber nicht, um M. Plancks Unterscheidung zwischen der „realen“ und der „physikalischen Welt“ aufzunehmen,141 Grund und Ursache der physischen Welt. Richtig ist, dass das moderne Wissen vom Kosmos, welches die Deanthropozentrierung erzeugt hat, ohne die Kosmologie nicht vorhanden wäre. Aber die Kosmologie könnte sich kein Wissen vom Kosmos erwerben, wenn nicht im Sinne des hypothetischen Realismus erkenntnistheoretisch und erkenntnispraktisch unterstellt werden könnte, dass der physikalische Kosmos ein etwas namens „Universum“ beschreibt, das auch, wenn es nicht beobachtet wird, nicht nichtexistent oder ganz anders ist als das, als was es beobachtet wird. Man muss dafür nicht einen naiven oder kritischen Realismus voraussetzen, der die vollständige bzw. näherungsweise Übereinstimmung der realen mit der beobachteten Welt verlangt, es genügt auch ein pragmatisch-technischer Wirklichkeitsbezug der Physik zum Zwecke der Beobachtung. In jedem Fall ist der Physiker Beobachtungszentrum als Astronom, nicht Weltzentrum als Mensch. Der Kosmos ist nicht wegen ihm oder für ihn da. Eine zweite Variante der Mittelpunktsrestauration besteht darin, die Tätigkeit des Kosmologen bei der Rekonstruktion des Kosmos als kosmischen Sinn selbst zu begreifen. So formuliert S. Weinberg am Ende seiner Entfaltung der „ersten drei Minuten“ des Universums desillusioniert: „Je begreiflicher uns das Universum wird, um so sinnloser erscheint es auch. Doch wenn die Früchte unserer Forschung uns keinen Trost spenden, finden wir zumindest eine gewisse Ermutigung in der Forschung selbst. […] Das Bestreben, das Universum zu verstehen, hebt das menschliche Leben ein wenig über eine Farce hinaus und verleiht ihm einen Hauch von tragischer Würde.“142 Der Wert, kosmologische Forschung betreiben zu können und darin einen Lebenssinn zu sehen, besteht natürlich nicht im Objekt „Kosmos“ selbst, sondern in der Tätigkeit der Forschung. Für den antiken Astronomen war hingegen die Himmelsbeobachtung ein höchster Wert, weil sie an ihrem Gegenstand partizipierte. Der Sinn der Kosmologie resultierte dort aus der sinnhaften Ordnung des Kosmos selbst, welche objektiv Bewunderung und Ehrfurcht erregte. Wenn, so der antike Kosmotheismus, der Kosmos das höchste, wertvollste Wesen ist, dann kann man sagen, dass der Sinn des Menschen in nichts anderem als darin besteht, diesen bewundernd zu betrachten. Schon Anaxagoras meinte, der Zweck der menschlichen Existenz sei „die Erforschung von Sonne, Mond und ————— 141 M. Planck, Das Weltbild der neuen Physik, in: Vorträge und Erinnerungen, 208. 142 S. Weinberg, Die ersten drei Minuten. Vom Ursprung des Universums, 162.

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Weltall“143, […] um das Himmelsgebäude zu betrachten und die Ordnung im Weltall“ und die Stoiker meinten, der Mensch als höchstes irdisches Wesen sei zwar „keineswegs ein vollkommenes Wesen, aber ein kleiner Teil des Vollkommenen“ und daher dazu erschaffen, um das Vollkommene schlechthin, „das Weltall zu betrachten und nachzuahmen.“144 Aber der moderne Kosmos ist weder göttlich noch vollkommen. Wenn er Ehrfurcht und Bewunderung erregt, dann nicht wegen, sondern trotz seiner unendlichen Ausdehnung, Leere und Zwecklosigkeit, dann nämlich, wenn der Astronom auf das beobachtete Universum die Folie des sinnhaft geordneten und sinnlich-ästhetisch vollkommenen, daher staunenswerten Kosmos darüberlegt. Diese Folie aber ist, wie alle Sinndeutungen der Wirklichkeit, ein sekundärer Akt des Urteils. Solcher Sinn ist als der „aus der Welt herausgelesene Sinn nur insofern in ihr enthalten, als er zuvor in sie hineingelegt wurde.“145 Jene angebliche „Erhabenheit des Kosmos, der sich wenige entziehen können“146 – nicht einmal der Naturalist Kanitscheider –, und die – angeblich – auch Kant beschwörte, bezieht sich nicht auf das physische Universum, sondern auf seine Ästhetisierung durch die so „schönen“ Falschfarbendarstellungen der Astronomen, die zudem für den Betrachter suggerieren, wir seien doch im Zentrum des Universums und die spektakulären Spiralnebel, Myriaden von Sonnen, Supernovae oder was immer seien gleich hier vor uns. Erhebenden Sinn hat der Kosmos nur im Lichte der sinnhaft verstandenen Forschung oder des ästhetischen Urteils. Schon für Kant hat der „bestirnte Himmel über mir“147 nicht mehr die antike Bewunderung erregt, weil er nämlich den Himmel gar nicht mehr unmittelbar sinnlich ergreifen, sondern nur noch als unendlichen Kosmos, sozusagen durchs Fernrohr der Kosmologie, betrachten konnte. Dessen Anblick erregte ihm genau das Gegenteil von Bewunderung und Ehrfurcht. Der „Anblick einer zahllosen Weltenmenge vernichtet gleichsam meine Wichtigkeit“ – erst der Blick auf das Subjekt dieses Objektes, „erhebt dagegen meinen Wert, als einer Intelligenz, unendlich“148. Anders gesagt: Die Erhabenheit des Kosmos für den Menschen besteht nicht im unendlichen Kosmos selbst – dieser ist die schreckliche Naturgewalt, die Furcht und Ohnmacht hervorruft – sondern in der Art der urteilenden Betrachtung: der sinnlich-ästhetischen Reflexion auf den Nachthimmel oder den wissenschaftlichen Kosmos. Auch bei Kant gründet sich die Erhabenheit der Natur ————— 143 144 145 146 147 148

Diogenes Laertios, Leben und Lehre der Philosophen, II.10, 96. Cicero, De natura deorum, II.37, 149. Wetz, Lebenswelt und Weltall, 358. Kanitscheider, Kosmologie, 467. Kant, KpV, A 289. Ebd.

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gerade nicht in ihrer furchterregenden Gewalt, sondern in der Überlegenheit des ästhetischen Urteils, welches das Missverhältnis zwischen der Ohnmacht als Naturwesen und der Macht als Freiheitswesen zugunsten des Letzteren auflöst. „Erhaben“ ist die Natur durch die Erhabenheit des eigenen Urteils149. Ein dritter Versuch, eine Bedeutung des Menschen für den Kosmos wiederzugewinnen, ist das sog. Anthropische Prinzip, das hier nur genannt, nicht im Einzelnen diskutiert werden soll.150 Es rekurriert auf den erstaunlichen Tatbestand der Feinabstimmung der Naturgesetze und Naturkonstanten, die bei nur geringfügiger Abweichung die Hervorbringung von menschlichem Leben unmöglich gemacht hätten. Das Anthropische Prinzip in seiner schwachen Form besagt, dass die Gesetze und Randbedingungen des Universums die Entstehung des Menschen nicht ausschließen dürfen. Das Prinzip ist in dieser Form Ausdruck der Faktizität, dass Menschen entstanden sind, und daher notwendige, nicht aber hinreichende Bedingung. Es bildet ein kritisches Ausschlusskriterium für alle diejenigen möglichen kosmologischen Theorien, die die Entstehung und Existenz des Menschen ausschließen – sie können nicht wahr sein. Das starke Anthropische Prinzip hingegen formuliert eine hinreichende Bedingung für Leben und behauptet, das Universum sei so beschaffen, damit intelligentes Leben entsteht bzw. dass irgendwann unweigerlich sein Beobachter hervorgebracht wird. Aus dem Aufbau des Universums zu schließen, dass dies teleologisch oder gar intentional auf Leben hin ausgerichtet sei, unterstellt, die Feinabstimmung sei zu einem bestimmten Zweck und in der Absicht bestehend, Menschen hervorzubringen. Eine solche antizipatorische Finalität wird man den kausalen Naturprozessen kaum zusprechen können. Sie sind, wie der physikalische Kosmos insgesamt, absichtslos und damit sinnindifferent. Der Kosmos gibt keine Auskunft über das Woher und Wozu der menschlichen Existenz, aber er schließt solche Antworten auch nicht aus. Im weiteren Rahmen von Sinnsystemen, etwa dem christlichen Schöpfungsglauben, kann die Feinabstimmung als teleologisches Mittel zur Erschaffung von Leben verstanden und eine Deutung des Daseins und Soseins der Welt auf den Menschen hin versucht werden. ————— 149 Vgl. Kant, KU §28, B 102–106, 184–186. 150 Hierzu vgl. die Beiträge einer vom Verfasser veranstalteten Tagung, dokumentiert in Glaube und Denken 18 (2005): Beuttler, „Denn Zweck der Welt ist der Mensch.“, bes. 33–38; P. Hägele, Die moderne Kosmologie und die Feinabstimmung der Naturkonstanten auf Leben hin; B. Suchan, Kosmischer Sinn? Anthropische Argumente gegen die kosmologische Entfremdung des Menschen; A. Kreiner, Das anthropische Prinzip und seine theologische Relevanz; sowie Evers, Raum – Materie – Zeit, 244–250; R. Vaas, Ein Universum nach Maß? Kritische Überlegungen zum Anthropischen Prinzip in der Kosmologie, Naturphilosophie und Theologie.

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Eine vierte Variante, der Gleichgültigkeit des Kosmos auf den Menschen zu entkommen, besteht darin, diese einem bestimmten modernen, aber heute überholten Naturverständnis zuzuschreiben. Schon G.T. Fechner hat, wie erwähnt, der toten, stummen, kalten „Nachtansicht“ des mechanistischen Atomismus und Materialismus die lebendige, warme, dynamische „Tagesansicht“ der empfindungsreichen Natur gegenübergestellt.151 Gegenwärtig führen I. Prigogine und I. Stengers den „Bruch zwischen dem Menschen und der Natur“, der zum monod’schen Gefühl der Heimatlosigkeit im Universum geführt hat, auf das mechanistische Weltbild mit seinen zeitlosen Gesetzen und seiner „leblosen Ordnung der Natur“152 zurück. Würde man hingegen die Welt statt als statisch-toten Mechanismus als ein dynamisches, Komplexität hervorbringendes, sich selbst organisierendes, schöpferisches Universum des Werdens begreifen, dann wäre dieses kreative Universum nicht nur physiognomisch freundlicher, sondern der Mensch wäre auch kein Fremder in der Natur mehr, er wäre wieder „ein Teil von ihr“153. Dann gebe es keinen physikalischen Grund mehr, sich in der Welt heimatlos, fremd und verlassen zu fühlen, vielmehr wäre die Fremdheit naturalistisch durch ein adäquates Naturverständnis überwunden. So vertritt auch Kanitscheider die Meinung, „ein Grund für die tiefen Gräben, die man lange Zeit zwischen der ‚toten‘ Materie und den lebendigen und bewussten Systemen mit ihrer Fähigkeit zur Ideation sah, liegt sicher in dem Typus der Naturwissenschaft, den man grob mit mechanistisch bezeichnet“. Würde man hingegen die Natur im neuen Paradigma der Selbstorganisation betrachten, so würde sich die Vermutung erhärten lassen, „dass das Universum ein großes zusammenhängendes System ist, in dem alle Teile ihren gesetzesartigen Platz haben. Damit schwindet auch das, was Jacques Monod die ‚totale Einsamkeit und radikale Fremdheit‘ des Menschen genannt hat.“ Mittels der Selbstorganisations- und Systemtheorien wäre es möglich, dass der Mensch „sein Wesen in einen größeren Naturzusammenhang einbettet“ und sich von seiner „großräumigen Einbettung“154 her versteht. Je mehr man die großräumigen Zusammenhänge, Aufbau und Struktur des Universums und der Materie versteht, desto mehr sollten auch die Menschen sich „ein wenig von unserer großräumigen Einbettung zu verstehen suchen, unserem Universum, das uns hervorgebracht hat, unserer ————— 151 G.T. Fechner, Die Tagesansicht gegenüber der Nachtansicht, hierzu vgl. M. Heidelberger, Die innere Seite der Natur. Gustav Theodor Fechners wissenschaftlich-philosophische Weltauffassung; aufgenommen wurde diese Naturansicht von E. Mach, R. Avenarius, W. Ostwald, K. Heim u.a., hierzu vgl. K. Heim, Ich gedenke der vorigen Zeiten, 72; Beuttler, Gottesgewissheit in der relativen Welt, 93.381. 152 I. Prigogine/I. Stengers, Dialog mit der Natur, 11.196. 153 Ebd., 294. 154 B. Kanitscheider, Von der mechanistischen Welt zum offenen Universum, 205f.

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Heimat.“ So würde das kosmische Zigeunerdasein aufgrund der „reichen Aufgabe, dieses großartige, reichstrukturierte, aber vielfach noch geheimnisvolle Universum“155 zu begreifen, zu einem sinnvollen Leben. Daher, so Kanitscheider, „wäre es allmächlich Zeit, dass die Menschen angesichts der Sinnfrage nicht immer ihr Befremden darüber ausdrücken, dass sie weder eidos noch telos dieser Welt sind; es wäre Zeit, dass der Mensch sich auch in diesem größeren Bereich heimisch fühlt und dass sein Entsetzen über die unmessbaren Räume einem bewundernden Staunen über die Vielfältigkeit der Natur weicht. Es ist zu hoffen, dass in dem Maße, in dem wir den großräumigen Aufbau, die Dynamik der hierarischen [sic!] Struktur, die Entstehung und den Lebenslauf aller Gebilde im Kosmos besser verstehen, auch das Gefühl der Fremdheit verschwindet und damit auch das Bedürfnis verloren geht, artifizielle Umdrehungen des Erkenntnisprozesses vorzunehmen, um eine verlorene Mittelpunktsstellung wiederzugewinnen.“156

Wie sind diese Versuche zu werten, die verlorene Heimat durch naturwissenschaftlichen Fortschritt wiederzugewinnen? Schwerlich kann man sagen, dass die Ersetzung des mechanistischen durch das dynamische Naturverständnis die Bedingungen beseitigt hätte, die zur kosmischen Heimatlosigkeit der Moderne geführt haben. „Denn wie das mechanistische ist auch das kreative, dynamische Universum unermesslich, stumm, gleichgültig und ermangelt der Gastlichkeit und Bedeutsamkeit, welche uns die Welt zur Stätte der Geborgenheit werden lassen.“157 Wenn die Verwissenschaftlichung des Universums zur Desanthropozentrierung geführt hat, lässt sie sich nicht durch dieselbe Haltung rückgängig machen. Kann man sagen, dass Kanitscheiders Sinndeutung des physikalischen Kosmos im Unterschied zu den oben vorgestellten Versionen selbst nicht „anthropozentrisch restaurativ“158 sei, wie er den anderen vorhält? Wohl kaum, denn gibt es einen antropozentrischeren, unwissenschaftlicheren Begriff als „Heimat“? Heimat gibt es nicht im physikalischen, gegen Sinnfragen neutralen, Kosmos, sondern nur im menschlichen Verstehen des durch sinnhafte Orientierung geordneten Kosmos. „Großräumige Einbettung“ heißt doch in Wahrheit, den unermesslichen Raum zu einer lebensweltlichen Größe zusammenschrumpfen zu lassen. Sich im „größeren Bereich heimisch“ zu fühlen gelingt nur, wenn der Raum klein und vertraut genug ist. Sinn und Heimat gibt es nicht im großen Kosmos, sondern in der darübergelegten Projektion des auf den Menschen zentrierten, lebensweltlich kleinen Modellkosmos. Mit dieser Einsicht „wird der physikalistische Totalerklärungsanspruch hinfällig. Die Physik hat nämlich einen blinden Fleck: Ihre Kompetenz ————— 155 156 157 158

Kanitscheider, Kosmologie, 468. Kanitscheider, Philosophie und moderne Physik, 403. Wetz, Die Gleichgültigkeit der Welt, 145. Kanitscheider, Philosophie und moderne Physik, 399.

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versagt bei Sinnfragen. Der physikalisch gedeutete Kosmos ist so sinnlos, dass er noch nicht einmal die Abwesenheit von Sinn zu diagnostizieren gestattet.“159

6.6 Der lebensweltliche Sinn im sinnleeren Kosmos 1. Die Sinnindifferenz des Universums: Gegen alle anthropozentrischen Sinnaufladungen oder Sinnabsprechungen des physikalischen Kosmos hat F.J. Wetz dafür plädiert, die Sinnindifferenz des Universum radikal ernst zu nehmen. Wetz bezieht sich zunächst auf die von Freud und Blumenberg als Kränkung und Demütigung des Menschen charakterisierte Verdrängung aus dem Weltmittelpunkt an den Rand. Es sei eine „Reihe der neuzeitlichen Demütigungen des Menschen durch Wissenschaft“160 gewesen – Freud spricht bekanntlich von den „drei Kränkungen der Menschheit“ durch die Wissenschaft, Carnap von sechs, Vollmer bereits von sieben bis neun Kränkungen161 –, weil die moderne Wissenschaft durch Einordnung des Menschen in den Naturzusammenhang nicht nur dazu geführt hat, dass der Mensch weder topologisch („Kopernikus“), noch teleologisch („Darwin“) noch metaphysisch („Freud“) sich mehr als Wertzentrum des Universums begreifen kann, sondern auch, weil das moderne Wissen unser Verlangen nach umgreifendem Weltsinn enttäuscht. Statt Weltvertrauen und Bewunderung vermittelt das unermessliche, gleichgültige, schweigende All Erfahrungen der Weltvergeblichkeit: des Erschreckens, der Traurigkeit, der Apathie oder der Weltangst162. Gegen Versuche, das verlorene Weltvertrauen unmittelbar oder wenigstens gebrochen wieder zu restaurieren durch esoterische Wiederverzauberung oder durch romantische Weltverklärung wendet sich Wetz ebenso wie gegen die maßlose Weltvergeblichkeit des Nihilismus. Alle nehmen sie die Sinnindifferenz des Universums nicht wirklich ————— 159 Mutschler, Der Mensch im Unviversum, 55; vgl. ders., Naturwissenschaft und die Dispensierung der Sinnfrage, 24. 160 H. Blumenberg, Die Genesis der kopernikanischen Welt, 710. 161 S. Freud, Eine Schwierigkeit mit der Psychoanalyse, in: Gesammelte Werke, Bd. XII, 3– 12, 11; G. Vollmer fügt zur kosmologischen (Kopernikus 1543), biologischen (Darwin 1859) und psychologischen (Freud 1895) noch die ethologische (Heinroth 1910), die epistemologische (Lorenz 1941) und die soziobiologische Kränkung (Wilson 1975), sowie die Kränkung durch das Computermodell des Geistes (heute), die ökologische (demnächst) und die neurobiologische (21. Jahrhundert) hinzu (Die vierte bis siebte Kränkung des Menschen – Gehirn, Evolution und Menschenbild). 162 Zur „Weltangst“ (O. Spengler, Der Untergang des Abendlandes, 107, hierzu Beuttler, Gottesgewissheit in der relativen Welt, 132–138; M. Schröter, Metaphysik des Untergangs) und den entsprechenden apokalyptischen Weltuntergangsszenarien vgl. U. Körtner, Weltangst und Weltende.

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ernst, die Esoterik nicht, weil sie dem sinnlosen Kosmos einen verborgenen Sinn unterschiebt, der Nihilismus nicht, weil er dem Kosmos pathetisch einen Anti-Sinn zu unterstellen versucht. Die Behauptung von Feuerbach, Nietzsche und Sartre, mit Blick auf den sinn- und zwecklosen Kosmos sei alles sinn- und zwecklos, hat nur Sinn auf dem Hintergrund einer Sinnerwartung. Denn „die grund- und zwecklose Welt ist eben nicht an sich vergeblich, sondern erscheint nur so vor dem Hintergrund der unerfüllten Erwartung eines metaphysischen Weltgrundes und Weltzwecks“163. Die Natur ist nur im Hinblick auf einen letzten Sinn sinnlos. Der Nihilismus ist eine metaphysische Anti- oder Ersatz-Metaphysik, weil er an die Stelle, die ehemals vom letzten Sinn besetzt war, nun den enttäuschten Sinn, den AntiSinn stellt. Er artikuliert eine Verlusterfahrung. Nietzsches Diktum, dass wir, nachdem wir Gott getötet und uns von der Sonne losgekettet haben, nun fortwährend ins Nichts stürzen, ohne Oben und Unten,164 macht nur Sinn vor der verlorenen kosmischen Sinnorientierung. „Die ehemals von Gott mit dem ganzen Gewicht seiner Macht fürsorglich getragene Welt erscheint nach seinem Verschwinden nur deshalb halt- und gewichtslos, weil in uns die Erinnerung und Sehnsucht nach seinem Halt wach geblieben sind.“165 Umso stärker der Sinnverlust schmerzt, umso sinnloser und vergeblicher erscheint die Welt. Gegen solche maßlose Weltvergeblichkeit als verkappte Sinnerwartung plädiert Wetz dafür, die Welt als neutrales Faktum, als radikal sinnindifferent zu begreifen. Man möge im Zeitalter der Wissenschaft die Welt so nehmen, wie sie ist, und keinen Sinn von ihr erwarten. Das Weltall zu nehmen, wie es ist, heißt, es nicht mehr auf dem Hintergrund der alten Sinnmodelle zu sehen und keinen überschwänglichen Sinn mehr zu erwarten. Diese Haltung führt allerdings zu einem Dilemma, das man nur als Absurdität bezeichnen kann. Da der Mensch nämlich für sich und sein eigenes Leben gar nicht anders kann, als nach einem Sinn zu suchen und Sinnwelten zu entwerfen, entsteht der Zwiespalt zwischen der Wichtigkeit von innen und der Unerheblichkeit von außen, den Thomas Nagel als Konflikt zwischen Innen- und Außerperspektive beschreibt. Von innen gesehen, aus der persönlichen Innenperspektive, ist „mein Leben von ungeheurer Wichtigkeit“, aber „von weit genug außerhalb gesehen, ist meine Geburt offenbar zufällig, mein Leben zwecklos, mein Tod unerheblich“166, bin ich im „zentrumlosen Universum […] ein unbedeutender Klecks, der auch ohne weiteres nicht hätte sein können.“167 ————— 163 164 165 166 167

Wetz, Die Gleichgütigkeit der Welt, 176. Zitiert oben in der Einleitung.1, Anm. 30. Wetz, Lebenswelt und Weltall, 441; ders, Die Gleichgültigkeit der Welt, 177. T. Nagel, Der Blick von irgendwo, 361. Ebd., 109.

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Diese beiden Standpunkte prallen so konträr aufeinander, dass man die objektive Sicht von außen „nicht mehr ohne weiteres in den subjektiven Standpunkt integrieren“168 kann, von dem aus dasselbe Leben geführt wird. Im vormodernen und noch im frühneuzeitlichen Universum konnte man individuellen Sinnentwurf und großräumige kosmische Sinn-Einbettung zur Konvergenz bringen, im modernen ergibt sich ein Konflikt, aus dem es „keinen echten Ausweg geben kann“169. Den Konflikt nach der einen oder anderen Seite aufzulösen, ist keine Lösung: Der subjektiven Sinnerwartung zu entsagen, ist dem menschlichen Individuum ohne Aufgabe seines Lebens unmöglich, die objektive Unerheblichkeit des eigenen Lebens schlicht zu übergehen, ist wissenschaftliche Ignoranz und Abblendung des Faktischen. Es bleibt nur, die überschwänglich-maßlose Erwartung der Sonderstellung aufzugeben und der Absurdität des Widerspruchs standzuhalten, das Leben als ein absurdes anzunehmen. Nur so, meint F.J. Wetz, sei es möglich, die grundlosen und maßlosen Sinnversprechen der religiös-metaphysischen Tradition auf sich beruhen zu lassen170. Man kann sich nur in stoischem Einverständnis, in Gelassenheit und Bescheidenheit mit dem Provisorischen abfinden, sich mit dem Faktischen und seiner Absurdität arrangieren, oder kurz: den Absolutismus der Welt akzeptieren. Durchaus gebe zwar das Weltall Anlass zum stillen Erstaunen, so dass die im letzten unerklärliche Existenz der Welt sowie ihre ungeheure Größe und Komplexität durchaus als positive Qualität erfahren werden können. Nichtsdestotrotz sei es nötig, „die überdehnten Sinnerwartungen abzubauen, uns mit dem verwissenschaftlichten Weltall ohne höheren Sinn und Zweck ins Einvernehmen zu setzen und uns mit uns selbst als einem vergänglichen Stück Natur auszusöhnen.“171 All dies bedeutet nichts anderes als die nüchterne Zustimmung zum Absolutismus der Welt und zum absurden Dilemma unseres Daseins. 2. Verorteter kosmischer Sinn: Solche stoische Gelassenheit, wie Wetz sie fordert, ist gewiss ein respektable Haltung, wem sie gegeben ist. Allein, sie wird nicht jedermann gegeben sein. Denn der Mensch als sinnverstehendes und Sinnwelten aufbauendes Wesen sucht quasi aus natürlicher Kulturtätigkeit nach Raumordnungen und Raumorientierungen, also nach verortbarem Sinn im Weltall ohne Sinn. Weil er dafür seinem gelebten Raum und seiner Lebenswelt nicht entkommen kann, sie weder abstreifen noch in eine ‚reine‘ wissenschaftliche Welt überspringen kann, sucht er den Lebenssinn am Ort seiner Lebenswelt, im Rahmen des ihm zur Verfügung stehenden und ————— 168 169 170 171

Ebd., 361. Ebd., 377. Wetz, Die Gleichgültigkeit der Welt, 148; Lebenswelt und Weltall, 497. Wetz, Lebenswelt und Weltall, 451.

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erschließbaren Raumes. Er kann nicht wie ein Kosmopolit in den weiten Räumen des All existieren, nicht allein auf einer fernen Galaxis weilen – weder real noch metaphorisch. Der Mensch braucht als Heimat vertrauten Raum, er braucht einen Raum, der ihm Weltvertrauen vermittelt und nicht gleichgültig gegen ihn ist. Die kosmischen und die modernen Nicht-Orte172 der Globalisierung sind allenfalls Durchgangsstationen, niederlassen kann man sich an ihnen nicht. In die Ferne reisen kann man nur vom Boden der Heimat aus. Für alle fernreisenden Aktivitäten sind, kosmisch betrachtet, die Erde und, lebensweltlich betrachtet, die Orte, die real und symbolisch für „Heimat“ stehen, die unaufgebbare Basisstation der sinnhaften Lebensweltgestaltung ebenso wie der wissenschaftlichen Welterschließung. Schon realräumlich ist klar, dass auch das (kopernikanische) Zeitalter der Raumfahrt eine (antikopernikanische) „geotrope Astronautik“173 verlangt, wie Blumenberg sagt. Der astronautische Blick vom Mond auf die Erde als eine „durch die Schwärze des Raums rollende irrelevante Kugel“174 war 1968 Sensation und Ernüchterung zugleich. Er entmythologisierte die kosmische ScienceFiction, es gäbe eine Alternative zum blauen Planeten. In den lebensfeindlichen extraterrestrischen Weltraum müsste der Mensch, um dort zu leben, „den irdischen Lebensraum mitschleppen in das Weltenall hinaus“175. „Die kosmische Oase, auf der der Mensch lebt, dieses Wunder von Ausnahme, der blaue Eigenplanet inmitten der enttäuschenden Himmelswüste, ist nicht mehr ‚auch ein Stern‘, sondern der einzige, der diesen Namen zu verdienen scheint. Nur als Erfahrung einer Rückwendung wird akzeptiert werden, dass es für den Menschen keine Alternativen zur Erde gibt“176, wie keine Alternativen zu den von der menschlichen Lebenswelt aufgebauten Sinnwelten. Ebenso redet Husserl in „kopernikanischer Umwendung der kopernikanischen Umwendung“ in phänomenologischer Hinsicht von der Erde als unserer ‚Heimat‘. Der Ruhe-Boden Erde, von dem aus das Nah- und Fernfeld des kosmischen Raumes erschlossen wird und von dem aus Bewegung erst Sinn hat, ist nicht ein Stern unter Sternen, auch nicht vorübergehende ————— 172 Z. Baumann spricht von Nicht-Orten als leeren Räumen bar jeden symbolischen Ausdrucks. Flughäfen, Autobahnen etc. sind Leerräume, nicht weil sie leer sind, sondern weil sie bedeutungsleer, gar „bedeutungsresistent“ sind: „Sie erscheinen leer, weil sie keine Bedeutung tragen, weil man sich nicht vorstellen kann, dass sie jemals bedeutungsvoll sein könnten“ (Flüchtige Moderne, 123). 173 Blumenberg, Die Genesis der kopernikanischen Welt, 783. 174 G. Anders, Der Blick vom Mond, 12. 175 J. Meurers, Weltallforschung. Die Wissenschaft von den großen Massen und Räumen. Eine wissenschaftstheoretische Studie, 109. 176 Blumenberg, Die Genesis der kopernikanischen Welt, 793f.

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Heimstatt, sondern „Urheimat“. Die Erde ist die „Arche der Welt“177, in der wir für immer zu Hause sind und nur zu Hause sein können. Sie ist Absolutum der Orientierung wie das Ich und das Hier des transzendentalen Subjekts. Ist diese phänomenologische Restauration des idealistischen Subjekts, wie Wetz Husserl vorwirft, einfach eine Ausklammerung des kosmologischen Realismus? Gewiss ist für Husserl der Blick ins All nicht der Blick in die unermessliche Ferne, sondern ein Rundblick auf die vertraute, lebensweltliche Nah-Welt. Zugespitzt kann man sagen, dass in Husserls transzendentaler Phänomenologie vom All und dem gestirnten Himmel nur „die wahrnehmbaren Dinge neben mir übrig [sind]; die Welt spielt in der von Gegenständen der näheren Umgebung ausgehenden Philosophie Husserls überhaupt keine Rolle.“178 Aber kann man dies zum Vorwurf machen? Schließlich ist, wie Wetz selbst zugesteht, „für die Welt, in der wir leben, der Nahhorizont von Wahrnehmung für unseren Alltag charakteristisch und absolut wichtig; nicht jedoch das riesenhafte Universum, in das die Wissenschaften eindringen.“179 Der kosmische Blick kann gewiss vor der Selbstüberschätzung bewahren, der Mensch hätte sich selbst hervorgebracht. Aber er entbindet nicht davon, dass nur von der lebensweltlichen Nahwelt aus eine Sinnwelt im Weltall ohne Sinn erschlossen werden kann. Dazu ist es nötig, um nicht in bodenlos-objektivistischem Fernblick zu erstarren, den lebensweltlichen und den kosmischen Raum zur Sinnerschließung aufeinander zu beziehen. Das ist auch nötig, um nicht auf der anderen Seite einer fundamentalistischen Realitätsabblendung zu verfallen, die den anthropozentrischen Sinnkosmos, gleich welcher religiösen oder weltanschaulichen Provenienz, für die Wirklichkeit schlechthin hält. Die Wirklichkeit erschöpft sich weder naturalistisch im wissenschaftlichen Kosmos ohne Lebens- und Sinnwelt, noch subjektivistisch in einer Sinnwelt ohne Kosmos. Wie aber kann es gelingen, einen von der Lebenswelt ausgehenden, aber auch kosmisch relevanten, d.h. das wissenschaftliche Universum einbeziehenden, Sinn des Kosmos zu finden? Möglich ist dies, indem der gelebte lebensweltlich-vertraute Raum mitsamt seinen sinnhaften Ordnungsstrukturen und Orientierungen in den sinnleeren Kosmos eingezeichnet und dieser von jenem her erschlossen wird. Das aber geschieht in der sinnlich-ästhetischen und/oder in der religiösen Raumwahrnehmung, bei der der Kosmos sinnhaft bzw. symbolisch ————— 177 Husserl, Kopernikanische Umwendung der Kopernikanischen Umwendung. Die ‚UrArche‘ Erde, 159.163. 178 F.J. Wetz, Edmund Husserl, 151. 179 Ebd., 167.

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erschlossen wird. Insbesondere im inhomogenen, zentrisch bzw. zylindersymmetrisch strukturierten und durch fundamentale Bereichsdifferenzen geordneten mythischen Raum ist dies der Fall, so dass die wissenschaftliche Kosmologie, um eine lebensweltliche Relevanz zu haben, einer der mythischen Raumordnung analogen Struktur als Ergänzung bedarf. Erst vom mythischen Raum im weitesten Sinn und dessen Ordnungen her erschließt sich ein Sinn für den sinnleeren kosmischen Raum. Damit ein solches mythisches Raumverständnis, welches das Ganze des Raumes, also den Kosmos als koßsmow (als wohlgeordnetes Weltganzes) strukturiert, aber auch dem modernen Menschen im sinnleeren Kosmos erschließbar sein kann, müssen einige Bedingungen erfüllt sein. Dafür, dass ein Gesamtverständnis des Kosmos, ein „Weltbild“, über die Integration des Weltwissens in ein Gesamtbild auch lebenspraktische Orientierung gewähren und einen Sinn des Menschen in der Welt vermitteln kann, müssen mindestens folgende fünf Elemente vorhanden sein: Das Weltbild muss erstens von der lebensweltlich-sinnlichen Anschauung her entworfen und auf diese zurückbeziehbar sein. Es muss zweitens eine Durchsichtigkeit oder Durchlässigkeit des Anschauungsgehalts auf eine geistige Sinnsphäre möglich sein. Es müssen drittens im Weltbild strukturelle oder regionale Differenzen vorhanden sein, die sich auf fundamentale im Leben erfahrene Differenzen abbilden lassen und symbolisch lebenspraktische Erfahrungen, Einstellungen und Erwartungen repräsentieren können. Es muss viertens eine Relation des Kosmos-Ganzen auf den Menschen als seine sinnsuchende Mitte, also auf irgendeine Weise ein Entsprechungsverhältnis von Kosmos und Mensch möglich sein, wofür fünftens eine Entsprechung von Peripherie und Zentrum des Kosmos nötig ist: Das Weltbild muss zentrisch strukturiert sein und das Zentrum muss repräsentativ für das Ganze stehen können. Nur dann fällt das Sinnzentrum für den Menschen mit dem symbolischen Weltzentrum zusammen, und nur in diesem Fall kann der Kosmos dem Menschen Sinn vermitteln. Ob dies vermittels des gegenwärtigen physikalischen Kosmos möglich ist, hängt daher nicht nur an der konzentrischen Struktur. Diese ist nur die conditio sine qua non, aber noch nicht hinreichend für kosmische Sinnvermittlung. Notwendig ist ebenfalls die Durchsichtigkeit des Kosmos auf eine Sinnsphäre hin, die im Kosmos und seiner Struktur wieder metaphorisch dargestellt werden können muss. Das wiederum ist nur im Rahmen eines Symbolsystems möglich. Im Rahmen einer christlichen Schöpfungstheologie hierfür infrage kommende symbolische Formen sind die mythischreligiöse und die geschöpflich-ästhetische Raum- und Naturwahrnehmung. Wir wollen im Blick auf die gestellte Aufgabe einerseits das biblischmythische Weltbild (7.1–2) und andererseits die Frage der Transparenz des geschöpflichen Raumes diskutieren (7.3–6).

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Kapitel 7: Der Geschöpfliche Raum und die Transparenz der Natur

Nach dem gelebten und gestimmten Raum einerseits und dem physisch-kosmologischen Raum andererseits kommen nun der mythische und der geschöpfliche Raum zur Sprache. War der gelebte Raum durch das menschliche Dasein konstituiert und der kosmologische Raum von der Lebenswelt fundiert, so wird der mythische resp. der geschöpfliche Raum von einem religiösen Sinnsystem aufgespannt, er ist aber bezogen auf den sinnlichen Kosmos, welcher auch Teil des gelebten Raums und Ausgangspunkt des kosmologischen Raumbegriffs ist. Diese Verwebung der Raumbegriffe versuchen wir uns zunutze zu machen, um den vordergründigen Gegensatz zwischen dem religiösen und dem wissenschaftlichen Raum aufzubrechen. Wir fragen nach einer Hermeneutik, um Sinnstrukturen des biblisch-mythischen und des christlich-schöpfungstheologischen Raumbegriffs auch im modernen Kosmos nachvollziehen zu können. Anders gesagt: Wir suchen nach einem Raumbegriff, der zwischen der Schöpfungskosmologie und dem physikalischen Kosmos vermitteln kann. Dieser Raumbegriff ist der sinnlich wahrnehmbare Kosmos, der kraft seiner Sinnlichkeit transparent ist für Sinnbezüge. Im ersten Teil wird die Fundierung des mythischen Raums im sinnlichen prinzipiell an der These der symbolischen Prägnanz des Sinnlichen (7.1) und konkret am biblischen Weltbild aufgezeigt (7.2). Der verlorene Zugang zur Welt als Schöpfung wird im zweiten Teil wiedererschlossen, indem das Naturverständnis dekonstruiert wird, das dies verhindert hat (7.3), und ein revidiertes Naturverständnis vorgeschlagen wird (7.4), das weitergeführt werden kann zu einer Ästhetik des natürlichen Kosmos (7.5), welche die Erfahrung der Welt als Schöpfung möglich macht (7.6).

7.1 Der mythische Raum und seine symbolische Prägnanz Ebensowenig wie der wissenschaftliche Raumbegriff in einem einfachen Gegensatz zum lebensweltlichen Raum und seinen Strukturen steht, sondern, wie in den vorigen Kapiteln gesehen, der wissenschaftliche Raum durch den gelebten getragen und fundiert ist, ebenso wenig steht die Raumauffassung der Wissenschaft einfach konträr gegen die des Mythos. Weder historisch noch systematisch verlief und verläuft der Weg des Denkens in simpler, ablösend-gegensätzlicher Weise vom Mythos zum Logos. Wie bereits von W. Nestle und W. Jaeger am Übergang vom homerischen Mythos zur vorsokratischen und platonisch-aristotelischen Philosophie gezeigt,

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ist der Weg „vom Mythos zum Logos“1 nicht einfach der „Fortschritt“ eines „geistigen Befreiungsprozesses“ von der „magisch-mythischen“ über die aufgeklärt „religiöse Weltansicht“ hin zur „reinen Erkenntnis“ des Begriffs.2 „Der Beginn der wissenschaftlichen Philosophie fällt weder mit dem Anfang des rationalen noch mit dem Ende des mythischen Denkens zusammen.“3 Weder ist der Mythos einfach irrational noch von minderem Wahrheitsgehalt oder geringerem Erklärungswert als der Logos der Naturphilosophen. Formal entspricht das mythische Modell in seiner Funktion und Leistung als Welterklärung dem wissenschaftlichen, auch wenn es eine grundlegend andere Ontologie und Erkenntnistheorie unterstellt.4 Die formale Parallelität als systematische Ordnung und Erklärung der Welterfahrungen geht mit einer fundamentalen Differenz der Erkenntniskategorien Raum, Zeit, Begriff, Subjekt-Objekt-Verhältnis usw. einher. Der Mythos führt den regelmäßigen Ablauf des Naturgeschehens statt auf kausale Naturgesetze auf finale Ursprungsgeschichten (aörxaiß) und die konkreten Vorgänge auf die Einwirkung und Präsenz von numinosen Wesen zurück. Die mythische Zeit ist zyklisch als ständige Wiederholung eines nicht datierbaren Urgeschehens, der Raum ist inhomogen, er trägt eine numinose Ordnung und ist in heiligen Orten zentriert.5 Im Individuellen präsentiert sich ein Allgemeines, das durch ein numinoses Individuelles, eine Gottheit, repräsentiert wird. Ideelles und Materielles, Subjekt und Objekt, Mensch und Natur sind nicht geschieden, sondern in unlöslicher, organischer Einheit verbunden. Eine rationale Distanzierung und Objektivierung der Natur, also Naturerkenntnis unter der Unterscheidung von Begriff und Gegenstand ist nicht möglich. Erkenntnis beruht hier nicht darauf, „dass ein Subjekt in der rein geistigen Innerlichkeit seines Denkens ein außerhalb seiner liegendes Objekt erfasst“, sondern dadurch, dass „die numinose Substanz, die das an ihr teilhabende Objekt durchdringt, in den Erkennenden einfließt und ihn erfüllt“6. Der Mythos beruht wie die Wissenschaft auf Erfahrung, jedoch „auf numinosen Erfahrungen, in denen ein Gott etwas dem Menschen zeigt“7. Und im Unterschied zur Wissenschaft erreicht der Mythos nicht nur Hypothesen über die Wirklich-

————— 1 W. Nestle, Vom Mythos zum Logos. Die Selbstentfaltung des griechischen Denkens von Homer bis auf die Sophistik und Sokrates. 2 So noch E. Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen II, 32.34, im Anschluss an Hegels Phänomenologie des Geistes. 3 W. Jaeger, Paideia. Die Formung des griechischen Menschen, 208. 4 Zu den folgenden, den Mythos im Unterschied zur Naturwissenschaft auszeichnenden Charakteristika, vgl. K. Hübner, Kritik der wissenschaftlichen Vernunft, 295ff; ders., Die Wahrheit des Mythos, bes. 109ff; ders., Wissenschaftstheorie – Mythos – Offenbarung: Die Geschichte einer Entdeckung, zurückgreifend auf E. Cassirers Philosophie der symbolischen Formen und M. Eliades Phänomenologie (s. die folgende Anm.); zur Kritik an Hübners Mythos-Auffassung vgl. C. Jamme, „Gott an hat ein Gewand“. Grenzen und Perspektiven philosophischer Mythos-Theorien der Gegenwart, 132–135. 5 Genauer zur Ordnung des mythischen Raumes vgl. unten 7.2, zur mythischen Zeit vgl. M. Eliade, Kosmos und Geschichte; ders., Das Heilige und das Profane; ders., Die Religionen und das Heilige. 6 Hübner, Die Wahrheit des Mythos, 265. 7 Ebd.

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keit, sondern glaubt „in der numinosen Erfahrung, in der Epiphanie göttlicher Wirklichkeit Wahrheit zu erkennen“8. Da diese Wahrheit intersubjektiv gültig ist und die empirische Bestätigung oder Verwerfung von mythischen Basis- und Allsätzen durch ein ähnliches Verfahren wie in der empirischen Wissenschaft erfolgt (ein „trial and error“-Verfahren: auch der Mythos ist offen für die Aufgabe von nichtbewährten Elementen und die Integration von anderen, sich besser bewährenden Elementen)9, ist dem Mythos daher, so K. Hübner, wie der Wissenschaft ein dezidiert intersubjektiver Wahrheitsgehalt und damit eine präzise Rationalität eigen.10 Der Mythos ist wie die Naturwissenschaft, „als ein Erfahrungssystem, zugleich ein Mittel systematischer Erklärung und Ordnung“11. Die „Überlegenheit der Wissenschaft über den Mythos“ sei „allein eine faktisch-historische, nicht eine solche zwingender Rationalität oder größerer Wahrheit.“12 Zwar seien mythische und wissenschaftliche Erfahrung, mythische und wissenschaftliche Vernunft in gewissem Sinn inkommensurabel, da es keinen übergreifenden dritten Standpunkt gibt, von dem man sie beurteilen könnte, aber sie sind vergleichbar hinsichtlich ihrer Methodik, ihrer Funktion und Geltung sowie hinsichtlich der fundamentalen Kategorien und Anschauungsformen wie Kausalität, Substanz, Zeit und Raum.13

Auch dem Mythos liegen, so Cassirers transzendentalphilosophische Mythos-Deutung, der Hübner erweiternd folgt, bestimmte Anschauungs- und Kategorieformen14 und eine bestimmte ontologische Struktur zugrunde, also eine bestimmte Auffassung darüber, was als Wirklichkeit erscheinen und als Wahrheit betrachtet werden kann. Wirklichkeit wird hier wie dort, in Mythos und Wissenschaft, mittels eines entsprechenden Anschauungs- und Begriffsystems erfasst. Mythos und Wissenschaft sind beide – neben Sprache, Kunst, Religion, Technik, Recht usw. – symbolische Formen, die Welt zu verstehen und sich in ihr zu orientieren. Die beiden Grundbegriffe von Cassirers Kulturtheorie „symbolische Form“ und „symbolische Prägnanz“ seien kurz charakterisiert,15 da unsere systematische Rezeption daran anschließen wird. Mythos und Wissenschaft sind nicht bloß Methoden der Erkenntnis, die Dinge der Welt auf Begriffe und Zusammenhänge abzubilden und so als ————— 8 Ebd., 266. 9 Ebd., 262. 10 Hübner bestimmt die Rationalität der Wissenschaft wie des Mythos im Einzelnen als empirische, semantische, logische, operative und normative Intersubjektivität, vgl. Die Wahrheit des Mythos, 239–292. 11 Ebd., 257. 12 Ebd., 270. 13 Hübner, Kritik der wissenschaftlichen Vernunft, 423f. 14 Vgl. E. Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen II, 104ff. 15 Ausführlicher zur Einführung vgl. u.a. die Sammelbände H.-J. Braun/H. Holzhey/E.W. Orth (Hg.), Über Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen; E. Rudolph/H.J. Sandkühler (Hg.), Symbolische Formen, mögliche Welten – Ernst Cassirer.

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etwas zu erkennen. Sie sind „Grundformen des ‚Verstehens‘ der Welt“16, schließen also eine sinnhafte Orientierung, d.h. der Einordnung des Einzelnen in ein Ganzes ein. Die symbolische Form, so Cassirers idealistische Ableitung, ist der höchste Punkt einer ideellen Geschichte, die jede Form durchläuft:17 Am Anfang steht die mimetische Form, die einen direkten Bezug zum dinglichen Objekt hat und die nachahmende Abbildung in einer Elementarform (Laut, Bild, Wort etc.) vollzieht. Diese wird abgelöst, aufgehoben und überboten in der analogen Form, welche statt passiver Reaktion eine formbildende Aktion des Geistes darstellt, sowie in der symbolischen Form, welche ein Element innerhalb eines kulturell ausgebildeten Symbolssystems darstellt, welches die gesamte Objektwelt und ihre Verknüpfungen repräsentiert.18 Die drei Formen haben drei unterschiedliche Funktionen, die mit drei Weisen der Symbolisierung verbunden sind. Die mimetische Form ohne Differenz zwischen Symbol und Symbolisierten ist Ausdruck eines unmittelbaren, emotionalen Verhältnisses, die höheren Formen erreichen durch zunehmende Distanz von Symbol und Symbolisiertem innere Differenzierungen, so dass ein Symbolsystem einen Weltzusammenhang zugleich im Ganzen repräsentieren und ausdifferenziert im Einzelnen darstellen kann.19 Ein Symbolsystem kann mittels seiner Denk-, Anschauungs- und Lebensformen Sinn gewähren, indem es das Verstehen der Welt und die Orientierung in der Welt ermöglicht. Dies ist nicht nur im Ganzen des Systems, des Weltbilds also, sondern auch durch jedes einzelne Formelement möglich, insofern die symbolische Form das wahrgenommene Objekt im Horizont des ganzen Symbolsystems ausdrückt, darstellt und verstehen lässt. Dies ist möglich, weil jedes Wahrnehmungserlebnis schon Sinn in sich trägt, so dass es sich vom bloßen Eindruck in Ausdruck und Verstehen überführen lässt. Jedes sinnliche Erlebnis, so Cassirers transzendentalphänomenologische These, hat „symbolische Prägnanz“. Damit ist gemeint, dass jede konkrete Wahrnehmung und Erscheinung schon einen Sinn enthält, der über die bloße Erscheinung von Einzelnem hinaus ein Ganzes ————— 16 Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen I, V. 17 Ebd., 134ff. 18 Als Beispiel sei die Ordinalzahl genannt, die mimetisch die Anzahl von Gegenständen abbildet, analog für die Tätigkeit des Zählens steht und als Symbol Element eines reinen, dingfreien Bedeutungssystems (Arithmetik) ist. 19 Dass Cassirer die Entwicklung hin zur wachsenden Differenz zwischen Symbol und Symbolisiertem als eine Höherentwicklung versteht und die Idealgeschichte als realen Weg „vom Mythos zum Logos“ rekonstruiert, wurde schon problematisiert. Der lineare Dreischritt ist von ihm selbst unterlaufen darin, dass auch in den höheren Formen von Symbolisierung der Bezug auf das Sinnliche nicht abgestreift, sondern integriert ist. Realiter kommen in einer Kultur alle drei Formen ineinander vor. Dies gewährt, dass ein Symbolsystem sich nicht von der Welt abkoppelt, sondern gerade die Welt in ihren realen Zusammenhängen repräsentiert.

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bedeutet. Die These von der symbolischen Prägnanz ist die Abkehr von der Abwertung des Sinnlichen gegenüber dem Begriff und dem logischen System. Sie behauptet, dass Sinn nur in Verbindung mit Sinnlichkeit entsteht. Ein sinnliches Erlebnis enthält kraft seiner Sinnlichkeit Sinn, der im Sinneserlebnis zu einer konkreten Darstellung kommt und damit ein Ganzes bedeutet. Unter „symbolischer Prägnanz“ versteht Cassirer die Art, „in der ein Wahrnehmungserlebnis, als ‚sinnliches‘ Erlebnis, zugleich einen bestimmten anschaulichen ‚Sinn’ in sich fasst und ihn zur unmittelbaren konkreten Darstellung bringt“20. Wahrnehmung ist gegen Kant21 nicht ein rein perzeptiver Akt, dessen Einheit als Gegenstand erst durch die Synthesisleistung der transzendentalen Apperzeption hergestellt würde. Das Gesetz der Prägnanz besagt, dass alles, was wahrgenommen wird, aufgrund dessen, dass es in einem Wahrnehmungsfeld22 steht, in einem bestimmten Sinn wahrgenommen wird. Ein Wahrnehmungserlebnis ist „als ‚sinnliches‘ Erlebnis immer schon Träger eines Sinnes“23, weil es eine bestimmte Form darstellt, eine Gestalt hat. Aufgrund dieser Prägnanz wird ein Etwas als relativ geschlossene, abgerundete Einheit, als Ganzes erfasst: es bedeutet etwas Ganzes, hat also symbolische Prägnanz. Jede wahrgenommene Form ist mehr oder weniger symbolische Form. Mensch, Welt und Symbolsystem stehen in einem dauernden Verweisungszusammenhang. Die Wirklichkeit ist kein ‚totes‘, sinnleeres Gegenüber, sondern lebendig, insofern sie sich zum Verstehen bringt, einen Sinn ausdrückt. „Alle Wirklichkeit, die wir erfassen, ist in ihrer ursprünglichen Form nicht sowohl die einer bestimmten Dingwelt, die uns gegenüber und entgegensteht, als vielmehr die Gewissheit eine lebendigen Wirksamkeit, die wir erfahren.“24 Sinneswahrnehmung ist symbolisch, insofern im Anschaulichen ein überanschaulicher Sinn erscheint, sich kundgibt. „Wir können ‚Bedeutung‘ nicht anders als durch Rückbeziehung auf die ‚Anschauung‘ erfassen – wie uns Anschauliches nie anders als im ‚Hinblick‘ auf Bedeutung ‚gegeben‘ sein kann“25. Das Symbolische hat, anders gesagt, einen „immanenten“ und einen „transzendenten“ Anteil: „Das Symbolische ist vielmehr Immanenz und Transzendenz in Einem: sofern in ihm ein prinzipiell überanschaulicher Gehalt in anschaulicher Form sich äußert“26. ————— 20 Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen III, 235. 21 Vgl. Ebd., 227. 22 Aufgenommen bei Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, 76f; 81f; 152f; 337–339, hierzu vgl. oben II.3.2. 23 Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen III, 232. 24 Ebd., 86. 25 Ebd., 449. 26 Ebd., 450.

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Cassirers und Hübners Deutung der symbolischen Formen im Allgemeinen und des Mythos im Besonderen bedürfte der ausführlichen Diskussion.27 Cassirers Symboltheorie wurde in den letzten Jahren intensiv als semiotische Theorie rezipiert28 sowie im theologischen Kontext für eine Begründung von Religion als Kultur fruchtbar gemacht.29 Für unser Vorhaben muss nicht das gesamte kultur- und religionstheoretische Potential ausgelotet werden. Uns geht es nur darum, dass die These von der „symbolischen Prägnanz“ der „symbolischen Formen“ einen konstitutiven Bezug von Sinn auf Sinnlichkeit herstellt, welcher es einerseits erlaubt, vermittels des sinnlichen Raumes den biblisch-mythischen und den wissenschaftlichen Raumbegriff aufeinander zu beziehen, und andererseits ein Verständnis der Natur als Bedeutung und der Welt als Schöpfung zu entwickeln.

An dieser Stelle soll zunächst die Einsicht fruchtbar gemacht werden, dass Mythos und Wissenschaft jeweils symbolische Formen sind, die ein Verstehen der Welt ermöglichen, und zwar einerseits deshalb, weil sie ein Symbolsystem darstellen, welches jedes Einzelne in den Horizont eines größeren oder sogar weltumfassenden Ganzen stellt, und andererseits deshalb, weil sie direkt oder abstrahierend-reduzierend auf die sinnhafte sinnliche Wahrnehmung rekurrieren. Der sinnleere physikalische Kosmos ist nicht deshalb sinnleer, weil er wissenschaftlich ist, sondern weil der wissenschaftliche Sinn gerade in der Ausblendung des lebensweltlichen Sinns besteht. „Der Sinnverlust […] ist in Wahrheit ein in der Konsequenz des theoretischen Anspruchs selbst auferlegter Sinnverzicht.“30 Der physikalische Kosmos bleibt aber implizit bezogen auf die sinnhafte lebensweltliche Wahrnehmung des Raumes, bei der der Mensch in seinem Zentrum steht. Der wissenschaftliche Raum bleibt, wie II.6.4 u. 6.6 gezeigt, auf den gelebten Raum bezogen und wird von diesem aus entworfen. Strukturparallel sind der kosmologische und der lebensweltliche Raum, noch einmal zusammengefasst darin, dass beide erstens aufgrund der Beobachtung (Hubble————— 27 Vgl. nur M. Tomberg, Der Begriff von Mythos und Wissenschaft bei Ernst Cassirer und Kurt Hübner; Jamme, ‚Gott an hat ein Gewand‘, bes. 121ff. 28 Vgl. u.a. M. Meyer-Blanck, Cassirers Symbolbegriff – zeichentheoretisch gegengelesen; A. Andermatt, Semiotik und das Erbe der Transzendentalphilosophie. Die semiotischen Theorien von Ernst Cassirer und Charles Sanders Peirce im Vergleich. 29 Vgl. M. Moxter, Kultur als Lebenswelt. Studien zum Problem einer Kulturtheologie bei Tillich, Cassirer und Barth; T. Stark, Symbol, Bedeutung, Transzendenz. Der Religionsbegriff in der Kulturphilosophie Ernst Cassirers; T. Vogl, Die Geburt der Humanität. Zur Kulturbedeutung der Religions bei Ernst Cassirer; M. Bongardt, Die Fraglichkeit der Offenbarung. Ernst Cassirers Philosophie als Orientierung im Dialog der Religionen; H. Deuser/M. Moxter (Hg.), Rationalität der Religion und Kritik der Kultur: Hermann Cohen und Ernst Cassirer; D. Korsch/E. Rudolph (Hg.), Die Prägnanz der Religion in der Kultur. Ernst Cassirer und die Theologie; C. Richter, Die Religion in der Sprache der Kultur. Schleiermacher und Cassirer – Kulturphilosophische Symmetrien und Divergenzen. 30 H. Blumenberg, Lebenswelt und Technisierung unter Aspekten der Phänomenologie, in: Wirklichkeiten, in denen wir leben, 42.

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Flucht bzw. Himmelsumschwung) zentrisch und kugelsymmetrisch sind, zweitens den Erdboden als Beobachtungs- und Orientierungsbasis verlangen und drittens eine (halb)kugelförmige, horizontartige äußere Grenze haben (Ereignishorizont bzw. Himmelshorizont). Wenn man nun zeigen könnte, dass auch der mythische Raum auf die sinnliche Wahrnehmung rekurriert und seine Strukturen von dieser ableitet, dann könnte man auf diese Weise bestimmte Elemente des Symbolsystems Mythos mit dem Symbolsystem Wissenschaft vergleichen und darauf beziehen. Man könnte bestimmte Strukturen des mythischen Raums in den wissenschaftlichen Kosmos einzeichnen und so das leisten, was der wissenschaftliche Raum aus sich nicht leisten kann: dem Menschen einen Sinn im Kosmos zu vermitteln. Dadurch würde es auch möglich, dass der Sinn, den der mythische Raum einmal vermitteln konnte, dem modernen Menschen im unendlich-homogenen Kosmos wenigstens nachvollziehbar wird. Eine solche teilweise Integration des mythischen ins moderne Weltbild setzt allerdings voraus, dass der mythische Raum selbst schon in der Hinsicht entmythologisiert ist, dass der Raum nicht polytheistisch mit als gegenständlich vorgestellten oder magisch wirkenden numinosen Wesen durchsetzt, sondern symbolisch auf Göttliches verweisend gedacht ist, und dass die sinnliche Wahrnehmung und der dadurch vermittelte Sinn essentiell für die Struktur des mythischen Raumes ist. Beides ist, wie wir zeigen wollen, im biblischen Weltbild der Fall, das zwar eine mythische Raumstruktur trägt, sich aber erheblich von den bei Eliade und Hübner für die Rekonstruktion des mythischen Raumes paradigmatischen polytheistischen Mythen unterscheidet. Ebenso sind im biblischen Raumverständnis die fünf zum Schluss des vorigen Kapitels genannten Bedingungen erfüllt, damit der kosmische Raum einen kosmischen Sinn für den Menschen vermitteln kann: Der biblische Raum bildet eine Sinneinheit und hat ein Zentrum, das symbolisch für das Ganze steht. Mit solcher Hermeneutik des biblischen Weltbilds ist weder behauptet noch beabsichtigt, dass man den biblisch-mythischen mit dem physikalischen Raum zur Deckung zu bringen könnte. Es gibt fundamentale Differenzen zwischen dem biblischen und dem modernen Weltbild, die nicht übersprungen werden können und auch nicht sollen. Aber es soll doch der Versuch einer Übersetzung nach heute gemacht werden,31 damit sich sein ————— 31 Ein Mangel der Arbeit von E. Joos, Raum, besteht darin, dass sie einen solchen Versuch nicht explizit unternimmt. Die leibphilosophischen Raumdimensionen (Vertikale, Horizontale, Saggitale), die sie in die biblischen Vorstellungskreise einzieht (geographischer Raum, Gesamtraum, kultischer Raum in vorexilischer, exilisch-nachexilischer u. frühjüdischer Zeit, 122–170), bewirken zwar eine präzise Strukturierung der Raumverhältnisse und dienen damit der exegetischen Systematisierung, bedürften aber der hermeneutischen Reflexion auf die mittels der räumlichen Relationen ausgedrückten Sachverhalte. Besser ist dies bzgl. des NT (190–231), wo die drei

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schöpfungstheologischer Gehalt nicht in eine existentiale Innerlichkeit verflüchtigen muss, sondern auf die reale, gegenständliche, sinnliche Welt bezogen bleiben kann. Möglich ist dies mittels der Herausarbeitung der „symbolischen Prägnanz“ einiger fundamentaler sinnlicher Raumstrukturen: der biblische Raum ist vom sinnlich wahrgenommenen Raum fundiert und daher in den gelebten Raum rückübersetzbar. Eine Hermeneutik des biblischen Weltbild bedarf weniger der existentialen Entmythologisierung32 als vielmehr der Aufschlüsselung des symbolischen Potentials seines sinnlich-gegenständlichen Gehaltes.

7.2 Hermeneutik und Raumordnung des biblischen Weltbilds Der vieldeutige Ausdruck „Weltbild“, besonders seine Verwechselbarkeit mit „Weltanschauung“, macht eine knappe Begriffsklärung vorab erforderlich. „Weltbild“ soll hier mit H. Gese in einem ganz neutralen Sinn als „die Zusammenfassung aller gegenständlichen Anschauung von der Welt“33 gemeint sein. „Weltbild“ soll in diesem Zusammenhang nicht als wissenschaftlich-technischer Zugriff der „Eroberung der Welt als Bild“ verstanden sein, wie Heidegger kritisch den „Grundvorgang der Neuzeit“34 charakterisiert hat: dass überhaupt „die Welt als Bild“35 begriffen wird, sei die andere Seite derselben Sache, dass „der Mensch zum Subjekt wird“36. Denn das „Wesen der neuzeitlichen Wissenschaft“, ihr „metaphysischer Grund“ sei nichts anderes als der Versuch der „Vergegenständlichung des Seienden“, welche darauf zielt, „sich in einem Vor-stellen […] jegliches Seiende so vor sich zu bringen, dass der rechnende Mensch des Seienden sicher und d.h. gewiss sein kann“37. Solche Selbstvergewisserung durch objektivierende Weltvergewisse-

————— Raumdimensionen auf die Nähe und Entzogenheit Gottes in Christus bezogen werden, wenn auch die Lösung, das Kreuz Christi sei der Schnittpunkt der vertikalen Gottesdimension und der horizontalen Menschendimension und daher das paradigmatische Realsymbol der Bezogenheit von Gott, Raum und Mensch (232f), eher formalistisch bzw. als ontologische Überhöhung einer Struktur, sprich: als Remythologisierung des Kreuzes wirkt. Man müsste doch eher Christus selbst und nicht das Kreuz als Ort der räumlichen Verschränkung von Gott und Mensch und der besonderen Gegenwart Gottes bestimmen (247f). 32 Kritisch zu Bultmanns Programm im Licht aktueller Mythos-Theorien (Hübner, Blumenberg etc.) vgl. U. Körtner, Arbeit am Mythos? Zum Verhältnis von Christentum und mythischem Denken bei Rudolf Bultmann. Körtner sieht die Parallelität von mythischer und theologischer Gottesrede allerdings nur in ihrer Form als Metapher und Erzählung und plädiert daher für eine narrative Theologie. 33 H. Gese, Die Frage des Weltbildes, 202. 34 M. Heidegger, Die Zeit des Weltbildes, 92. 35 Ebd., 89. 36 Ebd., 88.92. 37 Ebd., 86f.

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rung kann eher Weltanschauung genannt werden im Sinne einer sinnstiftenden Letztorientierung des Wissens und Lebens und kann auch den Zug ideologischwissenschaftsgläubiger „Mythisierung der Naturwissenschaft“38 und ihres Weltbilds zur Wirklichkeit schlechthin annehmen. Weltbild kann aber umgekehrt auch nicht perspektivenfrei auf die reine „wissenschaftliche Weltauffassung“39 des Positivismus zurückgenommen werden, weil immer subjektive und kulturelle Momente der Deutung der Welt in die gegenständliche Weltbeschreibung einfließen. Weltbild ist funktional klar von Weltanschauung zu unterscheiden als „derjenige Weltbezug, in dem die Welt oder wesentliche Bestandteile gegenständlich beschrieben und zusammenhängend erklärt werden“40. Auch wenn in das sachlich beobachtende Weltbild immer auch Sinndeutungen der Welt als meiner Welt einfließen, soll hier nach dem Weltbild gefragt werden als einem „Bild dieser Welt, das die jeweiligen – sei es vorwissenschaftlich, sei es wissenschaftlich gemachten – Erfahrungen als nicht nur subjektiv, sondern auch objektiv zusammen bestehende verknüpft“41.

Das antike Weltbild zu biblischer Zeit hat bei allen Differenzen seiner kosmogonischen Begründung und seiner ikonographischen Darstellung einen relativ einheitlichen gegenständlichen Gehalt. Natürlich führt der ägyptische oder babylonische Polytheismus zu anderen religiösen Symbolisierungen als der priesterschriftliche Monotheismus. Aber die Auffassungen von der räumlichen Anordnung und der Grundgliederung des Kosmos sind überraschend ähnlich. „Das Weltbild der Bibel ist das aller Menschen des Altertums“, weil es „ein ursprüngliches Weltbild [ist], das der unmittelbaren Anschauung entspricht.“42 Das altorientalische Weltbild ist von der menschlichen Wahrnehmung durch die Sinne sowie von Raum und Zeit her entworfen. Es entspringt „der unmittelbaren sinnlichen Anschauung der Welt“. Es ist der sinnlich wahrnehmende, in der Weltmitte stehende und in raumzeitlichen Vollzügen den Raum erschließende Mensch, der sich in Bezug zu den Räumen über ihm, um ihn und unter ihm setzt. Die Sinnlichkeit verleiht dem altorientalisch-biblischen Kosmos seine Einheit, seine Anschaulichkeit und intuitive Evidenz. Dass dieses Weltbild darin zudem eine Sublimation lebensweltlicher Erfahrung, also Weisheitswissen darstellt, verleiht ihm seine hermeneutische Relevanz und Stärke gegenüber dem konstruktiven, nur mittelbar und sekundär auf menschliches Erfahrungs- und Orientierungswissen bezogenen physikalischen Kosmos. Eine detaillierte Darstellung der kosmographischen Struktur des altorientalischen Weltbilds ist hier nicht nötig.43 Es genügt, darauf hinzuweisen, ————— 38 H.J. Hemminger/W. Hemminger, Die Zeit der Weltbilder, 238–246, 244. 39 Vgl. R. Carnap/H. Hahn/O. Neurath, Wissenschaftliche Weltauffassung – Der Wiener Kreis. 40 W. Sparn, Art. Welt/Weltanschauung/Weltbild IV/5, TRE, 606. 41 Ebd. 42 Gese, Die Frage des Weltbildes, 206. 43 Vgl. M. Oeming, Art. Welt/Weltanschauung/Weltbild IV/2, TRE; Joos, Raum, 123–133, sowie die folgenden Anm.

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dass das AT keinen Ausdruck für das Weltganze hat – erst in der Spätzeit begegnet der substantivierte Allquantor hakkol (Ps 103,19 = LXX taß paßnta) bzw. koßsmow (SapSal 11,22; Gen 2,1 LXX), während kol ha’aräz bzw. kol tebel die ganze bewohnte Menschenwelt meint. Diese ist kleinräumig, nach landschaftlich und sozial überschaubaren Bereichen gegliedert.44 Das Weltganze wird durch mehrgliedrige Formeln und Texte ausgedrückt, die zwei oder drei kosmologische Räume oder Bereiche (Himmel, Erde, Meer bzw. Unterwelt) zusammenstellen (Ps 104; 148; Hi 38).45 Besonders der Merismus der Räume „Himmel und Erde“ (Gen 1,1; 2,1; 14,19) steht dafür, dass es ein- und derselbe Gott ist, der den Kosmos in seiner Gesamtheit geschaffen hat.46 Wichtiger als die bloße Darstellung des gegenständlichen Gehalts des biblischen Weltbilds ist die hermeneutische Reflexion auf seine heutige Relevanz. Ganz allgemein gilt dieses Weltbild als naiv, wie der bekannte Holzschnitt aus dem 19. Jh. suggeriert, auf dem der Sterngucker erst den Kopf durch die Himmels-Käseglocke stecken muss, um die unendlichen Räume und Sternsysteme zu beobachten. Es gilt überdies als sachlich falsch und damit überholt. „Das Weltbild ist passé, selbstverständlich; aber es kommt auf das an, was mit Hilfe des Weltbildes ausgesprochen wurde, also auf den Schöpfungsglauben.“47 So versucht man den Inhalt unter Aufgabe der Form zu retten. Wäre aber tatsächlich „das Weltbild des alten Israel antik und überholt“, dann könnte man schwerlich sagen: „Sein Schöpfungsglaube aber ist und bleibt aktuell“48. Denn, so korrigierte schon G. v. Rad die verbreitete Ansicht, Glaube und Weltverständnis lassen sich so leicht nicht voneinander trennen. Das Weltbild ist keineswegs religiös neutral und „die Frage des Weltbildes keineswegs ein Adiaphoron. Unvollziehbar die Vorstellung, der Jahweglaube hätte sich auch mit einem anderen Weltbild verbinden können!“49 Zwar führte der israelitische Jahweglaube aufgrund des ersten Gebots und des Bilderverbots gegenüber den polytheistischen Kosmogonien eine „radikale Entgötterung, Entdämonisierung der Welt“ durch, so dass die Welt nicht mehr beliebig „gottdurchlässig“50 war, Gott also als ————— 44 Vgl. H. Weippert, Altisraelitische Welterfahrung. Die Erfahrung von Raum und Zeit nach dem Alten Testament, 19–23. 45 Vgl. A. Krüger, Himmel – Erde – Unterwelt. Kosmologische Entwürfe in der poetischen Literatur Israels. 46 R. Bartelmus, samajim – Himmel. Semantische und trationsgeschichtliche Aspekte, 104; T. Krüger, „Kosmo-theologie“ zwischen Mythos und Erfahrung – Psalm 104 im Horizont alttestamentlicher und altorientalischer „Schöpfungs“-Konzepte, 112. 47 G.v. Rad, Natur- und Welterkenntnis im Alten Testament, 121. 48 G.v. Rad, Aspekte alttestamentlichen Weltverständnisses, 312. 49 Ebd., 313. 50 Ebd., 317.314.

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Schöpfer der Welt transzendent gegenüberstand. Die Welt war für Israel kein in sich ruhender, von immanentem Ordnungsgefüge gehaltener (göttlicher) „Kosmos“. „Es war Israels Glaube, der es ermächtigt hat, die Welt als Welt zu verstehen.“51 Dies hinderte Israel aber nicht daran, die von Gott gesetzten Ordnungen und Gesetzmäßigkeiten als Ordnungen einer „von Gott umgriffenen und getragenen – gelegentlich auch beunruhigten – jedenfalls unablässig durchwalteten Welt“ zu sehen. Die Welt war für Israel „nur im Blick auf ihren Schöpfer und sein Walten zu verstehen“52, so dass gerade die geordnete Welt als Welt „die Offenheit der Welt nach Gott hin und ihr Umgriffensein von Gott“53 widerspiegelte. Für die israelitische Weisheit (Ps 19; Hi 28; Prov 8; Sir 24 usw.) gilt aufgrund der der Welt eingestifteten Ordnung54 einerseits: Die Naturabläufe haben eine relative Eigengesetzlichkeit, so dass ein rationales Verstehen der Naturordnung möglich ist,55 und andererseits: „Alles Geschaffene transzendiert sich selbst nach Gott hin; es ist in ihm ein Schöpfungsgeheimnis umschlossen, das sich bezeugt, es ist von einer doxa umspielt, die auf Gott zurückreflektiert.“56 Dann aber ist die rationalistische Trennung von (gegenständlich sinnlichem) „Weltbild“ und (theologisch reflektiertem) „Schöpfungsglauben“ unmöglich – schon für Israel selbst und erst recht für heutige Rezeption. Gerade für die gegenständlich und sinnlich erfahrene Welt mit ihrer weisen und weisheitlich erschlossenen Ordnung gilt dann, dass hier nicht nur die Welt als Ganze, sondern „eben alle Details in ihrer Gegenständlichkeit auf Gott bezogen waren“57. H. Gese hat diese Bezogenheit der Welt auf Transzendenz am Beispiel der Himmelskugel klargemacht. Der sinnliche Eindruck der Himmelskugel als geometrischem Ort aller Objekte, die vom Betrachter identisch gleich weit entfernt sind, ist nur vordergründig eine optische Täuschung, denn der Eindruck entsteht nicht aus dem Vergleich einzelner Blick-Messungen, sondern aus der Anschauung der ganzen Himmelshalbsphäre. Der Himmel, besonders der Taghimmel, ist demnach nicht eine Kugel endlicher, sondern einer nicht-endlichen Entfernung. Der Himmel ist ein offener Horizont, wo das noch Sichtbare ins nicht mehr Erfahrbare verschwindet bzw. wo der Raum des Sichtbaren in den Raum des Transzendenten übergeht. Das ist ein „sehr sinnvolles Sehen: der ‚Himmel‘ ist die menschliche Wahrnehmung des nicht-endlichen Raumes; tritt er dieser Unendlichkeit gegenüber, erfährt ————— 51 52 53 54 55 56 57

Ebd., 319. Ebd. Ebd., 321. Vgl. G.v. Rad, Weisheit in Israel, 189–205; 378f. Vgl. U. Beuttler, Art. Wissen, Wissenschaft, CBL, 1467. V. Rad, Aspekte alttestamentlichen Weltverständnisses, 327. V. Rad, Natur- und Welterkenntnis, 121.

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er wahrnehmungsmäßig die Grenze des Himmels. Die Wahrnehmung des Himmels ist die Grenze zur Transzendenz.“58 Der biblische Begriff der Himmelsplatte (Gen 1,6f) dokumentiert keineswegs einen naiv-realistischen Materialismus, sondern geht einher mit den sich im nachexilischen Judentum noch ausweitenden geistigen Himmelsspekulationen.59 Die raqia ist schon (vor)exilisch eine saphirblaue, gläserne Platte, die halbdurchsichtig ist auf den dahinter aufragenden „Himmel der Himmel“ und in der visionären Schau die Basis des Thrones Gottes bildet (Ex 24,10; Ez 1,26).60 Die sinnliche Wahrnehmung ist offen für eine geistige Schau! Allgemein kann man mit Gese sagen: Je ‚tiefer‘ eine sinnliche Wahrnehmung ist, desto anschaulicher und desto symbolischer ist sie. Die sinnliche Wahrnehmung ist in der Tiefe offen für eine geistige, sie vermag einen Übergang zur nichtsinnlichen, oder besser gesagt: zur nicht rein vordergründig optischen, sondern tief-sinnlichen Erkenntnis zu gewähren. O. Keel hat diese Durchsichtigkeit und Durchlässigkeit der sinnlichen auf die religiös-geistige Sphäre im altorientalischen Weltbild mit dem Ausdruck der „Osmose“ beschrieben. „Es findet eine ständige Osmose zwischen Tatsächlichem und Symbolischem statt. Diese Offenheit der alltäglichen, irdischen Welt auf die Sphären göttlich-intensiven Lebens und bodenloser, vernichtender Verlorenheit hin ist wohl der Hauptunterschied zu unserer Vorstellung der Welt als eines praktisch geschlossenen mechanischen Systems. […] Die Welt ist nach biblischer und altorientalischer Vorstellung auf das Über- und Unterirdische hin offen und durchsichtig.“61 Man könnte diese Transparenz, dass die entgötterte gegenständliche Welt kraft ihrer sinnlichen Gestalt gerade nicht geschlossen, sondern offen ist zur Transzendenz hin und für die Präsenz der göttlichen (oder auch der bedrohend-chaotischen) Macht, auch an anderen Phänomenen und Zügen des Weltbilds, etwa dem Aufgang des Lichts am Morgen62 oder der gar nicht naiven Vorstellung von den Säulen der Erde aufzeigen.63 Entscheidend ist, dass dieses Weltbild gerade in seinem gegenständlichen Gehalt die symbolische Codierung der religiösen Ordnung darstellt. Daher vermag das gegenständliche Erfahrungswissen über die Welt zugleich Orientierung zu ————— 58 Gese, Zur Frage des Weltbildes, 211. 59 Vgl. B. Ego, Im Himmel wie auf Erden. Studien zum Verhältnis von himmlischer und irdischer Welt im rabbinischen Judentum; dies., „Es gibt sieben Himmel“ (bHag 12b). Eine Überlieferung vom Aufbau der Welt im Kontext der rabbinischen Literatur. 60 Vgl. F. Hartenstein, Wolkendunkel und Himmelsfeste. Genese und Kosmologie des himmlischen Heiligtums JHWHs. 61 O. Keel, Die Welt der altorientalischen Bildsymbolik und das Alte Testament, 47. 62 Zur Symbolik des Lichtes und dem auf der sinnlichen Polarität beruhenden mythischen Urgegensatz von Licht und Finsternis vgl. oben II.3.3.3. 63 Hierzu B. Janowski, Das biblische Weltbild. Eine methodologische Skizze, 11f.

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gewähren. Das „Verfügungswissen“ und das „Orientierungswissen“64 fallen nicht wie im modernen physikalisch geprägten Weltbild auseinander, sondern überlappen sich. Sie können auch im modernen Weltbild wieder zusammengefügt werden, indem die anschauungsräumlich-sinnlichen Raumstrukturen inklusiv ihres symbolischen Gehaltes wieder in den wissenschaftlich abstrakten Raum eingezeichnet werden. Solche Weltbilder, die Verfügungswissen kraft der sinnlichen Fundierung auf Orientierung offen sein lassen, „vermitteln Konzepte von Welt oder von Bereichen der Welt, welche Wissensverwaltung und lebenspraktische Orientierung miteinander besorgen.“65 Damit ist aber nicht gesagt, dass im biblischen Denken naturkundliches und religiöses Weltbild differenzlos identisch wären, es ist im Gegenteil so, dass der Übergang in den transzendenten Bereich nur angezeigt, niemals überschritten wird und durch eine absolute Differenz innerhalb der Weltordnung markiert ist. Das weltliche Ordnungsgefüge fügt sich gerade nicht zu einer kosmischen Allheitsordnung zusammen, so dass der Kosmos als Ganzes wie im polytheistischen oder hellenistischen Kosmotheismus mit dem alldurchwaltenden Göttlichen in eins fiele. Die Ordnung der Welt ist durch Grenzlinien unterschieden, die fundamentalen religiösen Unterscheidungen entsprechen. Der Himmel ist Inbegriff des dem Menschen entzogenen (göttlichen) Bereichs, die Erde der kultivierbare, aber auch bedrohliche Lebensbereich, die Unterwelt der lebensfeindliche Ort. Im „Drei-EtagenWeltbild“ nimmt „von oben nach unten die Präsenz des Göttlichen ab“66. Daran wird deutlich, dass die Unterscheidung in die Fundamentalbereiche „Himmel“, „Erde“ und „Scheol“ für den antiken Menschen unaufhebbar und absolut ist, dass „unten“ nicht in „oben“ überführt und die Räume nicht vertauscht oder verwechselt werden können, weil sie die Grenze zwischen „diesseits“ und „jenseits“, also zwischen dem dem Menschen zur Verfügung stehenden und dem ihm unzugänglichen oder nur als Grenze deutlichen Bereich markieren. Die innerweltlichen Grenzen markieren religiöse Transzendenzlinien,67 die nur an den Grenzen des Lebens und im kultisch-religiösen Vollzug unter bestimmten Umständen durchlässig sind. Der Mensch kann sich nicht im Alltag im jenseitigen Bereich bewegen. Die fundamentalen Grenzlinien unterscheiden voneinander getrennte und getrennt zu haltende Räume. Deren Polarität („oben“ – „unten“, „jenseits“ – „diesseits“, „Lebensraum“ – „Todesort“, „verfügbarer Kulturraum“ – „un————— 64 Diese Unterscheidung bei J. Mittelstrass, Das Wirken der Natur. Materialien zur Geschichte des Naturbegriffs, 37. 65 F. Stolz, Weltbilder der Religionen, 4. 66 Oeming, Art. Welt/Weltanschauung/Weltbild, 572. 67 Stolz, Weltbilder der Religionen, 9f.

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verfügbarer Naturraum“) spiegelt eine kosmische Polarität wieder, die auch in Israel als Kampf von Ordnung und Chaos erfahren wurde. Anders als im Polytheismus war aber im Glauben an den Schöpfer und in seinem Vollzug im Kult die Möglichkeit gegeben, die Ambivalenz des Dualismus zu vereindeutigen, die Schöpfung also als „sehr gut“ und die Ordnung als eine gute, gesamtkosmische Ordnung zu begreifen. Dies war nur gegen und trotz der Erfahrung der Natur als potentiell bedrohlicher Chaosmächte möglich. Die Vereindeutigung der Mächtepolarität der Räume geschah im Kult, insofern ein Ort, nämlich der Tempel, realsymbolisch das Ganze des Kosmos, d.h. die gute und heilsame Ordnung der Welt repräsentierte.68 Die im Kult dargestellte Schöpfungsordnung hat die Struktur des zentrischen Kugelkosmos und überlagert die erfahrene Differenzenstruktur der natürlichen Welt, indem sie deren vertikale und horizontale Bereichsstruktur in die punktsymmetrische Anordnung von „innen“ und „außen“ aufhebt, was die Transformation der Diesseits-jenseits-Ordnung in die Differenz von „heiligem“ und „profanem“ Raum bedeutet. Der kultische Raum hat die geometrische Struktur der Spiegelung am Einheitskreis, insofern der Tempel im Weltzentrum die Konzentration des überhimmlischen göttlichen Himmels darstellt: was im jenseitigen kugelförmigen Umraum über den Himmeln sich befindet, wird ins innerste Zentrum der Welt hereingespiegelt bzw. dort repräsentiert. Der nach Jes 6 unsichtbar über der Lade aufragende Thron Gottes ist der himmlische Thron, der im Tempel präsent wird. Die Jerusalemer Tempeltheologie mit ihrer „Vorstellung vom Jahwethron, der im Tempel fußt und zugleich hoch über dem Tempel bis in den Himmel hinein aufragt, bringt auf der einen Seite zum Ausdruck, dass das Heiligtum die Stätte ist, an der Jahwe wirkmächtig anwesend ist (1.Kö 8,12), stellt aber auf der anderen Seite sicher, dass das von Menschenhand erbaute Gebäude den Gottesthron nicht zu fassen vermag, dass Jahwe nicht im Tempel ‚eingefangen‘, durch das irdische Gebäude begrenzt ist.“69 Die exilisch-nachexilische Theologie hat dem Rechnung getragen, dass es das himmlische Heiligtum immer mehr über die Himmel hinaus gerückt hat (1.Kö 8,27; Ps 18,10f; 102,20; 104,3; Ez 10,1; äth Hen 14,8ff; 4.Esr 8,20f).70 ————— 68 Vgl. B. Janowski, Tempel und Schöpfung. Schöpfungstheologische Aspekte der priesterschriftlichen Heiligtumskonzeption; ders., Der Himmel auf Erden. Zur kosmologischen Bedeutung des Tempels in der Umwelt Israels 69 M. Metzger, Irdische und himmlische Wohnstatt Jahwes, 145. 70 Vgl. B. Ego, Von der Jerusalemer Tempeltheologie zur rabbinischen Kosmologie. Zur Konzeption der himmlischen Wohnstatt Gottes; dies., „Der Herr blick herab von der Höhe seines Heiligtums“. Zur Vorstellung von Gottes himmlischem Thronen in exilisch-nachexilischer Zeit; K. Schmid, Himmelsgott, Weltgott und Schöpfer. „Gott“ und „Himmel“ in der Literatur der Zeit des Zweiten Tempels.

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Die Differenz von irdischem und himmlischem Thron wird mit der sichtbar-unsichtbaren Tempelpräsenz Jahwes nicht aufgelöst, bildet aber einen gegenseitigen Verweisungszusammenhang von Sichtbarem und Unsichtbarem und konstituiert so den heiligen Raum des Tempels in Abgrenzung vom profanen Raum. Die Differenz von heiligem und profanem Raum, die durch die Schwelle des Tempels markiert ist (Ps 15; 24), wird aber im Kult auch wieder aufgesprengt, indem die vertikal nach oben hinausragende und von „oben“ hereingespiegelte Herrlichkeit Gottes horizontal über die ganze Erde sich ausbreitet (Jes 6,3).71 Die vom Tempel ausstrahlende Kabod Jahwes macht einerseits die ganze „Welt zum Ort der Gottesherrlichkeit“72 und zieht andererseits die ganze Welt in die Tempelpräsenz Jahwes hinein, insofern das Heiligtum (mit dem von Lade und Tempel auf dem Gottesberg, dem Zion, bis zum Himmel aufragenden Gottesthron) den ganzen Kosmos repräsentiert (Ps 48; 132). Bei solcher „kosmologische[n] Symbolik des Kultes“73 sind die scharfen Grenzen zwischen Erde und Himmel sowie zwischen (heiligem) Tempel und (profaner) Welt gesprengt. Die den himmlischen Thronraum erfüllende Herrlichkeit Gottes strömt, wenn sie im Tempel präsent wird, vom Weltzentrum her über die ganze Erde aus: Die Theologie des Heiligtums als Theologie der Präsenz des Königsgottes vom Zion umgreift vom Zentrum her das Weltganze. Im Kult besteht die alle weltlichen Differenzen umgreifende Einheit des Kosmos in der allumfassenden Präsenz Gottes. Im Kult besteht eine Entsprechung von Zentrum und Peripherie, die auch die weltlichen, vertikalen und horizontalen, Bereichsdifferenzen überbrückt. Der Tempel als Weltzentrum steht repräsentativ für die Einheit des Weltganzen. Im Kult sind die fundamentalen Transzendenzlinien zwischen „diesseits“ und „jenseits“, „Erde“ und „Himmel“, „unten“ und „oben“, „Mitte“ und „Rand“ überschritten und der Kosmos ein kugelzentrierter Raum. Im Kult wird die ambivalente, von chaotischen Mächten durchzogene und in ihrer Stabilität nicht sichere Welt stabilisiert. Die Präsenz des Königsgottes vom Zion im Weltzentrum und vom Zentrum her befriedet und verwandelt die Chaosmacht (Ps 46; 48).74 Der Kosmos erhält von der im Tempel anwesenden und von dort in die fragile Welt ausstrahlenden Jahwepräsenz seine Stabilität. ————— 71 Vgl. F. Hartenstein, Die Unzugänglichkeit Gottes im Heiligtum. Jesaja 6 und der Wohnort JHWHs in der Jerusalemer Kulttradition. 72 H. Spieckermann, „Die ganze Erde ist seiner Herrlichkeit voll“. Pantheismus im Alten Testament? 419. 73 J. Maier, Tempel und Tempelkult, 384–386. 74 Vgl. B. Ego, Die Wasser der Gottesstadt. Zu einem Motiv der Zionstradition und seinen kosmologischen Implikationen.

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Die Einheit und Zentriertheit des mythischen Raumes besteht also darin, dass der von Bereichsdifferenzen geprägte und in seiner sinnlich-gegenständlichen Gestalt ambivalente Mächte symbolisierende Weltraum von einem symbolischen Zentrum zum Leben und Heil ermöglichenden Raum geeint und befriedet wird.75 Die symbolischen Gehalte dieses Raumes können, weil sie auf anschauungsräumlichen und sinnlich erfahrbaren Raumstrukturen beruhen, auch im modernen Kosmos nachvollzogen werden, sofern dafür nicht schon der abstrahierte kosmologische Raumbegriff, sondern der ihn fundierende lebensweltliche und sinnliche Raum zugrundegelegt wird. Das antike Verfügungswissen kann im Sinne von Erfahrungswissen aufgrund der Äquivalenz des sinnlichen Kosmos nach wie vor der lebensweltlichen Orientierung und insbesondere auch der religiösen Orientierung dienen. Dazu ist ein religiöses Symbolsystem nötig, das natürlich heute verantwortet werden muss. Für eine heutige religiöse Kosmologie kann daher die kosmologische Symbolik der Bibel nicht eins zu eins übernommen werden, es sind die heutigen kosmologischen Bedingungen zu berücksichtigen.

7.3 Mechanisierung und Entsinnlichung der Natur Es hat sich gezeigt, dass das biblische Weltbild in gewissen Zügen ins heutige übersetzbar ist, insofern sich beide auf den sinnlich wahrnehmbaren Kosmos beziehen, der für den antiken Menschen nahezu derselbe war wie für den modernen. Die selbstverständliche Inanspruchnahme des gegenständlichen Wissens auch als Orientierungswissen und die Selbstverständlichkeit, mit der der sichtbare Kosmos osmotisch durchlässig auf eine transzendente Sphäre war, ist dem nüchternen wissenschaftlichen Blick allerdings verlorengegangen. Allenfalls in ästhetischer oder religiöser Einstellung, sozusagen in romantischer Reminiszenz mit „Sinn und Geschmack für das Unendliche“, scheint die Natur noch durchsichtig auf ein Geheimnis zu sein. Der bestirnte Himmel über mir singt und erzählt nicht mehr an sich, sondern nur noch für den religiös Musikalischen von der Ehre Gottes. Nur noch der Träumer, wie in Eichendorfs Wünschelrutenlied,76 hört in allen Dingen das Geheimnis der Schöpfung. Für den nüchternen, für „Sphärenklänge“ unmusikalischen Wissenschaftler bleibt der Kosmos stumm. Die beiden möglichen Totalalternativen, einerseits die esoterische Wiederverzauberung des Kosmos und andererseits die Flucht in eine religiöse Inner————— 75 Vgl. O.H. Steck, Friedensvorstellungen im alten Jerusalem. 76 „Schläft ein Lied in allen Dingen,/die da träumen fort und fort,/und die Welt hebt an zu singen,/triffst du nur das Zauberwort.“

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lichkeit, auch wenn sie romantisch nach außen projiziert wird, sind keine möglichen christlichen Alternativen. Sie unterlaufen im einen Fall die Unterscheidung von Gott und Welt und im andern Fall, dass sich der christliche Glaube an Gott, den Schöpfer, auch auf Himmel und Erde bezieht, also auf den sichtbaren Kosmos, der Gegenstand der sinnlichen Wahrnehmung und, wenn auch reduktiv und präparativ, der wissenschaftlich-empirischen Beobachtung ist. Der Glaube an Gott, den Schöpfer, bezieht sich allerdings ebenso wenig, wie er sich in einer Reflexion auf die eigene, individuelle Geschöpflichkeit erschöpft, isoliert auf die außermenschliche Natur, sondern meint die Erfahrung der Geschöpflichkeit inmitten der Natur. Die Natur, auf die sich der Schöpfungsglaube bezieht, ist also die in einem bestimmten Verhältnis zu mir stehende Natur aufgrund einer mich in ein bestimmtes Verhältnis zu ihr setzenden Erfahrung: Der Erfahrung der Welt als Schöpfung. Die Transparenz der Natur für das Geheimnis der Schöpfung meint christlich nicht eine Beschaffenheit der Natur an sich, sondern eine in bestimmten Erfahrungen der Natur begründete und auf weitere Erfahrungen mit der Natur beziehbare Perspektive auf die Natur. Die Transparenz der Natur erscheint in einem bestimmten Naturverhältnis, ästhetisch gesagt, in einem spezifischen Kopplungszustand gegenseitiger Bezogenheit, dann nämlich, wenn ich mich „samt allen Kreaturen“ als von Gott erschaffen und erhalten erfahre. Unsere Aufgabe besteht im Folgenden darin, ein solches Naturverständnis und Verhältnis zur Natur zu entwickeln, das für die Erfahrung der Welt als Schöpfung offen ist und das sowohl an die alltagsweltliche und die wissenschaftliche Naturbetrachtung anschlussfähig ist. Die Aufgabe bedeutet negativ die Dekonstruktion eines physikalistischen Absolutismus der Welt, als sei die physikalische Symbolisierung die einzig mögliche und allumfassend dafür, was die Welt überhaupt bedeuten kann. Und sie bedeutet positiv eine ästhetische und semiotische Theorie der Natur auszuarbeiten, die, auf sinnlicher Wahrnehmung basierend, die Transparenz der Natur für naturalistisch ausgeblendete Sinndimensionen wiederzuerschließen erlaubt. Eine die Erfahrung der Welt als Schöpfung wieder ermöglichendes Naturverständnis erfordert erstens eine Besinnung auf die sie verunmöglichende Einstellung zur Natur (7.3), dann zweitens einen positiven erkenntnistheoretischen Gegenentwurf (7.4.1f), drittens ein biophilosophisch-semiotisches Verständnis der „Natur als Bedeutung“ (7.4.3.) und viertens eine entsprechende Ästhetik der Natur (7.5). Es ist nicht die Natur, sondern der physikalisch-kosmologische Begriff der Natur und des Raums, welcher die Erfahrung der Welt als Schöpfung ausschließt.

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1. Dekonstruktion des mechanistischen Paradigmas „Ohne den Preis einer Korrektur, wenn nicht gar einer Revision unserer Erkenntnisbegriffe“, so Christian Link mit Recht, „scheint der Zugang zur Welt als Schöpfung nicht möglich zu sein“77. Denn bei einem Verständnis der Natur als subjektlose Objektivität ist jegliche Sinnhaftigkeit der Natur ausgeschlossen.78 Wenn die Natur ist, was sie ist, dann ist sie nicht mehr und nicht weniger. Der positivistische Sinnlosigkeitsverdacht ist allerdings kein Implikat jedes möglichen Naturbegriffs, sondern einer bestimmten Naturauffassung, die am Ende der neuzeitlichen Entwicklung steht: dem mechanistischen Paradigma, das sich vom 17. bis zum 19. Jahrhundert trotz und gegen alternative ganzheitliche Modelle, wie dem organischen, dem hermetischen, dem idealistischen oder vitalistischen Paradigma, durchgesetzt hat.79 Die Leitvorstellung, die Natur mechanisch und nur mechanisch zureichend erklären zu können („physica mechanice explicari“80) führte zur Transformation81 der (antik als beseeltem Organismus oder poietisch tätig verstandenen) machina mundi zur more mechanico und more geometrico konstruierten, und darum nur ebenso rekonstruierbaren, Maschine.82 Dass das kosmische Räderwerk von selbst ablaufen und sogar sich selbst erhalten konnte, also Gott zu einem „Ingenieur im Ruhestand“83 versetzte, lag zwar nicht in der Absicht, aber in der Konsequenz des ————— 77 C. Link, Die Schöpfung und die Lehre von der Schöpfung, 487; vgl. ders., Schwierigkeiten des „kosmologischen“ Redens von Gott. Die umstrittene Erfahrungsgrundlage theologischer Aussagen, 266: „Es müsste die methodische Einstellung, die dem wissenschaftlichen Erfahrungsbegriff zugrunde liegt, die Weltstellung des neuzeitlichen Subjekts, durchbrochen werden.“ 78 Vgl. die Analyse bei W. Schoberth, Geschöpflichkeit in der Dialektik der Aufklärung, 2–7. 79 Vgl. A. Meier, Die Mechanisierung des Weltbilds im 17. Jahrhundert; E.J. Dijksterhuis, Die Mechanisierung des Weltbildes; K. Gloy, Das Verständnis der Natur, Bd. 1: Die Geschichte des wissenschaftlichen Denkens; Bd. 2: Die Geschichte des ganzheitlichen Denkens; J. Mittelstrass, Weltbilder, in: Der Flug der Eule, 228–256. 80 Leibniz schrieb 1671, alle modernen Wissenschaftler versuchten die physischen Erscheinungen mechanisch zu erklären („desiderant omnes philosophi recentiores physica mechanice explicari“, G.F. Leibniz, Hypothesis physica nova, Gesammelte Werke IV, 210). 81 Zu diesem verwickelten Prozess vgl. H. Nobis, Frühneuzeitliche Verständnisweisen des Natur und ihr Wandel bis zum 18. Jh.; J. Mittelstrass, Das Wirken der Natur. Materialien zur Geschichte des Naturbegriffs; Gloy, Das Verständnis der Natur, Bd. 1, 157–161; W. SchmidtBiggemann, Art. Maschine I., HWPh; W. Schoberth, Art. Natur, EKL. 82 Vgl. J. Keplers Brief 1605 an H.v. Hohenberg: „Meine Absicht ist es hier zu zeigen, dass die himmlische Maschine (caelestam machinam) keine Art göttliches Lebewesen, sondern eine Art Uhrwerk ist, insofern die ganze Vielfalt der Bewegungen von einer einzigen, ganz einfachen körperlichen magnetischen Kraft ebenso abhängt wie alle Bewegungen einer Uhr von einem sehr einfachen Gewicht.“ (Gesammelte Werke, Bd. 15, 146); weiteres Material zur Deutung der machina mundi als Uhrwerk (seit N. Oresme, Le Livre du ciel et du monde, fol.36a) bei Gloy, Das Verständnis der Natur, Bd. 1, 165–168. 83 Dijksterhuis, Die Mechanisierung des Weltbildes, 549.

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Maschinenmodells84, weil es sich dabei nicht um eine Metaphorik, einen bloßen Vergleich der Natur mit einer Maschine oder Uhr, sondern um eine reale Identifikation handelte.85 Einige Charakteristika des mechanistischen Paradigmas seien kurz genannt:86 1. Subjekt-Objekt-Spaltung: Der „Grundvorgang der Neuzeit“, so haben wir bereits Heideggers „Die Zeit des Weltbildes“ zitiert, sei der „dass der Mensch innerhalb des Seienden zum Subjectum“ und „die Welt zum Bild“ wird: zum „im Vorstellen erst entgegen Gestellte[n], Gegen-ständige[n]“87, zum Objekt. 2. Kausalität statt Finalität: Nachdem von Nominalismus und Physikotheologie die für Aristoteles der Natur immanenten Finalursachen als äußere Zweckursachen der Einrichtung durch den „Designer“ zugeschrieben wurden,88 werden diese zur immanenten Erklärung der Naturprozesse überflüssig: Die entteleologisierte Naturgesetzlichkeit ist Kausalgesetzlichkeit. 3. Reduktion auf Quantifizierbares, Messbares und Mathematisierbares: Mit der Mathematisierung89 und Reduktion der Naturqualitäten auf Quantitäten wandelt sich Naturwissenschaft zur „Maß-Wissenschaft“90 und erfüllt sich der Homo-mensuraSatz des Protagoras:91 die Natur zu einem „präparierten System“92. 4. Experiment und Herrschafts-Knechtschafts-Verhältnis: Mit dem Experiment, das die Natur nicht mehr wie der gelehrige Schüler befragt, sondern wie der „bestallte Richter“93 zu antworten nötigt, wird die Machtförmigkeit94 der Erkenntnishaltung

————— 84 Zum neuzeitlichen Konfliktfeld von Naturwissenschaft und Theologie aufgrund der jeweiligen Naturverständnisse vgl. meine Art. Naturwissenschaft und Religion sowie Theologie und Naturwissenschaft in der Enzyklopädie der Neuzeit. 85 Vgl. Chr. Wolffs „Beweis“: „Man darf sich aber keineswegs befremden lassen, dass ich von einem Uhrwerke oder eine Maschine ein Gleichnis gebe. Denn die Welt ist gleichfalls eine Maschine. Der Beweis ist nicht schwer. Eine Maschine ist ein zusammengesetztes Werk, dessen Bewegungen in der Art der Zusammensetzung begründet sind. Die Welt ist gleichfalls ein zusammengesetztes Ding, dessen Veränderungen in der Art der Zusammensetzung gegründet sind. Und demnach ist die Welt eine Maschine.“ (Vernünftige Gedanken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, §557, zit. nach W. Philipp, Das Zeitalter der Aufklärung, 27). 86 Ausführlicher vgl. Gloy, Das Verständnis der Natur, Bd. 1, 162ff; dies., ‚Ganzheitliche‘ Naturbetrachtung und Naturwissenschaft, bes. 65–72; U. Beuttler, Das neuzeitliche Naturverständnis und seine Folgen. 87 Heidegger, Die Zeit des Weltbildes, 92.94.108. 88 Vgl. zu Genese und Krise der teleologischen Naturauffassung R. Spaemann/R. Löw, Die Frage Wozu?; Beuttler, „Denn Zweck der Welt ist der Mensch.“ 89 Vgl. E. Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie, 22ff; hierzu vgl. oben II.6.2. 90 J. Meurers, Metaphysik und Naturwissenschaft. Eine philosophische Studie über naturwissenschaftliche Problemkreise der Gegenwart, 36. 91 Vgl. Heidegger, Die Zeit des Weltbildes, 102ff. 92 Vgl. A.M.K. Müller, Die präparierte Zeit, 228ff. 93 Kant, KrV, B XIIIf. 94 Vgl. C.F.v. Weizsäcker, Der Garten des Menschlichen. Beiträge zur geschichtlichen Anthropologie, 253ff.

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etabliert. Die „Entsinnlichung im Mensch-Natur-Verhältnis“ führt zu einer „geradezu inquisitorische[n] Erkenntnissituation“95. Der Mensch als „maître et possesseur de la nature“96 kann die ökonomische und mechanische Natur nach seinem Belieben verwerten. Obwohl die Verzweckung und Verwertung der oeconomia naturae97 christlich als Erfüllung des dominium terrae (Gen 1,21) verstanden und nur zum Wohle des Menschen und zur Ehre Gottes gestattet war, wird das mechanistische Paradigma häufig als Ursache der ökologischen Krise98 und der atomaren Bedrohung99 ausgemacht. Dieses objektivistische Naturverhältnis ist zwar durch die Entwicklung der Physik selbst, insbesondere durch die Kopenhagener Deutung des quantenmechanischen Messprozesses, erkenntnistheoretisch obsolet, was den starren Subjekt-ObjektDualismus angeht,100 aber erkenntnispraktisch ist „die Kultur der wissenschaftlichen Objektivität“101 nach wie vor Voraussetzung und Leitvorstellung der etablierten Naturwissenschaften. Nun soll es hier nicht darum gehen, nach alternativen Ansätzen einer „anderen“ Naturwissenschaft zu suchen102 und die „moralische Wandlung“ zu

————— 95 G. Altner, Naturvergessenheit. Grundlagen einer umfassenden Bioethik, 12; seit F. Bacon gilt „Wissen als Macht“ („ipsa scientia potestas est“, Meditationes Sacrae, 241, vgl. Novum Organon I, §3, 80: „scientia et potentia humana […] coincidunt“). Naturwissen erziehlt man mittels der Experimentalmethode, durch die man die Natur „foltert“, „über Kreuz legt“, „unter Verhören und künstlichen Qualen“ erforscht (De dignitate et augmentis scientiarum, l.II, c.II, 500). 96 Descartes, Discours de la methode/Abhandlung über die Methode, 58. 97 Zu diesem, eigentlich die Natur als Selbstoffenbarung Gottes und Ort seiner Heilsgeschichte bezeichnenden, Terminus vgl. D. Groh, Schöpfung im Widerspruch. Deutungen der Natur und des Menschen von der Genesis bis zur Reformation, 18ff. 98 Vgl. D. Groh/R. Groh, Religiöse Wurzeln der ökologischen Krise, in: Weltbild und Naturaneignung, bes. 70f; gegen C. Amery, Das Ende der Vorsehung. Die gnadenlosen Folgen des Christentums; L. White jr., Die historischen Wurzeln unserer ökologischen Krise, vgl. auch U. Krolzik, Umweltkrise – Folge des Christentums?; G. Liedke, Im Bauch des Fisches. Ökologische Theologie; J. Moltmann, Gott in der Schöpfung, 34ff. 99 Vgl. das bekannte Diktum von C.F.v. Weiszäcker, dass ein „schnurgerader Weg“ von Galilei zur Atombombe führe (Wahrnehmung der Neuzeit, 355) und die präzise wissenschaftstheoretische Analyse bei G. Picht: Durch Explosion der Atombombe wäre das Experiment Naturwissenschaft „zugleich verifiziert und falsifiziert – verifiziert, weil die Zerstörung funktioniert; falsifiziert, weil sich in diesem letzten Experiment definitiv herausstellen würde, dass die Naturwissenschaft die Natur nicht so erkannt hat, wie sie von sich aus ist“ (Der Begriff der Natur und seine Geschichte, 17). 100 Schlagwortartig zusammengefasst impliziert die Kopenhagener Deutung, dass 1. die physikalischen Grundgrößen (Teilchen, Felder, Kräfte) keine ontologisch separaten Entitäten sind (Teilchen-Welle-Dualismus, Komplementarität der Beschreibung), 2. keine beobachtungsunabhängige Objektivierung möglich, aber gleichwohl objektive Aussagen über das Subjekt-ObjektVerhältnis möglich sind (Messprozess in Kopenhagener Deutung), 3. keine Vollständigkeit aller messbaren Größen erzielt werden kann (Unschärferelation statt Laplace’scher Dämon) und 4. die Voraussagbarkeit und Gültigkeit des Kausalgesetzes eingeschränkt ist (quantenstatistischer Determinismus). 101 Vgl. L. Daston, Die Kultur der wissenschaftlichen Objektivität. 102 Vgl. G. Altner, Die Überlebenskrise der Gegenwart; Gloy, Das Verständnis der Natur, Bd. 2, 154ff; A.v. Gleich, Der wissenschaftliche Umgang mit der Natur. Über die Vielfalt harter und sanfter Naturwissenschaften.

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fordern, welche eine Zerstörung der Natur unterlassen oder unterbinden würden103 – „Eine Naturwissenschaft, die die Natur zerstört, kann nicht wahr sein“ (G. Picht)104 –, sondern nur darum, das Problem der Entsinnlichung zu konstatieren und zu bearbeiten.

2. Die verlorene Lesbarkeit der Welt Die Entsinnlichung der Natur und des Mensch-Natur-Verhältnisses dürfte der Hauptgrund dafür sein, dass am Ende der erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen Entwicklung die postmoderne Diagnose steht: „Die Welt spricht nicht“ (R. Rorty)105. Möglich sind nur noch Selbstbeschreibungen, aber keine Weltbeschreibungen mehr, weil sie Konstruktionen sind. Die Welt und auch die Natur sagt nichts mehr, außer dem, was der Mensch in sie hineinliest. Aus der Natur heraus kann man keine Botschaft, keinen Sinn mehr vernehmen, das Buch der Natur ist zugeschlagen: es kündet weder mehr von einem Grund, noch von einem Ziel, noch von einem inneren Geheimnis. Der Verlust der Lesbarkeit der Welt ist nicht nur ein Faktum, er ist auch eine Enttäuschung.106 Die hohen Sinnansprüche, die der Mensch einst an sie gestellt hatte, werden von ihr zurückgewiesen. Aber im Verlust ist immerhin noch da, was einst an Sinnerfüllung von der Welt erhofft werden durfte. Durfte Sinn vom Kosmos jemals mit recht erwartet werden? Nur dann, wenn nach der Verstummung des Weltbuches die Hoffnung auf Wiederlesbarmachung nicht gänzlich illusionär ist, wenn also Argumente für das Dass und das Wie der Möglichkeit einer Relecture der Natur aufgeboten werden können. Das kann nicht ohne Erinnerung an die verlorenen Möglichkeiten geschehen. Die überaus reiche Geschichte und Bedeutung der Metapher vom „Buch der Natur“ und seiner „Lesbarkeit“ kann jedoch nicht einmal rudimentär ausgebreitet werden. Nur an ein paar Marken soll erinnert werden,107 um dann den Abschluss der Entwicklung im 19. Jahrhundert systematisch auszuwerten und auf Möglichkeiten der Wiederlesbarkeit zu befragen: ————— 103 C.F.v. Weizsäcker, Wahrnehmung der Natur, 356; vgl. H. Markl, Natur als Kulturaufgabe. Über die Beziehung des Menschen zur lebendigen Natur; K.M. Meyer-Abich, Wege zum Frieden mit der Natur. Praktische Naturphilosophie für die Umweltpolitik; ders., Aufstand für die Natur. Von der Umwelt zur Mitwelt; Altner, Naturvergessenheit. 104 Picht, Der Begriff der Natur und seine Geschichte, 16. 105 R. Rorty, Kontingenz, Ironie und Solidarität, 25; vgl. ders., Der Spiegel der Natur. 106 H. Blumenberg, Die Lesbarkeit der Welt, 9. 107 Für alle Nachweise vgl. Blumenberg, Die Lesbarkeit der Welt; E. Rothacker, Das „Buch der Natur“. Materialien und Grundsätzliches zur Metapherngeschichte; H.M. Nobis, Art. Buch der Natur, HWPh; R. Groh, Art. Buch der Natur, EdN.

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Für den Platonismus war die Metapher vom „Buch der Natur“ nicht nötig, weil der Kosmos direkt, durch Schau gegenwärtig war. Natürliches, Vernünftiges und Göttliches bildeten eine Einheit, so dass keine Vermittlungsinstanz zwischen Kosmos und rationaler Erkenntnis nötig war: Die jeorißa schaute den kosmos intelligibilis im mundus sensibilis. Erst die christliche Unterscheidung der geschaffenen Welt von Gott, dem Schöpfer, etablierte neben dem Buch der Schrift das Buch der Natur (Augustinus, Bonaventura), das, mit dem Finger Gottes geschrieben (H.v.St. Victor, R.v. Sabunde, N. Cusanus), auf den Autor zurückverwies. Jedes Geschöpf ist Buch und Spiegel für das menschliche Leben (A.de Insulis, Rosenhymnus108), die Schönheit der Schöpfung ist Spiegel der doßca jeouq (Röm 1,21). Nach dem hermeneutischen Naturverständnis des platonischen Mittelalters, dass alles Sichtbare auf ein Unsichtbares verweist (Johannes Eriugena), ist das Naturschöne sinnliche Erscheinung eines vollkommenen und harmonisch geordneten Ganzen. Dass die Natur ein Buch ist, vom Schöpfer zu seiner Ehre geschrieben, las man für die Reformatoren nicht in der Natur, sondern in der Schrift (Luther, Calvin, Gerhardt), während die neoplatonischen Naturphilosophen beide Bücher für identische göttliche Offenbarungsquellen hielten (Campanella, Galilei). Der Aspekt des Lesens im (mathematischen) Buch der Natur trat gegenüber dem Schreiber in den Vordergrund (Bacon, Kepler). Für die Hermetik waren alle „Buchstaben“ Signaturen und Zeichen für Qualitäten (Böhme, Paracelsus), während im mechanistisch-technischen Naturverständnis der Autor hinter dem Buch verschwand (Laplace). Das Buch der Natur sagte nur noch etwas über sich selbst, aber weder über seinen Autor noch über ein Geheimnis. Die romantische Wiederlesbarmachung war nicht idyllische Wiederkehr der optimistischen Physikotheologie (Brockes), sondern Ausdruck gebrochenen Weltvertrauens: Das Naturschöne war poetisches Zeichen, Emblem, Allegorie. Die Natur redet verschleiert, in Hyroglyphen (Novalis), sie bedarf eines Schlüssels, der Entzifferung (Hamann, Schlegel). Mit der Unendlichwerdung des leeren Raumes entsteht die Idee des leeren Buches (Lichtenberg).109 Für die antipoetische Naturwissenschaft des 19. Jh. – „Die Natur verstummt auf der Folter“ (Goethe)110 – blieb das absolute und leere Buch: „Das Buch über nichts ist das schlechthin autarke Buch; es hat nichts nötig als sich selbst. Es ist nackte Bedeutung. Da wird der Anschluss erkennbar an die Metaphorik der Welt als Buch: War die Welt eine Mitteilung des Schöpfers an seine Kreaturen gewesen, musste der Verlust dieser Funktion die entleerte Gebärde der Bedeutung hinterlassen, die Welt als Buch über nichts.“111

Der Grund dafür, dass das leere Buch des nahezu leeren Raumes ein Buch über nichts, d.h. über nichts anderes als über es selbst ist, ist einfach der: Der Kosmos mit den in ihm ablaufenden Kausalprozessen sagt nichts über sein (letztes) Woher und nichts über sein (letztes) Wohin. Kausalität hat weder einen Grund (nur Ursachen) noch ein Ziel (nur Wirkungen). Nicht ————— 108 „Omnis mundi creatura/quasi liber et pictura/nobis est et speculum“ (Alanus de Insulis, Opera omnia, MPL 210, 579a). 109 Vgl. Blumenberg, Die Lesbarkeit der Welt, 302. 110 Goethe, Maximen und Reflexionen, Werke Bd. 12, 434. 111 Blumenberg, Die Lesbarkeit der Welt, 304.

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einmal seine „Schönheit“ hat einen objektiven Sinn. Der kosmische Raum ist weder mehr objektiv poetisierbar noch teleologisch synthetisierbar zu einem harmonisch geordneten Ganzen. Der Naturzweck ist allenfalls schöner Schein, den der (vor- oder nachwissenchaftliche) Beobachter als sein Urteil setzt. Das Naturschöne ist nach Kant ein subjektives Geschmacksurteil. Es bezieht sich nicht auf eine innere Zweckmäßigkeit der Natur, sondern auf das freie Urteil über diese, weil wir sonst „von der Natur lernen müssten, was wir schön zu finden hätten, und das Geschmacksurteil empirischen Prinzipien unterworfen sein würde“112. Mit der Trennung der kausalmechanischen Erklärung von der teleologischen Beurteilung geht der Verlust von objektivem Sinn und der Verlust des Ganzen einher. Der Raum ist nicht mehr substantiell Abbild und Repräsentanz des göttlichen Einen. Der leere Raum trägt nicht mehr, weder sinnlich noch begrifflich, die Allgegenwart Gottes. Der leere Raum ist einfach leer. Die Welt ist nicht mehr als eine, als Kosmos inklusiv erstem Grund und letztem Ziel, und damit als totum, als All und Ganzes, in jeder Hinsicht und auf einmal verstehbar. Sie entzieht sich einem Totalurteil darüber, was, woher und wozu sie im letzten ist. Ein „Wesen“ der Natur, ein sinntragendes Ganzes der Welt, und sei es pars pro toto, kann weder empirisch noch metaphysisch erhoben werden. Höchstens noch die Metapher – in Blumenbergs Sprachgebrauch eine „absolute Metapher“113 – ermöglicht, was in diskursiven Begriffen nicht möglich ist, nämlich die Totalität der Wirklichkeit zu repräsentieren. Die Metapher hat die Funktion der Entlastung von der Unerträglichkeit der mit dem Begriff „Welt“ verbundenen Situation. Die Welt als Totalität dessen, was ist, ist kein Gegenstand möglicher sinnlicher Anschauung, und enthält daher im Ganzen und für den Menschen keinen vor Augen liegenden Sinn. Aber sie ist, vom Standpunkt wissenschaftlicher Weltauffassung aus, doch alles, was ist. In dieser Situation erfüllt die „Weltbuchmetapher die Funktion einer Entlastung vom unaushaltbaren Absolutismus der Welt“114. Sie verwandelt die anonyme, stumme Wirklichkeit in Vertraulichkeit, Bedeutsamkeit und Sinnhaftigkeit. Sie tut das durch ein Medium, durch die Natur als einem Buch. Die Welt war und ist lesbar, insofern die Natur als ein Buch gelten kann, in dem man ihren Sinn entziffern kann – vielleicht nicht im Ganzen und für alles, aber doch für dies und jenes. Der physikalische Kosmos, die Welt, ist stumm, aber, so wollen wir den möglichen Ausweg aus der Krise anvisieren, aber die Natur spricht möglicherweise, indem sie wieder zum Sprechen gebracht wird, ihr wieder eine Vermittlungsleistung ————— 112 Kant, KU §58, B 253. 113 Vgl. H. Blumenberg, Paradigmen zu einer Metaphorologie 114 F.J. Wetz, Hans Blumenberg zur Einführung, 104; zu Wetz’ Analyse s.o. II.6.4.

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zwischen voneinander abgetrenntem Subjekt und gegenübergestellter Welt zugetraut wird. Diese Vermittlung kann nur über die vorwissenschaftliche sinnliche Anschauung und das darin liegende symbolische und ästhetische Potential geschehen. Die wissenschaftliche oder besser die verwissenschaftlichte „Natur verliert den Charakter des ‚ästhetischen Phänomens‘ – sie verliert die Attribute der Harmonie, der Ichhaftigkeit, der Zweckmäßigkeit, des vernünftig-Geschichtlichen und des organisch-Heilen.“115 Aber sie kann all dies, nicht universal, aber für den sinnlich wahrnehmbaren Ausschnitt, wiedergewinnen, wenn der Mensch sich so in ein Verhältnis zur Natur setzt, dass diese in ein solches Verhältnis zu ihm kommt, das ihn selbst in die Natur einbezieht. Die Natur bekommt ihre Subjekthaftigkeit zumindest in symbolischer Prägnanz ihrer sinnlichen Elemente zurück, d.h. vielleicht nicht als ein alleinziges apperzeptives Agens, aber als bedeutungstragendes Kompositum von Einzelnem, und zwar dann, wenn der Mensch als Teil der Natur in Kopplung mit dem anderen Natürlichen kommt, sich sinnhaft auf anderes bezieht, so dass es sich sinnhaft auf ihn beziehen kann und umgekehrt. Die Natur wird anders gesagt lesbar, wenn der Mensch sich in die Natur einschreibt und sozusagen in einem gegenseitig angeregten Zustand aus der Natur herausliest, was sie in Beziehung auf ihn selbst zu sagen hat. Es ist also gewissermaßen ein spiritueller, ein kontemplativer, oder sagen wir vorsichtiger, ein teilnehmender, ein korresponsiver Akt, bei dem das Natürliche selbst bedeutungsvoll und/oder schön für den Menschen wird.116 Dieser Sinn ist, in Bezug auf den Kopplungs- oder Korrespondenzzustand von Mensch und Natur objektiv, wie bereits Kant in ästhetischer Hinsicht zugestanden hat, dass die „Schönheit der Natur“ (als Übereinstimmung von Erscheinung und freiem Urteil) „als objektive Zweckmäßigkeit der Natur in ihrem Ganzen, als System, worin der Mensch ein Glied ist, betrachtet werden“117 kann. Wir wollen zeigen, dass im Korrespondenzzustand von Mensch und Natur von einem Sinn des Natürlichen und von verweisungsfähiger Schönheit gesprochen werden kann, die nicht nur illusionäre Projektion und schöner Schein sind. Sowohl was die Erkenntishaltung, als auch was das Naturverständnis betrifft, ist es hierzu nötig, Mensch und Natur in ein korresponsives Verhältnis zu bringen. Zwei solcher Modelle sollen knapp vorgestellt werden: das ————— 115 O. Marquard, Transzendentaler Idealismus. Romantische Naturphilosophie. Psychoanalyse, 199; zum antiästhetischen Naturverständnis nach 1789 vgl. H.R. Jauß, Kunst als Anti-Natur: Zur ästhetischen Wende nach 1789, hier Zit. Marquard 212f. 116 M. Seel unterscheidet in seiner nachmetaphysischen Ästhetik der Natur, die nicht mehr nach dem Naturschönen an sich, sondern nach dem Grund unseres Gefallens an der Natur fragt, zwischen der Natur als Ort der Kontemplation, der Korrespondenz und der Imagination (Eine Ästhetik der Natur; zur Auseinandersetzung vgl. H. Böhme, Martin Seel: Eine Ästhetik der Natur; D. Groh/R. Groh, Die Außenwelt der Innenwelt, 123–125). 117 Kant, KU, §67, B 303.

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Modell des Gestaltkreises von Viktor v. Weizsäcker (7.4.1.) und das Modell des Funktionskreises von Jakob v. Uexküll (7.4.2.). Danach kann im Anschluss an A. Weber und G. Böhme eine nachmetaphysische Bedeutungstheorie (7.4.3.) und Ästhetik der Natur (7.5) skizziert werden.

7.4 Korresponsive Erkenntnishaltung und Natur als Bedeutung 1. Das Gestaltkreiskonzept von V.v. Weizsäcker Wenn Wahrnehmung, wie oben II.3.2 dargelegt, immer perspektivisch geschieht und das perspektivische Ich – der Beobachter – untrennbar an das befindliche, beteiligte, affektiv betroffene Ich gebunden ist, das seine leibliche Anwesenheit sowie seine psychische, soziale und kulturelle Verfasstheit immer mitspürt, dann sind Beobachterperspektive und Teilnehmerperspektive immer miteinander verbunden. Lässt sich die Naturwissenschaft darauf ein und erkennt auch objektive Erkenntnis als perspektivische, an einen empirischen Beobachter gebundene Erkenntnis an, wie es die Rolle des Beobachters in der Relativitätstheorie und in der Quantenmechanik nahelegen118 – wir sind, nach dem berühmten Wort von N. Bohr, „in dem großen Drama des Daseins […] zugleich Schauspieler und Zuschauer“119 –, so kann daraus (vielleicht) eine anticartesische, „andere“ Naturwissenschaft, auf jeden Fall aber qualitativ ein teilnehmend-existierender Zugang zur Natur entwickelt werden, der dem biblisch-christlichen Naturverständnis angemessener wäre und (vielleicht) die baconsche Machtförmigkeit des wissenschaftlichen Erkennens zurückdrängen könnte. V.v. Weizsäcker hat ein solches Modell der teilnehmenden Naturforschung entwickelt.120 Es „setzt voraus, dass der Erkennende sich der auf ihn eindringenden Wirklichkeit nicht nur denkend, sondern existierend aussetzt, also in einem ‚Existentialbezug‘ zu seiner Umwelt steht.“121 Analog der biblischen Weisheit „gibt es“ das Wissen von naturgesetzlicher Ordnung „nur, indem es praktiziert wird“: Naturwissenschaftliches Wissen ist „im ————— 118 Der Beobachter fungiert auch in der speziellen Relativitätstheorie als ein perspektivisches Zentrum, hierzu vgl. U. Beuttler, Einsteins Relativitätstheorie in der Interpretation Karl Heims; zur Analyse des quantenmechanischen Messprozesses vgl. ders., Gottesgewissheit in der relativen Welt, 371f. 119 N. Bohr, Atomphysik und menschliche Erkenntnis, 19f; vgl. 82. 120 Vgl. auch C. Link, Die Erfahrung der Welt als Schöpfung. Ein Modell zum Dialog zwischen Theologie und Naturwissenschaft, wo die Konvergenzen von Weizsäckers Gestaltkreismodell und den biblisch-weisheitlichen Schöpfungserfahrungen aufgezeigt werden. 121 Link, Schöpfung, Bd. 2, 375.

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faktischen Lebensvollzug des Menschen ständig in Anspruch genommenes Wissen“122. V.v. Weizsäcker geht von der Einsicht aus, dass Beobachter- und Teilnehmerperspektive immer schon verschränkt sind, weil Leben immer „Wahrnehmung“ und „Selbstbewegung“123 bedeutet. Indem ich mich bewege, vollzieht sich Wahrnehmung und indem ich wahrnehme, gestaltet sich Selbstbewegung. Der Naturforscher hat eigentlich pathische Existenz. Er erfährt sich in einem inklusiven Verhältnis mit dem Leben und der Natur, bevor er in ein Distanzverhältnis zum Leben und zu den Dingen treten und Kausalerklärungen aufstellen kann.124 Die biologische Lebenseinheit ist Voraussetzung für die physikalische Objektivierung. „Physik setzt voraus, dass in der Forschung ein Erkenntnis-Ich einer Welt als einem von ihr unabhängigen Gegenstand gegenübergestellt sei. Biologie erfährt, dass das Lebende sich in einer Bestimmung befindet, deren Grund selbst nicht Gegenstand werden kann.“125 Alles Lebendige findet sich in einer Abhängigkeit zu einem Grund und zu Bedingungen vor, die es nicht selbst gesetzt hat und nicht selbst gewähren kann. Dieses Verhältnis nennt Weizsäcker – mit durchaus religiös-metaphysischer Konnotation – „Grundverhältnis“126. Den Grund kann man nicht distanzierend erkennen, man kann sich nur ihn ihm bewegen. Biologische Naturforschung betreiben heißt, sich „im GrundVerhältnis bewegen, nicht den Grund selbst erkennen. […] Um Lebendes zu erkennen, müssen wir uns am Leben beteiligen“127. Erfassbar wird die lebendige Wirklichkeit nur in der Doppelheit des ganzheitlich-pathischen Erlebens und des auf das Wirkliche ausgerichteten Angespanntseins. Bei allen elementaren Vollzügen, den biologischen Akten, sind Passivität und Aktivität unlösbar ineinander verschränkt: bei Geburt und Tod, beim Essen, Laufen, Sehen, Hören usw. Die Einheit der Akte im Vollzug – die Einheit des Gestaltkreises – ist transzendent, weil wir uns ja wahrnehmend und bewegend in ihm befinden. Weizsäcker nennt die ————— 122 H.J. Hermisson, Studien zur israelitischen Spruchweisheit, 140; vgl. G. v. Rads Zusammenfassung des teilnehmenden und beobachtenden weisheitlichen Wirklichkeitsverständnisses, das „den Menschen in einen ganz besonderen, höchst dynamischen Existentialbezug zu seiner Umwelt gestellt wusste. Der Mensch […] sah sich wie eingebunden in einen Kreis der mannigfachsten Bezugsverhältnisse nach draußen hin, in denen er einmal Subjekt, einmal Objekt war“ (Weisheit in Israel, 378–389, Zit. 382f); zum biblischen Erkenntnis- und Wissensbegriff vgl. auch Beuttler, Art. Wissen, Wissenschaft. 123 V.v. Weizsäcker, Der Gestaltkreis. Theorie der Einheit von Wahrnehmen und Bewegen, 21. 124 „Der Gegenstand der Wahrnehmung ist vom Gegenstand der Erkenntnis (des Denkens) durch diese Gegenwärtigkeit, die allem Sinnlichen zukommt, unterschieden. Das bedeutet aber weniger eine zeitliche Gegenwart (diese ist eine Unterfrage), als eine an den Körper gebundene Anwesenheit, eine Gegenwart der Berührung hier und jetzt“ (v. Weizsäcker, Der Gestaltkreis, 88). 125 Ebd., 188. 126 Ebd., 168 u.ö. 127 V.v. Weizsäcker, Anonyma, 10.

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gegenseitige Verborgenheit der Beobachter- und der Teilnehmerperspektive das Drehtürprinzip: „Der Gestaltkreis ist nicht eine Abbildung der Lebensfigur oder Lebensbewegung, sondern er ist eigentlich eine Anweisung zur Erfahrung des Lebendigen. […] Man kann den Gestaltkreis nicht in seiner Integration besitzen (weder denkend noch anschauend), sondern man muss ihn durchlaufen und seine Gegensätze erleiden in einem fortgesetzten Ausden-Augen-Verlieren, und einem immer neuen Die-Wirkung-Verlieren, um ein Neues zu gewinnen.“128 Die Zweiheit von Teilnahme und Beobachtung im Lebens- und Erfahrungsvollzug versteht Weizsäcker nicht als statische, exklusive Alternative, sondern als dynamischen, verschränkten Prozess. Teilnahme und Beobachtung stehen nicht in einem alternativen, sondern in einem zirkulären Verhältnis zueinander. Die Drehtür der Lebensbewegung ist eigentlich eine offene Spirale: Teilnehmen erlaubt Beobachten und Beobachten neues Teilnehmen. Die zirkuläre Gestalt von Teilnahme und Beobachtung vollzieht sich aber nicht nur in der Alltagserfahrung, sondern, wie C.F. v. Weizsäcker an Bohrs Komplementaritätsbegriff gezeigt hat, auch in der naturwissenschaftlichen, vorgeblich „objektiven“ Erfahrung. Wie in Weizsäckers Drehtürprinzip stehen bei Bohr komplementäre Begriffe „durchweg nicht in einem ‚parallelen‘, sondern in einem ‚zirkulären‘ Verhältnis zueinander.“129 Mit diesem Verständnis von Komplementarität kann das Drehtürprinzip von Teilnahme- und Beobachtungsperspektive auch von der Erkenntnistheorie der Quantenmechanik verifiziert werden.130 Es gilt also nicht nur für die belebte Natur, sondern auch für die unbelebte, mikrophysikalische Natur. Für die Kosmologie der großen Räume und Massen und alle anderen naturwissenschaftlichen Teildisziplinen wird man es zumindest für den Verlauf des wissenschaftlichen Erkenntnisprozesses anwenden können: Erklären und Verstehen, Beobachten und Interpretieren stehen im verschränkten Wechselprozess wie Empfinden und Urteilen, wie Fremd- und Selbstwahrnehmung, wie Bezug und Vollzug. Wie das Menschsein im gelebten Raum ist auch das Verhältnis zu den Naturprozessen nur in der Verschränkung von Ausrichtung und Bewegen im unvordenklichen Grund möglich. Das Gestaltkreiskonzept verankert den wissenschaftlichen Erkenntnisprozess im gelebten Raum!

————— 128 Ebd., 19f. 129 C.F.v. Weizsäcker, Komplementarität und Logik, in: Zum Weltbild der Physik, 281–331, Zit. 282; ders., Gestaltkreis und Komplementarität, ebd., 345. 130 Für den detaillierten Nachweis vgl. Beuttler, Gottesgewissheit in der relativen Welt, 370– 374.

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2. Der Funktionskreis von J.v. Uexküll Der Funktionskreis ergänzt den wahrnehmungstheoretischen Gestaltkreis um den semiotischen Aspekt. Der Funktionskreis ist eine Bedeutungstheorie der Natur, entwickelt an Fremd- und Selbstwahrnehmung des Lebendigen.131 Jakob v. Uexküll bezog damit Stellung im Streit zwischen Mechanisten und Vitalisten, ob das Verhalten von Tieren einem Reiz-Reaktions-Mechanismus oder der Initiative einer Tierseele zu verdanken sei. Keines der beiden Modelle erkläre das Verhalten zureichend, weil beide, trotz gegensätzlicher Position, an einer linearen Kausalität festhalten. Die mechanistischen Physiologen erklärten das Verhalten als Folge kausaler Ursachen der Außenwelt, die im Nervensystem lediglich weitergeleitet und umgeformt werden, die vitalistischen Tierpsychologen hingegen aus einem zwischen die kausalen Außenwirkungen geschalteten aktiv kausalen Agens, einer „Tierseele“. Beide sind Cartesianer, die einen, weil sie die lebendigen Organismen auf Automaten reduzieren, die andern, weil sie sich das unlösbare Interaktionsproblem einhandeln.132 Beide haben gegeneinander recht und unrecht zugleich. Die Mechanisten seien gegen die Vitalisten im Recht, da ein kausales psychisches Agens, das direkt den Gang materieller Abläufe beeinflusst, niemals empirisch beobachtet wurde, die Vitalisten seien im recht, weil Tiere nicht bloß passiv reagieren, sondern antwortend agieren. Organismen seien keine Reiz-Reaktions-Maschinen, sondern integrale Systeme, da sie „nicht auf die kausalen Wirkungen ihrer Umgebung, sondern auf die biologische Bedeutung antworten, welche die Umgebung für sie hat.“133 Organismen sind „autonome Subjekte und prinzipiell keine planmäßig gebaute Maschinen“134. Ein Subjekt ist „als Träger einer spezifischen Lebens- oder Ganzheits-Energie, wie auch als offenes System nur über seine Eigenaktivität in der Lage, Umgebungsreize zu empfangen. Darauf beruht seine Fähigkeit, Einwirkungen der Umgebung nicht kausal, sondern nach einem spezifischen eigenen Code als Zeichen – das heißt in ihrer Bedeutung für die eigenen Bedürfnisse – zu beantworten.“135 Das Reiz-Reaktions-System ist kein einfacher, linearer Automatismus, sondern ein zirkulärer Funktionskreis, in dem Zeichenprozesse ablaufen, die auf————— 131 Für das Folgende vgl. die instruktive Einführung von Thure v. Uexküll in dem von ihm herausgegebenen Sammelband ausgewählter Texte von Jakob v. Uexküll, Kompositionslehre der Natur. Biologie als undogmatische Naturwissenschaft. Ausgewählte Schriften, 17–85. 132 Zur Geschichte und Systematik des Leib-Seele-Problems vgl. U. Beuttler, Leib und Seele, Gehirn und Geist – Geschichte und Systematik möglicher Verhältnisbestimmungen. 133 Uexküll, Kompositionslehre der Natur, 20. 134 Ebd., 140. 135 Ebd., 50.

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grund von Bedeutungsgehalten rückgekoppelt sind. Der Empfänger reagiert so auf einen Reiz, dass er diesen aufgrund eines Codes als Zeichen interpretiert und entsprechend seiner Bedeutung reagiert. Der vom Objekt ausgehende Reiz wird entsprechend der eigenen Bedürfnisse (Nahrung, Feindabwehr, Fortplanzung) als Nahrung, Feind, Geschlechtspartner interpretiert. Entscheidend ist, dass bereits das Empfangen des Reizes eine Tätigkeit des Subjekts darstellt. Ein lebendiges System reagiert auf Reize wie auf Zeichen. Ein Reiz bedeutet etwas vor dem Hintergrund des eigenen Lebensvollzugs. Seine Interpretation ist abhängig von der Vorgeschichte und den aktuellen Bedürfnissen des Organismus. Ebenso wie die Reaktion (in Uexkülls Terminologie der „Merkkreis“) ist die Wirkung (der „Wirkkreis“) ein Zeichenprozess. Die Aktivität wird aufgrund von Bedeutungen in Wirkungen umgesetzt, die das Merkmal verändern und dann wieder für andere Subjekte (oder auch für sich selbst) etwas bewirken, indem sie etwas bedeuten. Die Innenwelt des Subjekts ist insgesamt ein regulatives Moment im Funktionskreis, das die Umsetzung der Merkmale in Wirkmale rückgekoppelt auf sich selbst steuert. Die Innenwelt entspricht im kybernetischen Regelkreis, der die technische Umsetzung des Funktionskreises darstellt, dem Sollwert, der jedoch bei Subjekten jeweils neu eingestellt wird. Er ist der Code, nach dem ein eingehendes Signal als Zeichen interpretiert wird. Dieser ist wieder auf das Gesamtsystem bezogen und von diesem bestimmt, so dass es sich nicht nur um eine Zusammensetzung, ein bloßes Aggregat von Sender, Zeichenträger, Empfänger, Code und Zeichen handelt, sondern um ein echtes System, um ein integrales Ganzes. Das System SubjektUmwelt bildet eine Monade, ist ein selbstbezügliches Ganzes. „Subjekt und Umwelt bilden daher ein Ganzes. Darin ist jeder Teil auf dieses Ganze ausgerichtet. Die biologische Gliederung der Subjekt-Umwelt-Monade erfolgt nach den Funktionskreisen, welche bestimmte Merk- und Wirkfunktionen mit bestimmten Bedeutungsträgern verknüpfen, die innerhalb eines Kreises mit der gleichen Tönung versehen werden.“136 3. Die semiotische Theorie der Natur als Bedeutung Ausgehend von Uexkülls Funktionskreis kann mit A. Weber eine semiotische Theorie des Lebendigen entwickelt werden, die erstens „den Organismus als materiell verkörpertes, Bedeutungen erzeugendes Subjekt auffasst“137 und zweitens das Subjekt als systemisch mit seiner Umwelt verkoppelt versteht. Subjekt und Umwelt bilden ein System, das sich in einem ————— 136 Ebd., 140. 137 A. Weber, Natur als Bedeutung. Versuch einer semiotischen Theorie des Lebendigen, 12.

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autopoietischen Prozess befindet, welcher eine Einheit erzeugt und damit die Selbstunterscheidung von Subjekt und Umwelt aus sich heraussetzt. In dieser Sicht „gehen Subjekt und Objekt aus dem Existenzvollzug des Organischen hervor.“138 Jedes Leben steht in einem Doppelaspekt, dessen eine Seite die körperlich-materielle Tätigkeit des Organismus und dessen andere Seite „der Selbstvollzug als organische Einheit“139 ist. Ein Organismus reagiert nicht einfach passiv und kausal determiniert, sondern nach Maßgaben, also nach Selbstbestimmungen, nach eigenen Bedürfnissen, Zwecken und Zielen. Der Organismus ist ein Selbst im Vollzug, das sich selbst im Kontakt mit und in Unterscheidung von der Umwelt als Einheit aufrechterhält, auch gegen die Einheit gefährdende Bedingungen. Ein Organismus ist ein autopoietisches System, das sich selbst organisiert und stabilisiert, indem es sich in Bezug und Abgrenzung von der Umwelt ständig neu selbst „erzeugt“, d.h. sich als Einheit stetig-dynamisch konstituiert. Dies ist innerhalb eines Organismus auch für Untersysteme der Fall, wie man am Immunsystem oder einer Zelle und sogar bei der DNA-Reduplikation zeigen kann.140 Der Selbsterhalt durch Reproduktion oder Selbstreparation geschieht mutmaßlich durch so etwas wie Auslesen. Das autonome System „Organismus“ reagiert aufgrund eines Codes, mittels dem es sich aufgrund seiner inneren Dispositionen in Abgrenzung von der Umwelt definiert. „Das System verhält sich somit auf Einwirkungen von außen nicht kausal, sondern reagiert gemäß seiner inneren Zustände, und das System schafft sich entsprechend seiner Erfahrungen und nur gemessen an diesen eine Sphäre relevanter Ereignisse (Bedeutungssphäre).“141 Ein lebendes System hat eine Innenrelation, ein Selbst, aufgrund derer es sich zum Außen verhält. Das Innen-außen-Verhältnis ist nach Bedeutungen geregelt: das Außen wird im Innen als Bedeutung repräsentiert und in der Reaktion nach außen kommt das Innen zum Ausdruck. Ein Tier antwortet mit seinem Verhalten auf äußere Umstände, ein Baum verhält sich zum Boden, wenn er sich verwurzelt, eine Zelle bezieht sich auf sich selbst beim Selbsterhalt. Dies ist nicht einfach metaphorische oder gar anthropomorphe Rede, sondern die von der Analyse der Prozesse lebender Systeme erhobene semiotische Theorie, dass Äußeres nur als Bedeutung für ein Inneres verarbeitet wird, also in zirkulärer, rückgekoppelter und nicht in linearer Kausalität. Wenn diese Analyse richtig ist, kann man aber auch umgekehrt sagen, dass im äußeren Verhalten oder, gut aristotelisch gesagt, in der Form, ein Inneres zur Erscheinung ————— 138 Ebd., 14. 139 Ebd., 36. 140 Ebd., 30–42, mit Bezug auf die Autopoiesis-Theorien von H.R. Maturana/F.J. Varela und M. Eigen. 141 Ebd., 42.

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kommt: „Die Geschichte eines lebenden Systems ist eine Darstellung der Bedeutungen, ein Erscheinen der Bedeutungen in körperlicher Form als die Reaktionsweise des Systems. […] In der verkörperten Kognition wird ein nie gesehenes Inneres im Außen transparent. Form ist zwangsläufig mit dem verbunden, was ein Wesen aus seiner subjektiven Innenperspektive ‚fühlt‘“142. Wenn Form die Darstellung von Innerem ist, so besteht deren Bedeutung zwar nicht an sich, sondern wieder für anderes, aber sie ist nicht bedeutungslos. Form ist nicht tote, sondern lebendige Form, sie ist für anderes symbolisch prägnant: sie bedeutet ein Ganzes, ist nur als Ausdruck zu verstehen, als Verkörperung von Existenz. Die Gestalt eines lebendigen Organismus, sein „Leib“, ist „nicht eine Summe nebeneinandergesetzter Organe“, sondern „die geronnene Gestalt der Existenz selbst“143. In dieser Bedeutungstheorie der Natur kann man sagen, dass es das ‚Wesen‘ der Natur ist, sich in Formen als Ausdruck inneren Lebens zu zeigen. Mindestes die belebte, abgestuft auch die unbelebte Natur, trägt Sinn und Bedeutung in ihren Formen. Sie ist lesbar, wenn die Form als Ausdruck verstanden wird, und zwar als Ausdruck eines Selbst. „Der Organismus, die wachsende Pflanze, der sich entwickelnde Keim, die sich teilende Zelle, ist aber nicht nur eine Gestalt, sondern eine Gestalten produzierende Gestalt, eine ‚singende Melodie‘ (v. Uexküll), aber er lebt für sich, in sich, und das Milieu ist nur Bedingung für sein ‚exstatisch‘ (Scheler) sich entfaltendes Sein.“144 Man kann jetzt auch sagen, dass das Natürliche, voran das Lebendige, „einen Sinn hat, den es gerade in seinem Selbstsein darstellt.“145 Das Natürliche hat Sinn, hat symbolische Prägnanz darin, dass es darin, wie es ist, das ist, was es ist: es selbst.

7.5 Ästhetik der Natur und religiöse Kosmologie 1. An die hier nur im Grundzug vorgestellte semiotische Theorie der Natur kann nun eine ästhetische Theorie der Natur angeschlossen werden, welche die oben entwickelte Ästhetik der Atmosphären (II.3.3) mit der These von der symbolischen Prägnanz (II.7.1) zusammenführt zu einer Ästhetik der bedeutungstragenden Natur. Die Grundgedanken gehen auf G. und H. Böhme zurück, die wir hier auf unser Anliegen konzentriert aufnehmen wollen. Diese Naturästhetik erkennt in Ausdruck und Form das Grundphänomen von Sinn: Sinnliches ist symbolisch prägnant. Die Natur ist physi————— 142 Ebd., 112f. 143 Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, 273. 144 F.J.J. Buytendijk, Mensch und Tier. Ein Beitrag zur vergleichenden Psychologie, 18, zit. nach Weber, Natur als Bedeutung, 113. 145 Spaemann/Löw, Die Frage Wozu? 294.

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ognomisch in dem Sinne von Physiognomie, den wir oben (II.3.6) entwickelt haben: Nicht als bloß äußere Form eines hermetisch verborgenen (und nur esoterisch zu erschließenden) Inneren, sondern in einem ästhetischen Sinn als phänomenale Erscheinung des Selbst. Das Zeichen ist das Bezeichnete, die Natur zeigt sich als sie selbst. Sie tritt in den Formen mit bestimmtem ‚Charakter‘ auf. Die Natur ist in den sinnlichen Erscheinungen symbolisch prägnant, weil sie sich in Expressionen zeigt. Die von den Naturwissenschaften als Quantitäten erfassbaren Formen sind in concreto Qualitäten, die sich als Expressionen äußern. Die konkrete Natur ist voller Farben, Gerüche, Zeichen und Formen, die da sind, einen „Raum von Anwesenheit“ erzeugen. „Da ist kein Ding, das nicht in irgendeiner Weise seine Anwesenheit signalisierte […] Alles leuchtet oder präsentiert sich im Licht, zeigt Gestalt und Kontur, alles tönt oder macht durch andere Wellen seine Anwesenheit bemerkbar.“146 Die Natur ist insgesamt ekstatisch. Das Natürliche tritt hervor und zeigt sich für anderes. „In der Expression ist somit 1) Natur transparent, in ihren Signaturen lesbar; 2) nur in der Expression ist das Lebewesen in seinem Selbstsein erfassbar, und zwar symbolisch“147: Das einzelne qualum oder quantum, jede Eigenschaft oder Form, steht für das Ganze, ist Ausdruck des Ganzen. Bedeutung ist an die materiale, sinnlich spürbare Existenz geknüpft. Sinnliches ist symbolisch prägnant. Die ekstatische Dimension, „dass die Natur sich von sich aus zeigt“ ist geradezu „eine Naturtatsache“148. – Eine Naturtatsache allerdings ist nicht einfachhin das Offenbarsein der Natur im Ganzen und in Jedem, sondern das Hervortreten in der Dialektik von Verborgenheit und Offenbarwerden. „Hervorzutreten ist ein ‚Charakterzug‘ von Natur“149. Dabei ist Hervortreten immer „Hervortreten in etwas“ und „Hervortreten für etwas“150. Das Hervortreten ist ein Akt, der aufgrund von Relationen Relationen konstituiert. Das Hervortreten ruft einen Kopplungszustand zwischen dem Hervortretenden und dem dafür Sensiblen hervor. Dieser Kopplungszustand ist, zumindest für das Organische, nicht einfach als physikalische Wechselwirkung zu beschreiben, sondern als gegenseitiger Anregungszustand, bei dem das Hervortretende mit dem dafür Sensiblen in Korrespondenz tritt. Aber auch die rein physische Wechselwirkung des Anorganischen gestaltet sich kon————— 146 G. Böhme, Natürlich Natur, 131. 147 Weber, Natur als Bedeutung, 127. 148 Böhme, Natürlich Natur, 131; vgl. H. Böhme, Aussichten einer ästhetischen Theorie der Natur, 47: „Dass Natur sich zeigt – ekstatisch ist –, ist selbst eine Naturtatsache. Sie scheint fundamentaler zu sein als die Tatsache, dass Natur wissenschaftlich erkannt werden kann.“ – Freilich handelt es sich „beim Sich-Zeigen der sinnlichen Natur um ein dialektisches Spiel von Komplementaritäten […]: der manifesten Natur korrespondiert die verborgene.“ 149 Böhme, Natürlich Natur, 132. 150 Ebd., 133.

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kret als Wechselwirkung von Ganzem auf Ganzes. Der Mond ‚reagiert‘ beispielsweise auf die Anziehung der Erde, das Elektron auf die des Protons. Die Wechselwirkung versetzt beide in einen Anregungszustand, der sich vom anregungsfreien Zustand ohne Wechselwirkung unterscheidet. Erst recht beim Organischen. Hier ist der aus gegenseitiger Anregung resultierende Kopplungszustand mit Bedeutungstransfer verknüpft: Organisches ist sinnhaft aufeinander bezogen. Die ekstatische Dimension von Natürlichem äußert und zeigt sich in der atmosphärischen Präsenz des Sinnlichen, welche mit dem Wirkfeld ein Sinnfeld konstituiert, welches Anderes je nach dem Grad seiner Sensibilität rezipiert und damit am Hervortretenden durch ‚Lesen‘ desselben partizipiert. Das Hervortreten in etwas für etwas ist dabei nicht exklusiv. Der Duft von Blumen erreicht sowohl Bienen als auch Menschen und bedeutet dabei jeweils anderes, aber jedes Naturphänomen ist mit Bedeutung für etwas in etwas verknüpft, keines steht isoliert für sich oder gar bedeutungslos für nichts. „Zu jedem Naturding gehört, dass es sich in irgendeiner Weise meldet. Das ist sein räumlich-dingliches Dasein.“151 2. Ausgehend von solcher ästhetischen Theorie des Natürlichen kann nun eine „religiöse Kosmologie“ entfaltet werden. Der Grundgedanke geht auf H. Timm zurück,152 den wir jedoch in eigener Verantwortung entwickeln wollen. Eine religiöse Kosmologie, überhaupt eine Theologie der Natur, war lange Zeit in der evangelischen Theologie eine Unmöglichkeit, da sie unter das Verdikt der „natürlichen Theologie“ zu fallen schien. Eine „natürliche Theologie“ als Möglichkeit, dass Gott „mit dem natürlichen Licht der menschlichen Vernunft aus dem Geschaffenen mit Sicherheit erkannt werden kann (naturali humanae rationis lumine e rebus creatis certo cognosci posse)“153, wurde evangelischerseits einstimmig – von Ritschl über Barth bis Brunner – abgelehnt.154 Die rechtfertigungstheologische Begründung der Ablehnung sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass sowohl die Behauptung wie die Verneinung natürlicher Theologie ein theologisch verfehlter Weg war. Denn auch die Ablehnung dieser Art natürlichen Theologie war meist der Erkenntnishaltung verpflichtet, die sie bekämpft hat. Dies wird etwa bei E. Brunner deutlich, der gegen die „subjektive“ natürliche Gotteserkenntnis (rein aus der Vernunft) eine „rechte“ christliche, nämlich „objektive“ theologia naturalis (aus der Schöpfung) in Geltung zu setzen können meinte, welche nun die „objektive […] Offenbarung Gottes in seiner Schöpfung“155 behauptet. Ebenso hat denn auch der späte Barth gegenüber Carl

————— 151 Ebd., 134. 152 H. Timm, Das Weltquadrat. Eine religiöse Kosmologie. 153 Vatikanum I, Dei Filius, c.2, DS 3004; vgl. die Verschärfung DS 3538: „[…]certo cognosci adeoque demonstrari etiam posse.“ 154 Vgl. W. Sparn, Art. Natürliche Theologie, TRE, 91f. 155 E. Brunner, Natur und Gnade. Zum Gespräch mit Karl Barth, 13.15.

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Zuckmeyer zugestanden, „dass die Natur objektiv einen – von uns Menschen übersehenen oder missverstandenen – Gottesbeweis führt, würde aber nicht wagen, dasselbe von der (alten oder modernen) Naturwissenschaft zu behaupten“156. Dass das SubjektObjekt-Schema aber nicht nur das Gotteserkenntnis ausschließende Naturverständnis der Naturwissenschaft charakterisiert, sondern auch theologisch einer unmöglichen, weil gegenständlichen, vulgo supranaturalistischen Erkenntnishaltung verpflichtet ist, welche „objektive“ und „subjektive“ Momente von Offenbarung und Erkenntnis trennt und der „Schöpfung“ einerseits bzw. der „Sünde“ andererseits zuordnet, scheint hier nicht erkannt.

Mit einer „religiösen Kosmologie“ beabsichtigen wir – um mit den negativen Bestimmungen zu beginnen – weder irgendwelche „objektive“, will sagen „gegenständliche“ Gotteserkenntnis aus der Natur, noch wird von einer ungebrochenen und unmittelbaren Manifestation des Göttlichen in den sinnlichen Phänomenen ausgegangen. Christlich-theologisch ist hier außer der ontologischen Differenz von Gott und Welt die hamartiologischsoteriologische Differenz zwischen der vorfindlichen Wirklichkeit und ihrer gottgemäßen Bestimmung sowie die eschatologische Differenz zwischen der alten und der neuen Welt zu markieren. Der christliche Schöpfungsglaube kennt vorbehaltlich der consumatio mundi keine unmittelbare Präsentation von Göttlichem im Diesseits. Die Wirklichkeit Gottes kommt in seinem Werk der Schöpfung nicht ungebrochen zur Erscheinung. Die Herrlichkeit Gottes ist in der Welt verborgen, auch unter dem Gegenteil. Das valde bone von Gen 1,31 ist eine österlich-eschatologische Bestimmung, die „güldne Sonne“ ist nur im Licht der eschatologischen Herrlichkeit Gottes das Kleid der Gottheit, die Schöpfung erst auf dem Weg zur ungebrochenen Schönheit (Röm 8,21).157 Die biblisch-reformatorische Ästhetik der Schöpfung ist etwas anderes als griechische Kosmosfrömmigkeit. Aber richtig ist, dass auch biblisch und christlich-theologisch die Schönheit „keine negative Kategorie“ ist, „die allein Ausstehendes benennt. Schönes ist vielmehr in einem spezifischen Sinne ‚da‘, ist Emblem, das in seiner Gegebenheit zugleich für sich steht und über sich hinausweist auf eine Welt, in der das einzelne Schöne nicht isoliert und marginal ist“158. Im ————— 156 C. Zuckmeyer/K. Barth, Späte Freundschaft in Briefen, 54; vgl. K. Barth, KD IV/3, 157.160.166. 157 An P. Gerhardts „Geh’ aus, mein Herz […]“ zeigt J.A. Steiger, dass dies Sommerlied keine idyllische Naturlyrik besingt, sondern die „arme Erde“ im Lichte der himmlischen Herrlichkeit, die in der Zeit bleibend verborgen ist („Geh’ aus, mein Herz, und suche Freud’“. Paul Gerhardts Sommerlied und die Gelehrsamkeit der Barockzeit (Naturkunde, Emblematik, Theologie), 48); ähnlich besingt M. Claudius nicht das Idyll von Abend und Mond, sondern findet Trost aus der Differenz von Erde und Himmel, von Zeit und Ewigkeit, vgl. W. Schoberth, Sonne, Mond und einfache Gottesrede. Marginalien zu einer ästhetischen Schöpfungslehre bei der Betrachtung zweier Abendlieder, 198. 158 Schoberth, Geschöpflichkeit in der Dialektik der Aufklärung, 253.

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Lichte der eschatologischen Differenz kann man sagen, dass das sinnlich Schöne Verheißungscharakter hat. Es verweist auf das Offenbarwerden der Herrlichkeit Gottes. Schönheit ist so gesehen eine Kategorie des Werdens.159 Im sinnenfälligen Schönen kommt die doxa Gottes in der Dialektik von Verborgenheit und Gegenwart, als Verheißung, zur Erscheinung.160 Diese Verheißung – als Verweis – ergeht im Schönen hier und jetzt. Eine Theologie der Natur geht, nun positiv bestimmt, davon aus, „dass die Welt Schöpfung ist“161 und sich als solche – in Phänomenen und Emblemen – zeigt. Daher ist es richtig, für eine christlich-religiöse Kosmologie die Sinnenwelt als Ort der „Primäroffenbarung“162 des Schöpfergeistes, seiner Schönheit und seiner Verheißung in Anspruch zu nehmen. Wir gehen dazu entsprechend der „Natur als Bedeutung“ von den beiden Voraussetzungen aus, dass erstens die Dinge, die Natur, die Welt Sinn tragen und dass zweitens in ihrer Wahrnehmung und Erkenntnis Sinn reproduziert wird. Beide Voraussetzungen sind mit dem christlichen Schöpfungsgedanken und mit der christlichen Kulturtradition mitgesetzt, aber in der Welt realisiert. Die geschaffene Welt ist eine Welt, der Sinn eingestiftet ist. Sinn muss in die Welt nicht erst vom Menschen hineinprojiziert werden, er kann entdeckt werden. Er erschließt sich allerdings nicht von selbst. Es bedarf der „Entdeckungssituationen“, dass sich die Sinnenwelt als Kreatürlichkeit präsentiert. Es sind unverhoffte „Zwischenfälle“, in denen das Buch der Natur lesbar wird, die religiöse Wahrheit im Alltäglichen sinnenfällige Evidenz gewinnt und „der Lebenskontext für seinen Ursprung transparent wird“163. Die Transparenz des Sinnlichen für das Kreatürliche war einmal mit dem christlichen Schöpfungsglauben und der damit verbundenen teleologisch-anthropozentrischen Kosmologie eine kulturelle Selbstverständlichkeit gewesen. Sie ist mit der Dissoziierung des In-der-Welt-Seins in die subjektlose Natur und die naturentfremdeten Subjekte weitgehend verloren gegangen. Sie kann wiederentdeckt werden, wenn auch nicht unverändert und nicht ohne Transformation. Dazu ist es nötig, den Gehalt des christlichen Schöpfungsglaubens und seinen Traditionsbestand in die Erfahrungswerte der sinnlich zugänglichen Lebenswelt zu übersetzen. Es bedarf der ————— 159 Vgl. R. Bohren, Dass Gott schön werde. 160 „Die Schönheit der Lilien ist ihre doxa, ihre Herrlichkeit. Doxa ist aber das griechische Äquivalent des hebräischen Kabod, der Ehre, oder besser: der Aura, die Gott selbst umgibt. Sie benennt eine eschatologische Wirklichkeit. Ihre Wahrnehmung greift auf ein Sehen voraus, das erst am Ende aller Zeit zu seiner Erfüllung kommt“ (C. Link, Die Transparenz der Natur für das Geheimnis der Schöpfung, 182). 161 J. Hübner, Schöpfungsglaube und Theologie der Natur, 53. 162 Timm, Das Weltquadrat, 184. 163 H. Timm, Zwischenfälle. Die religiöse Grundierung des All-Tags, 12f.

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Wiederaneignung der christlich-kulturellen Sinngehalte im Heute, um in der Welt Sinn zu reidentifizieren, und es bedarf der „spirituellen Erfahrungsschule“, der „höchsten Aufmerksamkeit“, damit „das Religiöse im Alltäglichen stattfinden kann“164. Die entsprechende erkenntnistheoretische Position und hermeneutische Einstellung ist die eines „spirituellen Realismus“165. Sie geht – nicht als metaphysisches Axiom des Seins und Sinns des Kosmos im Ganzen, sondern als hermeneutisches Vorverständnis seiner (partikularen, umhaften) sinnhaften Erfahrung – von einem „selbstredenden Eigensinn des Kosmos ringsum als unmittelbarem Anwesenheitsmodus“166 von Sinn und Geltung aus. Die Dinge, so wird unterstellt, haben „Anmuts- und Appellqualität“167. Ihnen kommt, rein als Phänomene, eine gewisse Dignität, ein objektiver Geltungsanspruch zu. „Anders als künstlich gemachte Spektakel haben die Phänomene Verbindlichkeit. Es geht von ihnen ‚ein alle Aspekte einer geistigen Stellungnahme umfassender Appell aus‘.“168 Die Dinge zeigen sich als verbindliche Phänomene. Sie wollen gehört und gesehen sein – als sie selbst und als auf den Schöpfer verweisende Kreaturen. Damit erschließt sich im Individuellen Allgemeingültiges. Dieses Allgemeine zur Sprache zu bringen, ist Aufgabe einer Phänomenologie der Natur in schöpfungstheologisch-pneumatologischer Perspektive. Die Sprachformen und Kategorien sind die der christlichen Kulturtradition. Solche christliche „natürliche Theologie“ ist eine „theologische Form kultureller Reflexivität“169. Da die Naturphänomene unter der Lesart des Schöpfungsglaubens Kreaturen sind, die ihre Wirklichkeit als Geschöpfe dem Wirken des Schöpfergeistes verdanken, ist diese Phänomenologie eine Phänomenologie des Heiligen Geistes. Die kreatürlichen Phänomene sind Reflexe der Präsenz Gottes des spiritus creator. Es ist der komplexe Sinnenkosmos um den Menschen herum, in dem sich der Geist Gottes als Schöpfergeist manifestiert. Wesentlich ist, dass von der Erschlossenheit solcher Erfahrungen als Erfahrungen des Geistes Gottes her sich die Epiphanie des spiritus creator in den sinnlichen Phänomenen als Offenbarung darstellt,170 d.h. als Präsenz des Schöpfers für mich und den Geschöpfen zugute. ————— 164 165 166 167 168 169 170

Ebd., 10.12.14. Timm, Das Weltquadrat, 5. H. Timm, Diesseits des Himmels, 130. Ebd. Timm, Das Weltquadrat, 11, mit Zitat C.A.v. Peursen, Wirklichkeit als Ereignis, 203. Sparn, Art. Natürliche Theollgie, 95. Zum Verhältnis von Erfahrung und Offenbarung s. oben II.3.1.

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Da sich die Anwesenheit Gottes in der Welt in den sinnenhaften Phänomenen manifestiert, geht es mit der Phänomenologie des Heiligen Geistes zusammengefasst darum, die christlich-religiösen Gehalte des Schöpfungsglaubens im welthaft Anschaulichen aufzuspüren, die Sphäre des Geistes, d.h. die Sphäre der Anwesenheit Gottes in der Welt, in den Erfahrungen des Kosmos anschaulich zu machen. Es geht darum, die Sinnbestände des Glaubens als Einbrüche des Heiligen Geistes kenntlich und erfahrbar zu machen. Dazu ist es nötig, den spiritus creator in den spirituellen, d.h. den sinnlich prägnanten und symbolisch relevanten Erfahrungen des Kosmos zu identifizieren, etwa das Licht als Symbol für Gottes unsichtbar-anwesendes Wesen zu erschließen, den Himmel als Symbol seiner Transzendenz, die Luft als Gottes lebensspendende und beseelende Schöpferkraft, den Erdboden als Symbol des Lebenfundamentes, das Wasser als Quelle des Lebens und Symbol der Tiefe usw.171 Allein die Hinwendung zum mundus sensibilis und seinem symbolischen Gehalt, so die u.E. im Kern zutreffende These von H. Timm, vermag es, die Welt als Schöpfung wiederzuerschließen und dem „kosmologischen Defizit“ und der „Naturvergessenheit“172 der christlichen Schöpfungslehre und Frömmigkeit abzuhelfen.

7.6 Die Transparenz der Natur für eine Ästhetik der Schöpfung In welchem Sinne also, so fragen wir zum Abschluss, kann von einer Transparenz der Natur für das Geheimnis der Schöpfung die Rede sein? Die Natur ist von sich her transparent und verweisungsfähig auf einen Überschuss, der sich nicht im bloßen Faktum des Vorhandenen erschöpft. Theoretisch plausibel wird diese Verweisungsfähigkeit im entwickelten Verständnis der Natur als Bedeutung, sinnenfällig wird sie im Phänomen der (ekstatisch-expressiv verstandenen) Schönheit. Die Schönheit des Natürlichen weist über das Vorhandene hinaus, aber wohin? Auf einen Sinn, aber auf welchen? In der Schönheit meldet sich das Geheimnis der Schöpfung, aber verhüllt. Der Schönheit der Natur ist ihr Schöpfungscharakter nicht als offenbares Geheimnis aufgeprägt. Die Kreaturen sind zwar sprachfähig, aber sie führen keinen Evidenzbeweis für Gott. Die Natur ist aber der Sprachmittler für ihr Kreatur-Sein: Die Welt zeigt sich als Kreatur durch die Natur. Der Schöpfer meldet sich im Reden der Schöpfung. Die Offenheit der Welt für Gott bekundet die Offenheit Gottes für die Welt. Schöpfung ist ————— 171 Beispielhaft vgl. oben II.2.2.4; 2.3.3; 2.4.4; 2.5.2; 7.2; weiteres Material bei Timm, Das Weltquadrat, der nach den Elementen und Grundordnungen der antiken u. hermetisch-spekulativen Kosmologie: Licht, Luft, Wasser, Erde strukturiert; zu deren Rezeption vgl. auch Böhme/Böhme, Feuer, Wasser, Erde, Luft. 172 Timm, Das Weltquadrat, 182.184.

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eine Rede Gottes an die Kreatur durch die Kreatur (J.G. Hamann).173 Die Transparenz der Natur gründet in einem „Vermögen Gottes, sich in der Welt bekannt zu machen. So wird die Transparenz der Natur […] als Folge seiner Bekanntmachung begriffen, theologisch gesprochen: als Folge seiner Nähe, die das kreatürliche Dasein der Welt begründet“174. Die Welt ist gleichnisfähig175 für das Geheimnis der Schöpfung kraft der Anwesenheit des Schöpfers. Vom Glauben an den in der Schöpfung präsenten Schöpfer, den spiritus creator, aus ist dann aber auch die Natur selbst verweisungsfähig. In welchem Sinn also ist die Natur transparent auf das Geheimnis der Schöpfung? Sie ist es dann, wenn die Natur zum Medium wird für das, was der unmittelbaren Wahrnehmung entzogen ist: zum Raum der Gegenwart Gottes. Die Welt wird als Schöpfung erfahren, wenn sich Gott vermittels der sinnlichen und sinnhaften Natur als Schöpfer erfahrbar macht, wenn sich, anders gesagt, in der symbolischen Prägnanz des Sinnlichen Realpräsenz ereignet: wenn Zeichen und Bezeichnetes, wenn Natur und Schöpfung identisch werden. Diese Identität ist eine widerfahrende, eine im Verweisungsakt sich ereignende: wenn das sinnliche Erlebnis des Natürlichen durchsichtig wird für das Geheimnis der Schöpfung. Dann wird das im beschränkten Horizont sinnlicher Wahrnehmung Erfahrene erweitert zu einem Ganzen, für das das Einzelne symbolisch steht: für die Welt als Schöpfung Gottes. Das Natürliche wird in solchem Akt als Kreatürliches erschlossen. Es erscheint dann als Geschöpf. Das kann auf verscheidene Weise geschehen.176 In jedem Fall ist der Zustand des Erschlossenseins als Kreatur ästhetisch betrachtet ein Kopplungszustand, bei dem das Natürliche dem für sein inneres ‚Wesen‘, seinen (letzten) Grund, Sensiblen durchsichtig wird. Die Erfahrung der Welt als Schöpfung ist dem möglich, dessen Existenz wie die des sinnlich Erfahrenen selbst eine kreatürliche ist. Nur der sich selbst als Geschöpf Erfahrender kann die Welt als Schöpfung erfahren. Aber dass er selbst Geschöpf ist, weiß er nicht immer schon vorher, etwa aus apriorischer Endlichkeits-Reflexion, sondern erfährt er in Korrespondenz mit der als geschöpflich erfahrenen Natur, und sei es seiner eigenen. Der GrundSinn und Sinn-Grund der Welt erschließt sich nicht in apriorischem Rückstieg oder Überstieg des Vielen zum Einen, sondern nur in Beteiligung am Vielen, also am Endlichen, wenn dem, welcher sich teilnehmend in der ————— 173 Hierzu vgl. O. Bayer, Schöpfung als Anrede, 9–32. 174 Link, Die Transparenz der Natur für das Geheimnis der Schöpfung, 176. 175 Vgl. C. Link, Die Welt als Gleichnis. Studien zum Problem der natürlichen Theologie. 176 Verschiedene Weisen des ästhetischen Erscheinens unterscheidet M. Seel, Ästhetik des Erscheinens, 43–69, u.a. die phänomenale Individualität, die Synästhesie, die horizontierte Atmosphäre, die plötzliche Präsenz.

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Welt bewegt, so die Sinne erweckt werden, so dass er sich als Geschöpf unter Geschöpfen wahrnimmt. Die Erfahrung der Welt als Schöpfung ist die Erfahrung des einzelnen inmitten des vielen Natürlichen als Kreatürlichem, womit sich die natürliche Welt zum Raum der Schöpfung auf- und zusammenschließt. Die sich ereignende Anwesenheit von Schöpfung ist die von „realer Gegenwart“ im Raum des Natürlichen. Die Rede von der „realen Gegenwart“ geht auf den vieldiskutierten Essay von G. Steiner zurück,177 dort allerdings in Bezug auf eine Ästhetik der Kunst, nicht der Natur. Wir wollen die Formel auf unser Vorhaben einer Ästhetik der Schöpfung kritisch übertragen. Da die Grundthese, besonders in der Aufnahme bei B. Strauß, im kulturwissenschaftlichen Diskurs derart überraschend theologisch wirkt,178 wollen wir jedoch kurz allgemeiner darauf eingehen. Steiner wendet sich gegen die dekonstruktivistische Hermeneutik mit ihrer „Aufkündigung des Vertrags zwischen Wort und Welt“179, zwischen Abbild und Urbild, zwischen Zeichen und Bezeichnetem. Er will wenigstens die Kunst noch und wieder als Ort „realer Gegenwart“ von Sinn begreifen, indem er auf die platonische Weltkonstruktion verweist, bei der der Welt durch den Schöpfer Logos eingestiftet ist, welcher die Übereinstimmung von Sache und Begriff (adaequatio rei et intellectus), also Wahrheit von Aussagen, Text und Sprache garantiert. Steiners „These lautet, dass jede logisch stimmige Auffassung dessen, was Sprache ist und wie Sprache funktioniert, dass jede logisch stimmige Erklärung des Vermögens der menschlichen Sprache, Sinn und Gefühl zu vermitteln, letztlich auf der Annahme einer Gegenwart Gottes beruhen muss“180. Dort, „wo es kein ‚Antlitz Gottes‘ gibt“, gebe es „keine transzendente oder entscheidbare Verständnismöglichkeit“181. Überall, so B. Strauß, „wo in den schönen Künsten die Erfahrung von Sinn gemacht wird, handelt es sich zuletzt um einen zweifellosen und rational nicht erschließbaren Sinn, der von realer Gegenwart, von der Gegenwart des Logos-Gottes zeugt.“182 Bei

————— 177 G. Steiner, Von realer Gegenwart (Real presences). Hat unser Sprechen Inhalt?; zur Debatte vgl. H.R. Jauß, Über religiöse und ästhetische Erfahrung. Zur Debatte um Hans Beltings „Bild und Kult“ und George Steiners „Von realer Gegenwart“ (mit Verweis auf die Feuilletons der Zeit, Süddeutschen Zeitung, Frankfurter Rundschau); U. Wolff, An der Grenze zum Paradies. George Steiners polemische Beschwörung einer Kunst des Sakramentalen; W. Oelmüller, Philosophisches Sprechen über Kunst in Traditionen des Bilderverbots und der negativen Theologie. Zur Debatte über zwei Bücher von Steiner ‚Von realer Gegenwart‘ und Belting ‚Bild und Kult‘; K.-M. Bogdal, Kann interpretieren Sünde sein? Literaturwissenschaft zwischen sakraler Poetik und profaner Texttheorie; R. Benedikter, Drei exemplarische Kritiken an den Geisteswissenschaften im 20. Jahrhundert: Schweitzer, Adorno, Steiner; H.U. Gumbrecht, Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von Präsenz, 78f. 178 B. Strauß, Der Aufstand gegen die sekundäre Welt. Bemerkungen zu einer Ästhetik der Anwesenheit; dazu vgl. H.-B. Gerl-Falkovitz, Die Krise des Wortes und die Eucharistie. Oder: Der Aufstand gegen die sekundäre Welt von Botho Strauß; dies., Sinn – eine knapp werdende Ressource?, 187–190. 179 Steiner, Von realer Gegenwart, 176; vgl. 127. 180 Ebd., 13. 181 Ebd., 177. 182 Strauß, Der Aufstand gegen die sekundäre Welt, 41.

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allen Arten von Kunst – Poetik, Malerei, Musik – handele es sich um Primär-Texte. Steiner und Strauß plädieren für „eine Gesellschaft, eine Politik des Primären“ und den Verzicht auf den „parasitären Diskurs“ durch „Meta-Texte“, d.h. den Verzicht „auf Texte über Texte (oder Gemälde oder Musik), auf akademisches, journalistisches […] Gespräch über Ästhetik“183. Es gehe „um nicht mehr und nicht weniger als um die Befreiung des Kunstwerks von der Dikatur der sekundären Diskurse, es geht um die Wiederentdeckung nicht seiner Selbst-, sondern seiner theophanen Herrlichkeit“184. Als Begründung für solche „sakrale Poetik“ der Identität von Zeichen und Bezeichnetem, verweist Strauß auf Ikone und Eucharistie, welche eine „Ästhetik der Anwesenheit“ des Urbilds im Abbild enthalten: „Im Gegensatz zur rationalen Sprachtheorie ersetzt das eine (das Zeichen, das Brot), nicht das fehlende andere (den realen Leib), sondern übernimmt seine Andersheit“185. M.a.W.: Das Zeichen ist die Realpräsenz des Bezeichneten. Wie ist diese „Kunstlehre von der realen Gegenwart oder: die um die Kunst erweiterte Sakramentenlehre“186 zu bewerten? Wenn es sich nur um eine unkritische Repristination der platonischen Analogia entis handeln würde, müsste man Steiner und Strauß „hermeneutische Naivität“ vorwerfen und überdies schwärmerische „Retheologierung der Kunst“ und „Ästhetisierung Gottes“187 – Strauß ist der Meinung, dass Ikone und Abendmahl einen „ästhetischen Gottesbeweis“ in der Zeit der Abwesenheit Gottes in der Welt führen, so dass „die Mitternacht der Abwesenheit überschritten“188 sei. Gegen die Annahme von der ungebrochenen, unmittelbaren Anwesenheit Gottes im Bild ist nach der jüdisch-christlichen Gottesrede aufgrund des „Kriteriums“ des Bilderverbots189 von der „gleichzeitigen Gegenwart und Abwesenheit Gottes“190 auszugehen. Anders als Strauß hat Steiner die Entscheidung, ob Gott existiert oder nicht, offen gelassen, er hält sie für irrelevant. Er hat nur gegen die poststrukturalistische und dekonstruktivistische „Null-Theologie“ des „immer Abwesenden“ für eine Ästhetik und Hermeneutik des als ob plädiert: „Wir müssen lesen, als ob. Die Dichte der Abwesenheit Gottes“191 sei Spur und verzweifelte Hoffnung seiner Anwesenheit. „Gäbe es sie nicht, wie könnten wir ausharren?“192 – der Ort des Christen wie des Atheisten sei der Karsamstag! Die Problematik liegt im Blick auf unser Vorhaben an einer anderen Stelle, nämlich darin, dass Steiner die Anwesenheit des Logos-Gottes nur noch in der Kunst, nicht mehr in der Natur für möglich hält, und dass er in Ermangelung des weltabwesenden Schöpfers den Künstler zum Gegenschöpfer erklärt. Die „daseinsschaffende Tätigkeit des Dichters, Künstlers und […] Komponisten“ sei „Gegenschöpfung“, weil allein

————— 183 184 185 186 187 188 189 190 191 192

Steiner, Von realer Gegenwart, 17.70. Strauß, Der Aufstand gegen die sekundäre Welt, 41. Ebd. Ebd., 43. Jauß, Über religiöse und ästhetische Erfahrung, 937. 943. Strauß, Der Aufstand gegen die sekundäre Welt, 43.47. Vgl. C. Link, Das Bilderverbot als Kriterium theologischen Redens von Gott. Oelmüller, Philsophisches Sprechen über Kunst, 135. Steiner, Von realer Gegenwart, 298f. Ebd., 302.

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Geschöpflicher Raum und Transparenz

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durch den „ästhetischen Akt, dass also etwas entworfen und ins Dasein gebracht wird“ ein „fiat, eine schöpferische Handlung“ vollbracht werde, eine „imitatio, eine Wiederholung im eigenen Maßstab, des unzugänglichen ersten fiat“193.

Vom Standpunkt einer christlichen Schöpfungstheologie aus können wir uns die Rede von der „realen Gegenwart“ kritisch zu eigen machen. Gehen wir davon aus, dass die Welt Schöpfung ist, dann ist der Schöpfer in der Welt gegenwärtig. Er ist allerdings nicht offensichtlich und unmittelbar, sondern unter der Natur gegenwärtig. Es ist weder eine Schönheit noch eine Logizität der Naturordnung vorhanden, die per se als Logos-Gott identifizierbar wäre. Aber die Rede von der Welt als Schöpfung impliziert die These der realen Gegenwart von Schöpfung. Die reale Gegenwart von Schöpfung in, mit und unter dem Natürlichen ist sozusagen der „Aufstand“ der natürlichen Welt gegen die „sekundäre Welt“ der naturalistischen Beschneidung und konstruktivistischen Präparierung von Sinn, aber sie erschließt sich gegen Steiner und Strauß nicht im antinatürlichen Ästhetischen, sondern im Natürlichen als der ästhetisch-sinnlichen Anwesenheit von Sinn. Der ästhetische Sinn ist christlich, noch einmal gegen Steiner und Strauß, nicht die „Dichte der Abwesenheit Gottes“, sondern die Dichte seiner Anwesenheit, allerdings nicht als offensichtliches Vorhandensein, sondern als Ereignis.194 Der Raum der Welt – und nicht nur die imaginative Kunst – ist der Ort der Erschließung von solchem Sinn, der von der realen Gegenwart des Schöpfer-Gottes zeugt: die natürliche Welt ist der Raum der Realpräsenz von Schöpfung. Die Natur wird in einem Erscheinen von Anwesenheit, das man theologisch mit Offenbarung bezeichnen mag, zum Medium der Darstellung Gottes als Schöpfer. Gott „macht sich mit den Darstellungsmitteln der Welt in der Welt bekannt; er macht die Welt zu seinem Darstellungsraum. Das aber kann man auch so ausdrücken und sagen: Gott nimmt die Welt und den Menschen in seine Selbstinterpretation hinein.“195 Die Natur ist das Medium für das, wofür der Schöpfungsglaube der Deutungsschlüssel ist: für die Transparenz des Natürlichen auf seinen Grund-Sinn und Sinn-Grund. Das Buch der Natur wird lesbar auf das Geheimnis der Schöpfung, wenn es mit den Augen des Glaubens gesehen wird: wer glaubt, was er sieht, kann sehen, was er glaubt.196 ————— 193 Ebd., 267.264f. 194 Eine genauere kategoriale Einordnung der ereignishaften Präsenz Gottes nehme ich im Gespräch mit der Phänomenologie in meiner noch unveröffentlichten Antrittsvorlesung vor: Gabe, Präsenz, Ereignis. Kategorien einer phänomenologischen Gotteslehre; vgl. nur die Rede J. Derridas vom Ereignis als „unmöglicher Möglichkeit“ (Eine gewisse unmögliche Möglichkeit, vom Ereignis zu sprechen) sowie H.U.Gumbrechts Rede vom Ereignis der Präsenz von Sinn als „Epiphanie“ (Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von Präsenz, 131). 195 Link, Die Transparenz der Natur für das Geheimnis der Schöpfung, 192. 196 W. Sparn, mdl. in einer Predigt zu „Geh’ aus, mein Herz, und suche Freud’“.

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Was sieht der Glaube in der Natur? Er sieht die Schöpfung und darunter – den Schöpfer. Die Erfahrung der Welt als Schöpfung ist die Erfahrung des Schöpfers in, mit und unter der Natur. Die Welt hat in solchem Ereignis sakramentalen Charakter. Es ist die „immanente Gegenwart Gottes in, mit und unter den konkreten Prozessen der natürlichen Welt“, welche der „geschaffenen physikalischen Wirklichkeit“ den Charakter des Sakraments verleiht.197 Jedoch ist nicht die physikalische Natur qua empirischer Gegebenheit Realsymbol Gottes und seines Handelns als Schöpfer, sondern konkrete Prozesse, Ereignisse und Phänomene in der bestimmten Perspektive des Schöpfungsglaubens. Nicht die physische Welt ist Gott, sondern „die geschaffene Welt wird von Christen als Symbol gesehen, weil sie ein Modus der Offenbarung Gottes ist, ein Ausdruck seiner Wahrheit und Schönheit“198. Die Welt ist implizit und in bestimmter Hinsicht Symbol und Sakrament Gottes. Die zugesagte Schöpfung ist wie das Herrenmahl – „Nehmet hin und essest, das ist mein Leib, für euch gegeben!“ (1.Kor 11,24) – dasjenige Natürliche, welches die Güte des Schöpfers schmecken und sehen lässt. Die Schöpfung ist „Selbstgabe des Schöpfers“ und deshalb – in concreto – „Sakrament seiner Selbstoffenbarung und damit für uns sakramentales Medium für Gotteserfahrung“199 – für die Erfahrung der Gegenwart des Schöpfers in der Schöpfung. Mit Luther gesagt: „Gott kann man nicht begreifen, aber man fühlet ihn doch, denn er lässet sich allenthalben sehen und merken und erzeigt sich als ein gütiger Schöpfer, der uns alles Gutes tut und gibt, welches die Sonne und Mond, Himmel und Erden und alle Früchte, die aus der Erde wachsen, bezeugen. Aber der Mangel, dass wir Gott in solchen seinen Werken und unzähligen Wohltaten nicht erkennen, ist nicht am Schöpfer: dass er wollte, dass solches vor unsern Augen sollte verborgen sein. Nein, der Fehler ist nicht an ihm, sondern an uns“200 – weil wir nicht schmecken und sehen wollen, was er gibt, oder, anders gesagt, die Welt nicht so nehmen wollen, wie sie uns der Schöpfer „aus lauter väterlicher, göttlicher Güte und Barmherzigkeit“201 zuspricht: als „kategorische Gabe“ und „gewährtes Sein“202. Wird die raumzeitliche Welt in dieser Weise als Realpräsenz des Schöpfers begriffen, führt dies zu einer Theologie der Natur, die eine Ontologie der ————— 197 A. Peacocke, Creation and the World of Science, 298.290; vgl. ders., A sacramental View of Nature; zu Peacockes sakramentaler Naturtheologie vgl. G. Predel, Sakrament der Gegenwart Gottes. Theologie und Natur im Zeitalter der Naturwissenschaften. 198 Peacocke, Creation and the World of Science, 290. 199 G. Greshake, Gott in allen Dingen finden. Schöpfung und Gotteserfahrung, 33.37. 200 M. Luther, Tischrede Nr. 6530, WATR 6, 20, nach: Luther Deutsch, Bd. 9: Die Tischreden, 36. 201 M. Luther, Kleiner Katechismus, BSLK 511,3f. 202 O. Bayer, Zugesagte Gegenwart, 187; ders., Schöpfung als Anrede, 94.

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Geschöpflicher Raum und Transparenz

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Gabe203 impliziert. Die Gabe präsentiert den Geber.204 Damit wäre in naturtheologischer Hinsicht erreicht, was in naturphilosophischen Kategorien über das Verhältnis von raumzeitlicher Welt und dem Wirken Gottes gesagt wurde (II.4.6.3.): Gottes Gegenwart ereignet sich als schöpferische Selbstmitteilung, als Gabe seiner selbst und erweist sich leibhaftig als Macht der Liebe. Was dies für den Raum und was dies für Gott bedeutet, ist im abschließenden Kapitel 8. zu erörtern.

————— 203 Hierzu vgl. die knappen und noch auszuarbeitenden Hinweise bei W. Sparn, Ontologische Metaphysik versus metaphysische Religion. Inwiefern erfordert die theologische Analyse von Religion metaphysisches Denken?, 51f, mit Verweis auf J.-L. Marion, Étant donné. Essai d’une phénoménologie de la donation. 204 Hermeneutisch zu diskutieren wäre, ob die Präsentation des Gebers durch die Gabe nur unausgesprochen, also unmittelbar und uninterpretiert, geschehen kann (so Derrida, Eine gewisse unmögliche Möglichkeit, vom Ereignis zu sprechen, 28f) oder eine Differenz von Präsenz und (interpretiertem, reflektiertem) Sinn anzunehmen ist, so dass trotz des Zusammenhangs von unmittelbarer Präsenz und Sinn beide nicht zusammenfallen, sondern „oszillieren“ (so Gumbrecht, Diesseits der Hermeneutik, 126f). In der Perspektive des Schöpfungsglaubens ist, wie gesagt, keine Schöpfungsunmittelbarkeit behauptet, sondern ein reflexives Moment bei der Erschließung des Schöpfungssinns beteiligt. Der Schöpfer präsentiert sich aber, unter dem mitlaufenden Deutungshorizont des Schöpfungsglaubens, durch die sinnliche, ästhetisch-ekstatische Natur.

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Kapitel 8: Welt-Raum und Raum-Gegenwart Gottes

Das Ziel der vorangehenden Kapitel war es gewesen, einen theologischen Raumbegriff zu erarbeiten, welcher die Gegenwart Gottes in der Welt zu denken erlaubt. Wie kann der Raum, verantwortet vor und in Bezug auf die Raumbegriffe von Philosophie und Kosmologie, beschrieben werden, in dem Gott als gegenwärtig erfahren wird? Es stellte sich heraus, dass es der gelebte, der atmosphärisch gestimmte und der geschöpfliche Raum ist, in dem sich für den Glauben die Wahrnehmung der Gegenwart Gottes ereignet. Es wurden verschiedene Weisen der Gegenwart Gottes thematisiert und mit dem Welt-Raum in Verbindung gebracht. Es ist Gottes wirksame Gegenwart im Raum kraft der Zeit, es ist das Werden von Lebens-Raum als das Zur-Verfügung-Stellen von Raum und es ist das Erscheinen von Gottes Gegenwart im Raum durch die Transparenz der Schöpfung, wie sich für den Glauben Gegenwart Gottes darstellt. Die nach den verschiedenen Hinsichten ausgezogenen Überlegungen sind nun in einem Schlusskapitel zusammenzufassen und zu systematisieren, aber auch um nur angedeutete Aspekte zu ergänzen und gegen bisher noch unabgewiesene Einwände abzugrenzen. Es steht nun in Frage, wie sich das Verhältnis von Gott und Raum im Ganzen und grundsätzlich bestimmen lässt, so dass die Immanenz der Gegenwart Gottes der Transzendenz von Gottes Gegenwart korrespondiert. In welchem Verhältnis steht der Welt-Raum zum in diesem immanent-transzendenten Gott? Nach prinzipiellen Überlegungen, wie von der Gegenwart Gottes im Welt-Raum gesprochen werden kann und soll (8.1), werden die Weisen differenziert. Gott ist per essentiam gegenwärtig als ungegenständlicher Grund (8.2), er ist intime gegenwärtig als trinitarischer und inkarnierter Gott (8.3), der sich selbst in die Welt vermittelt (8.4). Für die Welt- und die Selbstgegenwart Gottes wird das Modell der geteilten Innenräume entwickelt (8.5), bevor die Raumgegenwart Gottes an den konkreten Räumen Haus, Himmel und Gottesdienstraum spezifiziert wird (8.6).

8.1 Der Welt-Raum und der immanent-transzendente Gott Der einführende Abschnitt dient in Vertiefung des in früheren Kapiteln Gesagten dazu, von erkenntnistheoretischen (1.), kosmologischen (2.) und biblischen (3.) Beobachtungen zur Transzendenz und Immanenz Gottes her und vor dem Hintergrund der traditionellen Gotteslehre die weiteren Aufgabenstellungen zu entwickeln (4.).

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Welt-Raum und Raum-Gegenwart Gottes

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1. Erkenntnistheoretische Transzendenz: Zunächst ist vertiefend zu II.1.5 erkenntnistheoretisch zu betonen, dass die Frage nach dem Wo Gottes nicht als Frage nach seiner quasi gegenständlichen Lokalisation behandelt wurde und auch nicht behandelt werden kann. Gott ist kein Gegenstand räumlicher Erfahrung und der Raum keine Form seiner Anschauung. Wenn Gott als gegenwärtig erfahren wird, dann wird er nicht aufgrund der Anschauungsformen Raum und Zeit erfahren, aber er wird in Raum und Zeit erfahren.1 Die Erfahrung Gottes ist raumzeitlich strukturiert, der erfahrene Gott selbst aber nicht. Diese Unterschiedenheit der Gotteserfahrung vom erfahrenen Gott selbst hat ihren Grund in der schöpfungstheologischen, hamartiologisch-soteriologischen und eschatologischen Differenz von Mensch und Gott. Sie ist einerseits im Begriff Gottes als von der Welt unterschiedenem Wesen impliziert und andererseits in der Erfahrung Gottes als Gott, die eine Transzendenz des Erfahrenen gegenüber der Erfahrung selbst impliziert. Die damit angesprochene erkenntnistheoretische Transzendenz des Erkenntnisgegenstands gegenüber dem Erkenntnisakt sowie dem Begriff gegenüber der sinnlichen Erfahrung ist aber noch nicht hinreichend, um die raumzeitliche Struktur von Gotteserfahrung zu charakterisieren. Weniger die Tatsache der Transzendenz des Erfahrenen vom Erfahrungsakt bestimmt die Gotteserfahrung im Unterschied zu gegenständlichen Erfahrungen – diese Differenz gilt grundsätzlich für alle Erfahrung mit der Struktur von „Erfahrung als etwas“ –, als vielmehr die Art und Weise der Immanenz des Erfahrenen in der Erfahrung. Gemeinsam mit anderen Erfahrungen der genannten Struktur handelt es sich bei Gotteserfahrungen um eine Identifikation des Erfahrenen mit dem, als was es erfahren wird, d.h. hier um eine Identifikation Gottes als Gott. Im Unterschied zu gegenständlichen Erfahrungen handelt es sich bei der Gotteserfahrung im Raum jedoch nicht um eine gegenständliche Identifikation. Gotteserfahrung ist nicht entsprechend der Identifikation von Einzeldingen zu verstehen, die P. Strawson als Wiedererkennen eines Objektes am Ort x zur Zeit t aufgrund seiner Bekanntheit am Ort y zu einer früheren Zeit tƍ < t beschrieben hat.2 Gotteserfahrung ist eine Identifikation Gottes in einer Erfahrung am Ort x zur Zeit t als Gott aufgrund seiner Offenbarkeit im Glauben. Gott wird, wenn er als Gott erfahren wird, im Raum, d.h. hier und jetzt, als der erfahren, der sich in Christus durch den Geist als Vater für mich erschlossen hat. Das Wo Gottes impliziert immer ein Wer und Wie. Dort, wo Gott erfahren wird, wird er in bestimmter, mich in spezifischer Weise bestreffend erfahren, so dass Gotteserfahrung eine identifizierende Relation meiner selbst auf Gott darstellt. Gotteserfahrung qualifiziert den Erfahrungsakt nach ————— 1 2

Grundsätzlich zum Problem der räumlichen Gotteserfahrung s.o. II.3.1. P. Strawson, Einzelding und logisches Subjekt (Individuals), 38–47.

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beiden Seiten. Gotteserfahrung ist einerseits eine mich einschließende, mich unbedingt angehende und mir nicht äußerlich bleibende Erfahrung und andererseits eine mich auf Gott selbst beziehende Erfahrung. Der gegenwärtige Gott ist in der Identifikation des christlichen Glaubens der dreieine Gott. Die Weltgegenwart Gottes ist christlich die Gegenwart des Gottes, der sich als Vaters im Sohn durch den Geist offenbart hat. Identifiziert wird Gott in realen Erfahrungen gelebten Lebens durch den Glauben. Der Glaube ist die Beziehung zum gegenwärtigen Gott, die Gotteserfahrung die konkrete Realisation und der Vollzug des Glaubens. Dieser Vollzug schließt bewusste und unbewusste Akte ein, er meint das Verhältnis des Lebensganzen auf Gott, das sich in konkreten Einzelakten konkretisiert, fortschreibt und erneuert. Zur Erfahrung Gottes in Raum und Zeit gehören daher verschiedene Dichten und Grade der Gegenwart Gottes, die von intensivster Nähe bis zu schmerzlicher Abwesenheit reichen und mit angespannter Aufmerksamkeit bis zu latenter Teilnahmslosigkeit verbunden sein kann. Immer ereignet sich Gegenwart Gottes, ob als An- oder als Abwesenheit, in Raum und Zeit vermittels der Erfahrungen gelebten Lebens. Raum und Zeit bilden also in gewissem Sinn das übergreifende Identifikationssystem von Gott und Mensch, insofern Raum und Zeit das Medium darstellen, in dem die Identifikation Gottes sich vollzieht. Der Raum ist das umgreifende Verbindungsglied, durch das der erfahrene Gott in eine reale Beziehung zum erfahrenden Menschen gesetzt wird. Die Erfahrung „Gott ist da“, meint: er ist hier und jetzt da, mitten im Leben, in der Welt, unter uns und um uns, bei, über, an und in mir. Es sind räumliche Relationen, in denen der erfahrene Gott zu mir steht und ich zu ihm. Der erfahrene Gott ist, wenn er hier und jetzt als gegenwärtig erfahren wird, auf das räumliche Hier und Jetzt bezogen. Es handelt sich nicht nur um eine christologischsoteriologische und eschatologische Relation des Glaubens auf Gott in Christus3, sondern auch um einen realräumlichen Bezug Gottes auf unsere RaumZeit-Welt. Denn die Relation auf Gott ist nicht nur darin raumzeitlich, dass die Erfahrung Gottes, durch die ich auf ihn bezogen bin, raumzeitlich ist, sondern auch dadurch, dass Gott sich in der Gotteserfahrung als er selbst zur Erfahrung bringt darin und damit sich selbst in Raum und Zeit gegenwärtig macht. Die Gegenwart Gottes ist Gegenwart im Raum. Dass ein geometrischer und/oder ein transzendentalphilosophischer Raumbegriff nicht zureichend ist, um diesen Zusammenhang zu beschreiben, versteht sich leicht. Der Raum als Inbegriff der Relation von Gegenständen oder als Anschauungsform gegenständlicher Erfahrung würde Gott als gegenständlich begreifen und könnte nur das Insistieren auf die Raumlo————— 3

Gegen I. Dalferth, s.o. II.1.5.

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sigkeit Gottes zur Folge haben.4 Dass der von uns vorgeschlagene Raumbegiff in der Lage ist, den Raumbezug Gottes und die Räumlichkeit von Gotteserfahrung angemessen, d.h. unter Berücksichtigung von Gottes (trinitarischer) Immanenz und Transzendenz, zu formulieren, muss noch gezeigt werden (8.4f.). Als theologisches Ausschließlichkeitskriterium der Angemessenheit des Raumbegriffs kann hier schon genannt werden, dass ein christlich-theologisch adäquater Raumbegriff die Raumgegenwart des dreieinen Gottes zur Sprache bringen können muss. Das ist mit weder mit einem geometrischen Raum- noch einem abstrakten Relationsbegriff möglich, so dass sich diese Raumbegriffe nicht nur erkenntnistheoretisch, sondern auch trinitätstheologisch als defizitär erweisen, weil hier immer nur Einzelnes im Verhältnis zu anderem Einzelnen lokalisiert wird.5 Die Raumgegenwart Gottes ist aber kein einstelliges Verhältnis von etwas zu etwas, sondern umgreift und übersteigt die Relation zu ihm noch einmal. Ebenso wie man sagen kann, dass der Raum das übergreifende Identifikationssystem darstellt, in dem Gott und Mensch aufeinander bezogen sind, so kann man auch sagen, dass Gott das übergreifende Identifikationssystem darstellt, in dem der Mensch in bestimmter Weise, nämlich in der Wahrnehmung des Glaubens, auf die Welt bezogen ist. Der glaubende, die Gegenwart Gottes erfahrende Mensch, ist in Gott auf Gott bezogen und zugleich in der Welt, in Raum und Zeit auf Gott bezogen. Inwiefern Gott als Raum der Welt bzw. die Welt als sein „Raum“ angesprochen werden kann, soll noch geprüft werden (8.3.). Hier ist vorab nur soviel zu sagen: Das Verhältnis von Gott und Raum ist in jedem Fall ein vielstelliges und kein einstelliges. Die Vielstelligkeit der Weltgegenwart Gottes spricht dagegen, Gott in ein einfaches Verhältnis des Gegenüber oder des Ineinander zu setzen. Das Raumverhältnis Gottes ist nicht das einfacher, quasi gegenständlicher, räumlicher Transzendenz oder Immanenz. 2. Kosmologische Transzendenz? Einer der Gründe, weshalb die Theologie der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts skeptisch gegen die Verbindung von Gott und Raum gewesen war, war der, dass wenn die Transzendenz Gottes als räumlich jenseitig vorgestellt wird, sie in Wahrheit verdiesseitigt wird, denn ein räumliches Jenseits gehört zur einen Welt, zu der es nach der Kosmologie des 19. und 20. Jahrhunderts kein Außen gibt, da sie nach Unendlichwerdung des Raumes wieder wie in der vorchristlichen Antike das All, das Universum darstellt. Um nicht in eine überholte Mythologie des räumlichen Dualismus von Diesseits und Jenseits zurückzufallen, wird die Transzendenz Gottes gerne ausschließlich auf die Zeit, genauer die ————— 4 5

So L.v.d. Brom, dagegen s.o. II.1.4. Gegen D. Evers, s.o. II.1.6.

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Zukunft, und nicht auf den Raum bezogen.6 Es scheint, als könne Gottes Transzendenz nur dann räumlich gedacht werden, wenn ihr ein mythologisches Raumverständnis zugewiesen wird, bei der „das Unweltliche, Göttliche als Weltliches, Menschliches, das Jenseitige als Diesseitiges erscheint, in der z.B. Gottes Jenseitigkeit als räumliche Ferne gedacht wird.“7 Dass sowohl das biblische und altorientalische mythische Raumdenken als auch die mittelalterliche Kosmologie die räumliche Jenseitigkeit Gottes sehr viel differenzierter und nicht nur als umfassendes Außen, sondern auch als die Welt von inner her, zentrisch und ungegenständlich durchdringend gedacht hatte, als Bultmanns Mythosdefinition zulässt, braucht kaum erwähnt zu werden. Das wurde implizit am biblischen Weltbild wie an der scholastischen Allgegenwartsvorstellung und Kosmologie gezeigt.8 Wenn Gott alternativ dazu in eine unvorstellbare Jenseitigkeit verwiesen wird, als der ganz Andere mit dem „unendlichen qualitativen Unterschied“9 verstanden wird, dann wird Gott mit der darin noch immer implizierten räumlichen Metaphorik des Außerhalb zum totaliter Aliter, zur gänzlichen Alterität, bei der jeder Bezug auf die Welt nur noch als unverfügbares Hinein-wirken, als supranaturales Ein-greifen aussprechbar ist. Kurz: Die ganz unräumlich verstandene und – angeblich – nur in metaphorischer Sprachform des Außerhalb benannte Transzendenz Gottes etabliert eine Souveränitäts-, Allmachts- und Herrschaftstheologie, die als Widerspruch zu einer sanften Theologie der Innerlichkeit, aber auch zu kirchlichen oder weltlichen Totalitätsansprüchen von Herrschaft gewiss ihr Recht hatte, die aber nicht mehr zu sagen vermag, wo und wie Gott innerweltlich anzutreffen ist. Die Transzendenz Gottes kann nur in Vermittlung mit der Immanenz ausgesagt werden. Der Transzendenz muss eine Immanenz entsprechen, und zwar nicht nur aus erkenntnistheoretischen Gründen oder weil ein Jenseits dem „modernen Menschen“ nicht mehr annehmenbar erscheint,10 sondern ————— 6 Vgl. die Einleitung.4. 7 R. Bultmann, Neues Testament und Mythologie, 22, Anm. 2; vgl. ders., Jesus Christus und die Mythologie, 18f: „Mythen geben der tranzendenten Wirklichkeit eine immanente weltliche Objektivität. Der Mythos objektiviert das Jenseitige zum Diesseitigen. […] Nach dem mythologischen Denken wohnt Gott im Himmel. […] Es wird auf eine grobe Art ausgedrückt, dass Gott außerhalb der Welt ist, dass er transzendent ist. Das Denken, das noch nicht die abstrakte Idee der Transzendenz ausdrücken kann, drückt seine Absicht in der Kategorie des Raumes aus; man stellt sich den transzendenten Gott vor als räumlich sehr weit entfernt, weit über der Welt.“ 8 Vgl. oben I.1.3/II.7.2. 9 K. Barth, Der Römerbrief, Vorwort zur 2. Aufl., XX; vgl. den Tambacher Vortrag von 1920, Der Christ in der Gesellschaft, wo das „über uns“, „hinter uns“, „jenseits uns“ Gottes gegen das „in uns“ (4) zur Geltung gebracht wird: „Nein nein, antworten wir, geht uns, ihr Psychiker, mit eurem Innseits! Apage Satanas! Jenseits, trans, darum gerade handelt es sich, davon leben wir“ (34). 10 Noch einmal R. Bultmann, Der Gottesgedanke und der moderne Mensch, 116: „Nur der Gottesgedanke, der im Bedingten das Unbedingte, im Diesseitigen das Jenseitige, im Gegenwärtigen das Transzendente finden, suchen und finden kann, als Möglichkeit der Begegnung, ist für den modernen Menschen möglich.“

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weil es sich nicht um die Wirklichkeit Gottes handelt, wenn seine Transzendenz nicht durch die Immanenz vermittelt ist. Die Welttranszendenz des dreieinen Gottes ist auch, insofern Gott Schöpfer und Herr über Raum und Zeit ist, sich beständig in den Akten der Schöpfung von Raum und Zeit in und durch Raum und Zeit ereignend zu denken. Der trinitarische Gott vermittelt sich selbst mit der raumzeitlichen Welt, geht in sie ein, ohne mit ihr identisch zu sein. Die Transzendenz Gottes hat ihr Ubi, hier zunächst thetisch gesagt, weder in einem extramundanen noch in gar keinem Raum, sondern intramundan im Weltinnenraum. Gott ist in der Welt von der Welt unterschieden – „Gott ist mitten in unserem Leben jenseitig“, formulierte programmatisch D. Bonhoeffer gegen den supranaturalen „Deus ex machina“11 – und zugleich in der Welt auf die Welt bezogen. J. Moltmann hat zu Recht seine Schöpfungslehre trinitarisch angelegt und vom in die Schöpfung eingehenden, einwohnenden und teilnehmenden Gott gesprochen, um Gottes Präsenz in der Welt zur Geltung zu bringen.12 Die Immanenz Gottes in der Welt ist aber keine Alternative zu seiner Transzendenz. Dazu ist anzugeben, wo und wie Gott in der Welt anzutreffen ist, so dass er als der in die Welt eingehende, aber nicht in ihr aufgehende gedacht werden kann. Die augustinische Figur des „ubique totus et nusquam locorum“ (I.3.3f) muss in neuer Weise, in der Sprachform unseres Raumdenkens und trinitarisch eingeholt ausgesagt werden. Die dialektische Raumlosigkeit der Allgegenwart Gottes, wie sie in der scholastischen Theologie und in der mathematischen Mystik formuliert wurde (I.1./3./5.), muss in die dialektische Raumbezogenheit der Gegenwart Gottes transformiert werden. Dazu ist nicht von der apriorischen Allgegenwart auszugehen, also nicht von Gottes alles umfassender und durchdringender Unendlichkeit her ————— 11 D. Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung, Neuausgabe 307f = Werke 8, 407f; besonders J. Robinson, Gott ist anders, 54, hat Gottes Transzendenz, sich auf Bultmann, Bonhoeffer und Tillich beziehend, statt „über“ nun „in“ der Welt lokalisieren wollen und als „Tiefe des Seins“ verstanden. Er hat diese, Tillich unterbietend, aber nur einstellig relationiert und darum die einfache Über-Transzendenz durch die einfache Tiefen-Immanenz ersetzt („Wir brauchen das Wort ‚Gott‘, weil unser Sein Tiefen hat […] Gott ist ihre Tiefe“, 61.67), während bei Tillich Gott als (unendlicher!) Tiefen-Grund und Abgrund die Differenz und Einheit von Gottes Welt-Immanenz und Transzendenz noch einmal dialektisch umgreift (zur Kritik an Robinson vgl. auch W.-D. Marsch, Gott in der Tiefe, sowie Mildenberger, Gotteslehre, 155). Auch in Teilen der sich ebenfalls auf Bonhoeffer und Tillich berufenden feministischen Theologie besteht die Tendenz, Gottes Transzendenz durch Immanenz einfach zu ersetzen, z.B. D. Sölle, Gott denken, 63: „Wir sehen die Transzendenz in der Immanenz“ (hierzu vgl. C. Clausen, Schöpferische Interdependenzen, 122f, zu S. McFague s.u. II.8.4.1.). 12 Moltmann, Gott in der Schöpfung, 28f; leider wird die Präsenz Gottes in der Welt als Alternative zur Unterscheidung von Gott und Welt begriffen (27) und die Welttranszendenz durch die Weltimmanenz Gottes ersetzt, zumal er, wie II.4.3.2. gesehen, die Immanenz als identisch mit der Selbsttranszendenz der Welt versteht (26).

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sein Bezug auf den endlichen Raum zu formulieren, sondern umgekehrt vom erfahrenen Ort seiner Gegenwart aus Nähe und Abstand, Zuordnung und Unterscheidung von Gott und Welt zum Ausdruck zu bringen. Die metaphysische illokale Adessenz Gottes muss durch seine konkrete Zuwendung am konkreten Ort ersetzt werden, die „potentia illocaliter adessendi omnibus omnino ubi“13 durch die „potentia localiter adessendi concreto ubi“. Gottes Adessenz bewirkt ein „ubi concretum“, ein verdichtetes Wo.14 Wäre Gott überall in derselben raumlosen Weise gegenwärtig, so bedeutete dieses „überall“ nicht viel mehr als ein „nirgends“. „Denn die Nähe leibhafter Zuwendung braucht mehr als die gedachte raumlose Gegenwart Gottes. […] Wie der Ablauf der Zeit unerbrochen wird, wenn Gottes Zeit da ist, der Sabbat, das Fest, so wird auch die Kontinuität des Raumes unterbrochen, wo Gottes Ort da ist, seine besondere Nähe.“15 3. Biblische Transzendenz und Adessenz: Dieser Weg der Erschließung der Zuordnung und Unterscheidung von Gott und Welt vom konkreten, endlichen Ort aus entspricht der biblischen Raumtheologie, welche die Präsenz Gottes am erwählten Ort mit seiner Raumtranszendenz in Bezug auf eben diesen Ort verband. Wie die Bethel-Offenbarung (Gen 28,16) ebenso wie die Dornbuschszene (Ex 3,3–6), die Sinaitheophanie (Ex 24,17), die Offenbarung vor Mose (Ex 33,23) oder die Berufungsvision Jesajas (Jes 6,5) deutlich machen, ist die zugewandte Nähe Gottes am Ort immer auch bedrohlich oder mit einem Entzug Gottes an eben diesem Ort verbunden.16 Wenn schon die Himmel der Himmel Gott nicht fassen (1.Kö 8,27), dann erst recht nicht der einzelne Ort. Gottes Kommen an den Ort der Begegnung bzw. sein Wohnen am erwählten Ort, der in der Spätzeit des Alten Testaments geschichtlich universalisiert wird auf die Einwohnung Gottes unter seinem Volk an allen dessen Orten17 und im Neuen Testament erst auf die schechina im fleischgewordenen Gottessohn konzentriert (Joh 1,14) und dann auf die völkerumspannende, aber jeweils an die Geistträger (die „Zeugen“) gebundene Geistgegenwart universalisiert wird (Act 1,8), korrespon————— 13 Hollaz, Examen theologicum acroamaticum, p.I, c.I., qu.30, Bd. 1, 355. 14 Concretus ist part. perf. pass. zu concresco, zusammenwachsen, sich verdichten. 15 Mildenberger, Biblische Dogmatik, Bd. 2, 221. 16 Die Rabbinen haben auf diese Stellen den Gottesnamen maqom für den in seiner Verborgenheit anwesenden Gott bezogen, hierzu vgl. M. Frettlöh, Der trinitarische Gott als Raum der Welt. Zur Bedeutung des rabbinischen Gottesnamens maqom für eine topologische Lehre von der immanenten Trinität, 209–216, sowie unten II.8.3.1. 17 Vorexilisch wird die Einwohnung Jahwe Zebaoths auf dem Zion thematisiert (1.Kö 8,12f; Jes 8,18; Ps 74,2), die exilisch-nachexilisch auf das Wohnen in der Mitte des Volkes demokratisiert (Ez 43,7; Ex 25,8; Sach 2,14f) bzw. unter allen Völkern und in der Schöpfung universalisiert wird (Sir 24,11.13; Prov 8,31); zur Schechina-Theologie vgl. B. Janowski, „Ich will in eurer Mitte wohnen“. Struktur und Genese der exilischen Schechina-Theologie.

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diert jeweils einer Raumtranszendenz. Der am Ort anwesende Gott wird vom Ort nicht umschlossen oder begrenzt, sondern Gott entschränkt sich selbst auf seine Anwesenheit am Ort. Die schechina meint Gottes „sichtbare oder auch verborgene Anwesenheit an einem Platz, seine Gegenwart“18. Die schechina ist der gegenwärtige Gott selbst, aber nicht seine unumschränktuniversale Allgegenwart, „sondern eine spezielle, gewollte und verheißene Anwesenheit Gottes in der Welt. Sie ist Gott selbst, an einem bestimmten Ort zu bestimmter Zeit anwesend. […] Ist die schechina die irdische, zeitliche und räumliche Gegenwart Gottes, dann ist sie mit Gott zugleich identisch und von ihm unterschieden.“19 Die Raumtranszendenz Gottes besteht in seiner nicht erwartbaren Nähe, die das Maß des Allgemeinen sprengt. Seine Nähe am besonderen Ort ist dichter, als der Mensch ertragen und der Raum fassen kann. Der Gott, der Himmel und Erde erfüllt, ist näher, als man erwarten kann und zugleich ferner als man hoffen will (Jer 23,23f). Gleichwohl will Gott sich so, am Ort konkreter Nähe finden lassen (Jer 29,13f). Auf die Frage „Wo ist Gott zu finden?“ lassen sich so viele Antworten geben, wie es Orte der Nähe Gottes gibt. Das biblische Zeugnis jedenfalls, so ist mit F. Mildenberger festzuhalten, „weist den Menschen nicht in seine Innerlichkeit, in Denken oder Gefühl, um ihm da den Ort Gottes zu zeigen. So wenig Denken oder Gefühl einfach ausgeschaltet sind: Gottes Ort ist nun doch gerade draußen zu finden. Leibhaft kann sich der Mensch diesem Ort zuwenden, kann da hingehen. Und zugleich begleitet Gott selbst dieses Gehen. […] Aber gerade so ist Gott hier, ist seine Nähe zu suchen und zu finden.“20 4. Die mehrfache Aufgabe der Verschränkung von Immanenz und Transzendenz: Vor dem Hintergrund der erkenntnistheoretischen, kosmologischen und biblischen Erkenntnis, dass die Gegenwart Gottes als dialektische Verschränkung von Immanenz und Transzendenz am konkreten Ort zu denken ist, kann nun die Aufgabe angegangen werden, die verschiedenen Weisen der Gegenwart Gottes im Raum zu unterscheiden und einen entsprechenden Raumbegriff auszuarbeiten. Dazu ist als gliederndes Schema die Begriffsunterscheidung der scholastisch-altprotestantischen Gotteslehre hilfreich. Die Tradition kannte drei Weisen der Verschränkung von Immanenz und Transzendenz Gottes in Bezug auf den Ort, nämlich seine Anwesenheit per essentiam, per potentiam und per praesentiam (s.o. I.1.2). Deren vor dem ————— 18 G. Scholem, Schechina; das passiv-weibliche Moment in der Gottheit, in: Von der mystischen Gestalt der Gottheit, 143. 19 J. Moltmann, Der Geist des Lebens, 61. 20 Mildenberger, Biblische Dogmatik, Bd. 2, 235.

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heutigen Raumdenken verantworteten Transformationen gilt es im Folgenden aufzusuchen, allerdings ist nicht von den apriorischen Eigenschaften Gottes auf die Weise seiner Anwesenheit zu schließen, sondern von der Erfahrung der Gegenwart Gottes auf die darin implizierte Weise der Vermittlung von Immanenz und Transzendenz. Die Adessenz per essentiam entspricht bei einem phänomenologischen Zugang der lebensweltlich und schöpfungstheologisch erschlossenen Gegenwart Gottes als ungegenständlichem Grund und Horizont von Welt und gelebtem Leben (8.2). Es handelt sich um eine unthematische Gegenwart, die den stärksten Grad von Universalität, aber auch den niedrigsten Grad von Konkretheit hat. Die Weltimmanenz Gottes ist seine unthematische Allgegenwart unter allem und in allem, was ist, insofern er Schöpfer von allem ist. Diese Allgegenwart erscheint als Erschlossene als fundamentaler, jedoch am konkreten Ort anhaftender Grund der Welt und des Lebens. Schöpfer ist Gott überall, aber Schöpfung ist die Welt dort, wo man sich als Geschöpf versteht, also als konkreten Ort der schöpferischen Gegenwart Gottes. Der Anwesenheit per potentiam entspricht die praesentia operosa, die wirksam-schöpferische Anwesenheit Gottes im Raum kraft der Zeit (II.4.), welche ihre trinitätstheologische Verifikation in der Inkarnation und Schöpfungsmittlerschaft Christi hat als dem Eingehen Gottes ins Endliche, also der Selbstvermittlung des Unendlichen durch und in das Endliche (8.4). Hier ist noch zu thematisieren, was die Schöpfungsmittlerschaft Jesu Christi für die Anwesenheit Gottes in der Welt bedeutet. Der Anwesenheit per praesentiam schließlich entspricht die pneumatologische Anwesenheit Gottes im Raum der Schöpfung. Es ist der erscheinende und sich in den Räumen zusagende Gott, der hier zur Sprache kommt (8.3/8.6). Mit der Unterscheidung dieser drei Aspekte ist natürlich keine Aufteilung der göttlichen Personen gemeint – die konkrete Gegenwart ist die ungeteilte trinitarische Gegenwart des Vaters im Sohn durch den Geist –, aber es ist gegen die tendenziell metaphysisch-theistische Durchführung der Allgegenwartslehre der Tradition statt des überall einen und identisch gleichen opus ad extra die Diversität der Anwesenheit Gottes betont. Die Unterscheidung von drei Weisen, wie sich Gott in der Schöpfung finden lässt, sprengt die Alternative von Theismus und Pantheismus. Immanenz und Transzendenz sind jeweils miteinander vermittelt. Der trinitarische, sich von sich selbst unterscheidende Gott, hat ein mehrstelliges Verhältnis in der Welt zu der Welt. Ein einstelliges Verhältnis von Gott „über“ oder „in“ der Welt ist nicht zureichend, eine paradoxe Figur des unspezifizierten Sowohl-als-auch („in-über“, „ubique et nusquam“) reduziert den trinitarischen auf den metaphysischen Gott. Gottes immanent-transzendente Adessenz ist biblisch-christlich nicht immer und überall identisch ein und dieselbe. Die Anwesenheit des trinitarischen Gottes in der Welt ist vielstellig und vielgestaltig. Das Verhältnis des Schöpfers

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zur Welt ist nicht eine identische eins-zu-eins-Relation, sondern eine vielgestaltige „dreieins“-zu-viele-Relation. Der dreieine Gott ist auf die Schöpfung als dem Raum des endlichen Vielen bezogen (8.4–5).

8.2 Gott als Grund und Horizont des offenen Raums 1. Gott als Grund: In unseren metaphysischen Überlegungen zur Schöpfung (II.6.6.) haben wir Gott als den unendlichen Grund der endlichen Welt bestimmt. Diese Verhältnisbestimmung bringt sowohl die Transzendenz als auch die Immanenz Gottes zum Ausdruck, verbleibt aber in der logischen Relationierung eines abstrakten Verhältnisses. Vom trinitarischen Gottesgedanken her entfaltet, steht der Schöpfer nicht nur im logischen Verhältnis zur Welt, sondern in einem mehrstelligen realräumlichen Verhältnis. Der Schöpfer verhält sich so zur Welt, dass er als Schöpfer in die Welt eingeht und sie von innen heraus, an ihrem eigenen Ort schafft, erhält, bewahrt und erneuert. In die Relationierung des metaphysischen Theismus eingezeichnet, heißt dies: Gott verhält sich als Schöpfer zur Welt wie das im vielen Endlichen sich entfaltende Unendliche zum Endlichen, wie das im vielen Kontingenten sich offenbarende Notwendige zum Kontingenten. Die Schöpfung ist selbst aktiv und hervorbringend und so auf den Schöpfer bezogen. Die Geschöpfe sind in den Schöpfungsvorgang eingebettet, daran beteiligt21. Der Schöpfer kann theologisch als in der schöpferischen Welt präsenter schöpferisch-bleibender Grund sowie phänomenologisch als Raum und Horizont, als Woher und Worin der Welt angesprochen werden. In welchem Sinn, soll im Folgenden geklärt werden. Das logische Verhältnis Gottes als unendlicher Grund der endlichen Welt wäre sowohl mit einem runden, neuplatonischen oder scholastischen Kugelkosmos als auch mit einem flachen, unendlichen Raum des Universums verträglich. Welches realräumliche Verhältnis aber ergibt sich, wenn in den endlich-geschlossenen kosmologischen Kosmos von der Lebenswelt her der gelebte Raum eingeschrieben und jener von diesem her erschlossen wird (II.6.)? Wenn der Raum nicht mehr zentrisch als die eine, in sich stabile Kugel verstanden werden kann (I.2.–5.), dann ist Gott auch nicht als das All-Ganze im Kugel-Kosmos repräsentiert, und wenn der Raum nicht mehr als unendliches Absolutum verstanden werden kann (I.6./8.), dann ist nicht der Welt-Raum als solcher und ganzer Träger der Allgegenwart Gottes. Was bedeutet es, wenn vom gelebten Raum her Gott als Grund des Welt-Raums und des Lebens symbolisiert wird? ————— 21 In Bezug auf Gen 1 zeigt dies M. Welker, was impliziert, dass der Schöpfer sowohl aktiv wie reaktiv und die Geschöpfe sowohl hervorgebracht als auch eigenaktiv am Schöpfungsvorgang beteiligt sind (Schöpfung und Wirklichkeit, 19–25).

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Das menschliche Dasein, so haben wir in Kap. II.2.2 ausgeführt, ist kraft der Elementarorientierung des gelebten Raumes verankert im Raum. „Das Dasein des Menschen im Raum ist wesentlich Verankertsein.“22 Geschöpfliches Dasein, das sich auf Gott als den Grund des Geschöpf-Seins gründet, heißt von daher: Grund haben, verankert sein im Raum, einen stabilen Ort haben. Das Gegründet-Sein wird konkret im Hier-Sein, im DaSein und im Anwesend-Sein für sich selbst und für anderes. Der geschöpfliche Grund ist damit ein mehrstelliger Relationsbegriff, ein Relationen heraussetzendes Relat. Der Grund ermöglicht, von etwas her auf etwas hin zu sein, und zwar in mehrfacher Hinsicht: auf ein Hier, auf sich selbst und auf anderes bezogen sein zu können. Der Grund ermöglicht Präsenz am Hier, für sich und für andere, ermöglicht ein Selbst zu sein, ganz da zu sein, für andere zu sein und all dies überhaupt sein können und zu dürfen. Der Grund selbst ist ungegenständlich, er läuft immer mit, trägt unausdrücklich. Diese Ungegenständlichkeit impliziert die Unvordenklichkeit des Grundes: Ich habe mich nicht selbst gesetzt, mein Fundament nicht selbst gebaut, sondern finde mich vor auf einem guten Grund. Der Grund allerdings, für sich als unergründlicher Grund in der Blick genommen, ist ambivalent. Er ist so unfassbar wie undurchdringbar. Man weiß nicht mit Sicherheit, ob er für immer trägt, ob er auf stabilem Felsen oder auf labilem Sand aufruht. Der Grund an sich ist zweideutig, er schwimmt zwischen Grund und Abgrund. Das zeigen die besprochenen Tiefen-Schwindel und Fall-Irritationen (II.2.2.4.). Erst wenn der Grund schöpfungstheologisch konnotiert wird, wenn er sich als verlässlicher Grund erweist, indem sich der unergründliche Vater des Alls als der Vater Jesu Christi vertrauenswürdig zusagt, erst dann ist die Ambivalenz ausgeräumt. Man muss sich verlassen können auf den Grund, dass er trägt, auch und trotz der Ambivalenz der Erfahrungen und der Zweifel, ob er trägt. Der Grund wird eindeutig in der Zusage der Verlässlichkeit und Vertrauenswürdigkeit, in der un-bedingten Güte zugesagten Leben-dürfens. In der Selbstzusage des Schöpfers ist der Lebens-Grund ein verlässlicher, ein mich samt aller Kreatur tragend gründender Grund. Selbst-sein, So-sein und Da-sein können resultiert aus verlässlichem Gegründet-sein. Das Sein von einem Grund her erlaubt das Existieren als So-sein und als Da-sein, als Hier-und-jetzt-zu-sein: es ist hier und jetzt gut so, wie es ist. Der Grund erschließt sich so als guter Grund, als tragend. Verlässlich ist der unergründliche Grund als „bleibender Anfang“ (II.5.5), als „personaler“, mich als Person gründender und sich darin als er selbst zusagender Grund: „Ich will mit dir sein, dich bewahren, halten, tragen, wie ich dich getragen habe von Mutterleib an“ (vgl. Jes 41,10; 44,2 usw.). Und um sich in der Welt orientieren zu können, muss man erstens ————— 22

W. Gölz, Dasein und Raum, 212.

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selbst gegründet sein und muss man zweitens die Welt als verlässlich gegründet ansehen. Nur wenn die Welt verlässlich gegründet ist, kann man selbst begründet, nach Gründen handeln, sich orientieren und entfalten, Häuser aller Art konstruieren und erbauen, kurz: leben. Der gelebte Raum mit seiner Elementarorientierung bildet das Fundament des Daseins. Er symbolisiert nicht nur in einem äußerlich metaphorischen Sinn, sondern ihm immanent den als verlässlich gründenden Grund anwesenden Schöpfer, wenn auch ungegenständlich. Die schöpferische Gegenwart Gottes ist die Bedingung der Möglichkeit von endlichem und lebensfähigem Dasein, jedoch nicht nur in einem logischen, sondern in realräumlichen, durch den gelebten Raum vermittelten Sinn. Gott als Grund ist ein verlässlicher Grund, weil er sich in seiner Selbsterschließung in Christus als der Güte zugesagten Lebens, als der letzte Grund erweist, der nicht noch auf einem anderen Grund aufruht, sondern sich selbst trägt. Sich selbst trägt der trinitarische Gott allerdings nicht deshalb, weil er immer identisch mit sich ist, sondern weil er in sich so ist, wie er sich zusagt, so dass das, was ist, so sein darf und soll, wie und was es von ihm her ist: gut gegründetes Leben, gewährt vom Vater durch den Sohn im Geist. Der Grund des Endlichen ist damit ein das Endliche untermauernder und zusammenhaltender Grund. Es ist ein absolut-unendlicher Grund (II.5.6), der als zugesagter Grund verheißt, dass die zugesagte Welt als Ganze und im Einzelnen stabil ist, so dass jeder Punkt des den Geschöpfen zugewiesenen Lebensraumes als verlässlicher Ankerpunkt fungieren kann. Die ungegenständliche Anwesenheit des Schöpfers als Grund äußert sich in durchgehender Verlässlichkeit an jedem einzelnen Punkt und Bereich geschöpflichen Daseins, so dass die Lehre von der wesentlichen Allgegenwart Gottes nicht obsolet ist, sondern eingezeichnet und vermittelt ist in das je konkrete Fundament des Daseins und der Existenz. Dass die Welt Schöpfung ist, heißt, dass sie durchgängig in und durch Gottes Gegenwart existiert. Um so von der Welt als Schöpfung reden zu können, muss man aber sich selbst als Geschöpf verstehen. Damit begreift man sich als exemplarischen Ort solcher Gegenwart Gottes. Gegen eine unspezifiziert flächige Allanwesenheit ist aber auch zu sagen: Mit dem Grund ist eine Ordnung der Lebensräume gesetzt. Die Grundorientierung lässt nicht beliebige Luftorientierungen und Scheinfundamente als verlässliche zu. Der zugesagte, geschaffene Raum der Geschöpfe ist kein homogener Raum der Identität aller Punkte, sondern inhomogen. Nicht jeder Ort, nicht jedes Ereignis, nicht jede Beziehung dient in gleichem Maße als Fundament des Existenz. Orte und Räume sind als lebensermöglichende und lebensförderliche spezifiziert nach den Orten, den Lebenszu-

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sammenhängen, den Arten und der Verschiedenheit der Geschöpfe. Der von Gott, in Gott und auf Gott gegründete Raum ist ein ökologischer Raum, der in Gen 1 als Haus (oiökow) vorgestellt wird, das in Lebensräume unterteilt ist, dem die verschiedenen Lebewesen zugewiesen sind.23 Das Haus und nicht der überall identische Kugelkosmos repräsentiert den von Gott zur Verfügung gestellten Raum, v.a. aber nicht der endlose, unbegrenzte kosmische Raum. Der Raum zum Leben ist ein begrenzter, weil von den Räumen anderer begrenzter, aber damit auch umschlossener, beschützter und geschützter Raum. Der Raum ist für Viele da, jeder hat seinen Raum. Der biblische Raumbegriff ist, wie Moltmann zutreffend formuliert, ein ökologischer Raumbegriff, welcher dem kairologischen Zeitbegriff entspricht.24 2. Gott als Horizont: Der ökologische Raum ist begrenzt, aber nicht einund abgegrenzt. Insbesondere der Mensch ist auch biblisch ein weltoffenes Wesen, das zur Gemeinschaft mit den Mitgeschöpfen bestimmt ist. Sein Raum ist erweiterbar, sofern er nicht den Raum der anderen besetzt. Der geschaffene und zugesagte Raum hat einen Spielraum, er ist Spielraum, freier Raum um den Menschen herum. Spielraum haben bedeutet, Bewegungsfreiheit haben, offenen Raum zur Verfügung zu haben. Der Spielraum steht für den dynamischen, zeitlichen Aspekt des gelebten Raumes.25 Das Dort ist im Unterschied zum Hier nicht nur räumliches, sondern auch zeitliches Phänomen. Es steht für den erreichbaren, noch nicht durchschrittenen Raum. Die Grenze des möglichen Dort ist markiert durch den Horizont. Er ist die umfassende Grenze des Spielraums. Der Horizont schließt den Bewegungsraum zusammen, aber auch auf. Der Spielraum hat einen Horizont, der erweiterbar ist. Der Horizont steht für die ungegenständliche, immer vorhandene, aber durchlässige und erweiterbare Umgrenzung. Der Horizont bildet eine Art verschiebbarer Hülle. Der Horizont steht für die zur Verfügung gestellten Möglichkeiten, für den Raum, der erschlossen werden kann und darf und für das, was in den eigenen Raum des Gesichtsfeldes eintreten und erscheinen kann (II.2.2.3./2.6.2.). ————— 23 Vgl. die inzwischen durchweg akzeptierte Analyse von Gen 1 durch O.H. Steck, Der Schöpfungsbericht der Priesterschrift, welcher die Erschaffung der Lebewesen am 4.–6. Schöpfungstag den am 1.–3. Tag erschaffenen Lebensbereichen zuordnet (199–223, bes. 206.211). 24 Moltmann, Gott in der Schöpfung, 155; ders., Wissenschaft und Weisheit, 133; ders., Das Kommen Gottes, 329; vgl. schon H. Dembowski, Ansatz und Umrisse einer Theologie der Natur, 47: „Theologie der Natur lässt sich als ein Moment einer umfassenden theologischen Ökologie verstehen, die von Gott her das Haus der Welt als Haus des Menschen zur Sprache bringt.“ Den „Raum zum Leben“ bedenkt in Weiterführung der Rezeption Moltmanns durch D. Ritschl I. Schoberth, „Du stellst meine Füße auf weiten Raum“ – Raummetaphern und leibhaftiges Leben. 25 Vgl. Gölz, Dasein und Raum, 217–221.

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Gott als Horizont des menschlichen Lebens bildet den Inbegriff der Möglichkeiten. Er steht für die Bedingung der Möglichkeit des Erscheinens von etwas für mich bzw. für jemand. Der Horizont steht für die zugesagten Möglichkeiten, dass das, was erscheint, mir zugute kommt. Gott als Horizont steht dafür, dass nicht alles denkbar Mögliche, v.a. nicht das Schreckliche schlechthin in meinen Lebensraum tritt, sondern nur das, was Leben ermöglicht und fördert, manchmal schmerzlich in langwierigen Prozessen der Annahme und Integration. Der Horizont als solcher ist wie der Grund ambivalent. Als Schutzhülle ist er extrem labil und verletzlich. Der Horizont steht für die Unbestimmtheit und Unergründlichkeit der Raumtiefe nach hinten, für die Ambivalenz des Tiefenraums zwischen verschlingendem Nichts und sinnerschließender Tiefe (II.2.5). Der Horizont ist das Medium des Unergründlichen, der hervortreten lässt und verbirgt. Niemand weiß, was einen dahinter erwartet. Erst als zugesagter Horizont ist er das summa summarum (vgl. Röm 8,28) positive Worin des Lebens, der Raum der konstruktiven Möglichkeiten, des kreativen Spielraums, welcher das Leben vertieft, erweitert, erneuert durch all das, was vom Horizont her erscheint und in Kommunikation zu meinem bisherigen Leben tritt. Steht der Grund für die bleibend-tragende Anwesenheit Gottes als uranfänglich-erhaltender Schöpfer, so steht der Horizont für seine eschatologische Anwesenheit als evolutiv-erneuernder Kreator. Der Weltbegriff, der Gott als Horizont entspricht, ist ein offener Weltbegriff. Die naturphilosophische Analyse des offenen Weltbegriffs wurde schon vorgelegt (II.4.5). Es ist der offene Raum kraft der offenen Zeit, in dem Gott von der Zukunft her wirksam gegenwärtig wird, indem er als Macht der Zukunft Raum und Möglichkeiten schafft, in und durch die Welt-Zeit und den Welt-Raum Lebensraum eröffnet. Philosophisch und theologisch abgewehrt ist damit ein geschlossener, positivistischer Weltbegriff. 3. Geschlossener Weltbegriff: Der Positivismus bestimmt die Welt als den abgeschlossenen Raum der Tatsachen. „Die Welt ist alles, was der Fall ist“, definiert L. Wittgenstein: Welt ist die „Gesamtheit der Tatsachen“ oder „der bestehenden Sachverhalte“26. Wirklich ist so alles, was als Sachverhalt oder Tatsache angesprochen werden kann, d.h. alles, worüber man eine Existenzaussage treffen kann. Der Fall ist etwas – ein Gegenstand oder ein Ereignis – dann, wenn es tatsächlich existiert. Aussagen über die Welt sind folglich genau dann und nur dann wahr, wenn der benannte Sachverhalt tatsächlich der Fall ist. Es gilt das Tarskische Wahrheitskriterium: Die Aussage „p“ ist wahr genau dann und nur dann, wenn p gilt.27 Welt als die Menge der Tatsachen ist äquivalent zur Menge der wahren Aussagen. Welt ist die Summe dessen, was es gibt, was vorkommt und als solches ausgesagt werden kann.

————— 26 27

L. Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, Sätze 1; 1.1; 2.04. A. Tarski, Der Wahrheitsbegriff in den formalisierten Sprachen, 268.

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Im posivistischen Sinn definiert W. Härle den Weltbegriff der christlichen Dogmatik: Welt ist die „Totalität dessen, was ‚es gibt‘ und was ‚vorkommt‘.“28 Dazu gehören nicht nur die realen Gegenstände und Ereignisse, sondern auch die Gedanken und Vorstellungen, jedenfalls alles, was in Natur, Geschichte und Bewusstsein vorkommt, alles, worüber Existenzaussagen gemacht werden können, also die Propositionen ‚es gibt‘ und ‚es kommt vor‘ angewandt werden können. Härle hält diesen Weltbegriff für zureichend, weil er die Unterscheidung von Gott und Welt insofern gewährleistet, als Gott nicht zu dem, was ‚es gibt‘ und was ‚vorkommt‘ gerechnet werden kann. Aber der Umkehrschluss, dass wenn Gott nicht zu dem gehört, was es gibt und was vorkommt, alles Weltliche dadurch definiert sei, dass es ‚es gibt‘, ist problematisch. Zur Welt gehörte dann nur dasjenige, was als Tatsache identifizierbar ist, also alles, worauf die Aussage ‚es gibt‘ angewandt werden kann. Es gibt aber eine Vielzahl von ‚Dingen‘, die keine deiktische Existenz führen, auf die nicht gezeigt werden kann. Dazu gehören alle ‚Gegenstände‘ der unthematischen Wahrnehmung, wie z.B. Atmosphären29 oder Horizonte30, die nur als Umfeld, In-Feld oder Rand der Wahrnehmung und Erfahrung auftauchen und nicht abgesehen von dieser, für sich vergegenständlicht werden können. Der positivistische Weltbegriff, in dem das empiristische Sinnkriterium gilt, das nur Beobachtungs- oder Protokollsätze zulässt,31 ist als Weltbegriff zu eng, weil in ihm nicht nur Gott, sondern auch Nichtgegenständliches nicht vorkommen kann. Der empiristisch-positivistische Weltbegriff hat seine Stärke darin, dass unter „Welt“ die wirkliche Welt, d.h. die tatsächliche, unsere Welt im Unterschied zu bloß möglichen Welten verstanden wird.32 Er ist aber unzureichend, weil nicht nur das Faktische und das erwartbar Mögliche, also das gegenständlich-deiktisch Bezeichenbare und Identitizierbare, sondern auch die offenen Möglichkeiten und das Ungegenständliche zu den bedeutsamen Wirklichkeiten unseres Lebens gehören. Mein Leben bestimmt nicht nur das, was ich beobachten, wissen oder sagen kann. Die Lebendigkeit des Lebens besteht gerade in der Realisierung der unausdenkbaren, unvordenklichen und unableitbaren Möglichkeiten aus der offenen, unentschiedenen Zukunft. Der positivistische Weltbegriff schließt die Welt ab auf das Faktische und – höchstens – das erwartbare Mögliche. In dieser Welt gibt es nur Umordnung, aber nichts wirklich Neues. Schöpfung und Evolution sind ausgeschlossen!

4. Der offene Weltbegriff hingegen begreift das Mögliche als Teil der (offenen) Welt und bezieht das Wirkliche auf das Mögliche, indem es das Fakti————— 28 Härle, Dogmatik, 215. 29 Wir erinnern (s.o. II.3.3) an H. Schmitz Bezeichnung der Atmosphären als „Halbdinge“, da sie zwar nicht gegenständlich objektivierbar sind, aber dennoch sachhaltig-objektiv, nämlich phänomenologisch beschreiben werden können. 30 „Der Horizont ist nichts, was man unabhängig vom Menschen einfach vorfinden könnte. Er ist kein Ding in der Welt. Er ist ‚irreal‘. Aber er ist deswegen auch wiederum nichts, was nur im menschlichen Geist bestünde, als etwas bloß Vorgestelltes, sondern er gehört notwendig zur Welt“ (Bollnow, Mensch und Raum, 76). 31 Vgl. R. Carnap, Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache. 32 Vgl. F. Kutschera, Erkenntnistheorie, 161.

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sche vom Möglichen her versteht und als Möglichkeit des Wirklichen begreift. Gott ist, auf diese, offene Welt bezogen, als Inbegriff des Möglichen, als „die Wirklichkeit des Möglichen“33 bestimmt. In der offenen Welt ist Gott, die Wirklichkeit des Möglichen, in mindestens doppelter Weise präsent: a) In der offenen Zukunft als der Grund der Zeit und der offenen Möglichkeiten und b) räumlich im Innen der Welt als Ermöglichungsgrund dessen, was aufscheinen und werden kann, sozusagen als Innenhorizont der Welt, als ihr Möglichkeitshorizont von innen heraus. Als inneres Innen der Welt ist Gott an jedem Punkt des Weltraums präsent als der ungegenständliche Horizont, aus dem Mögliches auftaucht und wird sowie als der tragende Grund, auf dem Werdendes aufruht. Die Möglichkeiten Gottes sind sozusagen eingefaltet in die Möglichkeiten der Welt: Die Treue Gottes, seine Erhaltungsgegenwart (per essentiam) will, dass das, was wird, Weltliches ist, dass weltliches Werden aus den weltlichen Möglichkeiten schöpft, weil diese vom schöpferischen Gott als gut zugesagt werden. Es ist gut, nicht nur wie es ist und geworden ist, sondern auch, wie es wird. Was wird, ist allerdings aufgrund der Zusage Gottes, genauer: aufgrund des sich als die Wirklichkeit des Möglichen unter den Wirklichkeiten und Möglichkeiten der Welt zusagenden Gottes, nicht nur das Alte. Die schöpferische Gegenwart Gottes (per potentiam) will, dass Neues ermöglicht wird. Sie ist in der Welt als Kreativität präsent, die, Altes und Vorhandenes übersteigend, evolutiv und innovativ neue Möglichkeiten und Räume eröffnet. Gott als Herkunfts-Grund und als Zukunfts-Horizont der Welt sind verbunden in der erscheinenden Gegenwart Gottes (per praesentiam), wenn Gott als der Ermöglichungsgrund des Geschöpf-Seins eben als dieser, als Schöpfer, im Sein der Geschöpfe erscheint. Gott zeigt sich als der schöpferische Grund der Dinge, wenn die natürlichen Dinge durchsichtig werden auf ihren Schöpfer als Erhalter und Erneuerer. Das ist dann der Fall, wenn sich So-sein zugleich als So-sein-dürfen und als So-sein-sollen einstellt, das noch im Werden ist. Das geschieht nicht zuerst im Ganzen und im Großen – es ist nicht alles gut und vollendet auf dieser Welt –, sondern vom Einzelnen her, aber insofern das Einzelne als Geschöpf exemplarisch für das Ganze, nämlich die Welt als Schöpfung, steht, erscheint in der Transparenz von Einzelnem die Welt als Schöpfung (II.7.6). Dies ist deshalb möglich, weil der Schöpfer die Dinge als je verschiedene erschafft und sich gerade in der Unterschiedenheit der Dinge voneinander als Schöpfer bestimmt. Die Unterschiedenheit der Dinge voneinander aufgrund ihres Unterschiedenseins in Raum und Zeit sowie aufgrund ihres einander Gegebenseins mit- und füreinander spricht ————— 33

Dalferth, Die Wirklichkeit des Möglichen, 153.

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nicht gegen, sondern für die Einheit der Schöpfung. Allerdings ist nicht die vollkommene, runde Einheit der Welt das Abbild des Schöpfers, sondern die Verschiedenartigkeit der Geschöpfe in unterschiedlichen Räumen und Zeiten. Der theistische Monotheismus würde als Gegenüber zum einen Gott die eine, runde, allzusammenhängende Welt erfordern, in der Gott so in die Welt eingefaltet ist, dass alles in jedem ist, also jedes in identischer Weise das Ganze darstellen könnte.34 Der trinitarische Gott hingegen erscheint in je verschiedener und nicht eineindeutiger Weise, unterschieden in Graden der Einwohnung und der Fassungskraft des je Einzelnen. Räume und Zeiten sind ebenso wenig austauschbar wie die Individualität der Geschöpfe. Keines kann identisch für das Ganze stehen. Jedes steht für sich und gerade darin für Schöpfung, für die noch im Werden begriffene, unabgeschlossene Schöpfung. Die Einheit der Welt als Schöpfung ist keine substantivisch gegebene Einheit von …, sondern eine adjektivische Einheit für …35 Schöpfung ist keine Welteinheit von allem, sondern eine Einheit für jedes. Diese Einheit ist im Ganzen nie gegeben, sondern auf dem Weg. Dass die Welt auf dem Weg zur Einheit ist, ergibt sich nicht aus ihr selbst, sondern aus der Verheißung ihrer Ganzheit. Die Welt, wie sie ist, ist eine offene, weil sie aus offenen Räumen und aus unabgeschlossenen Zeiten besteht, die sich in einem dynamischen, zukunftsoffenen Prozess überlagern, zusammenschließen und ausdifferenzieren. Die Identität Gottes als erhaltender und erneuernder Schöpfer garantiert, dass das Neue nicht überschießt in eine schon gegebene, schlechthin schöne, neue Welt und auch nicht zurückschießt in Degeneration und Chaos schlechthin. Die Einheit von Erhaltung und Erneuerung der Schöpfung ist allerdings im Weltprozess selbst nicht offenbar. Neues ist ebenso erschreckend wie faszinierend. Dass der evolutiv-kreative Weltprozess seine Ambivalenz zwischen tremendum et faszinosum verliert, resultiert aus der Verheißung Gottes, die Schöpfung auf dem Weg zur Neuschöpfung nicht aufzugeben, also nicht die annihilatio mundi vor die consummatio zu setzen, sondern die Schöpfung in Treue zu begleiten und dereinst zu vollenden. Die Neuschöpfung ist insofern völlig neu, als der adventus des Unerwartbaren einen Sprung gegenüber dem futurum der evolutiven Extrapolation darstellt. Der „Omegapunkt“ (T. de Chardin, F. Tipler) ist nicht eo ipso das Eschaton, sondern wird vom sich im Eschaton als Ziel der Welt zusagenden Gott noch einmal transformiert. Erst die Vollendung stellt die Einheit von Grund und Ziel der Welt und damit die runde Einheit der Welt selbst her. Der ————— 34 Zu diesen Figuren vgl. oben I.6.2/6 die kritische Diskussion im Zusammenhang der Konzeptionen von Cusanus und Bruno. 35 Zu dieser Unterscheidung vgl. Dalferth, Die Wirklichkeit des Möglichen, 142f.

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runde Kosmos der Allgegenwart Gottes als offenbarer Grund und Ziel bildet den Abschluss des Schöpfungs- und Inkarnationsprozesses. Die jetzt noch verborgene Einfaltung und Einräumung Gottes in das Innen der Welt wird dann offensichtlich. Im Eschaton wird Gott selbst der Himmel der neuen Welt sein (J. Brenz, I.7.5) und die (jetzt noch verborgene, ambivalente und nur in der promissio eindeutige) Hineinvermittlung Gottes in die Welt in die Einheit einer Dualität aufgehoben. Erst das Eschaton bringt die Einheit von Gott und Welt und damit auch die Einheit des Kosmos als rundes Ganzes, als in Gott gegründeter und auf Gott verweisender, im Kosmos selbst eindeutig anschaubarer Einheit. Erst im Eschaton wird die Differenz von Raum und Zeit sowie die Differenz von Wirklichem und Möglichen aufhoben in die Einheit des Raumes von Gott und Welt: Die Zeit Gottes, die Ewigkeit, wird dann auch die Raum-Zeit der neuen Welt sein und ihr Raum, die Stadt Gottes, der Wohnort Gottes bei den Menschen. 5. Zwischenergebnis: Nach drei Hinsichten ist Gott in der Welt von der Welt unterschieden und auf sie bezogen. Differenz und Zusammenhang ergeben sich jeweils von Grenzlinien, von Unterscheidungslinien her. Die erste Unterscheidungslinie ist die ontologische Differenz des Endlichen zum Unendlichen. Gott ist ungegenständlich und unthematisch anwesend als Bedingung der Möglichkeit von Endlichem als Endlichem, was eo ipso die Möglichkeit von vielem Endlichen ist. Gott als Grund ist eine phänomenologische Reformulierung der causa prima und der adessentia per essentiam. Die zweite Unterscheidungslinie ist die schöpfungstheologische Differenz zwischen der Selbsterhaltung und dem Selbstwerden zum Werden und Erhalten von etwas her auf etwas hin. Gott ist mitlaufend anwesend als konkreter Grund und Horizont der endlichen Dinge, er initiiert, phänomenologisch reformuliert, durch adessentia per potentiam die creatio continua et evolutiva. Die dritte Unterscheidungslinie ist die soteriologisch-eschatologische Differenz zwischen der alten und der neuen Welt. Gott ist in der Welt anwesend als Erneuerer, der proleptisch aufscheint in der Transparenz der Natur als Schöpfung und im Verweis der Schöpfung als auf dem Weg zur Neuschöpfung befindlich. Kraft Gottes adessentia per praesentiam präsentiert sich die Schöpfung unter allen Ambivalenzen und Brüchen als adventliche creatio nova. Jeweils verhält sich Gott zur Welt wie das Eine zum Vielen, aber in je unterschiedlicher Weise, i) als das Viele umgreifende und zusammenhaltende Unendliche, ii) als das dem Vielen Raum und Beziehung aufeinander Eröffnen von Leben im Hier und Jetzt, iii) als das Viele auf eine gemeinsa-

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me Zukunft ausrichtende und zusammenführende Eröffnen von Zukunft, die sich vollenden wird als ewige Gegenwart in der leibhaften Allgegenwart Gottes. Was ist die Welt, wenn in ihr Gott als gegenwärtig gedacht wird? Sie ist jedenfalls mehr, als was der Fall ist. Es ist die Einheit der Welt als Schöpfung, es ist die Vielfalt der Geschöpfe in Raum und Zeit und es ist die eschatologische Einheit von Gott und Welt, was Gottes Gegenwart als „mehr“ zur Sprache bringt.

8.3 Gott als Raum der Welt? Die Welt als Raum der Selbstentgrenzung Gottes Aus dem Gesagten wird deutlich, dass man nur eschatologisch Gott und Welt als je Ganze in ein stimmiges Verhältnis setzen kann. Das verwickelte und verwirrende Ineinander von Transzendenz und Immanenz Gottes ist erst dann aufgehoben. Von daher erscheint es theologisch kaum adäquat zu sein, Gott und Welt in ein einfaches Verhältnis des Neben- oder Ineinander zu setzen. Nichtsdestotrotz hat es einige Versuche gegeben, Gott als Raum der Welt oder die Welt als den Raum bzw. den Körper Gottes zu verstehen. Deren Probleme sollen in aller Kürze genannt werden, um daraus die Notwendigkeit einer trinitarisch-mehrstelligen Verhältnisbestimmung zu begründen. 1. Die Rede von Gott als Raum bezieht sich einerseits auf die rabbinische Gottesprädikation als ʭʥʷʮ , die nach dem ältesten Midrasch zu Gen 28,11 Gott als Ort oder Wohnraum der Welt qualifiziert.36 Dort ist jedoch ebenso wie bei den Religionsphilosophen und Kabbalisten des Mittelalters kein einfaches räumliches Verhältnis der Welt in Gott gemeint, sondern die verhüllte Allgegenwart Gottes. Der Raum „in“ oder „neben“ Gott als Raum soll ein Abhängigkeitsverhältnis ausdrücken, dass der Weltraum nicht gleichursprünglich mit Gott ist und die göttliche Ubiquität nicht auf den Weltraum angewiesen ist.37 Gott kann unter heutigen kosmologischen Bedingungen nur metaphorisch der „Raum“ der Welt genannt werden, um die „‚Allgegenwart Gottes‘ als seine räumliche Präsenz zu beschreiben“. Um panentheistisch Gottes Allgegenwart als „den Raum, in dem alle geschaffenen Dinge sind und sich bewegen, als ‚absoluten Raum‘, nämlich als die ————— 36 Hierzu s.o. I.3.1. 37 Es ist nicht so, wie Moltmann, Wissenschaft und Weisheit, 136, behauptet, dass Gott als maqom die „auf seine Schöpfung begrenzte Gegenwart“ meine und die Frage, ob Gott der Raum der Welt oder die Welt der Raum Gottes ist, unbeantwortet sei. Für die Rabbinen ist die Antwort eindeutig: Weil Gott alles umfasst, das All ihn aber nicht fassen kann, ist er der Raum der Welt und nicht umgekehrt.

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räumliche Dimension des göttlichen Seins, zu verstehen“, wie es Moltmann vorschwebt,38 müsste man eine neuplatonische Kosmologie oder einen real existierenden absoluten Raum voraussetzen. Für die realistische Theorie der Gegenwart Gottes ist sowohl kosmologisch als auch theologisch nicht der Raum um die Welt, sondern der Raum in der Welt maßgebend, Gott also allenfalls ein „Raum“ im Raum. Wird Gott zudem nicht monarchisch, sondern trinitarisch sich auf die Welt beziehend gedacht, ist Gott nicht einstellig als absoluter Raum um alles, was ist, vorzustellen, sondern als offener und öffnender Raum im Raum, als Lebensraum der Gegenwart Gottes, der im endlichen, beängstigend engen, Raum einen weiten Raum zum Leben eröffnet, wie Moltmann zurecht mit Bezug auf Ps 18,20; 31,9; 46,2; Hi 36,16 sagt.39 Ähnlich stellt sich das Problem bei der von der Bezeichnung Gottes als ʭʥʷʮ zu unterscheidenden, weil sich auf die uranfängliche Schöpfung beziehenden, kabbalistischen Figur des Zim-zum, nach der Gott in und neben sich Raum für die Welt einräumt. Dahinter steht die theosophische Idee des Isaak ben Luria, das Nichts der creatio ex nihilo in Gott selbst hineinzuverlagern und so als die Fülle Gottes zu interpretieren.40 Wie kann überhaupt eine Welt existieren, wo doch Gottes Wesen überall und er alles in allem ist? Dazu, so Luria, musste „Gott in seinem Wesen einen Bezirk freigeben, aus dem er sich zurückzog, eine Art mystischen Urraum, in den er in der Schöpfung und Offenbarung hinaustreten konnte“41. Der erste Akt des EnSof, des unendlichen Wesens, war eine „Selbstverschränkung Gottes ‚aus sich selbst in sich selbst‘.“ Statt eine Emanation nur aus sich hervorzubringen, stieg er in sich, in seinen eigenen Abgrund hinab, sich selbst in sich konzentrierend, um, sich zunächst verhüllend und dann entfaltend, die Welt aus dem Urraum in sich hervorzubringen. In dieser ebenso „groben und sozusagen handfesten“42 wie tiefsinnig-subtilen Vorstellung, die eine klare theosophische Alternative zum Pantheismus der neuplatonischen Emanation unter denselben ontologischen und kosmologischen Bedingungen darstellt, ist die Transzendenz und Immanenz Gottes in der Schöpfung auf eine Verhüllung und eine Enthüllung Gottes in sich selbst, also auf eine Diffe————— 38 Moltmann, Gott in der Schöpfung, 164. 39 Moltmann, Wissenschaft und Weisheit, 137; ähnlich Bayer, Art. Schöpfer/Schöpfung VIII, TRE 333f. 40 Noch bei Jakob Böhme heißt es, dass „Gott alle Dinge aus dem Nichts gemacht hat, und dasselbe Nichts ist er selber“ (De Signatura Rerum, VI, 8, zit. nach G. Scholem, Schöpfung aus Nichts und Selbstverschränkung Gottes, 75). 41 G. Scholem, Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen, 286. 42 Ebd.

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renz von Gott in Gott zurückgeführt.43 Die Schöpfung ex nihilo ist von und aus Gott, aber nicht Gott selbst, jedoch auch Gott nicht äußerlich, sondern innerlich. In allem manifestiert sich göttliches Sein, aber alles erhält auch eigene, individuelle Realität und wird nicht in ein pantheistisches „alles in allem“ aufgelöst. Gott ist in der Schöpfung verborgen – er hat für das Judentum seit dem Exil keinen Ort mehr in der Welt –, aber doch ihr gerade so wesentlich innerlich. Er ist durch und mittels der Selbstverschränkung in sich in die Schöpfung verschränkt. Die Selbstverschränkung Gottes bewirkt einen kontinuierlich zweigleisigen Schöpfungsprozess von Verhüllung und Manifestation Gottes im kontinuierlichen Schöpfungsakt. Wird die mehrstellige Zim-zum-Figur allerdings aus dem spekulativen Realismus in eine einfache metaphorische Verhältnisbestimmung überführt, sozusagen der theosophisch-pantheistische Unterton in den orthodox-theistischen Hauptton umgestimmt, kann sie verschieden gelesen werden. Man kann mit E. Brunner Schöpfung als Selbstbegrenzung Gottes aus Freiheit und Liebe gegenüber dem in Freiheit antwortenden Geschöpf verstehen44 oder mit E. Jüngel als Selbstentsprechung Gottes, wenn Gott enstprechend seiner trinitarischen Gemeinschaft der Liebe einem anderen neben sich Raum gewährt und Zeit gibt45. Man kann den Zimzum auch mit J. Moltmann als Selbsteinschränkung der göttlichen Allgegenwart für die Welt vor, mit und in sich46 verstehen oder mit H. Jonas als Selbstpreisgabe der göttlichen Allmacht für die Welt außer sich.47 Sobald die Figur so konkret theologisch gelesen wird, handelt man sich wieder das metaphysische Problem ein, das man durch sie lösen wollte. Die Zim-zum-Figur löst das Problem, wie man eine endliche Welt unterschieden von dem unendlichen Gott denken kann, ohne dass sie als Teil des Unendlichen begriffen wird. Dies gelingt durch die Vorstellung einer Selbstbegrenzung des Unendlichen zugunsten des Endlichen. Nur metaphorisch oder naiv realistisch vorgestellt, führt solche Selbstbegrenzung aber zu Gott als ebenfalls endlichem Wesen. Setzt sich der unendliche Gott ein Anderes gegenüber, wird er selbst ein Anderes. Wird der pantheistisch-theosophische Unterton der Zim-zum————— 43 Schelling hat daraus bekanntlich, vermittelt über J. Böhme, seine spekulative Theodizee entwickelt, um aus der (asymmetrischen) Differenz von Grund und Abgrund in Gott die Möglichkeit des Guten und Bösen, d.h. menschliche Freiheit zu begründen (Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit). 44 E. Brunner, Die christliche Lehre von Schöpfung und Erlösung, Dogmatik II, 31. 45 E. Jüngel, Gottes ursprüngliches Anfangen als schöpferische Selbstbegrenzung, 153f. 46 Moltmann, Gott in der Schöpfung, 100; ders, Das Kommen Gottes, 328. 47 H. Jonas, Der Gottesbegriff nach Auschwitz; nach Jonas ist die Selbstkontraktion Gottes der letzte Akt seiner Souveränität, nämlich die Einwilligung, nicht länger absolut zu sein, also die Aufgabe der Allmacht (33.45).

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Figur aufgegeben, so löst sie sich selbst auf.48 Daher gilt, dass eine trinitarische Theologie und selbst eine „adäquate theistische Metaphysik den realen Gegensatz zwischen Gott und Welt nicht gutheißen kann, denn ein Gott, dem die Welt letztendlich ein Anderes wäre, könnte kein unendliches Wesen sein; er wäre durch die Welt begrenzt und damit selbst endlich.“49 Der sich selbst begrenzende Gott hätte sich selbst vom ausgegrenzten Teilraum neben oder in sich ausgeschlossen und zu einem endlichen gemacht. Die zuvor allerfüllende Gegenwart Gottes würde gerade den Raum nicht erfüllen, der für die Geschöpfe freigeräumt wurde. Wenn man, wie Moltmann sagt, der durch Gottes Selbsteinschränkung seiner Allgegenwart entstandene Urraum sei „im wörtlichen Sinne ein gottverlassener Raum“50, dann bekommt man nicht nur eine gottverlassene Welt, sondern auch einen von sich selbst verlassenen Gott. Diese Konsequenz hat H. Jonas folgerichtig gezogen. Der seiner Allmacht entkleidete Gott ist ein ohnmächtiger. Es ist dann nur konsequent, die Kontraktion sarkastisch als Selbstaufgabe Gottes zu lesen, wie bei E. Cioran: „Damit die Welt existiere, geruhte Gott, der alles und überall war, zu schrumpfen und einen leeren Platz zu lassen, der nicht von ihm bewohnt war: In diesem ‚Loch‘ fand die Welt Platz. So besetzen wir das Niemandsland, das er uns aus Barmherzigkeit oder Laune überlassen hat. Damit wir seien, hat er sich zusammengezogen, hat er seine Souveränität begrenzt. Wir sind das Ergebnis seiner willentlichen Verdünnung, seiner Entfernung, seiner teilweisen Absenz. In seiner Tollheit hat er sich also uns zuliebe amputiert. Hätte er doch nur die Einsicht und den guten Geschmack gehabt, ganz zu bleiben.“51

2. Trinitarisch immanente und ökonomische Selbstentgrenzung: Trinitarisch interpretiert ist die Schöpfung nicht eigentlich eine Selbstbegrenzung, als vielmehr eine Selbstentgrenzung Gottes. Die Begründung erfolgt in zwei ————— 48 F.H. Jacobi hat mit gewissem Recht die kabbalistische Philosophie einen unentwickelten Spinozismus genannt. Spinoza habe lediglich durch präzisere Begriffe den dynamischen in einen statischen Pantheismus überführt und „an die Stelle des emanirenden ein nur immanentes Ensoph; eine inwohnende, ewig in sich unveränderliche Ursache der Welt“ gesetzt, „welche mit allen ihren Folgen zusammengenommen – Eins und dasselbe wäre“ (Jacobi, Über die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn, Werke 1/1, 18 = Scholz, Hauptschriften zum Pantheismusstreit zwischen Jacobi und Mendelssohn, 79.176); der Spinozastreit, insbesondere die Einseitigkeit von Jacobis extramundaner Ursächlichkeit Gottes, kann leider nicht aufgerollt werden, hierzu vgl. Werbick, Gott verbindlich, 189–197; Müller, Streit um Gott, 105– 133.177–185. 49 P. Clayton, Das Gottesproblem, 414, zur bleibenden Herausforderung durch Spinoza. 50 Moltmann, Gott in der Schöpfung, 100; wird der Raum des nihil, in dem Gott die Schöpfung schafft, als gottverlassen verstanden, dann bekommt das nihil ex quo eine vernichtende Potenz. Ist „die Schöpfung mithin nicht nur von ihrem eigenen Nichtsein bedroht, sondern auch von dem Nichtsein Gottes ihres Schöpfers, d.h. vom Nichts selbst“, dann ist sie eben keine Schöpfung mehr. 51 E.M. Cioran, Vom Nachteil, geboren zu sein, 63.

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Schritten, indem i) das Selbstverhältnis und ii) das Weltverhältnis Gottes als Ausdruck seines Wesens begriffen werden. Schon das innertrinitarische Selbstverhältnis Gottes ist nicht als gegenseitige Begrenzung zu verstehen. Und sofern das Weltverhältnis Gottes als Entsprechung zu seinem Selbstverhältnis verstanden wird, kann das Verhältnis Gottes zur Schöpfung nicht als Selbstbegrenzung gedacht werden. Schon innertrinitarisch kann man das gegenseitige „Raum“-geben der trinitarischen Personen „neben“ sich nicht als Selbstbegrenzung verstehen, im Gegenteil. Es handelt sich um eine gegenseitige Perichorese, um ein „Ineinandersein ohne jede Verschmelzung und Vermischung“, die „drei vollkommenen Hypostasen (Personen) […] sind ohne Vermischung vereint und ohne Trennung unterschieden, was geradezu unglaublich scheint.“52 Ein adäquates Bild für die innertrinitarische Gemeinschaft ist daher nicht das von getrennten oder auch nur geteilten Räumen einer Wohngemeinschaft, sondern die Lichtkugel des einen, gemeinsamen Raumes von drei selbstleuchtenden und den Lichtglanz (splendor/lux, nicht lumen) weiterschenkenden Leuchtern.53 Geeignete Metaphern für diese „kommunionale Sphäre“ mit der „logisch und topologisch ungewöhnlichen Situation, dass ihr Ineinandersein eine Ausdehnungsgleichheit ohne Raumkonkurrenz sowie eine Funktionenteilung ohne Vorrangkonkurrenz erlaubt“54, sind die des „Raumgebens“ von gegenseitigem Sich-Schenken und Empfangen von und durch Liebe, die Metapher der Kommunikationsgemeinschaft gegenseitigen Vertrautseins durch Anrede und Mitteilung und die Metapher der gegenseitigen Verherrlichung.55 Es handelt sich jeweils um eine gegenseitige Entschränkung und Entgrenzung, die aus drei individuellen Personen ein Drei-eines- oder besser Dreialles-Ganzes macht.56 Schon Bonaventura hat, Richard von St. Viktor folgend, das gegenseitige Sich-mitteilen (communicabilitas) als intimes Im-andern-sein (cointimitas) und als einander Einwohnen (circumincessio) verstanden.57 Wahre Liebes-

————— 52 Johannes v. Damaskus, Genaue Darlegung des orthodoxen Glaubens, I,8, 14.25. 53 Dionysius Areopagita, De divinis nominibus, c.II,4, MPG 3, 641A–B; Johannes Eriugena, De divisione naturae, II,32, MPL 122, 608f; hierzu vgl. oben I.4.2. 54 Sloterdijk, Sphären I, 608. 55 Vgl. G. Greshake, Der dreieine Gott, 186, mit Zit. Gregor v. Nyssa: „Siehst du die Kreisbewegung der gegenseitigen Verherrlichung der Gleichen? Der Sohn wird verherrlicht durch den Geist, der Geist wird verherrlicht durch den Sohn. Seinerseits empfängt der Sohn die Verherrlichung durch den Vater, und die Verherrlichung des Geistes ist der Eingeborene“ (De spiritu sancto, MPG 45, 1330 A–B). 56 „Das Innere der lebendigen Kugel entspricht der Formel: dreimal eins ergibt dreimal alles“ (Sloterdijk, Sphären I, 608, hier auch einige mittelalterliche Darstellungen der trikephalen bzw. durch ein geflochtenes Band zur unitas verbundenen Trinität). 57 „Durch die höchste Mitteilsamkeit (communicabilitas) des Guten [ist] die Dreieinigkeit des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes notwendig gegeben. In ihnen muss wegen der höchsten Güte höchste Mitteilsamkeit, wegen der höchsten Mitteilsamkeit höchste Wesensgleichheit, wegen der höchsten Wesensgleichheit höchste Gleichförmigkeit, darum auch höchste Gleichartigkeit und deshalb höchste Gleichewigkeit und auf Grund all des Genannten höchste Gleichinnerlichkeit (cointimitas) herrschen. Dadurch ist der eine infolge der höchsten Wechseleinwohnung (circumincessio) notwendig ganz im anderen“ (Bonaventura, Itinerarum mentis in Deum, c.VI, a.2) – dass die wahre Intimität nicht nur im andern sein, sondern den andern als anderen will, wird

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Gemeinschaft ist solche, bei der jeder Partner nicht für sich bleiben, sondern über sich hinaus zum andern will, ja den anderen will, ist Intimität gegenseitigen Anderseins.58 Die trinitarische Gemeinschaft der Liebe „bestimmt Gott als denjenigen, der von sich aus stets schon über sich hinaus auf anderes hin unterwegs ist. Das kennzeichnet sein Wesen als Liebe: indem er sich immer schon so zu sich als Vater, Sohn und Geist ins Verhältnis setzt, dass er zu mehr als sich selbst im Verhältnis stehen will, erweist er sich als ursprünglich überströmende Liebe.“59 Wird das Wesen Gottes als Liebe verstanden, die sich im Vollzug der perichoretischen Gemeinschaft ereignet, so „ist die essentia divina, das eine göttliche Wesen, Communio; es existiert nur im Austausch von Vater, Sohn und Geist. Jede der göttlichen Personen ist ekstatisch auf die anderen hin und zwar korrelativ, indem sie zugleich gibt und empfängt. […] So haben die drei Personen in Gott keinen SelbstStand gegeneinander, sondern nur voneinanderher, miteinander und aufeinanderhin […], so dass jede nur in den andern sie selbst ist und im Vollzug des eigenen Personseins die anderen in sich einbirgt und umfängt.“60 Jede der göttlichen Personen ist durch die anderen vermittelt, so dass mit jeder die anderen mitgegeben sind. Die Unteilbarkeit Gottes in der Unterschiedenheit der Personen hat ihren Grund in der immanenten communio der überströmenden Liebe. Die ökonomische Trinität ist dann nichts anderes als die Entfaltung der immanenten Liebe, ist Selbstmitteilung über sich hinaus.

Schöpfung ist damit nicht Selbstbegrenzung, sondern Selbstentgrenzung und Selbstverströmung Gottes zugunsten von Anderem. „In seiner überströmenden Güte schafft der Schöpfer seinen Geschöpfen Raum – aber nicht etwa, indem er sich zurückzieht, um der Selbständigkeit seiner Geschöpfe nicht zu nahe zu treten, sondern indem er mit seinem kommunikativen Wort, mit seinen einräumenden Bestimmungen und Zuordnungen, durch die er Verhältnisse herstellt, Mitteilungen und Austausch ermöglicht, alles in allem erfüllt und sich in schenkender Tugend neidlos verströmt.“61 Verströmt sich Gott als das bonum diffusivum sui62 selbstlos in die Welt, teilt sich Gott als die verströmende Liebe selbst mit, wird, anders gesagt, das Weltverhältnis Gottes als Entsprechung seines Selbstverhältnisses gedacht, so ereignet sich seine Schöpfungsgegenwart als innerliche Einwohnung, als intime communio. Der darin angelegte pantheistische Unterton ist ————— bei dieser „Wesensintimität“ allerdings unterlaufen, vgl. J. Werbick, Bilder sind Wege. Eine Gotteslehre, 287. 58 Besonders Pannenberg hat darauf insistiert, die trinitarischen Relationen nicht nur als einende, ewige Ursprungsrelationen, sondern auch als aktive Unterscheidungsrelationen zu denken, vgl. ST 1, 347f. 59 I. Dalferth/E. Jüngel, Person und Gottebenbildlichkeit, 84. 60 Greshake, Der dreieine Gott, 185–187. 61 O. Bayer, Art. Schöpfer/Schöpfung VIII, TRE, 334. 62 Thomas v. Aquin, STh I, qu.5, a.4, ad 2., mit Verweis auf Dionysius Areopagita, De divinis nominibus, c.IV,1, 694B; zur christlichen Selbstlosigkeit der Güte Gottes im Gegenüber zur (neu)platonischen Selbstgenügsamkeit vgl. I.6.6, 1.Anm.

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bei einem trinitarischen Gottesbegriff unvermeidlich, wenn Gott als der Welt einwohnend und in sie eingehend gedacht wird. Die Intimität der Weltgegenwart Gottes vermeidet den für jede spirituelle Gotteslehre unerträglichen Gedanken, es gebe etwas außer Gott, einen schlechthin gottverlassenen Raum. P. Strasser nennt es den „unannehmbarsten aller Dualismen, dass Gott etwas außer sich hat.“63Aber ebenso unerträglich ist der Gedanke, die intime Einwohnung bedeute Einheit schlechthin. „Wir können nicht wollen, dass Gott etwas außer sich hat; und wir können nicht wollen, dass er nichts weiter ist als das Ganze.“64 Die schlechthinnige Einsheit von Gott-in-Welt und Welt-in-Gott würde entweder die Welt oder Gott zum ein und alles machen. Gott ist christlich nicht das ein und alles schlechthin, sein Verhältnis zur Schöpfung ist nicht noch einmal eine Steigerung der Einheit seines Selbstverhältnisses. Schon zwischenmenschlich ist eine vollkommene Einheit, bei der beide alles teilen, dasselbe sind, so dass die Unterschiedenheit und Individualität sich auflöst, gar nicht wünschenswert. Und die Vorstellung, es könnte schlechthin keinen Ort in der Welt geben, an dem Gott als abwesend erfahren wird, ist ebenso erfahrungsfern wie religiös totalitär. Den Raum-Dualismus des schlechthin welttranszendenten Gottüber-Welt in den Monismus der schlechthinnigen Welt-in-Gott-Immanenz aufzulösen, ersetzt die eine, die monotheistische Herrschafts-Theologie durch die andere, die esoterische: den religiösen Totalitarismus der mystischen All-Einheit, die den für nicht spirituell genug verdammt, der sich nicht mit dem Göttlichen eins fühlt. Die christliche Form der Gotteserfahrung, auch in der intimsten Form der unio mystica, ist die Erfahrung des dreieinen Gottes und darum communio gegenseitigen Anderseins.65 In der Gebetsbeziehung ist Gott der Um-mich-herum, dem ich mich anvertraue, öffne, mich mit meinem Leben einverleibe, aber gerade im intimsten Insein wird ein Beziehungsraum des Gegenüber und des Voraus eröffnet, der mich von Gott und seine Möglichkeiten von meiner Wirklichkeit unterscheidet.66 F.W. Marquardt und M. Frettlöh haben sich mit Recht gegen den „Transzendenzverlust“ gewendet, der aus dem „Bedürfnis nach Gottesvergewisserung durch Verortung“ entsteht. Wird Gottes Nähe total am einen Ort gesucht oder die Welt als totum in Gott eingeschrieben und Gott als absoluter Raum verstanden, in dem nicht nur alles ist, sondern der alles ist, dann führt dies zu einem „Transzendenzverlust“, der „jedes Zwischen, jeden Abstand, räumlicher und zeitlicher Art, vernichtete: Die ganze Welt, ————— 63 P. Strasser, Der Gott aller Menschen, 94. 64 Ebd., 107. 65 Vgl. Lehmkühler, Inhabitatio, bes. 334–336. 66 Ähnlich J. Werbick, Gott verbindlich, 219f, gegen den mystizistischen Einheits-Totalitarismus eines Willigis Jäger, 180–189.

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ja Himmel und Erde sind in Gott-als-maqom aufgehoben, die Zukunft seiner Reiches Gottes auf Erden ist in der Gegenwart der Gottesnähe vorweggenommen. Wird die Innigkeit der Gottes- und Selbstvergewisserung auf Dauer gestellt, führt dies zur Enteschatologisierung, ja überhaupt Entgeschichtlichung der Gotteslehre.“67 Der trinitarische Gottesbegriff steht kritisch gegen jede Art von Monismus. Ist der trinitarische Binnenraum eine communio gegenseitigen Andersseins, ein sozial-kommunikativer Eigenraum, so gilt: „Auch für Gott gibt es in Gott einen weiten Raum der Begegnung und Kommunikation mit sich selbst und des Wirkens an sich selbst“68. Daher gibt es – a majore ad minus – auch für Mensch und Welt in Gott einen weiten Raum der (gegenseitigen) Begegnung und des (gemeinsamen) Wirkens. Die intime Einwohnung Gottes in der Welt bewirkt trinitarisch nicht Vergottung der Welt, auch nicht des Ortes intimster Nähe, sondern behält eine Differenz von Gott und Raum. Gott unterscheidet sich heilsam vom Ort seiner Nähe. Er besetzt nicht den Raum, sondern eröffnet Raum und bezieht das am Ort Befindliche ein in seine Nähe, lädt die Geschöpfe ein zum Mitvollzug. Der trinitarische Gott als Innenraum im Weltraum führt nicht zu Alleinheit, sondern gibt gegenseitigen Raum und öffnet Raum für Verschiedenes.

8.4 Trinitarische Selbstvermittlung und Weltgegenwart Gottes 1. Inkarnatorische Theologie der Natur? Weil es zwischen Gott und Welt nicht mehr wie noch bei Cusanus (I.6.) das All, das Universum oder wie bei den Cambridge Platonikern (I.8.) den absoluten Raum gibt, der vermitteln könnte, muss Gott als sich selbst in die Welt vermittelnd gedacht werden. Das ist trinitarisch möglich, indem immanente und ökonomische Trinität verschränkt werden und Gottes Weltverhältnis von Schöpfungsmittlerschaft und Inkarnation Jesu Christi her gedacht werden. T.F. Torrance gebührt das Verdienst, als erster das Raumverhältnis Gottes christologisch interpretiert zu haben. Seine Lösung wirft allerdings mehr Fragen auf, als sie beantwortet, so dass nur knapp – des Verdienstes wegen – der Grundgedanke genannt werden und dann eigenständig die Sachfrage durchgeführt werden soll. Was ergibt sich, so lautet Torrance’ Frage, für das Verständnis von Raum und Zeit sowie für das Verhältnis von Gott und Welt, wenn die Relation zwischen der „transzendenten Rationalität Gottes, unabhängig von Raum und Zeit, und der immanenten

————— 67 68

Frettlöh, Der trinitarische Gott als Raum der Welt, 220f. Ebd., 225.

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Rationalität in den Raumzeit-Strukturen der Welt“69 von der Inkarnation her begriffen wird, verstanden als Kondeszendenz Gottes in die Bedingungen und Bedingtheiten der Welt? Die Inkarnation nimmt eine andere Form an, je nach den unterstellten Raumbegriffen, und je nachdem, wie man den unendlichen Raum Gottes im Verhältnis zum endlichen Raum, in den der Sohn Gottes eintritt, lokalisiert. Torrance macht entgegen einer die Differenz von Gott und Welt überbrückender Ineinanderführung des Ausgangs- und des Zielraumes die „unendliche Differenz (infinite differential)“70 stark. Die Strukturen von Raum und Zeit seien als „geschaffene Formen von Rationalität“ unterschieden von der „ewigen Rationalität Gottes“71, was die Freiheit und Transzendenz Gottes zum Ausdruck bringe gegenüber der „kontingenten Notwendigkeit“72 der geschaffenen Formen. In solcher asymmetrischen Relation sei Gott frei von Notwendigkeit raumzeitlicher, kausaler oder logischer Art, die raumzeitlichen Gesetze aber auch nicht in einer apriorischen Abhängigkeit der Notwendigkeit von Gott. Daher sei die Inkarnation auch kein „Aufdrängen“ des Sohnes Gottes gegen die Determinationen von Raum und Zeit ebensowenig wie seine Wunder Abrogationen der Naturgesetze. Die Inkarnation sei eher der gewählte Weg der Interaktion, welcher eine Relation der Selbstbindung und der Freiheit etabliert. Die Inkarnation begrenzt Gott nicht durch Raum und Zeit, sondern meint die Realität von Raum und Zeit für Gott in der Aktualität seiner Beziehung mit uns, und sie bindet uns an Raum und Zeit in all unseren Beziehungen zu ihm.73 Damit unterscheidet Torrance Gott aber von seiner Beziehung auf die Geschöpfe und schränkt die Raumgegenwart auf die bloß logisch bestehende Relation der Anerkenntnis von Raum und Zeit ein. Das Axiom finitum non capax infiniti ist bei Torrance so stark, dass er Gott nur in eine für ihn selbst äußerlich bleibende Relation zur Welt setzten kann. Es ist absurd, das GottWelt-Verhältnis von der Inkarnation her denken zu wollen, wenn man keine Überbrückung der Distanz von Gott und Welt anzunehmen bereit ist – für die bloße räumliche Transzendenz Gottes wäre ein theistischer Gottesbegriff geeigneter.

Christologisch ist Gottes Beziehung auf die Welt keine bloße Anerkenntnis ihrer Raum-Zeit-Strukturen, sondern der innerliche Eingang in diese und die Einwohnung in ihr. Auch wenn man sich die Inkarnation nicht als raumzeitlichen Vorgang denken kann, so hat sie doch einen Ort: den Stall von Bethlehem, wenn man die Person Jesus Christus und nicht den (übernatürlichen?) Vorgang seiner Zeugung als maßgeblich ansieht.74 Die Inkarna————— 69 T. Torrance, Space, Time and Incarnation, 61. 70 Ebd., 66f. 71 Ebd., 65. 72 Ebd., 66. 73 „Incarnation does not mean that God is limited by space and time, it asserts the reality of space and time for God in the actuality of His relations with us, and at the same time binds us to space and time in all our relations with Him“ (ebd., 67). 74 Noch Hollaz definiert die Inkarnation als „actio divina, qua Filius Dei naturam humanam in utero Virginis Mariae in unitatem suae personae assumpsit“ (Examen theologicum acroamaticum, p.III, sect.I, c.III, qu.20, Bd. 2, 130). Der Vorgang ist eine actio divina, keine raumzeitliche „Wanderung“ des Sohnes Gottes aus dem Himmel in den Uterus, so die Polemik von J. Brenz (s.o. I.7.5f).

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tion impliziert in jedem Fall unumgänglich die Aufnahme des Unendlichen ins Endliche. Gott und Welt sind nur dann tatsächlich, d.h. in der Welt weltlich aufeinander bezogen, wenn eine reale Vermittlung stattfindet. Die Fleischwerdung des Logos (Joh 1,14) meint eben dies, dass Gott sich als er selbst menschlich in der Welt mitteilt. Das finitum capax infiniti ist damit wie bei Luther und Brenz kein allgemeines metaphysisches Axiom, sondern der soteriologische Sachverhalt, dass Gott sich – entgegen dem metaphysischen Axiom der Unveränderlichkeit, zeitlosen Identität und Überpolarität Gottes – selbst weltlich fasslich macht, sich in die Welt einleibt in einem Menschen, an einem Ort, der aufgrund dieser konkreten Einleibung Gottes repräsentativ für die Menschheit und Welt steht, mit der Gott als er selbst weltlich, d.h. unter den Bedingungen von Raum und Zeit, in Beziehung tritt. Die Relation des an die Raumzeit gebundenen Menschen zu Gott gründet in der von Gott überbrückten Differenz. Kann die Inkarnation kosmologisch ausgeweitet und verallgemeinert werden zu einer Theologie der Natur, welche Gottes essentielle oder auch sakramentale Anwesenheit in der Welt natürlicherweise zu denken erlaubt? S. McFague und G. Jantzen haben dies mit der Metapher der Welt als Körper/Leib Gottes versucht.75 Theologische Begründung ist für McFague die Inkarnation Christi, die als Paradigma für das GottWelt-Verhältnis überhaupt gilt, so dass Joh 1,14 auf das gesamte Universum und alle Leib-Körper-Formen ausgedehnt wird und Gott überhaupt wie der Inkarnierte als sich verleiblichender Gott anzusprechen wäre. Gott wäre eine embodied person, das Universum sein body, sein Leib. Die Welt als God’s body ist eine Radikalisierung der göttlichen Immanenz, die Gottes Präsenz nicht nur an einem Ort Jesus von Nazareth, sondern in und durch alle Körper sieht.76 Damit sollen theistische, dialogische, monarchische oder personale Modelle des Gott-Welt-Verhältnisses durch ein organismisches ersetzt werden, das zugleich kontemplative und ökologisch-feministische Bedürfnisse befriedigt und eine Remythologisierung der christlichen Theologie erlaubt.77 Die Einwohnung Gottes ist in diesem Modell aufgrund der Leib-SeeleAnalogie keine pantheistische Identität, sondern eine gegenseitige Interdependenz,78 welche allerdings die Transzendenz Gottes nicht anders als über die embodied immanence wahrnehmen kann. Das Modell ist eine Anleitung dazu, den Schöpfer in der Schöpfung, in allen Leibern wahrzunehmen. Alle Dinge sind leibliche Metaphern für Gott, „all bodies are reflections of God“79. Die Schwierigkeit des Modells besteht m.E. erstens darin, dass ungeklärt bleibt, ob die Leib-Seele Analogie im Sinne eines ontologischen oder eines methodologischen,

————— 75 G. Jantzen, God’s World, God’s Body; S. McFague, The Body of God. An Ecological Theology. 76 McFague, The Body of God, 133. 77 Vgl. B. Müller, „The Body of God“. Sallie McFagues ökologisch-konstruktivistische Embodiment-Theologie, 47.88.116. 78 Vgl. Clausen, Schöpferisch Interdependenzen, 123–131. 79 McFague, The Body of God, 134.

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eines interaktionistischen oder parallelistischen Dualismus, im Sinne einer materialistischen Identitätstheorie oder eines nichteliminativen Monismus verstanden werden soll.80 In jedem Fall wäre Gott in irgendeiner Weise abhängig von dem physikalischen Zustand seines „Körpers“, zweitens ist eine Gleichursprünglichkeit von Körper und Geist resp. von Gott und Welt unterstellt,81 aber das Hauptproblem ist drittens, dass Gott und Welt in ein eins-zu-eins-Verhältnis gesetzt werden, denn sonst müsste Gott so viele Körper haben wie es Körper gibt, oder sein Körper wäre geteilt in viele Teile. Das Modell reproduziert die Aporie der Diskussion von Descartes mit Henry More (I.8.3). Nur wenn man sich Gott spinozistisch als Seele des Alls vorstellen könnte, wäre das All sein Körper,82 was aber die von McFague ausdrücklich betonte Transzendenz Gottes in der embodied immanence zunichte machen würde.

2. Inkarnatorische Weltgegenwart Gottes: Trinitätstheologisch handelt es sich beim von der Inkarnation Jesu Christi her begriffenen Gott-WeltVerhältnis nicht um eine eins-zu-eins-Relation, sondern um eine „dreieins“zu-viele-Relation. Dass Gott in Christus Mensch wird, bedeutet, dass in Jesus der ganze Gott, aber als der Sohn, d.h. in Selbstunterscheidung von Vater und Geist erscheint. Gott ist im inkarnierten Sohn Gottes in der Welt von der Welt unterschieden, also durch Gott von der übrigen Welt unterschieden, indem sich Gott mit einem Menschen in Raum und Zeit identisch macht und über diesen eine raumzeitliche Beziehung zu sich ermöglicht. Jesus Christus bildet den konkreten Ort, welcher die Beziehung zu Gott vermittelt. Die Relationsstruktur der Beziehung und Unterscheidung zu Gott durch Selbstunterscheidung und Selbstvermittlung Gottes wiederholt sich in der Gegenwart des Auferstandenen im Geist. Der Geist ist die Gegenwart Gottes, der als ganzer Gott, aber vom Vater unterschieden, eine Beziehung zu Gott in Raum und Zeit eröffnet. Gott ist in der Welt von der Welt unterschieden und auf sie bezogen, indem er durch den Geist, genauer den Geist der Schöpfung, der Versöhnung und der Erlösung, sich auf die Geschöpfe bezieht, und zwar so, dass diese auf den ganzen Gott, auf Gott selbst bezogen sind. ————— 80 G. Jantzen hat – natürlich – für eine holistische Leib-Seele-Einheit plädiert (God’s World, God’s Body, 67–74), aber das Modell kann, wegen seiner Strittigkeit in der Philosophie des Geistes, nicht einfach dogmatisch vereindeutigt werden; zu den historisch und gegenwärtig diskutierten Leib-Seele-Modellen vgl. U. Beuttler, Leib und Seele, Gehirn und Geist. Geschichte und Systematik möglicher Verhältnisbestimmungen. 81 „Mit dem hypothetischen Ende des Universums würde auch Gott enden“ (Kreiner, Das wahre Antlitz Gottes, 392); G. Jantzen muss konsequenterweise das Universum für ewig erklären: „if the universe is God’s body then there must be a universe if there is a God; and if God is eternal, so is the universe“ (God’s World, God’s Body, 142). 82 So Lessing nach Jacobi: „Wenn sich Lessing eine persönliche Gottheit vorstellen wollte, so dachte er sie als die Seele des Alls; und das Ganze, nach der Analogie eines organischen Körpers“ (F.H. Jacobi, Über die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn, Werke, Bd. 1/1, 31f = Scholz, Die Hauptschriften zum Pantheismusstreit, 88f), für Jacobi war der Spinozismus Kosmotheismus und damit Pantheismus, vgl. Scholz, Hauptschriften, 174.

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Aus dem zunächst emanativ ausgedrückten Verhältnis des Selbstüberfließens aus Liebe in die Welt hinein, wird damit, inkarnatorisch und pneumatologisch reformuliert, kommunikativ ein Verhältnis der Selbstmitteilung und Selbstvermittlung Gottes, also der Beziehung durch Gott bzw. in Gott auf Gott. Der angemessene Raumbegriff, um dieses Verhältnis der verschränkten Immanenz und Transzendenz auszudrücken, ist nicht das abstrakter, gar unendlich abständiger Relationalität, sondern die Verschränkung von extensiver und intensiver Räumlichkeit. Gott ist in Jesus bzw. im Geist so extensiv, raumzeitlich anwesend bei den Geschöpfen, dass er diese intensiv auf sich bezieht. Durch Einbeziehung in die Sphäre seiner kommunikativen Selbstgegenwart, resultiert eine intensive Nähe. Vermittels des Heiligen Geistes verbreitet Gott in Raum und Zeit die extensive Gegenwart, in eine intensive Gegenwart zu ihm zu treten, d.h. in eine solche Gemeinschaft, die seiner eigenen communio entspricht. Die Gegenwart der Fülle Gottes, repräsentiert in seinem schöpferischen, versöhnenden und erlösenden Geist, erzielt eine Art Anregungszustand, einen Zustand der Kopräsenz von dem, was ist, mit dem, was von Gott her gilt, dass also die profane Natur Schöpfung ist, die Welt mit Gott versöhnt ist und sich auf dem Weg zur Neuschöpfung befindet. Die extensive und intensive Gegenwart Gottes führt auch unter den Geschöpfen zu einer extensiven und intensiven Verhältnisbildung, nämlich zur Erfahrung der Welt als (ursprünglicher, versöhnter und erneuerter) Schöpfung. Intensiv und extensiv ist dieses Verhältnis, weil es einmal das Natürliche als Schöpfung verstehen lässt und zum andern vom Einzelnen einen Zusammenhang von Ganzem vermittelt. Dazu ist nicht nötig, dass ein Allzusammenhang der Natur als solcher (empirisch) erfahren oder (naturphilosophisch) relektiert wird. Es genügt, die Schöpfergegenwart Gottes so wahrzunehmen, dass die Welt im Ganzen Schöpfung ist (s.o. II.7.6), dass also die Ubiquität von Schöpfung für alle Zeiten und Weltgegenden gilt. Um diesen Schluss von der einzelnen Erfahrung zum Ganzen vollziehen zu können, braucht es die Lehre von der Schöpfungsmittlerschaft Christi, die wir bisher nicht ausdrücklich thematisiert haben. 3. Die Schöpfungsmittlerschaft Christi kann sehr verschiedene Funktionen erfüllen. Man kann sie mit Pannenberg gegen ein faktisch monotheistisches für ein echt trinitarisches Schöpfungsverständnis in Anschlag bringen und den Logos asarkos als Prinzip der Andersheit und damit als inneren Grund des Endlichen in Gott verstehen, der als Weisheit Gottes, die mit dem Logos identisch ist und sich konkret im Logos ensarkos Jesu Christi realisiert, nach Außen tretend, die Vielfalt und die konkrete Ordnung der Welt begründet.83 Die Schöpfungsmittlerschaft kann auch mit O. Bayer in einem hermeneutischen und schöpfungs-soteriologischen Sinn verstanden werden,

————— 83

Pannenberg, ST 2, 42–45.79–82.

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dass Gott sich in Christus so ins Kreatürliche erniedrigt, dass er deren Leiden und Versehrtheit zu seinem eigenen macht und als Mittler, durch Machtwort und Mitleiden, die Gottes- und Schöpfungsgemeinschaft wiederherstellt.84 Man kann sie auch mit W. Schoberth und F. Mildenberger als Schöpfungsmittlerschaft des Gekreuzigten und Auferstandenen verstehen und kritisch sowohl gegen eine theologia gloriae des Kosmos als auch gegen eine Spiritualisierung der Erlösung zur Geltung bringen.85 Das Recht dieser differenzierten Versuche soll weder bestritten noch diskutiert werden, wofür eine genaue hermeneutische Reflexion auf die Funktion des Lehrstücks vor dem Hintergrund der ntl. Texte (Joh 1,3; 1.Kor 8,6; Kol 1,15–20; Hebr 1,2f, inklusiv der jüdischen Weisheitsspekulation und der platonischen Logos-Konzeptionen) nötig wäre. Das kann und braucht hier nicht geleistet werden.

Die Schöpfungsmittlerschaft soll hier, indem wir das Anliegen einer inkarnatorischen Theologie der Natur aufnehmen, in Verallgemeinerung der Inkarnation verstanden werden als eine solche Selbstvermittlung Gottes in die Welt, dass Gott als Schöpfer der Welt weltlich und zugleich (darunter) göttlich anwest. Wie Gott in Jesus von Nazareth der Welt menschlich einwohnt, so wohnt er der Welt im Schöpfergeist natürlich, d.h. unter den natürlichen Ordnungen und Prozessen, aber damit nicht minder als er selbst, als Gott, der Schöpfer, ein. Dies ist so zu verstehen, dass Gott sich beständig so ins Weltinnere einfaltet, dass er deren Sein zu seinem eigenen macht und zugleich von innen her auf sein göttliches, trinitarisches Leben öffnet. Indem er als er selbst sich in die Schöpfung gibt, ist er in der Schöpfung gegenwärtig und wirksam. Dies bewirkt, dass das räumlich Verschiedene und das in die Differenz der Zeiten Auseinanderfallende als ungegenständliche Einheit aufgefasst werden kann. Kraft der praesentia operosa Gottes (s.o. II.4.6), der als Erhalter Gegenwart und Zukunft an die Vergangenheit anschließt, als Versöhner in der Gegenwart selbst aufscheint und als Vollender von der Zukunft her in der Gegenwart wirksam wird, besteht die zeitliche Einheit der Welt, wenn auch noch nicht im Ganzen sichtbar, sondern sich unter den evolutiven Weltprozessen als Entwicklung und Naturzusammenhang zeigend, im dreieinen Gott. Gottes Gegenwart verschränkt die Zeiten.86 Bei allen Brüchen und Gebrochenheiten der Natur- und Lebensprozesse verheißt Gottes Gegenwart, die heutige Wirklichkeit auf ungeahnte Möglichkeiten zu öffnen und einst als Ganzes zu vollenden. Der gegenwärtig wirksame Gott entfaltet sich von jedem Punkt der Raumzeit aus als der dreieine Schöpfer, der als Sohn und Geist das Zerbro————— 84 Bayer, Schöpfung als Anrede, bes. 62–79; ders., Art. Schöpfer/Schöpfung VIII., TRE, 337f. 85 W. Schoberth, „Es ist alles durch ihn und zu ihm geschaffen“ (Kol 1,16). Zum Sinn der Lehre von der Schöpfungsmittlerschaft Christi; ähnlich Mildenberger, Biblische Dogmatik, Bd. 3, 437f. 86 Vgl. Bayer, Schöpfung als Anrede, 129ff; ders., Zugesagte Gegenwart, 1–5.

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chene heilt und das Getrennte verbindet, die gebrochene Einheit der Schöpfung wiederherzustellen verheißt. Die Schöpfungsmittlerschaft Christi hat hier die hermeneutische, einen Zusammenhang erschließende Funktion, dass die Einheit des Inkarnierten mit dem Präexistenten und dem Wiederkommenden trotz des Bruches zwischen der uranfänglichen und der gegenwärtigen, sowie zwischen der gegenwärtigen und der neuen Schöpfung eine Kontinuität erschließt, und zwar von ihrer je gegenwärtigen Mitte aus. Der Menschgewordene steht in der Mitte der Zeiten und Räume und erschließt den Zusammenhang nach hinten und nach vorne. An den Heilungs- und Naturwundern exemplarisch, erneuert er die Schöpfung, wie sie gemeint war und wie sie vollendet werden wird. Gottes Schöpfergegenwart in der „Mitte der Zeit“ gilt hier und heute, sie ist die Zusage, dass die Welt, so wie sie ist, uns und dem Leben zugute gemeint ist, und dass die Selbstzusage Gottes durch die Kreatur aufgrund der evolutiven Weltentwicklung nicht abbrechen, sondern sich mit dem jüngsten Tag vollenden wird. Räumlich besagt die Schöpfungsmittlerschaft Christi, dass Gott der Welt so innerlich anwest, dass er sie zu einer Gemeinschaft gegenseitigen Anderssein zusammenschließt. Damit haben wir versucht, einen trinitarischen Raumbegriff zu etablieren, bei dem die Weltgegenwart Gottes seiner Selbstgegenwart entspricht. Die weltlichen Dinge behalten gerade als Wirkung des Schöpfergeistes ihren weltlichen, d.h. naturgesetzlich explizierbaren Zusammenhang. Eine Einheit bilden sie darin, dass sie durchgängig als je Einzelne im jeweiligen Zusammenhang Schöpfung sind. Schöpfung ist das Integral der Welt als Einheit von Verschiedenem. Schöpfung ist eine Art Umraum, welcher die Welt zu einer Einheit zumammenschließt. Dieser Umraum ist ein Horizont, durch das jedes Einzelne in einen Zusammenhang gestellt wird, der nicht als solcher (gegenständlich oder naturgesetzlich) vorhanden ist – die Welt sieht nicht wie ein sinnvolles Ganzes oder wie die Einheit einer Schöpfung aus –, der aber hermeneutisch, unter bestimmtem Blickwinkel, aufgeschlossen werden kann. Schöpfung ist eine Zusammenschau, die Welt als ein Ganzes zu sehen, obwohl dies empirisch nicht gegeben ist. Ein Ganzes ist die Schöpfung umgriffen und durchdrungen von der Schöpfergegenwart Gottes. Dieses Ganze wird aber einmal, als neue Schöpfung, auch offensichtlich gegeben sein. Schöpfung ist daher auch eine Vision, die Welt als auf dem Weg zu einem Ganzen, der vollendeten, neuen Schöpfung zu begreifen. Weil es die Vision, die Schöpfungsabsicht Gottes ist, handelt es sich um eine realistische Utopie, welche im Glauben „geschaut“ wird. Dieser Zusammenhang und Endzweck wird aber, das ist die Pointe gegen alle platonisierenden Kosmologien, am Einzelnen erfahren, wenn Gott als Schöpfer gegenwärtig wahrgenommen wird. Noch einmal zeitlich gesagt: Die Ewigkeit, die Ganzheitsdimension der Zeit, erscheint in

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der Zeit als ihre ungegenständliche, qualitative Innenseite, als kairos.87 Sie ist aber nicht im Überblick als Ganze da, sondern als Prolepse des Ewigen, als messianisches „schon jetzt“ der Parusie und Weltvollendung.88 Die Einheit der Welt als Schöpfung meint eine Art eschatologischer Verdichtung der zeitlichen Vollendung im Raum: einer Intensivierung des extensiv Ausgebreiteten, also dessen, was ist, zu dem, was im Ganzen und Letzten sein wird. Es wird sozusagen aus einem Innenraum heraus ein Blick nach vorne, auf’s Ganze eröffnet. Die Wirklichkeit, die diesen Zusammenhang herstellt, heißt Gott, der Sohn, in der Funktion des Schöpfungsmittlers, dem Versöhner und Vollender der Schöpfung. Der Horizont, der solchen Zusammenhang erschließt, heißt Gott, der Heilige Geist als schöpferischer, versöhnender und erneuernder Geist.

8.5 Phänomenal-relationale Ontologie der geteilten Innenräume 1. Das geeignete Modell, um die sowohl extensive wie intensive Gegenwart Gottes in einem zu beschreiben, ist die bipolare Sphäre. Sphäre ist hier zu verstehen als ein Horizont mit Innenraum, wobei der Innenraum so geartet ist, dass er Pole mit Zwischenraum hat. Eine solche Sphäre ist eine besondere Struktur von Atmosphäre: eine Innenraum-Rundsphäre mit Polen und Zwischenraum. Das Gegenüber ist durch ein Zwischen und ein Um-Herum atmosphärisch intensiviert und extensiv horizontiert. Die Erfahrung der Schöpfergegenwart Gottes hat eine solche Struktur. Es ist die Erfahrung des Schöpfers in der Schöpfung, der im extensiven Raum intensiv gegenwärtig ist. Die bipolare Sphäre scheint uns geeignet, die räumliche Dimension des Gott-Welt-Verhältnisses zu beschreiben. Sie ist aber auch in der Lage, (metaphorisch) den innertrinitarischen Beziehungsraum Gottes (8.3.2.) und (realistisch) die geschöpflichen Lebensverhältnisse räumlich zu beschreiben. Daher eignet sich die duale Sphäre als Grundbegriff einer theologischen Raum- und Analogielehre. Die Anregung dafür geht auf P. Sloterdijks Sphären-Projekt, besonders den ersten Teil über die Mikrosphären, zurück.89 ————— 87 Zum Zusammenhang der Zeiten sowie von Zeit und Ewigkeit s.o. II.4.6.2. 88 Die Frage, ob für Gott die Ganzheit der Welt-Zeit schon da ist (so Pannenberg, ST 2, 112f), wird man von der Schöpfungsmittlerschaft Christi her eher verneinen müssen. Nicht nur würde sonst die Ewigkeit zeitlos, d.h. ohne innere Differenz, als reine Totalität begriffen, sondern es würde auch die funktionale Unterschiedenheit des Auferstandenen mit dem Weltvollender zunichte gemacht. Solange nicht Christus die Welt vollendet hat, ist sie auch für Gott nicht vollendet, sondern noch im Werden. 89 P. Sloterdijk, Sphären, Bd. I: Mikrosphärologie. Blasen; vgl. auch W. Teichert, Sloterdijks Gesprächsangebot an die Theologie.

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Eine grundsätzliche Auseinandersetzung mit Sloterdijk soll hier nicht erfolgen. Es ist ziemlich schwer zu sagen, welchen theoretischen Status sein Projekt einnehmen soll und kann. Handelt es sich, G. Bachelard folgend, um eine Poetik des Raumes, gar um ein freies, assoziatives Spiel mit halbrunden Formen? Handelt es sich, Heidegger um die in „Sein und Zeit“ angelegte Raumdimension erweiternd, um eine Fundamentalontologie des konkreten In-der-Welt-Seins? Handelt es sich um eine antisubstantielle Ontologie der Relation, um eine Art postmodern-metaphorischer Metaphysik oder handelt es sich um eine psychoanalytische Tiefengrabung im menschlichen Seelenraum? Handelt es sich um eine ästhetische Theorie ohne Begriffe oder um einen praktisch-ästhetischen Imperativ, der mit schwebenden Metaphern Stimmungen evozieren will? Jede dieser Einordnungen könnte man aus dem Material und den eingestreuten Reflexionen von Sphären I: Blasen belegen.90

Wir wollen Sloterdijks begrifflich (absichtlich?) unscharfen, oft theoretisch ungeklärten oder schwachen, aber metaphorisch sehr präzisen Darlegungen nutzen, um unsere phänomenologischen und theologischen Überlegungen zum Raum zu einem Grundbegriff zu verdichten, aus dem sich jedenfalls einige der für uns wesentlichen Phänomene rückwirkend entfalten lassen. Sloterdijk entwickelt eine relationale Ontologie der Inheit, die gleichermaßen gegen die immer noch wirkmächtige Substanz- und EinzeldingMetaphysik ebenso wie gegen ein allzu abstraktes Verständnis von In-derWelt-sein gerichtet ist. Dieser Versuch reizt uns, einen relationalen und konkreten Raumbegriff theologischer Verhältnisse zu formulieren. Es ist ein menschlich-lebensweltlicher, wir können erweiternd sagen, ein geschöpflicher Raumbegriff des Zusammenseins von Verschiedenem, der hier entwickelt wird. Wir entwickeln zunächst selbständig den Grundbegriff, um ihn dann auf Sloterdijks metaphorische Sphärologie zu beziehen. Die Grundbeobachtung besteht darin, dass alle fundamentalen menschlichen Verhältnisse situativ verortet sind und einen gemeinsamen Zusammenhang von Insein etablieren. Menschen sind bei gelungenem Leben „einbezogen eine bipolare Sphäre, einen intim getönten Beziehungsraum, den es nur geben kann kraft der Zugehörigkeit und der Zugewandtheit von Zusammenlebenden zueinander – einen Nähe-Raum also, den man kaum bemerkt, solange man ihm angehört, und den man vermisst, wenn man ihn verloren hat.“91 Der Grundraum ist ein dualer Selbstbehälter, ein selbsterzeugter Innenraum. Menschliche Individuen sind keine isolierten Einzeldinge, sondern „Dividuen“, es gibt Menschen nur als Pole von dualen Sphären. Das Elementarteilchen dieser anthropologischen, wir können allgemeiner sagen schöpfungstheologischen Ontologie gelebten Lebens, ist weder ————— 90 189. 91

Vgl. den eigenen Kommentar P. Sloterdijk/H.-J. Hinrichs, Die Sonne und der Tod, 136– Ebd., 143.

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das Einzelding noch das Feld, auch nicht das Ich oder Es plus Relation, auch nicht das zwiefache Du – um alle formalen Möglichkeiten einer IchDu-Es-Ontologie zu nennen92 –, sondern der gemeinsame Raum von Dualen. Der Grundzustand des polaren Duals ist das der Kopräsenz in gemeinsamem Innenraum. In-sein ist zu denken als „das Zusammensein von Etwas mit Etwas in Etwas“93. Allgemeiner gesagt: Alles, was ist, kommt in einer mindestens dreistelligen Beziehung vor: Ein Ich, Du oder Es bezieht sich auf ein anderes Ich, Du oder Es, wobei sich das eine hier und das andere dort befindet. Es ist also, relationsontologisch formuliert, eine Beziehung von Etwas auf Etwas. Die Pointe ist nun, dass das Dritte, die Relation, nicht einfach logisch das Verbindungsglied von den beiden darstellt, die beiden äußerlich bliebe,94 sondern ein eigenes, ein Drittes, darstellt, welches die Pole zu einem gemeinsamen Raum zusammenfügt. Es ist in jeder zweistelligen Relationierung immer latent ein drittes Element da, welches die Beziehung, die Einheit und Unterschiedenheit der Pole konstituiert und damit die Pole mitkonstituiert. Dieses Dritte ist zwischen und um die Pole situiert. Beide Pole sind immer latent in einen umschließenden Raum aufgehoben und immer ist unanschaulich ein drittes Element, das „Zwischen“ den Polen mit da. Es handelt sich also sozusagen um eine duale Monade (allein die Widersprüchlichkeit dieses Ausdrucks zeigt an, dass sich das Phänomen in einer Einzeldingmetaphysik und auch in einer abstrakten Relationsontologie nur reduziert erfassen lässt). Das Verbundensein bewirkt bei geschöpflichen, lebendigen Wesen ein Zusammensein durch einen gegenseitig induzierten Zwischenraum, so dass beide in eine wechselseitig angeregte Atmosphäre geraten, in einen gemeinsamen Anregungszustand der Kopräsenz, der sie in einem gemeinsamen Innenraum enthalten sein lässt. Das System dieser elementaren Räume ist natürlich dynamisch zu denken.95 In der zeitlichen Wirklichkeit, im wahren Leben und in den tatsächlichen Naturprozessen, findet ständig eine Komplexifizierung und Ausdifferenzierung der Elementarräume statt. Es bilden sich neue Verhältnisse, Räume lagern sich zusammen zu größeren, lösen sich wieder auf, sind vielfach übereinander geschichtet und ineinander verschachtelt. Die Wirk————— 92 Zu Karl Heims Raum-Modell der Ich-Du-Es-Ontologie, über deren latente Statik wir hier hinauszukommen versuchen, vgl. Beuttler, Gottesgewissheit in der relativen Welt, bes. 229ff. 93 Sloterdijk, Sphären I, 552. 94 Erst seit Kant wurde, auch unter dem Einfluss der Naturwissenschaften, die Relation zu einer der Grundkategorien erhoben, der Substanz und Akzidenz untergeordnet sind (KrV, B 106), während für die vorkantische Ontologie die Relation bloß äußerlich, bloß relativ war, vgl. N. Hartmann, Der Aufbau der realen Welt. Grundriss einer allgemeinen Kategorienlehre, 178–180. 95 Als metaphysische Kosmologie ausgeführt, ergäbe sich daraus die Whiteheadsche Relationsontologie, die hier nicht weiter besprochen werden kann, dazu vgl. Beuttler, Gottesgewissheit in der relativen Welt, 301–314.

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lichkeit ist nicht ein mechanisches System von Elementarteilchen, die miteinander linear verbunden sind und sich mit der Zeit bloß umlagern. Es ist ein kreativer und offener, d.h. nicht einfach logisch umordnender und komplexitätserhaltender, sondern ein nichtlinearer, komplexitätserweiternder und/oder –abbauender Prozess. Begrifflich ließe sich dieser offene Prozess der Räume noch erheblich präzisieren.96 Im Grundsatz handelt sich jedenfalls um ein offenes System von mehrpoligen Räumen und nicht um stabile Mikrokosmen, die sich auch nicht zu einem alleinzigen, geschlossenen Rundkosmos des Seins zusammenschließen lassen, der gar noch mit der Gotteskugel koextensiv wäre.97 Der Prototyp für den dualen Raum ist für Sloterdijk die bipolare Sphäre. Es geht darum, die „Kategorie der Relation, der Beziehung, des Schwebens in einem Ineinander-Miteinander, des Enthaltenseins in einem Zwischen, zu einer erstrangigen Größe zu erheben und die sogenannten Substanzen und Individuen nur als Momente oder Pole in einer Geschichte des Schwebens zu behandeln.“98 Sloterdijk nennt eine Reihe von elementaren Beispielen für den intimen Beziehungsraum von verschiedenen Existierenden in einem gemeinsamen Äther. Es sind die intimen Mikrosphären von gemeinsamgegenseitiger Nähe, z.B. die Interfazialsphäre des von Vertrautheit getönten Raumes zwischen Gesichtern, das Feld magischer, gegenseitiger Anziehung, der Resonanzraum der vertrauten (Mutter)stimme, die Immanenz im Innenraum der Mutter und ihre nachgeburtlichen Metaphorisierungen und andere mehr.99 Jeweils handelt es sich um eine getönte Raumsphäre, um den Aufenthalt in einem geteilten Innenraum. Das Subjekt oder das Dasein kann nur als enthaltenes, umgebenes, umgriffenes, angehauchtes, durchtöntes, gestimmtes, angesprochenes da sein. Hier-sein, Anwesend-sein bei sich und bei anderen gibt es nur als In-sein. Der Umraum ist dabei mehr oder weniger dauerhaft, mehr oder weniger dicht, aber er fehlt nie. Selbst die oppositori————— 96 Außer Whitehead hat besonders G. Günther mit Rückgriff auf Hegels dialektische Logik und auf kybernetische Rückbezüglichkeit solche Prozessuralität als strukturale Offenheit (Transkontexturalität, Polykontexturalität) beschrieben, hierzu vgl. Beuttler, Gottesgewissheit in der relativen Welt, 314–325. 97 Vgl. G. Günthers Einspruch gegen die Transzendenzvernichtung der theistischen Metaphysik durch Gott, die absolute coincidentia oppositorum: „Die Welt [ist] nicht eine geschlossene Kontextur, die alles Inhaltliche umfasst und es auf einen metaphysischen Generalnenner bringt. Sie ist vielmehr ein System von sich unendlich erweiternden Kontexturen von beständig wachsendem strukturellem Reichtum. In ihr verwirklicht sich eine unvollendbare, ins Unendliche ausgespannte Poly-Kontexturalität“ (Beiträge zur Grundlegung einer operationsfähigen Dialektik, Bd. III, 197). 98 Ebd., 139. 99 Sloterdijk, Sphären I, 550.

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schen Verhältnisse etwa der Fremdheit inmitten einer Gruppe, der Abstoßung, der Einkapselung oder der Einsamkeit, die Sloterdijk nicht berücksichtigt, sind nicht ohne Umraum. Hier ist der zweite Pol eine Leerstelle, der ein umgreifendes Zwischen von Distanz, Leerheit, Verlust etc. erzeugt. Die bipolare Sphäre ist allgemein ein gemeinsamer Raum, der innen atmosphärisch aufgeladen ist, das Enthaltene zusammenschließt und nach außen einen einen mehr oder weniger stabilen Umraum oder auch offenen Horizont hat. 2. Inwiefern ist dieser Raumbegriff mitsamt den Beispielen geeignet für unser Projekt eines theologischen Raumbegriffes? Es sind eine ganze Reihe der in den vorstehenden Kapiteln besprochenen Sachverhalte, die sich damit auf eine einfache Anschauung bringen lassen. Der Raum der Geschöpfe wird dadurch erstens als Verhältnis-Raum von Verschiedenem im Zusammenhang bestimmt. Es gibt schöpfungstheologisch keine neutralen, bloß logisch relationierten Verhältnisse. Relationen sind mit „symbolischer Prägnanz“ versehen, sie sind sinntragend und stehen in einem Verweisungszusammenhang (II.7.5). Verhältnisse implizieren Nähe oder Distanz, immer sind Sinnbezüge, Interpretationen und Reflexionen involviert. Damit ist behauptet, dass Geschöpfe nie nur äußerlich auf anderes bezogen sind, sondern auch innerlich, d.h. als sie selbst. Fremdbezug ist mit Selbstbezug verbunden. Alle Geschöpfe stehen in kommunikativen Verhältnissen miteinander. Selbst-sein nährt sich von Bei- und Mit-anderensein. Die natürlichen Dinge, sogar die Artefakte, haben eine Ausstrahlung, die andere ergreift, soweit sie sich davon ergreifen lassen können, es entstehen Korrespondenzen und Kopplungszustände von gemeinsamer Gegenwart. Schöpfung bedeutet i) den Raum der Mit-Gegenwart von Geschöpfen (II.7.6), aber auch ii) der realen Gegenwart des Schöpfers unter den natürlichen Beziehungen: der Gegenwart des Schöpfers als Grund und Horizont gelebten Lebens, d.h. als tragender und verbindender Umraum (8.2). Zweitens kann die Erfahrung der Gegenwart Gottes, die wir oben als räumlich ergossene Atmosphäre beschrieben haben (II.3.1/3.4/3.6), auch als In-sein in einem gemeinsamen Raum beschrieben werden. Die umfassende Gegenwart Gottes beschreibt das Nähe- und Vertrauensverhältnis des Glaubenden oder des Beters zu Gott. Nur in gewisser Hinsicht eignet sich als Metaphorisierung hierfür der Mutterleib (Jes 49,15). Der Mutterleib ist der beschützende Urraum, der absolute Immanenzraum, mit dem alles begann, der Raum aller Räume, wie der Psychoanalytiker R. Laing formuliert:

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Die Welt ist mein Mutterleib, und der Leib meiner Mutter war meine erste Welt. Der Mutterleib steht am Anfang der Reihe von Zusammenhängen Behältern allen Dingen, in denen man ist: ein Zimmer ein Raum eine Zeit eine Beziehung eine Stimmung alles, was einen umgibt, was in der Nähe ist jeder, den ich in meiner Nähe spüre meine Atmosphäre meine Umstände (circumstances) meine Umgebung die Welt.100

Natürlich kann der Christ in diesem Text „Welt“ durch „Gott“ ersetzen und sagen: „Gott ist wie ein Mutterleib, wir sind wie das Embryo in Gott getragen, geschützt, von Gott umgeben.“101 Das ist akzeptable Metaphorik, sofern damit „der verlorene räumliche Gott“ wiedergefunden wird: „Wir sind in Gott, nicht er in uns.“102 Aber abgesehen davon, dass solche uteralen Sehnsüchte immer etwas Infantiles an sich haben – der fötalen Immanenz folgt gesunderweise die Abnabelung außerhalb und gegenüber der Mutter103 –, ist der reine Immanenzraum trinitätstheologisch unterkomplex. Christologisch und pneumatologisch betrachtet handelt es sich um ein Bezogensein auf Gott durch Gott in Gott (s.o. 8.4.2.).Das leibhafte In-sein schließt auch eine Differenz des Gegenüber ein. Sachgerechter erscheint der Raum der interfazialen Vertrauenssphäre, zumal diese auch als Metapher für den trinitarischen Innenraum Gottes dienen kann und so in der Analogie zum Ausdruck zu bringen vermag, dass trinitarisch die Gegenwart Gottes ein Einbezogensein des Geschöpfes in das Selbstverhältnis Gottes meint. Es erweist sich, wie schon am Versuch, Gott als Uteralraum der Welt zu bestimmen (8.3.1.), dass reine, maximal zweistellige Immanenz- oder Transzendenzverhältnisse nicht ausreichen, um das Gott-Welt-Verhältnis zu beschreiben. Bei den reinen Immanenzen sind Umgebendes und Umgebenes koextensiv miteinander. Die „Kon(ex)zentrik von Kosmoskugel und Gotteskugel“ würde „die runde Einschließung aller Immanenz in eine um————— 100 R.D. Laing, Die Tatsachen des Lebens, 45f, zit. nach Sloterdijk, Sphären I, 319f. 101 D. Ritschl, Gott wohnt in der Zeit, 251. 102 Ebd., 255. 103 Vgl. Moltmann, Der Geist des Lebens, 301, mit kritischem Bezug auf feministische Mutterbilder.

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fassende Transzendenz“104 bedeuten und damit die Transzendenz und Offenheit der Welt gegenüber Gott und ebenso die Transzendenz Gottes in der Welt vernichten. Nicht alle Beispiele von Intimsphären sind zureichende Metaphern für das Gott-Welt-Verhältnis, der Grundbegriff des Inseins als Zusammensein von Etwas mit Etwas in Etwas ist hingegen ein tragfähiger, nichtmetaphorischer Raumbegriff. Der Raum in diesem Sinne ist theologisch und naturphilosophisch valent, denn er verbindet den relationalen Raum von Leibniz und Einstein (als Ordnung von Koexistierendem) mit dem Newtonschen substantiellen Raum (als immaterielles Enthaltendes) unter phänomenologischer Perspektive. Relationen sind als realer Zusammenhang gedacht und der Zusammenhang dient als Integral von Verschiedenem. Raum in diesem Sinn bringt die Weltverhältnisse und das Gott-Welt-Verhältnis in Entsprechung zum innerlichen Selbstverhältnis Gottes, der communio gegenseitigen Andersseins (8.3.2.). Durch den Raum ist Gott der Schöpfung unmittelbar, intime gegenwärtig, wie More, Newton und Clarke zum Ausdruck bringen wollten,105 aber dieser Raum ist nicht von oben oder außen her, als allumfassende Gegenwart Gottes konzipiert, sondern von Gottes konkreter Anwesenheit hier und jetzt her. Es handelt sich, mit dem Fachbegriff gesagt, um eine intrinsische Analogielehre, eine analogia attributionis intrinsecae.106 Gott hat ein innerliches Verhältnis zu den Geschöpfen, das von geschöpflichen Innen-Verhältnissen her analog beschrieben werden kann. Der Raum, verstanden als InnenRaum, ist dasjenige Ubi, wie Gottes Gegenwart in den weltlichen Räumen erscheint und begriffen werden kann. Dieser Raumbegriff eignet sich dafür, die Gegenwart Gottes im gelebten, als auch im kosmisch-natürlichen und geschöpflichen Raum auszudrücken. Die im Glauben wahrgenommene Adessenz Gottes ist zusammengefasst ein geschöpfliches Leben tragender, umschließender und öffnender Innen-Umraum und Gottes praesentia operosa kann verstanden werden als unverfügbare Wirk-Präsenz im offenen Innen der Weltprozesse. Gottes transzendente Immanenz ist durch ihn selbst in Entsprechung zu seinem Selbstverhältnis in den Innenraum der Welt vermittelt. Gottes immanente Transzendenz ist seine Gegenwart im offenen Weltinnenraum.

————— 104 Sloterdijk, Sphären II, 471. 105 Vgl. oben Kap. I.8.3.4./8.4.1./8.5f. 106 Zu den verschiedenen Formen von Analogielehren vgl. Beuttler, Gottesgewissheit in der relativen Welt, Kap. VIII.1.

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8.6 Die zugesagten Gottes-Räume: Haus, Himmel, Gottesdienstraum Gott sagt sich in Räumen zu. Seine Gegenwart begegnet und ereignet sich im konkreten Raum. Der Raum, in dem Gottes Gegenwart zu erwarten ist, ist der zugesagte Raum, in dem Gott sich selbst verspricht. Seine Zusage ergeht konkret und sie ereignet sich konkret: in bestimmten Räumen, in denen er sich aufsuchen und finden lässt. Als Konkretion der Raumgegenwart Gottes möchte ich zum Abschluss die drei fundamentalen Räume von Gottesgegenwart betrachten, die den Weisen der Präsenz Gottes entsprechen: das Haus, den Himmel und den gottesdienstlichen Raum. Diese drei Räume sind konkrete Formen des gelebten, des kosmologischen und des religiösen Raums. An ihnen lässt sich prägnant studieren, wie sich Gegenwart Gottes ereignet und wie sie sich phänomenologisch beschreiben lässt. Die drei folgenden Abschnitte wollen keine umfassenden Analysen sein, sondern geben eine thetische Anwendung der entwickelten Raumbegriffe. Sie dienen der rückwirkenden Bewährung und Verifikation der erarbeiteten Raumtheorien. Eine wichtige Pointe unserer Analysen bestand darin, dass die drei Typen von Räumen, der gelebte, der kosmologische und der religiöse Raum, aufeinander bezogen sind. Dieser Zusammenhang ist an den konkreten Ausprägungen besonders deutlich. Haus, Himmel und Gottesdienstraum integrieren jeweils die beiden anderen und sind so miteinander verschränkt. 1. Das Haus 1. Das Haus steht unter dem Himmel auf der Erde mitten in der Welt. Das Haus ist ein Abbild des Kosmos, verstanden im vorwissenschaftlichen Sinn als gegliederter und orientierter Raum. Das Haus, so schreibt G. Bachelard in seiner „Topophilie“ der „Bilder des glücklichen Raumes“, „das Haus ist unser Winkel der Welt. Es ist – man hat es oft gesagt – unser erstes All. Es ist wirklich ein Kosmos. Ein Kosmos in der vollen Bedeutung des Wortes.“107 Struktur- und ordnungspraktisch zeigt sich dies daran, dass jeder Hausbau, wie man mit Eliade sagen kann, einer Weltgründung gleichkommt, der Umwandlung von amorphem Chaos in geordneten Kosmos (s.o. II.2.4.4.). Jeder Hausbau bedeutet (ohne dass man dabei die magischen Riten von Einlassungen in das Fundament bemühen müsste) Gründung eines Kosmos ————— 107 G. Bachelard, Poetik des Raumes, 25.31; der Titel ist nur zur Hälfte treffend, denn die Bilder der „glücklichen“ Räume, welche durch ihre Stimmung, Gliederung und Gestalt einen inneren Seelenzustand widerspiegeln, sind auch eine präzise Phänomenologie der Räume selbst, vgl. ebd., 26.30.88.

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im Chaos, jedes Haus ist ein Bild der Welt, eine imago mundi. „Jeder Bau, jedes Verfertigen [hat] die Kosmogonie zum Modell. Die Erschaffung der Welt wird zum Archetypus für jedes menschliche Schöpfungswerk“108. 2. Das Haus ist auch das Zentrum der (je eigenen) Welt. Das Haus bzw. die Wohnung stellt die Mitte und das Zentrum des Lebensraumes dar. Von hier geht man morgens zur Arbeit, hierher kehrt man abends „nach Hause“ zurück, denn hier ist man „zu Hause“. In der unübersichtlichen – globalisierten – Welt draußen mit der Unzahl von Straßen, Plätzen, Gegenden „kann der Mensch nicht leben. Er würde seinen Halt verlieren, wenn er nicht einen festen Bezugspunkt hätte, auf den alle seine Wege bezogen sind.“109 Nie geht man weiter auf die Reise, als dass man wieder zurückkehren könnte, es sei denn, man zieht aus oder um, dann aber in ein neues Haus ein, das vielleicht nicht sofort, aber dann nach und nach zum Heim, zum neuen Lebensraummittelpunkt wird. Das Haus ist Fundament (II.2.2) und Basisstation (II.6.6) des orientierten Raums (II.2.4). Das Haus als Zentrum des Lebensraums entspricht der axis mundi als Nullstellung und Zentralort der Weltorientierung. Von hier aus entfaltet sich der Lebensraum und hierauf ist er zurückbezogen. Das Haus ist die Mitte des Lebens, wo man daheim ist und von wo aus Orientierung möglich ist. Auch der moderne Mensch, der kein absolutes Weltzentrum mehr kennt (Einleitung.1/II.6.5), kann auf ein Zentrum seines Lebensraums nicht verzichten. Gegenüber dem vormodernen Menschen ist der heutige Mensch, der Kosmopolit und global player, im existentiellen Nachteil. Weil seine Welt kein Zentrum mehr hat, hat er keinen festen Punkt mehr, an dem er sich (geistig, kulturell, religiös) absolut orientierten kann. Er muss ein Zentrum je für sich finden. Dafür dient ihm das Haus als Ausgangspunkt, der ihm gegeben ist. Wer ein Haus hat, ist nicht haltlos, nicht ohne Mitte.110 3. Denn die Reihe der geschlossenen Räume „Ei, Nest, Haus, Vaterland, All“111 bietet eine breite Palette von engerem und weiterem Wohnraum und von Heimat an. Bevor der Mensch „in die Welt geworfen wird, wie die eiligen Metaphysiker lehren, wird der Mensch in die Wiege des Hauses gelegt. […] Das Sein ist sofort ein Wert. Das Leben beginnt gut, es beginnt umschlossen, umhegt, ganz warm im Schoße des Hauses. […] Vom Ge————— 108 Eliade, Das Heilige und das Profane, 41.43. 109 Bollnow, Mensch und Raum, 123. 110 Anders als H. Sedlmayr, Verlust der Mitte. Die bildende Kunst des 19. und 20. Jahrunderts als Symptom und Symbol der Zeit, geht es uns nicht darum, kulturkritisch wieder eine vormoderne Ontologie der Mitte zu etablieren, sondern von der Relativität aller Mitten her das Gegebensein von relativen Mitten aufzuspüren. 111 Bachelard, Poetik des Raumes, 104.

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sichtspunkt des Phänomenologen, der Ursprünge sieht, ist die bewusste Metaphysik, die mit dem Augenblick einsetzt, wo das Sein ‚in die Welt geworfen‘ wird, eine Metaphysik zweiter Position. Sie überspringt die Präliminarien, wo das Sein ein Wohlsein ist, wo das menschliche Wesen in ein Wohlsein hineingelegt wird“112. Das Haus ist nicht nur Gegenentwurf zur unbehausten Fremde, sondern auch Wiederholung des mütterlichen Urraumes113 im elterlichen Haus. Das Haus ist ebenso imago et centrum mundi wie „ein Nest in der Welt“114. Das Haus ist zugleich schützender Innenraum der Geborgenheit – „wir leben darin mit einem angeborenen Vertrauen“115 – wie Ausgangspunkt und Tor nach draußen. 4. Noch für das moderne Wohnhaus der westlichen Kultur gilt, dass das Haus implizit sakrale Funktionen übernimmt. Das Haus markiert eine absolute Grenze zwischen innen und außen, die der Grenze zwischen Ordnung und Chaos sowie der Grenze zwischen heilig und profan entspricht. Das Haus ist der Taburaum der absolut unverletzlichen Eigensphäre, der nur mir und meiner Familie gehört und alle anderen Eigentumsansprüche ausschließt und abgrenzt gegen den Raum, der anderen oder allen gehört. Die Mauer des Hauses zieht eine Grenze, die einen Schutz nach außen und für den Innenraum bedeutet.116 „Das Haus ist seinem Ursprung nach ein geheiligter Bezirk“117, „Haus und Tempel sind wesentlich eins“118. Auch das Haus ist in gewissem Sinn ein heiliger Raum, wenn man den heiligen Raum mit v.d. Leeuw als Raum der Kraftentfaltung definiert, deren Wirkung sich durch Wiederholung entfaltet. Wie der Tempelkult ist „auch das häusliche Leben eine Begehung, die sich im regelmäßigen Kreis der Arbeit, der Mahlzeiten, der Reinigungen usw. immer wiederholt.“119 Ein unterschwellig sakraler Charakter kommt dem Haus als templum, als herausgeschnittenem Ort, zu.120 ————— 112 Ebd., 33. 113 Zum Mutterleib als Ursymbol des bergenden Innenraums im Rahmen einer psychoanalytischen Gynäkologie vgl. Sloterdijk, Sphären I, 307–335, zu seiner Phänomenologie der Innenräume allgemein s.o. 8.5.2.. 114 Bachelard, Poetik des Raumes, 115. 115 Ebd. 116 Die symbolische Ordnung und Gliederung des Hauses ist kulturell variabel. Mauer und Zaun sind Charaktere westeuropäischen Hausbaus, während in Japan z.B. die Wände möglichst leicht und durchlässig, besonders zum Garten hin, gestaltet sind. Womöglich ein Reflex, dass der Zen-Buddhismus keine starre Diesseits-Jenseits-Schranke kennt? 117 Bollnow, Mensch und Raum, 141. 118 V.d. Leeuw, Phänomenologie der Religion, 448. 119 Ebd., 446. 120 Vgl. die Parallele zwischen Haus- und Tempelbau: „Die Heiligung beginnt damit, dass aus dem Ganzen des Raumes ein bestimmtes Gebiet herausgelöst, von anderen Gebieten unterschieden und gewissermaßen religiös umfriedet und umhegt wird. […] templum […] bedeutet

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M. Heidegger hat eindrücklich sowohl die kosmische wie die religiöse ordnungsstiftende und lebensorientierende Funktion des Hauses am Beispiel eines Schwarzwaldhofes beschrieben. Ein Hausbau, so Heidegger in seinem berühmten Vortrag über „Bauen, Wohnen, Denken“ beim Darmstädter Künstler- und Architekten-Gespräch 1951 über „Mensch und Raum“, besteht darin, ein „Geviert“ zur Wohnung zusammenzuführen: die Erde, den Himmel, die Göttlichen und die Menschlichen. „Das Wohnen ist die Weise, wie die Sterblichen auf der Erde sind“121, wobei ‚auf der Erde‘ zu sein, auch schon ‚unter dem Himmel‘ zu sein bedeutet, sowie ‚miteinander‘ und ‚vor dem Göttlichen‘ zu bleiben. Die Erde, so Heidegger, ist „die dienend Tragende, die blühend Fruchtende“122, der Himmel der Gang der Sonne, der Jahreszeiten, von Tag und Nacht, von Segen und Unwirtlichkeit des Wetters. Die Göttlichen sind die Boten des erscheinenden Gottes in seiner Gegenwart und die Sterblichen, natürlich, die Menschen. Wohnen heißt, dass im eingefriedeten Haus die Sterblichen im Geviert sind, wie Heidegger sagt, in der Einheit von Erde, Himmel, Gott und Mensch. Wohnen heißt, im Geviert zu sein, und das meint, dass die Sterblichen, indem sie wohnen, also auf der Erde unter dem Himmel mit den Menschen vor dem Göttlichen sind, die Erde retten, den Himmel empfangen, die Ankunft des Göttlichen erwarten und die Sterblichen begleiten. Zu Wohnen, heißt: das „Geviert in seinem Wesen hüten“, die „Einfalt“ (=Einheit) des Gevierts im „Einräumen“ zulassen.123 Ein Schwarzwaldhof ist für Heidegger Urbild von Wohnen: „Hier hat die Inständigkeit des Vermögens, Erde und Himmel, die Göttlichen und die Sterblichen einfältig [d.h. zur Einheit verbunden, U.B.] in die Dinge einzulassen, das Haus gerichtet“, also erbaut und geordnet. Das Haus steht zum Süden talwärts, nach Norden zum Berghang, das weitausladende Dach schützt vor Wind und Wetter, das Bauen hat „den Herrgottswinkel hinter dem gemeinsamen Tisch nicht vergessen, es hat die geheiligten Plätze für Kindbett und […] Sarg in die Stuben eingeräumt“124. Zu Wohnen, d.h. in einem geordneten Haus geordnet zu leben im Wechsel von Arbeit und Ruhe, zwischen Geburt und Tod, heißt eigentlich zu sein.

5. Gleichwohl: das Haus ist keine ewige Heimat (Hebr 13,4), sondern Wohnung auf Zeit. Dem Wohnen korrespondiert das Wandern.125 „Überall bleibt jedoch die Wanderung der Hauptzug des Wohnens als des menschlichen Aufenthaltes zwischen Erde und Himmel, zwischen Geburt und Tod, zwischen Freude und Schmerz, zwischen Werk und Wort. […] Nennen wir dieses vielfältige Zwischen die Welt, dann ist die Welt das Haus, das die Sterblichen bewohnen.“126 Kurz gesagt: Das Haus hält mit der „Dialektik ————— nichts anderes als das Ausgeschnittene, Begrenzte“ (Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen II, 123); zum Haus als untergründig sakralem Raum vgl. auch G. Selle, Geruch des Heiligen. 121 Heidegger, Bauen, Wohnen, Denken, 21. 122 Ebd., 22. 123 Ebd., 23.29. 124 Ebd., 31. 125 Vgl. U. Guzzoni, Wohnen und Wandern. 126 M. Heidegger, Hebel – Der Hausfreund, 17f.

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des Draußen und des Drinnen“127 die Differenz von diesseits und jenseits wach, es schlägt sich nicht auf eine Seite. Es ist eben auch eine Heimat auf Zeit, steht „zwischen“ Diesseits und Jenseits, zwischen Herkunft und Zukunft, zwischen Hier und Dort.128 Das Haus hält als zeitliche Heimat die Sehnsucht nach der ewigen Heimat wach, nach dem Himmel. Das Haus ist der geschenkte Raum für die Zeit des Lebens. 2. Der Himmel Der Himmel ist eines der komplexesten religiösen Symbole.129 Es kann am Ende dieser Arbeit nicht darum gehen, die christliche Rede vom Himmel vollständig auszuloten, weder kulturgeschichtlich130 noch systematischoder praktisch-theologisch.131 Wir wollen lediglich das in früheren Kapiteln Erarbeitete summarisch zusammenstellen. Klar ist, dass aufgrund der neuzeitlichen Transformationen von physikalischer und religiöser Kosmologie eine einfache Rede vom Himmel nicht mehr möglich ist. Wir benötigen einen mehrfachen Himmelsbegriff, nachdem die Korrepondenz von religiöser und kosmologischer Orientierung aufgesprengt ist. Das ist ganz positiv zu sehen. Nach der Entzauberung des antiken und frühneuzeitlichen Kosmotheismus kann es nicht um esoterische Wiederverzauberung des Himmels gehen. Der Himmel gehört christlich zur geschaffenen Welt. Er ist nicht göttlich. „Gott ist nicht der Himmel. Wir können nicht der Verwechslung von Gott und Welt durch die Verwechslung von Gott und einem Teil der Welt wehren.“132 Die neuzeitlichen Transformationen des religiösen Himmels, die unter der Akzeptanz der Naturalisierung des kreatürlichen Himmels unternommen wurden: die Futurisierung des Himmels oder seine Anthropolisierung bzw. Existentialisierung, sind als exklusive Himmelsbestimmungen ebenfalls nicht zureichend. Zur futu————— 127 Bachelard, Poetik des Raumes, 211. 128 Vgl. Guzzoni, Wohnen und Wandern, 64f. 129 Eine symboltheoretische Analyse gibt G. Thomas, Hoffen auf den ‚Neuen Himmel‘. Erwägungen zu einer Welt ohne die Macht der Nacht. 130 Vgl. B. Lang/C. McDannell, Der Himmel. Eine Kulturgeschichte des ewigen Lebens; B. Lang, Art. Himmel, EdN. 131 Wichtige systematische Untersuchungen sind K. Barth, KD III/1, 148–158; III/3, 486– 522; J. Baur, Himmel ohne Gott. Zum Problem von Weltbild und Metaphysik; J. Moltmann, Gott in der Schöpfung, 167–192; M. Welker, Universalität Gottes und Relativität der Welt, 203–219; ders., Schöpfung und Wirklichkeit, 56–64; W. Sparn, Den Engeln und den Spatzen. Der Himmel: Ort des Friedens, des vollständigen Glücks – oder was?; außerdem die Sammelbände Jahrbuch für Biblische Theologie 20 (2005); Evangelische Theologie 65, Heft 5 (2005), hier auch praktischtheologische Klärungen. Die Auseinandersetzung kann nicht explizit geführt werden, sie ist aber implizit aufgenommen. 132 Welker, Universalität Gottes und Relativität der Welt, 206.

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risch-eschatologischen und existentiell-anthropologischen Dimension von Himmel gehört die räumlich-kosmologische Dimension. Der Himmel ist der konkrete kosmisch-universale Raum der Gegenwart Gottes. Seine Räumlichkeit ergibt sich aus dem Wechselspiel von gelebtem, kosmologischem und religiösem Raum. Seit Luther der kosmologischen Revolution weltanschaulich vorgriff und die christliche Theologie von der Fixierung auf die absoluten Örter befreite (I.7.), gilt die Relativität des kosmologischen wie des religiösen Raums. Die Örter haben Bedeutung relativ zu der Funktion, die sie erfüllen. Luther hat die Identität von kosmologischem und soteriologischem Ort aufgelöst. Der Himmel ist nun nicht mehr lokal oben, sondern der gesamte Raum ist als universaler Ort Gottes anzusehen. Die religiöse Konsequenz dieser zwar soteriologisch motivierten, aber implizit auch metaphysischen Revolution ist die: Wenn die Welt ein Raum ist, muss der Ort des Himmels in der Welt sein. Der Himmel ist, allgemein gesagt, der symbolische Raum, der an einem weltlichen Ort etwas Nichtweltliches ausdrückt. Die Rede von Gott im Himmel benutzt den physikalisch überholten kosmologischen Dualismus von Diesseits und Jenseits bzw. von Himmel und Erde, um eine funktionale Differenz auszudrücken. Der Himmel ist nicht die Erde, er ist ‚höher‘, aber der Himmel ist auch nicht Gott. In der einen Welt ist der Himmel kein lokal absoluter Ort, sondern eine Funktion: Er symbolisiert, wie wir gleich differenzieren werden, die beiden Größen Transzendenz und Macht. Obwohl dafür verschiedene Lokalisationen möglich sind (Höhe, Tiefe, Weite), kann die räumliche Figuration doch nicht willkürlich geändert werden können. Der sinnliche Himmel über uns ist ein realräumliches, daher erfahrungsträchtiges religiöses Symbol. Der Himmel ist geeignet für die Symbolisierung von religiöser Transzendenz und Macht, weil er der Ort von sinnlich-räumlicher und von lebenswelt-zeitlicher Transzendenz ist.133 Wir können (mindestens) vier Funktionen und raumzeitliche Lokalisierungen von Himmel unterscheiden: 1. Der Himmel ist, wie in II.7.2 ausgeführt, der äußerste Horizont des sichtbaren Raumes, welcher den Raum des Sinnlichen zusammenschließt und die Grenze zum transzendenten Bereich des Unsichtbaren, Unbekannten und Unzugänglichen bildet. Der Himmel ist tief-sinnliche Sublimation des Unverfügbaren und Unerreichbaren. Der Himmel ist ein offener Horizont, er ist osmotisch durchlässig auf das transzendente „andere“ der Welt. Aber er ist „noch nicht das Geheimnis Gottes“134. Der Himmel ist die Wahrneh————— 133 Vgl. ebd., 208–211. 134 Barth, KD III/3, 494; vgl. Welker, Schöpfung und Wirklichkeit, 59; J. Hafner, Gott ist nicht der Himmel. Die Notwendigkeit einer nichtgöttlichen Transzendenz, 144.165f.

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mung des nicht-endlichen Welt-Raums. Aber er impliziert die Unverfügbarkeit Gottes. Die Rede von Gott im Himmel bezeichnet so die Welttranszendenz Gottes: Wir vermögen den Himmel nicht zu fassen, der Himmel Gott nicht, so ist – a minore ad maius – Gott nicht zu fassen. 2. Der Himmel bezeichnet auch den Bereich, von dem her Gott agiert. Die „Rechte Gottes“, so J. Brenz, „ist kein weltlicher oder leiblicher Ort, sondern die Allmacht und Majestät Gottes“135. Der Himmel bezeichnet auch die unverfügbare, aber wirksame Weltimmanenz Gottes.136 Der unsichtbare Himmel bezeichnet die Macht Gottes. Vom Himmel kommt nach den biblischen Texten der Segen, aber auch der Zorn Gottes.137 Der Himmel ist als einstelliges Symbol für Gottes Macht so ambivalent wie die Kräfte des Himmels selbst. Bloß von den Naturgewalten her liegt die Vergöttlichung des Himmels genauso nahe wie seine Dämonisierung. Christlich ist der Himmel so wenig göttlich, so wenig Gott der Himmel ist. Die Anrufung des „Vaters im Himmel“ rekurriert auf die Macht vom Himmel her, die anders als die Mächte des Himmels nicht ambivalent ist. Sie bittet um die Eindeutigkeit der Macht Gottes, dass er als Macht der Liebe und nicht des Zorns erscheinen möge: Das „Reich der Himmel“ ist die königliche Herrschaft des Vaters durch den Sohn (Mt 11,25–27 u.a.). 3. Der Himmel bezeichnet schöpfungstheologisch und eschatologisch das Reich der „Möglichkeit (possibilitas) und der Mächtigkeit (potentia) Gottes“138. Beziehen sich diese Möglichkeiten Gottes allerdings aus der Transzendenz und „Gottoffenheit“ der Welt, wie es Moltmann vorgeschlagen hat (s.o. II.4.3.2.), dann würde der Himmel zum platonischen Reich der Möglichkeiten, in dem alles Zukünftige schon ideell realisiert ist. Daher haben wir oben II.4.6 zwischen der Zukunft und der prinzipiellen Unverfügbarkeit des Zukünftigen unterschieden. Die Macht und Möglichkeit Gottes ist stets größer als die weltlichen Möglichkeiten. Wir müssen unterscheiden zwischen dem „futurischen“ Himmel als dem Bereich der weltlichen Transzendenz und der weltlichen Möglichkeiten und dem „adventlichen“ Himmel der Möglichkeiten Gottes. Die zeitliche Zukunft und Gegenwart sind der Einbruchsort der Zukunft Gottes (Mk 1,15), aber nicht ihr Grund. Der Himmel ist nicht das Himmelreich.139 Aber mit Himmel kann man in bestimmter Weise den Möglichkeitsraum der offenen Welt (8.2.4.) bezeich————— 135 „Dextra autem Dei non est aliquis corporalis auf mundanus locus, […] sed est omnipotentia et maiestas Dei“ (Brenz, De personali unione, 54,8–10); ausführlich s.o. I.7.5. 136 Vgl. Moltmann, Gott in der Schöpfung, 168. 137 Vgl. Barth, KD III/1, 157. 138 Moltmann, Gott in der Schöpfung, 174. 139 Welker, Universalität Gottes und Relativität der Welt, 210.

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nen. Der Himmel ist der zugesagte Raum der Zukunft, dass das Neue aus der Zukunft Gottes kommt und so seine Unbestimmtheit und Ambivalenz verliert. 4. Himmel bezeichnet schließlich im explizit eschatologischen Sinn den Ort der Freude, des Heils und des Glücks.140 In diesem letzten, endgültigen Sinn ist Gott der Himmel, allerdings ist auch dieser Himmel nicht das ganze, sondern der eine Teil der neuen Schöpfung. Gott ist der Himmel der neuen Welt, die neue Erde und die heilige Stadt sind ihr leiblicher Raum, die Ewigkeit ihre Zeit (8.2.4.). Auch hier handelt es sich eminent um zugesagten Raum. Die Stadt Gottes ist vom Himmel herab gekommen. Obwohl sie keinen stellaren Himmel und keine Sonne mehr hat, hat sie keine Nacht mehr und wird nicht mehr vom Meer bedroht (Apk 21,1f.23). Die Ambivalenz der Raumdimensionen wird dann aufgelöst sein. Höhe, Tiefe und Weite (vgl. II.2.5) bezeichnen nur noch die Fülle der heilvollen Gegenwart Gottes. Diese runde, kosmische Einheit der neuen Schöpfung mit dem in ihr offenbaren Gott ist hier und jetzt präsent im Modus der Hoffnung, als zugesagter Raum von Heil und Glück, und in der Bitte, dass Gottes Wille hier auf Erden schon jetzt so geschehen möge wie dereinst im Himmel (Mt 6,9f). In diesem Sinn kann man sagen: „Wo Gott ist, da ist […] auch der Himmel“141. Dieser mehrfache Himmelsbegriff, der nach räumlichen und zeitlichen sowie nach schöpfungstheologischen und eschatologischen Dimensionen differenziert wurde, bezeichnet den Bereich von Transzendenz und Macht zwischen irdischer und göttlicher Welt. Er reicht vom irdischen Himmel über diesen hinaus und dringt vom göttlichen Himmel her herein. Die Differenz zwischen dem eschatologischen Himmelskosmos und dem diesseitigen, geschaffenen Himmel sowie die nochmalige Differenz beider von Gott selbst erlaubt erstens zwischen der geschaffenen und der verheißenen Welt zu unterscheiden und qualifiziert zweitens Gott als den vom vielfachen Himmel her erscheinenden und sich zusagenden Gott. Der Himmel ist der zugesagte Raum der universalen, aber vielfältigen Gegenwart, Macht und Herrschaft Gottes.

————— 140 Vgl. Miggelbrink, Die Lebensfülle Gottes. Ein systematisch-theologischer Versuch über die biblische Rede vom Himmel. 141 Barth, KD III/3, 269.

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3. Der Gottesdienstraum Der Gottesdienstraum steht am Ende des Weges durch die konkreten Räume. Diese Lozierung entspricht seinem religiösen und seinem lebensweltlichen Ort. Das Verlassen des Hauses, um zum Gottesdienst zu gehen, ist zugleich eine ‚Rückkehr‘: eine Rückkehr in das Haus, in dem der Glaubende seine Heimat hat und in dem ihm der Himmel präsent ist. Der Gottesdienstraum ist einer der komplexesten aller Räume. Eine Vielzahl von Teilräumen greifen hier ineinander: Leiblich-materielle, sinnlich-ästhetische, symbolisch-darstellende sowie geschichtliche und eschatologische Zeit repräsentierende Raumformen und –Vollzüge. Der gelebte und der religiöse, aber auch der symbolisierte kosmologische Raum sind hier vermittelt. Eine detaillierte Aufarbeitung der Diskussion um den Kirchenraum kann nicht erfolgen.142 Es soll lediglich in einigen Sätzen angedeutet werden, inwiefern die ausgearbeiteten Konzepte von Raum hier Anwendung finden und zur Lösung strittiger Punkte beitragen können. Vielfach wurde mit Berufung auf Luthers Predigt zur Weihe der Torgauer Schlosskirche, dass wir „an keiner stete noch zeit aus not gebunden sein“143, die doppelte These vertreten, Luther habe – für die evangelische Theologie gültig – den Kirchbau „entsakralisiert“, ja „säkularisiert“144, so dass sich der Raum „zur Gottesbeziehung neutral“145 verhalte. Er vermittle keine Gottesnähe, sondern sei „heilig“ oder „religiös“ allenfalls durch die Verkündigung und das Handeln der Gemeinde.146 Dem kann mit guten Gründen widersprochen werden, sowohl im Blick auf Luther als auch systematisch————— 142 Einführend vgl. G. Seibold, Evangelischer Kirchenbau zwischen Sakralgebäude und Mehrzweckraum; T. Woydack, Der räumliche Gott. Was sind Kirchengebäude theologisch?, bes. 146–169; H. Umbach, Heilige Räume – Pforten des Himmels. Vom Umgang der Protestanten mit ihren Kirchen; daneben vgl. die Art. in Lexika und Handbüchern, u.a. K. Raschzok, Kirchenbau und Kirchenraum, sowie die Sammelbände R. Bürgel (Hg.), Raum und Ritual. Kirchbau und Gottesdienst in theologischer und ästhetischer Sicht; H. Adolphsen/A. Nohr (Hg.), Sehnsucht nach heiligen Räumen. Eine Messe in der Messe; S. Glockzin-Bever/H. Schwebel (Hg.), Kirchen – Raum – Pädagogik; T. Klie, Der Religion Raum geben. Kirchenpädagogik und religiöses Lernen; F. Brandi-Hinnrichs u.a. (Hg.), Räume riskieren. Reflexion, Gestaltung und Theorie in evangelischer Perspektive. 143 WA 49, 594,33. 144 T. Koch, Der lutherische Kirchenbau in der Zeit des Barocks und seine theologischen Voraussetzungen, 113. 145 H. Schwebel, Die Kirche und ihr Raum, 15. 146 So oder ähnlich vgl. K. Richter, Kirchenräume und Kirchenträume. Die Bedeutung des Kirchenraums für eine lebendige Gemeinde, 45f; A. Mertin, Vom heiligen Ort zum religiösen Raum, 9f; F. Steffensky, Schatten und Echo Gottes. Warum Kirchen heilige Räume sind und warum das für uns Menschen wichtig ist, 31.

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theologisch,147 ohne alternativ einen heiligen Raum abgesehen von Vollzug und Personen installieren zu wollen.148 Beide Radikalpositionen trennen Raum und Zeit und isolieren die Zeit vom Raum bzw. den Raum von der Zeit. Statt eines essentialistischen oder spiritualistischen oder funktionalistischen Verständnisses von Kirchenraum plädieren wir für ein präsentatives: Der gottesdienstliche Raum präsentiert sich als Raum der Gottesbegegnung, weil in ihm (auch sonst) Gottesdienst gefeiert wird. Seine Raumgestalt ist nicht unabhängig vom Vollzug und umgekehrt. Raum, so haben wir erarbeitet, ist ein komplexes Gebilde, das schon physikalisch und erst recht phänomenologisch keinen leeren oder starren Behälter mit beliebigem Inhalt darstellt, sondern Form und Inhalt, Gestalten, Personen und Vollzug sind konstitutiv aufeinander bezogen. Der Kirchenraum ist eine konkrete Form von gelebtem Raum (II.2.). Er trägt Vitalqualitäten, er hat so etwas wie ein eigenes Leben, eine Seele, die sich mitteilt (II.2.3.1.). Der Mensch ist ebenso im Raum wie dieser in ihm. Der gestimmte Raum bildet eine Sinneinheit. Er vermittelt und rezipiert das, was sich in ihm befindet und was in ihm geschieht. Der Raum bildet ein Ganzes. Form und Inhalt sind vermittelt wie Leib und Seele. Dadurch hat der Raum eine Bewegung, eine innere Dynamik, einen lebendigsprechenden Ausdrucksgehalt. Er präsentiert sich anwesend, tritt in Kommunikation zu mir. Der Raum, der eine Seele hat, „baut an meiner Seele“149. O. Bartning, der Leiter des Weimarer Bauhauses, hat im Anschluss an die Raumphänomenologie von Dürckheim u.a. von der „Raumspannung“150 gesprochen. Hat ein zum Zweck des Gottesdienstes erbauter Raum eine solche Raumspannung, die man durch „Raumfühligkeit“ aufnehmen kann, so dass er sich als gottesdienstlicher Raum präsentiert, kann er mit Recht auch „Sakralraum“ oder „Sakralbau“ genannt werden, wie Bartning abgrenzend vom „Zweckbau“ sagt.151 Wir wollen den vielschichtigen Sakralraum von seinem inneren, räumlichen und geistigen Zentrum her aufbauen und vier Räume im Raum unterscheiden. ————— 147 Vgl. K. Raschzok, „[…] an keine Stätte noch Zeit aus Not gebunden“ (Martin Luther). Zur Frage des heiligen Raumes nach lutherischem Verständnis. 148 So scheint es bei M. Josuttis, Vom Umgang mit heiligen Räumen, 37f; vorsichtiger ders., Der Weg in das Leben, 66–78. 149 F. Steffensky, Der heilige Raum, der die Sehnsucht birgt, 84. 150 O. Bartning, Wort und Raum, in: Spannweite, 98–108, 102. 151 O. Bartning, Begriff des Sakralbaus, in: Vom Raum der Kirche, 31–38, 35f; die Diskussion um den Sakralbau im 19./20. Jh. verfolgt C.M. Werner, Sakralität. Ergebnisse neuzeitlicher Architekturästhetik.

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Welt-Raum und Raum-Gegenwart Gottes

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1. Wenn man die Mitte des Gottesdienstraumes im Zentrum seines Vollzugs sieht, in Wort und Sakrament, dann ist dies nicht nur ein zeitliches, sondern auch ein räumliches Zentrum: es ereignet sich Gegenwart Gottes in verdichtetster Form, als Selbstzusage. Gott in Christus präsentiert sich in leiblicher Gestalt und an bestimmtem Ort. Was oben schöpfungstheologisch entfaltet wurde (8.4), gilt nun sakramentstheologisch: Seine Ubiquität realisiert und konkretisiert sich in der Verschränkung der Zeiten und der Räume. Der Himmel und die Verschränkung der Zeiten ereignen sich im Raum. Wort und Mahl als räumlich-leibliche Gegenwart Gottes widersprechen der These: „Gott ist ohne Raum. Gott braucht keinen Raum. Aber wir Menschen brauchen Räume, in denen wir Gott finden“152. Dafür wäre eine abstrakte Allgegenwartsvorstellung und eine bloß anthropologische Notwendigkeit von Raum unterstellt. Auch nach Luthers unräumlichem Himmelsverständnis ist Gottes Gegenwart nicht raumlos, sondern erfahrungs- und leibbezogen (I.7.). Gott bindet sich in Wort und Mahl an einen Ort. Das Wort, sonst so flüchtig, bildet einen Raum, der dem äußeren Raum korrespondiert. Das Wort im gespannten Raum, so noch einmal O. Bartning, versetzt in Spannung. „Die Rede im Raum ist […] eine in Spannungszustand versetzte Bewegung“153. Hat der Kirchenraum durch seine Gestaltung die entsprechende Spannung, „so kann der Raum schaffen, was er schaffen soll: so gibt er die Stütze für das Wort. Wenn der Raum aber diffus oder gespalten ist, so kann man hier zwar auch eine gute Predigt halten, aber sie ist nicht mehr vom Raum unterstützt.“154 Der Kirchenraum ist, etwas präziser gesagt, in einem doppelten Sinn der Resonanzraum des Wortes. Das zugesagte Wort hallt im Raum wider und bildet einen Raum im Raum, wenn es wirkt, was es sagt: einen resonanten und atmosphärischen Raum des Evangeliums, des Heils, des Segens. 2. Diese Wirkung ist ein Korrespondenzphänomen. Sie ist vermittelt durch die Atmosphäre (s.o. II.3.3), die im Raum und unter den Hörern herrscht. Diese Atmosphäre ist theologisch Gott der heilige Geist, die wir oben II.3.6 als konkret personale Präsenz Gottes beschrieben haben. Dieser pneumatologische Raum im Raum ist ein Korrespondenzraum. Gott der Geist trifft auf und wechselwirkt mit der Geistsphäre der Gläubigen. Die Gläubigen erzeugen einen atmosphärischen Raum, „ein Klima des Glaubens, das sich als Raum für die Anwesenheit Christi anbietet“155. Die————— 152 W. Gräb, Gott ohne Raum – Raum ohne Gott?, 96. 153 Bartning, Spannweite, 102. 154 Ebd., 103. 155 M. Bieber, Theologie der Innerlichkeit, 281: „Personen (Gläubige) erzeugen […] einen Topos, eine Räumlichkeit, die als Exteriorität für die Anwesenheit von Transzendenz fungiert. Diese Exterioriät lässt sich nicht in der Kategorialität der Extensionalität und auch nicht hinrei-

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Raum und Gott

ser Raum, der für das Wort Gottes öffnet – Hören lässt – ist durch die vielfachen Atmosphären des Raums vermittelt. Phänomenologisch handelt es sich um eine Interfazialsphäre zwischen Prediger und Hörern, die wieder durch den gemeinsamen Innenraum umgriffen ist (vgl. 8.5). Besonders die Mahlgemeinschaft ist ein mehrfacher gemeinsamer Innenraum: Ein Kreis um den liturgischen Tisch, der ein Zwischen durch das „Für euch gegeben“, ein Um durch die Weitergabe des Brotes, und ein Umherum durch die mitfeiernde Gemeinde hat, welche zusätzlich durch Musik und Kirchenraum-Atmosphäre in einen synchronen und durch Liturgie in einen diachronen kommunionalen Innen-Umraum einbezogen ist.156 3. Die unterstützende Atmosphäre geht vom Raum aus. Eine präzise Beschreibung geben die beiden Charaktermerkmale „Ingression“ und „Diskrepanz“ (s. II.3.3.2.). Der Kirchenraum verbindet sich für die Eintretenden zu einem Ganzen, er steht aber auch in Kontrast zu ihnen, übersteigt ihre Lebenswirklichkeit und stimmt und tönt mit transzendenten Qualitäten. Dazu gehören die Atmosphären des Lichtes (II.2.3), der Stille, der Erhabenheit.157 Die elementaren Raumdimensionen Tiefe und Weite, Ferne und Nähe (II.2.5) sind präsent und vermitteln Transzendenz und Immanenz. Auch der kosmologische Raum ist symbolisch durch Orientierung und Baugestalt präsent, der Himmel und die Ewigkeit je nach Baustil mehr oder weniger deutlich hereingespiegelt, die Geschichte Christi und der Kirche durch Inventar und Gebrauch gegenwärtig. Insbesondere aber trägt der Kirchenraum die Spuren seiner Geschichte und seiner Funktion.158 „In seinen tausend Honigwaben speichert der Raum verdichtete Zeit. Dazu ist der Raum da.“159 4. Zuletzt ist der gottesdienstliche Raum als Ganzer und nach Außen, als Gebäude in der Stadt, Unterbrechung des Alltags. Er ist eine Singularität in Raum und Zeit, die den Strom des Räumlichen und Zeitlichen unterbricht, ————— chend in der der Umweltlichkeit erfassen, sondern entfaltet ihren Sinn erst im Aspekt atmosphärischer Räumlichkeit.“ Theologisch ist es die geistige Atmosphäre, die der Heilige Geist herbeiführt. Der atmosphärische Raum bringt sehr gut die gespannte Passivität zum Ausdruck, welche die Alternative von „Alleinwirksamkeit Gottes“ und „Synergismus“ sprengt. 156 Zur Liturgie als Atmosphäre und „Kultinnenraum“ vgl. Bieber, Theologie der Innerlichkeit, 280–288. 157 Vgl. G. Böhme, Atmosphären kirchlicher Räume; Woydack, Der räumliche Gott, 65–70. 158 Vgl. K. Raschzok, Spuren im Kirchenraum, 146: „Gottesdiensträume tragen Spuren der gottesdienstlichen Nutzung in sich – Spuren der vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen gottesdienstlichen Nutzung, die auch außerhalb des gefeierten Gottesdienstes präsent sind, zum Teil sinnlich wahrnehmbar, zum Teil aber auch als Atmosphären bzw. Fluidum.“ 159 Bachelard, Poetik des Raumes, 35.

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Welt-Raum und Raum-Gegenwart Gottes

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neu justiert und wieder darin eingespeist wird. Was eine Kirche ist, nämlich Ort des Gottesdienstes und der Gottesbegegnung, bringt der Raum nach innen und außen durch seine Präsenz zur Geltung: Einerseits Ort der Transzendenz Gottes und andererseits Raum der Nähe und der Gemeinschaft von Gott und Menschen, zugesagter Ort von Heil und Heimat. Der gottesdienstliche Raum ist, wie auch das Haus und der Himmel, eine Heterotopie (Foucault): ein Raum, der in unserer flüchtigen Zeit gar nicht vorkommen kann, der eine Utopie darstellt, einen unwirklichen Ort, der aber hereingespiegelt realisiert und wirksam ist als Gegenort, als Andersort. Kirchenräume stellen den Anspruch „Gegenplazierungen oder Widerlager, tatsächlich realisierte Utopien, in den die wirklichen Plätze innerhalb der Kultur gleichzeitig repräsentiert, bestritten und gewendet sind“160, zu sein. Heterotopien haben unter anderem die Eigenschaft, an einem einzigen Ort mehrere, an sich unvereinbare Räume, zusammenzulegen.161 Der kulturwissenschaftlichen Einordnung von außen korrespondiert die theologische von innen: Der Gottesdienstraum ist der mehrfache Raum der Gottespräsenz, er ist Haus und Himmel in der Welt. Mit diesen Bemerkungen wurde die Rede vom „heiligen“ Raum als Phänomenologie des Heiligen Geistes entwickelt. Es sollte deutlich werden, dass unter den ausgearbeiteten Raumtheorien die Gegenwart Gottes auch in konkreten Räumen – in Haus, Himmel und Gottesdienstraum – aussagbar geworden ist. Die in den vorstehenden Kapiteln entwickelte allgemeine Theologie der Gottesgegenwart im Raum fand am Ende eine Bewährung in konkreten Räumen. Es handelt sich um die Gottesgegenwart per essentiam, per potentiam und per praesentiam im relativ geschlossenen Raum. Das Haus ist der Raum der unthematischen Gegenwart Gottes, der Himmel der Raum seiner Macht und der Gottesdienstraum der seiner sinnlich-atmosphärischen Präsenz. Diese Räume sind Spezifikationen, aber auch Verschränkungen des gelebten, des kosmologischen und des religiösen Raumes. Die Komplexität der Räume, in denen Gott als gegenwärtig erfahren wird, spiegelt die Komplexität wieder, die zur Beschreibung der Gegenwart Gottes im Raum aufgewandt werden muss. Der Ausbildung einer vielstelligen theologischen Phänomenologie des gelebten, des kosmologisch-physikalischen und des sinnlich-geschöpflichen Raumes galt das Interesse dieser Arbeit.

————— 160 M. Foucault, Andere Räume, 39. 161 Ebd., 42.

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Ertrag: Gottes Gegenwart in den Räumen der Welt

Der lange und verzweigte Weg, der in dieser Arbeit zurückgelegt wurde, soll am Ende grob zusammengefasst werden. Es versteht sich, dass nur die Thesen, nicht die Argumente wiederholt werden können. Die systematische Grundfrage nach dem Verhältnis von Gott und Raum war einerseits, wo und wie Gott in der Welt gegenärtig ist, und andererseits, welcher Raum es ist und welche Struktur der Raum hat, in dem Gott gegenwärtig ist. Außer der Analyse der historischen Lösungen wurde ein eigener systematischer Entwurf einer theologisch-phänomenologischen Raumheorie vorgelegt.

1. Von der Allgegenwart Gottes zur Metaphysik des Raumes Für die vorneuzeitliche Theologie und Philosophie war die Antwort auf die beiden Fragen eindeutig: Der Raum der Gegenwart Gottes ist der Himmel, ihr Ort aber überall. Gott ist allgegenwärtig an jedem Ort, der Ort jedoch kein aristotelischer, umgrenzter locus, sondern ein ubi. Die Allgegenwart Gottes an jedem Wo ist daher illokal. Sie ist, wie an der ausgereiften Lehrgestalt der lutherischen Orthodoxie dargestellt (I.1.) eine wesentliche und wirksame Präsenz, die man hinsichtlich Gottes selbst und hinsichtlich seines Weltverhältnisses in Unermesslichkeit, ruhende Adessenz und operative Omnipräsenz differenziert und nach Modi und Graden spezifiziert hat: Gott ist essentialiter, potenter et praesenter ubique. Im Anschluss wurde der Weg hin zu dieser Lehrform rekonstruiert, ausgehend von den antiken Raumtheorien und ihrer Kosmologie (I.2.). Die Platoniker und Aristoteliker stimmten im kosmologischen Dualismus überein, dass der Himmel unvergänglich, daher selbst göttlich ist. Das Christentum konnte diesen Dualismus erst langsam, mit Augustin und Philoponos, überwinden und durch das Gegenüber von Gott und Welt bzw. durch die (neu)platonische Differenz zwischen dem intelligiblen und dem sensiblen Kosmos ersetzen (I.3.). Der Entwicklungsgang spaltet sich hier in eine aristotelisch-scholastische, über Thomas bis zur Orthodoxie reichende, und eine platonische Linie über das Mittelalter zur frühen Neuzeit auf. In beiden Linien konnte die geschöpfliche Einheit der Welt und die durchgängige Allgegenwart Gottes ausgedrückt werden, was in verwandten und sich überschneidenden, aber nicht identischen, paradoxen Figuren geschah. Die scholastische Linie verwandte die Paradoxie der überall ganzen und unörtli-

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Ertrag

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chen Ubiquität. Die platonische Linie führte den intelligiblen und den sensiblen Raum ineinander und stellte die Allgegenwart Gottes einerseits durch die Allgegenwart des sowohl göttlich-intelligiblen als auch sensiblen Lichtes dar (I.4.) oder durch die paradoxe Figur der unendlichen Sphäre, die überall und nirgends ist (I.5.). Damit wurden Transzendenz und Immanenz Gottes miteinander verschränkt. Die mathematische Mystik und die antiaristotelische Naturphilosophie schufen die metaphysischen Voraussetzungen, dass im Renaissanceplatonismus und in der lutherischen Theologie der kosmologische Dualismus von himmlischer und irdischer Welt überwunden und in die dialektische Verschränkung von Gott und Raum überführt werden konnte. Dies konnte rein metaphysisch, theologisch oder physikalisch-kosmologisch geschehen. Cusanus und Bruno (I.6.) verstanden den unendlichen Raum des Universums als Darstellung der Unendlichkeit Gottes, der in jedem Punkt so in den Allzusammenhang eingefaltet ist, dass alles in ihm ist und Sein hat. War Gott scholastisch das die Welt von außen bewegende höchste Seiende, so wird er in der neuzeitlichen Metaphysik das innere Prinzip der einen, zusammenhängenden Welt. Luther und Brenz (I.7.) hielten zwar an der ptolemäischen Kosmologie fest, überwanden aber ebenfalls, wenn auch aus soteriologischem statt aus metaphysischem Interesse, die örtlich-lokale Himmelvorstellung. Sie verstanden die eine Welt als universalen Ort Gottes und die Ubiquität mit Rückgriff auf mystische Figuren als innerliche Einwohnung. Dieseits und Jenseits sind bei Brenz nicht kosmologisch unterschieden – vor Gott gibt es keine Unterschiedenheit der Orte und damit keine absoluten Örter –, sondern eschatologisch. Die Differenz zwischen Ewigkeit und Zeit verläuft aber überall in der Welt. Das saeculum spirituale durchdringt und überlagert den mundus corporale. Die Unendlichwerdung des Raums, die seit dem 13. Jh. einsetzt – zunächst hypothetisch, dann metaphysisch, dann kosmologisch – führte im 16./17. Jh. dazu, dass dem Raum ein ontologisches Gewicht zuwuchs, so dass er die göttlichen Eigenschaften, Enthalter und Erhalter aller Dinge zu sein, aufnehmen konnte (I.8.). Damit ist Gott durch den Raum allgegenwärtig und der absolut-unendliche Raum Träger aller metaphysischen Attribute Gottes. Der auf diese Weise vergöttlichte Raum war von Gott ununterscheidbar und der Spinozismusvorwurf naheliegend, wenn auch nur z.T. berechtigt. Da nämlich der absolute Raum bei More und Raphson immateriell und ohne physikalisch-dynamische Bedeutung ist, löst er sich, konsequent weitergedacht, in Gott als Absolutraum der Welt auf. Damit wird Gott wieder wie im 13. Jh. eine Art unräumlicher außerkosmischer „Raum“, eine Konsequenz, die in anderer Weise auch für die alternative Option des

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Gott und Raum

17. Jh. gilt, die nicht Gott und Raum zusammenband und den Körpern gegenüberstellte (so More, Clarke), sondern Körper und Raum zusammenband und Gott gegenüberstellte (Descartes, Leibniz). Der extramundane Gott konnte nicht auf den Raum bezogen werden, sondern war nur über seine eigene, göttliche Rationalität, durch unvermittelte Allgegenwart und aktives Erhalten wirksam, weil Gott nicht mit dem empirischen Raum und dem physikalisch-materiellen Kosmos vermittelt werden kann.

2. Die systematische Aufgabe Dass Gott nicht mehr durch den Raum repräsentiert sein kann, ist nach dem Verlust des absoluten Raums offensichtlich. Der physikalische und geometrische Raum kann Gottes Unendlichkeit und Allgegenwart nicht mehr tragen. Die Allgegenwart kann jetzt nur noch unräumlich oder abstrakträumlich gedacht werden (Schleiermacher, Barth, Torrance, v.d.Brom, Dalferth, Evers, II.1.). Die Allgegenwart Gottes verliert aber ihre religiöse Funktion, wenn Gott nicht mehr im Raum aufgefunden werden kann. Die Allgegenwart kann unter heutigen Raumbedingungen nur noch unbestimmt „überall und nirgends“ bedeuten. Es ist u.E. daher nicht möglich, die Lösungen der Tradition einfach zu wiederholen und als systematische Optionen nebeneinander zu stellen.1 Die veränderten metaphysischen und kosmologischen Bedingungen lassen eine Repristination nicht zu. Aber eine heutige Verhältnisbestimmung von Gott und Raum muss äquivalente metaphysische und religiöse Funktionen erfüllen wie die Lösungen der Tradition. Sie muss verdeutlichen können, dass Gott im Raum aufgesucht, erfahren und gedacht werden kann. Dazu ist die Kenntnis der historischen Probleme und Lösungen unverzichtbar. Da aber die Allgegenwart unter heutigen Raumbedingungen nicht mehr räumlich gedacht werden kann, die Gegenwart Gottes jedoch aus religiösen, theologischen und logischen Gründen räumlich gedacht werden muss (II.1.3), setzten wir an der konkreten Gegenwart Gottes an und fragten: Wie kann der Raum beschrieben werden, in dem Gott als gegenwärtig erfahren wird. Da die Erfahrung Gottes biblisch und christlich am konkreten Ort gelebten Lebens stattfindet und sowohl Raumimmanenz als auch Raumtranszendenz Gottes impliziert (II.8.1), galt es, vom Ort des Menschen und seinen Räumen her, Immanenz und Transzendenz Gottes zu relationieren, um die Gegenwart Gottes als Gegenwart Gottes zu denken. Im Wesentlichen sind es drei Räume des Menschen, in denen sich Gegenwart Gottes in —————

1 So bei Torrance, Space, time and incarnation; L.v.d. Brom, Art. Raum, RGG4; M. Mühling, Grundinformation Eschatologie, 101–122.

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Ertrag

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je unterschiedlicher Weise ereignet: der gelebte Raum, der physische Raum und der religiöse Raum. Die drei Räume sind miteinander verschränkt, insofern erstens der gelebte Raum den kosmologischen fundiert. Der kosmologische Raum ist von der Lebenswelt grundiert und hinsichtlich der kosmologischen Prinzipien, der Raumstruktur und dem konkreten Boden, der Erde, darauf rückbezogen (II.5.). Der religiöse Raum ist zweitens entweder der gelebte Raum (II.2.), der in spezifischer Weise gestimmt ist (II.3.), oder der kosmische Raum in der Perspektive des Schöpfungsglaubens (II.6.–7.). In allen drei Räumen ereignet sich Gegenwart Gottes, aber in je anderer Weise. Zur Unterscheidung konnten wir die Unterscheidungen der Tradition in Anschlag bringen (I.1.2). Im gelebten Raum ist Gott per essentiam gegenwärtig. Es handelt sich um eine unthematische Gegenwart als ungegenständlichem Grund (II.2.2/5.6). Im kosmischen Raum ist Gott per potentiam gegenwärtig als Wirken in und unter den Naturprozessen (II.4.). Im religiösen Raum ist Gott per praesentiam gegenwärtig durch bestimmte Präsenzerfahrungen, die man mittels der Theorie der räumlichen Atmosphären beschreiben kann (II.3./8.). Die Differenzierung der Tradition in verschiedene Weisen der Gegenwart Gottes wird damit aufgenommen, aber nicht metaphysisch, von der Einheit Gottes herunter differenziert, sondern phänomenologisch von der Vielfalt der Erfahrungen von Raum her erschlossen. Gott wird damit nicht mehr theistisch als intelligentia extramundana, sondern als intramundan und atmosphärisch gegenwärtig begriffen.

3. Der gelebte und gestimmte Raum Im gelebten Raum (II.2.) haben wir drei Schichten unterschieden, bezüglich derer sich die Gegenwart Gottes je verschieden darstellt. Die elementarste Schicht ist die passive Anwesenheit des Raumes als Umraum, Erlebnishintergrund und Horizont des leibhaften Lebens. Gott konnte analog als Fundament und Hintergrund des geschöpflichen Seins und des religiösen Erlebens bestimmt werden. Diese Gegenwart kommt der klassischen Allgegenwart am nächsten, sie ist am unkonkretesten und am wenigsten spezifisch. Sie erstreckt sich über die gesamte Ausdehnung des gelebten Raums hinweg, hat aber am Ort jedes religiösen Individuums ein Zentrum, wo sie auftauchen und hervortreten kann. Die zweite, aktivere Schicht, ist der durch den Leib orientierte Raum, dessen Dimensionen vielfache Transzendenzen aufweisen, besonders die eigentliche Raum-Dimension der Tiefe und Weite. Gott konnte entsprechend als Tiefe oder Grund, als Woher und Worin des geschöpflichen Seins angesprochen werden. Dies ist eine phänomenologische Einholung von

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Gott und Raum

Gott als Schöpfer und Erhalter meiner Existenz und der ‚Elemente‘ meines gelebten Raumes. Die dritte, reflexive Schicht bezieht sich auf die Orientierung im Raum durch subjektive und objektive Prinzipien, durch Perspektiven und Orientierungspunkte. Entsprechend kann Gott metaphorisch als zentraler Orientierungspunkt und der Glaube als Lebensperspektive verstanden werden. Das sich im Leben, im Glauben und im Denken Orientieren hat jedenfalls eine äquivalente phänomenologische Struktur. Weiter haben wir diskutiert, ob außer der indirekten und metaphorisch räumlichen Erfahrung Gottes auch direkte Gotteserfahrung im Raum geben kann (II.3.). Die Frage, ob und wie Gott im Raum erfahren werden kann, wurde in drei Teilaspekte zerlegt. Zunächst wurde der Erfahrungsbegriff geklärt und die Möglichkeit von räumlicher Gotteserfahrung in bestimmter Hinsicht bejaht, nämlich als Miterfahrung unter den räumlichen Erfahrungen gelebten Lebens. Zweitens wurde der Raum geklärt, durch den sich Anwesenheit Gottes ereignet. Es ist der Raum von ausgebreiteten Atmosphären, die den Erfahrenden in einen ‚angeregten‘ Zustand der Kopräsenz mit dem Erfahrenen versetzt, wie an der Phänomenologie göttlicher Atmosphären, besonders des Heiligen Geistes, verdeutlicht wurde. Drittens wurde die schwierige Frage behandelt, ob die atmosphärische Präsenz Gottes seiner Personalität widerspricht. Unter der Voraussetzung, dass sich Person durch das Wechselverhältnis von Kontinuum (Selbst, „Charakter“) und Aktualität (Ich, „Antlitz“) definiert, bringt die Beschreibung der Anwesenheit Gottes als Atmosphäre die personale Präsenz, Wirkmacht und Transzendenz Gottes zugleich zum Ausdruck. In der Aktualität der Atmosphäre tritt Gott selbst konkret in Erscheinung.

4. Der physisch-kosmische Raum Die atmosphärische Präsenz aufnehmend und einschließend wurde ein Konzept der operativen Präsenz Gottes entwickelt, das ein dialektisches Verhältnis von Wirken Gottes und Naturprozessen zu denken erlaubt (II.4.). Das Modell der räumlichen und zeitlichen praesentia operosa ist eine Reformulierung des concursus divinus unter heutigen naturphilosophischen Bedingungen. Alternative Feld-Modelle wurden diskutiert und festgestellt, dass sie den pneumatologisch-ekklesiologischen Aspekt des Geistwirkens präzise zur Sprache bringen, das Verhältnis zu den physikalischen Prozessen aber nur unklar metaphorisch ausdrücken können. Ergänzend wurde ein offener Welt- und Zeitbegriff vorgelegt und Gottes Wirken dialektisch als „Innen“ des Naturgeschehen bestimmt, das aus der Zukunft als schöpferische Kreativität in der Gegenwart zur Erscheinung kommt.

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Ertrag

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Korrespondierend zu Gottes kontinuierlichem Schöpfungswirken wurde sein uranfängliches Handeln in ein dialektisches Verhältnis zum Weltanfang gebracht und als bleibender Anfang sowie als zur Verfügung stellen von Raum und Zeit bestimmt (II.5.). Weiter wurde der Sinn des Menschen im Kosmos thematisiert, der durch den neuzeitlichen „Absolutismus der Welt“ problematisch geworden ist. Es wurde gezeigt, dass der physikalische Raum- und Kosmosbegriff auf den lebensweltlichen bezogen ist, so dass auch im physikalisch unendlichen Weltraum Sinn für den Menschen ausgesagt werden kann, sofern man den Raum in „kopernikanischer Umwendung der kopernikanischen Umwendung“ in dem ruhenden Erdboden zentriert (II.6.). Auf diese Weise ist es auch möglich, den Sinn, den der mythische Raum und das biblische Weltbild einmal vermittelt haben, noch im modernen Kosmos nachzuvollziehen und lebensweltlich zu rezipieren (II.7.1–2).

5. Der geschöpfliche und der konkrete Raum Das Verständnis der Welt als Schöpfung (II.7.3–6) ist problematisch geworden, seit das mechanistische Paradigma die Natur in eine Kausalmaschine verwandelte. Um eine christliche Wiederlesbarkeit jenseits von wissenschaftsfeindlicher Wiederverzauberung oder bloß poetischer Metaphorisierung zu erreichen, ist u.E. ein korresponsives Naturverständnis vonnöten. Mensch und Natur können in ein Korrespondenzverhältnis treten, wenn sich einmal der Forscher als Teilnehmer und Beobachter begreift und andererseits die andringende Natur für sich als bedeutungshaltig verstanden wird. Die ekstatische Natur ist symbolisch prägnant und tritt in Kopplung zum auf sie Bezogenen, so dass wir eine ästhetische religiöse Kosmologie entwerfen konnten, welche unter der präsenten Natur den präsenten Schöpfer entdeckt. Natur ist transparent auf das Geheimnis der Schöpfung, wenn man sie sieht und erfährt, wie sie der Schöpfer gibt: als zugesagte Gabe. Abschließend (II.8.) wurden die verschiedenen Weisen der Schöpfungsgegenwart Gottes differenziert. Gott ist per essentiam gegenwärtig als ungegenständlicher Grund und Horizont, er ist intime und per praesentiam gegenwärtig als trinitarischer und inkarnierter Gott, der sich selbst in die Welt vermittelt, indem er in sie einwohnt, sich von ihr unterscheidet und sich in der Welt erschließt. Die Schöpfungsmittlerschaft Christi ist die hermeneutische Figur hierfür. Ein relationsontologisches Modell für die ebenso extensive wie intensive Gegenwart Gottes ist das Modell der miteinander geteilten Innenräume. Zum Schluss wurden die phänomenologischen Raumtheorien an den konkreten Fundamentalräumen des gelebten, des kosmischen und des reli-

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Gott und Raum

giösen Raumes bewährt: am Haus, dem Himmel und dem gottesdienstlichen Raum. Daran wurde deutlich, dass die Räume miteinander verschränkt sind, wobei jeweils ein Aspekt der Gegenwart Gottes im Vordergrund steht. Im Haus ist Gott implizit gegenwärtig (per essentiam) durch unterschwellige Sakralität, im Himmel durch seine Macht (per potentiam) und im Gottesdienstraum durch sinnlich-ästhetische Anwesenheit (per praesentiam). Der „heilige Raum“ ist ein Korrespondenzphänomen der Raumatmosphäre mit der Geistsphäre der Gläubigen und der Raumpräsenz Gottes in Wort und Sakrament.

6. Methodischer Rück- und Ausblick Mit einem methodischen Rück- und Ausblick möchte ich die Zusammenfassung beschließen. Nach dem Scheitern der metaphysischen Denkform mussten sowohl methodisch als auch sachlich neue Wege beschritten werden, um von Gottes Gegenwart in der Welt reden zu können. Es ist meine Hoffnung, dass dadurch auch neue Perspektiven eröffnet wurden, was die zukünftigen Aufgaben und Lösungswege systematischer Theologie angeht. Nach dem Ende der metaphysischen Gotteslehre wurde in der Theologie des 20. Jahrhunderts zu recht von der besonderen und nicht von der allgemeinen Gegenwart Gottes ausgegangen. Meist wurde die besondere Gegenwart aber entweder raumlos in die Zukunft verflüchtigt, oder abstrakt und ebenfalls raumlos als Gottesverhältnis des religiösen Subjekts bestimmt. Gott raumlos zu denken, wird aber der religiösen Erfahrung nicht gerecht. Wir müssen uns von der Vorstellung verabschieden, als sei Gott etwas abgetrennt für sich Bestehendes und von der Welt der Menschen Abgelöstes. Gott ist nach der Erfahrung des Glaubens gegenwärtig, er ist wirklich da. Dieser Erfahrung des Glaubens versuchten wir gerecht zu werden, indem wir als Alternative zur metaphysischen Denkform nicht die subjektivitätstheoretische wählten, welche die Gottes- und Schöpfungslehre aus Selbst- und Endlichkeitsreflexion des religiösen Bewusstseins gewinnt, sondern eine phänomenologische Methode, welche die Welt- und Gotteserfahrungen zugrunde legt, die der Glaube in der Welt mit Gott und Welt macht. Gott, Welt und Selbst sind miteinander verschränkt, doch nicht allein in der subjektiven Innerlichkeit oder am Ort des Subjekts, sondern in der Weltwirklichkeit des Glaubens, am räumlich-leiblichen Ort. Die Bezogenheit von Gott, Welt und Mensch geschieht im gelebten, kosmischen und religiösen Raum, die selbst wieder miteinander verschränkt sind. Der korrespondierende Gottesbegriff rekurriert nicht auf die theistische, rationale

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Ertrag

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und extramundane Unendlichkeit und Unermesslichkeit Gottes, sondern auf eine trinitarische Pneumatologie des atmosphärischen Raumes, bei der die Weltgegenwart Gottes eine in den Welt-Raum vermittelte Selbstgegenwart Gottes ist. Gott ist nicht noch ein ganz anderer als der im Raum und in Räumen gegenwärtige, der sich leiblich-räumlich suchen und finden lässt. Der Raum der Welt ist der zugesagte Raum der realen Gegenwart Gottes. Sowohl für die Gottes- als auch für die Schöpfungslehre hat diese Einsicht fundamentale Bedeutung: Es kann nun statt von einer unbestimmten Rede von Geschöpflichkeit (wieder) von der realen Gegenwart Gottes des Schöpfers in der Schöpfung gesprochen werden und statt von einem abstrakten und formalen Gottesverhältnis von der konkreten Erfahrung Gottes im Raum der Welt. Dafür ist allerdings eine ausreichend komplexe Bestimmung von Raum nötig, für die wir mit dieser Arbeit einen Beitrag leisten wollten. Es war unser Ziel, eine vielstellige Phänomenologie des Raumes zu entwickeln, um theologisch reflektiert von der besonderen und realen Gegenwart Gottes reden zu können. Die Gottes- und Schöpfungslehre in extenso von der Raumgegenwart Gottes her phänomenologisch neu zu formulieren, wäre eine vielschichtige Aufgabe zukünftiger Theologie.

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Literatur

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Literatur

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Brenz, Johannes: Apologiae confessionis ilustrissimi Principis ac Domini D. Christophori, ducis Wirtembergensis (Apologia Confessionis Virtembergicae), in: Ioannis Brentii Operum, Tom. VIII, Tübingen 1590. –: Bericht Ioannis Brentii von dem Büchlin D. Henrici Bullingeri, des Titels: Von dem Himmel vnnd Gerechten Gottes (1561), in: Ders., Die christologischen Schriften, Teil 1, Tübingen 1981, 109–189. –: Confessio piae doctrinae, quae nominee illustrissimi Principis ac Domini D. Christophori Ducis Vuirtenbergensis (Confessio Virtembergica), in: Ioannis Brentii Operum, Tom. VIII, Tübingen 1590, 1–34. –: In D. Iohannis Evangelion Exegesis, per autorem diligenter revisa ac multis locis locupletata, Hagenau 1528. –: In Evangelion, quod inscribitur, secundum Iohannem, Exegesis, in: Ioannis Brentii Operum, Tom. VI, Tübingen 1584, 777–1008. –: Ioannis Brentii Operum, Tom. I–VIII, Tübingen 1576–1590. –: De Maiestate Domini nostri Iesu Christi ad dextram Dei Patris, et de vera praesentia corporis et sanguinis eius in coena (1562), in: Ioannis Brentii Operum, Tom. VIII, Tübingen 1590, 891– 975; in: Ders., Die christologischen Schriften, Teil 1, Tübingen 1981, 190–524. –: De Personali Unione duarum naturarum in Christo, et ascensu Christi in coelum, ac sessione eius ad dextram Dei Patris, qua vera corporis et sanguinis Christi praesentia in coena explicata est, et confirmata, in: Ioannis Brentii Operum, Tom. VIII, 831–867; in: Ders., Die christologischen Schriften, Teil 1, Tübingen 1981, 1–107. –: Sententia, de libello D. Henrici Bullingeri, cui titulus est. Tractatio verborum Domni: in domo Patris mei mansiones multae sunt (1561), etc., in: Ioannis Brentii Operum, Tom. VIII, 868– 890; in: Die christologischen Schriften, Teil 1, Tübingen 1981, 108–188. –: Recognitio propheticae et apostolicae doctrinae, de vera maiestate Domini nostri Iesu Christi ad dexteram Dei patris sui omnipotentis (1564), in: Ioannis Brentii Operum, Tom. VIII, Tübingen 1590, 976–1101. –: Von der Mayestet Vnsers lieben Herrn vnd einigen Heilands Jesu Christi zu der gerechten Gottes auch von der waren gegenwürtigkeit des Leibs vnnd Bluts Christi im Nachtmal (1562), in: Ders., Die christologischen Schriften, Teil 1, Tübingen 1981, 191–525. –: Werke. Eine Studienausgabe: Frühschriften, Teil 1–2, hg. v. Martin Brecht/Gerhard Schäfer/ Frieda Wolf, Tübingen 1970; Die christologischen Schriften, in drei Teilen hg. v. Theodor Mahlmann, Teil 1, Tübingen 1981. Bruno, Giordano: Das Aschermittwochsmahl, Gesammelte Werke, hg. v. Ludwig Kuhlenbeck, Bd. I, Leipzig 1904; Übersetzt v. Ferdinand Fellmann, Einleitung v. Hans Blumenberg, Frankfurt 1969. –: Eroici furori (Zwiegespräch vom Helden und Schwärmer), Gesammelte Werke, hg. v. Ludwig Kuhlenbeck, Bd. V, Jena 1907; Von den heroischen Leidenschaften. Übersetzt u. hg. v. Christiane Bacmeister, mit einer Einleitung v. Ferdinand Fellmann, PhB 398, Hamburg 1989. –: De Immenso et Innumberabilibus, in: Opera latine conscripta, Bd. I/1–2, Neapel 1879, ND Stuttgart-Bad Cannstatt 1962; Das Unermessliche und Unzählbare, hg. v. Erika Rojas, Buch I– II/Buch III–IV, Peißenberg 1999. –: De Monade, Numero et Figura, in: Opera latine conscripta, Bd. I/2, Neapel 1884, ND StuttgartBad Cannstatt 1962; Über die Monas, die Zahl und die Figur als Elemente einer sehr geheimen Physik, Mathematik und Metaphysik. Aus dem Lateinischen übersetzt u. mit Anmerkungen versehen v. Elisabeth v. Samsonow u.a., PhB 436, Hamburg 1991. –: Gesammelte Werke, hg. v. Ludwig Kuhlenbeck, Bd. I–VI, Leipzig – Jena 1904–1909. –: Jordani Bruni Nolani Opera latine conscripta, hg. v. F. Fiorentino, F. Tocco u.a., Neapel/Florenz 1879–1891, drei Bd. in acht Teilbd., ND Stuttgart-Bad Cannstatt 1961f. –: Kabbala, Kyllenischer Esel, Reden, Inquisitionsakten, Gesammelte Werke, hg. v. Ludwig Kuhlenbeck, Bd. VI, Jena 1909. –: Die Vertreibung der triumphierenden Bestie, Gesammelte Werke, hg. v. Ludwig Kuhlenbeck, Bd. II, Leipzig 1904.

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Literatur

–: Von der Ursache, dem Anfangsgrund und dem Einen, Gesammelte Werke, hg. v. Ludwig Kuhlenbeck, Bd. IV, Jena 1907; Über die Ursache, das Prinzip und das Eine. Übersetzung und Anmerkungen v. Philipp Rippel, Nachwort v. Alfred Schmidt, Stuttgart 1997; Von der Ursache, dem Prinzip und dem Einen. Aus dem Italienischen v. Adolf Lasson, mit einer Einleitung v. Werner Beierwaltes hg. v. Paul Richard Blum, PhB 21, Hamburg 71993. –: Zwiegespräch vom unendlichen All und den Welten, Gesammelte Werke, hg. v. Ludwig Kuhlenbeck, Bd. III, Jena 1904, Darmstadt 41973; Über das Unendliche, das Universum und die Welten. Aus dem Italienischen übersetzt u. hg. v. Christiane Schulz, Stuttgart 1994. Budde, Franz: Elementa philosophiae theoreticae (1724), Gesammelte Schriften, Bd. 2, ND hg. v. Walter Sparn, Hildesheim 2004. Calov, Abraham: Systema locorum theologicorum, Wittenberg 1655. Calvin, Johannes: Institutio Christianae religionis/Unterricht in der christlichen Religion. Nach der letzten Ausgabe übersetzt u. bearbeitet v. Otto Weber, Neukirchen-Vluyn 51988. Campanella, Thomas: De sensu rerum et magia, Frankfurt 1620. –: Metaphysica/Universalis philosophiae seu metaphysicarum rerum, Paris 1638, hg. v. Luigi Firpo, ND Turin 1961. Cardanus, Hiernonymus: De subtilitate, Nürnberg 1550. Chemnitz, Martin: Loci theologici, Wittenberg 1591. Cicero, M. Tullius: De natura deorum. Über das Wesen der Götter, übersetzt u. hg. v. Ursula Blank-Sangmeister, Nachwort v. Klaus Thraede, Stuttgart 1995. Clarke, Samuel: Der Briefwechsel mit G.W. Leibniz von 1715/1716 (A collection of papers which passed between the late learned Mr. Leibniz and Dr. Clarke in the years 1715/1716 relating to the principles of natural philosophy an religion), übersetzt u. mit einer Einführung, Erläuterungen u. einem Anhang hg. v. Ed Dellian, PhB 423, Hamburg 1990. Clavius, Christoph: In sphaeram Ioannis de Sacro Bosco, Rom 1535. Copernicus, Nicolaus: De revolutionibus orbium coelestium, Nürnberg 1543; Auszüge in: Ders., Das neue Weltbild, übersetzt, hg. u. mit einer Einleitung u. Anmerkungen versehen v. Hans Günter Zekl, PhB 300, Hamburg 1990. Das Corpus Hermeticum Deutsch. Übersetzung, Darstellung und Kommentierung in drei Teilen, im Auftrag der Heidelberger Akademie der Wissenschaften bearbeitet u. hg. v. Carsten Colpe u. Jens Holzhausen, Teil 1: Die griechischen Traktate und der lateinische ‚Asclepius‘, übersetzt u. eingeleitet v. Jens Holzhausen, Stuttgart-Bad Cannstatt 1997. Crescas, Chasdai: Or adonai (1410), Johannisburg 1861. Cudworth, Ralph: The True Intellectual System of the Universe, wherein all the Reason and Philosophy of Atheism is Confuted, and its impossibility Demonstrated, London 1678, ND Stuttgart-Bad Cannstatt 1964. Deichmann, K: Das Problem des Raumes in der griechischen Philosophie bis Aristoteles, Halle 1893. Deißmann, Adolf: Die neutestamentliche Formel „in Christo Jesu“, Marburg 1892. Denifle, Heinrich/Chatelain, Emile: Chartularium Universitatis Parisiensis, Paris 1889–97. Descartes, René: Correspondence, Oeuvres, Bd. I–V, Paris 1897, ND Paris 1986–1991. –: Discours de la méthode pour bien conduire sa raison, et chercher la vérité dans les sciences/Abhandlung über die Methode des richtigen Vernunftgebrauchs und der wissenschaftlichen Wahrheitsforschung, ins Deutsche übertragen v. Kuno Fischer, erneuert u. mit einem Nachwort versehen v. Hermann Glockner, Stuttgart 1988; auch in: Philosophische Schriften in einem Band, Hamburg 1996. –: Le monde, in: Ders., Oeuvres, Bd. XI, Paris 1909, ND Paris 1991, 1–215. –: Meditationes de Prima Philosophia. Meditationen über die erste Philosophie, Lateinisch/Deutsch, übersetzt u. hg. v. Gerhart Schmidt, Stuttgart 1994; Meditationen über die Grundlagen der Philosophie mit den sämtlichen Einwänden und Erwiderungen, übersetzt u. hg. v. Artur Buchenau, PhB 27, ND Hamburg 41972; auch in: Philosophische Schriften in einem Band, Hamburg 1996. –: Oeuvres, hg. v. Charles Adam/Paul Tannery, Bd. I–XI, Paris 1897–1909, ND Paris 1986–1991.

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Literatur

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–: Philosophische Schriften in einem Band, Mit einer Einführung v. Rainer Specht u. „Descartes’ Wahrheitsbegriff“ v. Ernst Cassirer, Hamburg 1996. –: Principia philosophiae/Die Prinzipien der Philosophie. Lateinisch – Deutsch, übersetzt u. hg. v. Christian Wohlers, PhB 566, Hamburg 2005. –: Regulae ad directionem ingenii/Regeln zur Ausrichtung der Erkenntniskraft, in: Ders., Philosophische Schriften in einem Band, Hamburg 1996. Diogenes Laertios: Leben und Lehre der Philosophen, Aus dem Griechischen übersetzt u. hg. v. Fritz Jürß, Stuttgart 1998. Dionysius Areopagita: De coelesti hierarchia, in: Ders., Opera omnia, J.P. Migne, Patrologia Seria Graeca (MPG), Bd. 3, Paris 1857, 119–368. –: De divinis nominibus, in: Ders., Opera omnia, J.P. Migne, Patrologia Seria Graeca (MPG), Bd. 3, Paris 1857, 586–996; Corpus Dionysiacum, Bd. 1, hg. v. Beate Regina Suchla, Berlin/New York 1990. –: De ecclesiastica hierarchia, in: Ders., Opera omnia, J.P. Migne, Patrologia Seria Graeca (MPG), Bd. 3, Paris 1857, 369–585. –: De mystica theologia, in: Ders., Opera omnia, J.P. Migne, Patrologia Seria Graeca (MPG), Bd. 3, Paris 1857, 997–1064. –: Die Hierarchien der Engel und der Kirche, übersetzt, mit Einleitung u. Kommentar versehen v. Walther Tritsch, Einführung v. Hugo Ball, München 1955. –: Epistolae, in: Ders., Opera omnia, J.P. Migne, Patrologia Seria Graeca (MPG), Bd. 3, Paris 1857, 1065–1124. –: Mystische Theologie und andere Schriften, übersetzt, mit Einleitung u. Kommentar versehen v. Walther Tritsch, München 1956. –: Von den Namen zum Unnennbaren. Auswahl u. Einleitung v. Endre von Ivanka, Einsiedeln 4 2002. Dorner, I.A.: System der christlichen Glaubenslehre, Berlin 1879. Meister Eckart: Die deutschen und lateinischen Werke, hg. im Auftrag der deutschen Forschungsgemeinschaft. Die deutschen Werke, hg. u. übersetzt v. Josef Quint, alle Stuttgart, Bd. I: Predigten 1–24, 1958; Bd. II: Predigten 25–59, 1971; Bd. III: Predigten 60–86, Stuttgart 1976; Bd. IV/1–2: Predigten 87–113, 2002; Bd. V: Traktate, 1963. –: Die deutschen und lateinischen Werke, hg. im Auftrag der deutschen Forschungsgemeinschaft. Die lateinischen Werke, hg. v. Josef Koch u.a., fortgeführt v. Louis Sturlese, alle Stuttgart, Bd. I: Prologi, Expositio libri Genesis, 1964; Bd. II: Expositio libri exodi, 1992; Bd. III: Expositio Sancti Evangelii secundum Iohannem, 1994; Bd. IV: Sermones, 1956, Bd. V: Opera Parisiensia, 2006. –: Predigten, hg. v. Franz Pfeiffer, Deutsche Mystiker des vierzehnten Jahrhunderts, Bd. 2, Leipzig 1857, Nachdruck Aalen 1962. Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Mit einer Einführung hg. von Ernst Beutler, Zürich 1948, München 1999. Erasmus von Rotterdam: De libero arbitrio diatribe sive collatio, in: Ausgewählte Schriften, lateinisch und deutsch, hg. v. Werner Welzig, Bd. 4, übersetzt, eingeleitet u. mit Anm. versehen v. Winfried Lesowsky, Darmstadt 1969. –: Vom freien Willen, verdeutscht von Otto Schumacher, Göttingen 61988. Eriugena, Johannes Scotus: De divisione naturae, in: Ders., Opera omnia, hg. v. J.P. Migne, Patrologia Seria Latina (MPL), Bd. 122, Paris 1853, 439–1022. –: Über die Eintheilung der Natur, übersetzt u. mit einer Schluss-Abhandlung versehen v. Ludwig Noack, Bd. 1, Berlin 1870; Bd. 2, Berlin 1874; Über die Einteilung der Natur (De divisione naturae). ND, mit einer Vorbemerkung und neuer Bibliographie von Werner Beierwaltes, PhB 86/87, Hamburg 31994. Euklid: Die Elemente, Buch I–XIII, hg. u. übersetzt v. C. Thaer, Ostwalds Klassiker der exakten Wissenschaften, Leipzig 1933, Darmstadt 21962. Euler, Leonhard: Mechanica sive motus scientia analytice exposita, Petersburg 1736.

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Literatur

–: Réflexions sur l’espace et le temps, Histoire de l’Akadémie royale des Sciences et belles Lettres 1748, Berlin 1750. –: Theoria motus corporum solidorum seu rigidorum ex primis nostrae cognitionis principiis stabilita, Rostock/Greifswald 1765. Ewald, H.: Die Allgegenwart Gottes, Gotha 1817. Fechner, Gustav Theodor: Die Tagesansicht gegenüber der Nachtansicht, Leipzig 1879, hg. v. Wilhelm Bölsche, Berlin 1918. Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums (1849), Nachwort v. Karl Löwith, Stuttgart 2002. Fichte, Johann Gottlieb: Appellation an das Publicum (1799), in: Fichtes Werke, hg. v. Immanuel Hermann Fichte, Bd. V, Berlin 1845, ND Berlin 1971, 191–238. –: Darstellung der Wissenschaftslehre (1801), in: Fichtes Werke, hg. v. Immanuel Hermann Fichte, Bd. II, Berlin 1845, ND Berlin 1971, 1–163. –: Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre als Handschrift für seine Zuhörer (1794/ 1802), in: Fichtes Werke, hg. v. Immanuel Hermann Fichte, Bd. I, Berlin 1845, ND Berlin 1971, 83–328; Einleitung und Register von Wilhelm G. Jacobs, PhB 246, Hamburg 41997. –: Über den Grund unsers Glaubens an eine göttliche Weltregierung (1798), in: Fichtes Werke, hg. v. Immanuel Hermann Fichte, Bd. V, Berlin 1845, ND Berlin 1971, 175–189. –: Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre, in: Fichtes Werke, hg. v. Immanuel Hermann Fichte, Bd. I, Berlin 1845, ND Berlin 1971, 519–534. Ficino, Marsilio: Opera quae extant omnia, tom. I–II, Basel 1561, ND Turin 1969. –: Theologia platonica. De Immortalitate uidelicet animorum, ac aeterna felicitate libri 18, in: Opera omnia, tom. I, Basel 1576, ND Turin 1969, 82–424. Die Fragmente der Vorsokratiker, hg. v. Hermann Diels/Walther Kranz, drei Bd. (=DK), Berlin 10 1961. Frank, Franz Hermann Reinhold v.: System der christlichen Wahrheit, Erlangen/Leipzig 31894. Galilei, Galileo: Le opere die Galileio Galilei, Edizione Nationale, hg. v. A. Favaro, 20 Bd., Florenz 1929–1939. –: Schriften. Briefe. Dokumente, hg. v. Anna Mudry, Ungekürzte Sonderausgabe in einem Band, Wiesbaden 2005. Gauß, Carl Friedrich: Allgemeine Flächentheorie (Disquisitiones generales circa superficicies curvas, 1827), Leipzig 51921; dt. hg. v. A. Wagerin, 1889, ND in: Carl Friedrich Gauß/Bernhard Riemann/Hermann Minkowski, Gaußsche Flächentheorie, Riemannsche Räume und Minkowski-Welt, hg. v. J. Böhm u.a., Leipzig 1984, 15–51. –: Briefwechsel, 3 Bd., Leipzig 1880–1927, ND Hildesheim1975. Gauß, Carl Friedrich: Werke, hg. v. der Königlichen Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen, 11 Bd., Leipzig 1863–1929. Geier, Martin: Die Allgegenwart unseres allsehenden Gottes, Dresden/Leipzig 1672. Gerhard, Johann: Loci theologici (Jena 1610–1625, 21657), hg. v. F. Preuss, Berlin 1863f. Goethe, Johann Wolfgang von: Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bd., hg. v. Erich Trunz u.a., München 111994. –: Naturwissenschaftliche Schriften I, Werke, Bd. 13, München 1994. –: Schriften zur Kunst. Schriften zur Literatur. Maximen und Reflexionen, Werke, Bd. 12, München 1994. –: Zur Farbenlehre. Didaktischer Teil, in: Werke, Bd. 13, München 1994, 314–523. Gregor der Große: Moralium libri sive expositio in librum B. Job, hg. J.P. Migne, Patrologia Seria Latina (MPL), Bd. 75–76, Paris 1849. Gregor von Nazianz, Orationes, in: J.P. Migne, Patrologia Seria Graeca, Bd. 35–36, Turnholt o.J.; Des heiligen Bischofs Gregor von Nazianz Reden, Aus dem Griechischen übersetzt und mit Einl. u. Anm. versehen v. Philipp Haeuser, zwei Bd., Bibliothek der Kirchenväter, Bd. 59–60, München 1928. Gregor von Nyssa: De spiritu sancto adversus Pneumatomachos Macedonianos, in: Ders., Opera omnia, J.P. Migne, Patrologia Seria Graeca (MPG), Bd. 45, Turnholt o.J., 1301–1334.

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Literatur

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Grimm, Jacob u. Wilhelm: Deutsches Wörterbuch (Leipzig 1893), München 1984. Grosseteste, Robert: De iride seu de iride et speculo, in: Ders., Die philosophischen Werke, hg. v. Ludwig Baur, Münster 1912, 72–78. –: De luce seu de inchoatione formarum, in: Ders., Die philosophischen Werke, hg. v. Ludwig Baur, Münster 1912, 51–58. –: De motu corporale et luce, in: Ders., Die philosophischen Werke, hg. v. Ludwig Baur, Münster 1912, 90–92. –: De unica forma omnium, in: Ders., Die philosophischen Werke, hg. v. Ludwig Baur, Münster 1912, 106–111. –: Die philosophischen Werke des Robert Grosseteste, hg. v. Ludwig Baur, Beiträge zur Geschichte der Philosophie des Mittelalters, Bd. IX, Münster 1912. Gundisalvus, Dominicus: De unitate et uno, hg. v. Paul Correns, Beiträge zur Geschichte der Philosophie des Mittelalters I, 1, Münster 1891; in: Vom Einen zum Vielen. Der neue Aufbruch der Metaphysik im 12. Jahrhundert. Eine Auswahl zeitgenössischer des Neoplatonismus, hg., eingeleitet, übersetzt u. kommentiert v. Alexander Fidora/Andreas Niederberger, Frankfurt a.M. 2002, 66–79. Hafenreffer, Matthias: Loci theologici, Tübingen 1600. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, Vorlesungen über die Philosophie der Religion, Sämtliche Werke, hg. v. Hermann Glockner, Bd. 15–16, Stuttgart 1928. –: Wissenschaft der Logik, Erster Band: Die objektive Logik (1832), Hauptwerke in sechs Bd., Bd. 3, Hamburg 1999. Helmholtz, Hermann von: Über die Thatsachen, die der Geometrie zum Grunde liegen, in: Nachrichten der Königlichen Gesellschaft der Wissenschaften und der Georg-Augusts-Universität aus dem Jahre 1868, Nr. 9, 193–221; zit. nach: Ders., Über Geometrie, unveränderter Nachdruck von Vorträgen und Abhandlungen Hermann von Helmholtz’, Darmstadt 1968, 32–60. Herder, Johann Gottfried: Aus Herders Nachlass, hg. v. H. Düntzer/F.G.v. Herder, Bd. II, 1857. –: Gott. Einige Gespräche über Spinoza’s System (1787, 21800), in: Sämtliche Werke, hg. v. Bernhard Suchan, Bd. 16, Berlin 1887, 401–580. Hertel, Christian Gottlieb: Die Geschichte der Lehre von der Unermeßlichkeit und Allgegenwart Gottes. Mit einer Anfrage an das theologische Publikum, Leipzig 1785. Hodge, Charles: Systematic Theology, 4 Bd., London/Edinburgh 1880. Holla(t)z, David: Examen theologicum acroamaticum, 1707, ND in zwei Bd., Darmstadt 1971. Hume, David: Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand (An Enquiry Concerning Human Understanding, 1758), übersetzt u. hg. v.Herbert Herring, Stuttgart 1982. Hutter, Leonhard: Compendium locorum theologicorum, Wittenberg 1610, hg. v. Wolfgang Trillhaas, Berlin 1961. Jacobi, Friedrich Heinrich: Über die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn (1785), in: Ders., Schriften zum Spinozastreit, hg. v. Klaus Hammacher u. Irmgard-Maria Piskae, Werke. Gesamtausgabe, hg. v. Klaus Hammacher u. Walter Jaeschke, Bd. 1/1, Hamburg/Stuttgart-Bad Cannstatt 1998, 1–148; in: Die Haupschriften zum Pantheismusstreit zwischen Jacobi und Mendelssohn, hg. u. mit einer historisch-kritischen Einleitung versehen v. Heinrich Scholz, Berlin 1916, ND neu hg. v. Wolfgang Erich Müller, Waltrop 2004, 45–282. Johannes de Sacrobosco: Liber de Sphaera, 1250, ed. Philipp Melanchthon, Wittenberg 1531. Johannes von Damaskus, Genaue Darlegung des orthodoxen Glaubens. Aus dem Griechischen übersetzt u. mit Einleitung u. Erläuterungen versehen v. Dionys Stiefenhofer, Bibliothek der Kirchenväter, Bd. 44, München 1923; De fide orthodoxa, J.P. Migne, Patrologia Graeca (MPG), Bd. 94, Paris 1864, 789–1228. Johannes vom Kreuz: Die dunkle Nacht (El noche obscura 1587). Sämtliche Werke, Bd. 1, hg. u. übersetzt v. Ulrich Dobhan/Elisabeth Hense/Elisabeth Peters, Freiburg u.a. 31997. Kant, Immanuel: Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels, oder Versuch von der Verfassung und dem mechanischen Ursprunge des ganzen Weltgebäudes nach Newtonischen Grundsätzen abgehandelt, in: Vorkritische Schriften/1, Werke in zwölf Bd., hg. v. Wilhelm Weischedel, Bd. I, Frankfurt a.M. 71996, 219–400.

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Literatur

–: De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis (1770), in: Schriften zur Metaphysik und Logik/1, Werke in zwölf Bd., hg. v. Wilhelm Weischedel, Bd. V, Frankfurt a.M. 81993, 7– 107. –: Gedanken von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte und Beurteilung der Beweise, derer sich Herr von Leibniz und andere Mechaniker in dieser Streitsache bedienet haben […] (1746), in: Vorkritische Schriften bis 1768/1, Werke in zwölf Bd., hg. v. Wilhelm Weischedel, Bd. I, Frankfurt a.M. 71996, 7–218. –: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785 = GMS), in: Werke in zwölf Bd., hg. v. Wilhelm Weischedel, Bd. VII, Frankfurt a.M. 121993, 7–102. –: Kritik der praktischen Vernunft (1788 = KpV), in: Werke in zwölf Bd., hg. v. Wilhelm Weischedel, Bd. VII, Frankfurt a.M. 121993, 103–302. –: Kritik der reinen Vernunft (1781/1787 = KrV A/B), Werke in zwölf Bd., hg. v. Wilhelm Weischedel, Bd. III u. IV, Frankfurt a.M. 121992. –: Kritik der Urteilskraft (1790/1793/1799 = KU A/B/C), Werke in zwölf Bd., hg. v. Wilhelm Weischedel, Bd. X, Frankfurt a.M. 1974. –: Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft (1786), in: Schriften zur Naturphilosophie, Werke in zwölf Bd., hg. v. Wilhelm Weischedel, Bd. IX, Frankfurt a.M. 91996, 7–135. –: Neuer Lehrbegriff der Bewegung und Ruhe, und der damit verknüpften Folgerungen in den ersten Gründen der Naturwissenschaft (1758), in: Vorkritische Schriften bis 1768/2, Werke in zwölf Bd., hg. v. Wilhelm Weischedel, Bd. II, Frankfurt a.M. 81996, 565–581. –: Principiorum primorum cognitionis metaphysicae nova dilucidatio (1755), in: Vorkritische Schriften bis 1768/1, Werke in zwölf Bd., hg. v. Wilhelm Weischedel, Bd. I, Frankfurt a.M. 7 1996, 401–509. –: Prolegomena zur einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können (1783), in: Schriften zur Metaphysik und Logik/1, Werke in zwölf Bd., hg. v. Wilhelm Weischedel, Bd. V, Frankfurt a.M. 81993, 109–264. –: Reflexionen zur Metaphysik, in: Kant’s handschriftlicher Nachlass, Bd. V, Metaphysik, Erster u. Zweiter Teil, Kant’s gesammelte Schriften, hg. v. der preußischen Akademie der Wissenschaften (AA), Bd. XVII–XVIII, Berlin/Leipzig 1928. –: Theorie-Werkausgabe. Werke in zwölf Bd., hg. von Wilhelm Weischedel, Frankfurt a.M. 1968. –: Was heißt: sich im Denken orientieren? (1786), in: Schriften zur Metaphysik und Logik/1, Werke in zwölf Bd., hg. v. Wilhelm Weischedel, Bd. V, Frankfurt a.M. 81993, 265–283. –: Von dem ersten Grunde des Unterschiedes der Gegenden im Raume (1768), in: Vorkritische Schriften bis 1768/2, Werke in zwölf Bd., hg. v. Wilhelm Weischedel, Bd. II, Frankfurt a.M. 8 1996, 991– 1000. –: Vorlesungen über die Metaphysik, hg. v. K.H.L. Pölitz, Erfurt 1821, ND Darmstadt 1964. Kepler, Johannes: Gesammelte Werke, hg. im Auftrag der Bayerischen Akademie der Wissenschaften unter der Leitung v. W. van Dyck/Max Caspar, Bd. 1ff, München 1938ff. –: Johannes Kepler in seinen Briefen, hg. v. Max Caspar/W. van Dyck, Bd. 1, München/Berin 1930. –: Mysterium Cosmographicum/Harmonice Mundi, Auswahl in: Ders., Was die Welt im Innersten zusammenhält. Antworten aus Keplers Schriften, mit einer Einl., Erläuterungen u. Glossar hg. v. Fritz Krafft, Wiesbaden 2005. Kierkegaard, Sören: Der Begriff Angst, hg. v. Liselotte Richter, Hamburg 1992. Kircher, Athanasius: Iter exstaticum coeleste, Würzburg 1660. –: Itinerarium exstaticum quo mundi opificium […] explorata, Wien 1656. König, Johann Friedrich: Theologia positiva acroamatica, Rostock 1664; hg. u. übersetzt v. Andreas Stegmann, Tübingen 2006. Laplace, Pierre Simon de: Exposition du système du monde, Paris 1796. Lavater, Johann C.: Von der Physiognomik/Hundert physiognomische Regeln, hrgs. u. mit einem Nachwort v. Karl Riha u. Carsten Zelle, Frankfurt a.M. 1996.

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Literatur

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Leibniz, Gottfried Wilhelm: Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie, Teil I, übersetzt v. Arthur Buchenau, durchgesehen u. mit Einleitungen u. Erläuterungen hg. v. Ernst Cassirer, PhB 496, Hamburg 31966. –: Monadologie, französisch und deutsch, zeitgenössische Übersetzung von Heinrich Köhler, hg. v. Dietmar Till, Frankfurt a.M./Leipzig 1996. –: Versuche in der Theodicée über die Güte Gottes, die Freiheit des Menschen und den Ursprung des Übels, übersetzt u. mit Anmerkungen versehen v. Arthur Buchenau, PhB 499, Hamburg 1996. Liber de causis: Das Buch von den Ursachen, lateinisch – deutsch, mit einer Einleitung v. Rolf Schönberger, Übersetzung, Glossar, Anmerkungen u. Verzeichnisse v. Andreas Schönfeld, PhB 553, Hamburg 2003; Die pseudo-aristotelische Schrift Ueber das reine Gute bekannt unter dem Namen Liber de causis, hg. v. Otto Bardenhewer, Freiburg 1882; Auswahl in: Vom Einen zum Vielen. Der neue Aufbruch der Metaphysik im 12. Jahrhundert. Eine Auswahl zeitgenössischer des Neoplatonismus, hg., eingeleitet, übersetzt u. kommentiert v. Alexander Fidora/Andreas Niederberger, Frankfurt a.M. 2002, 50–65. Liber de intelligentiis: Das Buch von den Intelligenzien, in: Clemens Baeumker, Witelo, ein Philosoph und Naturforscher des XIII. Jahrhunderts, Beiträge zur Geschichte der Philosophie des Mittelalters, Bd. III, Heft 2, Münster 1908, 1–126. Liber viginti quattuor philosophorum: Das pseudo-hermetische Buch der vierundzwanzig Meister. Ein Beitrag zur Geschichte des Neupythagoreismus und Neuplatonismus im Mittelalter, in: Clemens Baeumker, Studien und Charakteristiken zur Geschichte der Philosophie insbesondere des Mittelalters. Gesammelte Vorträge und Aufsätze, mit einem Lebensbilde Baeumkers hg. v. Martin Grabmann, Beiträge zur Geschichte der Philosophie des Mittelalters, Bd. XXV, Heft 1/2, Münster i.W. 1927, 207–214; Le live des XXIV philosophes, traduit du latin, édité et annoté par Francoise Hudry, Grenoble 1989; Auswahl in: Vom Einen zum Vielen. Der neue Aufbruch der Metaphysik im 12. Jahrhundert. Eine Auswahl zeitgenössischer des Neoplatonismus, hg., eingeleitet, übersetzt u. kommentiert v. Alexander Fidora/Andreas Niederberger, Frankfurt a.M. 2002, 80–89. Locke, John: Versuch über den menschlichen Verstand, Bd. I: Buch I u. II, PhB 75, Hamburg 5 2000. Lukretius Carus, Titus: De rerum natura/Vom Wesen des Weltalls, übersetzt v. Dietrich Ebener, Leipzig 1989. Luther, Martin: Luther Deutsch. Die Werke Martin Luthers in neuer Auswahl für die Gegenwart hg. v. Kurt Aland, Bd. 1–10, Göttingen 1991. –: Luthers Werke in Auswahl, unter Mitwirkung v. Albert Leitzmann hg. v. Otto Clemen, Bd. 1– 8, Bonn 1912–1933 (=Cl 1–8). –: Werke. Kritische Gesamtausgabe in vier Abteilungen, Abt. I: Schriften, Bd. 1–64, Weimar/Erlangen 1883–1990 (=WA 1–64); Abt. II: Tischreden, Bd. 1–6, Weimar/Erlangen 1912– 1921 (=WATR 1–6). Melanchthon, Philipp: Initia Doctrina Physicae, 1549, in: Philippi Melanchthonis opera quae supersunt omnia, ed. Carolus Gottlieb Bretschneider, Corpus Reformatorum, Vol. XIII (=CR 13), Halle 1846, 179–412. –: Loci praecipui theologici, 1559, hg. v. Hans Engelland, in: Melanchthons Werke in Auswahl (StA), hg. v. Robert Stupperich, Bd. II/1 u. II/2, Gütersloh 1952. –: Opera quae supersunt omnia, hg. v. Carolus Gottlieb Bretschneider, Corpus Reformatorum, Vol. I–XXVIII (= Corpus Reformatorum 1–28), Halle/Braunschweig 1834–1860. Der Midrasch Bereschit Rabba, ins Deutsche übersetzt v. August Wünsche, Leipzig 1881, ND Hildesheim 1967. More, Henry: Antidotus adversus Atheismum, in: Opera omnia, London 1679, tom. II, 24–143. –: Demokritus platonissans, or an Essay upon the Infinity of Worlds out of Platonick Principles (1646), Los Angeles 1968. –: Dialogi divini, in: Opera omnia, London 1679, tom. I, 637–772.

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Literatur

–: Enchiridion metaphysicum, in: Opera omnia, London 1679, tom. I, 131–334; Henry More’s Manual of Metaphysics, A translation of the Enchiridium Metaphysicum (1679) with an introduction and notes, Part I, Chapters 1–10 and 27–28/Part II, Chapters 11–26, hg. v. Alexander Jacob, Hildesheim/Zürich/New York 1995. –: Epistolae quatuor ad Renatum Des-cartes, in: Opera omnia, London 1679, tom. II, 227–271. –: Immortalitas animae, in: Opera omnia, London 1679, tom. II, 273–459. –: Opera omnia, tumquae Latine, tumquae Anglice scripta sunt, nunc vero Latinitate donata, hg. v. Johannes Cockshuti, tom. I–III in 1 Bd., London 1679; ND, Bd. I: Opera theologica; Bd. II/1–2: Opera philosophica, edite avec une introduction par Serge Hutin, Hildesheim 1966. Münster, Sebastian: Cosmographia oder Entwurf der gantzen Welt (1544), ND Lindau 1978. Newton, Isaac: Opera quae exstant omnia, hg. v. Samuel Horsley, Bd. I–V, London 1779–1785, ND Stuttgart-Bad Cannstatt 1964. –: Optics, or a Treatise of the Reflections, Refractions, Inflections and Colours of Light (London 1704), in: Opera quae exstant omnia, Bd. IV, London 1782, 1–264; Optik oder Abhandlung über Spiegelungen, Brechungen, Beugungen und Farben des Lichts, übersetzt u. hg. v. William Abendroth (Leipzig 1898), eingeleitet u. erläutert v. Markus Fierz, Braunschweig 1983. –: Philosophiae Naturalis Prinicipia Mathematica (London 1687, 21713), in: Opera quae exstant omnia, lib. 1: Bd. II, London 1779, lib. 2–3: Bd. III, London 1782, 1–175; dt. hg. u. übers. v. Volker Schüller, Berlin/New York 1999; Mathematische Prinzipien der Naturphilosophie, ausgewählt, übers., eingeleitet u. hg. v. Ed Dellian, PhB 394, Hamburg 1988. –: De gravitatione/Über die Gravitation. Texte zu den philosophischen Grundlagen der klassischen Mechanik, lateinisch – deutsch, übers. u. erläutert v. Gernot Böhme, Frankfurt 1988. Nietzsche, Friedrich: Also sprach Zarathustra, Kritische Studienausgabe, hg. v. Giogio Colli/Mazzino Montinari, Bd. 4, München/Berlin/New York 31998. –: Werke in drei Bd., hg. v. Karl Schlechta, München/Wien 1994. Nikolaus von Kues: Apologia doctae ignorantiae, Opera omnia, Bd. II, Leipzig 1932. –: De coniecturis/Mutmaßungen. Übersetzt u. hg. v. Winfried Happ/Josef Koch, in: Philosophisch-theologische Werke, Bd. 2, Hamburg 2002. –: De docta ignorantia/Die belehrte Unwissenheit. Übersetzt u. hg. v. Paul Wilpert/Hans Gerhard Senger, Buch I, 41994; Buch II, 31999; Buch III, 21999, in: Philosophisch-theologische Werke, Bd. 1, Hamburg 2002. Nikolaus von Kues, De venationes sapientiae/Die Jagd nach Weisheit. Übersetzt u. hg. v. Hans Gerhard Senger, 1986, in: Philosophisch-theologische Werke, Bd. 4, Hamburg 2002. –: Dialogus de ludo globi/Gespräch über das Globusspiel. Übersetzt u. hg. v. Gerda von Bredow, 1999, in: Philosophisch-theologische Werke, Bd. 3, Hamburg 2002. –: Idiota de mente/Der Laie über den Geist. Übersetzt u. hg. v. Renate Steiger, 1995, in: Philosophisch-theologische Werke, Bd. 2, Hamburg 2002. –: Opera omnia, iussu et auctoritate Academiae litterarum Heidelbergensis, Leipzig 1932ff, Hamburg 1959ff. –: Philosophisch-theologische Werke. Lateinisch – Deutsch, 4 Bd., Hamburg 2002. –: Schriften, im Auftrag der Heidelberger Akademie der Wissenschaften in deutscher Übersetzung, Deutsch-lateinische Parallelausgabe, Leipzig/Hamburg 1936ff. Oresme, Nicole: Le Livre du ciel et du monde, ed. by Albert D. Menut and Alexander J. Denomy (frz. Original mit engl. Übersetzung), Madison u.a. 1968. Origenes: De principiis libri IV/ Vier Bücher von den Prinzipien, hg., übersetzt, mit kritischen u. erläuternden Anmerkungen versehen v. Herwig Görgemanns u. Heinrich Karpp, Darmstadt 1976. Pascal, Blaise: Gedanken (Pensées). Eine Auswahl, übersetzt, hg. u. eingeleitet v. Ewald Wasmuth, Stuttgart 1987. Patritius, Franciscus: Nova de universis philosophia, in qua aristotelica methodo non per motum, sed per lucem & lumina, ad primam causam ascenditur. Panaugia, Panarchia, Pampsychia, Pancosmia, Ferrara 1591, ND Zagreb 1979. Petrus Lombardus: Sententiae in IV Libris distinctae, Bd. 1–2, Grottaferrata (Romae) 31971.

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Literatur

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Peucer, Kaspar: Elementa doctrinae de circulis coelestibus et primo motu, Wittenberg 1551. Peuerbach, Georg: Theoricae novae planetarum, 1455, ed. Philipp Melanchthon, Wittenberg 1535, ed. Erasmus Reinhold, Wittenberg 1542. Peuerbach, Georg/Müller Regiomontanus, Johannes: Epitomae in Ptolemaei Almagestum, 1474. Pfaff, Christoph Matthaeus: Acta et scripta publica Ecclesiae Wirtembergicae, Tübingen 1720. Philo von Alexandria: Die Werke in deutscher Übersetzung, hg. v. Leopold Cohn u.a., Bd. I–VI, Berlin 21962. Philonis Alexandrini opera quae supersunt, hg. v. Leopold Cohn/Paul Wendland, Bd. 1–6, Berlin 1896. Philon d’Alexandrie: Les oeuvres, publ. par Roger Arnaldez u.a., Bd. 1–35, Paris 1961. Philoponos, Johannes: In Aristotelis Physicorum octo libros commentaria, hg. v. H. Vitelli, Commentaria in Aristotelem Graeca (CAG), Bd. XVI/XVII, Berlin 1887. –: De opificio mundi, Fontes Christiani (FC) 23, Bd. 1–3, Freiburg 1997. –: Grammatikos von Alexandrien. Christliche Naturwissenschaft im Ausklang der Antike, Vorläufer der modernen Physik, Wissenschaft und Bibel. Ausgewählte Schriften, übersetzt, eingeleitet und kommentiert v. Walter Böhm, München/Paderborn/Wien 1967. –: On Aristotle Physics 5–8. Translated by Paul Lettinck, London 1994. Platon: Werke in acht Bd., Griechisch u. deutsch, hg. v. Gunther Eichler, Darmstadt 1981. –: Timaios, Griechisch – Deutsch, hg., übersetzt, mit einer Einleitung u. mit Anmerkungen versehen v. Hans Günter Zekl, PhB 444, Hamburg 1992. Plotin: Schriften, übersetzt v. Richard Harder, Neubearbeitung mit griechischem Lesetext und Anmerkungen, PhB 211–215, Bd. I–V, Hamburg 1956. Quenstedt, Johann Andreas: Theologia didactico-polemica, Wittenberg 1685. Raphson, Joseph: Analysis Aequationum Universalis, seu ad Aequationes Algebraicas Resolvendas Methodus Generalis, & Expedita, Ex nova Infinitarum Serierum Methodo, deducta ac demonstrata. Cui etiam Annexum est, de Spatio Reali seu ente infinito conamen MathematicoMetaphysicum, Editio Secunda, London 1702. –: De Spatio Reali seu ente infinito conamen Mathematico-Metaphysicum, in: Ders., Analysis Aequationum Universalis, Editio Secunda, London 1702. Reinhold, Erasmus: Prutenicae Tabulae coelestium motuum, Wittenberg 1551. Riccioli, Giovanni: Almagestum novum, Bologna 1651. Richard von Middleton: Super quattuor libri sententiarum quaestiones subtilissimae, Brüssel 1591, ND Frankfurt a.M. 1963. Riemann, Bernhard: Über die Hypothesen, welche der Geometrie zu Grunde liegen (1854), Abhandlungen der Königlichen Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen, Göttingen 1867, Unveränderter fotomechanischer Nachdruck, Darmstadt 1959; auch in: Bernhard Riemanns gesammelte mathematische Werke und wissenschaftlicher Nachlass, hg. unter Mitarbeit v. Richard Dedekind v. Heinrich Weber, Leipzig 21892, 288–293. Rixner, Thaddä Anselm/Siber, Thaddä: Leben und Lehrmeinungen berühmter Physiker am Ende des 16. und am Anfang des 17. Jahrhunderts, Sulzbach 1819–1828, Heft III: Bernardinus Telesius 1823; Heft IV: Franciscus Patritius 1823; Heft V: Jordano Bruno 1824; Heft VI: Thomas Campanella 1826. Rothe, Richard: Theologische Ethik, Wittenberg 21867. Sales, Franz von: Philothea. Einführung in das Leben aus christlichem Glauben (1609), Eichstätt/Wien 1995. Scaliger, Julius Caesar: Exotericarum exercitiatiorum libri XV de subtilitate ad Hieronymum Cardanum, Paris 1557, Hannover 1620. Schedel, Hartmann: Liber Chronicarum, Nürnberg 1493; Weltchronik, Faksimile-ND, Einleitung u. Kommentar v. Stephan Füssel, Köln 2001. Scheibler, Christoph: Liber de Philosophia, Natura Logicae, Praedicamentis, Praedicabilibus, Gießen 1613. –: Epitome metaphysica, Gießen 1618.

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Literatur

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Literatur

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Literatur

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Literatur

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Literatur

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Personenregister

Alanus de Insulis 121, 127f, 138f, 151, 490 Alsted, J.H. 36, 45 Altner, G. 366ff, 488f Althaus, P. 166f Ambrosius v. Mailand 116 Angelus Silesius 332, 376 Apian, P. 49 Aristoteles 43–56, 65–89, 96, 105–128, 143–157, 170, 174, 183, 194–203, 223, 288, 404ff, 435, 487 Audretsch, J. 393, 408f, 428, 432, 441 Augustinus, A. 55, 69, 97–107, 117, 147, 382f, 411, 490 Bachelard, G. 545, 551ff, 562 Bacon, F. 206, 488, 490, 493 Bacon, R. 109, 117, 198 Baeumker, C. 72, 84f, 109, 117–129 Barth, K. 26–31, 61f, 127, 233, 248, 283, 332, 338, 364, 388f, 417, 474, 501f, 516, 555–558, 566 Basilius d. Große 116 Baumann, Z. 16, 466 Baur, J. 177, 180, 185, 555 Bayer, O. 176, 506, 510, 531, 535, 541f Behler, E. 88, 403 Beierwaltes, W. 95, 199, 112, 128, 132f, 140f, 147, 150 Benjamin, W. 324f Bergson, H. 13, 259, 383, 406 Bernhardt, R. 56, 61, 337, 353–357, 369, 373 Beuttler, U. 24f, 50, 58, 75, 166, 190, 218, 248, 373f, 376, 383, 446, 455, 460f, 463, 479, 487, 493–496, 540, 546f, 550 Biel, G. 36, 42, 166, 175f Blumenberg, H. 15, 51, 110, 130, 141, 148, 154, 160, 162, 193, 445, 463, 466, 474, 476, 489ff Böhm, W. 82, 86f Böhme, G. 261, 263, 277, 284, 315, 319ff, 324, 326, 347ff, 376, 434, 493, 499f, 505, 562 Böhme, H. 261, 284, 492, 499f, 505 Böhme, J. 134, 490, 531 Boethius, A.M.S. 339f Bohr, N. 448, 493, 495

Bois-Reymond, E. du 443 Bollnow, O.F. 17, 258, 261f, 265ff, 285, 298f, 424, 526, 552f Bolzano, B. 25, 435 Bonaventura 54, 104, 109, 116, 127, 411, 490, 534 Bonhoeffer, D. 376, 517 Bradwardine, T. 15, 127, 194, 196 Brandy, H.C. 181ff, 185, 188 Brecht, M. 179, 181, 190 Brenz, J. 20, 49, 51, 104, 178–191, 529, 538f, 557, 565 Brom, L.J. v.d. 31, 233f, 245–248, 251, 515, 566 Bruno, G. 14f, 17, 25, 68, 91, 148, 154–164, 170ff, 175, 192f, 195, 197, 200, 202, 301, 386, 528, 565 Brunner, E. 338, 394f, 413, 417, 501, 532 Buber, M. 15, 19, 335, 338, 341 Bultmann, R. 110, 476, 516f Calov, A. 54, 56, 60f, 174 Calvin, J. 177, 490 Campanella,T. 125, 195, 198f, 201f, 209, 490 Cantor, G. 25f, 370f Cardanus, H. 194, 198 Carnap, R. 378, 429, 431, 433, 463, 477, 526 Cassirer, E. 157, 201, 206, 219f, 234, 236, 278, 281, 289, 316, 426, 470–474, 554 Chemnitz, M. 58f, 177 Cicero, M.T. 57, 85, 339, 455, 459 Clarke, S. 84, 194, 211, 213, 216–219, 221– 228, 231, 235, 372, 550, 566 Clavius, C. 49 Copernicus, N. 49, 114, 156, 455 Corpus Hermeticum 93, 128, 206 Craig, W.L. 386, 392f, 397, 400, 403–406, 411 Crescas, C. 194, 197f Crombie, A.C. 55, 69, 117 Cudworth, R. 206f, 210, 215, 222 Daecke, S.M. 366, 385 Dalferth, I.U. 19, 31, 234, 245f, 248f, 251f, 254f, 291, 294, 307, 312, 314, 353f, 357f, 364ff, 514, 527f, 535, 566

© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-56400-4 — ISBN E-Book: 978-3-647-56400-5

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Personenregister

Davies, P. 391f, 407f Derrida, J. 74, 509, 511 Descartes, R. 193f, 202–208, 210–215, 223, 228, 235, 239, 244, 258, 260, 316, 387, 419, 421f, 488, 540, 566 Dilthey, W. 58, 154, 162, 164, 176, 259, 267 Dingler, H. 237, 429, 434 Dionysius A. 109–116, 122, 124ff, 128f, 133f, 136, 140f, 152, 159, 175, 206, 308, 534f Dürckheim, G.K.v. 258, 260ff, 266ff, 271, 273f, 276, 560 Eckart, M. 109, 112, 127, 135–138, 141f, 144, 146, 150, 163, 169, 175 Ego, B. 480, 482f Einstein, A. 26, 222, 368, 370f, 386, 409, 425f, 428, 430, 432f, 449, 493, 550 Elert, W. 50, 166, 173f, 177f, 188 Eliade, M. 289f, 470, 475, 551f Erasmus v. Rotterdam 166, 177 Erikson, E.H. 343ff Eriugena, J. 109f, 115f, 122, 124, 128, 152, 193, 490, 534 Euklid 435 Euler, L. 222, 231f, 236f Evers, D. 27, 31, 74, 77, 208, 223, 234, 252, 254ff, 359, 392f, 396, 407, 430, 438, 441, 460, 515, 566 Fechner, G.T. 273, 461 Feuerbach, L. 337, 464 Fichte, J.G. 244, 337ff, 341–345 Flasch, K. 127, 136, 140f, 195 Foucault, M. 563 Frettlöh, M.L. 518, 536f Freud, S. 300, 345, 463 Friedmann, A. 26, 409, 428, 451 Galilei, G. 23, 49ff, 55, 69, 117, 193ff, 197f, 208, 220, 389, 435, 444, 446, 488, 490 Gassendi, P. 51, 195, 206, 211 Gauß, C.F. 427, 429f, 435 Gebsattel, V.E. v. 281 Gerhard, J. 36, 38–43, 46f, 52–55, 57, 60, 62, 108, 186, 332, 417 Gerl-Falcovitz, H.-B. 15, 202, 206, 507 Gese, H. 282, 284, 476f, 479f Gloy, K. 70, 72, 193, 486ff Gölz, W. 258, 261f, 267f, 275, 296, 298f, 302, 305, 424, 431, 433, 522, 524 Goenner, H. 393, 427, 438, 441 Goethe, J.W. v. 32, 278ff, 321, 337, 490 Gregor d. Große 40, 91, 103f, 133, 187 Gregor v. Nazianz 159 Gregor v. Nyssa 24f, 534

Greshake, G. 338f, 510, 534f Groh, D. 488f, 492 Grosseteste, R. 109f, 115–124 Grünbaum, A. 386, 397–403 Guardini, R. 15, 27, 256, 346 Gundisalvus, D. 122f, 148 Gumbrecht, H.U. 507, 509, 511 Härle, W. 20f, 167, 355, 396, 526 Haffenreffer, M. 40f Hegel, G.W.F. 32, 140, 337f, 341, 407, 419f, 422, 470, 547 Heidegger, M. 14, 258–261, 264f, 272, 282, 286f, 297f, 301f, 306, 341, 343, 418f, 445, 476, 487, 545, 554 Heim, K. 23f, 218, 248, 377, 379, 461, 493, 546 Heimsoeth, H. 15, 136, 140, 192, 216 Heisenberg, W. 278, 448f, 457 Helmholtz, H. v. 387, 427, 430 Henrich, D. 342f Herder, J.G. 25, 32 Hirsch, E. 53, 337 Hollaz, D. 37–40, 42, 47f, 51, 54, 62, 104, 174, 187, 387, 518, 538 Hübner, K. 283, 387, 470f, 474ff Hume, D. 240, 337, 377f, 392 Husserl, E. 258f, 285, 305, 309, 316, 383, 425, 444–447, 449ff, 466f, 487 Hutter, L. 36, 63 Isham, C.J. 392, 397, 409f Jacobi, F.H. 25, 140, 164, 295, 532f, 540 Jammer, M. 72, 77, 93, 195, 197, 222, 236f, 370, 425, 435 Janowski, B. 282f, 480, 482, 518 Johannes de Sacrobosco 49 Johannes v. Damaskus 102, 116 Johannes Paul II. 389 Jonas, H. 413, 532f Joos, E. 31, 234, 255, 258, 302, 475, 477 Jüngel, E. 23f, 167, 254, 311, 413, 417, 532, 535 Kanitscheider, B. 208, 397, 409, 411, 432, 437–442, 453, 456–462 Kant, I. 14, 32f, 205, 208, 213, 217, 222, 230–240, 244f, 249, 257–260, 264f, 287f, 292, 295f, 309, 312f, 340, 342, 356, 359, 377, 379, 387, 393, 397, 399, 404f, 411, 425, 429 Kepler, J. 49, 193, 195, 486, 490 Kierkegaard, S. 383 Kircher, A. 51 Koch, J. 109–112, 128, 141

© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-56400-4 — ISBN E-Book: 978-3-647-56400-5

Personenregister König, J.F. 36, 38, 41, 54, 56f, 61ff, 108, 174, 184, 356 Körtner, U.H.J. 1617, 354, 463, 476 Koyré, A. 156, 194, 210, 225f, 229 Krafft, F. 86f, 193, 198, 451 Kreiner, A. 337, 394, 397, 412, 460, 540 Krolzik, U. 17, 56f, 488 Laplace, P.S. d. 49, 208, 374, 387, 488, 490 Leeuw. G. v.d. 289, 327, 553 Lehmkühler, K. 100, 108, 352, 536 Leibniz, G.W. 25, 44, 84, 140, 149, 154, 162, 194, 211, 213, 216–228, 232–235, 237, 239f, 244f, 301, 397, 419, 435f, 486, 550, 566 Liber de causis 55, 60, 121, 128, 132, 134, 355 Liber de intelligentiis 109f, 121–126, 128, 148, 201, 209 Liber XXIV philosophorum 121, 127, 130– 133, 136, 154 Link, C. 53, 56, 367, 380, 382f, 417, 486, 493, 503, 506–509 Lipps, T. 273 Locke, J. 211, 240, 263, 274, 309, 337, 340 Löw, M. 14, 16 Lukretius Carus, T. 67ff, 157, 195, 211 Luther, M. 20, 35, 49f, 104, 141, 165–191, 360, 423, 490. 510, 539, 556, 559ff Mach, E. 222, 237, 430f, 461 Mackie, J.L. 392, 397, 405f Mahlmann, T. 176f, 188, 190f Mahnke, D. 94, 127, 137, 140, 142 McFague, S. 517, 539f Mead, G.H. 343ff, 361 Melanchthon, P. 36, 49ff, 53, 56–59, 166, 174, 177 Merleau-Ponty, M. 259, 261, 282, 296–299, 305, 316, 349, 473, 499 Metzke, E. 172, 175, 178 Meurers, J. 440, 466, 487 Mildenberger, F. 29, 56, 337, 517ff, 542 Minkowski, E. 260, 274, 280 Mittelstrass, J. 481, 486 Moltmann, J. 17, 31, 164, 234, 252ff, 314, 330, 353f, 357f, 364–368, 383, 417, 488, 517, 519, 524, 530–533, 549, 555, 557 Monod, J. 456, 461 More, H. 194, 202f, 205–218, 228, 230f, 372, 389, 397, 486, 540, 550, 565f Müller, A.M.K. 379–384, 487 Münster, S. 49 Mutschler, H.-D. 371, 376, 456, 463 Naab, E. 100–103

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Nagel, T. 426, 464 Narlikar, J. 397f Newton, I. 44, 51, 55, 86, 125, 194, 200, 208f, 213, 217–228, 230ff, 234–237, 240, 244, 248, 264f, 278, 287, 370, 372, 381, 386, 426, 429, 433, 436, 550 Nietzsche, F. 15, 17, 301, 344, 464 Nikolaus v. Kues 122, 127, 137, 140–156, 159ff, 170, 187, 192f Oresme, N. 15, 50, 55, 193f, 196f, 217, 486 Origenes 339, 370 Otto, R. 276, 278, 300, 326, 333 Pascal, B. 17, 195, 198, 301 Pannenberg, W. 29, 31, 337ff, 342, 344ff, 353f, 357, 363, 368–374, 376, 379f, 382f, 395, 405, 412, 419–422, 535, 541, 544 Patritius, F. 195, 197, 199 Peacocke, A. 354, 373, 412, 510 Peirce, C.S. 442, 474 Peters, A. 176, 190 Peters, T. 389f, 393, 397 Petrus Lombardus 42, 48, 108 Peucer, K. 50 Peuerbach, G. 49 Philipp, W. 17, 487 Philo v. Alexandrien 65, 90–94, 110, 125, 198 Philoponos, J. 65, 82f, 86–90, 96, 404, 564 Picht, G. 217, 372, 380, 488f Pius XII. 389 Planck, M. 408f, 458 Platon 65, 69–74, 87, 91f, 94, 97, 110, 114, 118, 122, 159, 192, 206 Plotin 48, 65, 90f, 94ff, 102f, 110f, 113ff, 122, 129, 136, 140, 175, 206, 407 Poincaré, H. 223, 237, 430ff, 435f Quenstedt, A. 36, 38f, 54, 56, 61f, 174, 186, 356, 395, 417 Quinn, P.L. 386, 397, 400ff Raphson, J. 125, 194, 213, 215ff, 228–231, 235, 372, 565 Ratschow, C.H. 36, 52, 56f, 61, 355 Reinhold, E. 49f Riccioli, G. 51 Ricoeur, P. 275, 289, 346 Riemann, B. 218, 426ff, 431, 433 Ritschl, D. 26f, 501, 524, 549 Russel, R.J. 390, 397, 399, 410 Sambursky, S. 88f, 96f Sartre, J.P. 343, 464 Scaliger, J.C. 194, 198f Schedel, H. 49

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Personenregister

Scheibler, C. 39, 43f, 61 Scheler, M. 259, 281f, 349, 499 Schelling, F.W.J. 32, 140, 239, 301, 419, 531 Scherer, G. 418f Schleiermacher, F. 25f, 29, 33, 232ff, 241– 244, 269f, 304, 326, 328, 343, 388, 420, 474, 566 Schmidt-Biggemann, W. 95, 118, 163, 486 Schmitz, H. 259, 261f, 277, 298, 301, 315, 317–325, 327f, 331–334, 348f, 351, 526 Schoberth, W. 5, 383, 486, 502, 542 Scholem, G. 519, 531 Schwöbel, C. 309, 355 Seel, M. 261, 492, 506 Seuse, H. 109, 127, 135, 137ff, 175 Sexl, R. 410, 427, 429 Simplicius 82, 88f, 404 Sloterdijk, P. 14, 259, 534, 544–547, 549f, 553 Smith, Q. 397, 404, 406, 410 Spaemann, R. 331, 487, 499 Sparn, W. 5, 43, 53, 477, 501, 504, 509, 511, 555 Spengler, O. 17, 301, 463 Spinoza, B. 162, 202, 215f, 239, 248, 407, 532f, 540 Steiner, G. 507ff Strasser, P. 416, 536 Straus, E. 297, 349 Strauß, B. 507ff Strawson, P.F. 337, 513 Ströker, E. 259, 261, 274, 276, 321, 444, 446f Suarez, F. 42–47, 51, 54f, 60ff, 194, 204f, 217 Suchan, B. 383, 441, 460

Swinburne, R. 391, 397 Telesius, B. 195, 197–200 Tersteegen, G. 20, 332, 351 Tertullian 48, 337, 339 Thierry v. Chartres 122f, 147f, 151 Thomas v. Aquin 42, 49, 53, 55, 61, 91, 105–108, 122, 127f, 135, 143, 146, 159, 338, 340, 393, 397, 405, 417, 535, 564 Thomasius, J. 45f, 51 Thüring, B. 393, 437, 443 Timm, H. 283f, 300f, 501, 503ff Tillich, P. 27ff, 31, 300f, 312, 418f, 474, 517 Torrance, T.F. 233, 537f, 566 Tugendhat, E. 249, 337 Uexküll, J. v. 493, 496f, 499 Waldenfels, B. 259, 261, 285, 291, 349 Weber, A. 493, 497, 499f Weber, H.E. 177, 181 Weber, O. 19f, 338 Weissmahr, B. 373, 407 Weizsäcker, C.F. v. 25, 376, 379ff, 439, 448f, 487, 489, 495 Weizsäcker, V. v. 493ff Welker, M. 329f, 353f, 357–363, 521, 555ff Wenck v. Herrenberg, J. 144f, 154 Werbick, J. 533f, 536 Wetz, F.J. 453, 455f, 459, 462–465, 467, 491 Whitehead, A.N. 154, 356f, 546f Wilhelm v. Ockham 141, 166, 175f Witelo 109, 117, 121f, 125f Wittgenstein, L. 311, 525 Wolff, C. 240, 295, 340, 437, 487 Wölfel, E. 384, 395, 411f, 414 Zekl, H.G. 74, 76ff, 90 Zwingli, H. 168f, 174, 177, 179f

© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-56400-4 — ISBN E-Book: 978-3-647-56400-5

Vandenhoeck & Ruprecht Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie Band 127 Es ist eine Grundüberzeugung des glaubenden Menschen, dass Gott da ist, hier und jetzt, in den Räumen und Beziehungen der Welt und des Lebens. Der offenbare Gott ist räumlich; er erschließt sich in der konkreten Begegnung an bestimmten Orten (und zu bestimmten Zeiten). Ulrich Beuttler unternimmt nach der historischen Rekonstruktion der metaphysischen Konzeptionen die systematische Aufgabe, eine solche Beschreibung des Raumes zu entwickeln, damit die Erfahrung »Gott ist da« möglich wird. Im Gespräch mit modernen Raumtheorien arbeitet er eine theologische Theorie des Raumes aus. Außer dem kosmischen und dem natürlichen Raum kommt der gelebte Raum und seine Rolle für die Erfahrungen Gottes im Raum zur Sprache. Der Autor PD Dr. theol. habil. Dipl.-Phys. Ulrich Beuttler ist wissenschaftlicher Assistent am Institut für systematische Theologie der Universität Erlangen-Nürnberg und zzt. Vertretungsprofessor für systematische Theologie/Ethik.

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